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German Pages [288] Year 2011
Neue Modelle im Alten Europa Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von Christoph Kampmann, Katharina Krause, Eva-Bettina Krems und Anuschka Tischer
2012 böhlau verlag köln weimar wien
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Umschlagabbildung: Nancy, Gesamtplan von Belprey, 1754 © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Satzpunkt Ewert, Bayreuth Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20614-7
Inhalt Christoph Kampmann, Katharina Krause, Eva-Bettina Krems, Anuschka Tischer Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolf-Friedrich Schäufele Zur Begrifflichkeit von „alt“ und „neu“ in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anuschka Tischer Alte Ordnung oder neue Ordnung? Die Reichsreform von 1495. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wilhelm Ernst Winterhager Marburg 1527 – ein neues Universitätsmodell? Die erste reformatorische Hochschulgründung in ihrem historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Thomas Schauerte Größe als Argument. Genealogie als Movens der neuen Gattung Riesenholzschnitt im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Matthias Müller Wohnstätten für kluge und gebildete Regenten. Schloss Albrechtsburg bei Meißen als Modell eines neuen Fürstenbildes um 1500 im Alten Reich . . . . . . . . . . . 86 Ulrich Schütte Ein neues Modell am falschen Ort. Die Stadtresidenz in Landshut . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Ulrich Niggemann Auf der Suche nach einem neuen Modell: James Harrington und die englische Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Kerstin Weiand Elisabeth I. von England. Wandlungsprozesse eines (‚Herrscher-‘) Modells zwischen Integration und Polarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Jürgen Luh New (?) Model (?) Army . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Katharina Krause Louis XIV und die Erfindung des Boulevards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Iris Lauterbach „Faire céder l’art à la nature“. Natürlichkeit in der französischen Gartenkunst des frühen 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
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Inhalt
Lothar Schilling Der Absolutismus als „neues Modell“? Überlegungen zur Erforschung absolutistischer Repräsentationen in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Christoph Kampmann Ein Neues Modell von Sicherheit: Traditionsbruch und Neuerung als Instrument kaiserlicher Reichspolitik 1688/89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Ada Raev Ideal und Verkörperung der Aufklärung. St. Petersburg im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 234 Eva-Bettina Krems Le premier exemple des Königs im Exil. Stanislas I. Leszczyński in Nancy . . . . . . . . . . . 251 Hans-Jürgen Bömelburg Die Teilungen Polen-Litauens. Ein neues Modell in der europäischen Außenpolitik (ca. 1760–1820) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Abbildungsnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Einleitung Christoph Kampmann, Katharina Krause, Eva-Bettina Krems, Anuschka Tischer
Im Jahre 1642 brach der Bürgerkrieg zwischen König Karl I. und dem englischen Parlament aus. Kurz vor Beginn der eigentlichen Kampfhandlungen erließ Karl I. eine feierliche Erklärung, die an die Parlamentarier der beiden Häuser des englischen Parlaments und an die übrigen Untertanen seiner Krone gerichtet war.1 Darin beschwor er sie öffentlich, von allen Plänen zur Veränderung der hergebrachten Verfassung abzusehen. Es dürfe keinerlei Neuerungen geben. Wenn es erst einmal mit solch grundstürzenden Veränderungen losgehe, gebe es kein Halten mehr, alle Dämme würden brechen, das Unterste zuoberst gekehrt.2 Die Veränderung des Hergebrachten würde zwangsläufig in einem dunklen Chaos enden (a dark chaos of confusion), an dessen Ende statt nobler Monarchen und Edelleute aufrührerische Bauern wie Wat Tyler über England herrschen würden.3 Bemerkenswerterweise hatten die beiden Häuser des Parlaments ihrerseits kurz zuvor dem König bzw. seinen sogenannten „bösen Ratgebern“ (wicked counsellors) mit sehr ähnlichen Worten vorgeworfen, auf gefährliche Neuerungen hinzuarbeiten. Die gesamte Politik des Parlaments sei darauf gerichtet, die alte Verfassung gegen einflussreiche fanatische Neuerer in der Umgebung des Königs zu bewahren.4 Wenn der König nicht auf das Parlament höre und die Neuerer weiter gewähren lasse, werde bald Englands traditionelle kirchliche und politische Ordnung verschwunden sein.5 Beide Seiten rangen also erbittert darum, wer das Alte besser gegen alle Neuerungen bewahre – Neuerungen, die gefährlich sein und Britannien geradezu zwangsläufig ins Unglück stürzen würden. Diese argumentative Ausgangslage war nichts Ungewöhnliches. Die Frühe Neuzeit war eine traditionsorientierte Epoche, in der das Alte grundsätzlich weit höhere Dignität als das Neue besaß. Dem Neuen stand die Gesellschaft prinzipiell misstrauisch gegenüber. Um den Gegner zu desavouieren, war es wichtig, ihn als gefährlichen Neuerer hinzustellen, der bald 1
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The King’s Answer to the Nineteen Propositions, 18. Juni 1642, in: John Philipps Kenyon (Hrsg.), The Stuart Constitution, 1603–1688. Documents and Commentary. Cambridge 1966, 21–23. Ebd., 22. Ebd., 23: „by this means [die durch die parlamentarischen Führer veranlassten Neuerungen] this splendid and excellently distinguished form of government end in a dark, equal chaos of confusion, and the long line of our many noble ancestors in a Jack Cade or a Wat Tyler“. Vgl. The Declaration and Remonstrance of the Lords and Commons in Parliament, 19. Mai 1642, in: Andrew Sharp (Hrsg.), Political Ideas of the English Civil Wars, 1641–1649. A Collection of Representative Texts with a Commentary. London/New York 1983, 37–40, hier 37: „the two Houses of Parliament, being the Supreme Court and highest Council of the kingdom, were enabled by their own authority to provide for the repulsing of such immanent and evident danger – not by any new law of their own making (as hath been untruly suggested to his majesty) but by the most fundamental law of the kingdom […]“. Ebd., „His majesty hath more reason to find fault with those wicked counsellors who have so often bereaved him of his honour […]“.
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unkontrollierbare Entwicklungen auslösen würde, die eben auch im „dunklen Chaos“ enden könnten. Das Anliegen war nicht die Schaffung von Neuem, dem die Menschen skeptisch gegenüberstanden, sondern die „Rückkehr zum guten Alten“, und zwar in allen Lebensbereichen.6 Natürlich stellt sich das Verhältnis von alt und neu, von Tradition und Fortschritt in der Frühen Neuzeit bei genauerer Analyse weit differenzierter dar, als es diese allgemeinen Bemerkungen erscheinen lassen. Dies gilt umso mehr, als die Frühe Neuzeit die Epoche war, in der sich die normative Bewertung von alt und neu grundlegend wandelte, sich im Zuge der Aufklärung, mit dem Auseinandertreten von „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ geradezu umkehrte.7 An die Stelle der prinzipiellen Bevorzugung des Herkommens, der Tradition, trat die Betonung des Fortschrittsgedankens, wobei die zeitlich-chronologische Einordnung dieses Vorgangs nach wie vor kontrovers ist.8 Gerade wegen der Komplexität des Verhältnisses von alt und neu haben sich die Herausgeberinnen und der Herausgeber daher entschlossen, einen Beitrag an den Anfang des Bandes zu stellen, der sich mit der grundsätzlichen Begrifflichkeit von alt und neu in der Frühen Neuzeit und ihrem Wandel befasst. Er ist sozusagen als Fortführung dieser Einleitung zu lesen und bildet die begriffliche Basis der darauf folgenden Beiträge.9 Leitend für die Konzeption dieses Bandes war die Tatsache, dass die grundsätzliche Neuerungsskepsis, die für die Frühe Neuzeit bis weit ins 18. Jahrhundert zu beobachten war, auch und gerade für das Verhalten der politischen Eliten, der Herrschaftsträger, galt. Auch dies überrascht nicht. Politische Herrschaft gründete sich auf die Tradition, auf die gottgewollte überlieferte Ordnung. Der Rückverweis auf ihre Altehrwürdigkeit, ihre traditionelle Fundierung war eine wichtige Basis der Legitimität von Herrschaft.10 Herrschaftsträger respektive politisch Handelnde, die neue Entwicklungen anstießen oder auch nur zuließen, in Fragen der politischen Ordnung, in Fragen der Repräsentation oder des Militärwesens, begaben sich in eine komplizierte, geradezu widersprüchliche Lage. Stets konnte ihnen vorgehalten werden, dass sie mit einer allzu stark auf Neuerungen bedachten Politik die Grundlagen ihrer
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Vgl. zusammenfassend Luise Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit. Studienhandbuch 1500–1789. Paderborn u. a. 2009, 183f; Wolfgang Reinhard, Probleme deutscher Geschichte 1495–1806. Reichsreform und Reformation 1495–1555. (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 9.) 10. Aufl. Stuttgart 2001, 53. Eike Wolgast, Art. Reform, Reformation, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997, Bd. 5, 1984, 313–360. Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, 349–375. Vgl. Walter Sparn/Gerrit Walther, Art. Fortschritt, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bislang 11 Bde. Stuttgart/Weimar seit 2005, Bd. 3, 2006, 1079–1084; Friedrich Jaeger, Art. Neuzeit, in: ebd., Bd. 9, 2009,158–182, hier 159–166. Vgl. den Beitrag von Wolf-Friedrich Schäufele, Zur Begrifflichkeit von „alt“ und „neu“ in der Frühen Neuzeit, in diesem Band. Vgl. hierzu Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, 93f.; Horst Carl, Art. Herrschaft, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 8), Bd. 5, 2007, 399–416, hier 399–401.
Einleitung
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eigenen Herrschaft unterminieren würden und ihre Stellung in letzter Konsequenz selbst gefährdeten. Nicht zufällig gehörte es zum Standardrepertoire der kaiserlichen Edikte gegen die Reformation, all jenen höheren Ständen, die Luther und seine Anhänger förderten, die Unterstützung von Entwicklungen vorzuwerfen, unter denen sie auf kurz oder lang schließlich selbst begraben werden würden. Sehr eindringlich hatte dies Karl V. im Wormser Edikt dargelegt, mit drohendem Unterton gegen alle hohen Reichsstände, und wiederholte es seither nachdrücklich. Dies war eine Drohung, die sicher ihre Wirkung nicht völlig verfehlt hat.11 Gerade diese grundsätzlich neuerungsskeptische Grundtendenz innerhalb der politischen Eliten macht die Untersuchung obrigkeitlicher Reformpolitik zu einem lohnenden Gegenstand. Dies gilt umso mehr, als sich auch unser Bild von Herrschaft und herrschaftlichem Handeln in der Frühen Neuzeit seit einiger Zeit grundsätzlich verändert hat. Der Begriff des Absolutismus, der die Vorstellung eines autonom handelnden und sein Handeln nicht rechtfertigenden Souveräns impliziert, ist seit langem in der Kritik.12 Es wird herausgestellt, dass die Regierenden in der Frühen Neuzeit auf die Zustimmung der Regierten angewiesen waren. Trotz der unbestrittenen hierarchischen Ordnung war das Regieren in hohem Maße ein Prozess des „Aushandelns“.13 Inzwischen geht die Historiographie zuweilen so weit, von „konsensorientierter Herrschaftsübung“ in der Frühen Neuzeit zu sprechen.14 Geschichte in Form von Memoria und Exempla war dabei ein wichtiges Mittel, um Herrschaft und politisches Handeln zu legitimieren15, Kunst ihr überragendes Ausdrucksmedium. Johannes 11
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Edikt Kaiser Karls V. gegen Luther und seine Anhänger, 8. Mai 1521, in: Adolf Wrede (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. (Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe. Bd. 2) Gotha 1896, 640–659. Siehe zum Stand der aktuellen Forschungsdiskussion: Lothar Schilling (Hrsg.), Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch-französische Bilanz. L’absolutisme, un concept irremplaçable? Une mise au point franco-allemande. (Pariser Historische Studien, Bd. 79.) München 2008. Vgl. auch den Beitrag von Schilling in diesem Band. Vgl. Ronald Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln/Wien/Weimar 2005; Markus Meumann/ Ralf Pröve (Hrsg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses. (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit, Bd. 2.) Münster 2004. Wolfgang Mager, Genossenschaft, Republikanismus und konsensgestütztes Ratsregiment. Zur Konzeptionalisierung der politischen Ordnung in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Stadt, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – Res Publica-Verständnis – konsensgestütze Herrschaft. (Historische Zeitschrift, Beih. 39.) München 2004, 13–122. Vgl. dazu (mit zahlreicher weiterer Literatur) Markus Völkel, Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive. Köln/Weimar/Wien 2006, darin Kap. 10 (Die Frühe Neuzeit in Europa bis 1800), 195–249; Erhard Wiersing, Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte. Paderborn u. a. 2007, 173–312; Thomas Brockmann, Das Bild des Hauses Habsburg in der dynastienahen Historiographie um 1700, in: Christoph Kampmann/ Katharina Krause/Eva-Bettina Krems/Anuschka Tischer (Hrsg.), Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Köln/Weimar/Wien 2008, 27–57; Klaus Malettke, Dynastischer Aufstieg und Geschichte. Charakterisierung der Dynastie durch bourbonische Könige und in der zeitgenössischen Historiographie, in: ebd., 13–26; Christoph Kampmann, Geschichte als Argument. Historische Mythen im Wandel des frühneuzeitlichen Staatensystems, in:
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Burkhardt zählt die Memoria deshalb zu den wichtigsten Stützmitteln des noch defizitären vormodernen Staates.16 Die Berufung auf die Geschichte war dabei alles andere als konfliktfrei. Wie eine vorangegangene Tagung der Herausgeberinnen und des Herausgebers verdeutlicht hat, waren es „konkurrierende Modelle“, welche die politischen Akteure auch als Geschichtsbilder konstruierten.17 Johannes Burkhardt sieht in der memorialen Stützfunktion des vormodernen Staates geradezu eine wesentliche Ursache der Bellizität der Frühen Neuzeit.18 Gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen wurden auch als eine Auseinandersetzung verschiedener Geschichtsbilder geführt: Reformen wurden „fast durchweg als Wiederherstellung der durch Missbräuche gestörten Ordnung gerechtfertigt“19, Widerstandsbewegungen wie die Reformation oder die im Bauernkrieg von 1525 mündenden Proteste gegen neue Formen von Recht und Herrschaft argumentierten jedoch nicht minder mit tatsächlichen oder vermeintlichen historischen Zuständen und Aktionsformen.20 Die Berufung auf Geschichte und Tradition bedeutet mithin alles andere, als dass die Frühe Neuzeit eine statische Epoche gewesen wäre. Vielmehr ist das frühneuzeitliche Geschichtsverständnis, die Berufung auf und die Argumentation mit der Vergangenheit, ausgesprochen komplex.21 Die Frühe Neuzeit als die Epoche des Übergangs zur Moderne war in der Praxis nicht nur reformfähig, sondern auch innovationsfähig. Dies wird in jüngster Zeit insbesondere am Beispiel der Friedensfähigkeit der Epoche betont, denn die politischen
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Zeitschrift für historische Forschung 32, 2, 2005, 199–220. Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für historische Forschung 24, 1997, 509–574, hier 561ff. Die Tagung fand im Oktober 2006 statt. Die Tagungsakten wurden publiziert: Kampmann/Krause/ Krems/Tischer (Hrsg.), Konkurrierende Modelle (wie Anm. 15). Siehe dazu neben dem oben zitierten Titel auch: Johannes Burkhardt, Die kriegstreibende Rolle historischer Jubiläen im Dreißigjährigen Krieg, in: ders. (Hrsg.), Krieg und Frieden in der historischen Gedächtniskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart. (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg, Bd. 62.) München 2000, 91–102; ders., Kriegsgrund Mythos? Bilder und Überlegungen zum Zusammenhang von Gedächtniskultur und Frieden in der Neuzeit, in: Volker Dotterweich (Hrsg.): Mythen und Legenden in der Geschichte. (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg, Bd. 64.) München 2004, 93–127. So Lothar Schilling, Art. Reform, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 8), Bd. 10, 2009, 777–785, hier 783. Vgl. auch den Beitrag von Anuschka Tischer in diesem Band. Zu der an der Wende zur Neuzeit in bäuerlichen Widerstandsbewegungen nahezu stereotypen Argumentationsform des „guten alten Rechts“ als einer erst spätmittelalterlichen Entwicklung siehe Simon Teuscher, Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter. (Campus Historische Studien, Bd. 44.) Frankfurt a. M. 2007. Zur Vielfältigkeit und Komplexität des frühneuzeitlichen Geschichtsdenkens siehe neben dem zitierten Titel von Wiersing (wie Anm. 15) vor allem Constantin Fasolt, The Limits of History, Chicago/London 2004, sowie in Kürze: Anuschka Tischer, Der Wandel der Geschichte und die Kunst des Friedens: Geschichtsbilder und historische Argumentationen im Kontext des Westfälischen Friedens, in: Christoph Kampmann/Maximilian Lanzinner/Guido Braun/Michael Rohrschneider (Hrsg.), L’Art de la Paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens. (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., Bd. 34.) Münster 2010, S. 415–436.
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Akteure fanden gerade in der Bellizität ihrer Zeit immer neue und konstruktive Wege, Frieden zu schließen.22 Faktisch finden sich in der Frühen Neuzeit zahlreiche Beispiele, wie in der politischen Praxis Neues etabliert wurde, mitunter in radikalem Bruch mit der Vergangenheit, nicht nur Reformen, sondern auch Revolutionen. Dieser Sammelband, der aus einem vom 15. bis zum 17. Oktober 2009 in Marburg durchgeführten Kolloquium hervorgegangen ist, möchte den Umgang mit dem Neuen in Politik und Kunst in einer traditionsorientierten Umwelt näher beleuchten. Die Verhaftung in der Tradition macht die Frühe Neuzeit zu einer Phase, in der Neuerungen besonderer Durchsetzungs- und Legitimationsstrategien bedurften, um wirksam werden zu können. Die Verfahren zur Kreation und Legitimation von Neuerungen werden aus historischer und kunsthistorischer Sicht an Fallbeispielen erörtert. Dabei wird der Zeitraum vom frühen 16. Jahrhundert bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts in den Blick genommen; in geographischer Hinsicht reicht die Spannweite der Exempel, ausgehend vom Reichsgebiet, vom elisabethanischen England über das Frankreich Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. bis ins Russland Peters des Großen. Aus kunsthistorischer Perspektive sind nicht nur architektonische und städtebauliche Projekte von Interesse, sondern ebenso neue Medien wie die Druckgraphik oder bahnbrechende technische Neuerungen wie etwa Wasserspiele in den fürstlichen Gartenanlagen. Historisch werden Innovationen in Staat und Verfassung, im Militärwesen und in den internationalen Beziehungen beleuchtet. Es geht dabei nicht darum, einmal mehr aus einem distanzierten Blick aufzuzeigen, wo seit dem 16. Jahrhundert Neuerungen sichtbar werden und sich möglicherweise ununterbrochene Traditionslinien bis in die Moderne weiterverfolgen lassen. Es geht auch nicht um Begründungen des genuin künstlerisch Neuen, das – wie etwa die Entdeckung der Zentralperspektive oder Neuerungsprozesse in der Kunst um 160023 – für die künstlerische Praxis und ihre Rezeption sowie für das Selbstverständnis von Künstlern und ihrer Kunst revolutionär waren. Ziel ist es vielmehr zu untersuchen, in welchen Situationen und unter welchen Rahmenbedingungen welche Formen, Durchsetzungs- und Legitimationsstrategien nötig waren, Neuartigem durch Modellsetzung zum Erfolg zu verhelfen bzw. was ein Scheitern von Neuerungen verursachen konnte. Die enge Verknüpfung von historischer und kunsthistorischer Perspektive bildet dabei eine Grundvoraussetzung des Gelingens, da Projekte wie die später so genannten „Grands Boulevards“ in Paris im 17. Jahrhundert oder Idealprojekte für den Schlossbau im Alten Reich von den historisch-politischen Rahmenbedingungen nicht zu trennen sind und politische Botschaften tragen.
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Siehe dazu: Michael Rohrschneider, Der gescheiterte Frieden von Münster. Spaniens Ringen mit Frankreich auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643–1649). (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., Bd. 30.) Münster 2007; Ralf-Peter Fuchs, Ein ‚Medium zum Frieden‘. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges. (Bibliothek Altes Reich, Bd. 4.) München 2010; und die Beiträge in Kampmann u. a. (Hrsg.), L’Art de la Paix (wie Anm. 21). Vgl. etwa die mit überwiegend kunsthistorischen Referaten durchgeführte Tagung „Novità – das ‚Neue‘ in der Kunst um 1600: Theorien, Mythen, Praktiken“, 28.02.–01.03.2008. LMU München, Sonderforschungsbereich 573, „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“.
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Ziel war es, eine interdisziplinäre, epochenübergreifende und europäisch vergleichende Perspektive zu erhalten, ohne dass es angesichts der Vielfalt von Neuerungen und Neuansätzen zu einer Konturlosigkeit des Untersuchungsgegenstands kommt. Daher wurde das „Neue Modell“ in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Ein Neues Modell im hier zugrunde liegenden Verständnis stößt Neuartiges, ja beispiellos Neuartiges an, wobei entscheidend ist, dass es in die Zukunft vorbildhaft wirken soll oder aber als vorbildhaft wahrgenommen wird. Ein Neues Modell hat damit eine besonders markante, man könnte angesichts des traditionsorientierten Umfelds auch sagen, geradezu provozierende Stellung. Im Unterschied zu Neuerungen in einem allgemeinen Sinne hat ein neues Modell einen oder mehrere konkret benennbare Urheber, wobei im Mittelpunkt dieses Bandes solche Neuen Modelle stehen, die auf Initiative von Herrschaft und Obrigkeit entstanden sind. Solche Neuen Modelle können bewusst geschaffen worden sein, um vorbildhaft zu wirken, sie können aber auch lediglich so wahrgenommen werden. Beide Formen werden hier eine Rolle spielen. Neue Modelle als Ausgangspunkt der Betrachtung von alt und neu in der Frühen Neuzeit zu wählen, gibt die Möglichkeit, sich diachron und vergleichend mit den Grundfragen dieses Kolloquiums zu beschäftigen: Wie kam es zu Neuerungen dieser Art, wie sind sie entstanden? Wie wurden sie legitimiert und wie wurden sie durchgesetzt? Mit dem Bezug auf den Modell-Begriff knüpfen die Herausgeberinnen und der Herausgeber an den Grundgedanken an, der schon im Mittelpunkt ihres Kolloquiums von 2006 zu „konkurrierenden dynastischen Modellen“ stand. In diesem Kolloquium, dessen Ergebnisse seit 2008 vorliegen24, hat sich gezeigt, dass sich der Modell-Begriff durchaus für solche interdisziplinären Betrachtungsperspektiven eignet. Die freundliche Aufnahme der Ergebnisse, gerade in Hinblick auf die Tauglichkeit des Modell-Begriffs, hat die Herausgeber ermutigt, den Begriff auch hier, bei der Kreation, der Legitimation und der Durchsetzung von vorbildhaft Neuem in einer traditionsorientierten Umgebung anzuwenden und zu erproben. Bewusst haben wir im Vergleich zum vergangenen Kolloquium bzw. dem entsprechenden Tagungsband den Betrachtungszeitraum ausgeweitet und die gesamte Frühe Neuzeit vor Ausbruch der Französischen Revolution in den Blick genommen. Der Fortschrittsgedanke gewinnt erheblich an gesellschaftlicher Kraft, und damit verändern sich die Voraussetzungen. Den Auftakt macht ein Beitrag des Kirchenhistorikers Wolf-Dietrich Schäufele (Marburg), der grundlegend die Begrifflichkeit von „alt“ und „neu“ in der Frühen Neuzeit beleuchtet. Diese Begriffe waren (und sind) mehr als chronologische Begriffe. Es sind immer auch Werturteile zur normativen Kategorisierung des Bezeichneten. Als solche durchliefen sie gerade in der Frühen Neuzeit einen entschiedenen Wandel, weg von einer Wertschätzung des Alten, hin zu einer Wertschätzung des Neuen. Den Rückbezug auf die Vergangenheit ersetzte langfristig das Bekenntnis zum Fortschritt. Dieser Wandel hatte zwangsläufig entscheidenden Einfluss auf die Darstellung der Gegenwart ebenso wie auf politische Argumentationen. Noch ganz in diesen Zwiespalt zwischen der Vergangenheit als Norm und dem Willen zur Veränderung an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit fiel die von Anuschka Tischer (Marburg) thematisierte Reichsreform. In ihr wurde der Begriff der (alten) Ordnung zum zentralen Legitimierungsargument, ein Argument, das in der Theorie sogar zu Vorschlägen für radikale Eingriffe in den gegenwärtigen Zustand genutzt wurde. Die politische Praxis war 24
Siehe oben Anm. 15.
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weniger radikal, aber sie war ein innovativer Konsens widerstrebender Konzeptionen und Interessen. Die Reform schuf gleichsam ein neues altes Reich. Als politisches Modell für die Zukunft erwies sich die Reichsreform damit nicht, wohl aber wurde sie selbst zu einem Modell memorialer Konstruktionen. Dabei hatte die Reichsreform wichtige Bereiche der größeren Reformbedürftigkeit der Gesellschaft am Ausgang des Mittelalter auch ausgeklammert und den Weg zum Neuen hin hier gerade nicht gefunden, sei es der soziale Bereich, der sich in Aufständen bis hin zum Bauernkrieg 1525/26 immer wieder äußerte, sei es der religiöse Bereich, der schließlich in die Reformation mündete. Im Zuge der obrigkeitlichen Reformation stellte sich dann auch die Frage nach der Neugestaltung anderer gesellschaftlicher Felder. Die Universität war dabei, wie der Beitrag von Ernst Wilhelm Winterhager (Marburg) deutlich macht, seit jeher von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wesentlich tangiert, und der Ruf nach Reform der Universitäten erfolgt in der Regel im Rahmen einer Reform der Gesellschaft und umgekehrt. Die Universität Marburg war 1527 die erste nicht päpstlich approbierte Universitätsgründung und basierte auf säkularisiertem Kirchengut. Der Erfolg des Marburger Modells lag aber nicht in der Herausstellung des radikalen Neubeginns, sondern gerade darin, dass Landgraf Philipp die Neugründung in der europäischen Hochschultradition verortete und so schließlich auch 1541 das kaiserliche Privileg für die neue Universität erlangte. Der Erfolg des neuen Modells verdankte sich also vor allem der Tatsache geschickter landesherrlicher Betonung des alten, nicht des neuen Modells, wobei gerade die landesherrlich kontrollierte Hochschule hier zum Abschluss kam und nicht nur ein neues Universitätsmodell darstellte, sondern auch zu der mit der Reformation eingeleiteten weiteren Stärkung der landesherrlichen Stellung beitrug. In die Zeit um 1500 und damit in die lange Regierungsphase Kaiser Maximilians I. fiel nicht nur der Durchbruch des Holzschnitts als Massenmedium, sondern auch das konsequente Ausloten der technischen Möglichkeiten dieses Druckverfahrens. Thomas Schauerte (Nürnberg) widmet sich in seinem Beitrag der in engem Austausch mit kaiserlichen Gelehrten und Handwerkern ab etwa 1512 entwickelten Gattung Riesenholzschnitt in Gestalt des über 50 Meter langen Triumphzugs Maximilians, der mit einem enormen Aufschwung genealogischer Forschungen verbunden war. Die technisch wie inhaltlich innovativen genealogischen Großdrucke, die als beliebig reproduzierbares und leicht zu versendendes Medium die monumentalen Großgenealogien in Malerei oder Skulptur nahezu ersetzten, sind im Rahmen der Frage nach den „neuen Modellen im alten Europa“ von großem Interesse – nicht zuletzt wegen des hohen Legitimationsanspruchs, der ihre massenhafte Verbreitung offenbar erst ermöglichte. Die Spannung aus tradiertem System und innovativem Potential manifestiert sich in der Frühen Neuzeit vor allem im Schlossbau als einer der höchsten Formen architektonischer Repräsentation von politischer wie gesellschaftlicher Macht. Anhand des Schlosses Albrechtsburg bei Dresden, das in den 1470/80er Jahren unter Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht von Sachsen erbaut wurde, weist Matthias Müller (Mainz) auf ein neues Modell höfischer Kultur im Alten Reich hin, das in erster Linie vom wettinischen Fürstenhaus ausging: Das Modell des „gebildeten Regenten“ und seine Visualisierung in der Architektur, insbesondere in den als Studierstuben angelegten Turmzimmern. Mit dieser Etablierung eines Fürstenbildes folgte die kulturelle Entwicklung im Alten Reich mit einigen Jahrzehnten Verspätung auf die Vorbilder Frankreich und Italien. Erstaunlich ist in Schloss Albrechtsburg
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indes das Phänomen einer Architekturgestaltung, die konstruktiv zwar innovativ, formal jedoch eher retrospektiv, romanisierend ausfällt und sich in den Gewölbe- und Profilformen manifestiert. Der funktionale und symbolische Rückzugsort des klugen Regenten könnte somit zugleich ein Ort gewesen sein, an dem eine geschichtlich reflektierte Architekturform von einem mit historischer Bildung ausgestatteten fürstlichen Landesherrn gezeugt hat, der an den Ruhm der Wettiner erinnern wollte. Auch bei der sogenannten Landshuter Stadtresidenz, dem „Neuen Bau“, des Wittelsbacher Herzogs Ludwigs X. kann man von einem neuen Modell fürstlicher Architektur sprechen, wie Ulrich Schütte (Marburg) darlegt. Die ästhetischen Innovationen verweisen zum einen sehr deutlich auf die Sonderstellung des fürstlichen Auftraggebers, die der prekären dynastischen Position zu verdanken war, und signalisieren zugleich eine Rezeption aktueller italienischer Muster, die von den Nachfolgern und Standesgenossen des Bauherrn jedoch weder in ihrer gedächtnisstiftenden Tat, noch in ihrer kulturellen Orientierung aufgenommen wurden. Darin wird eine im 16. Jahrhundert noch sehr deutliche Differenz zwischen der italienischen und der deutschen Form der Hofkultur deutlich: Die neuen Höfe in Italien waren nicht wie die Höfe im Alten Reich durch lange währende fürstliche Traditionen, sondern durch soziale Dynamik und künstlerische Innovation in den Residenzstädten geprägt. Auch Ludwig X. ließ ein von alltäglichen höfischen Nutzungen weitgehend freigestelltes Monument errichten, das mit seinem Traditions- und Konventionsbruch ein Denkmal sein wollte. Jedoch gab es im Reich kein mit dieser Absicht vergleichbares Interesse. Der Neubau konnte damit nicht als ein Modell künftiger Architektur- und Herrschaftspraxis dienen. Die Beiträge von Kerstin Weiand (Marburg) und Ulrich Niggemann (Marburg) widmen sich der politischen Modellbildung in England im 17. Jahrhundert: Kerstin Weiand macht deutlich, wie Elisabeth I. zu einem changierenden Modell unterschiedlicher politischer Programme wurde, eine Memorialfigur, die mit immer wieder neuen Inhalten verbunden wurde. Elisabeth diente dabei als historische Chiffre, das Neue als scheinbar traditionell verankert erscheinen zu lassen. Doch wie der Beitrag von Ulrich Niggemann zeigt, war auch die Begründung des Neuen als tatsächlich Neuem möglich: Die englische Republik war unzweifelhaft ein neues Phänomen in der Staatenwelt der Frühen Neuzeit, und mit Revolution und der Hinrichtung des Königs war dieser Neuanfang an Radikalität auch kaum zu überbieten. James Harringtons Werk „Commonwealth of Oceana“, das Niggemann näher untersucht, versuchte denn auch nicht mehr in gewohnter Weise, den Neubeginn durch Rückgriffe auf das Altertum zu legitimieren, sondern die Antike diente als Analysematerial für zukünftiges Handeln. Hier zeigt sich, dass die Geschichte bereits im 17. Jahrhundert wieder wie von Cicero postuliert als „Lehrmeisterin des Lebens“ verstanden wurde. Als bei genauem Hinsehen weniger originell als vermutet erweist sich dann allerdings das zentrale Instrument der englischen Revolution, die „New Model Army“, die schon dem Namen nach beansprucht, ein „neues Modell“ zu sein. Doch wie Jürgen Luh (Potsdam) zeigen kann, orientierte sich diese neu geschaffene Armee in Kampftaktik und Rekrutierungsweisen an kontinentalen Vorbildern, namentlich an der oranischen Heeresreform des 16. Jahrhunderts, die ihrerseits von antiken Vorbildern inspiriert war. Wirklich neu und Modell für andere war allerdings in der „New Model Army“ die farbige Uniformierung, die als Element dieser neuen Armee am wenigsten im Gedächtnis geblieben sein dürfte.
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Ein Modell, das Exklusivität beanspruchte, stellten der Abbruch der Pariser Stadtbefestigung und die Anlage von Triumphbögen unter Ludwig XIV. dar. Katharina Krause (Marburg) zeigt am Beispiel der Boulevards, wie mit dem Alleenring ein Element des Festungs- und Städtebaus gezielt eingesetzt wurde, um die innen- und außenpolitisch errungene Befriedung Frankreichs durch die Lösung der Stadt aus den Fesseln ihrer Mauern zu realisieren und zeichenhaft zu überhöhen. Das neue Bild der „Stadt ohne Mauern“ musste in Frankreich bis weit in das 18. Jahrhundert hinein aus militärischen und symbolischen Gründen auf die Hauptstadt beschränkt bleiben. Im Ausland (London, Berlin) ging man andere Wege, um die Frage des Wachstums über die Befestigung hinaus zu lösen. Erst mit der Niederlegung von Befestigungsgürteln im 19. Jahrhundert konnte das für Paris entwickelte Modell des 17. Jahrhunderts breite Wirkung entfalten. Das Verhältnis zwischen Kunst und Natur beschäftigt alle Schriften zur Gartenkunst im 17. und 18. Jahrhundert, jedoch drückt Antoine-Joseph Dezallier d’Argenvilles Forderung, „daß die Kunst der Natur weiche“, in der zweiten Auflage seiner Théorie et pratique du jardinage von 1713 ein neues Naturverständnis aus, das für die Gartenkunst zum Vorbild erhoben wird. Iris Lauterbach (München) widmet sich diesen neuen, natürlichen Gestaltungselementen vor allem in der Farbe Grün, dem Rasen wie auch der grünen Architektur, und spürt Dezallier d’Argenvilles‘ Urteil über die seiner Ansicht nach übertrieben künstlich und architektonisch konzipierten Gärten des Königs und des Adels in und bei Paris nach. Dennoch hat sich gerade Marly als neues Modell etabliert, was darauf hindeutet, dass sich die Ausdifferenzierung verschiedener Nutzungskonzepte für die Residenz und die Schlösser des französischen Hofes in der Gestaltung wie auch der Wahrnehmung ihrer Gärten zeige: Der Garten von Marly, der sich besonders den Beschreibungen des jüngeren Plinius und dessen Betonung der Farbe Grün verdankt, wurde vorwiegend für die Promenade und für gesellige Spiele genutzt. Hier wurde ein neues Modell des sichtbaren Zusammenspiels von Garten, Emotion und Kommunikation geschaffen. Einem besonders komplexen Fall zwischen Tradition und Innovation widmet sich Lothar Schilling (Augsburg), der der Frage nachgeht, inwieweit man von einem neuem Modell Absolutismus sprechen könne. Hier ist zum einen zu berücksichtigen, inwieweit man angesichts der eingangs bereits angeführten aktuellen Absolutismus-Kritik überhaupt noch von Absolutismus sprechen kann. Die Frage ist aber nicht nur, inwieweit das Ideal des absoluten Herrschers, mit dem zeitgenössisch operiert wurde, umgesetzt wurde, sondern auch, inwieweit es wirklich neu war. Die Einführung neuer, absolutistischer Staatsmodelle in klarem Bruch mit der alten Ordnung lassen sich finden, so in Böhmen 1627 oder in Dänemark 1665. Aber inwieweit kann man wirklich von einem Modell Absolutismus sprechen? Die politischen Akteure propagierten in der Regel keineswegs eine neue Herrschaftsform, sondern argumentierten in traditioneller Weise mit historischen Vorbildern und mit der Wiederherstellung der natürlichen Ordnung. Vor allem aber, dies macht Schilling deutlich, gab es kein einheitliches Modell des Absolutismus, sondern verschiedene, durchaus auch widersprüchliche Modelle. Inwieweit man beim Absolutismus überhaupt von Modellbildung sprechen kann, darin sieht er eine – durchaus lohnende – Forschungsaufgabe für die Zukunft. Gerade weil Neue Modelle in der Frühen Neuzeit aufrüttelnd, bisweilen provozierend erschreckend wirken konnten, eigneten sie sich auch als Medium der symbolischen poli-
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tischen Kommunikation. Damit beschäftigt sich der Beitrag von Christoph Kampmann (Marburg). Zu Beginn des Pfälzischen Krieges (1688–1697)) zwischen dem Reich und dem Frankreich Ludwigs XIV. erprobte die kaiserliche Regierung gänzlich neuartige Formen der Reichspolitik, die demonstrativ auf eine zentralistisch-dynastische Ordnung des Reichs unter Führung des Kaisers und des Hauses Österreich zielten. Die Botschaft war eindeutig: Um der von Ludwig XIV. drohenden Gefahr zu entgehen, müssten sich die Reichsstände künftig viel stärker ihrem Reichsoberhaupt unterordnen und einen Teil ihrer gewohnten Freiheit, ihrer „Libertät“, zugunsten ihrer Sicherheit aufgeben. Die Gründung von St. Petersburg als neue Hauptstadt des Zaren und ihre städtebaulichen und baukünstlerischen Lösungen, denen sich Ada Raev (Bamberg) widmet, waren in einem stilgeschichtlichen Kontext der europäischen Kunstgeschichte zwar Ausprägungen einer bereits lange etablierten Formensprache. In der historischen Situation des Zarenreiches jedoch stellten sie nahezu eine Summe der „neuen Modelle“ dar, die zum Symbol des neuen, mit der europäischen Zivilisation verbundenen Russlands erhoben wurde, um auch der eigenen Herrschaft ein Denkmal zu setzen. Dass die Summe der Modelle nicht zur „Bastardarchitektur“ verkam, sondern durchaus neue Maßstäbe setzte, verdankt sich dem planvollen und disziplinierten Einsatz der weitsichtigen Herrscher und Herrscherinnen im 18. Jahrhundert, die es verstanden, das kulturelle Kapital des neuzeitlichen Europa auf russischem Boden gewinnbringend anzulegen. Ein ungewöhnliches neues Modell künstlerisch-repräsentativer Art findet sich in der Place Royale in Nancy in der Mitte des 18. Jahrhunderts: Eva-Bettina Krems (Marburg) widmet sich der Maßnahme des regierenden Souveräns in Lothringen, des exilierten polnischen Königs Stanislas Leszczyński, seinen Nachfolgern ein Denkmal zu errichten und damit die gleichzeitige Herrschaft zweier Souveräne in Lothringen zur Anschauung zu bringen. Die genealogische sowie territoriale Irrelevanz herkunftsbezogener Nachweispflicht des Königs im Exil ließ ihn das Neue schaffen. Nach außen blieb dem Exilkönig nur ein einziger Ausweg aus dem Dilemma mangelnder Rechtfertigung: Er musste seine Legitimation aus der Zukunft beziehen. Stanislas Leszczyński schuf in seiner Platzanlage in Nancy mit dem Versuch der Visualisierung gesellschaftlicher urbanistischer Utopien zugleich eine eigene Identität; eine Identität, die jenseits der vom Land auferlegten, der Tradition, und jenseits der vom König auferlegten, der Pflicht, besteht. Einem zweifellos radikalen neuen Politik-Modell widmet sich Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen) mit den zwischen 1772 und 1795 erfolgten Polnischen Teilungen. Dass die Teilungen in ihrer Art und Qualität ohne Beispiel waren, das gaben die Akteure unumwunden zu. Die Begründungen für ihr Vorgehen waren aber durchaus defensiv. Sie argumentierten, gegen die Anarchie in Polen und in den 1790er Jahren dann auch gegen das „Jakobinertum“ vorzugehen, und stellten die Teilungen damit in eine friedensstiftende Absicht, welche sich im Prinzip in die traditionelle Argumentation der Wiederherstellung alter Ordnung mit neuen Mitteln einreihen lässt. Die Teilungsmächte selbst nahmen sich die einmal erfolgreich durchgeführte Separation von 1772 zum Modell für weitere Maßnahmen in anderen Regionen wie etwa der Plan zur Teilung des Osmanischen Reiches. Angesichts der Aufteilung Europas beim Wiener Kongress 1815 mag man durchaus von einem Modellcharakter der Teilungen sprechen. Allerdings, dies macht Bömelburg deutlich, war es ein Modell, zu dem sich angesichts breiter Ablehnung niemand wirklich bekennen mochte.
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Der interdisziplinäre Ansatz zur Betrachtung des historischen Modells, der sich bereits in einem Marburger Kolloquium von 2006 als fruchtbar erwiesen hat, wurde 2009 unter neuen Vorzeichen fortgesetzt. Erneut haben sich dabei alle Teilnehmer im Sinne der Fragestellung über die Grenzen ihrer jeweils eigenen Disziplin aufeinander eingelassen, wofür ihnen an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich gedankt sei. Das Ergebnis, ein von der zeitlichen, räumlichen und methodischen Perspektive breit angelegter Austausch, ist hier dokumentiert. Wir hoffen, damit die Grundlage weiterer Diskussionen geschaffen zu haben. Ein solches Werk kann nicht gelingen ohne vielfältige Förderung und Unterstützung. Dank gebührt der Universitätsstiftung der Philipps-Universität Marburg, die die Tagung großzügig unterstützte. Auf Seiten des Verlages danken wir Elena Mohr und Susanne Kummer für die höchst kompetente Betreuung der Publikation. Für die umsichtige und sorgfältige Hilfe bei der Durchführung des Kolloquiums und der Erstellung des Manuskripts gilt Anastasia Dittmann, Dennis Janzen, Kornelia Oepen, Boris Polifka und Franziska Scheuer der herzliche Dank von Herausgeberinnen und Herausgeber.
Zur Begrifflichkeit von „alt“ und „neu“ in der Frühen Neuzeit Wolf-Friedrich Schäufele
„Alt“ und „neu“ sind mehr als bloße Verhältnisbegriffe, mehr als bloße Koordinaten auf dem Zeitstrahl. Soweit wir sehen können, haben Menschen mit den Termini „alt“ und „neu“ schon immer mehr oder minder explizite Werturteile verbunden. Das ist nur natürlich, steht doch mit der Unterscheidung von „alt“ und „neu“ das Urteil über Zeit und Geschichte schlechthin zur Debatte – Phänomene, die von Anfang an die menschliche Existenz und das Nachdenken über sie in besonderem Maße bestimmt haben. Jede der drei idealtypisch unterscheidbaren Grundauffassungen über den Zeit- und Geschichtsverlauf – Kreislauf, Verfall oder Fortschritt1 – ist mit einer spezifischen Perspektive auf das Alte und das Neue verbunden. In Abhängigkeit von den jeweils dominierenden Geschichtsauffassungen sind daher auch die Begriffe des Alten und des Neuen gewöhnlich epochenspezifisch konnotiert. Im Laufe der heute so genannten Frühen Neuzeit kam es zu einem allmählichen, aber in der Substanz tiefgreifenden und folgenreichen Wandel in den Urteilen über „alt“ und „neu“. An die Stelle des christlich-augustinischen Geschichtsbildes mit seiner charakteristischen Mischung von Verfalls-, Kontinuitäts- und Fortschrittserwartungen trat schließlich die aufklärerische Fortschrittsidee, wodurch die bisherigen Bewertungen des Alten und des Neuen in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Die veränderte Wertung von „alt“ und „neu“ ist somit selbst eines – und nicht das unbedeutendste – der „neuen Modelle“ im „alten Europa“. Bis heute hat das Neue seinen sprichwörtlichen Reiz nicht verloren. In der Werbesprache ist es nach wie vor das zentrale Schlüsselwort. Und gerade in den letzten Jahren macht sich in der Philosophie, der Trend- und Kreativitätsforschung und anderen Fächern bis hin zur Unternehmensberatung ein verstärktes Interesse an der Thematik des „Neuen“ bemerkbar.2 Wir wollen im Folgenden zunächst einen Blick auf die traditionelle, mit dem christlichaugustinischen Geschichtsbild verbundene Auffassung von „alt“ und „neu“ werfen, die aus dem Mittelalter bis weit in die Frühe Neuzeit hineinwirkte. In einem zweiten Teil wollen wir an ausgesuchten Beispielen praktische Konsequenzen und Anwendungen dieser Anschau1
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Werner Berthold, Grundformen der Geschichtsauffassungen unter dem Aspekt der Zeit: Kreislauf, Rückschritt und Fortschritt, in: Hartmut Boockmann/Kurt Jürgensen (Hrsg.), Nachdenken über Geschichte. Beiträge aus der Ökumene der Historiker in memoriam Karl Dietrich Erdmann. Neumünster 1991, 339–366. Vgl. z. B. Boris Grojs, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München/Wien 1992. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2004; Heinrich von Pierer/Bolko von Oetinger, Wie kommt das Neue in die Welt. München/Wien 1997 (Sonderausgabe Berlin 2000); Franz Liebl, Der Schock des Neuen. Entstehung und Management von Issues und Trends. München 2000; Utz Claassen/Jürgen Hogrefe (Hrsg.), Das Neue denken – das neue Denken. Ethik, Energie, Ästhetik. Göttingen 2005; Günter Abel (Hrsg.), Kreativität: XX. Deutscher Kongress für Philosophie, 26.–30. September 2005 an der Technischen Universität Berlin. Kolloquienbeiträge. Hamburg 2006; Günter Abel (Hrsg.), Kreativität: XX. Deutscher Kongress für Philosophie, 26.–30. September 2005 in Berlin. 2 Bde. Berlin 2005; Peter Seele (Hrsg.), Philosophie des Neuen. Darmstadt 2008.
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ung und ihre allmähliche Wandlung in der Frühen Neuzeit demonstrieren. Abschließend soll gezeigt werden, wie sich, aus den bisherigen Motiven heraus, sie aber zugleich überschreitend und in ihr Gegenteil verkehrend, die spezifisch moderne Auffassung von „alt“ und „neu“ herausbildete. Es wird dabei darauf ankommen, große Linien zu ziehen. Ohne Vereinfachungen geht das nicht ab. Die Auffassungen, die im Folgenden skizziert werden, sind durchweg Idealtypen im strengen Sinne Max Webers. Auch was über die zeitliche Entwicklung und Umformung dieser Auffassungen gesagt werden kann, ist ausnahmslos mehr oder weniger stark vereinfacht. So gilt für die folgenden Ausführungen als dauernde Fußnote jene Sentenz, die der Schriftsteller Ludwig Marcuse (1894–1971) – nicht zu verwechseln mit dem bekannteren Soziologen Herbert Marcuse – als Lebensmotto über seinem Schreibtisch hängen hatte: „Es ist alles immer viel komplizierter.“3
1. Das alte Modell: „alt“ und „neu“ im Kontext des christlich-augustinischen Geschichtsbildes Die Vorstellungen von „alt“ und „neu“ sind in der Frühen Neuzeit zunächst, nicht anders als im Mittelalter, vom christlich-augustinischen Geschichtsbild und den in ihm fortwirkenden Traditionen der klassischen Antike und der jüdisch-christlichen Überlieferung geprägt. Dabei handelt es sich um einen spannungsreichen Komplex heterogener Vorstellungen, der kreative Fortbildungen gestattete, wie wir sie gerade auch in der Frühen Neuzeit finden.
1.1 Presbýteron kreîtton (Älter ist besser): Das gemein-antike Erbe Zum Erbe der heidnischen Antike gehört die Überzeugung, dass das Alte dem Neuen grundsätzlich überlegen sei. Die amerikanischen Kulturwissenschaftler Arthur O. Lovejoy (1873– 1962) und George Boas (1891–1980) haben darin ein universales kulturgeschichtliches Konzept erkennen wollen, für das sie 1935 den – in der späteren Forschung praktisch nicht rezipierten – Terminus „primitivism“ vorschlugen.4 Dahinter steht letztlich die Zeitvorstellung des „archaischen“ Menschen, wie sie Mircea Eliade anhand umfangreichen religionsgeschichtlichen Vergleichsmaterials in seiner Studie „Kosmos und Geschichte“ (1949) beschrieben hat.5 Angesichts der als bedrohlich empfundenen Zeit und Geschichte misst die „ar-
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Vgl. Ludwig Marcuse, Es ist alles immer viel komplizierter. Kleine Warnung zu Beginn der ReiseSaison, in: Die Zeit, 3.6.1960, Nr. 23. Arthur O(ncken) Lovejoy/George Boas, Primitivism and Related Ideas in Antiquity. With Supplementary Essays by W. F. Albright and P.-E. Dumont. (A Documentary History of Primitivism and Related Ideas, Bd. 1.) Baltimore, Md. 1935. Ndr. Baltimore/London 1997 (Johns Hopkins Paperbacks), 1–22; Georg Boas, Art. Primitivism, in: Philip Paul Wiener (Hrsg.), Dictionary of the History of Ideas. 4 Bde. New York 1973, Bd. 3, 577–598. Zum Folgenden Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Frankfurt a. M./Leipzig 1994 (französische Erstausgabe 1949), passim; Wolf-Friedrich Schäufele, „Defecit Ecclesia“. Studien zur Verfalls-
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chaische Ontologie“ dem Ewigen und Gleichbleibenden den höchsten Wert zu. In der Konsequenz dieses Denkens kommt dem geschichtlichen Anfang, der der unbewegten Vor- und Über-Zeit des Mythos am nächsten steht, eine besondere Dignität zu. Bewegte Zeit und geschichtliche Veränderung bedeuten unausweichlich zunehmende Entfernung vom primordialen Idealzustand und damit Verfall und Minderung. In die griechische Philosophie hat der von Lovejoy und Boas so genannte „primitivism“ vor allem durch Platon Eingang gefunden, der meinte, die ersten Menschen hätten den Göttern näher gestanden und daher größere Teilhabe an der Wahrheit gehabt als die nachfolgenden Generationen.6 Mit seiner Ideenlehre hat Platon die „archaische Ontologie“ dann folgerichtig philosophisch expliziert und ausgebaut. Der spätere und vor allem der sogenannte mittlere Platonismus hat diese Konsequenz stark betont: Das Alte ist das Ursprüngliche, Richtige und Wahre, das Neue das Abgeleitete, Mindere und Falsche. Presbýteron kreîtton – das Alte ist besser, so lautet die Quintessenz dieser Überzeugung.7 In das christliche Denken ist die Überzeugung von der Überlegenheit des Alten über das Neue an zwei zentralen Punkten eingedrungen. Dies betrifft zum einen die Geschichtsauffassung und zum anderen die Einführung des Alters als Kriterium der Orthodoxie. Im Hinblick auf das Erste, die christliche Auffassung von der Geschichte, ist bemerkenswert, dass die Vorstellung vom Alten als dem Besseren hier nicht dazu geführt hat, die gesamte Weltgeschichte im Schema des Verfalls zu deuten. Das ist umso erstaunlicher, als es hierfür eigentlich einen wirkungsmächtigen biblischen Anhaltspunkt gab, nämlich die prophetisch-symbolische Abbildung einer Abfolge von vier Weltreichen im Danielbuch.8 Im zweiten Kapitel lesen wir von dem Traum Nebukadnezars von einer Kolossalstatue aus verschiedenen Metallen, deren Wert vom Kopf zu den Füßen abnimmt, und die schon von Daniel auf den Verlauf der Weltgeschichte gedeutet wird. Dabei handelt es sich unverkennbar um eine Kontrafaktur des bekannten Weltaltermythos, der, von Indien über Persien bis nach Griechenland verbreitet, in Europa vor allem durch Hesiods Erzählung vom Goldenen Zeitalter bekannt geworden ist. Charakteristisch für diesen Weltaltermythos war die Vorstellung einer beständigen Verschlechterung vom Alten zum Neuen hin – eine Verschlechterung, die sich im Rückgang der physischen Lebenskraft und des Wachstums von Mensch und Natur, in der Auflösung der familiären und gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen und
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idee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 213.) Mainz 2006, 18–22; Wolf-Friedrich Schäufele, Der „Pessimismus“ des Mittelalters. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz: Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Bd. 7/2006.) Mainz 2006, 21–23. Plat. Tim. 40 d-41 a; Phil. 16 c; rep. 391 e. In dieser Form von Peter Pilhofer in Anlehnung an eine dem Timaios von Lokri zugeschriebene Sentenz in dorischer Mundart: „tò presbýteron kárron estì tô neotéro“: Perì phýsios kósmoo kaì psychâs 94 c; vgl. Peter Pilhofer, Presbyteron kreitton. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte. (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Bd. 39.) Tübingen 1990, 18. Willy Schottroff, Art. Weltreiche, in: Kurt Galling. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl. 6 Bde. Tübingen 1957–1962, Bd. 6, 1962, 1633f.; Friedrich Vittinghoff, Zum geschichtlichen Selbstverständnis der Spätantike, in: Historische Zeitschrift 198, 1964, 529–574; Schäufele, Defecit Ecclesia (wie Anm. 5), 10–17.
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im Verfall des Rechts zeigte und die in der Gegenwart ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte. Auch die Vision des Danielbuches sollte eine derartige Verfallsidee transportieren. Doch als der Kirchenvater Hieronymus (347–419) das Vier-Weltreiche-Schema in seiner Deutung auf die Reiche der Babylonier, Meder und Perser, Griechen und Römer zu einem zentralen Interpretament der christlichen Geschichtsanschauung erhob, erschien den meisten Christen das christlich gewordene Römerreich als Höhepunkt und Ziel der Heilsgeschichte, so dass der alte Verfallsaspekt verlorenging. Wenn sich die spätere Weltgeschichtsschreibung bis weit in die Frühe Neuzeit hinein an dem Gliederungsschema der vier Weltreiche orientierte9 – erwähnt sei hier stellvertretend für viele andere Werke das 1556 erstmals publizierte Kompendium „De quatuor summis imperiis“ von Johannes Sleidanus (1506– 1556)10, so war damit nicht mehr die Vorstellung des älter ist besser verbunden. Bereits in der Spätantike, vollends aber im Mittelalter kam daneben jedoch die Vorstellung von der gleichsam biologischen Alterung der Welt auf, die deutlich von der antiken Idee des älter ist besser her gedacht war. Augustinus (354–340) hatte die Weltgeschichte in sechs Weltzeitalter eingeteilt, deren letztes mit Christus begonnen hatte. Die sechs Weltzeitalter hatte er einerseits mit den sechs Schöpfungstagen, andererseits mit den sechs Altersstufen des menschlichen Lebens parallel gesetzt. Dann aber musste das gegenwärtige sechste und letzte Weltalter die senectus mundi, das Greisenalter der Welt sein.11 Daran konnten sich ältere Vorstellungen aus der Historiographie der römischen Republik über das Greisenalter Roms sowie stoische Vorstellungen über die Vergreisung des gesamten Kosmos anschließen. Seit dem 11. und 12. Jahrhundert wurde die senectus mundi zu einem beinahe inflationär gebrauchten Topos: Mundus senescit, die Welt vergreist – das ist der Tenor vieler Zeugnisse zum Gegenwartsverständnis des Mittelalters: die alte Zeit war die Zeit der Jugend und Vitalität, die neue, jetzige Zeit, ist eine Zeit des Verfalls und der Auflösung. Auch hier gilt also: älter ist besser. Es ist übrigens kaum ein Zufall, wenn an dieser Stelle im Deutschen die terminologische Differenz in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Im Lateinischen ist alles noch eindeutig: „Alter“ im Sinne von „vetustas“ oder „antiquitas“ ist positiv besetzt, „Alter“ im Sinne von „senectus“ negativ; Jugend ist positiv besetzt, Neuheit negativ. Im Deutschen lässt sich beides so sauber nicht scheiden. Und wirklich verbirgt sich in der Sache selbst schon eine Ambivalenz: denn das Alte, das alt wird, verfällt; und sobald eine Erneuerung in den Kreis des Vorstellbaren tritt, die Verjüngung bedeutet, kann das Neue zur Verheißung werden. Das zweite und wesentlich wichtigere Einfallstor des primitivistischen Grundsatzes älter ist besser in das christliche Denken wurde die Einführung des Alters als Wahrheitskriterium
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Wolf-Friedrich Schäufele, Theologie und Historie. Zur Interferenz zweier Wissensgebiete in Reformationszeit und Konfessionellem Zeitalter, in: Irene Dingel/Wolf-Friedrich Schäufele (Hrsg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beih. 74.) Mainz 2008, 129–156, hier 142. Notker Hammerstein, Art. Sleidan, in: Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller (Hrsg.), HistorikerLexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München 2002, 308. Zum Folgenden James M. Dean, The World Grown Old in Later Medieval Literature. (Medieval Academy Books, Bd. 101.) Cambridge, Mass. 1997; Schäufele, Pessimismus (wie Anm. 5), 28–32.
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für die orthodoxe Glaubenslehre. 12 Das frühe Christentum hat sich diesen Gedanken durch seine heidnischen Gegner oktroyieren lassen. Ein häufig erhobener, von dem bedeutenden Mittelplatoniker Kelsos im späteren 2. Jahrhundert ins Grundsätzliche gewendeter Vorwurf gegen die Christen war die Neuheit ihrer Religion. Wenn nach platonischer Auffassung nur das Alte das Wahre sein konnte, musste die erst wenige Jahrzehnte alte christliche Lehre unwahr sein. Die altchristlichen Apologeten haben dieses Argument nicht etwa als unsachgemäß zurückgewiesen, sondern es für ihre eigenen Zwecke umgedreht, indem sie sich auf das Alte Testament beriefen: Mose sei älter als die griechische Philosophie und die biblische Wahrheit der heidnischen überlegen. Doch nicht nur nach außen, gegen die heidnischen Bestreiter des Christentums, fand das Altersargument Anwendung. Seit dem 2. Jahrhundert wurde es auch nach innen, gegen die Gnostiker, angewandt. Das Alte, auf das sich die großkirchlichen Theologen beriefen, war das Apostolische, war die Überlieferung der Apostel und ihrer Schüler, wie sie im Glaubensbekenntnis, in den apostolischen Schriften und in der Sukzession des bischöflichen Amtes bewahrt worden war. Selbstverständlich handelte es sich dabei um historische Konstrukte; doch die Idee als solche erwies sich als attraktiv und erfüllte ihren regulativen Zweck. Ergebnis war das altkirchliche Traditionsprinzip, wie es im 5. Jahrhundert Vinzenz von Lerinum formulierte: danach sollte normativ sein, was immer, was überall, was von allen geglaubt worden ist.13 Nur ein profectus fidei im Sinne einer organischen Fortentwicklung der keimhaft im Ursprung bereits angelegten Glaubenswahrheiten sei möglich, nicht hingegen eine permutatio, die Neues brächte. Bezeichnenderweise hat die Formulierung des Vinzenz ihre eigentliche Wirkung erst über ein Jahrtausend später in der Frühen Neuzeit entfaltet: in der Auseinandersetzung um Recht oder Unrecht der Reformation.
1.2 Neuer Bund und Jüngster Tag: Das Erbe der Apokalyptik Auch wenn so an einer zentralen Stelle das heidnisch-antike Prinzip des älter ist besser ins christliche Denken eingedrungen war, so ließ das ganze Wesen des Christentums eine Alleinherrschaft dieses Prinzips doch nicht zu. Der Grund dafür liegt in dem starken apokalyptischen Erbe, das das frühe Christentum aus dem Judentum der zwischentestamentlichen Zeit übernommen hat. Die komplexen religionsgeschichtlichen Probleme der Apokalyptik können hier auf sich beruhen bleiben. Ausgangspunkt für ihr Aufkommen im Frühjudentum war das Empfinden einer Krise der moralischen Weltordnung. Angesichts der religiösen Bedrückung gesetzesstrenger Juden in Palästina unter hellenistischer Herrschaft schien der 12
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Bardo Weiß, Das Alte als das Zeitlos-Wahre oder als das Apostolisch-Wahre? Zur Frage nach der Bewertung des Alten bei der theologischen Wahrheitsfindung der Väter des 2. und 3. Jahrhunderts, in: Trierer Theologische Zeitschrift 81, 1972, 214–227; Peter Stockmeier, „Alt“ und „neu“ als Prinzipien der frühchristlichen Theologie, in: Remigius Bäumer (Hrsg.), Reformatio Ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für Erwin Iserloh. Paderborn u. a. 1980, 15–22 (wieder in: ders., Glaube und Kultur. Studien zur Begegnung von Christentum und Antike. Düsseldorf 1983, 227–235); vgl. Pilhofer, Presbyteron kreitton (wie Anm. 7), 221–292. Commonitorium 2,5.
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selbstverständlich vorausgesetzte Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen, wonach gute Taten schon in diesem Leben mit Wohlergehen, böse mit Unglück vergolten werden, nicht mehr zu funktionieren. Die moralische Bilanz war unausgeglichen und nach dem Empfinden vieler auch nicht mehr auszugleichen. In dieser Situation richtete sich die Hoffnung auf ein unmittelbar bevorstehendes, geschichtswendendes Eingreifen Gottes. Die alte Weltzeit, der derzeitige Äon, würde unter großen Erschütterungen und Katastrophen zu Ende gehen und durch eine von Gott heraufgeführte neue Weltzeit, den neuen Äon, abgelöst werden. In diesem neuen Äon würden Friede und Gerechtigkeit herrschen, und die verstorbenen Gerechten des alten Äons würden wieder zum Leben erweckt werden, um an der Herrlichkeit des neuen Äons teilzuhaben. In unserem Zusammenhang bedeutet dies, dass das apokalyptische Denken einerseits die Polarität von „alt“ und „neu“ bis zur Diastase verschärft und andererseits anstelle des wahren Alten gerade das Neue zum positiven Inhalt ihrer Heilshoffnung gemacht hat. Jesus selbst stand in dieser apokalyptischen Erwartung des Frühjudentums, und in seiner Folge hat die christliche Kirche das apokalyptische Denken übernommen und festgehalten – selbst dann noch, als das rabbinische Judentum aufgrund der bitteren Erfahrung des mehrfachen Scheiterns messianisch-apokalyptischer Aufstände die Apokalyptik preisgab. Allerdings erfuhr die apokalyptische Erwartung im Christentum eine spezifische Umformung. Denn eigentlich war die Äonenwende, der Anbruch der neuen Welt Gottes, bereits mit Jesus von Nazareth, den die Kirche als den Christus bekennt, erfolgt. In seinem Leiden und Sterben hatte sich bereits das Gericht Gottes über den alten Äon vollzogen, und in seiner Auferstehung hatte die den neuen Äon einleitende Auferweckung der Gerechten bereits begonnen. Der Gläubige, der durch die Taufe in Christus hineinversetzt ist, ist schon jetzt eine neue Kreatur („nova creatura“, 2 Kor 5,17; Gal 6,15), hat schon jetzt Anteil an der Neuschöpfung der Welt. Nur die endgültige Durchsetzung des neuen Äons, der offene und vollständige Anbruch des Reiches Gottes, steht noch aus. So steht die von der Apokalyptik geprägte christliche Geschichtsanschauung in der eschatologischen Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“. So komplex diese Zusammenhänge sind, so haben sie doch ein Moment der Wertschätzung des Neuen in das christliche Denken eingetragen.14 An die Stelle des alten Bundes Gottes mit seinem Volk Israel ist nach Überzeugung der Christen der neue, den bisherigen überbietende Bund Gottes mit der Kirche getreten. Die Offenbarungsschriften beider Bünde wurden im 1. und 2. Jahrhundert sukzessive zu literarischen Sammlungen zusammengestellt, die dann ihrerseits als alter und neuer Bund, als das alte (vetus) und das neue Testament (novum testamentum) bezeichnet wurden, wobei das neue das alte überbot. Der christliche Theologe gleicht nach einem dunklen Jesuswort dem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes – nova et vetera – hervorholt (Mt 13,52). Und die evangelische Mahnung, den neuen Wein nicht in alte Schläuche zu füllen („vinum novum in utres veteres“, Mt 9,17), ist sprichwörtlich geworden. 14
Jürgen Moltmann/Norbert Rath, Art. Neu, das Neue, in: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. 12 Bde. Basel 1971–2004, Bd. 6, 1984, 725–731, hier 726; Peter Seele/ Till Wagner, Eine kleine Geschichte des Neuen, in: Seele, Philosophie des Neuen (wie Anm. 2), 38–63, hier 43f.
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Daneben blieb die Hoffnung auf die künftige, endgültige Erneuerung der Welt bestehen. Die Johannes-Apokalypse spricht in ihrem 21. Kapitel von der Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde („caelum novum et terra nova“, Apk 21,1), und im selben Kapitel verheißt der erhöhte Christus: „Siehe, ich mache alles neu“ („ecce nova facio omnia“, Apk 21,5). Der Tag, an dem dies geschehen wird, ist der dies novissimus, der neueste oder, wie wir im Deutschen sagen, der Jüngste Tag. Die Stunde der Erfüllung ist die neueste oder letzte Stunde, die novissima hora. Ursprünglich war der Jüngste Tag Gegenstand hoffnungsfroher Erwartung, und Luther hat mit seiner Bitte „komm, lieber jüngster Tag“15 diese altchristliche Perspektive wieder eingenommen. Im Allgemeinen jedoch führten die schon im apokalyptischen Denken und im Neuen Testament angelegte Erwartung der großen endzeitlichen Wehen im Vorfeld des Jüngsten Tages und sodann das massiv gewachsene Sündenbewusstein im Mittelalter zu einer virulenten Furcht vor dem Weltende.16 So sehr der neue Himmel und die neue Erde lockten, so sehr war der dies novissimus zum Gegenstand der Angst geworden. Mit dem Neuen Bund und dem Jüngsten Tag sind aber noch nicht alle Spielarten christlicher Hochschätzung des Neuen erfasst. Im ältesten Christentum war der sogenannte Chiliasmus verbreitet: die Erwartung einer noch innerhalb der Geschichte, also noch vor dem Jüngsten Tag, eintretenden innerweltlichen Heilszeit. In der Johannes-Apokalypse wird sie als Millennium, als tausendjährige Herrschaft der Gerechten beschrieben (Apk 20,1–6). Eine solche millenaristische oder chiliastische Erwartung rechnet also mit einem innerhalb des Geschichtskontinuums stehenden Neuen, das das Alte bei weitem übertreffen wird. In Umkehrung der oben zitierten platonischen Sentenz könnte man hier formulieren: kainóteron kreîtton – neuer ist besser. Diese chiliastische Erwartung hat freilich auf Dauer keinen Bestand gehabt. Im christianisierten Römerreich erschien sie inopportun, und endgültig aus der christlichen Geschichtsbetrachtung ausgeschieden wurde sie durch Augustinus, der die – symbolisch verstandenen – tausend Jahre auf die Zeit der Kirche deutete. Damit war substantiell Neues in einem positiven Sinne zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi prinzipiell nicht mehr zu erwarten.17 Trotzdem sind immer wieder vereinzelt chiliastische Erwartungen aufgebrochen. Im Mittelalter am wirkungsvollsten wurde der geschichtstheologische Entwurf Joachims von Fiore (ca. 1130/35–1202), der mit dem baldigen Anbruch eines neues Heilszeitalters rechnete, das er als das Zeitalter des Heiligen Geistes charakterisierte, das das gegenwärtige Zeitalter des Sohnes ebenso übertreffen und in sich aufheben werde, wie dieses ehedem das Zeitalter des Vaters übertroffen und aufgehoben hatte.18 Auch die aus dem böhmischen Hussitismus 15
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Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe = fortan zitiert als WA). 120 Bde. Weimar 1883–2009, Briefwechsel, Bd. 9, 1941, 175, Z. 17 (Nr. 3512). Schäufele, Pessimismus (wie Anm. 5), 32–35. Klaus Thraede, Art. Fortschritt, in: Georg Schöllgen u. a. (Hrsg), Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Bislang 23 Bde. Stuttgart seit 1950, Bd. 8, 1972, 141–182, hier 175f.; Seele/Wagner, Kleine Geschichte des Neuen (wie Anm. 14), 44–46. Robert E. Lerner, Art. Joachim von Fiore, in: Gerhard Müller u. a. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie. 36 Bde. Berlin u. a. 1977–2004, Bd. 17, 1988, 84–88; Andreas Speer, Art. Joachim von Fiore, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl. 10 Bde. Freiburg u. a. 1993–2001, Bd. 5, 1996, 853f.; Schäufele, Defecit Ecclesia (wie Anm. 5), 249–265.
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hervorgegangen Taboriten vertraten in ihren Anfangsjahren bis etwa 1420 einen dezidierten Chiliasmus.19 In der Frühen Neuzeit waren es dann verschiedene Gruppen auf dem sogenannten „linken Flügel der Reformation“, bei denen chiliastische Erwartungen und die Hoffnung auf ein das Alte übertreffendes Neues wieder auflebten.20
1.3 Antiqui – novi – moderni Das Gesamtbild der christlichen Perspektive auf „alt“ und „neu“ stellt sich somit äußerst komplex dar: Einerseits gilt der antike, insbesondere platonische Grundsatz des älter ist besser fort. Er bildet die Wahrheitsnorm für die christliche Lehre, und er schlägt sich in der Überzeugung vom unaufhaltsamen geschichtlichen Niedergang, von der unabwendbaren Vergreisung der Welt nieder. Andererseits wird das Neue in Gestalt des Christusereignisses, des Neuen Bundes und des Neuen Testamentes als positiver Bezugspunkt dem Alten gegenübergestellt, und selbst das Neueste – der dies novissimus – ist der ursprünglichen Intention nach Gegenstand froher Erwartung. Nach der orthodoxen, augustinischen Tradition, die den Chiliasmus verwarf, waren allerdings in dem Zwischenzeitraum zwischen dem ersten Kommen Christi und dem Jüngsten Tag keine positiv zu bewertenden Novitäten mehr zu erwarten. So blieb es bei einem verbreiteten Misstrauen gegenüber dem Neuen, das gemeinhin im Ruch illegitimer Abweichung vom wahren und apostolischen Alten stand. Diese Ambivalenz und die daraus resultierende Verlegenheit gegenüber dem Neuen hat seit der ausgehenden Antike im lateinischen Sprachgebrauch einem Ersatzbegriff zu seiner lang dauernden Konjunktur verholfen: dem des Modernen.21 In der klassischen Latinität unbekannt, begegnet der Terminus „modernus“ erstmals 494/95 in den Epistolae pontificum von Papst Gelasius I. (Papst ca. 492–ca. 496)22; weitere Belege finden sich bei Priscian (um 500), Cassiodor (ca. 485–ca. 580) und Beda Venerabilis (672/73–735). Abgeleitet von „modo“ („jetzt“, „eben“), so wie „hodiernus“ von „hodie“, bezeichnet der Terminus „modernus“ die unmittelbare Gegenwart in Abgrenzung von der früheren Zeit. Anders als dem klassischen „novus“ haftete dem Begriff „modernus“ nicht zwangsläufig das Odium mindernder Abweichung vom normativen Alten an. Zwar konnte der Begriff des Modernen durchaus auch als Gegenfolie zum idealisierten Alten verwendet werden, doch ebenso gut war er geeignet, das Neue der eigenen Periode dem Alten gleichrangig oder sogar überbietend gegenüberzustellen. So konnte etwa Gelasius die „admonitiones modernae“ in einem Atemzug mit den „re19
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Gordon Leff, Heresy in the Later Middle Ages. The Relation of Heterodoxy to Dissent c. 1250 – c. 1450. 2 Bde. Manchester/New York 1967, Bd. 2, 690–693. Günther List, Chiliastische Utopie und radikale Reformation. Die Erneuerung der Idee vom Tausendjährigen Reich im 16. Jahrhundert. München 1973. Hans R. Jauß, Art. Antiqui/moderni. Querelle des Anciens et des Modernes, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch (wie Anm. 14), Bd. 1, 1971, 410–414, hier 411f.; Rainer Piepmeier, Art. Modern, die Moderne, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch (wie Anm. 14), Bd. 6, 1984, 54–62; Jan Pinborg, Art. Antiqui – moderni, in: Robert-Henri Bautier u. a. (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters. 10 Bde. München/Zürich 1980–1999, Bd. 1, 1980, 725. Walter Freund, Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters. (Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 4.) Köln u. a. 1957, 4–16.
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gulae patrum“ nennen.23 Auch in späterer Zeit konnten Neuerer gelegentlich selbstbewusst das Attribut der Modernität für sich in Anspruch nehmen. Dies gilt etwa für die Anhänger der auf den Niederländer Geert Grote (1340–1384) zurückgehenden, im 14. und 15. Jahrhundert in den Niederlanden, Deutschland und Nordfrankreich blühenden Frömmigkeitsbewegung der „Devotio moderna“.24 Die Modernität dieser Frömmigkeit bestand in ihrer konsequenten Individualisierung und in der minutiösen Erforschung subtilster Seelenregungen – aber auch darin, dass ihre Anhänger es wagten, offensiv mit ihrer Modernität zu werben. Ähnlich verhält es sich mit der Erkenntnistheorie Williams von Ockham und Johannes Buridans, die – anfangs vielleicht in diffamatorischer Absicht von ihren Gegnern so bezeichnet – schließlich auch von ihren Anhängern als „via moderna“ der „via antiqua“ der Thomisten und Scotisten gegenübergestellt wurde. Zuvor schon, spätestens seit dem 14. Jahrhundert, war die herrschende terministische Logik als die „logica modernorum“ bekannt gewesen. Hier deutet sich bei allen Vorbehalten und Einschränkungen bereits ein vitales Fortschrittsbewusstsein an, das seinen wohl bekanntesten Ausdruck in dem viel zitierten Bild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen gefunden hat.25 Seine klassische Formulierung erhielt es durch Bernhard von Chartres (gest. nach 1124): „Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora uidere, non utique proprii uisus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea.“26 Damit war klar ausgesagt, dass die Neuen, Modernen den direkten Vergleich mit den Alten nicht aushielten: neben deren Riesengestalt erschienen sie zwergenhaft klein und zurückgeblieben. Und gehörte nicht auch die zurückgehende Körpergröße der Menschen zu den klassischen Kennzeichen des mundus senescens? Und doch waren im Endeffekt die moderni den antiqui überlegen: denn gestützt auf ihre Vorgänger, sahen sie letztlich doch mehr und weiter als diese.
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„Quis enim aut leges principum aut patrum regulas aut admonitiones modernas dicat debere contemnis …?“ (S. Gelasii Papae Epistolae et Decreta, ep. 22: Gelasii papae ad Rufinum et Aprilem episcopos, in: Epistolae Romanorum Pontificum genuinae et quae ad eos scriptae sunt a S. Hilario usque ad Pelagium I., hrsg. von Andreas Thiel, Bd. 1: A S. Hilario usque ad S. Hormisdam ann. 461–523. Braunsberg 1868, 389). Cebus C. de Bruin/Ernest Persoons/Antoon G. Weiler, Geert Grote en de Moderne Devotie. Zutphen 1984; Wolf-Friedrich Schäufele, Art. Groote, in: Markus Vinzent (Hrsg.), Metzler Lexikon Christlicher Denker. 700 Autorinnen und Autoren von den Anfängen des Christentums bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 2000, 297f. Edouard Jeauneau, „Nani gigantum humeris insidentes“. Essai d’une interprétation de Bernard de Chartres, in: Vivarium 5, 1967, 79–99; P. Kapitzka, Der Zwerg auf den Schultern des Riesen, in: Rhetorik 2, 1981, 49–58; Robert K. Merton, Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt a. M. 1989; Hans van Dijk/Edmé Renno Smits (Hrsg.) Dwergen op de schouders van Reuzen. Studies over de receptie van de Oudheid in de Middeleeuwen. (Groninger studies over middeleeuwse cultuur.) Groningen 1990. Johannes von Salisbury, Metalogicon 3,4 (CChr.CM 98, 116 Hall); vgl. Migne Patrologia Latina 199, 900.
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2. Alter Glaube, altes Recht – neue Welt, neue Zeit: Vom alten zum neuen Modell 2.1 Das Neue als das erneuerte Alte: Reform – Renaissance – Reformation Setzt man das Alter als fundamentales Wahrheitskriterium voraus, sind Innovationen jeder Art prinzipiell verdächtig. Wie können unter diesen Umständen notwendige Neuerungen und Änderungen gerechtfertigt werden? Nach der Wende zum zweiten Jahrtausend wurde dieses Problem drängend. Fünf Jahrhunderte lang, vom 11. bis zum 16. Jahrhundert, blieb vor allem die Reform der Kirche ein Dauerthema auf der Agenda des lateinischen Europa. Durch die sogenannte Gregorianische Reform, aber auch durch die späteren Reformbemühungen etwa im Zuge des Konziliarismus und schließlich des Konzils von Trient haben Verfassung, Lehre, Gottesdienst und Frömmigkeit der römisch-katholischen Kirche eine erhebliche Fortbildung und Anpassung an veränderte Zeitumstände erfahren. So nötig diese Innovationen waren, so wenig durften sie doch als solche erscheinen. Das Neue, das hier geschaffen wurde, musste vielmehr als Wiederherstellung des zwischenzeitlich verlorenen oder verfallenen Alten deklariert werden. Legitime Veränderung war nur denkbar als re-formatio, als Wiederherstellung der alten forma, als Reparatur einer de-formatio des alten Wahren. Dieses Denkmuster lag bereits der ersten großen Kirchenreform des Hochmittelalters zugrunde, der sogenannten Gregorianischen Reform des 11. Jahrhunderts.27 Die Durchsetzung des päpstlichen Primats und die damit verbundene Zentralisierung der abendländischen Kirche auf Rom – die Ostkirchen entzogen sich diesem Anspruch, worüber es zum Großen Schisma von 1054 kam – bedeuteten wesentliche Neuerungen gegenüber der bisherigen Theorie und Praxis. Gleichwohl wurden sie als Wiedergeltendmachung alter biblischer und kirchenrechtlicher Normen propagiert. Dabei machte sich eine bis dahin in dieser Form unbekannte Hochschätzung der Frühzeit der Kirche bemerkbar: die Norm, an der sich die Gegenwart messen lassen sollte, war die alte Lehre und Praxis der ersten, alten Kirche, der „ecclesia primitiva“. Schon die Namenswahl der Reformpäpste des 11. Jahrhunderts – Clemens II., Damasus II., Leo IX., Victor II. – zeugte vom Wunsch nach Wiederanknüpfung an die Kirche der Frühzeit. Papst Gregor VII. (1073–1085) versicherte wiederholt, er wolle keine Neuerungen („nichil novi“) einführen, sondern lediglich die alten Entscheidungen der Väter wieder in Geltung setzen.28 Dabei schloss die Orientierung am Alten nicht aus, dass gerade Gregor mit besonderem Nachdruck das päpstliche Recht verteidigte, neue Gesetze (novae leges) zu erlassen, insofern sie zur Erreichung der Reformziele erforderlich waren. Auch wenn sich während des 12. Jahrhunderts eine gewisse perspektivische Verschiebung in der Reformideologie weg vom Rückblick auf das normative Alte hin zum Ausblick auf das
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Johannes Laudage, Gregorianische Reform und Investiturstreit. (Erträge der Forschung, Bd. 282.) Darmstadt 1993; Schäufele, Defecit ecclesia (wie Anm. 5), 60–65. So in seinem Brief an Heinrich IV. vom 8.12.1075: „… ad sanctorum patrum decreta doctrinamque recurrimus, nichil novi, nichil adinventione nostra statuentes, sed primam et unicam ecclesiasticae disciplinae regulam et tritam sanctorum viam relicto errore repetendam et sectandam esse censuimus“ (Reg. III,10, MGH.ES 2, 266, 4–8); vgl. ebd. II,68 (226, 4–6); IV,6 (303f.); V,5 (353, 5–13).
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erstrebte Neue konstatieren lässt29, so blieb doch das Grundmuster der Legitimierung des Neuen als eines erneuerten Alten mindestens bis ins 16. Jahrhundert dominierend. Noch die protestantische Reformation berief sich darauf. So war allen Reformatoren die Überzeugung gemeinsam, nicht neue Lehren zu verbreiten, sondern das alte Evangelium Christi und der Apostel nach langer Vergessenheit wieder in Geltung zu setzen. Für sich selbst beanspruchten sie, Anhänger des wahren alten Glaubens zu sein; in der römischen Papstkirche seien demgegenüber schon seit Papst Bonifaz III., dessen Pontifikat in das Jahr 607 fiel, vollends aber in den letzten drei- bis vierhundert Jahren menschliche Erfindungen, irrige Neuerungen eingeführt und an die Stelle des alten Evangeliums gesetzt worden.30 Stellvertretend für viele derartige Äußerungen sei auf Luthers scharfe Streitschrift gegen Herzog Heinrich II. von Braunschweig-Wolfenbüttel (reg. 1514–1568) mit dem provokanten Titel Wider Hans Worst (1541) verwiesen, wo er betont: „Wir ertichten nichts newes, Sondern halten und bleiben bey dem alten Gottes wort, wie es die alte Kirche gehabt, Darumb sind wir mit der selben die rechte alte Kirche … Darumb lestern die Papisten aber mal Christum selbs, die Apostel und gantze Christenheit, wenn sie uns Newe und Ketzer schelten. Denn sie finden nichts bey uns, denn allein das alte der alten Kirchen …“31 Ganz ähnlich erklärte Calvin im Vorwort seiner Institutio Christianae Religionis (1536): „Wenn sie unsere Lehre neu nennen, beleidigen sie Gott aufs schwerste. Sein heiliges Wort hat es nicht verdient, der Neuheit beschuldigt zu werden. … Wer … weiß, daß die Predigt des Paulus: ‚Jesus Christus sei um unserer Sünde willen gestorben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt‘ (Röm 4,24), durchaus alt ist, der wird bei uns nichts Neues entdecken.“32 Wenn es sich in der historischen Literatur eingebürgert hat, die Anhänger der römischen Kirche im 16. Jahrhundert „Altgläubige“ zu nennen – und damit die Protestanten indirekt oder auch direkt als „Neugläubige“ zu qualifizieren –, so ist dies dem reformatorischen Selbstverständnis diametral entgegengesetzt. Allerdings ist dieser Sprachgebrauch durch die Formulierung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 gedeckt, wonach es im Reich zwei legitime „Religionen“ – wir würde heute sagen: „Konfessionen“ – geben sollte: die „alte Re-
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Giles Constable, Renewal and Reform in Religious Life. Concepts and Realities, in: Robert L. Benson/Giles Constable/Carol D. Lanham (Hrsg.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Oxford 1982, 37–67, hier 38f. John M. Headley, Luther’s View of Church History. (Yale Publications in Religion, Bd. 6.) New Haven/London 1963, 190–193, 204–207; Schäufele, Theologie und Historie (wie Anm. 9), 148. Luther, WA (wie Anm. 15), Hauptreihe: Schriften, Bd. 51, 1914, 481, Z. 27–33; Vgl. Wolf-Friedrich Schäufele, Kirche Christi und Teufelskirche. Verfall und Kontinuität der Kirche bei Nikolaus von Amsdorf, in: Irene Dingel (Hrsg.), Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) zwischen Reformation und Politik. (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der lutherischen Orthodoxie, Bd. 9.) Leipzig 2008, 57–90, hier 65f. „… novam quod appellant [sc. doctrinam nostram], Deo sunt vehementer iniurii cuius sacrum verbum novitatis insimulari non merebatur. … Sed qui illam Pauli concionem (Rom. 4) veterem esse noverunt: Iesum Christum mortuum propter peccata nostra, resurrexisse propter iustificationem nostram, nihil apud nos deprehendent novum“: Calvin-Studienausgabe, hrsg. von Eberhard Busch u. a. 7 Bde. Neukirchen-Vluyn 1994–2009, Bd. 1: Reformatorische Anfänge (1533–1541), Teilband 1/1, 1994, 78. – Die deutsche Übersetzung ebd., 79.
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ligion“, womit die römisch-katholische gemeint war, und die „Augsburgische Konfession“, also das lutherische Bekenntnis.33 Selbstverständlich war weder der römische Katholizismus des 16. Jahrhunderts noch der Protestantismus in Lehre und Leben mit der „ecclesia primitiva“, der alten Kirche Christi und der Apostel, deckungsgleich. Doch die Überzeugung, dass der wahre Glaube nur der alte sein könne, hielt sich noch lange. Als Landgraf Moritz von Hessen-Kassel sein Territorium 1605 mit den sogenannten „Verbesserungspunkten“ vom lutherischen zum reformierten Bekenntnis führte, betonte auch er selbstverständlich, dass es sich dabei um „nichts Neues“ handele.34 Und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah sich das Papsttum zur Bekämpfung des sogenannten „Modernismus“ verpflichtet.35 Eine säkularisierte Variante der kirchlichen Reformidee lag der später so genannten Renaissance des 14. bis 17. Jahrhunderts und der literarischen Bewegung des Renaissance-Humanismus zugrunde.36 Auch hier erstrebte man eine Erneuerung, die der Idee nach Wiederbelebung des Alten sein sollte. Das idealisierte Alte, das als Richtgröße diente, war die Kunst, Literatur und Zivilisation der klassischen griechisch-römischen antiquitas oder, wie wir heute sagen, der „Antike“.37 Schon am Ausgang des Altertums war auf allen diesen Gebieten ein dramatischer Niedergang eingetreten. Jetzt galt es, an die alten Vorbilder anzuknüpfen, die Kunst und Wissenschaft der Antike wiederzubeleben. Wir können hier nicht näher auf die äußerst kontroverse Diskussion über Wesen und Selbstgefühl der Renaissance eingehen. Sicher ist aber, dass das unmittelbare Empfinden des Wiedererwachens und Wiedererblühens, von Wiederbelebung und Neuanfang, weit verbreitet war. Insofern ist die von Jacob Burckhardt geprägte Epochenbezeichnung „Renaissance“, die an den zeitgenössischen Begriff der „rinascita“ („Wiedergeburt“) anknüpft, durchaus zutreffend. Allerdings war zu keinem Zeitpunkt daran gedacht, das idealisierte Alte einfach zu imitieren oder zu kopieren; vielmehr fühlten sich Renaissance-Künstler und Humanisten zu eigenen, neuen schöpferischen Leistungen im Geist der Antike aufgerufen. Insofern ist es nur ein scheinbarer 33
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Karl Brandi (Hrsg.), Der Augsburger Religionsfriede vom 25. September 1555. Kritische Ausgabe des Textes mit den Entwürfen und der königlichen Deklaration. 2. Aufl. Göttingen 1927. „In welchen alle Ihre Fürstl. Gnade nichts newes/ oder dem Heiligen Wort Gottes/ nach Gebrauch der reinen Kirchen zu wieder gesucht oder vernommen haben.“ – „Auß welchem allen der Christliche Leser zu vernehmen/ daß in diesen Puncten nichts newes gesucht oder eingeführt/ sondern das jenige/ so von Anfang der Euangelischen Reformation von diesem Articul in diesen Landen gelehret …“: Historischer Bericht/ der Newlichen Monats Augusti zugetragenen Marpurgischen Kirchen Händel. Marburg 1605, 4, 13f., in: Hans-Joachim Kunst/Eckart Glockzin (Hrsg.), Kirche zwischen Schloß und Markt. Die lutherische Pfarrkirche St. Marien zu Marburg. Marburg 1997, 60, 62f.. Alf Christophersen, Art. Modernismus, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bislang 12 Bde. Stuttgart/Weimar seit 2005, Bd. 8, 2008, 663–665, hier 665. Gerhart B. Ladner, Die mittelalterliche Reform-Idee und ihr Verhältnis zur Idee der Renaissance, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 60, 1952, 31–59, besonders 58f.; Gerhart B. Ladner, Art. Erneuerung, in: Schöllgen u. a. (Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum (wie Anm. 17), Bd. 6, 1966, 240–275, besonders 247; Bernhard L. Ullman, Renaissance. The Word and the Underlying Concept, in: ders., Studies in the Italian Renaissance. Rom 1955, 11–25. Der Begriff „Antike“ im heutigen Sinne ist eine Prägung erst des beginnenden 20. Jahrhunderts: Walter Rüegg, Art. Antike I, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch (wie Anm. 14), Bd. 1, 1971, 385f.
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Widerspruch, wenn der Humanismus einerseits eine vermeintlich alte Schriftart pflegt und diese ausdrücklich als „Antiqua“ propagiert und andererseits die schon in ihrem Namen Novität beanspruchende neue Literaturgattung der „Novelle“ hervorbringt.
2.2 Das gute alte Recht So wie in der Glaubenslehre und im Kulturschaffen, so blieb in der Frühen Neuzeit auch auf anderen Gebieten das Alte die unbestrittene Norm. Als ein Beispiel von vielen sei hier auf das Rechtswesen verwiesen. Hier begegnet prominent etwa bei den aufständischen Bauern der Jahre 1524 und 1525 neben der Berufung auf die Bibel und die evangelische Freiheit immer wieder auch die Berufung auf das „gute alte Recht“. Damit stellten sich die Bauern in die traditionelle Rechtsauffassung schon des Mittelalters, die Fritz Kern auf die berühmten Formeln brachte: „Das Recht ist alt. Das Recht ist gut. Das gute alte Recht ist ungesetzt und ungeschrieben. Altes Recht bricht jüngeres Recht. Rechtserneuerung ist Wiederherstellung guten alten Rechts.“38 Ihrem Anspruch nach wollten die Bauern also kein neues Recht etablieren, sondern nur das alte Recht wieder in Geltung setzen. Die spätere Forschung hat aus dem Pochen auf das gute alte Recht die Auffassung abgeleitet, dass es sich bei den Bauernaufständen um sogenannte reaktive soziale Proteste gehandelt habe, die sich in erster Linie gegen die Beschneidung bisheriger bäuerlicher Rechte gewandt hätten. Inzwischen kann als ausgemacht gelten, dass in den bäuerlichen Forderungen durchaus bewusst auch substantielle Innovationen in legitimatorischer Absicht als Wiederherstellung alten Rechts deklariert wurden.39 Noch drei Jahrhunderte später konnte die Berufung auf das alte Recht unter grundlegend veränderten Bedingungen erfolgreich in den politischen Diskurs eingebracht werden. Im württembergischen Verfassungskonflikt der Jahre 1815 bis 1819 führten die sogenannten „Altrechtler“ gegen die vom König oktroyierte Verfassung das „alte, gute Recht“ mit seinen ständischen Partizipationsmöglichkeiten ins Feld. Prominenter Sprecher dieser Position war Ludwig Uhland, der 1816 in einem seiner „Vaterländischen Gedichte“ „Das alte, gute Recht“ verherrlichte: „Wo je bei altem, gutem Wein / Der Württemberger zecht, / Da soll der erste Trinkspruch sein: / Das alte, gute Recht!“40
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Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter. Tübingen 1952, Ndr. Darmstadt 1992: Kapitelüberschriften des ersten Hauptteils. Winfried Schulze, Herrschaft und Widerstand in der Sicht des „gemeinen Mannes“ im 16./17. Jahrhundert, in: Hans Mommsen/Winfried Schulze (Hrsg.), Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung. Stuttgart 1981, 182–198, hier 195–198; Peter Blickle, Auf dem Weg zu einem Modell der bäuerlichen Rebellion – Zusammenfassung, in: Peter Blickle/Peter Bierbrauer/Renate Blickle/Claudia Ulbrich, Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. München 1980, 296–308, hier 302. Ludwig Uhland, Werke, hrsg. von Hartmut Fröschle u. a. 4 Bde. München 1980–1984, Bd. 1: Sämtliche Gedichte, 1980, 64–66, hier Strophe 1, 64.
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2.3 Alte und neue Welt Während das Neue, das Renaissance und Reformation (oder besser gesagt: Konfessionalisierung) hervorbrachten, gewöhnlich noch als das erneuerte Alte deklariert wurde, konnten auf einem anderen Gebiet die grundstürzenden Innovationen der Frühen Neuzeit einhellig als Novitäten anerkannt werden: auf dem der geographischen Entdeckungen, deren epochale Bedeutung kaum überschätzt werden kann. In Anknüpfung an die bereits bei antiken Autoren begegnende Bezeichnung neu entdeckter Regionen als „neue Welt“ („mundus novus“, „orbis novus“) bürgerte sich dieser Terminus seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert auch für die von spanischen und portugiesischen Seefahrern neu aufgefundenen Erdteile und Länder ein.41 Auf Dauer war es der amerikanische Doppelkontinent, an dem die Bezeichnung haften blieb. Bereits 1492 bezeichnete Petrus Martyr d‘Anghiera (1457–1526) Columbus in einem Brief als Entdecker einer „neuen Welt“ („novus orbis“),42 und 1504 beschrieb Amerigo Vespucci (1451–1512) den Kontinent, der heute seinen Namen trägt, in einem Mundus novus betitelten Bericht; 1516 folgte d‘Anghiera mit seinem Werk De orbe novo. Mit der Etablierung der Rede von der Neuen Welt ging folgerichtig die Bezeichnung der bisher bekannten Oikumene als „Alter Welt“ einher.43 Die „Neuheit“ der „Neuen Welt“ war dabei nicht nur chronologisch, sondern vor allem sachlich zu verstehen, als Ausdruck für die Fremdheit und Andersartigkeit des neu entdeckten Erdteils. In diesem Sinne schrieb 1552 der spanische Historiker Francisco López de Gómara (ca. 1511–ca. 1566): „Das größte Ereignis nach der Erschaffung der Welt ist, abgesehen von der Menschwerdung und vom Tod ihres Schöpfers, die Entdeckung der Indien, und deshalb nennt man sie Neue Welt. Man nennt sie nicht so sehr neue, weil sie neu gefunden ist, sondern weil sie riesig groß ist, fast so groß wie die Alte Welt, die Europa, Afrika und Asien umfasst. Man kann sie ebenfalls Neue Welt wegen all der Dinge nennen, die von denen der Alten Welt verschieden sind.“44 Auf Dauer erschien den europäischen Entdeckern die „Neue Welt“ mit ihren Menschen als der „Alten Welt“ unterlegen, und insofern passten die traditionellen Konnotationen des Alten und des Neuen auch auf dieses Begriffspaar. Andererseits aber verbanden sich mit der Vorstellung von der Neuen Welt auch phantastische Hoffnungen und abenteuerliche Glückserwartungen, die durch Hörensagen und literarische Reiseberichte verbreitet wurden und bei vielen dazu beitragen mochten, das Neue als Verheißung zu begreifen. Dazu kam als eine untergründige Langzeitwirkung die Erschütterung des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes durch die neuen Entdeckungen: lernte man doch nun Erdteile und Völker kennen, von denen die Heilige Schrift nichts wusste. Wie sehr dies bei einer entsprechenden religiösen Disposition anfechtend wirkte, demonstriert noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun41
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Hans-Joachim König/Stefan Rinke, Art. Neue Welt, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 35), Bd. 9, 2009, 102–125. Edmundo O‘Gorman, The Invention of America. An Inquiry into the Historical Nature of the New World and the Meaning of its History. Bloomington 1961, Ndr. Westport 1972, 84. So erstmals in einem Buchtitel von 1534: König/Rinke, Neue Welt (wie Anm. 41), 103. Zitiert nach König/Rinke, Neue Welt (wie Anm. 41), 107.
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derts das Beispiel von Joseph Smith (1805–1844), der 1830 mit dem Buch Mormon die fehlende biblische Geschichte Amerikas und der Indianer nachlieferte.45
2.4 Die neue Zeit Das Empfinden, nicht nur mit einer neuen Welt, sondern auch mit einer neuen Zeit konfrontiert zu sein, begann sich während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu verbreiten. Der Umbruch der Reformation mit seinen beschleunigten Entwicklungen und weitreichenden Folgen nicht nur auf religiös-kirchlichem, sondern auch auf politischem, sozialem und kulturellem Gebiet konnte diesen Eindruck durchaus entstehen lassen. Luther selbst hat ihn im Herbst 1532 über Tisch einmal so formuliert: „… die welt eilet, quia per hoc decennium fere novum saeculum fuit.“46 Doch das Neue, das da angebrochen war, konnte nach der Überzeugung der Reformatoren nur ein kurzes Intermezzo vor dem Ende sein, keine in die Zukunft ausgedehnte neue Geschichtsperiode. Denn mit der öffentlichen Entlarvung des Papstes als des Antichrists hatte die Endzeit begonnen, und die Wiederkunft Christi zum Weltgericht stand in nächster Zeit bevor. Für eine neue Zeit, eine neue Geschichtsperiode war hier kein Raum mehr.47 Anders verhielt es sich mit den chiliastisch gestimmten Enthusiasten auf dem „linken Flügel der Reformation“, die ihre Zukunftserwartungen indessen fast durchweg katastrophisch falsifiziert sehen mussten. Wesentlich bedeutender für das Aufkommen der Vorstellung von einer neuen Zeit wurde mittelfristig das gesteigerte Selbstgefühl des Renaissance-Humanismus. Etwas davon wird spürbar in dem vielzitierten Jubelruf des Ulrich von Hutten: „O Jahrhundert, o Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben.“48 Doch erst zwei Jahrhunderte später kristallisierte sich das humanistische Bewusstsein, die finstere, barbarische Verfallszeit überwunden und die Kunst und Zivilisation des klassischen Altertums erneuert zu haben, in einer neuen Auffassung vom Ablauf der Geschichte aus, die während des 18. Jahrhunderts schließlich das geläufige Vier-Weltreiche-Schema verdrängte. Die Rede ist von der bis heute maßgeblichen triadischen Geschichtsperiodisierung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit.49 Entstanden ist dieses Konzept gegen Ende des 17. Jahrhunderts unter Historikern der Universitäten Halle, Wittenberg, Leipzig und Jena. Zu klassischer Geltung verhalf ihr das dreibändige Lehrbuch der Universalgeschichte des Hallenser Professors Christoph Cellarius (1634–1707).50 In der 45 46 47
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Klaus J. Hansen, Mormonism and the American Experience. Chicago u. a. 1981. Luther, WA (wie Anm. 15), Tischreden, Bd. 2, 1913, 637, Z. 10f. (Nr. 2756b). Uwe Neddermeyer, Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis 18. Jahrhundert. Geschichtsgliederung und Epochenverständnis in der frühen Neuzeit. (Kölner Historische Abhandlungen, Bd. 34.) Köln/Wien 1988, 36f. „O seculum! O litterae! Iuvat vivere … Vigent studia, florent ingenia …“ (Brief an Willibald Pirckheimer vom 25.10.1518; in: Ulrich von Hutten, Schriften, hrsg. von Eduard Böcking. 5 Bde. Leipzig 1859–1862, Bd. 1, 1859. Ndr. Aalen 1963, 217). Vgl. Friedrich Jaeger, Art. Neuzeit, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 35), Bd. 9, 2009, 158–181; Neddermeyer, Mittelalter (wie Anm. 47), 18–32. Christoph Cellarius, Historia universalis breviter et perspicue exposita, in antiquam, et medii aevi ac novam divisa. Jena 1702.
Zur Begrifflichkeit von „alt“ und „neu“ in der Frühen Neuzeit
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Rückschau schien mit der Reformation und mit der Entdeckung der Neuen Welt – diese beiden Bezugspunkte nannte etwa der Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer (1727–1799)51 – eine, gegenüber der davor liegenden und im Sinne der humanistischen Geschichtsbetrachtung als minderwertiges „Mittelalter“ deklassierten Verfallszeit, neue Geschichtsperiode begonnen zu haben, die denn auch ganz unbefangen als „nova aetas“ bezeichnet wurde. Mit der beschleunigten politischen, sozialen und technischen Entwicklung der von Reinhart Koselleck so genannten „Sattelzeit“ wurde dann nach verbreitetem Empfinden eine weitere historische Zäsur gesetzt, so dass es sich mittlerweile eingebürgert hat, zwischen der „Frühen Neuzeit“ einerseits und der „Neuesten Zeit“ andererseits zu unterscheiden. Für letztere findet im deutschen Sprachgebrauch auch das in anderen europäischen Sprachen auf die gesamte Neuzeit angewandte Etikett der „Moderne“ in einem engeren Sinn Verwendung. Mit der „Erfindung“ der „Neuesten Zeit“ und insbesondere der noch sehr viel stärker ideologisch aufladbaren „Moderne“ erhob sich zwangsläufig die Frage, wie „neu“, wie „modern“ demgegenüber die nunmehr so genannte „Frühe Neuzeit“ sei.52 Die Diskussion darüber wurde und wird in einem semantischen Feld geführt, in dem das Begriffspaar „alt“ und „neu“ gegenüber der Auffassung des Mittelalters und weithin noch der Frühen Neuzeit selbst seine Konnotationen vertauscht hat. Insofern kann sich auch die Frage nach dem Wesen der Frühen Neuzeit nicht immer von zumindest latenten Werturteilen freihalten: mit der Entscheidung über den Neuheitswert dieser Geschichtsperiode entscheidet sich tendenziell zugleich das Urteil über ihr Wesen. Zwei unterschiedliche Positionen werden gegenwärtig in der Forschung vertreten. Die ältere und, soweit ich sehe, immer noch verbreitetere erkennt der Periode von ca. 1500 bis ca. 1750 grundsätzlich einen epochemachenden Neuheitswert zu, der es berechtigt erscheinen lässt, mit ihr die „Neuzeit“ schlechthin anbrechen zu lassen53; in diesem Zusammenhang kann dann zwanglos die Epochenbezeichnung „Frühe Neuzeit“ Verwendung finden. Die zweite, konkurrierende Einschätzung geht dahin, die eigentlich neue, moderne Zeit erst mit der Modernisierungsschwelle um 1800 beginnen zu lassen und die vorangehende Zeit als eine Vor-Moderne wieder enger an das Mittelalter heranzurücken. Für die Kirchengeschichte hat dies schon früh der Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch (1865–1923) getan, indem er den Epochencharakter der Reformation bestritt. In seinem Vortrag über Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt auf dem Stuttgarter Historikertag 1906 verwies er darauf, dass die Kultur des Konfessionellen Zeitalters wie die des Mittelalters kirchlich geprägt geblieben sei; die Neuzeit habe erst mit der Aufklärung und dem von Troeltsch so genannten Neuprotestantismus begon-
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Jaeger, Neuzeit (wie Anm. 49), 161. Ilja Mieck, Die Frühe Neuzeit. Definitionsprobleme, Methodendiskussion, Forschungstendenzen, in: Nada Boškovska Leimgruber (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge. Paderborn u. a. 1997, 17–38. Rudolf Vierhaus, Vom Nutzen und Nachteil des Begriffs „Frühe Neuzeit“. Fragen und Thesen, in: ders. (Hrsg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne. Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen. Göttingen 1992, 13–26.
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nen.54 In der allgemeinen Geschichtswissenschaft haben aus ähnlichen Einsichten Otto Brunner (1898–1982) und Dietrich Gerhard (1896–1985) das sogenannte Alteuropa-Konzept entwickelt, das die Zeitspanne vom 12. bis zum 18. Jahrhundert als eine zusammenhängende Einheit auffasst.55 Nicht mehr das Neue, sondern, im Gegenteil, das Alte wird hier als Signatur der Periode empfunden.
3. Das neue Modell: „alt“ und „neu“ im Kontext der modernen Fortschrittsidee Mit dem Ausblick auf den historiographischen Begriff der „Neuzeit“ haben wir der Chronologie der semantischen Entwicklung der Begriffe „alt“ und „neu“ bereits vorgegriffen. Es gehört zu den bemerkenswertesten Entwicklungen der Frühen Neuzeit, dass in dieser Periode die Termini „alt“ und „neu“ ihre bisherigen Konnotationen tauschten.56 Dies wurde einerseits durch die im alten Zeit- und Geschichtsmodell bereits angelegten Ambivalenzen und die dadurch eröffnete Möglichkeit einer positiven Würdigung von Neuem und einer skeptischen Beurteilung des alt gewordenen Alten ermöglicht. Vor allem aber machte sich im Verlauf der Frühen Neuzeit je länger je mehr ein tiefer liegender Wandlungsprozess bemerkbar, in dem das bisherige, biblisch geprägte Zeit- und Geschichtsempfinden durch ein säkularisiertes Geschichtsbild abgelöst wurde. Nicht zuletzt unter dem Einfluss chiliastischer Ideen des Puritanismus und des Pietismus wurde die eschatologische Naherwartung preisgegeben, und wenn man überhaupt noch ein Ende der Geschichte erwartete, so rückte dies in eine immer fernere Zukunft. Damit war Raum für eine dezidierte innergeschichtliche Verbesserungsund Fortschrittserwartung.57 Das erhöhte Tempo technisch-wissenschaftlicher Innovationen, aber auch politischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen ließ einer solchen Fortschrittserwartung immer mehr Plausibilität zuwachsen. Im Verein mit der Neubewertung des Menschen und der Etablierung der optimistischen Anthropologie der Aufklärung wirkten diese Erfahrungen dahingehend zusammen, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts die älteren Kreislauf- oder Verfallsmodelle der Geschichte durch eine dezidierte Fortschrittsidee abgelöst wurden. Ihre klassische Formulierung erhielt sie 1794 durch Condorcet in seiner Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain; sie gehört seitdem „zum innersten
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Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Historische Zeitschrift 97, 1906, 1–66; selbständig München/Berlin 1911. Dietrich Gerhard, Zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Alte und Neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung. Göttingen 1962, 40–56; ders., Das Abendland 800–1800. Ursprung und Gegenbild unserer Zeit. Freiburg 1985. – Vgl. Ernst Hinrichs, Art. Alteuropa, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 35), Bd. 1, 2005, 288–291. Moltmann/Rath, Neu (wie Anm. 14), 727–730. Joachim Ritter, Art. Fortschritt, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch (wie Anm. 14), Bd. 2, 1972, 1032–1059; Reinhart Koselleck/Christian Meier, Art. Fortschritt, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997, Bd. 2, 1975, 351–423; Walter Sparn/Gerrit Walther, Art. Fortschritt, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 35), Bd. 3, 2006, 1079–1084; Seele/Wagner, Kleine Geschichte des Neuen (wie Anm. 14), 56f.
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Wertekanon der Moderne“.58 Das Neue ist in dieser Perspektive grundsätzlich dem Alten überlegen, nicht umgekehrt. Einen bedeutenden Markstein für die Durchsetzung der modernen Auffassung des neuer ist besser bildete die am Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich ausgetragene Querelle des Anciens et des Modernes.59 Dabei ging es um den Vorbildcharakter der Literatur des klassischen Altertums, oder anders gesagt: um die Plausibilität des humanistischen Kulturmodells. Am 27. Januar 1687 trug der Dichter Charles Perrault (1628–1703) in der Académie Française ein Preisgedicht auf den seit 44 Jahren regierenden „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. (reg. 1643–1715) und seine Zeit vor: Le siècle de Louis le Grand. Darin stellte Perrault das Zeitalter Ludwigs dem augusteischen Zeitalter gleich und erklärte, zwar seien die Menschen der Antike groß und verehrungswürdig gewesen, aber eben doch nur Menschen mit ihren Schwächen und den Neueren nicht unbedingt überlegen.60 1688 entfaltete und verschärfte Perrault diese These in seinem vierbändigen Werk Parallèle des anciens et des modernes. Unterstützung erfuhr er darin unter anderem durch Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657–1757) und Jean Desmarets de Saint-Sorlin (1595–1676), die wie Perrault eine Bindung des schöpferischen Genies an das Vorbild der Antike ablehnten. Dagegen beharrten bedeutende Literaten wie Nicolas Boileau (1636–1711), Jean Racine (1639–1699), Jean de La Fontaine (1621–1695) und Jean de La Bruyère (1645–1696) auf der Kanonizität des klassischen Altertums. In den folgenden Jahrzehnten wurden in verschiedenen Ländern ähnliche Auseinandersetzungen dieser Art geführt. In England war dies die seit 1690 ausgetragene, von Jonathan Swift so benannte „Battle of the Books“. In der von 1713 bis 1716 wieder in Frankreich entflammten „Querelle d’Homère“ stand der Rang Homers und die Möglichkeit oder Notwendigkeit, ihn zu verbessern, zur Debatte. Nach Deutschland wurde die Problematik durch Johann Christoph Gottsched (1700–1766) und durch Johann Joachim Winckelmanns (1717– 1768) Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und BildhauerKunst (1755) übertragen. Was hier, in der Querelle des Anciens et des Modernes und ihren Nachhutgefechten auf dem Spezialgebiet der Literatur und der Kunst ausgetragen wurde, sollte sich bald auch im Großen und Ganzen als folgenreich erweisen. Das alte Kulturmodell des älter ist besser wurde schnell und auf Dauer durch das neue Modell des neuer ist besser ersetzt. Im Zeitalter der Aufklärung wurde die europäische Moderne61 geboren, die im prinzipiell unabschließbaren Fortschritt und dem Streben nach dem immer besseren Neuen ihre Zeitperspektive fand und sich schließlich – in Deutschland seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in 58 59
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Sparn/Walther, Fortschritt (wie Anm. 57), 1079. Jauß, Antiqui (wie Anm. 21), bes. 413f.; Till R. Kuhnle, Art. Querelle, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 9 Bde. Tübingen 1992–2009, Bd. 7, 2005, 503–523. „La belle Antiquité fut toujours vénérable; / Mais je ne crus jamais qu‘elle fût adorable. / Je voy les Anciens sans plier les genoux, / Ils sont grands, il est vray, mais hommes comme nous; / Et l‘on peut comparer sans craindre d‘estre injuste, / Le Siecle de LOUIS au beau Siecle d’Auguste“: Charles Perrault, Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Mit einer einleitenden Abhandlung von Hans Robert Jauß und kunstgeschichtlichen Exkursen von Max Imdahl. (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 2.) München 1964, 165. Friedrich Jaeger, Art. Moderne 1. Allgemein, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 35), Bd. 8, 2008, 651–654.
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England dagegen vereinzelt schon im 17. Jahrhundert – auch selbstbewusst so, als „Moderne“, bezeichnet. Das Alte und gar das Primitive62, das sich einst – etwa in der seit der Gregorianischen Reform so wirkungsmächtigen Begriffsfügung der „ecclesia primitiva“ – höchster Wertschätzung erfreut hatte, wurde nun zum Inbegriff des Abgelebten und Verächtlichen, das vom Neuen zu Recht übertroffen worden war und immer aufs Neue zu übertreffen blieb.
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Art. Primitiv, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch (wie Anm. 14), Bd. 7, 1989, 1315–1320.
Alte Ordnung oder neue Ordnung? Die Reichsreform von 1495 Anuschka Tischer
Im August 1495 beschlossen Kaiser Maximilian I. und die Reichsstände auf einem Reichstag zu Worms diverse Maßnahmen, die das Reich aus historischer Perspektive auf den Weg brachten weg von einem Personenverband hin zu einem modernen Staat1: Sie gründeten mit dem Reichskammergericht eine judikative Institution.2 Sie griffen mit dem Ewigen Landfrieden in das exekutive Recht zahlreicher regionaler Herrschaftsträger ein und ebneten so den Weg hin zu einem Gewaltmonopol.3 Sie erhoben mit dem Gemeinen Pfennig eine Kopfsteuer für alle Untertanen und schufen damit die fiskalische Grundlage für ein staatliches Funktionieren des Reiches.4 Der Wormser Reichstag von 1495 schuf ein qualitativ neues Reich: Eine juristische, durch Institutionen gestützte Körperschaft, deren Oberhaupt dreizehn Jahre später sogar – wenn auch unter dem Druck der faktischen Undurchführbarkeit
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Zur Reichsreform siehe grundlegend: Heinz Angermeier, Die Reichsreform 1410–1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart. München 1984. Daneben auch: ders. (Hrsg.), Säkulare Aspekte der Reformationszeit. (Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 5.) München/Wien 1983. Die Akten des Wormser Reichstags sind ediert in: Deutsche Reichstagsakten. Mittlere Reihe. Bd. 5: Reichstag von Worms 1495, bearb. von Heinz Angermeier. Göttingen 1981. Zur Gründung und den frühen Jahren des Reichskammergerichts siehe: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527). (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 45.) Köln/Weimar/Wien 2003; Reinhard Seyboth. Kontinuität und Wandel. Vom mittelalterlichen Reichshofgericht zum Reichskammergericht von 1495, in: Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806. Mainz 1994, 68–74; Ingrid Scheurmann, Zur Vorgeschichte des Reichskammergerichts im 15. Jahrhundert, in: ebd., 77–87; Dies., Die Installation des Gerichts in Frankfurt und die Speyrer Zeit, in: ebd., 89–108. Nach wie vor grundlegend zur Geschichte des Reichskammergerichts ist auch Rudolf Smend. Das Reichskammergericht. Weimar 1922. Die lange Vorgeschichte und schließlich die Verabschiedung des Ewigen Landfriedens ist dargestellt von Mattias G. Fischer, Reichsreform und „Ewiger Landfrieden“. Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495. (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Neue Folge, Bd. 34.) Aalen 2007. Zum Gemeinen Pfennig siehe: Peter Schmid, Der Gemeine Pfennig von 1495. Vorgeschichte und Entstehung, verfassungsgeschichtliche, politische und finanzielle Bedeutung. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 34.) Göttingen 1989. Zum weiteren Überblick über die Reichssteuerproblematik dieser Epoche siehe: ders., Reichssteuern, Reichsfinanzen und Reichsgewalt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Angermeier (Hrsg.), Aspekte (wie Anm. 1), 153–198.
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eines Romzugs – für sich und seine Nachkommen auf die traditionelle Legitimierung einer Krönung durch den Papst verzichtete.5 Der Wormser Reichstag katapultierte das Reich gleichsam vom Mittelalter in die Neuzeit – und dies nicht langsam, sondern innerhalb weniger Monate, eben auf einem Reformreichstag. Die Epochengrenze wird im Allgemeinen, neben Entdeckungen und Innovationen, an langfristigen evolutionären Prozessen festgemacht, namentlich am Prozess der Institutionalisierung und der Verdichtung von Staatlichkeit, der sich das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit hindurch zog und sich nur punktuell in bestimmten Ereignissen kristallisierte.6 Der Wormser Reichstag von 1495 scheint dagegen auf den ersten Blick die Staatswerdung in einem Ereignis zu bündeln. Tatsächlich stellt sich die Reichsreform bei genauer Betrachtung allerdings als ein weitaus langsamerer und länger anhaltender Prozess dar, als es das historische Ereignis Wormser Reichstag suggeriert. Der Wormser Reichstag, dem die deutsche Bundespost 1995 sogar eine Briefmarke widmete, ist zu einer Chiffre für die Reichsreform geworden, welche die Prozessualität dieser Reform mitunter überdeckt. Die in Worms getroffenen Maßnahmen hatten ebenso eine Vorgeschichte und Vorbilder wie eine weitere Entwicklung. Der Reformprozess begann vor 1495. So ging dem Ewigen Landfrieden in Vorstufen eine Einschränkung des Fehderechts in Landfriedensordnungen immer wieder voraus, die dann in der unbeschränkten Setzung, eben dem Ewigen Landfrieden von 1495, gipfelte.7 Der Gemeine Pfennig hatte Vorformen in den Diskussionen um die Finanzierung der Hussitenkriege und der sogenannten Türkenkriege im Verlauf des 15. Jahrhunderts.8 Der Reformprozess begann nicht nur vor 1495, er zog sich auch weit darüber hinaus. Dabei entwickelte er sich in verschiedenen Punkten so, dass von moderner Staatlichkeit gemessen an anderen Staaten, mit denen sich das Reich messen musste, schließlich nur unter Vorbehalt gesprochen werden kann. Vor allem eine institutionalisierte Exekutive bildete sich auf Reichsebene nicht heraus.9 Die Alternative war das Exekutionssystem der Reichskreise, das 1500 auf dem Reichstag zu Augsburg eingeführt und in den folgenden zwei Jahrzehnten zu seiner endgültigen Form ausgebaut wurde. Es war wie die anderen Maßnahmen der Reichsreform nicht völlig neu, sondern hatte eine Vorgeschichte von mehr als einem Jahrhundert.10 Zugleich aber hatte die Reichskreisordnung im Rahmen der Reichsreform natür5
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Zur Bedeutung der Annahme des Titels „Erwählter Römischer Kaiser“ durch Maximilian I. 1508 siehe Helmut Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 42.) München 1997, 7f. Für diese prozessuale Perspektive auf den Beginn der Neuzeit ist nach wie vor einschlägig: Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490. (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3.) Berlin 1985. Vgl. Anm. 3. Schmid, Pfennig (wie Anm. 4), 28–56. Zu den verschiedenen Versuchen Maximilians I., das Problem der Exekutive in die Reichsreform einzubeziehen, siehe: Anuschka Tischer, Reichsreform und militärischer Wandel: Kaiser Maximilian I. (1493–1519) und die Reichskriegsreform, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51, 2003, H. 8, 685–705. Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (1383–1806). Geschichte und Aktenedition. Stuttgart 1998, 33.
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lich dennoch innovativen Charakter. Die Ordnung bildete freilich eine Sonderform der Herausbildung exekutiver Gewalt im Staatsbildungsprozess. Das Reich konservierte hier mittelalterliche Formen regionalen und ständischen Zusammenwirkens und entwickelte daraus eine ganz eigene Form der Exekutive, die mit der Entwicklung in anderen Ländern kaum zu vergleichen ist. Das zweite prägnante Kriterium, das die Reichsreform von anderen Staatsbildungsprozessen unterscheidet, ist die Tatsache, dass sich der Gemeine Pfennig als dauerhafte Steuer für die Reichsadministration nicht behaupten konnte. Bereits in seiner 1495 bewilligten vierjährigen Variante war er zunächst kein Erfolg. Langfristig etablierte sich zwar eine Reichssteuer zur Finanzierung des Reichskammergerichts, wenn man sich aber vor Augen hält, dass regelmäßige Steuern als das vielleicht wichtigste Kriterium des modernen Staates gelten, so blieb die Reichsreform auch hier stecken zwischen Herkommen und Moderne respektive echter Erneuerung.11 Auch wenn das Heilige Römische Reich den Weg vom mittelalterlichen Personenverband hin zum modernen Staat nicht konsequent zu Ende ging und auch wenn der Wormser Reichstag von 1495 vor allem eine Etappe in einem langen Prozess war, so sahen doch die in Worms handelnden Akteure ebenso wie künftige politische Akteure, Staatsrechtstheoretiker des Heiligen Römischen Reichs ebenso wie spätere Historiker im Wormser Reichstag eine Reform bzw. eine Erneuerung.12 Die Reichsstände hatten nach dem Tod Friedrichs III. auf diese Reform gedrängt, nachdem die Kurfürsten Maximilian I. bereits 1486 in der Hoffnung auf Reformen zum römischen König gewählt hatten, eine Hoffnung, die sich angesichts der immer wieder blockierenden Haltung des alten Kaisers zunächst nicht wirklich erfüllt hatte.13 Kaiser Maximilian I. war grundsätzlich reformwillig, wenn auch mit anderem Programm und anderer Schwerpunktsetzung als die Stände. Der Wormser Reichstag von 1495, der erste Reichstag Maximilians als Reichsoberhaupt, verlieh dem Reichsreformprozess die entscheidende Dynamik nach den lähmenden Jahrzehnten der Regierung Friedrichs III. In Worms wurde ein neues Reichsgrundgesetz geschaffen und die Verfassung des Reiches entscheidend modifiziert. Zusammen mit der Goldenen Bulle von 1356 und später dem Westfälischen Frieden von 1648 berief man sich auf den Reichsabschied von 1495, insbesondere
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Siehe dazu das Fazit der langfristigen Reichssteuerentwicklung von Schmid, Reichssteuern (wie Anm. 4), 196. Zur Bedeutung der Finanzen für den modernen Staat siehe: Michael Stolleis, Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1983. Der Titel geht zurück auf ein zu Beginn des 15. Jahrhundert geflügeltes Wort. Vgl. auch Schmid, Pfennig (wie Anm. 4), 16. Für die Bedeutung, welche die kaiserlich-habsburgische Politik, welche die Reichsreform der Person Maximilians I. selbst zuschrieb, dieser Reform noch im 18. Jahrhundert zumaß, siehe eine Denkschrift des Grafen Johann Anton Pergen für Joseph II. von 1766, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen. Bd. 5: Zeitalter des Absolutismus 1648–1789. Stuttgart 1997, 124f. Zur Wahl Maximilians I. und zur Zeit der sogenannten Doppelregierung zwischen der Wahl 1486 und dem Tod Friedrichs III. 1493 siehe Susanne Wolf, Die Doppelregierung Kaiser Friedrichs III. und König Maximilians I. (1486–1493). (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Bd. 25.) Köln/Weimar/Wien 2005.
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auf den Ewigen Landfrieden, als Verfassungsgrundlage in politischen und juristischen Argumentationen bis zum Ende des Reiches 1806.14 Gerade weil die Maßnahmen der Reichsreform neu waren, stießen sie auch auf Ablehnung. Viele Reichsstände kamen gar nicht erst zu den Reichstagen. Selbst auf dem Wormser Reformreichstag war nur knapp die Hälfte aller Reichsstände vertreten.15 Diejenigen, die die Veränderungen nicht mit beschlossen hatten, sahen sich zu ihrer Umsetzung oft auch nicht verpflichtet, sondern hielten am Herkommen, an der bisherigen Form des Reiches fest. Selbst eine Innovation wie das Reichsregiment von 1500, das die Verhältnisse im Reich klar zugunsten einer ständischen Mitsprache hätte neu regeln sollen, scheiterte daran, dass viele Stände diese Reform nicht mittrugen.16 Für die Eidgenossen wurde die Reichsreform zum Wendepunkt des Herauswachsens aus dem Heiligen Römischen Reich. Nachdem sie zunächst wie viele andere versucht hatten, die Reichsreform zu ignorieren, bezogen sie schließlich Stellung dagegen, dass sie den Gemeinen Pfennig zahlen und in die Jurisdiktion des Reichskammergerichts einbezogen werden sollten. Beides waren nach dem Verständnis der Eidgenossen Neuerungen, die mit ihren bisherigen Privilegien und Freiheiten nicht vereinbar waren. Sehr schnell, nämlich im Schweizerkrieg von 1499, kam für die Eidgenossen die Chance, von Maximilian I. die Exemtion vom Reichskammergericht und von den Reichssteuern zu erlangen. Zwar handelte es sich bei dem Schweizerkrieg lediglich um einen regionalen, rasch beigelegten Konflikt, doch bot er den Eidgenossen die Gelegenheit, ihre Ablehnung der beiden sie betreffenden Punkte der Reichsreform klarzustellen, die Maximilian ihnen um eines schnellen Friedens willen zugunsten erbländischer Interessen zugestand. Die Eidgenossen vollzogen keine bewusste Abkehr vom Reich, aber das Reich, dem sie sich zugehörig sahen, veränderte sich seit 1495. Die Eidgenossen erteilten dem neuen, sich plötzlich gestalthaft verdichtenden und institutionalisierten Reich eine Absage. Das alte Reich, das eine lockere Zugehörigkeit zugelassen hatte, hörte allmählich auf zu existieren, das aber war es, zu dem die Eidgenossen sich bekannten, wenn sie sich auf ihre Freiheiten und Privilegien beriefen. Die Neuerungen lehnten die Eidgenossen ab, und damit wurde ihr Herauswachsen aus dem Reich langfristig eine logische Konsequenz der Reichsreform, denn das Reich war 1495 tatsächlich ein neues und anderes geworden.17
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Siehe dazu den Artikel „Reichsgrundgesetz“ von Heinz Mohnhaupt in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bislang 11 Bde. Stuttgart/Weimar seit 2005, Bd. 10, 2009, 907ff. Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende der Neuzeit. 5 Bde. München/Wien 1971–1986, Bd. 2: Reichsreform und Kaiserpolitik. 1493–1500, 1975, 228. Eine differenzierte Analyse der Anwesenheiten auf Reichstagen unternimmt für den Zeitraum 1521–1581 Rosemarie Aulinger, Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 18.) Göttingen 1980, 115–124. Elisabeth Rom, Maximilian I. und die Reichstage von 1500 bis 1510. Diss. phil. (masch.) Graz 1970, 44ff. Die Geschichte des ersten Reichsregiments ist wissenschaftlich nur ungenügend aufgearbeitet. Das Standardwerk dazu ist nach wie vor das Buch von Victor von Kraus. Das Nürnberger Reichsregiment. Gründung und Verfall 1500–1502. Innsbruck 1883. Bettina Braun, Die Eidgenossen, das Reich und das politische System Karls V. (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 53.) Berlin 1997, 24–37; Thomas Maissen, Worum ging es im Schwabenkrieg? Zum 500. Jahrestag des Friedens von Basel (22. September 1499), in: historicum.net: http://www.
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Die politischen Akteure des Reichstags von 1495 hatten allerdings nicht beabsichtigt, ein neues Reich zu schaffen. In den Akten des Reichsreformprozesses findet sich – wenig überraschend – nichts von einer Neuerung. Es ging darum, wie bereits die Reichstagseinladung von 1494 deutlich machte, eine „Ordnung“ aufzurichten, die Frieden und Recht im Reich gewährleisten sollte, und darum „die gericht und recht ordentlich aufzurichten“.18 Von alt oder neu war dabei keine Rede, aber die Notwendigkeit, eine Ordnung aufzurichten, implizierte, dass man sich in einem Zustand befand, in dem Friede und Recht eben nicht gewährleistet waren, und dass es diesen Zustand zu überwinden und also einen neuen Zustand zu schaffen galt. Nach 1495 sprach man sehr bald von der Wormser Ordnung bzw. berief sich auf eine Ordnung, die in Worms und auf den folgenden Reichstagen geschaffen worden sei, zunächst noch mit dem Hinweis, dass diese Ordnung noch nicht umgesetzt worden sei.19 1495 war also eine Ordnung nicht nur der Sache nach, sondern vielmehr als normatives Ideal geschaffen worden, die zuvor so nicht existiert hatte. Wie aber verstanden die politischen Akteure der Reichsreform ihr Handeln? Es war 1495 Konsens, dass das Reich sich in einem unhaltbaren Zustand befinde. Die entsprechende Diskussion und Reformentwürfe hatten sich durch das gesamte 15. Jahrhundert hindurch gezogen, auf der Ebene des Reichstags und außerhalb von diesem.20 Schon Kaiser Sigismund anerkannte öffentlich, dass Gerechtigkeit und „gemeiner Nutzen“ unterdrückt seien und versprach die notwendige Verbesserung, namentlich „des Heiligen Römischen Reichs Sachen in gute und ordentliche Ordnung zu bringen, [...] die Straßen zu beschirmen und Frieden und Gemach in die Lande zu machen“.21 Der den geistlichen Kurfürsten nahestehende Jakob von Sierck forderte 1452 „gerechtikeyt vnd fridden durch gute ordenungen in vnser nacion zu
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historicum.net/no_cache/persistent/artikel/1069 (geöffnet am 13. Mai 2010). Zur langfristigen Entwicklung des Verhältnisses der Eidgenossenschaft zum Heiligen Römischen Reich bis zum Schweizerkrieg / Schwabenkrieg siehe: Karl Mommsen, Eidgenossen, Kaiser und Reich. Studien zur Stellung der Eidgenossenschaft innerhalb des Heiligen Römischen Reiches. (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 72.) Basel/Stuttgart 1958. Einladung Maximilians I. zum Wormser Reichstag vom 24. November 1494, in: Deutsche Reichstagsakten MR 5,1 (wie Anm. 1), 128. So Kaiser Maximilian auf dem Augsburger Reichstag von 1510: „[...]: so mag kays. maj. wol leyden und will gern sehen, das die ordnungen, so vormals zu Wurmbs und hie auff dem reychstag beschlossen gewessen sein, furgenomen werden.“ In: Johannes Janssen (Hrsg.), Frankfurt’s Reichscorrespondenz nebst andern verwandten Aktenstücken von 1378–1519. 2 Bde. Freiburg i. Br. 1863–1872, Bd. 2, 1872, 809. Ebenso die Stände in ihrer Gegen-Antwort: „Und als kays. maj. ferrer anzaigt, das zu ainem nachtruckh, und damit die landt bey dem hailigen reich behalten, auch frid und ainigkait gehandthapt werden moecht, not sein sollt, ain ander fursehung zu thun, lawt der Ordnung zu Wurmbs und alhie uff den reichstagen beschlossen etc., darauff geben die stend kays. maj. in underthanigkait zu vernemen, das, wiewol sollich Ordnung uff gedachten reychstagen auß gutter maynung furgenomen, so haben doch dieselbigen Ordnung nie kainen furgang auß vilfaltigen Ursachen, der kays. maj. gutt wissen tregt, erlangen muegen.“ Ebd., 812. Diverse Reformschriften und Reformversuche finden sich dargestellt bei Fischer, Reichsreform (wie Anm. 3). Zitiert nach: Eike Wolgast, Art. Reform, Reformation, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997, Bd. 5, 1984, 313–360, hier 323.
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bringen“.22 Ordnung war also früh ein Kernbegriff der Reichsreform. Das Gegenstück ist die Unordnung, die Tatsache, dass, wie es eine Landfriedensordnung der Kurfürsten von 1438 formulierte, „soliche unordeliche swere und unredelich sachen, die czu tutschen landen tegelich sich verlauffen und begangen werden mit raube, brande, ffyentschafft und anders, und ye mee und mee inrysen, und das davon noch grosser und swerer unradt, schade und irrunge den gemeynen landen entsteen und kommen mogen“.23 Die Unordnung war, wie bereits in der kurfürstlichen Landfriedensordnung deutlich wird, eine Folge der Fehden, die aber nicht unrechtlich waren, sondern selbst ein Recht und eine legitime Form der Rechtsfindung.24 Im Reformprozess aber wurden sie nun gebrandmarkt, weil diese Form der Rechtsfindung eben nicht für Ordnung, sondern für Unordnung sorgte. Der kurfürstliche Landfriede von 1438 untersagte die Fehden „dem almechtigen got zu lobe, dem heiligen Romischen riche zu eren und den gemeynen landen und allen frommen luden zu nücze und frommen“. 25 Der zehnjährige Landfriede von 1486 und der Ewige Landfriede von 1495 bedienten sich zusätzlich des Arguments der mittlerweile immer prekäreren Bedrohung durch das Osmanische Reich, die bekanntlich im Lauf des 16. Jahrhunderts als reichspolitisches Argument probat weiter ausgebaut wurde: Die Abwehr dieser Bedrohung erforderte nun die Einheit der Christenheit, so dass Unordnung erst recht nicht mehr duldbar schien.26 Ordnung war somit durch die Landfriedensverordnungen klar definiert, Fehden wurden dagegen zum Gegenbegriff, zur Unordnung. Die Reichsreform läuft damit in ihrer Entwicklung auf das bis heute aktuelle politische Handlungsmodell von Krise und Reform hinaus, das in der Gegenwart freilich verstanden wird als ein Handlungsmodell von Krise und Neubeginn. Die Reichsreform so zu verstehen, wäre jedoch ein Missverständnis. Dies wird bereits deutlich, wenn man genauer betrachtet, wie die Landfriedensordnungen des 15. Jahrhunderts das Verhältnis von Ordnung und Fehderecht bestimmen. Das Fehderecht, welches die Krise mit verursacht hatte, wurde nämlich keineswegs aufgehoben und damit ein Neubeginn markiert. Das Recht zur Fehde respektive jegliche Privilegien, Freiheiten, Herkommen, die der mit dem Landfrieden aufgerichteten Ordnung zuwiderliefen, sollten vielmehr zurückgestellt werden hinter diese Ordnung, sie wurden hintenangesetzt. Das Recht wurde also nicht aufgehoben, aber es war schwächer als die Ordnung. Faktisch machte damit das neue Recht der Landfriedensordnung das alte des 22 23 24 25
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Zitiert nach Fischer, Reichsreform (wie Anm. 3), 152. Janssen (Hrsg.), Frankfurt’s Reichscorrespondenz (wie Anm. 19), Bd. 1, 1863, 433. Siehe dazu insgesamt Fischer, Reichsreform (wie Anm. 3). Janssen (Hrsg.), Frankfurt’s Reichscorrespondenz (wie Anm. 19), Bd. 1, 1863, 433. Ähnlich die Landfriedensordnung Friedrichs III.: „[...] so haben wir uns von der purde wegen unsers kuniclichen ampts, die wir Gott zu lobe, dem heiligen reich zu eren und durch gemeines nutzes willen auf uns genomen haben, darzu ergeben, daz wir mit allem fleiß solch unrat [...] ze tiligen arbeiten wollen.“ In: Karl Zeumer (Bearb.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit. (Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, Bd. 2.) 2. Aufl. Tübingen 1913, 260f. Ebd., 273 (Landfrieden von 1486); Deutsche Reichstagsakten MR 5,1 (wie Anm. 1), 362f. (Ewiger Landfrieden von 1495). Zur weiteren Nutzung des Türkenkriegsarguments in der Reichspolitik siehe Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978.
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Fehderechts hinfällig. Grundsätzlich aber blieb das alte Recht bestehen und wurde nur von einem neuen ergänzt. Denkbar blieb damit, dass die bisherigen Inhaber der Gewalt diese legitim zurückholten, wenn die neue Ordnung des Reiches versagen sollte. Tatsächlich war der Begriff der Reform im Spätmittelalter nur bedingt nach vorne, auf die Zukunft gerichtet und unterschied sich damit ganz wesentlich vom heutigen Begriff der Reform. Eike Wolgast hat das Begriffspaar Reform und Reformation in seinem geschichtlichen Wandel untersucht und dabei die grundsätzliche Beziehung des Begriffs zu dem der Ordnung konstatiert.27 Prämisse war die von Gott gesetzte Weltordnung, an der sich das Handeln zu orientieren hatte. Der Zustand, der dieser Ordnung entsprach, sollte erhalten – konserviert – werden. Dort, wo der Zustand fehlerhaft war und sich von der göttlichen Weltordnung entfernt hatte, sollte er wiederhergestellt – reformiert – werden. Dabei bedeutete Reformation nicht, einen bereits historisch gewordenen Zustand neu zu beleben. Reform bzw. Reformation war die Umkehr zu einem guten Zustand, der in der Gegenwart noch nachwirkte, in Resten noch vorhanden, aber eben im Verfall begriffen war. Konkret auf die Situation im Heiligen Römischen Reich bezogen wurde der Begriff Reform bzw. Reformation dann seit der Stauferzeit. Im 15. Jahrhundert gab es schließlich eine breite Reformdiskussion. Es etablierte sich nun eine Vorstellung, dass eine umfassende Reform aller Dinge erforderlich sei, die allerdings in der 53 Jahre währenden Herrschaft Friedrichs III. noch nicht zum Durchbruch kam.28 Die politischen Akteure der Reichsreform im folgenden Zeitalter Maximilians I. reflektierten nicht auf ihre Verwendung des Reformbegriffs, auf das große Ganze, in das sie ihr Handeln stellten. Die Reformdiskussion des 15. Jahrhunderts liefert aber einen klaren theoretischen Rahmen. Es war zum einen ein allgemeines Krisenbewusstsein, aus dem heraus diese Diskussion stattfand. Zum anderen war der Bezugspunkt dabei die rechte Ordnung, die es, gemäß der göttlichen Ordnung, wiederherzustellen galt. „Gehorsamkeyt ist tod, / gerechtigkeyt leyt not, / nichts stet in rechter ordenung,“ lautete das Motto einer der Reformschriften, der sogenannten Reformatio Sigismundi, die mit der Bitte an Gott begann, den Menschen bei der Wiedererrichtung seiner Ordnung Einsicht und Kraft zu geben.29 Da sich die Reformpläne und Reformdiskussionen des 15. Jahrhunderts auf die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung im Ganzen bezogen, waren sie nicht wie eine moderne Reform vorrangig auf konkrete Problembewältigung ausgerichtet. Die Probleme galten vielmehr als Ausdruck der Störung der Gesamtordnung, die eben als Gesamtordnung wiederhergestellt werden musste. Es ging nicht um ein neues Reich, das schlicht ein reibungsloseres Zusammenleben der Reichsmitglieder gewährleistete. Die Reformschriften zielten nicht auf eine
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Wolgast, Reform (wie Anm. 21). Seit einigen Jahren kommt es zu einer vorsichtigen Neubewertung der Herrschaft Friedrichs III. und so auch seiner Rolle in der Reichsreform. Siehe z. B. die positive Würdigung der sogenannten „Reformation Friedrichs III.“ von 1442 bei Fischer, Reichsreform (wie Anm. 3), 162–173. Vgl. auch den Titel von Wolf, (wie Anm. 13) zur „Doppelregierung“ Friedrichs III. und Maximilians I. von 1486 bis 1493. Quellen zur Reichsreform im Spätmittelalter. Ausgewählt und übersetzt von Lorenz Weinrich. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters – Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 39.) Darmstadt 2001, 226.
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Reform, die im Ergebnis auf Staatlichkeit gerichtet gewesen wäre respektive das Reich zu einem Gemeinwesen wie andere gemacht hätte. Im Reformprozess selbst galt gerade das im Staatsbildungsprozess bereits fortgeschrittene Frankreich nicht als Vorbild, sondern als abschreckendes Beispiel, weil die dort zu beobachtenden Maßnahmen, namentlich neue und permanente Steuern, als Bedrohung der ständischen Freiheit begriffen wurden.30 In den Reformschriften galt die Reform des Reiches denn auch als ein drängendes Problem, gerade weil das Reich nicht ein Gemeinwesen unter anderen war. Die Theoretiker der Reform zielten immer auch auf die sakrale Bedeutung des Reiches für die gesamte Christenheit. Reichsreform und Kirchenreform sind im Vorfeld von Reichsreform und Reformation zusammen zu sehen. Nicht von ungefähr entstanden erste Konzepte zur Reichsreform im Rahmen von Reformkonzepten für die katholische Kirche für das 1431 beginnende Basler Konzil. In der auf dem Konzil 1433/34 vorgelegten Schrift „De Concordantia Catholica“ des Nikolaus Cusanus war „Ordnung“ der Kernbegriff: Es herrschte Unordnung, und es galt, die von Gott gegebene Ordnung wieder herzustellen.31 Der Magdeburger Domherr Heinrich Toke forderte konkret die Wiederherstellung einer von ihm Rudolf I. zugeschriebenen Friedensordnung.32 Die Reichsreform war damit grundsätzlich ein rückwärtsgewandter Prozess. Ein Prozess, der mit einer idealisierten vergangenen Ordnung argumentierte, die es wieder herzustellen galt. Am vielleicht deutlichsten geschieht dies im sogenannten Traum des Hans von Hermannsgrün, einer Reformschrift die unmittelbar im Vorfeld des Wormser Reichstags von 1495 entstand und dem Umfeld Maximilians I. ebenso zugeordnet wird wie der ständischen Reformpartei.33 Im Traum des Hans von Hermannsgrün treten Karl der Große, Otto der Große und die in offensichtlicher Verwechslung zu einer Person vermengten Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) und Friedrich II. in einer Traumvision in einer Reichsversammlung auf. Sie argumentieren nicht mit konkreten Problemen, sondern mit der übergeordneten Größe Reich, das sie mit ihrem Blut errichtet hätten und dessen Untergang sie nun verhindern wollten. Als Problematik des Reiches erscheint hier die fehlende Tugendhaftigkeit, Wehrhaftigkeit und Gottesfurcht der gegenwärtigen Generation, Werte, durch die das Reich vormals errichtet worden sei. Als konkretes Problem erscheint freilich die äußere Bedrohung durch die Osmanen, vor allem aber durch Frankreich. Als Lösung der Reformproblematik erscheint schlicht, sich geschlossen gegen Frankreich zusammenzufinden, mit dessen Abwehr das Reich in alter Größe wiedererrichtet werde. Dieses Reformprogramm, in dem gleichsam die Geschichte selbst aufsteht und zu den Zeitgenossen spricht, entspricht seiner Struktur nach dem, was Maximilian I. auf dem Wormser Reichstag und künftigen Reichstagen immer
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Schmid, Pfennig (wie Anm. 4), 19f. Besonders prägnant die Feststellung: „Et haec onmia, proh dolor, ex perverso ordine eveniunt.“ Nicolaus Cusanus, De Concordantia Catholica libri tres, hrsg. von Gerhard Kallen. (Nicolai de Cusa Opera Omnia, Bd. 14.) Hamburg 1963, 434. Über die göttliche Ordnung als Basis weltlicher Ordnung siehe vor allem das erste Kapitel des dritten Buches (327f.). Eine ausführliche Darlegung, inwieweit diese Ordnung im Hinblick auf das Heilige Römische Reich gestört und wiederherzustellen sei, erfolgt dann vor allem in den Kapiteln XXIX–XLI (433–474). Fischer, Reichsreform (wie Anm. 3), 145–148. Ediert und übersetzt bei Weinrich, Quellen (wie Anm. 29), 380–411. Zur strittigen Zuordnung der Quelle siehe ebd., 21.
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wieder vortragen sollte: einer Wiederherstellung des Reiches als Führungsmacht der Christenheit, das gegenwärtig von äußeren Mächten bedroht werde. Angesicht der sakralen Bedeutung des Reiches für die katholische Kirche war dies freilich ein Konzept, das ähnlich durchaus auch bereits Cusanus in „De Concordantia Catholica“ entwarf, auch wenn er sich weitaus stärker zugleich mit der inneren Reformbedürftigkeit des Reiches auseinandersetzte. Die Krise war bei Cusanus, im Traum des Hans von Hermannsgrün und bei Maximilian I. mit der Furcht verbunden, das Reich könne seine alte Gestalt endgültig verlieren. Dies waren deutlich rückwärtsgewandte Konzepte der Reichsreform. Allerdings enthielten sie das Potential der Revolution von oben: Schon Cusanus und erst recht Maximilian I. sahen den von Gott gesetzten, starken Kaiser als den, der die Ordnung gemäß der göttlichen Ordnung setzte. Das bedeutete natürlich implizit, dass der Kaiser eine neue Ordnung im Reich nicht nur setzen konnte, sondern setzen musste, um die defizitäre Situation zu beheben. Genauso begründete bereits Friedrich III. 1486 den zehnjährigen Reichslandfrieden, in dem er „aus Römischer keyserl. machtvollkommenheit“ in besagter Weise alle Rechte hintenan setzte, die der Landfriedensordnung zuwiderliefen.34 Der Ewige Landfriede von 1495, der eng an den Text des Landfriedens von 1486 angelehnt war, benutzte auch in diesen Punkten die nahezu gleichen Formulierungen.35 Die Konzepte einer rückwärtsgewandten, auf eine Re-Etablierung des Reichs in seiner alten Größe gerichteten Reform hatten zugleich eine klar nationale Perspektive: Bereits Cusanus machte die Reformbedürftigkeit des Reiches konkret in Deutschland („Germania“) fest36, und die tatsächliche Reform war der Sache nach im Kern eine deutsche Reform. Im Traum des Hans von Hermannsgrün hatte diese nationale Perspektive allerdings klar erkennbar eine außenpolitische Dimension, in der das Reich von außen nicht nur von den Osmanen, sondern vielmehr vor allem von Frankreich bedroht erschien. Dies war die Perspektive, aus der heraus Maximilian I. denn auch auf den Reichstagen argumentierte und die Reformdiskussion führte. Das Reich identifizierte er mit der deutschen Nation. Mit der Krise und der Furcht, das Reich könne seine Ordnung endgültig verlieren, und somit mit der Reichsreformproblematik verband er die Furcht, das Reich könne den Deutschen entwunden werden, es könne unter fremde – namentlich französische – Herrschaft kommen und die deutsche Nation werde bei einem solchen Wandel des Reiches untergehen.37 Nicht erst in der Praxis, sondern auch in Konzeptionen, die sich auf die universale Größe des Reiches bezogen, war die Reichsreform also eine nationale Reform. Dies gilt umso mehr, als weder Maximilian I. noch die reichsständische Reformpartei dieser Epoche die Kirchenreform in 34 35
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Zeumer (Bearb.), Quellensammlung (wie Anm. 25), 275. Deutsche Reichstagsakten MR 5,1 (wie Anm. 1), 364 und 371. Zur wesentlichen Übereinstimmung der Texte von 1486 und 1495 siehe Fischer, Reichsreform (wie Anm. 3), 222 und 239. Cusanus, De Concordantia (wie Anm. 31), Kapitel XXXII, 438. Nachweise entsprechender Argumentationen Maximilians I. finden sich bei Anuschka Tischer, Der Wandel politischer Kommunikation im Kriegsfall: Formen, Inhalte und Funktionen von Kriegsbegründungen der Kaiser Maximilian I. und Karl V., in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 9, 2005, H. 1, 7–28, hier 17–20. – Der Begriff der deutschen Nation in dieser Epoche ist jetzt neu aufgearbeitet durch die differenzierte Studie von Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005.
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Angriff nahmen, obwohl die Schutzfunktion für die Kirche den wesentlichen Aspekt des Kaisertums und des darauf gründenden Reiches ausmachte. Die Habsburger hatten jedoch für sich das Verhältnis von Kaiser und Reich zur Kirche respektive zum Papsttum bereits durch das Wiener Konkordat von 1448 langfristig definiert.38 Die Konzeption eines nach außen starken Reiches, wie es Maximilian I. in Worms und auf anderen Reichstagen vertrat, war freilich nicht das einzige Reformkonzept. In der tatsächlichen Reform von 1495 setzte sich ja vielmehr ein ganz anderes Prinzip durch, das von ständischen Interessen und ständischer Mitsprache dominiert war und sich inneren Problemen, namentlich dem drängenden Problem des Landfriedens, widmete. Dieses Prinzip ist als theoretische Konstruktion noch weniger greifbar, schon weil es nicht auf eine einheitliche Konzeption zurückgeht. Es gab in der Reichsreform keine einheitliche ständische Reformpolitik oder eine geschlossene Opposition, die dem Kaiser mit einem eigenen Konzept gegenübertrat. Wohl aber verweigerten sich die Reichsstände äußeren Kriegen ohne innere Reformen – genau gesagt die Stände, die den Wormser Reichstag überhaupt besuchten und dort unter Führung des Mainzer Erzkanzlers Berthold von Henneberg aktiv auftraten. Sie argumentierten genau umgekehrt zu Maximilian I., dass innere Rechts- und Friedenswahrung vor äußeren Kriegen kommen müsse. So erzwangen sie überhaupt erst die Wormser Reformverhandlungen.39 Terminologisch spricht nichts dafür, dass die Reichsstände die Reform als innovativ, als eine neue Ordnung des Reichs gesehen hätten. Sie bewegten sich stets im Argumentationsmuster der Rechts- und Friedenswahrung. Die neuen Elemente wie das Reichskammergericht oder der Gemeine Pfennig waren damit gleichsam lediglich Mittel der Wiedererrichtung einer alten Ordnung.40 Selbst als auf dem Augsburger Reichstag von 1500 ein Reichsregiment errichtet wurde, das die Reichsregierung zeitweilig faktisch aus den Händen des Kaisers in die eines ständischen Gremiums legte, war von nicht mehr die Rede als der grundsätzlichen Ordnung zur Handhabung von Friede und Recht, die nach Worms noch weiterer Modifikationen bedürfe.41 Man muss allerdings im Reichsreformprozess eine traditionelle und / oder rückwärts auf eine einstmalige Ordnung bezogene Terminologie nicht zwingend als Rückwärtsgewandtheit der Reform interpretieren. Dies zeigt sich deutlich in der bereits erwähnten Reformatio Sigismundi, die seit 1476 mehrfach gedruckt wurde, so dass legitim zu vermuten ist, dass sie auf die 1495 begonnene Reformpolitik Einfluss ausübte. Formal folgte die Reformatio Sigis38
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Andreas Meyer, Das Wiener Konkordat von 1448 – eine erfolgreiche Reform des Spätmittelalters, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 66, 1986, 108–152. Maximilian I. hatte die Priorität in der Reichstagseinladung klar auf die Osmanenabwehr, den Romzug und damit verbunden den Krieg gegen Karl VIII. in Italien, vor inneren Reformmaßnahmen gesetzt; Deutsche Reichstagsakten MR 5,1 (wie Anm. 1), 127ff. Die ständische Haltung, Frieden und Gerechtigkeit nach innen den Vorrang vor äußeren Kriegen zu geben, ist in den Reichstagsberichten dokumentiert; Deutsche Reichstagsakten MR 5,2 (wie Anm. 1), 1469 und 1525. Wiesflecker, Maximilian I. (wie Anm. 15), Bd. 2, 1975, 221ff., unterstellt, die Reichsstände hätten diese Prioritätensetzung gewählt, weil sie so in den Reformverhandlungen mit schwachem Reichsoberhaupt hätten verhandeln können. Siehe dazu auch grundsätzlich Fischer, Reichsreform (wie Anm. 3). Siehe dazu den Text der Regimentsordnung bei Weinrich, Quellen (wie Anm. 29), 485–489.
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mundi dem Prinzip der Legitimierung durch Geschichte in besonders subtiler Weise. Vorgeblich stellte sie die Reformpolitik Kaiser Sigismunds dar. Tatsächlich war sie erst nach dem Tod Kaiser Sigismunds entstanden. Dem Anschein nach aber wurde so bereits der gesamte Reformprozess in die Dimension der historischen Rechtfertigung gestellt. Auch argumentativ war die Reformatio Sigismundi rückwärtsgewandt, gerichtet auf die Wiederherstellung alter Ordnung, konkret: einer angeblich von Kaiser Konstantin und Papst Silvester begründeten Ordnung. Die Reformatio Sigismundi ist damit, wie Tilman Struve konstatiert, typisch für die historische Argumentation jener Epoche, die ein statisches Weltbild hatte und also den idealen bzw. idealisierten Zustand der Vergangenheit wieder in die Gegenwart holen wollte. Allerdings, so Struve, erweist sich die Traditionsbezogenheit bei genauer Betrachtung nur als „die äußere, zeitbedingte Hülle“.42 Das Mittel zur vermeintlichen Wiederherstellung der alten Ordnung war die in manchen Punkten durchaus radikale Beseitigung des bestehenden Zustands, auch wenn die Reformatio Sigismundi die grundsätzliche kaiserlich-ständische Struktur des Reiches nicht in Frage stellte. Sie plädierte aber für eine strikte Trennung von geistlichen und weltlichen Dingen. Die Kirchenreform war ihr überhaupt die Basis einer Reichsreform. Doch ein Vorschlag wie der in der Reformatio Sigismundi, der Kaiser solle promovierter Jurist sein, zeigt, dass auch Reformkonzeptionen, die vordergründig traditionell und rückwärtsgewandt argumentierten, nicht zwingend auch rückwärtsgewandte Reformmaßnahmen hervorbrachten. Ähnlich differenziert ist auch der tatsächliche Reformprozess auf den Reichstagen seit 1495 zu betrachten. Was die Akteure wollten, waren Frieden und Gerechtigkeit, ein wiederhergestelltes Reich, also eben Ordnung. Diese Grundvorstellung aber konnte man ganz unterschiedlich verstehen: als äußere Ordnung oder als innere Ordnung; als die Rückkehr zu einem alten Reich, das man aber historisch interpretieren konnte als stark durch die Führung starker Kaiser oder aber durch das Zusammenwirken von Kaiser und Ständen. Historisch legitimierbar war die kaiserliche Reichsreform ebenso wie die ständische. Die Frage war, wer sich politisch durchsetzen konnte. Tatsächlich war der Dualismus in der Reichsreform – allerdings auch das Desinteresse bei vielen Reichsmitgliedern – so stark, dass es zu einer Reform im modernen Sinne eines Neubeginns nicht kam. Eine solche Reform wäre nur im Konsens oder eben bei entsprechender Durchsetzungskraft eines Reformkonzepts möglich gewesen. So schuf die Reichsreform tatsächlich kein neues Reich in dem Sinne, dass ein Staatsbildungsprozess auf Reichsebene konsequent auf den Weg gebracht worden wäre, sondern hatte, wie Heinz Angermeier es auf den Punkt brachte, „konservierenden Charakter“.43 Damit ist freilich nichts über die politische Lebensfähigkeit des alten Reiches gesagt, das ja rund weitere drei Jahrhunderte existierte. Es funktionierte zwar anders als die entstehenden modernen Staaten, aber es funktionierte, denn es war ein neues Modell des alten Reiches. Dass die Reichsreform keine konsequente Modernisierung des Reiches bewirkte, sagt schließlich auch nichts über die Innovationsfähigkeit der Akteure der Reichsreform. Der Begriff der Reform mag im 15. Jahrhundert rückwärtsgewandt gewesen sein, auf ein histo42
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Tilman Struve, Reform oder Revolution? Das Ringen um eine Neuordnung in Reich und Kirche im Lichte der „Reformatio Sigismundi“ und ihrer Überlieferung, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 126, 1978, 73–129, hier 120. Angermeier, Reichsreform (wie Anm. 1), 14.
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risches Ideal gerichtet. Das sagt aber nichts darüber, wie dieses historische Ideal in der konkreten Politik umgesetzt wurde.44 Neue Ideen sind in den argumentativen alten Idealen überall erkennbar. Der lähmende Faktor war nicht die Rückwärtsgewandtheit der Reform, sondern vielmehr das Gegeneinander verschiedener Konzepte, das nicht konstruktiv gelöst werden konnte. Die Akteure der Reform konstruierten dabei aus der Geschichte ein Modell, und genau das wurde die Reichsreform dann in der Retrospektive ihrerseits: ein Modell historischen Erinnerns und Argumentierens. Ein tatsächlich konkretes Handlungsmodell ihrer Zeit aber war die Reichsreform nur sehr bedingt, denn sie blieb nicht nur einzig auf das Reich bezogen, sondern auch der fortdauernde Prozess der Reform dieses Reiches blieb einer, in dem die Handlungsoptionen in jeder konkreten Situation neu verhandelt werden mussten.
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Vgl. dazu auch das Urteil Fischers, Reichsreform (wie Anm. 3), 67: „Die Grundidee der Reform, zu einer als vorbildlich angesehenen historischen Ordnung zurückzukehren, schließt keineswegs aus, daß bei der Umsetzung beziehungsweise Verwirklichung von Reformideen auch Neues entstanden ist, wie die Ergebnisse des ‚Reformreichstages‘ von 1495 zeigen.“
Marburg 1527 – ein neues Universitätsmodell? Die erste reformatorische Hochschulgründung in ihrem historischen Kontext Wilhelm Ernst Winterhager
Ein neues Universitätsmodell? Die historische Themenfrage, die uns im Folgenden beschäftigen soll, klingt erstaunlich aktuell in unseren Ohren, schallt uns entgegen wie ein Echo unserer eigenen Lebenswelt. 1 Ein neues Modell europäischer Hochschulentwicklung? Ist es nicht diese Grundfrage, vor die wir uns auch heute gestellt sehen, in den Debatten um Verantwortung und Aufgaben der modernen Universität, an denen wir selbst, als Wissenschaftler oder interessierte Zeitgenossen, teilhaben? Steht nicht auch heute die Universität an einem Scheideweg ihrer Geschichte, ganz ähnlich wie vor fünfhundert Jahren? Gewiss, die banale Realität unserer Alltagserfahrung – zwischen „Bologneser“ Studienmisere einerseits und hochtrabender Exzellenzrhetorik andererseits – mag uns jene langfristige Perspektive leicht verdunkeln: Und doch geht es auch hic et nunc, im Wandel der Universität vor unseren Augen, um einen Prozess von durchaus gewichtiger, historischer Tragweite. Die Diskussion, die wir in unseren Tagen erleben, ist dabei in ihrem Ergebnis noch offen und somit auch in dieser Hinsicht vergleichbar mit der widerspruchsvollen, keineswegs eindimensionalen Entwicklung des frühen 16. Jahrhunderts. Ob am Ende aus all dem hektisch-prätentiösen Reformeifer, der gegenwärtig unsere Hochschullandschaft prägt, ein echter, umstürzender Neuentwurf der Universität für das dritte Jahrtausend hervorgehen wird, bleibt abzuwarten. Gerade in dieser Beziehung – im Blick auf den spannungsreichen Konflikt zwischen radikalem Reformanspruch zum einen und akademisch-universitärer Prinzipienwahrung auf der anderen Seite – werden die Parallelen zur historischen Situation um 1520/30 bald deutlich werden. Generell hat sich bislang die europäische Universität in den acht Jahrhunderten ihres Bestehens als eine Institution von solcher Beharrungskraft, solcher Kontinuität in ihren formalen und inhaltlichen Grundstrukturen erwiesen und bewährt, dass man auch an der Nachhaltigkeit manch heutiger Neuerungen zweifeln mag. Schon einmal, in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, haben die Älteren unter uns erlebt, wie das Ende der alten Universität von Freund und Feind beschworen, leidenschaftlich ausgerufen oder beklagt wurde. Und doch ist tatsächlich – so mein Eindruck – die deutsche Universität durch jene sogenannte Bildungsrevolution der 1970er Jahre in ihren traditionellen Grundfesten und Idealen zwar erschüttert, aber nicht zerstört worden. Der intellektuelle Anspruch, den eine Universität an sich und ihre Studierenden zu stellen hat, wurde auch in der durch Massenbetrieb umgeformten „Reformuniversität“ des ausgehenden 20. Jahrhunderts im Kern doch gewahrt. Erst mit der im neuen Millennium, im letzten Jahrzehnt, erfolgten Wendung zur utilitaris1
Der Duktus des mündlichen, im Rahmen der Tagung „Neue Modelle im Alten Europa (1500–1750)“ an ein breiteres Publikum gerichteten öffentlichen Vortrages – mit aktuell-vergleichenden Bezügen auf die universitären Umbrüche der Gegenwart – ist in der vorliegenden Druckfassung bewusst beibehalten worden.
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tischen Funktionalisierung der Universität nach politisch-ökonomischen Systemvorgaben scheint die Gefahr gegeben, dass jene erschütterten Grundfesten in der Tat in sich zusammenbrechen. Ob die altehrwürdige universitas magistrorum et scholarium auch diesem zweiten, massiven Stoß – den wir unter dem euphemistischen Namen „Bologna-Prozess“ erleben und erleiden – wird standhalten können, ob die Universität auch diesmal sich gegen äußeren Druck, gegen die politisch gewollte Aushöhlung ihrer Ideale als eine Stätte kritischen Geistes, unabhängiger Forschung und umfassend-zweckfreier Bildung wird behaupten können, mögen die Nachwachsenden in dreißig, vierzig Jahren beurteilen. „Wissen und Widerstand“: so hat der verstorbene, große Mittelalterhistoriker Hartmut Boockmann seine postum, 1999, erschienene „Geschichte der deutschen Universität“ überschrieben: „Wissen und Widerstand“ als zeitlos gültige Leitmaxime akademischer Bildung, zugleich aber vom Autor ohne Zweifel auch gemeint als Mahnung und Motto für künftige Generationen der res publica eruditorum.2 Gerade Boockmann als Mediävist betont im Übrigen die Kontinuität der europäischen und deutschen Hochschulentwicklung vom 12. Jahrhundert bis in die Gegenwart3, wobei die Kontinuitätslinie insbesondere auch – im breiten Konsens der universitätsgeschichtlichen Forschung – pointiert wird für die große Epochenwende zwischen Mittelalter und Neuzeit, für die Jahre um und nach 1500. Die Turbulenzen und Neuansätze im Hochschulwesen des frühen 16. Jahrhunderts, um die es in unserem Beitrag speziell gehen soll, treten aus solcher, übergreifender Perspektive stark zurück.4 Die grundlegende Krise, die das deutsche Hochschulwesen der 1520er Jahre erfasste, wird in der Gesamtschau, im langfristigen Kontext meist nur am Rande, als Episode behandelt, weil aus
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Hartmut Boockmann, Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität. Berlin 1999. Der Wandel zur „Massen-“, „Gruppen-“ und „Gremienuniversität“ seit 1967/68 wird von Boockmann freilich als gravierender Einschnitt höchst kritisch bewertet. Sein Fazit dazu („Soweit die Universität heute funktioniert, geschieht dies nicht dank, sondern trotz den bestehenden Normen“) ließe sich nahtlos auf die Situation anno 2010 gegenüber den politisch oktroyierten Normen des Bologna-Prozesses übertragen. Boockmann, Wissen und Widerstand (wie Anm. 2), 258–267, Zitat 266. Erst in jüngerer Zeit wird dieser Thematik unter dem Stichwort der „Bildungskrise“ der 1520er Jahre stärkere Aufmerksamkeit zuteil. Die ältere protestantisch geprägte Historiographie – und nicht nur diese – hat demgegenüber jene frühreformatorisch-radikalen Neuansätze in der Regel als kurzzeitige, destruktive Verirrungen, ja als vermeintlichen Ausfluss genereller „Bildungsfeindschaft“ abgetan und den Akzent statt dessen allein auf den späteren Siegeszug des von Melanchthon geformten Bildungskonzeptes der maßvollen Mischung humanistischer, reformatorischer und traditioneller Elemente gelegt. Die Deutungshoheit des späteren Luther und des späteren Melanchthon übernehmend, wird damit freilich ein verzerrtes Bild der Reformation, ihrer geistigen Ausgangspunkte und Anliegen – hier speziell im Bildungsbereich –, gezeichnet. Zur reformatorischen Bildungskrise siehe eingehend: Wilhelm Ernst Winterhager, Wittenberg und Marburg als Universitäten der Reformation. Humanistischer Aufbruch, reformatorische Bildungskrise und Hochschulreformdebatte im frühen 16. Jahrhundert, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für SachsenAnhalt 22, 1999/2000, 189–238; Matthias Asche, Frequenzeinbrüche und Reformen – Die deutschen Universitäten in den 1520er bis 1560er Jahren zwischen Reformation und humanistischem Neuanfang, in: Walther Ludwig (Hrsg.), Die Musen im Reformationszeitalter. (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Bd. 1.) Leipzig 2001, 53–96; Richard Wetzel, Melanchthons Antwort auf Bildungsfeinde, in: Ludwig, Musen (wie vorstehend), 167–187.
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ihr ein dauerhafter, umfassend-tiefgreifender Neuentwurf der Universität nicht hervorging bzw. solch radikale Konzepte sich als realiter nicht durchsetzbar erwiesen. Demgegenüber wird – im Kern durchaus zu Recht – herausgestellt, dass letztlich andere Kräfte, Traditionswahrung und behutsame Anpassung, im universitären Erneuerungsprozess der Reformationsepoche die Oberhand behielten.5 Vor dem Hintergrund dieser prinzipiell zu konstatierenden Stetigkeit im Grundcharakter der Universität zwischen Mittelalter und Neuzeit müssen naturgemäß auch die Erwartungen an unsere folgenden Ausführungen von vornherein gedämpft werden. Von einem grundstürzenden Umbruch, einer spektakulären Epochenwende in der europäischen Hochschulgeschichte werden wir im Blick auf Marburg als der ersten reformatorischen Universitäts-Neugründung nicht zu berichten haben. Sofern man für die Marburger Hochschulgründung von einem „neuen Modell“ sprechen kann, wird dies a priori nur eingeschränkt, für bestimmte Bereiche gelten können – wennschon es sehr wohl hierbei um Grundsatzfragen ging, um eine Neudefinition der die Universität fundierenden und prägenden Normen. Dabei darf das Marburger Exempel, wenn wir unser Thema sinnvoll behandeln wollen, ohnehin nicht isoliert betrachtet werden. Ausgehend von den Leitfragen dieser Tagung, wieweit die Frühneuzeit bei aller Traditionsbindung zu durchgreifenden Innovationen fähig war, wie solche Neukonzeptionen legitimiert, wie und ob sie durchsetzbar waren, – ausgehend von diesen Leitfragen, müssen wir unseren Gegenstand in den breiteren Zusammenhang jener frühreformatorischen Krisenjahre und Reformdebatten einordnen. Weit über die Gründungsgeschichte der Alma mater Marburgensis hinaus ist zu fragen, was es generell damals an programmatischen Neuansätzen im Hochschulwesen gab, welche Dynamik die reformatorische Bewegung hier entfaltete, welches Potential an alternativen Lösungen vorhanden war für die in der Krise durchaus offene Neugestaltung der Universität. Denn ohne Zweifel gab es, wie schon angedeutet, solche neuen, radikalen Denkmodelle für den Umbau des tradierten Wissenschaftsbetriebes, für veränderte Formen der Elitenbildung, für eine grundsätzliche normative Neubegründung der akademischen Welt einschließlich ihrer sozio-kulturellen Dimension. Unabhängig von der Frage des Erfolges oder Scheiterns sind diese Neuentwürfe für uns aufschlussreich, weil sie das Arsenal der Innovationsmöglichkeiten vor Augen führen, die im frühen 16. Jahrhundert zumindest erwogen und diskutiert worden sind, und damit zugleich die Legitimationsmuster und Durchsetzungsstrategien erkennen lassen, die beim Propagieren neuer Modelle entwickelt wurden. Dabei kann uns gerade auch das Scheitern solcher Neuansätze die Grenzen der Innovationsspielräume zu Beginn der Neuzeit deutlich machen. Dementsprechend sollen im ersten Teil unseres Beitrages ganz allgemein die Neuansätze im Hochschulwesen der Reformationsepoche näher umrissen werden, bevor wir uns im zweiten Teil der Frage zuwenden, wieweit diese Innovationsimpulse bei der Marburger Gründung zum Zuge kamen, wieweit sie hier adaptiert oder bewusst verworfen wurden, – wo also letztlich die hessische Universitätsgründung im Spannungsfeld zwischen Neubeginn 5
Ludwig Petry, Die Reformation als Epoche der deutschen Universitätsgeschichte. Eine Zwischenbilanz, in: Erwin Iserloh/Peter Manns (Hrsg.), Festgabe Joseph Lortz. 2 Bde. Baden-Baden 1958, Bd. 2, 317–353; Gustav Adolf Benrath, Die Universität der Reformationszeit, in: Archiv für Reformationsgeschichte 57, 1966, 32–51; Notker Hammerstein, Universitäten und Reformation, in: Historische Zeitschrift 258, 1994, 339–357.
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und Kontinuität einzuordnen ist. Am Schluss sollen dann im Fazit noch einmal übergreifende Bezüge hergestellt werden.
Kritik des tradierten Hochschulwesens im Zeichen des Humanismus und der beginnenden Reformation Zuerst ist festzuhalten, dass sich auch im beginnenden 16. Jahrhundert die Veränderung der Hochschullandschaft – ähnlich wie in unseren Tagen – in zwei aufeinanderfolgenden Schüben vollzog. Natürlich waren es damals nicht regierungsamtliche, wissenschaftsferne Bürokratenerlasse, mit denen die Universität von außen zur Umstrukturierung genötigt wurde, – es waren geistige Bewegungen und Schubkräfte von ganz anderem intellektuellem Kaliber (Humanismus und Reformation), durch die das studium generale weitgehend von innen her, aus der Entwicklung der Wissenschaften selbst heraus, in neue Bahnen gelenkt wurde. Um 1500 war es zunächst der von Italien über die Alpen vordringende Humanismus, der die universitäre Bildung auch in Mitteleuropa – anfangs nur am Rande, bald aber kraftvoll und nachhaltig – veränderte. Von einem bloßen Ergänzungsangebot neben dem traditionell scholastischen Curriculum entwickelten sich die studia humanitatis binnen zweier Jahrzehnte zu einem vollgültigen Konkurrenzprogramm, das den herrschenden Lehrkanon zu revidieren und weithin zu ersetzen beanspruchte.6 In den Quellen lassen sich manch drastische Beispiele dafür finden, wie solcher Verdrängungswettbewerb im universitären Alltag aussehen konnte, wenn etwa die Lehrankündigungen von Dozenten der einen Richtung durch Parteigänger der anderen vom Schwarzen Brett der Hochschule abgerissen wurden, um dem Zulauf der Gegenseite Abbruch zu tun.7 Auch aus Luthers und seiner Kollegen Briefwechsel (um 1516/17) wissen wir, dass es bei solchen Reformkämpfen zu einem regelrechten Wettstreit um Hörer- und Schülerzahlen kommen konnte.8 Dabei war solch offener akademischer 6
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Peter Baumgart, Humanistische Bildungsreform an deutschen Universitäten des 16. Jahrhunderts, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts. (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung, Bd. 12.) Weinheim 1984, 171–197; Notker Hammerstein, Humanismus und Universitäten, in: August Buck (Hrsg.), Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 1.) Hamburg 1981, 23–39. Ludwig Bertalot, Humanistische Vorlesungsankündigungen in Deutschland im 15. Jahrhundert, in: ders., Studien zum italienischen und deutschen Humanismus, hrsg. von Paul Oskar Kristeller. (Storia e Letteratura. Raccolta di Studi e Testi, Bd. 129–130.) 2 Bde. Rom 1975, Bd. 1, 219–249, hier 223, 227; vgl. Rudolf Kettemann, Peter Luder, in: Paul Gerhard Schmidt (Hrsg.), Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. 2. Aufl. Stuttgart 2000, 13–34, hier 18f., 25f. Für die Hinweise hierauf danke ich Frau Monika Rener, der Kollegin in dem für die mittelalterlich-frühneuzeitliche Geschichte so wichtigen Nachbarfach Mittel- und Neulatein, das unverständlicherweise bis 2009 in Marburg und damit in ganz Hessen „abgewickelt“ wurde: auch ein Beitrag zur Universitätsgeschichte im Zeitalter von Utilitarismus und Ökonomismus! Kenneth Hagen, An Addition to the Letters of John Lang. Introduction and Translation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 60, 1969, 27–32, hier 30f.; Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe = fortan zitiert als WA), 120 Bde. Weimar 1883–2009, hier Briefwechsel. Bd. 1., 1930, 99 (Nr. 41).
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Meinungskampf als Mittel zur Durchsetzung innovatorischer Konzepte auch der mittelalterlichen Universität ja nicht fremd – man denke an den sogenannten „Wegestreit“ zwischen via antiqua und via moderna.9 Gerade die jeweiligen Reform- und Erneuerungsparteien suchten und fanden dabei nur allzu oft die Unterstützung durch geistliche und weltliche Obrigkeiten. Als Beispiel sei verwiesen auf die bekannte Demarche von fünf Kurfürsten an den Rat der Stadt Köln 1425 mit dem Appell, der Rat möge die Kölner Universität veranlassen, sich von der Lehre des Realismus, der via antiqua, abzukehren und zum Nominalismus, der via moderna, überzugehen – ein offensichtlich von Heidelberger und anderen „Modernisten“ initiierter Vorstoß.10 Im Übrigen finden wir solche Inanspruchnahme der Obrigkeiten durch die Verfechter programmatischer und institutioneller Neuerungen ganz ähnlich etwa auch bei der das 15. und beginnende 16. Jahrhundert durchziehenden Reform der Bettelorden, die ohne landesherrliche Förderung oft in fruchtlosen Grabenkämpfen steckengeblieben wäre.11 Auch wenn wir mit diesem Seitenblick den akademischen Sektor verlassen haben, liegen gerade hier doch die Parallelen zum Vordringen des Humanismus an den Universitäten auf der Hand: Immer wieder lässt sich, ob in diesem oder jenem Bereich, das gleiche Grundmuster feststellen, dass die Reformer und Neuerer einerseits mit rabiaten Methoden der Unterwanderung, Polemik und Verdrängung, gleichsam „von unten“, ihre Neukonzepte gegen konservative Strukturen durchzusetzen suchten, sie zugleich aber andererseits – in einer Art Doppelstrategie – zielstrebig und systematisch auf Druck „von oben“, auf Unterstützung der zuständigen Landesherren für ihre Erneuerungsziele rekurrierten. Ebenso wie die Ordensreformer konnten auch die Humanisten sich dabei auf eine wachsende Zahl an Sympathisanten und Gesinnungsgenossen an den Fürstenhöfen verlassen.12 Die Randbemerkung sei hier erlaubt, ob nicht angesichts solch auffälliger Kontinuitäten der Konfliktformen und Durchsetzungsstrategien bei der Entwicklung „neuer Modelle“ zumindest das 15. Jahrhundert in unseren Untersuchungshorizont noch stärker einbezogen werden müsste – jenes bewegte Säkulum mit seinen vielfältigen Neuansätzen, wie etwa dem Hussitentum, dem geradezu neuerungssüchtigen Basler Konzil oder auch der politischen Reichsreform13. Zurück aber zur humanistischen Studienreform: Neben Tübingen, Heidelberg und Erfurt sind vor allem Ingolstadt und Wittenberg als Vorreiter zu nennen, als „Reformhochschulen“, die sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts der neuen Strömung öffneten. Doch erst seit etwa 1515 kam es zu einer wirklichen Umgestaltung der Artistenfakultäten im Sinne des humanistischen Programms.14 Dabei ging es im legitimatorischen Rückgriff auf die Antike um einen Methoden- und Paradigmenwechsel, der – gemäß der Parole ad fontes – seinen Ausdruck 9
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Heiko A. Oberman, Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubenskampf. (Spätscholastik und Reformation, Bd. 2.) Tübingen 1989. Boockmann, Wissen und Widerstand (wie Anm. 2), 25. Manfred Schulze, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation. (Spätmittelalter und Reformation, N.R. Bd. 2.) Tübingen 1991. August Buck (Hrsg.), Höfischer Humanismus. (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung, Bd. 16.) Weinheim 1989. Vgl. zur Reichsreform den Beitrag von Anuschka Tischer in diesem Band. Wilhelm Ernst Winterhager, Wittenberg. Reformation und Wissenschaft, in: Alexander Demandt (Hrsg.), Stätten des Geistes. Große Universitäten Europas von der Antike bis zur Gegenwart. Köln 1999, 165–185, hier 169–173.
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fand in der Neuorientierung an klassischen und urchristlichen Normen, im kritischen Umgang mit überlieferten Texten und nicht zuletzt in der besonderen Zuwendung zu den drei antiken, „heiligen“ Sprachen (Hebräisch, Griechisch, Latein). Im revidierten Kanon der Studienfächer erhielt die Sprachbildung mit Grammatik und Rhetorik eine überragende Stellung; die überkommenen scholastischen disputationes sollten weitgehend abgeschafft werden zugunsten oratorischer declamationes zur Einübung sprachlicher Eloquenz. Die in den Disputationen antrainierte dialektische Logik galt den Humanisten als spitzfindig-wirklichkeitsfremde Haarspalterei, der man ganz andere Ideale entgegenstellte: Einfachheit der Erkenntnis, überzeugende Klarheit des Ausdrucks und generell eine Ausrichtung der Wissenschaften auf das Gemeinwohl, auf den Nutzen für die Gemeinschaft in moralischer und materieller Hinsicht. Man mag hier wieder Parallelen zur Gegenwart entdecken: Den Scholastikern als Vertretern der bisherigen Studienordnung wurde vorgeworfen, dass sie Wissenschaft als Selbstzweck verstünden, als sich selbst genügende Erkenntnis, wohingegen die Humanisten Berufsorientierung und Gesellschaftsrelevanz als Kriterien für ein sinnvolles Studium herausstellten – mit der Folge einer stark pädagogisch-sozialutilitaristischen Umprägung des Lehrbetriebs. Allerdings sei bereits hier angemerkt, dass die humanistischen Studienreformer, allen voran Philipp Melanchthon in Wittenberg, die übertriebene Pädagogisierung des Studiums und die Missachtung streng logischer Erkenntnisschulung schon seit Mitte der 1520er Jahre (also um die Zeit der Marburger Hochschulgründung) als Gefahr, als Defizit erkannten und wieder gegensteuerten. Die disputationes und manch anfangs verpönte scholastisch-aristotelische Lehrinhalte kehrten damals in das Studienprogramm zurück.15 Insgesamt hat der Humanismus ohne Zweifel zur Etablierung neuer kognitiver wie auch habitueller Normen im Wissenschaftsbetrieb geführt, doch die Universität als Institution war hiervon kaum betroffen. Was die Rektoratsverfassung, den Korporationscharakter der Hochschule oder die Aufteilung in vier Fakultäten anbelangt, gab es keinerlei Veränderungen. Man könnte sagen, dass die Universität durch die humanistische Reform der Studieninhalte den Bedürfnissen eines neuen Zeitgeistes angepasst, aber nicht eigentlich umgebaut wurde. Das Ausmaß an Kontinuität wird noch deutlicher, wenn man den klassizistischen Grundkonsens bedenkt, der zwischen Scholastik und Humanismus bestand und wie von selbst als restauratives Element wirkte: Die humanistische Forderung nach Beherrschung gerade des klassisch-ciceronischen Latein als Voraussetzung jeden wissenschaftlichen Gesprächs trieb den elitär-exklusiven Anspruch der Universität sogar noch in die Höhe. Die Welt der Gelehrsamkeit blieb ein in sich geschlossenes, selbstreferentielles System, bei aller verbalen Gemeinwohlorientierung konnte von einer sozialen Öffnung der Universität für neue Schichten kaum die Rede sein. Erst die Reformation sollte mit ihrer ganz anderen Dynamik Ansätze für ein grundlegend neues Universitätsmodell hervorbringen. „Die universiteten dorfften auch wol eyner gutten starken reformation. Ich muss es sagenn, es vordriess, wen es wil.“ Mit diesen Worten beginnt Martin Luther in seiner Programmschrift An den christlichen Adel deutscher Nation vom Sommer 1520 seine Philippika über den Zustand der Hochschulen. In vielem stellen seine Ausführungen – mit ihren 15
Arno Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 6 Bde. München 1987–2005, Bd. 1, 1996, 197–374, hier 226–252; ferner Belege wie oben Anm. 6.
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scharfen Ausfällen gegen die Stellung des „vordampten“ Aristoteles im scholastischen Lehrsystem – nur eine gesteigerte Variante humanistischer Polemik dar; in anderem aber bringt Luthers Kritik zugleich eine neue Dimension fundamentaler Infragestellung der Hohen Schulen in ihrem ganzen Wesen und Sinn. In Luthers Urteil sind die Universitäten als Schöpfungen des Papsttums „nur gericht auff sund und yrthum zu mehrenn“, sie sind nichts anderes als Einfallstore des Teufels, „grosse pfortten der hellen, szo sie nit emsziglich die heylig schrifft uben und treyben ynsz junge volck“.16 In der Adventspostille 1522 hat der Reformator sich noch pauschaler zur Verdammung der Universitäten hinreißen lassen: Sie seien wert, hieß es da, „das man sie alle zu pulver mecht, nichts hellischer und teuflicher ist auff erden komen von anbegynn der wellt, wirt auch nicht komen“.17 Von Luther mitgerissen, hat auch Melanchthon zeitweise ähnlich krasse Urteile gefällt: Nie sei etwas Verderblicheres erfunden worden – meinte Melanchthon 1521 – als die Hohen Schulen, der Teufel selbst sei ihr Urheber; schon Wyclif (ein Rückgriff also aufs 14. Jahrhundert) habe gesehen, dass die Universitäten des Teufels Schulen seien.18 Wenn derart drastisch die Welt der Wissenschaft und Universitäten als Teufelswerk verworfen wurde, musste nicht solches Reden wie von selbst radikale Forderungen nach ihrem völligen Umbau herausfordern? Und in der Tat schrieb Luther selbst noch 1524 über die Hohen Schulen in diesem Sinne bekräftigend: „Denn es ist mein ernste meynung, bitt und begirde, das diese esel stelle und teuffels schulen entweder ynn abgrund versünken oder zu Christlichen schulen verwandelt werden.“19
Ansätze zur radikalen Neugestaltung der Universitäten im reformatorischen Geist Neue, „christliche“ Hochschulen also – unter diesen Oberbegriff lassen sich die Gegenentwürfe fassen, welche die Reformation als Alternative zum bestehenden Universitätswesen entwickelt hat. Als Leitmaßstab diente dabei unbestritten die Heilige Schrift, die Orientierung aller Wissenschaft und akademischen Lebensformen am wiederentdeckten Evangelium. Was dies im Einzelnen bedeutete, welche konkreten Folgerungen daraus für die Neukonstruktion der Universitäten zu ziehen waren, blieb freilich offen. So gab es denn auch kein einheitliches Neukonzept und Gegenmodell, der reformatorische Erneuerungsansatz konnte vielmehr im Blick auf die Hochschulen (wie in anderen Bereichen ja auch) ganz unterschiedliche Ausprägungen erhalten. Wie mir scheint, sind dabei vor allem zwei Modelle, zwei Grundrichtungen zu unterscheiden. Der erste dieser Ansätze soll hier bezeichnet werden als urchristlich-egalitärer (wenn man so will: antiautoritärer) Impuls zur Neuordnung der Universitäten. Auch dafür sind entscheidende Stichworte schon 1520 von Luther in seiner Adelsschrift gegeben worden, wo
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Luther, WA (wie Anm. 8), Hauptreihe: Schriften, Bd. 6, 1888, 457–462, Zitate 457f., 462. Luther, WA (wie Anm. 8), Hauptreihe: Schriften, Bd. 10/1/2, 1925, 74. Philipp Melanchthon, Opera quae supersunt Omnia, hrsg. von Carl Gottlieb Brettschneider u. a. (Corpus Reformatorum, Bd. 1–28.) 28 Bde. Braunschweig 1834–1860, Bd. 1, 1834, 342f. (Februar 1521). Luther, WA (wie Anm. 8), Hauptreihe: Schriften, Bd. 15, 1899, 31 (aus der Schrift An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen).
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er die Unabhängigkeit aller wahren, geistlichen Erkenntnis von formalen Bildungskriterien betonte, gegen gelehrten Dünkel und Selbstüberhebung polemisierte und seiner Geringschätzung der „hochmutigen, auffgeblasznen“ akademischen Titel freien Lauf ließ: „Nu fragt der heylig geyst nit nach rot, braun parrethen, odder was des prangen ist, auch nit, ob einer jung odder alt, ley odder pfaff, munch oder weltlich ... sey, ja ehr redt vortzeitten durch ein eselyn widder den propheten ...“.20 Zumindest für die Theologie als Leitdisziplin galt hiernach, dass wahre Gelehrsamkeit nicht auf Wissensaneignung und akademischer Autorität beruhte, sondern letztlich allein auf der Inspiration durch den Heiligen Geist – eine Maxime, die in ihrer Zuspitzung und Ausweitung leicht zur Infragestellung jeder rationalen Wissenschaft führen konnte. Von Luthers radikaleren Mitstreitern wurden diese Anregungen kämpferisch aufgegriffen und weiterentwickelt. Andreas Karlstadt, Luthers Kollege in Wittenberg, und andere forderten bald die generelle Abschaffung akademischer Grade und Titel. Man berief sich dabei auf jene neutestamentlichen Aussagen, wonach sich niemand Meister oder Magister nennen und über andere erhöhen solle (vor allem Matthäus 23, 8–10). Nur Hochmut, Geltungs- und Ruhmsucht, schrieb Karlstadt, würden die Menschen dazu treiben, nach Magister- und Doktorehren, nach Ansehen und Vorrang über andere zu trachten, während der christliche Glaube doch im Gegenteil den Weg zu Demut und Selbstbescheidung weise, zur Abtötung des eigensüchtigen Ehrgeizes. Im Februar 1523 kam es über diese Frage zum offenen Konflikt, als Karlstadt in seiner Eigenschaft als Dekan der Theologischen Fakultät – zum Unwillen Luthers und Melanchthons – den völligen Verzicht auf akademische Graduierungen durchsetzen konnte.21 Die Folge war, dass etwa zehn Jahre lang, bis 1533, an der Wittenberger Theologenfakultät keine Hochschulgrade mehr erworben und verliehen wurden und auch an der Artistenfakultät die Promotionen weitgehend zum Erliegen kamen. Die Radikalreformer konnten in diesem Punkte anknüpfen an die scharfe Kritik, ja die Verachtung, die auch ein Großteil der Humanisten von jeher den scholastischen tituli entgegenbrachte. In ihrem Streben nach alternativen, freieren Formen der Gelehrsamkeit schien den Humanisten der Wert der alten Bakkalar-, Magister- und Doktorexamina grundsätzlich suspekt.22 Im stürmischen Aufbruch der frühen 1520er Jahre war ohnehin dann die Beachtung von Studienordnungen kaum noch durchzusetzen. Statt das vorgeschriebene artistische Grundstudium voranzustellen, drängten viele Studenten sogleich an die höhere, theologische Fakultät; man studierte um der Sache, nicht um Examina oder förmlicher Titel willen. Gewiss war dabei viel Wildwuchs und Willkür im Spiel, doch zumindest bei Karlstadt ging die Intention tiefer und zielte grundsätzlich auf die Frage, wie eine akademische Gemeinschaft in wahrhaft christlicher Gestalt auszusehen habe. Es war der konsequente Rekurs auf die neutestamentlichen Ideale der Demut und Brüderlichkeit, der hier Geltung beanspruchte – und hinter der Ablehnung akademischer Grade und Titel stand zumindest ansatzweise ein Programm, das im Sinne jener biblischen Ideale das Aufbrechen hierarchisch-
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Luther, WA (wie Anm. 8), Hauptreihe: Schriften, Bd. 6, 1888, 460. Zu dem Bibelbezug auf den Propheten Bileam und die Eselin siehe 4. Mose (Numeri) 22. Zu Karlstadts Rolle an der Wittenberger Universität und zu seinen programmatischen Ideen mit Einzelbelegen: Winterhager, Universitäten der Reformation (wie Anm. 4), 201f., 207–210, 221f. Zur zeitgenössischen Kritik der akademischen Titel und Grade: Seifert, Höheres Schulwesen (wie Anm. 15), 230, 246f., 269–271, 285.
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erstarrter Strukturen und eine egalitäre, herrschaftsfreie Neuordnung des universitären Lebens vor Augen hatte. Zu einer weiteren Ausformung dieses egalitären Ansatzes ist es indes nicht gekommen, weil er sich durch seine Radikalisierung in den Jahren nach 1523 teils selbst ad absurdum führte, teils von den herrschenden Kräften als Gefährdung der bestehenden Ordnung verfemt wurde. Bei Karlstadt schlug die Wissenschaftskritik schon bald um in eine generell anti-intellektuelle, bildungsskeptische Haltung, als er den Professorentalar ablegte, um in Bauerntracht als „Bruder Andres“ sich einer volksnahen, laienorientierten Gemeindereformation zu widmen. Im Spätjahr 1524 wurde Karlstadt als Unruhestifter aus Kursachsen verbannt. Massiver noch trug zur gleichen Zeit Thomas Müntzer den Angriff auf die Hohen Schulen vor, indem er die Universitäten als Herrschaftsinstrument der Mächtigen anprangerte und die „nach ehren und guttern“ strebenden Gelehrten als Handlanger zur Unterdrückung, Verführung und Ausbeutung des gemeinen Volkes. „Derhalben“, rief Müntzer seinen einfachen, ungebildeten Anhängern 1524 zu, „mustu, gemeyner man, selber gelert werden, auff das du nicht lenger verfuret werdest“.23 Die Überwindung der Lese- und Schreibunfähigkeit breiter Schichten, verbunden mit ihrer volkssprachlichen Belehrung im Geist der Bibel, sah Müntzer als elementare Voraussetzung für die Befreiung des einfachen Volkes aus geistiger Bevormundung und politisch-sozialer Knechtschaft. In den Programmen des großen Bauernaufstandes 1525 schlug sich der Hass auf die etablierte Gelehrtenwelt ähnlich schroff nieder; im Reichsreformentwurf der fränkischen Bauernschaft vom Mai 1525 wurde insbesondere eine grundlegende Neuausrichtung der Rechtswissenschaft an den Universitäten des Reiches gefordert.24 In der Tiroler Landesordnung des Bauernführers Michael Gaismair schließlich wird 1526 der Grundsatz, die Wissenschaft vom Werkzeug der Mächtigen zur Dienerin des „christlichen Volkes“ zu machen, noch deutlicher: An der zu gründenden Tiroler Landeshochschule soll hiernach allein das Wort Gottes gelehrt werden, um mit Hilfe der von der Hochschule in die Regierung entsandten Gelehrten die Herrschaft der „Gerechtigkeit Gottes“ zu sichern – womit bei Gaismair eine egalitäre Ordnung, eine christlich-soziale
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Thomas Müntzer, Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Günther Franz. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 33.) Gütersloh 1968, 270, 275, vgl. 161–165. Vgl. dazu: Dieter Fauth, Thomas Müntzer in bildungsgeschichtlicher Sicht. (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 43.) Köln 1993, 61f., 72, 78, 218; Jakob Gottfried Federer, Didaktik der Befreiung. Eine Studie am Beispiel Thomas Müntzers. (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik, Bd. 45.) Bonn 1976, 68f., 114. Günther Franz (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 2.) Darmstadt 1963, 374–381, hier 376. Generell zur populären Gelehrtenkritik im 16. Jahrhundert der materialreiche, inhaltlich glänzende Aufsatz von Carlos Gilly, Das Sprichwort „Die Gelehrten die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Antonio Rotondò (Hrsg.), Forme e destinazione del messaggio religioso. Aspetti della propaganda religiosa nel Cinquecento. (Studi e testi per la storia religiosa del Cinquecento, Bd. 2.) Florenz 1991, 229–375. Vgl. auch Heiko A. Oberman, „Die Gelehrten die Verkehrten“: Popular Response to Learned Culture in the Renaissance and Reformation, in: Steven Ozment (Hrsg.), Religion and Culture in the Renaissance and Reformation. (Sixteenth Century Essays and Studies, Bd. 11.) Ann Arbor 1989, 43–63.
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Bauernrepublik gemeint ist.25 Die neue, bibelgemäße Gelehrsamkeit, die von Grund auf erneuerte Universität also, sollte zum Garanten werden für die gerechte Gesellschaft. Wir können hieran sehen, wie der legitimierende Rückgriff auf das Evangelium und das göttliche Recht in seiner Sprengkraft ganz neue, emanzipatorisch-revolutionäre Modelle auch im Bildungswesen hervorzubringen imstande war. Mit der Niederlage der aufständischen Bauern freilich war jede Chance auf Verwirklichung solcher Modelle dahin – im Gegenschlag wuchs vielmehr die Tendenz zur Bekräftigung der alten universitären Ordnung mit ihrer exklusiv-elitären, lateinischen Gelehrtenkultur. Folgenreicher und wirkungsmächtiger war dagegen die andere Variante, die zweite Ausprägungsform dessen, was unter einer „christlichen Hochschule“ im reformatorischen Sinne verstanden werden konnte. Gemeint ist hier die eher gesetzlich-biblizistische Umsetzung des Gedankens, der es weniger um die universitäre und gesellschaftliche Praxis ging als vielmehr um die strikte, alleinige Bestimmung der akademischen Lehrinhalte nach biblischen Normen. Mit diesem, dem biblizistischen Neuordnungsmodell sind wir zugleich – endlich – bei der Marburger Hochschulgründung angelangt, denn die wohl berühmteste Formulierung dieses Konzepts ist im Zuge der Planungen für die hessische Landeshochschule entstanden. Hier war es der vom Universitätsgründer, Landgraf Philipp, protegierte, damals in Hessen führende Theologe Franz Lambert von Avignon, der im Herbst 1526 in der berühmten Reformatio Ecclesiarum Hassiae die Richtung vorgab: Der dort enthaltene Abschnitt über das geplante Generalstudium in Marburg atmet kaum etwas vom humanistischen Geist eines Melanchthon, er geht allein von streng reformatorisch-theologischen Denkkategorien aus. „In der Kraft Gottes“ wird da eingeschärft, nichts solle an der neuen Universität gelehrt werden, was der Förderung des Gottesreiches (regnum Dei) hinderlich sei. Für alle Fächer, für die freien Künste und schönen Wissenschaften, und gar vorzüglich für die Mathematik, soll die Bibel, das reine Gotteswort, als Maßstab und Zensor gelten. Jeder Verstoß dagegen soll mit Absetzung und Entlassung geahndet werden. Vor allem dürfen die Juristen nur solches Recht lehren, das mit dem Worte Gottes im Einklang steht, während alle gottlosen Beschränkungen des Rechts von der Schrift her zu berichtigen sind. Mit einem scharfen Anathema schließt das Ganze: „Verflucht sei (anathema sit), wer auf dieser ehrwürdigen Hohen Schule etwas im Widerspruch zu Gottes heiligem Wort aufzustellen wagen sollte!“26 Der eifernde, eher von Zwingli als von Luther inspirierte Biblizismus, der sich hier niederschlägt, will uns modernen Menschen engstirnig, ja bizarr und reaktionär erscheinen. Der Gedanke, alle Wissenschaft unter dem Verdikt der völligen Übereinstimmung mit den Aussagen der Bibel zu betreiben, erscheint uns aberwitzig und gleichbedeutend mit dem Ende rationaler Erkenntnis und freier Wissenschaft. Blickt man genauer hin, wird man indes differenzierter urteilen. Zum einen steht Lamberts Position27 für eine durchaus verständliche, verbreitete Kritik an Überspitzungen des Humanismus, an dessen Überschätzung eines eli-
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Franz, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (wie Anm. 24), 285–290, hier 286f. Emil Sehling u. a. (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Bislang 19 Bde. Leipzig/Tübingen seit 1902, Bd. 8,1 (Hessen), bearb. von Hannelore Jahr. Tübingen 1965, 63. Eingehend dazu: Gerhard Müller, Franz Lambert von Avignon und die Reformation in Hessen. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 24,4.) Marburg 1958.
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tär-antiken, weithin paganen Bildungskanons und der Vergötzung der drei alten Sprachen. Stattdessen hob Lambert – er der Franzose in Deutschland, der ehemalige Franziskanermönch – die Bedeutung der modernen Volkssprachen gerade auch zur Belehrung und geistlichen Bildung des gemeinen Volkes hervor. Darüber hinaus weist die pointierte Juristenkritik, die Forderung nach Neuordnung der Rechtswissenschaft darauf hin, dass der scheinbar reaktionäre Biblizismus in seiner theokratischen Dimension – wie ja generell das Beispiel der Schweizer Reformation zeigt – sehr wohl revolutionäre Wirkungen entfalten konnte. Hier war keineswegs nur die Abschaffung des geistlichen Rechts, der Kanonistik gemeint – es ging um die bibelgemäße Revision des gesamten, auch des weltlichen Rechtssystems. Ob diese Revision eher in der Übernahme mosaisch-alttestamentlicher Rechtsnormen bestehen sollte oder in der Adaption des neutestamentlichen Gebotes der Nächstenliebe als gesellschaftsformendem Prinzip, blieb offen. Die theologischen Meinungsführer der aufständischen Bauern vertraten in ihren „Zwölf Artikeln“ 1525 das letztere Ideal28, Karlstadt und wohl auch – abgemildert – Lambert eher das erstere. Jedenfalls aber barg Lamberts Ansatz mit der inhärenten Bestreitung der bisherigen Juristenherrschaft und der daraus folgenden Infragestellung bestehender Privilegien erheblichen Sprengstoff in sich. Hinter der frommpathetischen Sprache steckte – konträr zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre – ein erhebliches innerweltliches Veränderungspotential. Wenn Lambert die Aufrichtung des Gottesreiches unter den Menschen als Leitziel auch der Universitätsgründung ausrief, war er vom revolutionären Elan eines Michael Gaismair nicht gar so weit entfernt – auch wenn Lambert gewiss eher ein sozialdisziplinierendes Verständnis theokratischer Herrschaft wie im Zürich Zwinglis im Sinn hatte. Auf jeden Fall sollte die geplante Marburger Universität nach seiner Intention als Impulsgeber und Pflanzstätte dienen, um in der Landgrafschaft Hessen eine neue, bibelgemäße Ordnung in allen Bereichen der Gesellschaft aufzubauen.
Die Marburger Gründung 1527: Durchbruch zum neuen Modell oder maßvoll korrigierte Fortschreibung der bestehenden Ordnung? Ebenso wie die von Karlstadt, Müntzer oder Gaismair propagierten Ideen wurde freilich auch der Lambertsche Ansatz zu Fall gebracht – diesmal vor allem von Wittenberg aus, durch Luthers und Melanchthons Interventionen bei Landgraf Philipp als der letztlich entscheidenden Instanz. Stattdessen wurde die Marburger Gründung, unter dem leitenden Einfluss des humanistisch geprägten hessischen Kanzlers Johann Feige, ganz eindeutig nach Wittenberger Muster geformt.29 Man folgte damit jenem gemäßigt-vermittelnden Bildungs28 29
Franz, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (wie Anm. 24), 174–179, bes. 175. Heinrich Hermelink, Die Universität Marburg von 1527–1645, in: H. Hermelink/Siegfried A. Kaehler (Hrsg.), Die Philipps-Universität zu Marburg 1527–1927. Marburg 1927, 1–224; Gerhard Müller, Die Anfänge der Marburger Theologischen Fakultät, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 6, 1956, 164–181; Winfried Zeller, Die Marburger Theologische Fakultät und ihre Theologie im Jahrhundert der Reformation, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 28, 1977, 7–25, hier 7–14; Walter Heinemeyer, Zur Gründung des „universale studium Marpurgense“ (zuerst publiziert 1977), in: ders., Philipp der Großmütige und die Reformation in Hessen. Gesammelte Aufsätze zur hessischen Reformationsgeschichte, hrsg. von Hans-Peter Lachmann/Hans
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konzept, wie es Melanchthon seit Mitte der 1520er Jahre entwickelte: eine reformatorischhumanistische Symbiose unter bewusster Wiederanknüpfung auch an mittelalterlich-scholastische Traditionen.30 Im „Freiheitsbrief “ von 1527 und den Statuten von 1529 als den zentralen Gründungsdokumenten der Marburger Hochschule überwiegt bei aller Berufung auf das wiederentdeckte Evangelium in überraschender Weise die auf Bewahrung und Kontinuität gerichtete Sprache: Der durch die Wirren der frühen 1520er Jahre ausgelöste, infolge des Bauernkriegs noch verschärfte Bildungsverfall, die epochale Bedrohung der Wissenschaften, wird wortreich beklagt und die Errichtung des Marburger Generalstudiums mitsamt dem vorbereitenden Pädagogium als reformatorische Antwort auf diese Krise dargestellt. Rettung der „bewährten“ Studien vor den Kräften der Barbarei, lautet die Devise; von einem umfassenden Erneuerungsanspruch ist nicht die Rede.31 Dem Innovationsdrang der Marburger Hochschulgründer waren ohnehin enge Grenzen gesetzt angesichts ihrer zunächst, bis 1541, fehlenden kaiserlichen Privilegierung. Für den Wunsch, eine vollgültige, anerkannte Universität und eben nicht nur eine christliche Landeshochschule neuen Typs zu haben, war insoweit ein Preis zu zahlen. Letztendlich stand dabei die Existenz der ganzen Neugründung auf dem Spiel, denn nur die Erlangung der kaiserlichen Konfirmation konnte die für den Bestand der Universität lebensnotwendige überregionale Anerkennung der an ihr erworbenen akademischen Grade sichern. Schon im „Freiheitsbrief “ von 1527 war das Begehren, „vonn keyserlicher Maiestet, unnserm Allergnedigsten Herrn, fundation unnd privilegien ad gradus promovendi zu erlanngen“, als elementare Zielsetzung zur Vollendung der Marburger Universitätsgründung klar ausgesprochen.32 Und folgerichtig war Philipp von Hessen in den kritischen Anfangsjahren nach 1527 – als Fortdauer und Erfolg seines Generalstudiums keineswegs garantiert, wiederholt vielmehr gefährdet schienen33 – stetig bemüht, am Kaiserhof in der einen oder anderen Form die erstrebte Privilegierung zu erringen. Die ganze Gründungsphase der hessischen Landesuniversität ist geprägt von jenem Bemühen, den zunächst gegen „sollich vermeint studium“ zu
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Schneider/Fritz Wolff. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 24,7.) Marburg 1997, 73–115, bes. 97–99; Peter Baumgart, Die deutsche Universität des 16. Jahrhunderts. Das Beispiel Marburg, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28, 1978, 50–79. Heinz Scheible, Melanchthons Bildungsprogramm, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 53, 1986, 181–195; Hermann-Adolf Stempel, Melanchthons pädagogisches Wirken. (Untersuchungen zur Kirchengeschichte, Bd. 11.) Bielefeld 1979; Barbara Bauer (Hrsg.), Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627). (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, Bd. 89.) 2. Aufl. Marburg 2000. Bruno Hildebrand (Hrsg.), Urkundensammlung über die Verfassung und Verwaltung der Universität Marburg unter Philipp dem Großmütigen. Marburg 1848, 6–18. Die von Roderich Schmidt 2003 angekündigte Neuedition der Urkunden aus der Frühzeit der Universität Marburg bleibt ein Desiderat: Roderich Schmidt, Die kaiserliche Bestätigung der Marburger Universitätsgründung von 1527 durch Karl V. 1541, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 108, 2003, 75–94, hier 81. Hildebrand, Urkundensammlung (wie Anm. 31), 17. Friedrich Küch, Beiträge zur ältesten Geschichte der Marburger Universität, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 56, 1927, 1–53, hier 1–34.
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Marburg ganz unwilligen Kaiser Karl V. zu einer positiven Stellungnahme zu bewegen.34 Wenn man aber den katholisch-konservativen Karl V. für eine derartige, förmliche Bestätigung gewinnen wollte, musste man tunlichst das Bild einer Universität vermitteln, die möglichst nahtlos sich in die bestehende europäische Hochschultradition einfügte. So gab es im institutionellen Gefüge der Universität, in ihrer korporativen Rechtsstellung und Binnengliederung, kaum grundlegende Veränderungen – das überkommene Modell der selbstverwalteten akademischen res publica wurde so gut wie unversehrt übernommen. Der sonst durchaus zu innovativen Lösungen, ja wagemutigen Alleingängen neigende hessische Landgraf Philipp ging im Hinblick auf seine Hochschulgründung mit großer Behutsamkeit vor, und auch nach der – in Marburg mit großem Pomp im Sommer 1541 gefeierten35 – Erlangung des kaiserlichen Privilegs sollte sich daran nichts ändern. So sehr der Landgraf sich für Marburg die Vorreiterrolle wissenschaftlicher Exzellenz wünschte, so gern er Professoren der ersten europäischen Güteklasse wie Melanchthon oder Zwingli berufen hätte – was die Struktur der Universität, ihr Studien- und Graduierungssystem betraf, folgte er den alten, erprobten Vorbilden. Und dennoch hat Philipp mit der Marburger Gründung in anderer Hinsicht natürlich doch einem neuen Hochschulmodell zum Durchbruch verholfen. Allein die Tatsache, dass hier zum ersten Mal eine Universitätsgründung unter völliger Loslösung von der alten römischen Kirche vollzogen wurde, stellte die Weichen für ein neues universitäres Zeitalter. Die Tatsache, dass man die neue Hochschule ökonomisch kurzerhand auf säkularisiertem Kirchenbesitz fundierte36, stellte einen revolutionären Akt dar, der nicht nur massiv gegen kanonisches, sondern auch gegen Reichsrecht verstieß. Auch hier freilich sind bei näherem Hinsehen Einschränkungen angebracht: Relativiert wird das Ausmaß des in Marburg vollzogenen rechtlich-historischen Bruchs durch die Feststellung, dass auch die vorangehenden Universitätsgründungen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts stets unter Inanspruchnahme geistlichen Pfründenguts zustande gekommen waren. Von jeher war es dabei ein seitens der Landesherren hocherwünschter Nebeneffekt, im Zuge der Hochschulgründung die Verfügungsgewalt über möglichst reiche Kirchenpfründen durch deren Umwidmung zugunsten der Universität zu erlangen: Das Wittenberger Allerheiligenstift, aus dem die dortige Universität schon vor der Reformation weithin finanziert wurde, mag hier als ein Beispiel für viele stehen.37 Bisher allerdings war für solchen landesherrlichen Zugriff auf geistliche Güter das 34
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Schmidt, Kaiserliche Bestätigung (wie Anm. 31), 77; Baumgart, Marburg (wie Anm. 29), 55–63. Zu den seit 1534/35 verbesserten Beziehungen Landgraf Philipps zu Karl V. vgl. jetzt die noch ungedruckte Dissertation von Jan-Martin Lies, Zwischen Krieg und Frieden. Die politischen Beziehungen Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg zwischen 1534 und 1541. Diss. phil. Marburg 2009. Schmidt, Kaiserliche Bestätigung (wie Anm. 31), 80f. Zur ökonomischen Fundation der Marburger Hochschule: Hermelink, Universität Marburg (wie Anm. 29), 22–54. Ernst Schubert, Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts, in: Peter Baumgart/Notker Hammerstein (Hrsg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen in der frühen Neuzeit. (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 4.) Nendeln 1978, 13–74, hier bes. 23–27; Heinz Scheible, Gründung und Ausbau der Universität Wittenberg, in: Baumgart/Hammerstein, Beiträge (wie vorstehend), 131–147.
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Plazet der römisch-kirchlichen Hierarchie und des Papstes unabdingbar gewesen. Indem Landgraf Philipp als reformatorischer Fürst diese rechtliche Basis verließ und damit zugleich auf die bislang gemeineuropäisch gültige Bedingung päpstlicher Konfirmierung jedes neuerrichteten Generalstudiums verzichtete, löste er die Universität tendenziell aus ihrem abendländisch-universalen Bezugsrahmen. Gewiss – durch die nachträgliche Einholung der kaiserlichen Bestätigung wurde dieser Mangel ein Stück weit wieder ausgeglichen; in ihren Ursprüngen aber ist die Marburger Hochschule die erste Gründung aus allein landesherrlicher Machtvollkommenheit, eine durch und durch fürstliche Kreation. Die europäische Universität war bisher doppelt an zwei Autoritäten gebunden: die jeweilige Territorialgewalt einerseits und die universale Kirche andererseits; für den kirchlichen Einfluss stand vor allem das Amt des Universitätskanzlers, in der Regel ausgeübt durch einen Bischof oder Prälaten. Jetzt dagegen blieb allein die Bindung an den Landesherrn, der die Aufsichtsfunktionen über seine Hochschule in einer Hand vereinte. So wie die territoriale Kirche von nun an, im reformatorischen Kontext, endgültig dem landesherrlichen Kirchenregiment unterworfen war, brachte die Reformation ebenso die Vollendung des landesherrlichen Hochschulregiments.38 Am Rande sei hier vermerkt, dass es auch in dieser Beziehung in der Offenheit der 1520er Jahre andere, gegenläufige Konzepte gab. So ist in Franken Ende 1525 der Plan entstanden, flächendeckend neue Hochschulen nicht in landesherrlicher Bindung, sondern als Bildungsstätten des Reiches zu errichten. In der Erwartung, dass die Kirchenreformation sich bald im gesamten Reich einheitlich durchsetzen würde, schlugen damals die beiden markgräflichbrandenburgischen Räte Johann von Schwarzenberg (hochberühmter Jurist und Mitglied des Reichsregiments) sowie der Kanzler Georg Vogler vor, Teile des künftig zu säkularisierenden Kirchenguts zum Aufbau von „christlichen hohen Schulen“ zu verwenden, die in „einem jeden“ Reichskreis unter der Aufsicht des jeweiligen Kreisregiments zu „verordnen“ seien, „damit man zu einem yden kreiss geschickt, cristlich personen stetiglich erzihen zur selsorge und gemeinen zeitlichen nutz geprauchen mechte“.39 Was die Inhalte der Erziehung betraf, folgten Schwarzenberg und Vogler in ihrer Vorstellung einer „christlichen Hochschule“ ganz der von Melanchthon vorgegebenen Linie. Das Neue, Ungewöhnliche an ihrem Projekt ist aber eben die Lösung der Hochschule von den einzelnen Landesherren zugunsten der politischen Zuordnung zum Reich bzw. den Reichskreisen als seinen regionalen Instanzen. In einer Zeit der aufsteigenden Territorialgewalten atmet dieser Entwurf noch einmal in imposanter Weise den Geist der großen Reformbestrebungen zur Stärkung des Reiches um 1500.
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Inwieweit das in Marburg unter Landgraf Philipp geschaffene Stipendiatenwesen ein wirklich „neues Modell“ oder doch eher nur die modifizierte Übernahme älterer, pfründengestützter Formen der Studienförderung darstellte, mag hier dahingestellt bleiben. Vgl. Ludwig Zimmermann, Das hessische Stipendiatenwesen im Zeitalter der Gründung der Universität Marburg (1527–1560), in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 56, 1927, 72–123; Walter Heinemeyer, Pro studiosis pauperibus. Die Anfänge des reformatorischen Stipendienwesens in Hessen, in: ders., Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 29), 116–137. An einer Dissertation zu den Anfängen des Marburger Stipendiatenwesens arbeitet derzeit Christoph Werner (Marburg). Hermann Jordan, Reformation und gelehrte Bildung in der Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth. Eine Vorgeschichte der Universität Erlangen. 2. Bde. Leipzig 1917–1922, Bd. 1, 1917, 85–89, Zitat 87.
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Der Zug der Zeit aber ging bekanntlich in eine andere Richtung, und die alleinige, in Marburg vorexerzierte landesherrliche Dominanz über die Universitäten hatte zwangsläufig die Territorialisierung und Partikularisierung des deutschen Hochschulwesens (bis heute, darf man in Klammern sagen) zur Folge. Für den weiteren Verlauf der Frühen Neuzeit, insbesondere für das konfessionelle Zeitalter, kann man geradezu von einer „Verstaatlichung“ der Universitäten sprechen, wenn mit zwangsweise zu unterschreibenden Bekenntnisformeln die Hochschulglieder auf ein obrigkeitlich oktroyiertes Gesinnungs- und Lehrprogramm festgelegt und entsprechend die Studieninhalte kleinlich geregelt und kontrolliert wurden. Das überragende legitimierende Leitprinzip war dabei – wie schon im Marburger „Freiheitsbrief “ 1527 niedergelegt40 – die Idee des „gemeinen Nutz“, wonach die Universität vor allem Staatsdiener zu kirchlichen und weltlichen Zwecken – Pfarrer, Lehrer, Juristen – auszubilden und zur Förderung des Gemeinwohls bereitzustellen habe. Der Marburger Gründungsrektor und bedeutende Jurist Johannes Eisermann (Ferrarius) hat sich ja gerade als Theoretiker dieser Gemeinnutzidee hervorgetan; hier hatte Marburg tatsächlich eine Vorreiterrolle inne.41 Aus der Definition der Universität als Staatsdienerschule konnte sich allzu leicht freilich in der Folge ihre Herabwürdigung zu bloßer Behördenfunktion ergeben. Immerhin bleibt auch für diese Zeiten, das späte 16. bis 18. Jahrhundert, ein erstaunliches Beharrungsvermögen der alteuropäischen Universitätsideale zu konstatieren: Die selbstbewussten Vertreter der Gelehrtenrepublik wussten mit Ideenreichtum und Hartnäckigkeit ihre Autonomie und überkommenen Sonderrechte zu verteidigen: Eigensinn und „Widerstand“ (mit Boockmann zu sprechen) blieben durch die Jahrhunderte hindurch nicht zu unterschätzende, die Universität prägende Wirkkräfte.42 Zugleich blieb – trotz aller partikularstaatlichen und konfessionellen Verengung – der universal-europäische Bezugsrahmen im Austausch der Universitäten untereinander in überraschendem Maße erhalten und bot in vieler Hinsicht geistige Öffnungen und Alternativen. Gerade dem hessischen Hochschulgründer Landgraf Philipp muss man zugutehalten, dass er auf internationale Weite für sein Generalstudium Wert legte, ebenso auf die Vermeidung allzu rigider religiöser Engführung; später sah dies auch in Marburg anders aus. Die Idee einer neuartigen evangelisch-„christlichen Hochschule“ war übrigens mit der Entscheidung Marburgs für das Modell der tradierten Universitätsstruktur nicht erledigt. Nur zwei Jahre nach der Marburger Gründung brachte der schwäbische Reformator Johannes Brenz den Gedanken 1529 in einem Gutachten für Markgraf Georg von Brandenburg-Ans40 41
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Hildebrand, Urkundensammlung (wie Anm. 31), 6, 8. Brita Eckert, Der Gedanke des gemeinen Nutzen in der lutherischen Staatslehre des 16. und 17. Jahrhunderts. Diss. phil. Frankfurt a. M. 1976; Dies., Der Gedanke des gemeinen Nutzen in der Staatslehre des Johannes Ferrarius, in: Jahrbuch der hessischen kirchengeschichtlichen Vereinigung 27, 1976, 157–209; Robert von Friedeburg, Der „Gemeine Nutz“ als affirmative Kategorie. Der Aufbau frühmoderner Verwaltung in Hessen durch Landgraf Philipp den Großmütigen und seinen Sohn Wilhelm IV., in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 89, 1982/83, 27–49. Vgl. dazu in breiterer Perspektive: Thomas Nipperdey, Luther und die Bildung der Deutschen, in: Hartmut Löwe/Claus-Jürgen Roepke (Hrsg.), Luther und die Folgen. Beiträge zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der lutherischen Reformation. München 1983, 13–27; Hammerstein, Universitäten und Reformation (wie Anm. 5).
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bach neu ins Spiel. Sein Plan sah vor, die säkularisierten Stifte und Klöster nicht nur zur ökonomischen Fundierung, sondern auch als örtlichen Rahmen für neuzugründende reformatorische Landeshochschulen zu übernehmen: In klosterähnlicher Abgeschiedenheit, im steten Zyklus von Schriftlesung und Gottesdienst, sollten hier die Schüler bzw. Studenten erzogen und auf ihre künftigen Ämter im landesfürstlichen Dienst vorbereitet werden. Ausdrücklich sollte dabei das akademische Gesamtspektrum unterrichtet werden, einschließlich der Jurisprudenz – nur die Medizin bleibt unerwähnt.43 Angesichts der Leidenschaft, mit der Luther – wie wir hörten – die alten Universitäten als Höllentore zur Verführung der Jugend gegeißelt hatte, sollte man meinen, dass er den Brenzschen Vorschlag als frommen Gegenentwurf hätte begrüßen können, zumal hier jeder theokratisch-biblizistische Anklang wie bei Franz Lambert fehlte. Im Gegenteil aber reagierte Luther ein weiteres Mal mit scharfer Ablehnung und wies, in Abstimmung mit Melanchthon, jene Idee einer konviktartigen Lerngemeinschaft scharf zurück: „Denn wo ein gut studiren sol sein, da musten nicht ledige Creutzgenge sein odder leere kloster und stifft kirchen, sondern eine Stad, darynn viel zusamen komen und unternander sich uben und reitzen und treiben. Einsame studia thuns nicht, Gemeine thuns, da viel einer dem andern ursach und Exempel gibt etc.“ Auch die von Brenz angeregte Beschränkung der neuen Hochschulen auf die Ausbildung nur von Landeskindern hielt Luther für abträglich und lobte stattdessen die Vorzüge des freien akademischen Austauschs.44 So stellen die Worte Luthers aus dem Sommer 1529 ein bemerkenswert klares Bekenntnis dar zur überkommenen Form der Universität als einer urbanen Einrichtung, die von der Offenheit der Diskussion und bunten Vielfalt ihrer Mitglieder lebt. Bei aller Schärfe der Kritik an gewissen Fehlentwicklungen wusste der Reformator doch letztlich selbst, wie viel er der Universität als freier Geistesstätte zu verdanken hatte, und votierte im Zweifel, wenn sie als Institution grundsätzlich in Frage gestellt wurde, für den Erhalt der Universität alten Stils. Die Option einer neuartigen Organisation der höheren Bildung in Konvikt- oder Kollegstrukturen unterhalb der Universitätsebene ist bekanntlich in der Folgezeit durchaus realisiert worden – man denke an das erfolgreiche Straßburger Modell des 1534 gegründeten collegium praedicatorum45, an die calvinistisch-reformierten Akademien mit Genf an der Spitze oder die katholische Variante der Jesuitenkollegs46. Und auch für Marburg war der Gedanke einer entsprechenden Umformung (wenn man so will: Degradierung) der Universität lange Zeit noch virulent. Zweimal musste Landgraf Philipp in Krisenzeiten seiner Hochschule, 1532 und 1546, dem Gerücht entgegentreten, er plane die Beschränkung der Anstalt nur auf
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Johannes Brenz, Anecdota Brentiana. Ungedruckte Briefe und Bedenken, hrsg. von Theodor Pressel. Tübingen 1868, 31–39. Vgl. dazu: Jordan, Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth (wie Anm. 39), 106–114. Luther, WA (wie Anm. 8), Briefwechsel, Bd. 5, 1934, 119–121, vgl. 97f. Anton Schindling, Humanistische Hochschule und Freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538–1621. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 77.) Wiesbaden 1977, 27–33. Zum Typ der „Kolleg-Universität“ als „kleiner geschlossener“ Hochschule, die „mit dem Kollegsystem in überschaubaren Größenordnungen ... eine bessere Kontrolle des Studiums und des studentischen Lebens ermöglichte“, vgl. im Rahmen des übergreifenden Versuchs einer „Typologie des Hochschulwesens“: Willem Frijhoff, Grundlagen, in: Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2 (1500–1800). München 1996, 53–102, hier 69.
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die artistische und theologische Ausbildung.47 Noch kurz vor seinem Tode aber, 1566, als es in Marburg wieder einmal zu groben Ausschreitungen von Studenten gekommen war, spricht Philipp selbst ganz offen diese Möglichkeit an: In seiner Erregung stellt er die Frage, ob es nicht besser sein würde, eine „christliche“ Hochschule, „ein treffliche schule in theologia“ zu haben statt einer „solchen unreformierten, teufelischen, uppigen universitet“.48 Für uns mag diese Äußerung hier am Ende noch einmal als Beleg dafür stehen, dass sich im universitären Alltag über die Zeiten hinweg, durch alle Stürme hindurch, nicht allzu viel verändert hatte.
Fazit und Ausblick Wir kommen zum Fazit und können unsere Ausgangsfrage „Marburg – ein neues Universitätsmodell?“ beantworten mit einem klaren „Ja und Nein“. Nein: insoweit als die erste evangelische Universitätsgründung hier an der Lahn nicht von völlig neuartigen Ideen bestimmt war, kein grundstürzend neues Ideal der Universität begründete. Ja: insofern als mit Marburg eine staatsorientierte Form der Universität endgültig zum Durchbruch kam, die dreihundert Jahre lang und in gewissem Maße bis heute die deutsche Hochschullandschaft prägen sollte. Als gleichsam „heroischen“ Neuaufbruch können wir die Marburger Gründung von daher nicht reklamieren, eher ist sie einzuordnen – bei aller Berufung auf protestantische Gewissensfreiheit – in eine frühneuzeitliche Gesamtentwicklung, die der Entfaltung der Universität als Stätte unabhängigen Geistes nicht unbedingt förderlich war. Ein wirklich neuer Typus europäischer Hochschulkultur ist eben doch erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Humboldtschen Reform geschaffen worden.49 Gerade im Kontrast zur Universität der Frühen Neuzeit (die sog. Reformuniversitäten Halle und Göttingen eingeschlossen) sticht hervor, welch epochalen Fortschritt die Berliner Universitätsgründung im gedemütigten Preußen, vor 200 Jahren, bedeutete. Die Einheit von Lehre und Forschung, die einsame Freiheit der Wissenschaft als eines offenen Prozesses der Erkenntnis und der Selbstfindung, die allseitige Bildung der Studierenden zu kritisch-unabhängigen Intellektuellen – all diese Leitwerte standen ja gerade diametral gegen die frühneuzeitliche Funktionalisierung der Hochschulen zur staatlich gelenkten Elitenausbildung, gegen die utilitaristische Vereinnahmung der 47 48
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Küch, Beiträge (wie Anm. 33), 12–14; Hildebrand, Urkundensammlung (wie Anm. 31), 41f. Günther Franz/Eckhart G. Franz (Bearb.), Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte, Bd. 3. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 11,3.) Marburg 1955, 357 (Nr. 946: 16. Mai 1566). Vgl. Zeller, Theologische Fakultät (wie Anm. 29), 15f.; Hermelink, Universität Marburg (wie Anm. 29), 50f. Auch die für die Moderne modellbildende preußische Hochschulreform Humboldtscher Prägung ließ freilich die äußere Grundstruktur der alteuropäischen Universität weitgehend unverändert bestehen. Auffällig ist dabei, dass die Hochschulreformdebatte um 1800 – mit dem Fundamentalkonflikt zwischen neohumanistischer und utilitaristischer Ausrichtung, auch mit den Alternativmodellen von praxisorientierter Akademie bzw. Fachhochschule – in teilweise ähnlichen Bahnen verlief wie schon knapp dreihundert Jahre zuvor. Vgl. den Überblick zum frühen 19. Jahrhundert bei R. Steven Turner, Universitäten, in: Karl Ernst Jeismann/Peter Lundgreen (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 6 Bde. München 1987–2005, Bd. 3, 1987, 221–249, hier bes. 221–228.
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Universität. Genau besehen aber sind es just diese Humboldtschen Grundwerte, die im „Bologna-Prozess“ unserer Tage offiziell aufgekündigt werden, um stattdessen zurückzukehren zu Normen und Bindungen, welche die Universitäten des 16. bis 18. Jahrhunderts fesselten. Gewiss, die sozialutilitaristischen Argumente zugunsten einer Neuausrichtung akademischer Ausbildung im Sinne von Praxis- und Berufsorientierung mögen auf den ersten Blick auch heute plausibel, ja sympathisch klingen – so wie ehedem die Propagierung des „gemeinen Nutz“ als Leitmotiv höherer Bildung durch die Landesherren der Frühen Neuzeit. In seiner Konsequenz aber bedeutet dieser Anspruch die Entfremdung der Universität von sich selbst, um sie stattdessen in den Dienst herrschender Interessen und eines herrschenden Zeitgeistes zu stellen. Damit aber wird die Universität letztendlich zur Stätte der Affirmation einer je bestehenden ökonomisch-gesellschaftlichen Ordnung, der Affirmation bestimmter Herrschaftsstrukturen. „Der Bildungsbegriff “, so hat der Würzburger Erziehungswissenschaftler Andreas Dörpinghaus jüngst in einem vielbeachteten Beitrag geschrieben, verliert auf diese Weise „seine politisch kritisch-widerständige Dimension und wird zum polizeilichen Kontrollinstrument“; die Universität werde zum Ort der „Verdummung“ durch bloße Vermittlung von Anwendungswissen statt echter Bildung und Erkenntnissuche, die immer auch das Nichtplanbare, das Sichfremdwerden, das Widerständige gegen alle Nutzbarmachung einschließe.50 „Wissen und Widerstand“ – die von Hartmut Boockmann für die Aufgaben der Universität gewählte Devise erscheint heute aktuell wie eh und je.
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Andreas Dörpinghaus, Bildung. Plädoyer wider die Verdummung = Forschung und Lehre. Supplement 9 (September) 2009.
Größe als Argument Genealogie als Movens der neuen Gattung Riesenholzschnitt im 16. Jahrhundert Thomas Schauerte
Die vielbeschworene Umbruchsphase der Jahrzehnte um 1500 sah so heterogene Prozesse und Ereignisse wie die Entdeckung der Neuen Welt, den Niedergang des Rittertums, das Aufkommen des Humanismus, den Untergang der führenden Kulturnation Burgund, die rapide Vervollkommnung des Buchdrucks und schließlich die Reformation. Andererseits steht – zumindest im Heiligen Römischen Reich – mit der langen Regentschaft Kaiser Maximilians I. all diesen Umwälzungen auch ein starkes Momentum der Kontinuität gegenüber. Er hatte die politische Bühne 1477 als Erbe der burgundischen Staatstrümmer betreten und sie erst 42 Jahre später nach einem ebenso ereignisreichen wie bewegten, dabei nicht einmal besonders langen Leben 1519 wieder verlassen. In diese Regierungszeit fällt nicht nur der generelle Durchbruch des Holzschnitts als Massenmedium, sondern sogleich auch das konsequente Ausloten der technischen Möglichkeiten dieses Druckverfahrens: 1508 experimentierte Hans Burgkmair bei einem Reiterbildnis Maximilians erfolgreich mit der anspruchsvollen Clair-obscur-Technik von mehreren Platten, das den Kaiser zudem vor einem Triumphbogen zeigte, dessen Aufbau und Dekor ausschließlich dem Formenvokabular der italienischen Renaissance verpflichtet war.1 Derselbe Künstler führte gemeinsam mit Albrecht Dürer, Albrecht Altdorfer und deren Werkstätten und in engem Austausch mit kaiserlichen Gelehrten und Handwerkern ab etwa 1512 die Gattung Riesenholzschnitt in Gestalt des über 50 Meter langen Triumphzugs Maximilians zu einem ersten Gipfelpunkt.2 Das Epitheton des Mäzenatentums, wie es für die Potentaten der italienischen Renaissance so freigiebig verliehen wird, möchte man angesichts der freimütig eingestandenen Zweckhaftigkeit der ars Maximilianea hier zwar eher beiseitelassen3; dennoch entstammen 1
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Vgl. Walter L. Strauss, Clair-Obscur. Der Farbholzschnitt in Deutschland und in den Niederlanden im 16. und 17. Jahrhundert. Vollständige Bilddokumentation und Gesamtkatalog. Nürnberg 1973, Nr. 12, mit zahlreichen weiteren frühen Beispielen ab 1508. Dieser ebenso wichtigen wie imposanten Spielart der Gattung Holzschnitt – später auch des Kupferstichs – wurden bislang und mit großem zeitlichen Abstand lediglich zwei übergreifende Darstellungen gewidmet: Horst Appuhn/Christian von Heusinger, Riesenholzschnitte und Papiertapeten. Unterschneidheim 1976; Larry Silver/Elizabeth Wyckoff (Hrsg.), Grand Scale. Monumental prints in the Age of Dürer and Titian. Ausstellungskatalog Davis Museum, Wellesley College 2008. New Haven/London 2008. In beiden Publikationen findet jedoch – abgesehen von der Ehrenpforte – die Fülle genealogischer Großholzschnitte keine Berücksichtigung. Hier ist auf das formelhaft steife, offiziöse Bildnis Maximilians von der Hand seines Hofmalers Bernhard Strigel und seine zahlreichen Wiederholungen zu verweisen; ferner auf die umfangreiche, oft maßgebliche Mitarbeit seines vertrautesten Kunstintendanten, des mäßig talentierten Malers Jörg Kölderer, an nahezu allen Großprojekten. Ihn verpflichtete er jedoch andererseits an seinem Inns-
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viele Neuerungen unzweifelhaft dem engeren oder weiteren Umfeld der Großaufträge eines Kaisers, der selbst an technischen Problemen höchst interessiert war. Kaum geringer – und im gegebenen Zusammenhang auch kaum weniger maßgeblich – war sein Interesse an Fragen der Historiographie, so dass sich für die Voraussetzungen und die Legitimationsbestrebungen der neuen Gattung Riesenholzschnitt hier eine Fülle an Material findet. Dies soll in den folgenden drei Abschnitten knapp beleuchtet werden. Deren erster wird sich mit der unter Maximilian gewandelten und gewachsenen Rolle der Genealogie befassen; der zweite wird ältere genealogische Großkunstwerke auf ihren Einfluss hin befragen, und der dritte wird die Fortentwicklung in der Gattung Riesenholzschnitt bis ins 18. Jahrhundert ausblicksartig andeuten.
1. Tradition und Neubeginn in der maximilianischen Genealogie und Heraldik Zunächst sind zwei Arten der Genealogie zu unterscheiden, deren erste als Amtsgenealogie anzusprechen ist: Über die langen Reihen von Päpsten oder Herrschern gelingt es mit diesem hier fast wörtlich zu verstehenden Leitfaden, die Jahrtausende seit Erschaffung der Welt annalistisch knapp zu durchmessen. Zugleich wird die Abfolge der Weltzeitalter innerhalb des göttlichen Heilsplans bis in die unmittelbare Gegenwart im letzten aller Reiche vor dem Weltgericht veranschaulicht. Auch eines der bekanntesten Geschichtswerke der maximilianischen Epoche, die Schedelsche Weltchronik von 1493, bedient sich dieses Ordnungsprinzips in Gestalt von Lemmata mit Kaiser- und Papstbildnissen wirkungsvoll in Wort und Bild.4 Dem steht die Blutsgenealogie als die eigentliche Wiedergabe vornehmer Abkunft gegenüber. Legitimiert und literarisch angeregt durch die endlosen genealogischen Reihungen des Alten Testaments und späterhin durch den Stammbaum Christi verdichtet sich diese Art der historischen Narration bildlich in der Wurzel Jesse, die mit der einer Blüte entwachsenden Halbfigur zugleich eine der tragenden Darstellungsweisen von Stammbäumen festlegt, wie dies schon zahllose hochmittelalterliche Beispiele belegen.
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brucker Hof vor allem für Arbeit, „[...] so nit sogar köstlich ist“, vgl. Vinzenz Oberhammer, Die Bronzestandbilder des Maximilian-Grabmales in der Hofkirche zu Innsbruck. Innsbruck 1935, 212– 213. Die normsetzende Kraft der Genealogie ist von den Geschichtswissenschaften lange Zeit eher unterschätzt worden. Einen durchgreifenden Perspektivwechsel stellt hier die magistrale Abhandlung von Alphons Lhotsky dar: Apis Colonna. Fabeln und Theorien über die Abkunft der Habsburger. Ein Exkurs zur Chronica Austrie des Thomas Ebendorfer, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 55, 1944. Neudruck in: ders., Das Haus Habsburg. (Ders., Aufsätze und Vorträge, Bd. 2.). München 1971, 7–102. Noch Wiesflecker spricht in seiner großen Maximilian-Biographie 1986 von „kunterbunten Materialien“ die „zu fragwürdigen neuen Ahnenreihen“ zusammengestoppelt wurden (Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit. 5 Bde. München 1971–86, Bd. 5, 1986, 363–364). In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Thema jedoch mehr und mehr seiner Bedeutung entsprechend gewürdigt und erforscht, vgl. den Überblick unter Art. Genealogie, in: Robert-Henri Bautier u. a. (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters. 10 Bde. München/Zürich 1980–1999, Bd. 4, 1989, Sp. 1216–1222 (E. Freise).
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Auch wenn es bereits unter Kaiser Friedrich III. entsprechende Bestrebungen gab – wie vor allem die Wappenwand in Wiener Neustadt zeigt (Abb. 8) –, findet unter seinem Sohn Maximilian ein solcher Aufschwung der genealogischen Forschungen statt, dass man fast von einem genealogical turn sprechen würde, wenn derartige Neologismen nicht allmählich ermüdend wirkten. Nichts aber verdeutlicht die unter Maximilian gewachsene Rolle der Genealogie so sehr wie die Tatsache, dass sich der Kaiser noch in seiner Sterbestunde durch Lesungen aus Mennels genealogischen Zusammenstellungen Trost zu verschaffen wusste.5 Die schriftlichen und künstlerischen Zeugnisse dieser genealogischen Selbstvergewisserung hatten unter Maximilian zuvor mit einer solchen Dichte eingesetzt, dass Klarheit über Entstehung und Abgrenzung der Einzelprojekte nicht ohne weiteres zu gewinnen ist. Seinem literarischen alter ego, dem Fragment gebliebenen Weißkunig, den der Kaiser in Augsburg unter Leitung Konrad Peutingers als eine Art allegorischer Autobiographie und zugleich als Fürstenspiegel für die Nachkommen hatte zusammenstellen lassen, legte Maximilian über seine neuartigen memorialen Bestrebungen einen vielzitierten Ausspruch in den Mund: „Und als er zu seinen jarn kam, sparet er kainen kosten, sonder er schicket aus gelert leut, die nichts anders teten, dann das sy sich in allen stiften, klostern, puechern und bey gelerten leutn erkundigeten alle geschlecht der kunig und fursten und ließ solichs alles in schrift bringen zu er und lob denen kuniglichn und furstlichn geschlechten. In sölicher erkundigung hat er erfundn sein mandlich geschlecht von ainem vater auf den andern biß auf den Noe [...].“6
Der Paradigmenwechsel, der sich ebenso für die Historiographie in toto postulieren ließe, liegt vor allem im Heraufbeschwören einer besonderen, neuartigen Quellennähe, denn das systematische Bereisen der Bibliotheken und Archive in Klöstern und Kirchen geschah auf kaiserlichen Befehl tatsächlich und schloss nicht nur Urkunden im herkömmlichen Sinne, sondern auch materielle Zeugnisse wie Grabsteine oder Wappenschilde ein.7 Selbst dort, wo dieser Anspruch bloße literarische Prätention blieb, sollte es doch die Unangreifbarkeit der maximilianischen Genealogie und Historiographie signalisieren. Aber zum anderen vollzogen sich auch inhaltliche Wandlungen im Vergleich zur älteren friderizianischen Genealogie, die noch die habsburgische Abstammung von den stadtrömischen Geschlechtern der Pierleoni oder der Colonna favorisierte, während Maximilian nun die trojanischen und merowingischen Aspekte seiner Abstammung verstärkte und damit den Anschluss seines Hauses an das im europäischen Adel vorherrschende System vollzog.8 Dies zeigt Hans Burgkmairs
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Gemeint ist hier der Riesenholzschnitt von drei Stöcken, den der kaiserliche Historiograph Jakob Mennel anläßlich des Todes Maximilians 1519 herausgebracht hatte. Er zeigt in einer der drei Illustrationen, wie Mennel dem Kaiser noch auf dessen Sterbebett aus seinen Habsburger-Genealogien vorliest, vgl. Thomas Schauerte, Albrecht Dürer. Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Ausstellungskatalog Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück 2003. Bramsche 2003, Nr. 34. Zitiert nach Oberhammer, Bronzestandbilder (wie Anm. 3), 9. Vgl. Maximilian Wiesflecker (wie Anm. 4), Bd. 5, 363–368, der Ladislaus Suntheim, Jakob Mennel und Johannes Cuspinian nennt. Lhotsky, Apis Colonna (wie Anm. 4), 44, 54 u. ö.
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Thomas Schauerte Abb. 1 Jörg Kölderer, Albrecht Dürer und Werkstatt, Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I., ca. 1506–1518, Ausschnitt mit dem Stammbaum Maximilians, Holzschnitt von vier Stöcken, ca. 120 x 40 cm
Holzschnittfolge der Ahnenreihe Maximilians9, die jedoch aufgrund von Akzentverschiebungen niemals mit dem zugehörigen Text vereinigt und im eigentlichen Sinne publiziert, sondern von einer inhaltlich überarbeiteten Variante – dem Stammbaum der Ehrenpforte – spätestens 1517 verdrängt wurde (Abb. 1). Fiktive Namen wie Hupponix, Syseboldus oder Glanthonas, die aus heutiger Sicht eher an Namen aus der hochmittelalterlichen Heldenepik denn an reale historische Persönlichkeiten erinnern, stehen dabei in einem merkwürdigen Widerspruch zur Omnipräsenz dieser Genealogien, von deren oben erwähntem historischen Wahrhaftigkeitsanspruch spätestens seit dem kritischen 19. Jahrhundert so gut wie alles dahingesunken ist.10 Die wesentlichen Gründe für diese Allgegenwart müssen hier für das weitere Verständnis kurz benannt werden: Bereits erwähnt wurde die herausragende Rolle der Genealogie als probates Ordnungsprinzip und universale Erzählhaltung nahezu jeder Form historischer Narration. Sodann erbringt sie natürlich den Nachweis der eigenen hohen Abkunft, was größtes Gewicht bei der jeder dynastischen Verbindung unweigerlich vorausgehenden Konkurrenz mit anderen Bewerbern erlangen konnte. Nicht minder wichtig war der Einsatz genealogischer Argumente schließlich bei der Legitimation eigener Ansprüche auf verwaiste Throne, eroberte Gebiete, heimgefallene Lehen oder ähnliches als eine angebliche
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Vgl. Hispania – Austria. Kunst um 1492. Die Katholischen Könige, Maximilian I. und die Anfänge der Casa de Austria in Spanien. Ausstellungskatalog Toledo/Innsbruck, Schloß Ambras 1992. Mailand 1992, Nr. 129. Lhotsky, Apis Colonna (wie Anm. 4), 7–102.
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Rückkehr in einen vordem besessenen und nur vorübergehend verlorenen Status. Maximilians – im Gegensatz zu seinen Kriegen – so überaus erfolgreiche und folgenreiche Heiratspolitik in Burgund, Spanien und Ungarn liefert hierfür den schlagenden Beweis und wurde in der Ehrenpforte auch nicht durch ein Mitglied der Werkstatt, sondern durch Albrecht Dürer selbst auf den Holzstock gerissen.11 Methodisch bedeutete dies für Maximilians Historiographen allerdings in der Tat, dass es nur in zweiter Linie um das Herausarbeiten tatsächlicher historischer Abläufe ging. Stattdessen sammelte man für ein vorgegebenes, sich oft aus tagespolitischen Erfordernissen ergebendes Resultat – den Nachweis uralten Herkommens, vornehmster Versippung oder unterdrückter Ansprüche – die entsprechenden Belege meist mit Hilfe von Pseudo-Etymologien, sonderte dabei aber zugleich Unpassendes oder Widersprüchliches unbedenklich aus. Sodann war die Überlieferung natürlich – je früher man sie anzutreffen hoffte – desto spärlicher und musste durch zumindest vordergründig logisch klingende historische Konjekturen substruiert werden. Dies bedeutete aber auch, dass die maximilianischen Genealogien aus dem reichen Repertoire an Versatzstücken heraus äußerst flexibel auf neue dynastisch-politische Konstellationen reagieren und aufgrund ihrer zwangsläufigen Kompliziertheit nur schwer widerlegt und daher jederzeit als genealogisch-heraldische ‚Drohkulisse‘ inszeniert werden konnten. Gerade die vertrackte Entstehungsgeschichte von Maximilians Ehrenpforte (Abb. 2), des mit seinen dreieinhalb Metern Höhe und drei Metern Breite größten jemals geschaffenen Holzschnitts überhaupt, vermag zu zeigen, dass hier Fluch und Segen eng beieinander lagen.12 Ebenso wie mit dem Triumphzug erstrebte – und erreichte – der Kaiser auch hier einen absoluten Superlativ in der Drucktechnik. 195 Holzstöcke der unterschiedlichsten Größe wurden zum Druck gruppenweise zusammenmontiert und auf 35 gleichgroßen, querrechteckigen Bögen im Großfolioformat gedruckt. Erst dann konnten anschließend die Blattränder passgenau zugeschnitten und die Einzelblätter auf einem flexiblen Bildträger zusammenmontiert werden.13 Erste Pläne zu diesem Werk wälzte Maximilian wahrscheinlich schon 1506, wobei jedoch die – fast ausschließlich literarischen – Quellen für die drei Hauptbestandteile noch bis ins ausgehende 15. Jahrhundert reichten. Dabei handelt es sich um die hochrechteckigen, genau gleichgroßen Bildfelder über den drei Portalen, die noch aus der frühesten Redaktionsphase stammen: Über den beiden Seitenportalen stehen die jeweils zwölf Großtaten vorwiegend des jungen Maximilian mit der amtsgenealogischen Kaiserfolge von wiederum jeweils zwölf Herrschern darüber. Über dem Mitteltor aber findet sich in Form des größten einheitlich zusammenhängenden Bildfeldes das Hauptstück der gesamten Komposition, der kaiserliche Stammbaum (Abb. 1). Er wurzelt in den drei Personifikation der Franken, Ungarn und Tro-
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Vgl. Rainer Schoch/Matthias Mende/Anna Scherbaum (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. (Holzschnitte und Holzschnittfolgen, Bd. 2.) München u. a. 2002, Nr. 238.71, 238.114, 238.92 und 238.89. Thomas Schauerte, Die Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I. Dürer und Altdorfer im Dienst des Herrschers. (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 95.) München/Berlin 2001. Alt montierte und kolorierte Exemplare befinden sich heute in Braunschweig, Herzog-Anton-Ulrich-Museum, Berlin, Kupferstichkabinett, oder Wien, Albertina.
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Abb. 2 Jörg Kölderer, Albrecht Dürer und Werkstatt, Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I., ca. 1506– 1518, Holzschnitt von mehreren Stöcken. Rekonstruktionsversuch des Zustands von 1515 mit Hervorhebung der drei ältesten Teile.
janer und wird seitlich von zwei Wappensuiten flankiert, die wiederum ererbte, erheiratete oder auch nur beanspruchte Territorien auf die denkbar knappste Weise zur Anschauung bringen. Die Heraldik verbildlicht damit gewissermaßen die Konsequenzen der Genealogie und ist mit ihr so unlösbar eng verbunden, dass sich beide bildnerische Mittel immer wieder durchdringen und einander vertreten können.14 14
Doch finden sich noch zwei weitere wichtige Indizien für die herausragende Rolle, die der Stammbaum beim Programm und bei der Vollendung des Riesenholzschnittes gespielt hat. So war die Genealogie nach verschiedenen Eingriffen noch am fertigen Holzstock erst 1517, unmittelbar vor Druckbeginn vollendet worden, und auch die Wappenreihen müssen in letzter Minute noch einmal erweitert worden sein. Dies zeigt das simple Schachbrettmuster der Fliesen im mittleren Tordurch-
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Wie eng der Austausch über genealogische Fragen zwischen Maximilian und seiner Tochter und engen Vertrauten Margarethe, Statthalterin der burgundischen Niederlande, war, verrät die erhaltene Korrespondenz. Er gestaltete sich offenbar so intensiv, dass sich später die Ehrenpforte, die ihr der Vater 1518 als erster Adressatin übersandt hatte, im Inventar der Regentin von 1524/1530 unter der Nr. 869 mit folgender Bezeichnung finden sollte: „Item une aultre genealogie grande, nommée: Porte d’honneur, en papier, donnée par le feu empereur Maximilien a Madame, estant en une grant custode de cuir.“15
Hier wird also die Ehrenpforte in ihrer Gesamtheit als genealogie bezeichnet, was angesichts der breitgefächerten Themenkreise des Materials zwar befremden mag, im gegebenen Zusammenhang aber aufschlussreich ist: Margarethe ließ den Riesenholzschnitt pars pro toto nach jenem Bildfeld, das ihr am wesentlichsten erschien, als monumentalisierte Genealogie aufführen und stand damit ausweislich der oben referierten Entstehungsgeschichte in völligem Einklang mit ihrem Vater. Demzufolge scheint mit dem Stammbaum im Zentrum der Ehrenpforte das im Wachsen begriffene Phänomen der Genealogie erstmals auch visuell sein angemessenes Medium im Riesenholzschnitt gefunden zu haben. Doch gibt es mindestens ein erhaltenes Kunstwerk, das eindeutig gegen diese These spricht. Gemeint ist ein Stammbaum als unikaler, kolorierter Holzschnitt von sechs Blättern und einer Höhe von über 1,60 Meter, der bereits 1501 von Hans Wurm16 für Maximilians Gefolgsmann Herzog Georg den Reichen von Bayern-Landshut geschaffen wurde und der mit einem gewissen, fraglos fiktiven Prutto – vielleicht einer germanisierenden Verballhornung des römischen Brutus – anhebt (Abb. 3):17
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gang, das an dem sonst so perfektionistisch erscheinenden Werk in Unordnung geraten ist. Hier wurde ein etwa fünf Zentimeter breiter Streifen nachträglich eingefügt, der sich bis in den Bogenscheitel fortsetzt. Nimmt man ihn heraus, so stimmen Fluchtung und Rasterung des Fliesenbodens wieder. So erklärt sich auch die (einzige!) eigenhändige Zeichnung, die Dürer ausschließlich für die Ehrenpforte angefertigt hat (London, British Museum). Sie zeigt mit wenigen flüchtigen Strichen die Kronenträgerin im Scheitel des Hauptportals („Frau Ehre“). Die beiden senkrechten Trennlinien zeigen die Plattenkanten dieses nachträglich einzufügenden Stücks. Notwendig waren diese höchst aufwendigen Maßnahmen geworden, weil der Stammbaum über dem Portal größer geraten war, als der dafür vorgesehene Platz. Vgl. dazu ausführlich Thomas Schauerte, Ehrenpforte (wie Anm. 12), 43–45. Vgl. die fortlaufende Regestenedition in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 3, 1885, Regest Nr. 2979. Möglicherweise ist dieser mit einem Landshuter Seidensticker gleichen Namens identisch, was im gegebenen Zusammenhang aufschlussreich wäre, da jener im Jahre 1514 eine Lieferung von Messing entgegennahm, die für den Guss des Grafen Albrecht von Habsburg zum Innsbrucker Grabmal Kaiser Maximilians bestimmt waren, den Hans Leinberger ausführte, vgl. Oberhammer, Bronzestandbilder (wie Anm. 3), 397, ferner Matthias Weniger, 1906–2006. Hundert Jahre Leinberger, in: Franz Niehoff (Hrsg.), Um Leinberger. Schüler und Zeitgenossen. Ausstellungskatalog. (Schriften aus den Museen der Stadt Landshut, Bd. 22.) Landshut 2007, 4–45. Ergänzend sei auch erwähnt, dass der sog. „Landshuter Ritter“ von 1521 aus dem Leinberger-Umkreis in seinem Harnisch typische Elemente der phantasievollen Rüstungen aus maximilianischen Kunstunternehmungen aufweist (vgl. ebd., Nr. 43; Museen der Stadt Landshut, Inv.-Nr. 74). Vgl. Reinhard Stauber/Gerhard Tausche/Richard Loibl, Niederbayerns Reiche Herzöge. (Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 38.) Augsburg 2009, 59–60.
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Abb. 3 Hans Wurm, Stammbaum der bayerischen Herzöge, 1501, kolorierter Holzschnitt von sechs Blättern, ca. 160 x 80 cm
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„Nach Olimpinischer Zal der Stat Rom Erbawung in der 196 Olimp des dritten jars Regieret vnd Besass prutto die Reich armenie vnd Caldeorum Als vätterlich Erbe [...].“18
Dabei erscheint es nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass Maximilian dieses Blatt kannte und vermutlich sogar zu den ersten Adressaten bei einer Versendung im Reich gehört hatte, da er durch die Ehe seiner Schwester Kunigunde mit dem akademisch gebildeten Albrecht IV. von Bayern-München, Bruder des Auftraggebers und Förderer der bedeutenden Historiographen Ulrich Füetrer und Johannes Aventinus, mit den Wittelsbachern verschwägert war. Noch vor dem für Maximilian so erfolgreichen Bayerischen Erbfolgekrieg von 1504/1505 bringt der Riesenholzschnitt durch halbfigurige Bildnisse, Tituli, Linien und Stemmata die Abstammung des Hauses Wittelsbach in allen Zweigen bis zur unmittelbaren Gegenwart zur Anschauung. Hätte der Kaiser das Werk tatsächlich besessen, dann dürfte diese imposante Großgenealogie zu den wichtigsten Anregungen gehört haben, die Maximilian für sein eigenes historiographisch-genealogisches Lebenswerk von außerhalb empfangen hatte. Dieses frühe Beispiel steht Maximilians großen, im Kunsthistorischen Museum in Wien erhaltenen frühen Habsburger-Stammbäume, bei denen es sich durchwegs um illuminierte Federzeichnungen handelt19, an schierem Umfang zwar deutlich nach, übertrifft sie aber vom technischen und künstlerischen Anspruch her merklich. Spätestens nach dieser Entdeckung erscheint ein kunsthistorischer Rückblick auch auf groß dimensionierte genealogische Schaubilder anderer Machart geboten.
2. Von der Masse in die Fläche: genealogische Großkunstwerke Immerhin drei künstlerische Gattungen sind es, die schon in früherer Zeit genealogische Kunstwerke von monumentaler Größe hervorgebracht haben: Wandmalerei, Tafelmalerei und Skulptur. Das vermutlich älteste derartige Beispiel ist im Original verloren. Kaiser Karl IV. hatte seinen Stammbaum zwischen 1355 und 1360 für die große Halle seiner Burg Karlstein nahe Prag in Auftrag gegeben. Vorstellungen lassen sich aber zumindest von den einzelnen Gliedern dieser Luxemburger-Genealogie gewinnen, da sie Matthäus Ornys 1571 in Miniaturen festgehalten hat, die den thronenden Kaiser aus dem Zentrum des Stammbaumes wiedergibt (Abb. 4), der seine Wurzeln hier auf König David, Noe und den römischen Göttervater Iupiter zurückgeführt sehen konnte.20 Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Kaiser Maxi-
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Interessant ist dabei, dass Prutto neben „Armenien“ auch das Reich der „Chaldäer“ beherrscht haben soll, denn in den 1502 erschienenen „Quatuor libri amorum“ des führenden deutschen Humanisten Konrad Celtis zeigt Albrecht Dürers Illustrationsholzschnitt mit der „Philosophia“ die Chaldäer als jene ägyptische Priester- und Seherkaste, die die Philosophie erfunden hätten, vgl. Rainer Schoch/Matthias Mende/Anna Scherbaum (Hrsg.), Albrecht Dürer (wie Anm. 11), Bd. 3, 2004, Nr. 296.2. Vgl. Hispania-Austria (wie Anm. 9), Nr. 94. Dabei stammen die Beschriftungen der Pergamentbögen aus dem späteren 16. Jahrhundert. Vollständig reproduziert bei Joseph Neuwirth, Der Bildercyklus des Luxemburgerstammbaumes aus Karlstein. (Forschungen zur Kunstgeschichte Böhmens, Bd. 2.) Prag 1897.
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milian dieses monumentale Werk je selbst gesehen hat, da er niemals nach Böhmen, das erst unter ungarischer, dann polnischer Herrschaft stand, gekommen ist; doch wäre es erstaunlich, wenn keiner seiner reisenden Genealogen davon Kunde bekommen haben sollte. Aus dieser Perspektive ließe sich dann auch ein früher, bemerkenswerter Kunstauftrag Maximilians deuten: Bereits im August 1500 hatte der Frankfurter Maler Konrad Doll die bedeutende Summe von 102 fl. dafür erhalten, Maximilians chronik vnd geschlecht gemalt zu haben.21 Die Höhe des Betrags eröffnet zumindest die Möglichkeit, dass es sich dabei tatsächlich um Fresken gehandelt haben könnte; zumindest aber darf angenommen werden, dass die Summe entweder die Kostbarkeit der Ausführung oder jene Dimensionen widerspiegelt, wie sie die erwähnten, etwa gleichzeitigen Wiener Stammbäume repräsentieren. Dann wäre nicht einmal auszuschließen, dass es sich sogar um eine abschließende Bezahlung für ebendiese Werke handelte. Wie ein solcher Stammbaum als großformatige Wandmalerei ausgesehen haben Abb. 4 Matthäus Ornys, Kaiser Karl IV., Detail aus könnte, lässt sich noch immer einigermadem verlorenen Fresko des Luxemburger-Stamm- ßen leicht ermessen, wenn man den Blick baums auf Burg Karlstein, Miniatur 1571, Österauf die Fresken des heute als Habsburgerreichische Nationalbibliothek saal bezeichneten Raumes richtet, der 1506 auf Schloss Tratzberg in Tirol geschaffen wurde (Abb. 5). Auftraggeber war Jakob Tänzl, der im Tiroler Bergbau durch kaiserliche Gunst zu schnellem Geld gelangt war und der hier seinen Wohltäter und Jagdgefährten in angemessener Form ehren wollte.22 Ohne ein wirkliches kompositorisches Zentrum rankt sich der Stammbaum über alle vier Wände des Saales, wie dies offenbar auch auf dem Karlstein der Fall gewesen war.23
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Vgl. Jahrbuch (wie Anm. 15), Regest Nr. 2342. Zu Tänzl vgl. Erich Egg, Aufstieg, Glanz und Ende des Gewerkengeschlechts der Tänzl. (Schlernschriften, Bd. 77.) Innsbruck 1951. Vgl. Sighard Enzenberg, Tratzberg. Renaissancejuwel im Inntal. Wien u. a. 2000.
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Abb. 5 Unbekannter Künstler, Stammbaum aus dem Habsburger-Saal auf Schloss Tratzberg (Tirol), Detail, 1506, Fresko
Doch auch die Tafelmalerei hat sich des Darstellungsschemas der Genealogie angenommen und dabei Erstaunliches hervorgebracht, wie ein Stammbaum der Kartäuser-Filiationen in den europäischen Ordensprovinzen zeigt (Abb. 6).24 Er befindet sich heute im Germanischen Nationalmuseum und wurde als mächtiges zweiflügeliges Retabel 1512/1513 von Bernhard Strigel in Memmingen für die Kartause in Freiburg im Breisgau geschaffen, mit großer Wahrscheinlichkeit unter den Augen des gelehrten Humanisten und Freiburger Kartäuserpriors Gregor Reisch, Maximilians Vertrauter und Beichtvater und zugleich eine wichtige Figur unter den maximilianischen Genealogen.25 Unter anderem von Werken wie diesem könnte kurz darauf ein etwa 110 cm breites Retabel angeregt worden sein, das Margarethe von Österreich 1517 an ihrem Brüsseler Hof zu 24
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Vgl. Kurt Löcher, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Die Gemälde des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1997, 497–505 (Inv.-Nr. Gm 580). Zu Reisch vgl. noch immer Robert von Srbik/Alphons Lhotsky, Maximilian I. und Gregor Reisch. (Archiv für österreichische Geschichte 122, H. 2.) Wien 1961; ferner Maximilian Wiesflecker (wie Anm. 4), Bd. 5, 351.
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Abb. 6 Bernhard Strigel, Stammbaum der Kartäuser-Filiationen in den europäischen Ordensprovinzen, dreiteiliges Flügelretabel, 1512/1513, Öl auf Holz, geöffnet ca. 162 x 180 cm, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
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Ehren ihres Neffen Karl, dem nachmaligen Kaiser, hatte anfertigen lassen und das sich heute im Stedelijk Museum in Mecheln befindet. Es zeigt – ähnlich wie die zeitgleich vollendete Ehrenpforte – den Erzherzog, der von seinen ererbten Besitzungen in Gestalt der beidseitig flankierenden Wappensuiten heraldisch umgeben ist.26 Und als Karl 1530 als fünfter seines Namens tatsächlich zum Kaiser gekrönt worden war, wurde dieses Kunstwerk von einem weiteren ergänzt, das wiederum eine große, altarähnliche Habsburger-Genealogie zeigt, die geöffnet eine Spannweite von etwa zweieinhalb Metern erreicht und heute in der Bibliotheque Royale in Brüssel aufbewahrt wird. Hier nun handelt es sich weder um Tafelmalerei, noch um einen Riesenholzschnitt, sondern um beschriebenes Pergament mit Miniaturmalereien, die im Rückgriff auf weit ältere Traditionen neben Wappenschilden auch runde Stemmata wiedergeben. Hier findet sich gewissermaßen eine Zwischenlösung, die die Übertragung eines ursprünglich literarischen Genus in die Darstellungsmodi der Bildenden Künste veranschaulicht.27 In den drei hier erwähnten, heraldisch-genealogischen Retabeln offenbart sich eine erstaunliche Bandbreite an Formen und auch an Adaptationen älterer derartiger Darstellungstraditionen. Sie werden aber trotz ihrer imposanten Dimensionen von einem älteren genealogischen Kunstwerk weit überflügelt, das viele der beobachteten Bestandteile in sich vereinigt. Die Rede ist vom sogenannten Babenberger-Stammbaum, der sich noch immer an seinem ursprünglichen Bestimmungsort Klosterneuburg befindet, wo er an der Kultstätte des neuen österreichischen und habsburgischen Hausheiligen St. Leopold anlässlich seiner Kanonisierung 1492 in der Stiftskirche Aufstellung gefunden hatte (Abb. 7). Er führt heute in den Räumen des Stiftsmuseums eher ein Schattendasein, wo seine Spannweite von acht Metern mit geöffneten Flügeln die Museumsräume schier sprengt. Im Zentrum zeigen die Stemmata im Astwerk nun nicht die Büsten der Grafen von Babenberg – den präsumtiven Vorgängern der Habsburger – sondern deren Heldentaten, was vielleicht zu den Vorläufern der Historienszenen über den Seitenportalen der Ehrenpforte gezählt werden darf, da Maximilian gemeinsam mit seinem Vater intensiven Anteil an der Heiligsprechung Leopolds gehabt hatte. Die beiden Flügel des Monuments geben die weibliche Aszendenz nach gebräuchlichem Stammbaum-Schema wieder.28 Doch auch mit diesem Monumentalwerk ist die Grenze genealogischer Selbstdarstellung des Hauses Habsburg noch nicht erreicht, denn es gibt ein weiteres, nunmehr skulpturales Werk, das den Babenberger-Stammbaum an Größe, jedoch auch im Grad seiner wissenschaftlichen Vernachlässigung um ein Vielfaches übertrifft. Gemeint ist das vermutlich bedeutendste heraldisch-genealogische Kunstwerk, das überhaupt jemals geschaffen wurde: die Wappenwand in der Burg zu Wiener Neustadt, heute Theresianische Militärakademie des Österreichischen Bundesheeres (Abb. 8). Die knapp 16 Meter hohe Wappensuite an der Ostwand der Wiener Neustädter Burgkapelle ist das größte, faszinierendste und auch künst-
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Vgl. die Abb. in: Dagmar Eichberger (Hrsg.), Women of Distinction. Margaret of York – Margaret of Austria. Ausstellungskatalog Mecheln 2005. Löwen 2005, Kat.-Nr. 24. Vgl. Kaiser Karl V. (1500–1558). Macht und Ohnmacht Europas. Ausstellungskatalog Kunsthistorisches Museum Wien 2000, hrsg. v. Wilfried Seipel. Mailand 2000, Nr. 78. Vgl. dazu noch immer Floridus Röhrig, Der Babenberger-Stammbaum im Stift Kloster-Neuburg. Wien 1975.
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Abb. 7 Hans Part (?), Babenberger-Stammbaum, dreiteiliges Flügelretabel, 1489–1492, Öl auf Holz, ca. 344 x 800 cm, Detail. Klosterneuburg, Stiftsmuseum
lerisch anspruchsvollste heraldische Monument, das die nordeuropäische Kunstgeschichte des Mittelalters kennt, zugleich aber auch das merkwürdigste in der sich sonst eher durch Eindeutigkeit und bildliche Präzision definierenden Heraldik. Es handelt sich dabei um eine 1453 datierte Bildhauerarbeit, vermutlich von dem aus Polen stammenden Peter von Pusika. Diese Wappenwand bildete neben der noblen Architektur der Georgskirche selbst, ihren Glasmalereien und Fresken, den Skulpturen und Altären das vornehmste Decorum eines umfangreichen Bauvorhabens, das nichts geringeres als die repräsentative Ausgestaltung des zeitweilig bevorzugten habsburgischen Residenzschlosses betraf, das seit der Kaiserkrönung Friedrichs III. 1452 nun auch imperialen Ansprüchen zu genügen hatte. Dabei ist unbedingt anzumerken, dass der ursprüngliche Gesamteindruck der Wappenwand infolge der farbigen Tingierung der Schilde und üppiger Teilvergoldungen ein unvergleichlich prachtvollerer gewesen sein muss, als die nivellierende Steinsichtigkeit heute ahnen lässt. Umso seltsamer muss der Umstand anmuten, dass dieser enorme Aufwand einer höchst zweifelhaften heraldisch-genealogischen Fiktion galt. Denn Tatsache ist, dass von den 107 kunstvoll gemeißelten Wappen nur jene 14, die sich unmittelbar um die leicht unterlebensgroße Standfigur Friedrichs gruppieren, reale habsburgische Herrschaften bezeichnen, die auch eindeutig zu erkennen sind. Die weit überwiegende Zahl von 93 Wappen zeigt jedoch Schilde, die lediglich einem kleinen Kreis hofnaher Eingeweihter bekannt sein konnten, da sie in der Realität nicht existierten. Sie folgen stattdessen einem nach heutigen Maßstäben höchst fragwür-
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Abb. 8 Peter von Pusicka, Wappenwand, 1453, Ostwand der Burgkapelle St. Georg in Wiener Neustadt
digen Wappenbuch Friedrichs und stellen letztlich so etwas wie eine phantastische Habsburger-Genealogie in Schildform dar, die das Herrschergeschlecht bis tief in die Zeiten des Alten Testaments hinabführen sollte.29 Diese Genealogie hatte zwar inhaltlich für Maximilian später keinerlei Bedeutung, aber es ist wohl kaum gering zu veranschlagen, dass der nachmalige Kaiser in Wiener Neustadt geboren und aufgewachsen ist, also buchstäblich im Schatten dieses erstaunlichen Kunstwerks. So mochte der Prinz auch ohne gezielte Erläuterungen eines Erziehers oder Herolds diesem Bildwerk eine der wesentlichsten Prämissen für seine eigenen genealogischen Unterfangen schon früh entnommen haben: Uralte Abkunft und Ehre des Hauses Habsburg konnten nur 29
Vgl. Thomas Schauerte, Heraldische Fiktion als genealogisches Argument. Anmerkungen zur Wiener Neustädter Wappenwand Friedrichs III. und zu ihrer Nachwirkung bei Maximilian, in: Beate Kellner/Jan-Dirk Müller/Peter Strohschneider (Hrsg.), Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext, Bd. 136). Berlin/New York 2011, 345–364.
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in der größtmöglichen Monumentalität und unübersehbaren Fülle dieser gemeißelten ‚Ahnenprobe‘ einen adäquaten Ausdruck finden; dabei dienten die Wappen offenbar nicht nur als statische Festschreibung von besessenen oder beanspruchten Territorien im herkömmlichen Sinne, sondern auch als Medium einer sehr exklusiven historischen Narration. Diese Aspekte können – soweit dies beim gegenwärtigen Forschungsstand zu erkennen ist – auch für das 16. Jahrhundert geltend gemacht werden. Doch werden nun keine derart monumentalen Großgenealogien in Malerei oder Skulptur mehr geschaffen, sondern man vertraute deren Aussage dem fast beliebig reproduzierbaren und leicht zu versendenden Medium Riesenholzschnitt an. Einige abschließende Beispiele mögen dies ausblickhaft skizzieren.
3. Genealogische Großdrucke des 16. bis 18. Jahrhunderts – ein Ausblick Es war nicht Maximilians genealogisch versierte Tochter Margarethe, sondern ihre Nichte und Nachfolgerin in der burgundischen Statthalterschaft, Maria von Ungarn, Enkelin des Kaisers, der die Kunstgeschichte einen ausgeprägten Nachfolger des Ehrenpforten-Stammbaums verdankt: Unter der Aufsicht des Diplomaten Cornelius de Schepper war der Auftrag an Robert Peril in Antwerpen ergangen, der im Jahre 1535 einen fast acht Meter langen Riesenholzschnitt vorlegen konnte, der Kaiser Karl – hier zuhäupten der Genealogie unter den Kurfürsten thronend – gewidmet war (Abb. 9).30 Vielleicht bezieht sich die Nachricht von zwei Stammbäumen, die etwa gleichzeitig – um 1535 − die Ratskammern der Städte Béthune und Besançon zierten31, auf dieses oder ein vergleichbares Werk, das den genealogisch deduzierten Anspruch der neuen Herrscher über das nun habsburgische Rest-Burgund veranschaulichen sollte. Es dürfte sich dabei um diplomatische Geschenke der Habsburger in einer politischen Situation gehandelt haben, die der propagandistischen Festigung bedurfte, und wirft damit ein kurzes Schlaglicht auf Anlass, Verteilung und Verwendung dieser Riesenwerke. Dies gilt auch für ein Beispiel vom Ausgang des 16. Jahrhunderts, die Genealogie der Braunschweiger Herzöge. Sie entstand wohl anlässlich der Hochzeit des Herzogs Heinrich Julius mit Elisabeth von Dänemark im Jahr 1590 und begleitet in der Erdgeschosshalle des Zeughauses in Wolfenbüttel – trotz ihrer Dimensionen eher diskret – den Eintritt in die dortigen Bibliotheksräume.32 Abgesehen davon, dass sie mit über 2,70 Meter Höhe fast schon die Dimensionen der Ehrenpforte erreicht, kann man nun zwar vom Riesenholz30
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Eva Irblich (Hrsg.), Thesaurus Austriacus. Europas Glanz im Spiegel der Buchkunst. Ausstellungskatalog Österreichische Nationalbibliothek. Wien 1996, Kat.-Nr. 33, 40. Georg Troescher, Deo et Caesaris fidelis perpetuo. Kaiserbilder und Reichssymbole in der westlichen Reichsromania. Brüssel 1943, 58. Konrad Horn/Franz Algerman/Georg Scharffenberger, Warhafftige und in bewerten Historien wolgegründete Genealogia oder Stambaum des (...) Hauses Braunschweig und Lüneburg (...). Wolfenbüttel 1584, Sign. Graph. A4:18. Vgl. dazu Christian Lippelt, „Gutte fromme oberherren...”. Bemerkungen zum Porträtstammbaum des Hauses Braunschweig-Lüneburg von 1584, in: Wolfenbüttel. Heimatbuch 2006, 11–17, ferner die hochaufgellöste Abb. unter http://diglib.hab.de/?grafik=grapha4–18.
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Abb. 9 Robert Peril, Stammbaum des Hauses Habsburg, Detail: Kaiser Karl V. im Kreise der Kurfürsten, 1535, Riesenholzschnitt von 21 Stöcken, ca. 810 x 54 cm (Ausschnitt)
schnitt nicht mehr im eigentlichen Wortsinne, aber doch als Gattungsbezeichnung sprechen, denn es handelt sich hier um einen Druck von sechs Kupferplatten auf Großfoliobögen. Hier sind es die zahlreichen Beschädigungen, Ausbleichungen und Verschmutzungen, die keinen Zweifel daran lassen, dass diese Arbeit auch schon vor ihrer Musealisierung jahrzehnte-, vielleicht jahrhundertelang Gemächer geschmückt haben wird, die aufgrund der erforderlichen Raumgröße im Umkreis höfischer oder städtischer Repräsentation zu suchen sein dürften. Im Sinne eines Ausblicks auf die Nachfahren des genealogischen Riesenholzschnitts mag die Spezies der Wappenkalender dafür stehen, dass es vergleichbares auch noch am Ende des Alten Reiches gegeben hat (Abb. 10). So steht etwa Christian Thomas Schefflers Kurkölnischer Wappenkalender von 1782, etwa anderthalb Meter hoch und von drei Kupferplatten gedruckt, in Konkurrenz zu gleichartigen Werken im Auftrag anderer großer Stiftskapitel und Konvente in Deutschland.33 Ebenso wie zuvor die Stammbäume können nun die Wappenfolgen der hochadeligen Kanoniker die Prädominanz und Altehrwürdigkeit des Kölner Kurfürstentums – nicht zuletzt gegenüber dem Erzbischof selbst34 – mit Hilfe einer ‚Überwältigungsästhetik‘ verdeutlichen, die gleichermaßen aus ihrer imposanten Größe im Verein mit der persuasiven Dichte komprimierter, heraldisch-genealogischer Information resultieren. 33
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Gedruckt bei Jacob Andreas Friedrich d. J., Nürnberg. 150 x 90 cm. Berlin, Deutsches Historisches Museum, Inv.-Nr. Gr. 2006/8. Vgl. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806, Ausstellungskatalog Berlin/Magdeburg 2006, hg. von Hans Ottomeyer/Jutta Götzmann/Ansgar Reiss. Dresden 2006, Nr. V.38. Erstmals seit 1583 hatte das Kapitel kein Mitglied des Hauses Wittelsbach, sondern mit Maximilian Friedrich von Königsegg einen Stiftsherrn aus den eigenen Reihen zum Erzbischof gewählt.
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Abb. 10 Christian Thomas Scheffler, Kurkölnischer Wappenkalender, 1782, Kupferstich von 3 Platten, ca. 150 x 70 cm, Berlin, Deutsches Historisches Museum
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Bezeichnenderweise verschwindet der eigentliche Hauptgegenstand des Blattes, der Kalender im Zentrum der Komposition, fast gegenüber der Fülle der beiden flankierenden Wappensuiten. Die genealogischen und heraldischen Großdrucke sind nicht in allen Fällen von erster künstlerischer Qualität und stammen dabei oft von Künstlern, die wenig oder überhaupt nicht bekannt sind. Hinzu kam, dass sie vielfach vernichtet wurden, wenn sie nach jahrzehnteoder gar jahrhundertelanger Hängung unansehnlich geworden waren. So wurden sie von der kunsthistorischen Forschung bisher eher zögerlich behandelt und haben weder in die verdienstvolle Übersicht Appuhns und von Heusingers 1976, noch in den reichhaltigen Katalog der Ausstellung am Wellesley College von 2008 Eingang gefunden.35 Derartige Großdrucke sind ein Forschungsgebiet, auf dem vielleicht die meiste Arbeit noch zu leisten sein wird. Ihr Gegenstand ist seiner Natur nach interdisziplinär und umschließt auch Randgebiete der sogenannten Historischen Hilfswissenschaften wie Heraldik, Paläographie und Sphragistik – Kenntnisse, die an deutschen Hochschulen derzeit eher auf dem Rückzug sind, was die Untersuchung dieser Spielart des Riesenholzschnitts nicht gerade einfacher gestaltet. Die Ausnahme – in ihrer Materialfülle und langen Vorgeschichte aber zugleich auch ein Sonderfall – ist Maximilians genealogie grande, die Ehrenpforte. Sie steht zwar immer noch als besonders imposantes Zeugnis dafür, dass die beeindruckendsten Vorbilder für die Gattung offenbar der habsburgischen Tradition der Jahrzehnte um 1500 entstammen; doch scheint es darüber hinaus noch Vieles und vielleicht auch manch Überraschendes zu entdecken zu geben. Was die technisch wie inhaltlich innovativen genealogischen Großdrucke für die Fragestellung nach den ‚neuen Modellen im alten Europa‘ so interessant macht, ist aber nicht zuletzt der hohe Legitimationsanspruch, der ihre massenhafte Verbreitung anscheinend erst ermöglichte: Bereits um 1500 begann Hans Wurm – der vermutlich seinerseits älteren, handschriftlichen, illuminierten Beispielen gefolgt sein dürfte – am bayerischen Herzogshof die neue Technik in größerem Maßstab anzuwenden, um damit den Ansprüchen der Genealogie als eines uralten, doch in stetem Wachsen begriffenen Gegenstands auch visuell gerecht zu werden. Der Professionalisierungsschub durch Kaiser Maximilian erfolgte dann als umfassender Rückgriff auf die alten, angestammten Amtsbereiche der Herolde, deren Rolle im Laufe des 16. Jahrhunderts dann – möglicherweise sogar in umgekehrter Proportionalität zur Verbreitung des genealogischen Holzschnitts – immer mehr abnimmt.36
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Vgl. Anm. 2. Vgl. dazu Thomas Schauerte, Der Herold an der Druckerpresse. Heraldische Tradition und Innovation in Kaiser Maximilians I. Gedächtniswerk, in: Gabriele Wimböck/Karin Leonhard/Markus Friedrich (Hrsg.), Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. (Pluralisierung & Autorität. Sonderforschungsbereich 573. Ludwig-Maximilians-Universität München, Bd. 9.) Berlin 2007, 135–160.
Wohnstätten für kluge und gebildete Regenten Schloss Albrechtsburg bei Meißen als Modell eines neuen Fürstenbildes um 1500 im Alten Reich Matthias Müller
Wenn der vorliegende Tagungsband ‚neue Modelle‘ im alten Europa untersucht und danach fragt, welche Verfahren und Formen die erklärtermaßen traditionsgeleiteten, mehrheitlich aristokratisch verfassten Gesellschaften der Frühen Neuzeit entwickelten, um einerseits innovative, auf Veränderung ausgerichtete Impulse zuzulassen, und andererseits das zerstörerische Potential, das einer jeden Innovation latent innewohnt, in seiner Wirkung zu zähmen und in das bestehende Ordnungs- und Ideengefüge zu integrieren, dann rückt unweigerlich der Schlossbau in den Blick. In der Frühen Neuzeit verkörperte ein Schloss neben der Kirche die höchste Form architektonischer Repräsentation von politischer wie gesellschaftlicher Macht, weshalb sich auch in seiner äußeren und inneren Gestalt in besonders sinnfälliger Weise die soeben angedeutete Spannung aus tradiertem System und innovativem Potential manifestieren konnte. Wer sich nun erhofft, aus der konkreten architektonischen Form eines Schlosses eine klare Aussage über die in der höfischen Gesellschaft wirksamen Anteile von Tradition und Innovation ablesen und gar den Grad an gesellschaftlicher Rück- oder Fortschrittlichkeit bemessen zu können, der sei jedoch gewarnt. Denn die Tücken einer jeglichen Lesbarkeit von Architektur liegen in dem künstlerisch-handwerklichen beziehungsweise konstruktiven Verfahren, das auch bei diesem Vorgang einer Manifestation von retardierenden, regressiven und innovativen, progressiven Normen und Vorstellungen im Schlossbau zur Anwendung kommt und das seine prägende Kraft sowohl bei der Baukonstruktion als auch bei den Bauformen entfaltet. Ein solches Verfahren, das nicht zuletzt von Handwerks- und Werkstättenoder Bauhüttentraditionen abhängt, folgt durchaus einer anderen Logik, als wir sie beispielsweise für Gesetzestexte und ihre normative Kraft voraussetzen dürfen. An ihr und an der Logik von Gesetzestexten partizipiert die Architektur eines Schlossgebäudes allerdings insofern, als sie sich diesen – abhängig vom kulturellen Anspruch und Niveau der Auftraggeber und ihrer Architekten – in bestimmten Grenzen von fest kodierten Zeichensystemen unterwerfen musste, wie sie seit der Frühen Neuzeit verstärkt in der höfischen wie architekturtheoretischen Traktatliteratur definiert und für die repräsentativen Aufgaben von Herrschaftsarchitektur rezipiert wurden.1 1
Siehe hierzu nach wie vor grundlegend Georg Germann, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie. 1. Aufl. Darmstadt 1980; sowie Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 1985. Zu den Ergebnissen der jüngeren Forschung speziell zur deutschen Architekturtheorie siehe nicht zuletzt Hubertus Günther, Die ersten Schritte in die Neuzeit. Gedanken zum Beginn der Renaissance nördlich der Alpen, in: Norbert Nußbaum/ Claudia Eußkirchen/Stephan Hoppe (Hrsg.), Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfän-
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Doch wir sollten die Wirksamkeit einer solchen in der höfischen Architektur enthaltenen beziehungsweise an sie herangetragenen Zeichenhaftigkeit nicht überschätzen, denn das in der Architektur wirksame künstlerische und handwerkliche Potential ist weitaus mehr als der Erfüllungsgehilfe einer übergeordneten politischen Zeichenhaftigkeit. Vielmehr äußern sich in den architektonischen Formen, jenseits einer normativen, auf Eindeutigkeit hin ausgerichteten Zeichenhaftigkeit, immer auch das kulturelle Selbstverständnis und die kulturelle Identität einer Gesellschaft und schließlich auch die konstruktiv-gestalterischen Vorstellungen und Prägungen der Baumeister und Architekten. Inwieweit die ausbildungsspezifische, werkstattgebundene Prägung der Baumeister nicht nur die Bautechnik und -konstruktion, sondern auch die formale Bauausführung bestimmte und damit auch auf die stilistische Gestaltungsweise Einfluss nahm, ist Gegenstand einer in der Forschung aktuell unter anderem durch Stefan Bürger und Bruno Klein angeregten Diskussion.2 Von der Beantwortung der darin aufgeworfenen Fragen hängt auch ab, welche Bedeutung wir dem höfischen Auftraggeber bei der Festlegung der architektonischen Gestalt und welche ikonographischen Qualitäten wir der höfischen Architektur zumessen dürfen. Diese grundlegenden kulturanthropologischen und künstlerisch-handwerklichen Faktoren hatten schließlich entscheidenden Einfluss auf das in der höfischen Architektur zur Anschauung gebrachte Verhältnis von Tradition und Innovation und bestimmten damit auch maßgeblich die Sichtbarkeit neuer kultureller beziehungsweise politischer Modelle in der per se konservativen höfischen Gesellschaft. Wenn beispielsweise architektonisch innovative Raumlösungen in einem stilistisch und handwerklich konservativen Gewand dargeboten oder altertümliche Architekturelemente mit Hilfe einer neuartigen Formensprache und Konstruktionsweise produziert werden3, dann stellt sich sogleich die Frage, welchen Anteil der bewusste Auftraggeberwille oder aber die handwerkliche Tradition am verwirklichten Ergebnis hatten. Somit erschließt sich oftmals nur dem Kenner das in der Architektur enthaltene Innovationspotential und das mit diesem möglicherweise zum Ausdruck gebrachte neue Modell höfischer Kultur. Das gilt auch für jenes neue Modell höfischer Kultur im Alten Reich, das ich in den Mittelpunkt dieses Beitrags stellen möchte. Es handelt sich um das Modell des „gebildeten Regenten“, dessen Postulierung für das Alte Reich in der Zeit um 1500 eine Neuerung darstellte.4 Mit dieser recht späten Etablierung eines Fürstenbildes, das neben die herrscherliche
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gen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und den Nachbargebieten um 1500. Köln 2003, 31–87; ders., La théorie de l‘architecture en Allemagne à la Renaissance, in: Sylvie Deswarte-Rosa (Hrsg.), Sebastiano Serlio à Lyon. Architecture et imprimerie. Bd. 1. Lyon 2004, 492–500. Für die fortgeschrittene Frühe Neuzeit siehe Ulrich Schütte, Ordnung und Verzierung. Untersuchungen zur deutschsprachigen Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts. Braunschweig 1986. Siehe darüber hinaus die anregenden Beiträge in Christiane Salge (Hrsg.), Architekturtraktate im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Beispiele aus der Rara-Sammlung der Kunsthistorischen Bibliothek. Ausstellungskatalog Wolfgang Beyrodt zum 60. Geburtstag. Berlin 2008. Siehe hierzu die Beiträge in Stefan Bürger/Bruno Klein (Hrsg.), Werkmeister der Spätgotik – Rolle und Position der Architekten im Bauwesen des 14. bis 16. Jahrhunderts. Darmstadt 2009. Siehe hierzu die Beispiele weiter unten. Siehe hierzu auch grundlegend im europäischen Vergleich Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hrsg.), Erziehung und Bildung bei Hofe. (Residenzenforschung, Bd. 13.) Stuttgart 2002. Zur Reflexion des „gebildeten“ und „klugen“ Regenten in der deutschen Residenzarchitektur des späten 15.
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Tugend der nicht zuletzt militärisch wirksamen ritterlichen Stärke zunehmend die Beherrschung der artes liberales – mit Grundkenntnissen in der Literatur, Philosophie, der Geschichtsschreibung und der Künste – als Merkmal einer Fürstenpersönlichkeit zur Ausübung einer Guten Regierung stellte, folgte die kulturelle Entwicklung im Alten Reich mit einigen Jahrzehnten Verspätung vor allem dem Vorbild Frankreichs. Hier war die Vorstellung von einem durch Bildung klugen und weisen Herrscher spätestens seit Christine de Pizans berühmter Biographie über Karl V., die 1404 erschien, zum allgemeingültigen Topos geworden, wie vor kurzem nochmals Bernd Carqué dargelegt hat.5 Durch seine prudence verband der französische König die traditionelle, auch schon Ludwig dem Heiligen zugestandene königliche Tugend der von Gott verliehenen Weisheit (sapientia) mit der intellektuellen Bildung in den Wissenschaften, die ihn dadurch zum Inbegriff eines princeps philosophus werden ließ. Im Unterschied zu Italien, wo bereits Dante und Petrarca das Ideal des durch die Wissenschaften kultivierten Herrschers propagiert hatten und vor allem Condottiere-Herrscher wie die Gonzaga, D’Este oder Montefeltre sich mit Hilfe des Ideals von arma et littera ihren Aufstieg von der Ebene der militärisch erfolgreichen Söldner in die Ränge des europäischen Hochadels erhofften6, konnte der französische König jedoch auf seinen im französischen Königtum beanspruchten, exklusiven Status als das irdische Abbild der göttlichen sapientia verweisen.7 Dieser besondere Status des französischen Königs blieb nun keineswegs auf die Panegyrik der Literatur – seien es die Dichtung oder die Regentenspiegel – beschränkt, sondern äußerte sich bekanntermaßen ebenso im Medium der Architektur. Es war Christine de Pizan selbst, die in ihrer Biographie Karls V. die Orte benannte, wo sich die prudence und die sapience des Königs sinnfällig manifestierten: in kleinen Studierräumen, sogenannten estudes, die sich bevorzugt in den Türmen der Donjons oder der Torhäuser befanden. Das anschaulichste Beispiel für diese besondere Raumfunktion und Raummetaphorik bietet sich nach den Beschreibungen Christines de Pizan in Schloss Vincennes (Abb. 1). Die hier im Mitteltrakt zwischen den beiden Tortürmen des zentralen Donjons und hoch oben im Donjon selbst angeordneten estudes8 bezeichnen nicht nur den abgeschiedenen Ort königlicher Studien, sondern verkörpern durch ihre markante Position an der Nahtstelle von Schloss und
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bis frühen 17. Jahrhunderts siehe Matthias Müller, Das Schloß als Bild des Fürsten. Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reichs (1470–1618). (Historische Semantik, Bd. 6.) Göttingen 2004. Bernd Carqué, Stil und Erinnerung. Französische Hofkunst im Jahrhundert Karls V. und im Zeitalter ihrer Deutung. Göttingen 2004, 156ff. Zu diesem Vorgang anhand der Kunstpolitik siehe Christine Brink, Arte et marte. Kriegskunst und Kunstliebe im Herrscherbild des 15. und 16. Jahrhunderts in Italien. (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 91.) München 2000. Dieser Status lässt sich bis ins hohe Mittelalter zurückverfolgen und führte beispielsweise bei Ludwig IX., dem Heiligen, nach dessen Erwerb der Dornenkrone Christi zum topischen Vergleich mit König Salomon. Zu einer entsprechenden Bemerkung des Erzbischofs von Sens, Gauthier Cornut, vgl. Gualterius Cornutus, Historia susceptionis Corone spinee, in: Comte Paul de Riant, Exuviae sacrae Constantinopolitanae. Bd. 1. Genf 1877, 51. Zur Lokalisierung dieser Räume (vor allem auch der estude im Donjon) vgl. zuletzt Ulrike HeinrichsSchreiber, Vincennes und die höfische Skulptur. Die Bildhauerkunst in Paris 1360–1420. Berlin 1997.
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Abb. 1 Schloss Vincennes, Ansicht des zentralen Donjons mit vorgelagertem Torhaus
Territorium nach den Worten Christine de Pizans die sapience und prudence des Königs in effigie. Unabhängig davon, ob dieser die Studierräume tatsächlich benutzte, postulierte allein ihr Vorhandensein den Anspruch des französischen Königs, ein rex sapiens zu sein, der das studium litterarum als irdische Quelle göttlicher Weisheit pflegte.9 An diesen Orten, so Christine de Pizan, wird die weise und kluge Regentschaft des Königs sichtbar, die es ihm ermöglicht, als garde-clef et fermeur die Schlösser, Städte und Dörfer seines Territoriums zu beschützen.10 Etwa 150 Jahre später sollte Franz I. die von Christine de Pizan vorgenommene Stilisierung Vincennes zum architektonischen Bild königlicher Weisheit aufgreifen und in Schloss Chambord (Abb. 2) mit der estude am nordwestlichen Turm und mit dem gläsernen
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Siehe hierzu und zur Bedeutung der Architektur für die Repräsentation der ideellen Grundlagen des französischen Königtums zur Zeit Karls V. auch Wolfgang Brückle, Civitas terrena. Staatsrepräsentation und politischer Aristotelismus in der französischen Kunst 1270–1380. München/Berlin 2005, 174ff. Zu Christine de Pizan und Vincennes siehe bes. 233–234. Der König sei, so Christine de Pizan, „conduiseur de son peuple et garde-clef et fermeure de chasteaux et citez et villez“ („ein weiser Führer seines Volkes und Schlüsselverwahrer und Torschließer der Schlösser, Städte und Dörfer“), vgl. Suzanne Solente (Hrsg.), Christine de Pisan, Le Livre des Fais et Bonnes Meurs du Sage Roy Charles V. Bd. 2. Paris 1936, 21ff., 27.
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Abb. 2 Schloss Chambord, Ansicht von Südwesten mit Studierraum des Königs (linker Pfeil) und Laterne mit Rückzugsraum an der Spitze des zentralen Wendeltreppenturms (oberer Pfeil)
Rückzugsraum an der Spitze des zentralen Wendeltreppenturms für den Topos des klugen und weisen Regenten ein gegenüber Vincennes nochmals gesteigertes Sinnbild schaffen.11 Auf eine solche Tradition einer Stilisierung des Herrschers zum gebildeten, klugen Regenten konnten sich die deutschen Fürsten und Könige zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht stützen, obwohl bereits Kaiser Karl IV. durch seine Prager Hofpoeten – möglicherweise in Nachahmung des französischen Vorbilds – seine Stilisierung zum Sinnbild des sage roi, des weisen Königs, vornehmen ließ.12 Doch dieser Versuch blieb ohne Nachfolge und fand auch – anders als in Frankreich – keinen direkten Niederschlag in der Architektur. Dafür wurde, wie Robert Suckale vor wenigen Jahren aufzeigen konnte, Peter Parler angehalten, im Medium der Skulptur ein ästhetisches Äquivalent für den Typus des weisen Herrschers zu entwickeln, dessen Ergebnis sich paradigmatisch in der berühmten Büste Karls IV. auf der Triforiumsgalerie des Prager Doms wiederfindet.13 Wenn daher im letzten Drittel des 15.
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Dass dieser Bezug tatsächlich gewollt und nicht nur das gedankliche Konstrukt der Kunstgeschichte darstellt, belegt die direkt aufeinanderfolgende bildliche Wiedergabe von Vincennes und Chambord in Ducerceaus Stichwerk zu den Plus excellents Bastiments de France von 1576. Darüber hinaus ließ Franz I. beide Schlösser nebeneinander in der Galerie de Cerf in Fontainebleau abbilden. Siehe hierzu Robert Suckale, Die Porträts Kaiser Karls IV. als Bedeutungsträger, in: Martin Büchsel/ Peter Schmidt (Hrsg.), Das Porträt vor der Erfindung des Porträts. Mainz 2003, 191–204. Suckale (wie Anm. 12) hat für die von Peter Parler geschaffene Büste Karls IV. erstmals die besondere Synthese aus kaiserlicher Individualisierung und einer hochgradigen Typisierung und Stilisierung ins Zentrum der Analyse gerückt und Bezüge zu den Beschreibungsnormen der kaiserlichen Hofpanegyrik (vor allem von Heinrich von Mügeln) hergestellt.
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Abb. 3 Meißen, Schloss Albrechtsburg, Ansicht von der Elbseite
Jahrhunderts in einem deutschen Schlossbau eine Raumlösung verwirklicht wurde, die in ihrer Grundkonzeption deutlich an die Tradition der französischen estudes erinnert, dann verdient dieser Vorgang besondere Beachtung. Da der Typus des Studierraums oder – neutraler formuliert – des kabinettartigen Rückzugsraums im hoch- und spätmittelalterlichen deutschen Schlossbau unbekannt beziehungsweise unüblich war,14 müssen wir die plötzliche Übernahme eines solchen Raumtyps in das Schloss eines deutschen Fürsten zunächst als innovativen Vorgang bewerten. Der Ort, in dem sich diese für das Reich innovative Raumlösung finden lässt, ist selbst eine Inkunabel deutscher Schlossbaukunst: Es ist Schloss Albrechtsburg oberhalb von Meißen (Abb. 3), das in den 1470/80er Jahren unter Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht von Sach-
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Stephan Hoppe, Die funktionale und räumliche Struktur des frühen Schloßbaus in Mitteldeutschland. Untersucht an Beispielen landesherrlicher Bauten der Zeit zwischen 1470–1570. Köln 1996, 456ff.
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Abb. 4 Meißen, Schloss Albrechtsburg, Kabinett- oder Studierraum im zweiten Obergeschoss des Kapellenturms
sen als Neubau der mittelalterlichen Markgrafenburg errichtet wurde. Hier findet sich im elbseitigen Kapellenturm im zweiten und dritten Obergeschoss jeweils ein abgeschiedener Raum (Abb. 3 und 4) mit weitem Ausblick ins umliegende Land und einer ausgesprochen aufwendigen architektonischen Ausstattung, bei der vor allem das auf dünnen Stützen in den Raum eingestellte Zellengewölbe ins Auge fällt. Das Besondere an diesen beiden Turmräumen ist aber nicht nur ihre Lage und Ausstattung, sondern auch ihre Verbindung zu den beiden fürstlichen Appartements, deren strukturelle Rekonstruktion wir den Forschungen Stephan Hoppes verdanken.15 Denn der Zugang zu den beiden Turmräumen war nur aus diesen Appartements aus möglich, so dass sie auch ausschließlich von den Bewohnern dieser Räumlichkeiten genutzt werden konnten. Innerhalb der Appartementfolgen in Schloss Albrechtsburg stellen die beiden Turmräume absolute Ausnahmen dar, was sowohl ihre eigene Exklusivität als auch die Exklusivität der beiden fürstlichen Appartements unterstreicht. Sehr 15
Hoppe, Schloßbau (wie Anm. 14).
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Abb. 5 Meißen, Schloss Albrechtsburg, Ansicht von der Hofseite
wahrscheinlich sollte Schloss Albrechtsburg noch einen weiteren exklusiven Rückzugsraum erhalten, der dann aber wegen der Ende des 15. Jahrhunderts erfolgten Bauunterbrechung zunächst nicht zur Ausführung gelangte.16 So deutet eine in der Mauer verlaufende Treppe, die im Dachgeschoss der Albrechtsburg vom Vorraum vor dem Großen Wendelstein in das zweite Dachgeschoss hinaufführt, darauf hin, dass bereits in der Ursprungsplanung der große, repräsentative Treppenturm mit einer nur über einen separaten Aufgang zugänglichen Turmstube ausgestattet werden sollte, so wie sie dann im 19. Jahrhundert auch verwirklicht wurde (Abb. 5).17 16
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Siehe zuletzt Günter Donath, Neuere Ergebnisse der bau- und kunsthistorischen Forschung am Großen Wendelstein der Albrechtsburg in Meißen, in: Stefan Bürger/Bruno Klein (Hrsg.), Werkmeister der Spätgotik. Personen, Amt und Image. Darmstadt 2010, 293–319. Der heutige Turmabschluss stellt eine freie Vollendung des 19. Jahrhunderts dar, die sich allerdings auf einen provisorischen Vorgänger aus dem 16./17. Jahrhundert berufen kann. Wie Abbildungen des 17. und 18. Jahrhunderts belegen, gehörte ein abschließender – wenn auch sichtlich provisorischer –
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Typologisch und funktional ähneln die hier zu beobachtenden Raumanordnungen recht genau denjenigen in den französischen Schlossbauten, wo zum Beispiel in Vincennes (vgl. Abb. 1), Blois oder Chambord (vgl. Abb. 2) die estudes oder Rückzugsräume ebenfalls mit den Wohnräumen des Königs verbunden waren beziehungsweise – wie bei den Treppentürmen des Ludwig-Flügels in Blois oder der Laterne des Treppenturms von Chambord (vgl. Abb. 2) – nur über eine eigene, verschließbare Treppenanlage zugänglich waren.18 Als offensichtlich französisch inspirierte Raumtypen ergänzen die Rückzugsräume damit das Set an französischen Architekturelementen, die auch an anderer Stelle bei Schloss Albrechtsburg zur Anwendung gelangten; dazu gehören in besonderer Weise die markanten Lukarnen auf den Dächern. Doch anders als in Frankreich verfügen wir für Schloss Albrechtsburg über keinerlei schriftliche beziehungsweise quellenkundliche Hinweise, die uns die Funktion oder ikonographische Bedeutung der exklusiven Turmräume im Neubau des kursächsischen Residenzschlosses erklären helfen. Zumindest für Schloss Albrechtsburg sind wir daher auf Vermutungen angewiesen, die sich allerdings erhärten lassen, wenn wir Beispiele für ähnliche Raumtypen in zeitgleichen oder wenig später entstandenen sächsischen Residenzschlössern berücksichtigen. Unter ihnen sind besonders Wittenberg und Torgau zu nennen. So befanden sich im 1485 begonnenen Wittenberger Residenzschloss unter den Dächern der beiden großen, landseitigen Ecktürme gesonderte Räume mit weiten Ausblicken, die im Wittenberger Schlossinventar von 1539 ausdrücklich als fürstliche „Studierstube“ und „Drechselstube“ bezeichnet werden.19 Wie Dirk Syndram aufzeigen konnte, diente die Drechselstube bereits Kurfürst Friedrich dem Weisen zur Aus-
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Turmraum mit darüber ansetzendem Zeltdach spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Bestand des Großen Wendelsteins. Siehe z. B. eine Lithographie der Albrechtsburg von 1653 (Abb. in: Ursula Czeczot, Die Meißener Albrechtsburg. Wegweisende Bauleistung an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Leipzig 1975, 27, Abb. 3) aus der Zeit der Wiederherstellung der Albrechtsburg nach dem Dreißigjährigen Krieg. Möglicherweise wurden aber lediglich die kriegszerstörte Zeltdachkonstruktion und -bedachung wiederhergestellt, da nicht zwangsläufig auch der steinerne Unterbau unbrauchbar gewesen sein muss. Von daher ist es gut möglich, dass der im 19. Jahrhundert beseitigte Unterbau des abschließenden Turmhelms mit der darin befindlichen Turmstube bereits aus dem 16. Jahrhundert stammte. Der älteste erhaltene Holzschnitt mit der elbseitigen Ansicht von Stadt und Burgberg Meißen aus dem Jahr 1558 [Meißen, Stadtarchiv; Abb. in: Czeczot, Albrechtsburg (wie Anm. 17), 17, Abb. 1.] zeigt zumindest ein spitzaufragendes Zeltdach als Abschluss des Großen Wendelsteins. Unabhängig von der Datierungsfrage belegt die schlichte Gestaltung des Mauerwerks der Turmstube (vgl. Lithographie von 1653), das in einem deutlichen Gegensatz zu den darunterliegenden Turmgeschossen steht, dass die alte Turmstube des Großen Wendelsteins nur eine provisorische Lösung darstellte. Zum Architekturkonzept der Wendelsteine von Meißen und Torgau, zu ihrer Ikonographie und den möglichen Bezügen zur Treppenbaukunst des französischen Schlossbaus siehe Matthias Müller, Capriccio oder Politikum? Überlegungen zu ungewöhnlichen Treppentürmen an deutschen und französischen Renaissanceschlössern, in: Die Künste und das Schloß in der frühen Neuzeit, hrsg. vom Thüringer Landesmuseum Heidecksburg Rudolstadt durch Lutz Unbehaun unter Mitarb. von Andreas Beyer und Ulrich Schütte. (Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur, Bd. 1.) München/ Berlin 1998, 131–149. Wittenberger Schlossinventar von 1539 (Inv. 1539, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, EGA, Reg. Bb. 2818c, fol. 12r u. 13v). Vgl. hierzu auch die Innenraumrekonstruktionen von Hoppe, Schloßbau (wie Anm. 14), 119ff.
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übung der ausgesprochen symbolträchtigen Kunst des Drechslerhandwerks, das sich unter den Händen des Fürsten zu einem Sinnbild für die fürstliche Kunst des geschickten und klugen Regierens wandelte.20 Im Torgauer Schloss existierten ursprünglich drei solcher fürstlichen Rückzugsräume als krönender Abschluss von repräsentativen Treppentürmen. Der eine Raum lässt sich bis heute an der Spitze des berühmten Großen Wendelsteins am Neuen Saalbau besichtigen, während die anderen Räume zu einem im 18. Jahrhundert durch Brand zerstörten Treppenturm21 vor dem alten Hofstubenbau (im heutigen Kapellenflügel) sowie zum Wendelstein am alten Fürstenhaus (sog. Flügel D) gehörten. Auch wenn wir in der Forschung noch nicht die ganze Rezeptionsgeschichte dieser aus Frankreich übernommenen Tradition fürstlicher Studierstuben und Rückzugsräume überblicken, so bleibt doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt festzuhalten, dass der Impuls für dieses im Alten Reich innovative Modell einer die prudence des Herrschers visualisierenden Architektur in erster Linie vom wettinischen Fürstenhaus ausging. Dem hiermit durch den wettinischen Schlossbau neu gesetzten Standard folgten seit den 1530er Jahren bis zum Ende des 16. Jahrhunderts unter anderem die Kurfürsten von Brandenburg (um 1539 Turmstube auf dem Großen Wendelstein des Berliner Schlosses), die Herzöge von Braunschweig-Celle (um 1540/50 Turmstube über dem Kapellenturm des Celler Schlosses22), die Herzöge von Mecklenburg (nach 1558 separater ofenbeheizter Raum an der Spitze des Güstrower Schlosstreppenturms) und die Grafen zur Lippe (nach 1584 Studierraum Simons VI. im Turm von Schloss Brake23). Diese vor allem zwischen etwa 1470 und 1550 ausgeübte Führungsrolle der Wettiner im Schlossbau des Alten Reichs ist kein isolierter Vorgang, sondern fügt sich konsequent in das Bild ein, dass wir für die Wettiner auch auf anderen Gebieten fürstlicher Macht und Kultur zeichnen können. Als sächsische Kurfürsten und Herzöge standen sie nicht nur in einer besonderen Nähe zum habsburgischen Kaiserhaus, das unter Friedrich III. und Maximilian I. selbst zu einer führenden kulturellen Größe im Alten Reich werden sollte, und dem burgundischen Hof, der im 15. Jahrhundert eine der kultiviertesten Hofhaltungen Europas besaß, sondern pflegten auch besonders intensive Beziehungen zum französischen Königshaus, an dessen Hof die Wettiner traditionell ein dichtes Netzwerk von Gesandtschaftsbeziehungen
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Klaus Maurice, Der drechselnde Souverän. Materialien zu einer fürstlichen Maschinenkunst. Zürich 1985; Dirk Syndram, Die Elfenbeindrechseleien im Grünen Gewölbe – Von der Maschinenkunst zum fürstlichen Sammlungsgegenstand, in: Brigitte Dinger/Dirk Syndram (Hrsg.), Wiedergewonnen: Elfenbein-Kunststücke aus Dresden. Eine Sammlung des Grünen Gewölbes. Ausstellungskatalog. Erbach/Odw. 1995, 6–13. Dieser Wendeltreppenturm besaß laut einem Inventar aus dem 16. Jahrhundert ebenfalls eine Drechselstube, die möglicherweise sogar auf eine Vorgängerin aus dem späten 15. Jahrhundert zurückging, vgl. Hoppe, Schloßbau (wie Anm. 14), 459. Siehe hierzu Thorsten Albrecht, Die Hämelschenburg. Ein Beispiel adliger Schloßbaukunst des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts im Weserraum. (Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland, Bd. 13.) Marburg 1995, 255 mit Anm. 842. Zur Architektur und zum Raumprogramm des Braker Schlossturms siehe José Kastler, Der Schloßturm in Brake als öffentliche und private Architektur, in: Renaissance im Weserraum. Ausstellungskatalog Lemgo. München 1989, 113–127, sowie auf der Grundlage neuer bauarchäologischer und quellenkundlicher Ergebnisse Heinz Sauer, Burg und Schloss Brake. 1000 Jahre Baugeschichte. Lemgo 2002, 214–237.
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unterhielten.24 Von daher ist es kaum verwunderlich, dass ausgerechnet in der kleinen Residenzstadt Wittenberg unter Friedrich dem Weisen und seinen Nachfolgern, Johann dem Beständigen und Johann Friedrich dem Großmütigen, eine Hof- und Stadtkultur gefördert und entwickelt wurde, die im damaligen Alten Reich zunächst nur mit dem Wiener beziehungsweise Innsbrucker Hof der Habsburger und dem Hof des geistlichen Kurfürsten Albrecht von Brandenburg in Halle ernsthafte Konkurrenten besaß. Noch vor vergleichbaren Entwicklungen bei den Wittelsbachern in Heidelberg, Neuburg an der Donau, Landshut und München, oder den Landgrafen von Hessen in Marburg und Kassel werteten die sächsischen Kurfürsten Wittenberg zu einer humanistisch geprägten Residenz- und Universitätsstadt auf, an deren Fürstenhof – neben dem Hofbaumeisteramt – auch erstmals ein Hofkünstleramt nach quasi italienischem Vorbild etabliert und seit 1505 mit dem in seiner Zeit bedeutendsten deutschen Hofkünstler, Lucas Cranach d. Ä., besetzt wurde.25 Da diese Ausprägung einer vor allem mit den italienischen Höfen und begrenzt auch mit dem burgundischen Hof vergleichbaren Hof- und Stadtkultur mit einem prononciert humanistisch inspirierten intellektuellen Klima in Wittenberg ein eigenes Thema darstellt, sei hier nur kurz darauf verwiesen.26 Dieses Thema hat allerdings insofern mit den sich im Reich etablierenden Studierräumen zu tun, als in einem Teil von ihnen formgestalterische Phänomene zu beobachten sind, die sich nur schwer ohne die in Wien, Wittenberg und Halle geführten humanistischen Diskurse erklären lassen. Damit sei der Blick nicht nur wieder zurück auf das Phänomen der Studierbeziehungsweise Rückzugsräume im deutschen Schlossbau um 1500 gelenkt, sondern ebenso auf die eingangs gestellte Frage, in welchem Verhältnis bei der Wahl architektonischer Typen und Formen der bewusst artikulierte, intellektuell bestimmte Auftraggeberwille zur tradierten und in der Person des Baumeisters verkörperten Werkstatt- oder Handwerkstradition steht. Für unser Thema, das Verhältnis von alten und neuen Modellen höfischer Kultur, ist dabei wiederum die Situation in Schloss Albrechtsburg von Interesse, dessen Turmräume ja gewissermaßen die Inkunabeln des in der Schlossarchitektur ansichtig werdenden neuen Modells fürstlicher Bildung bzw. gebildeter fürstlicher Regierungskunst darstellen (Abb. 4). Möglicherweise, und dies gilt es im Folgenden zu erörtern, lässt sich
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Für die Zeit der Gründungsväter der beiden wettinischen Linien der Ernestiner und Albertiner siehe hierzu André Thieme, Herzog Albrecht der Beherzte im Dienste des Reiches. Zu fürstlichen Karrieremustern im 15. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Herzog Albrecht der Beherzte. Ein sächsischer Fürst im Reich und in Europa (1443–1500). (Quellen und Materialien zur Geschichte der Wettiner, Bd. 2.) Köln/Weimar/Wien 2002, 73–102; Karlheinz Blaschke, Herzog Albrecht der Beherzte, Ein sächsischer Fürst im Reich und in Europa, in: Albrecht der Beherzte (wie oben), 13–26. Für die spätere Zeit siehe Ingeborg Ludolphy, Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen (1463–1525). Göttingen 1984 (unveränd. Neuaufl. Leipzig 2006), wo die vielfältigen Kontakte zwischen Friedrich dem Weisen und dem französischen König belegt werden. Zu diesen Entwicklungen am kursächsischen Hof siehe Barbara Marx, Kunst und Repräsentation an den kursächsischen Höfen, in: Dies. (Hrsg.), Kunst und Repräsentation am Dresdner Hof. München/Berlin 2005, 9–39. Siehe hierzu Matthias Müller, Im Wettstreit mit Apelles. Hofkünstler als Akteure im Austausch- und Konkurrenzverhältnis europäischer Höfe zu Beginn der Frühen Neuzeit, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hrsg.), Vorbild, Austausch, Konkurrenz. Höfe und Residenzen in der gegenseitigen Wahrnehmung. (Residenzenforschung, Bd. 23.), Ostfildern 2010, S. 173–191.
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anhand der konkreten formalen Gestaltung der Meißener Studierräume belegen, dass sich der Topos des gebildeten, klugen Fürsten in Meißen nicht allein im Vorhandensein von Studierräumen manifestiert, sondern in der Wahl der Architekturformen und ihrer Systematik darüber hinaus die Programmatik eines gelehrten Diskurses an den nordalpinen Fürstenhöfen jener Zeit anschaulich gemacht werden sollte. Wenn wir angesichts der Studierräume in Schloss Albrechtsburg nicht mehr allein dem damals innovativen Raumtypus der estude Beachtung schenken, sondern ebenso seine architektonische Ausgestaltung berücksichtigen, dann werden wir bei näherer Betrachtung eine Diskrepanz bemerken, die sich zwischen dem innovativen Raumtypus und seiner architektonischen Form auftut. Beide im elbseitigen Kapellenturm gelegenen Studier- beziehungsweise Rückzugsräume sind mit einer zur Entstehungszeit außergewöhnlichen Gewölbeform – den sogenannten Zellengewölben – ausgestattet, deren dünne Stützen auf nicht minder auffällig gestalteten kantig-abgefasten Sockeln aufsitzen (Abb. 4). Auf den ersten Blick erscheint dieses frei in den Raum eingestellte Zellengewölbe, dessen konstruktiver und technischer Aufwand beträchtlich war, höchst innovativ zu sein und stellt mit seiner Verwendung in Schloss Albrechtsburg eine in ihrer Zeit singuläre, exklusive architektonische Form dar, sehen wir einmal vom wenig früheren ‚Probestück‘ im Hohen Haus des ebenfalls sächsischen Schlosses Rochlitz ab.27 Außer in den beiden Studierräumen finden wir die Gewölbeform in Schloss Albrechtsburg in verschiedenen Repräsentationsräumen sowie im Treppenturm, dem sogenannten Großen Wendelstein (Abb. 6), an der Hoffassade. Nicht ohne Grund hat die Forschung die in ihrer räumlichen Wirkung durchaus spektakulären Zellengewölbe gerne als Inbegriff der Innovationskraft des ausführenden Baumeisters Arnolds von Westfalen bewertet.28 Doch auf den zweiten Blick treten Zweifel an einer solchen eindimensionalen, fortschrittsorientierten stilgeschichtlichen Sichtweise auf. Die Zweifel gelten dabei weniger der unbestrittenen Innovationskraft Arnolds von Westfalen, als vielmehr der Behauptung, dass die Formgebung der Zellengewölbe und kantig-abgefasten Sockelprofile nicht nur konstruktiv, sondern auch in ihrer Grundform beziehungsweise von ihrer formalen Grundidee her als innovativ aufzufassen seien. Solche Zweifel sind nicht wirklich neu, sondern wurden bereits vor mehr als dreißig Jahren von Kunsthistorikern, wie Heinrich Magirius oder Hermann Meuche29, in der
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Siehe hierzu Stefan Reuter, Bautätigkeit auf Schloss Rochlitz in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Schlossbau der Spätgotik in Mitteldeutschland, Jahrbuch, hrsg. von der Verwaltung Staatliche Schlösser, Burgen und Gärten Sachsens. Dresden 2007, 146–154. Siehe hierzu zuletzt Stefan Bürger, Rezipierend und initiierend: die Baukunst Arnold von Westfalens und ihre Neubewertung im mitteleuropäischen Kontext, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 71, 2008, 497–512; ders., Innovation als Indiz. Oeuvre und Ära der Amtszeit Arnold von Westfalens (1461/71 bis 1481), in: Werkmeister der Spätgotik (wie Anm. 16), 171–192. Heinrich Magirius, Die Albrechtsburg und die spätgotische Architektur in Obersachsen, in: Hans-Joachim Mrusek (Hrsg.), Die Albrechtsburg zu Meißen. Leipzig 1972, 67–83, hier 71; Hermann Meuche, Die Zellengewölbe und die Albrechtsburg, in: Mrusek, Albrechtsburg (wie oben), 56–66, hier 56. Heinrich Magirius hat seine wichtigen Beobachtungen in jüngeren Beiträgen leider nicht mehr thematisiert und – so der äußere Eindruck – sogar vollkommen ausgeblendet. So verweist er in seinem jüngeren Beitrag zu „Schlossbauten der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Obersachsen – Traditionen und Innovationen“ [in: Schlossbau der Spätgotik (wie Anm. 27), 11–30, hier 22–23.] ausschließlich auf die spätgotischen Vorbilder des 14. und 15. Jahrhun-
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Abb. 6 Meißen, Schloss Albrechtsburg, Inneres des großen Treppenturms mit offener Treppenspindel und Zellengewölben
damaligen DDR oder, in jüngerer Zeit, von Milada Radová-Stiková in Prag30 geäußert und erst kürzlich durch Stephan Hoppe wieder in Erinnerung gerufen.31 Ihr Hinweis, dass die scharfkantig aneinandergesetzten Gewölbekappen, denen jegliche für die damals fortschrittliche spätgotische Gewölbetechnik charakteristische Rippenbildung fehlt, eigentlich eher romanischen Gewölbeformen – so vor allem den romanischen Gratgewölben – ähnelten als
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derts und erwähnt die bis in die Romanik zurückreichende Tradition der Formbildung mit keinem Wort. Milada Radová/Oldřich Rada, Das Buch von den Zellengewölben. Prag 2001; Milada Radová, Zellengewölbe, in: Ecclesia Misnensis. Jahrbuch des Dombau-Vereins Meißen 2002, 131–141. Stephan Hoppe, Die Albrechtsburg zu Meißen als Beispiel eines retrospektiven Architekturstils? Beobachtungen zu möglichen Wechselwirkungen zwischen Architektur und Bildkünsten im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, in: Schlossbau der Spätgotik (wie Anm. 27), 64–74.
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Abb. 7 Meißen, Schloss Albrechtsburg, Mittelpfeiler im großen Festsaal
gotischen, blieb jedoch ungehört. Gleiches gilt für den Hinweis auf den motivischen Ursprung der auffälligen Form der Pfeilersockel in den Studierstuben der fürstlichen Appartements (Abb. 4), die sich darüber hinaus auch an den Fenstersockeln im Großen Wendelstein (Abb. 6) und an den Pfeilern des großen Festsaals (Abb. 7) wiederfinden. Ihr abgefastes und (mit Ausnahme der Studierstuben) zugleich gedrehtes Profil erinnere laut Heinrich Magirius und Hermann Meuche stark an jenes gedrehter romanischer Säulen, so wie sie beispielsweise im Kreuzgang der Abtei von Königslutter (Abb. 8) zu betrachten sind. Umso bemerkenswerter ist daher im Großen Festsaal von Schloss Albrechtsburg (Abb. 7) die Kombination der romanisierenden Pfeilersockel mit gotischen Rippengewölben, was in der Literatur bislang nicht thematisiert wurde und hier auch nur am Rande bemerkt werden soll.32 32
Auch Stephan Hoppe geht in seinem wichtigen Aufsatz [Hoppe, Albrechtsburg (wie Anm. 31)] auf diese formgeschichtlich bemerkenswerte Verbindung von romanisierenden Pfeilersockeln und konstruktiv als Zellengewölbe ausgeführten, jedoch zusätzlich mit Rippen versehenen Gewölben nicht näher ein.
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Wie aber sollen wir das in Schloss Albrechtsburg zu besichtigende Phänomen einer konstruktiv zwar innovativen, formal jedoch eher retrospektiven Architekturgestaltung kunsthistorisch und historisch angemessen bewerten? Hier stehen wir erneut vor dem Problem, über keine Schriftquellen zu verfügen, die uns für den konkreten Fall näheren Aufschluss geben. So sind wir – wie so oft – auf Analogieschlüsse angewiesen, die nicht allein inhaltlich-ikonographische Gesichtspunkte berücksichtigen dürfen, sondern zudem die jüngst wachsenden Kenntnisse über die Gewichtigkeit von Baumeisterausbildung, Werkstatttraditionen und innovativer Bautechnologie für die Formfindungsprozesse im Alten Reich in Rechnung stellen müssen. Stefan Bürger schildert die Verhältnisse des deutschen Bauwesens um 1500 als derart komplex und hoch spezialisiert, dass es selbst für fürstliche Auftraggeber nur noch schwer möglich gewesen sei, die in den ‚Konstruktionsbüros‘ deutscher Bauhütten ausgetüftelten Bau- und Gewölbeformen zu verstehen, geschweige denn darauf Einfluss zu nehmen.33 Dafür konnte sich der fürstliche Bauherr nach Ansicht Bürgers aus einer Vielfalt von gestalterischen und konstruktiven „Manieren“ eine den fürstlichen Ansprüchen genügende Lösung aussuchen, ähnlich wie es später die Kataloge historistisch entwerfender Architekturbüros des 19. Jahrhunderts ermöglichten. Welche Konsequenzen hätte eine solche Annahme für die Deutung des von uns beobachteten Phänomens der Zellengewölbe? Die Konsequenz wäre die Bewertung dieser besonderen Gewölbeform als Ergebnis eines baumeisterlichen und bauhüttengebundenen Personalstils, der letztlich keine tiefer gehenden inhaltlichen Vorstellungen und kulturgeschichtlichen Ideen verbildlichen würde. Die solchermaßen produzierte ästhetische Form wäre zwar intellektuell durchaus anspruchsvoll, doch lediglich auf der Ebene einer konstruktivkünstlerischen Intellektualität des entwerfenden Baumeisters. Auf unser konkretes Beispiel, die Zellengewölbe in Schloss Albrechtsburg, bezogen, würde dies bedeuten, dass der entwerfende wettinische Hofbaumeister, Arnold von Westfalen, dem sächsischen Fürstenhaus einen ästhetisch und konstruktiv anspruchsvollen und zugleich exklusiven Gestaltungsvorschlag unterbreitet hätte und dieser Vorschlag dann von den fürstlichen Bauherren im Sinne einer exklusiven High-Tec-Ästhetik akzeptiert wurde, durch deren Wirkung sie sämtliche höfischen Konkurrenten im Alten Reich auf dem Gebiet architektonischer Prachtentfaltung deklassieren konnten. Dieses hier auf der Basis von Bürgers Argumenten entworfene Szenario trifft einen wesentlichen Aspekt der Genese der Zellengewölbe im sächsischen Schlossbau. Unbefriedigend bleibt dabei jedoch die Art und Weise, wie die Frage nach der Architektursemantik beantwortet und letztlich marginalisiert wird. Denn wenn wir uns erneut das Hauptthema meines Beitrags, den gebildeten Fürsten und seine Visualisierung in der Architektur, in Erinnerung rufen, dann müssen nicht nur bekennende Ikonologen, sondern auch bekennende Gegner ikonologischer Spekulationen unbefriedigt bleiben, wenn nach dem von Bürger mit viel Scharfsinn entwickelten Modell der gebildete fürstliche Bauherr nicht dazu in der Lage 33
Siehe zuletzt Stefan Bürger, In welchem Stil können sie bauen? – Bauorganisatorische und methodische Überlegungen zur Baukunst des frühen 16. Jahrhunderts, in: Franz Jäger/Anke Neugebauer (Hrsg.), Auff welsche Manier gebauet. Zur mitteldeutschen Architektur der Frührenaissance (Hallesche Beiträge zur Kunstgeschichte, Bd. 10), Bielefeld 2010, S. 33–57. Stefan Bürger danke ich herzlich für die Überlassung seines Manuskriptes vor Drucklegung des Bandes.
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Abb. 8 Königslutter, Abteikirche, gedrehte Säulen im Kreuzgang
gewesen sein sollte, neben der konstruktiv-gestalterischen Manier auch die in der architektonischen Gestaltungsweise rezipierten historischen Vorbilder zu würdigen. Oder anders formuliert: Wenn Arnold von Westfalen für das kosmopolitisch und humanistisch gebildete Fürstenpaar Ernst und Albrecht von Sachsen gegen 1471 eine Gewölbeform entwirft, die bei aller Innovationskraft doch zugleich unverkennbar in ihrem formalen Erscheinungsbild der damals aktuellen Architektur widerspricht und dafür die Traditionskraft romanischer, d. h. altehrwürdiger Architektur evoziert, dann kann diese architekturgeschichtliche Dimension auch dem Fürstenpaar kaum verborgen geblieben sein. Diese Feststellung gilt natürlich vice versa auch für den Baumeister Arnold von Westfalen. Wenn Heinrich Magirius, Hermann Meuche und zuletzt auch Stephan Hoppe – nach meiner Ansicht vollkommen zutreffend – postulieren, dass sich die Zellengewölbe und Sockelprofile in ihrer Systematik wie Ästhetik auf Leitformen romanischer Architektur zurückführen lassen, dann stellt damit auch der entwerfende Baumeister ein hohes Reflexionsvermögen gegenüber einer älteren deutschen Baukunst unter Beweis. Denn genau dieses romani-
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Abb. 9 Jan van Eyck, Madonna des Kanonikers Paele, um 1435, Brügge, Groeningemuseum
sierende ästhetische Erscheinungsbild mit seinen scharfen Graten und hart voneinander abgesetzten Flächen widersprach fundamental der um 1500 dominierenden und im damaligen Baubetrieb praktizierten Spätgotik mit ihren geometrisch definierten Kurvaturen. Besonders gut lässt sich dies bei der Gewölbebildung im Großen Wendelstein beobachten, wo das gotische Element der Rippe neben dem Zellengewölbe nur im Bereich der Treppenspindel (Abb. 6) erscheint. Dort wird die Rippe eindeutig als Teil des Stabwerks der filigranen Treppenspindel und nicht des Gewölbes definiert, wodurch sich ihre Verwendung als sehr gezielt erweist. Wie wenig der Gedanke an romanische Reminiszenzen nur Spekulation bleiben muss, zeigen vorangehende bzw. parallele Phänomene in der altniederländischen und altdeutschen Malerei, die Stephan Hoppe in seinen jüngeren Studien zum Verhältnis von humanistischem Architekturdiskurs und gemalter Architektur genauer analysiert hat.34 So
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Stephan Hoppe, Romanik als Antike und die baulichen Folgen. Mutmaßungen zu einem in Vergessenheit geratenen Diskurs, in: Wege zur Renaissance (wie Anm. 1), 89–131; ders., Albrechtsburg (wie Anm. 31). Darüber hinaus hat Hoppe seine Habilitationsschrift zur Antizipation architektonischer Formen der Architektur um 1500 in der Malerei an der Universität Köln abgeschlossen. Hoppe greift hier Beobachtungen und Anregungen aus der älteren Kunstgeschichtsschreibung auf, wo vor allem Werner Körte (Die Wiederaufnahme romanischer Bauformen in der niederländischen und deut-
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Abb. 10 Robert Campin (Werkstatt), Altar des Stabwunders und der Vermählung Mariae, um 1440 (?), Madrid, Prado
werden beispielsweise in Jan van Eycks Madonna des Kanonikers Paele (1435) (Abb. 9) im Umgang des Thronsaals unverkennbar ein romanisches Kreuzgratgewölbe gezeigt und in der Darstellung der Vermählung Mariens aus der Werkstatt Robert Campins (um 1440?) (Abb. 10) die Kuppelstützen des Jerusalemer Tempels als ornamentierte und teilweise gedrehte romanische Säulen dargestellt.35 Dazu steht die spätgotische Architektur der rechts sichtbaren Portalanlage des neuen Tempels, der noch im Bau ist und als Ort der Vermählung
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schen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts, Wolfenbüttel 1930) und Erwin Panofsky (Erwin Panofsky, Die Altniederländische Malerei: ihr Ursprung und Wesen, übers. und hg. von Jochen Sander und Stephan Kemperdick, Köln 2001, Bd. 1, 143f.) die Romanik-Rezeptionen erstmals beschrieben und thematisiert haben. Die notwendige architektursystematische Analyse dieses Phänomens in der Malerei war jedoch nicht Gegenstand dieser älteren Arbeiten. Stephan Hoppe danke ich herzlich für die zahlreichen Gespräche zu diesem Thema. Auf diese Bildbeispiele weist auch Stephan Hoppe in seinem zitierten Aufsatz [Hoppe, Albrechtsburg (wie Anm. 31)] hin.
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Mariens ausgewiesen wird, in sinnfälligem Kontrast. Die zunächst in der Malerei entwickelten und geführten Diskurse über einen älteren, romanisierenden Architekturstil erreichten schließlich auch die gebaute Architektur: Ein Beispiel hierfür befindet sich auf der Feste Hohensalzburg (Abb. 11), wo der Vorsaal im erzbischöflichen Wohntrakt (sog. Hoher Stock) 1480/90 mit romanisierenden Gratgewölben ausAbb. 11 Salzburg, Feste Hohensalzburg, Vorsaal im gestattet wurde.36 Doch was bedeutet dieerzbischöflichen Wohntrakt (sogenannter Hoher ser Rückgriff auf ältere, nordeuropäische Stock) Formtradtionen für die fürstlich-repräsentative Aussage von Schloss Albrechtsburg, das ja an sich in so fortschrittlichem architektonischem Gewand erscheint? Und was bedeutet diese offenkundig dialektische Qualität des zwischen innovativer Konstruktion und retrospektiver Form changierenden Zellengewölbes für einen möglichen inhaltlichen Kontext fürstlicher Repräsentation und das Selbstverständnis der Wettiner als gebildete Fürsten? Ich möchte daran erinnern, dass die Romanik-Rezeption in der spätmittelalterlichen Architektur37 nicht unbedingt eine Wiederbelebung der historischen Romanik bezweckte, sondern ebenso gut in den romanischen Formen das Erbe der römischen aber auch einer germanischen Antike zu erkennen meinte, wie sie gerade in der Zeit um 1500 im Alten Reich und in den burgundischen Niederlanden wiederentdeckt und konstruiert wurde.38 Ein solches Verständnis könnte auch Arnold von Westfalen und seine fürstlichen Auftraggeber geleitet haben, als die Architekturformen von Schloss Albrechtsburg festgelegt wurden. Inwieweit die Bauherren, Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht von Sachsen, dabei eine römische oder eine germanische Antike evozieren wollten, muss ohne weitere Quellen eine offene 36 37
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Dieses wichtige Beispiel erwähnt bereits Hoppe, Albrechtsburg (wie Anm. 34), 71. Zum Phänomen einer Romanik-Rezeption in der nordalpinen Architektur der beginnenden Frühen Neuzeit siehe auch die materialreiche aber methodisch diskussionsbedürftige Studie von Michael Schmidt, Reverentia und Magnificentia. Historizität in der Architektur Süddeutschlands, Österreichs und Böhmens vom 14. bis 17. Jahrhundert. Regensburg 1999, 17, sowie 211ff. Zur Kritik an Schmidts Interpretationsansatz siehe Hoppe, Schloßbau (wie Anm. 34), 127–128, Anm. 24. Siehe hierzu Heinrich Klotz, Der Stil des Neuen. Die europäische Renaissance. Stuttgart 1997; Klaus Graf, Stil als Erinnerung. Retrospektive Tendenzen in der deutschen Kunst um 1500, in: Wege zur Renaissance (wie Anm. 1), 19–29, hier 25; Hubertus Günther, Die ersten Schritte in die Neuzeit, in: Wege zur Renaissance (wie Anm. 1), 31–87, hier 40–46; Stephan Hoppe, Die Antike des Jan van Eyck. Architektonische Fiktion und Empirie im Umkreis des burgundischen Hofs um 1435, in: Dietrich Boschung/Susanne Wittekind (Hrsg.), Persistenz und Rezeption. Weiterverwendung, Wiederverwendung und Neuinterpretation antiker Werke im Mittelalter. Wiesbaden 2008, 351–394; ders. Albrechtsburg (wie Anm. 31). Siehe auch meine Überlegungen zu Formen einer Romanik-Rezeption in Halle a. d. Saale unter Kardinal Albrecht von Brandenburg: Matthias Müller, Residenzarchitektur ohne Residenztradition. Eine vergleichende Bewertung der Residenzarchitektur Albrechts von Brandenburg in Halle unter dem Aspekt der Altehrwürdigkeit, in: Andreas Tacke (Hrsg.), Der Kardinal Albrecht von Brandenburg. Renaissancefürst und Mäzen. Bd. 2. Regensburg 2006, 169–179.
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Frage bleiben. Immerhin lässt sich – wie es zuletzt André Thieme und Karlheinz Blaschke unternommen haben39 – der weite, geistig-kulturelle Horizont der beiden Fürstenbrüder und das entsprechende personelle, internationale Netzwerk nachweisen, in das sie eingebunden waren. Von daher dürfte ihnen auch nicht die Debatte der deutschen Humanisten um Tacitus‘ Germania (wiederentdeckt ca. 1455, publiziert 1470) und um den darauf basierenden Traktat (Germania, 1457) von Enea Silvio Piccolomini unbekannt gewesen sein. Als „gewaltiger Marschall und Bannerträger“ Kaiser Friedrichs III., der mit der Durchsetzung der habsburgischen Interessen in den burgundischen Niederlanden beauftragt war und ab 1488 dort sogar die kaiserliche Statthalterschaft ausübte, dürfte Herzog Albrecht zudem die altniederländische Malerei mit ihrer auffälligen Romanik-Rezeption aus eigener Anschauung gekannt haben. Jeden- Abb. 12 Meißen, Dom, Ausschnitt aus der Mittelfalls ließ er sich von einem heute leider tafel (Anbetung der Heiligen Drei Könige) des unbekannten niederländischen Maler por- Hochaltarretabels von Meister Jan (ehemals für die trätieren.40 Und er konnte noch erleben, wie Fürstenkapelle des Meißener Doms konzipiert), um 1495 sein Neffe und Nachfolger seines Bruders Ernst im Kurfürstenamt, Friedrich der Weise, ab 1491 einen Niederländer als Hofmaler einstellte. Dieser sog. Meister Jhan der niderlendische Maler schuf um 1495 auch jenes heute im Meißner Dom gezeigte Altarretabel mit Anbetung der Heiligen Drei Könige, dass ursprünglich – in unmittelbarer Nähe zu Schloss Albrechtsburg – für die an den Meißner Dom angebaute Grabkapelle des wettinischen Fürstenhauses konzipiert worden war.41 Die von Meister Jan für den Stall bzw. den ruinösen Palast Davids entworfene Architektur (Abb. 12) erweist sich in den Formen der Rundbögen, Kapitelle und Kämpferplatten als ein weiteres hervorragendes Beispiel für die angesprochene Romanik-Rezeption in der Malerei und lässt mit den Porphyrsäulchen der Fenster sogar konkrete Antikenbezüge erkennen. Nehmen wir einmal an – was angesichts der Kultiviertheit und des Bildungsstandes beider Fürsten sehr gut möglich ist –, dem sächsischen Kurfürsten und seinem Bruder wäre die 39 40 41
Thieme, Zu fürstlichen Karrieremustern (wie Anm. 24); Blaschke, Herzog Albrecht (wie Anm. 24). Das Porträt befindet sich heute in der Gemäldegalerie Alter Meister in Dresden. Matthias Donath, „Meister Jhan der niderlendische Maler“. Ein flämischer Maler am Hof Friedrichs des Weisen und seine Werke für die Meißner Fürstenkapelle und die Wittenberger Schlosskirche, in: Ecclesia Misnensis. Jahrbuch des Dombau-Vereins Meißen 2001, 51–76.
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geschichtliche Dimension bewusst gewesen, die in den offenkundig romanisierenden Gewölbe- und Sockelprofilformen der Albrechtsburg thematisiert wird, dann kann sie nicht nur abstrakt, im Sinne eines Verweises auf die deutsche Vorgeschichte, gemeint gewesen sein, sondern muss auch einen direkteren Bezug auf die Geschichte der Albrechtsburg und ihres Ortes besessen haben. Es sei der Hinweis erlaubt, dass Schloss Albrechtsburg nicht der erste Schlossbau an dieser Stelle war; vielmehr sollte der ab 1471 errichtete Neubau die alte romanische Burganlage ersetzen. Diese traditionsreiche, altehrwürdige Burganlage wurde vollständig dem Erdboden gleichgemacht, was – wie ich an zahlreichen Beispielen nachweisen konnte42 – der aufs Bewahren ausgerichteten fürstlichen Baukultur prinzipiell widerspricht und auch bei den Wettinern eine sogar schriftlich dokumentierte Debatte über die Rechtmäßigkeit des Abbruchs ausgelöst hat.43 Dabei ging es nicht zuletzt um den dynastischen und rechtlichen Symbolwert des abgebrochenen romanischen Schlossturms (des sog. Roten Turms), mit dem auch die Gerichts- und Lehensrechte des Meißner Fürstenschlosses verbunden waren.44 Sollte mit den retrospektiven, romanisierenden und gleichwohl konstruktiv hochmodernen Gewölbe- und Profilformen der neuen Albrechtsburg möglicherweise an dieses ausgelöschte architektonische Erbe und seine Symbolkraft für den geschichtlichen Ruhm der Wettiner erinnert werden?45 Die Studierräume im Kapellenturm (vgl. Abb. 4), in denen das Zellengewölbe ja in besonders eindrücklicher Form in Erscheinung tritt, wären dann nicht nur der funktionale und symbolische Rückzugsort des in allgemeiner Weise gebildeten, klugen Regenten gewesen, sondern darüber hinaus der Ort, an dem eine geschichtlich reflektierte Architekturform von einem mit historischer Bildung ausgestatteten fürstlichen Landesherrn zeugen würde. Immerhin vermag die in den Jahren und Jahrzehnten um
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Müller, Schloß (wie Anm. 4); ders., Das Residenzschloß als Haupt des Fürsten. Zur Bedeutung von Caput und Corpus im frühneuzeitlichen Schloßbau der Anhaltiner, in: Werner Freitag/Michael Hecht (Hrsg.), Die Fürsten von Anhalt. Herrschaftssymbolik, dynastische Vernunft und politische Konzepte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. (Studien zur Landesgeschichte, Bd. 9.), Halle (Saale) 2003, 123–143; ders., Warum die Könige von ihren Architekten beim Schlossbau soviel Rücksicht auf die Geschichte forderten, in: Bernhard Jussen (Hrsg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit. München 2005, 326–349. Überliefert in einer Fürstenkorrespondenz aus dem Jahr 1493 (SächsHStA, Geh. Rat [Geh. Archiv], Loc. 8182, Friesländische Sachen, 1482–1497, Bl. 48), gedruckt bei: Friedrich Albert von Langenn, Herzog Albrecht der Beherzte Stammvater des königlichen Hauses Sachsen. Leipzig 1838, 404; Theodor Distel, Meister Arnold, der Erbauer der Albrechtsburg, in: Archiv Sächsischer Geschichte. NF 4 (1878), 327–328; sowie Cornelius Gurlitt, Das Schloß zu Meißen. Eine kunstgeschichtliche Studie. Dresden 1881, 37. Zu den historischen Zusammenhängen und Quellennachweisen siehe Manfred Kobuch, Der Rote Turm zu Meißen – ein Machtsymbol wettinischer Landesherrschaft, in: Uwe John/Joseph Matzerath (Hrsg.), Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag. (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, Bd. 15.) Stuttgart 1997, 53–89. Diese mögliche Bedeutungsebene der trotz aller Innovationen von zahlreichen Traditionsverweisen bestimmten Architektur der Meißener Albrechtsburg habe ich grundlegend in einem früheren Beitrag angesprochen: Matthias Müller, Das Schloß als fürstliches Manifest. Zur Architekturmetaphorik in den wettinischen Residenzschlössern von Meißen und Torgau, in: Jörg Rogge/Uwe Schirmer (Hrsg.), Hochadlige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200–1600). (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, Bd. 23.) Leipzig/Stuttgart 2003, 395–441.
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1500 intensiv betriebene sächsische Landesgeschichtsschreibung und Landeschronistik der Wettiner,46 die hier ganz dem von Maximilian I. angeregten Vorbild der Hofhistoriographie47 folgte und ihren Niederschlag auch in den Historienbildern von Lucas Cranach finden sollte,48 wichtige Indizien dafür zu liefern, das diese Überlegungen mehr als nur kunsthistorische Spekulation sein könnten.
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Ein wichtiges Beispiel hierfür ist Georg Spalatin, Chroniken der Sachsen und Thüringer, um 1535. (Landesbibliothek Coburg, Sign.: Ms. Cas. 9, Ms. Cas. 10, Ms. Cas. 11). Diese Chronik ist die erweiterte Fassung von Spalatins Chronik der Sachsen, Thüringer und Meissen (ThHStA Weimar, Sign.: Reg. 0, Nr. 20/21), die bereits 1513 erstellt wurde. Siehe hierzu auch Christiane Andersson, Die Spalatin-Chronik und ihre Illustrationen aus der Cranach-Werkstatt, in: Claus Grimm (Hrsg.), Lucas Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 26), Augsburg 1994, S. 208–220. Zur höfisch-sozialgeschichtlichen Einschätzung dieses von Maximilian propagierten Modells einer Erinnerungskultur, die retrospektiv und prospektiv zugleich ausgerichtet war, siehe in jüngerer Zeit auch den Beitrag von Lucas Burkart, Paradoxe Innovation. Soziale und politische Funktionen des Alten und des Neuen am Hof Kaiser Maximilians I., in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hrsg.), Erziehung und Bildung bei Hofe. (Residenzenforschung, Bd. 13.) Stuttgart 2002, 215–234. Zum Modell fürstlicher Erinnerungskultur um 1500 siehe div. Beiträge von Klaus Graf. Siehe hierzu die weiter zu diskutierenden Überlegungen von Edgar Bierende, Lucas Cranach d. Ä. und der deutsche Humanismus. Tafelmalerei im Kontext von Rhetorik, Chroniken und Fürstenspiegeln. (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 94.) München 2002; sowie Matthias Müller, Von der allegorischen Historia zur Historisierung eines germanischen Mythos. Die Bedeutung eines italienischen Bildkonzepts für Cranachs Schlafende Quellnymphe, in: Stephan Hoppe/Matthias Müller/Norbert Nußbaum (Hrsg.), Stil als Bedeutung in der nordalpinen Renaissance. Wiederentdeckung einer methodischen Nachbarschaft. Regensburg 2008, 160–187.
Ein neues Modell am falschen Ort Die Stadtresidenz in Landshut Ulrich Schütte
1. Alte Residenz und Neuer Bau Die ‚Stadtresidenz‘ in Landshut zählt seit langem zu den prominenten Bauten der Renaissance im Alten Reich. Im Auftrag Herzogs Ludwigs X. (1509–1545) in den Jahren zwischen 1536 und 1543 von deutschen und italienischen Baumeistern errichtet, gehört sie zu jenen Werken fürstlicher Architektur im 16. Jahrhundert, deren entschiedene Verarbeitung italienischer Architektur- und Kunstmuster immer wieder hervorgehoben wurde. Die Art und Weise wie dies hier in Landshut geschah, ist seit dem 19. Jahrhundert innerhalb der kunstund architekturgeschichtlichen Forschung als etwas vollkommen Außergewöhnliches beschrieben worden.1 Sehr früh auch wurde schon die Frage nach den ‚Einflüssen‘ Giulio Romanos auf die Planung und Realisierung gestellt.2 Die neueren und neuesten Arbeiten haben dieses Problemfeld wohl vertieft, jedoch nicht grundsätzlich erweitert.3 Zu der Sonderstellung des Neuen Baus zählt, dass der Herzog ihn vollständig in das Gefüge der Landshuter Altstadt einfügen ließ, ohne damit eine Angleichung an die Architektur
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„Der italienische Bau ist eine völlig isolierte Erscheinung nicht bloß im Landshuter Stadtbild, sondern in der gesamten deutschen Kunstgeschichte wegen seines absolut italienischen Charakters, der jeden Kompromiss mit der deutschen Art vermeidet.“ Zitat von Felix Mader in: Die Deutschen Kunstdenkmäler von Niederbayern. Bd. XVI. Stadt Landshut. München 1927, 424. Wilhelm Lübke, Geschichte der deutschen Renaissance. (Geschichte der Baukunst, 5.) 2. Hälfte. Stuttgart 1873, 524 und auch Ernst Bassermann-Jordan, Die dekorative Malerei der Renaissance am Bayerischen Hofe. München 1900, 46–48. Eine neuere monographische Darstellung des Baues fehlt trotz seiner Prominenz innerhalb der architekturgeschichtlichen Forschung. Zur Baugeschichte und zur Diskussion über die möglichen Vorbilder liegen einige Tagungsbände und Ausstellungskataloge vor: Das Walhnhaus. Der italienische Bau der Stadtresidenz Landshut. Bearbeiter Horst H. Stierhof. Ausstellungskatalog. Landshut 1994; Der Italienische Bau Materialien und Untersuchungen Landshut. Hrsg. Gerhard Hojer. Ausstellungskatalog. Landshut-Ergolding 1994; Die Landshuter Stadtresidenz. Architektur und Ausstattung. Iris Lauterbach (Hrsg.). München 1998; Ewig blühe Bayerns Land. Herzog Ludwig X. und die Renaissance. Ausstellungskatalog Landshut. Regensburg 2009, darin besonders Sybe Wartena, Der Bau der Landshuter Stadtresidenz, 82–100. Zur Baugeschichte des Deutschen Baues s. Josef Engl, Der Deutsche Bau der Landshuter Stadtresidenz und ausgewählte Bauten der Augsburger Architektur des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Diss. München 1989; ders., Der Italienische Bau der Landshuter Stadtresidenz. Grundriss und Schnitt als Kriterien architektonischer Herkunft. in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 116/117, 1990/1991, 111– 139.
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Abb. 1 Blick von der Isar auf den Italienischen Bau und den Pavillon
der benachbarten Bürgerhäuser anzustreben. Diese bewusste architektonisch-ästhetische Differenz wird auch noch heute von der Isar aus sehr deutlich (Abb. 1). Gleichfalls auffällig war, wie sehr der fürstliche Stadtherr auf das überlieferte Muster einer durch fortifikatorische Formen artikulierten Separierung des Bauareals verzichtete (Abb. 2). Um das Problem verfolgen zu können, in welcher Weise und mit welchem Erfolg hier in Landshut ein neues architektonisches Modell kreiert oder fremde Modelle rezipiert wurden, möchte ich zwei Überlegungen nachgehen: Zum einen frage ich danach, ob wir bei der sogenannten Stadtresidenz in Landshut von einem neuen Modell fürstlicher Architektur innerhalb einer Topographie sprechen können, die deutlich von den Aufgaben einer Residenzstadt bestimmt ist. Es wird sich zeigen, dass die neue Architektur eine andere, alte fürstliche Architektur, die eigentliche Residenz Trausnitz, voraussetzt. Zum zweiten interessiert mich jener Sachverhalt, der seit Beginn der Beschäftigung mit diesem Werk immer wieder genannt wurde, wenn es um den Sonderstatus der Landshuter Stadtresidenz ging: Sie ist inner-
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Abb. 2 Landshut, Stadtplan, Detail mit Stadtresidenz und Trausnitz; Ausschnitt aus dem Urkataster von 1810
halb der fürstlichen Architektur des Alten Reichs ohne Nachfolge geblieben.4 Wenn ich es recht sehe, gibt es bislang keinen Interpretationsansatz, der versuchen würde, diese Rezeptionsverweigerung zu begründen. Ich möchte auf diese Leerstelle eine Antwort finden, indem ich die Bedingungen für die architektonische und soziale Praxis der Wittelsbacher wie auch anderer Fürstenhäuser des Alten Reichs hervorhebe. Ich mache mir dabei die Überlegung zunutze, dass es zur Konstituierung eines neuen Modells eines Rezeptionskontextes bedarf, der die Innovation als solche erkennt und sie dadurch akzeptiert, indem das neue Muster einer fürstlich-städtischen Architektur bei späteren Werken verarbeitet wird. Dies kann durch Übernahme aller oder auch nur einzelner Elemente und Strukturen dieses Modells geschehen.
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„… dass es sich hier um eine Schöpfung handelt, die, wenn sie jenseits der Alpen läge, von allen Künstlern und Architekten aufgesucht, studiert und bewundert sein würde, während sie in Deutschland fast unbekannt und verschollen ist.“, so Lübcke, Deutsche Renaissance (wie Anm. 2), 524–525.
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Abb. 3 Blick auf Landshut; aus: Matthaeus Merian, Topographia Bavariae. 1644
Im Falle des Neuen Baues in Landshut bin ich davon überzeugt, dass es weder bei den anderen Linien der Wittelsbacher, noch bei weiteren Fürsten im Alten Reich ein Interesse gab, das sich mit dem vergleichen ließe, was Herzog Ludwig X. beabsichtigte. Der Neubau konnte damit nicht als ein Modell künftiger Architektur- und Herrschaftspraxis dienen. Unter architekturgeschichtlichen Gesichtspunkten wurde er damit im Kontext frühneuzeitlicher höfischer Architekturpraxis bedeutungslos. Lob und Anerkennung fand der Bau erst für eine Kunstgeschichtsschreibung, die ihre Vorstellung von künstlerisch-architektonischer „Qualität“ jenseits historischer Kategorien entwickelte.5 Landshut war schon vor Herzog Ludwig X. einer der Hauptorte Niederbayerns.6 Die Herzöge lebten mit ihrer Hofhaltung auf der Burg Trausnitz oberhalb der Stadt. Daran änderte auch Herzog Ludwig X. nichts (Abb. 3). Insofern stellte Landshut ein sehr typisches Beispiel für eine frühneuzeitliche Residenzstadt mit dem Schloss des Landes- und Stadtherrn am Rande und über der Stadt gelegen dar. Für den Grundriss der Stadt ist der große, platzartig erweiterte Straßenzug wichtig, der von Norden nach Süden verlaufend die Stadt teilt 5
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Dies wird etwa bei Klaus Endemann, Die Fassade des Italienischen Baus. Befund, Analyse, Überlegungen zur Frage der Autorschaft. in: Der Italienische Bau (wie Anm. 3), 55–102, hier 93 deutlich, der resümierend festhält: „Die ausgebliebene Befruchtung der deutschen Bauentwicklung [durch den Italienischen Bau; U.S.] tut der künstlerischen Qualität des Palastes keinen Abbruch.“ Walter Ziegler, Landshut. in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastischtopographisches Handbuch. Teilband 2: Residenzen. (Residenzenforschung, 15.I.) Ostfildern 2003, 319–321 mit weiterer Literatur.
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Abb. 4 Landshut, Fassade des Deutschen Baus, aus: Michael Wening „Beschreibung ... Ober- und Niderbayrn“ (1701–1726)
und den Namen „Altstadt“ führt. An dieser liegen die wichtigsten Bauten wie die große Stadtpfarrkirche St. Martin, das Rathaus, das Landschaftshaus und eben auch die Stadtresidenz. Der Neubau ist eingespannt zwischen dem Straßenverlauf der „Altstadt“ und der parallel dazu geführten Ländgasse. Jenseits der Ländgasse liegen bis zur Isar hin weitere Baulichkeiten, die als Marstall, Wirtschaftsgebäude etc. genutzt wurden. Über die Gasse hinweg verbindet ein Korridor beide Komplexe. Die stadtseitige Fassade des Deutschen Baues stand dem Rathaus gegenüber (Abb. 4).7 Sie war hinsichtlich ihrer architektonischen Formen sehr deutlich an mittelitalienischen Palästen mit ihrer Rustikamotivik orientiert und zusätzlich mit aufgemalten, antiken Statuen geschmückt.8 In den Jahren zwischen 1781 und 1800 diente die Stadtresidenz einer Nebenlinie
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Michael Wening, „Historico-Topographica Descriptio. Das ist: Beschreibung des Churfürsten- und Herzogthumbs Ober- und Niderbayrn“, München 1701–1726. Sie zeigten zweimal eine Figur aus der antiken Laokoon-Gruppe, die antiken Rossebändiger und eventuell Herkules mit dem Kalydonischen Eber. Gut abgebildet sind die Figuren in: Die Landshuter Stadtresidenz (wie Anm. 3), Abb. S. 214. Zur missverständlichen Darstellung des Herkules s. Diemer ebenda 220.
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Abb. 5 Stadtresidenz, Italienischer Bau, Fassadenaufriss 1925 (Detail)
der Wittelsbacher als Logis.9 In dieser Zeit (um 1780) kam es, neben einigen Modernisierungen im Inneren, zur Neugestaltung der Altstadtfassade in jenen Formen, die wir heute noch sehen. Die ursprüngliche Gestaltung des Deutschen Baues verschwand dabei vollständig. Die Orientierung an italienischen Architekturmustern tritt noch deutlicher bei der zweiten Fassade des Baues hervor, der 1537, also ein Jahr nach der Grundsteinlegung zum Deutschen Bau, begonnen wurde. Beide Bauten wurden dann sehr schnell und fast zeitgleich errichtet. Es sind die Gestaltungen der Außen- und Hoffassaden wie auch die Dekorationen der Innenräume des Italienischen Baues, die als erstmalige Demonstration italienischer Architektur- und Kunstmuster verstanden werden müssen, die ein prominentes Bauwerk nicht hinsichtlich einzelner Details, sondern in seiner Gesamtheit prägten. Bei den Außenfassaden 9
Herzog Wilhelm aus der Nebenlinie von Birkenfeld-Gelnhausen (1752–1837). Allerdings nennt eine Inschrift Kurfürst Carl Theodor als Regenten des Landes; s. Hans Thoma/Herbert Brunner/Theo Herzog, Stadtresidenz Landshut. Amtlicher Führer. München 1985, 17.
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herrschaftlicher Architekturen im Alten Reich war bis zu diesem Zeitpunkt eine Gliederung mit einem rustizierten Mauerwerk im Erdgeschoss und einer zwei Geschosse übergreifenden Pilastergliederung vollständig unbekannt (Abb. 5). Die strenge Symmetrie, der konsequente Einsatz aller Glieder der Säulenordnungen wie auch die Rhythmisierung des Obergeschosses durch einfache und doppelte Pilaster spiegelt ein architektonisches Anspruchsniveau wieder, wie es zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Rom und in Oberitalien durch prominente Architekten an bedeutenden Bauten vorgeführt worden war. Für Landshut wurden die italienischen Vorbilder nicht schlicht kopiert, sondern höchst gedankenreich variiert. Die italophil ausgerichtete Architekturgeschichtsschreibung hat beim Anblick derartiger Architekturlösungen immer wieder glänzende Augen bekommen und sich seit langem für den Italienischen Bau bemüht, Giulio Romano (1492–1546) als den entwerfenden und damit konzeptionell verantwortlichen Architekten zu identifizieren. Doch schweigen zur Frage der Autorschaft die Quellen. Auch fehlen entsprechende Entwurfszeichnungen.10 Es sind nicht allein die strukturellen Merkmale der Fassade, die mit diesem italienischen Architekten in Verbindung gebracht wurden. Gerade die Abweichungen von den kanonischen Formen einer strengen, vitruvianisch verstandenen Antike erlaubten es, in dem Landshuter Bau ein hoch artifizielles Werk zu erkennen, dessen innovatorisches Potential im Kontext der römischen und oberitalienischen Palastarchitektur zu diskutieren ist. Mit Recht hat die Forschung herausgearbeitet, dass wir bei der Landshuter Stadtresidenz von einer eigenständigen Verarbeitung eines italienischen Architekturmodells sprechen können. So anregend eine solche Architektur für Herzog Ludwig X. offensichtlich gewesen war, so wollte er jedoch in seiner bayerischen Stadt keine Kopie oberitalienischer Architektur errichtet sehen. Ludwig hatte den Mantuaner Bau als gänzlich singulär erfahren und in einem Brief entsprechend beschrieben: Gespeist habe er „in dem neuen palast, so er paud, der gleichen (,) glaube ich, dass kain sollicher gesehen worden an köstlichen gemachen und gepai, auch gemäll, darvan vil zu schreiben und zu sagen wäre.“11 Das Merkmal der Unvergleichbarkeit wollte er ganz offensichtlich auch in seiner niederbayrischen Residenzstadt realisiert sehen. Von Herzog Ludwig X. wissen wir, wie sehr er den Neubau in Landshut vorantrieb und wie stark er immer wieder in das Baugeschehen eingriff. Auf einer Italienreise im Jahre 1536, mithin kurz nach dem Beginn des ersten Baues, lernt er am Hof Federigos II. Gonzaga (1519–40), seit 1530 Herzog von Mantua, eine Architektur kennen, die er bei seinem Neubau verarbeitet wissen wollte.12 10
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Zu Giulio Romano als potentiellen Entwerfer s. vor allem Kurt W. Forster, Il Palazzo di Landshut, in: Giulio Romano. Ausstellungskatalog. Mantua 1989, 61–89 und Endemann, Fassade (wie Anm. 5). Die Hinweise von Heinfried Wischermann, Der Italienische Bau der Stadtresidenz in Landshut. Bemerkungen zu seiner künstlerischen Herkunft, in: Arte veneta 32, 1979, 50–58, bes. 54ff. auf mögliche oberitalienische Vorbilder hat die jüngste Diskussion eben so wenig aufgenommen wie die Vermutung von Hans Lange, Gasse, Gang, Galerie. Wegenetz und Inszenierung des Piano nobile in der Stadtresidenz, in: Die Landshuter Stadtresidenz (wie Anm. 3), 151–162, der kaiserliche Palazzo in Granada habe ein Muster abgegeben. Der Brief ist abgedruckt in: Die Landshuter Stadtresidenz (wie Anm. 3), 261. Dazu wurde ein Meister „Sigismondo“ aus Mantua und sein Polier „Anthoni“ verpflichtet, „baid Walhen aus Mantua“; vgl. Wischermann 1979 (wie Anm. 10), 50. Zur Hofkultur in Mantua s. Splendour of the Gonzaga. D. Chambers/J. Martineau (Hrsg.). London 1982.
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Während also jener architektonische und höfische Kontext deutlich benannt werden kann, der die Rezeption dieser neuen Architekturmuster initiierte, fällt es erheblich schwerer genau zu bestimmen, welche Aufgaben der Bauherr seinem Neubau zugedacht hat. Mit Hinweisen auf die prekäre dynastische Position des Herzogs könnte es möglich sein, die zu vermutenden Baumotivationen genauer zu erkennen. 1516 erreichte Ludwig X. gegenüber seinem Bruder Wilhelm IV. trotz der für Bayern eingeführten Primogenitur13 die Mitregentschaft über die bayerischen Territorien dadurch, dass er Statthalter in den Rentämtern Landshut und Straubing wurde. In die brüderliche Rivalität war auch Herzog Ernst, der dritte Bruder, einbezogen, der zwar auf eine geistliche Laufbahn geschickt worden war, sich jedoch immer wieder auch Herrschaftspositionen im Familienverband der Wittelsbacher erstritt.14 Die dynastisch schwierige Situation ergab sich für Ludwig nicht allein dadurch, dass er als Zweitgeborener immer seinem Bruder den Vorrang zugestehen musste. Noch entscheidender scheint gewesen zu sein, dass er keine legitimen Erben vorweisen konnte, die nach ihm seine fürstliche Position in Landshut hätten weiterführen können. Nach seinem Tod im Jahre 1545 fiel sein Land wieder an den Bruder zurück. Landshut wurde in den Jahren 1568–79 Residenzort des Erbprinzen Wilhelm, der bis zu seinem Regierungsantritt in München allerdings nicht in dem Neubau, sondern, wie dies in Landshut immer üblich gewesen war, auf der Burg Trausnitz seine Hofhaltung einrichtete. Die Burg wurde in dieser Zeit entscheidend umgestaltet, ohne dass sich dabei allerdings der spätmittelalterliche Gesamtcharakter der Anlage änderte.15 Die künstlerischen Aktivitäten, welche die Regierung Ludwigs X. in Landshut begleiteten, werden in der Literatur unterschiedlich bewertet. Immer wieder wird der Versuch gemacht, seine Hofhaltung als die eines ‚Musenhofes‘ zu beschreiben; doch wenn man genauer hinschaut, wäre diese Bezeichnung allenfalls für seine späten, letzten Jahre der Regentschaft angemessen, in der sich vieles auf die Errichtung und Ausstattung des Neubaus konzentrierte.16 Ludwig X. behauptete seine Position innerhalb des fürstlichen Familienverbandes gegenüber seinem Bruder durch ein eigenes Territorium und eine eigene Hofhaltung. Innerhalb einer solchen Strategie kann der Neubau als ein Werk verstanden werden, das sich durch ein neues Konzept fürstlichen Wohnens innerhalb der Stadt und durch den radikalen Bruch gegenüber der bislang an bayerischen Residenzorten verwendeten Architektur- und Kunst13
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Sie war unter Herzog Albrecht IV. (1465–1508) 1506 eingeführt worden; s. Reinhard Stauber, Staat und Dynastie, Herzog Albrecht IV. und die Einheit des „Hauses Bayern“ um 1500, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 60, 1997, 539–565; Michael Kaiser, Regierende Fürsten und Prinzen von Geblüt. Der Bruderzwist als dynastisches Strukturprinzip, in: Jahrbuch Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg 4, 2001–2002, 3–28, zu den Wittelsbachern im 16. Jahrhundert 6–8. Lange, Gasse (wie Anm. 10), 151 zur Behauptung des fürstlichen Ranges. Zum Ausbau nach 1569 mit der Narrentreppe (1575–78) und dem Hofgarten (1574–79) s. Hilda Lietzmann, Der Landshuter Residenzgarten Herzog Wilhelms V. München 2001; zur Hofhaltung auf der Trausnitz vgl. Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 238ff. Für Henry-Russell Hitchcock, German Renaissance architecture. Princeton 1981, 99 war Ludwig X. „the beau idéal of a Renaissance prince“. Auch die Beiträge in der neuesten Publikation zum Neuen Bau bewegen sich zum großen Teil noch in diesen argumentativen Bahnen; kritisch zum ‚Musenhof ‘ in Landshut dagegen: Andreas Tönnesmann, Die Zeugung des Bauwerks. Herzog Ludwig X. und die Landshuter Stadtresidenz, in: Die Landshuter Stadtresidenz (wie Anm. 3), 23–28.
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sprache auszeichnete. Zugleich war eine solche fürstliche Palastarchitektur immer auch auf die Zukunft ausgerichtet und damit als eine gedächtnisstiftende Tat zu verstehen. In beiden Fällen war es die Modernität der eingesetzten Formen und Programme, die den Intentionen zeichenhafte Kraft verlieh. Dies alles geschah in einer Weise, die den fürstlichen Herrn zwar immer wieder durch Wappen und Inschriften vergegenwärtigte, die es jedoch vermied, ihn als Person bildhaft vorzustellen. Natürlich kann man damit rechnen, dass Porträts von Ludwig zur beweglichen, verloren gegangenen Ausstattung des Neuen Baues gehört haben. Porträts waren jedoch kein integraler Bestandteil der festen Dekoration. Andere zeitgenössische Fürsten verfuhren in dem Bemühen, ihren Ruhm für alle Ewigkeit durch Bildwerke verkünden zu lassen, gänzlich anders. So kennzeichnete es gerade die Kunstpolitik am Mantuaner Hof, die ja für Ludwig so anregend gewesen war, dass alles daran gesetzt wurde, den Herrn der Bauten und Räume, Herzog Federico II. Gonzaga, den Standesgenossen und den Nachgeborenen vorzustellen. Hinsichtlich der Bildzyklen im Inneren des Landshuter Baues finden wir demnach eher die Verwirklichung eines ästhetischen und humanistischen Programms als die demonstrative Herausstellung einer einzelnen Person oder der herzoglichen Familie.17
2. Die Innovationen Das Eigentümliche und das Besondere des Landshuter Neubaukonzeptes bezieht sich nicht allein auf das bislang vorgestellte Äußere. Wenn wir die Innenräume betrachten, so erkennen wir in ihnen ein sehr konsequent durchgeführtes System von Raumfolgen. Es lassen sich vier Merkmale der Gestaltung und der inhaltlichen Ausrichtung der Dekorationen nennen, die sowohl für den innovativen Anspruch wie für die Sonderstellung des Bauwerks wichtig sind: 1. Alle Räume sind von antiken Grundformen wie Tonnen, Kassettendecken etc. bestimmt. Mittelalterliches, „Gotisches“ findet sich nicht. 2. In zahlreichen Räumen herrscht eine an der Antike orientierte Dekoration, besonders im Italienischen Bau. Den Gewölben aufgelegt wurde ein zumeist kunstvoll stuckiertes System von Kassettenfelderungen, die Platz für Bilder ließen.18 Völlig neu waren auch die Versuche zu einem illusionistischen Aufbrechen des oberen Raumabschlusses. 3. Alle herrschaftlich konzipierten Räume entfalten Bild-Programme, die sich in entschiedener Weise an der antiken Mythologie orientierten und die dabei zum Teil eine unmittelbare Rezeption Mantuaner Ausstattungskonzeptionen erkennen lassen.19 Hinsichtlich 17
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Dazu Wolfger A. Bulst, Der Italienische Saal der Landshuter Stadtresidenz und sein Darstellungsprogramm, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 26, 1975, 123–176 und ders., Der Italienische Saal: Architektur und Ikonographie, in: Die Landshuter Stadtresidenz (wie Anm. 3), 182–192, bes. 187. Anders als Bulst lese ich die Inschrift im Italienischen Saal jedoch deutlich bezogen auf Ludwig X. und seine Brüder. Zur Fassung der Wände in der Erbauungszeit können wir gegenwärtig wenig sagen. Sie wurden im ausgehenden 18. Jahrhundert gänzlich neugestaltet. Man muss davon ausgehen, dass hier im 16. Jahrhundert zahlreiche Tapisserien aufgehängt waren. Es sind insgesamt 11 Räume, die in dieser Weise ausgestaltet wurden. EG: Nemesis-Saal, Heldenzimmer (Ecksaal), Arachnezimmer, Latonazimmer; 1. OG: Italienischer Saal, Göttersaal, Sternen-
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der architektonischen und künstlerischen Strukturen und der inhaltlichen Ausrichtung auf die Welt der Antike hatte es ein derartig umfangreiches Programm für profane Innenräume im Alten Reich bislang nicht gegeben. 4. Dynastische und eindeutig auf die bayerische Situation verweisende Bezüge bleiben dagegen selten. Die Inschrift im umlaufenden Fries des sogen. ‚Italienischen Saales‘, der im 16. Jahrhundert „Großer Saal“ oder „Schöner Saal“ genannt wurde, hat man immer wieder als deutlichen Hinweis auf die besonderen dynastiepolitischen Gegebenheiten der Regentschaft des Landshuter Herzogs gelesen. Sie lautet in deutscher Übersetzung: „Eintracht lässt das Kleine wachsen, Zwietracht zerstört selbst das Mächtigste“.20 „Eintracht“, „CONCORDIA“ kann als Verweis auf die Vereinigung von Ober- und Niederbayern in der gemeinsamen Regierung der beiden bayerischen Brüder verstanden werden.21 Das Zitat selbst stammt aus Sallust und wird dort einem Herrscher in den Mund gelegt, der seine Söhne auf den Erhalt des Erbes verpflichten will.22 Die Bilder im Saal nehmen dieses Thema nicht auf. Hier dominiert ein allgemeines Programm: In den Bogenfeldern verweisen Allegorien auf die Geschichte und die Künste (Malerei, Bildhauerei, Architektur). In 15 größeren Feldern des Gewölbes sind 60 Idealbildnisse von bedeutenden Personen des Altertums (Herrscher, Dichter, Philosophen etc.) zu sehen; in der Mitte erscheint die ruhmverkündende Fama. Herrschertugenden, allerdings auch wieder in der von aktuellen Gegebenheiten abstrahierenden Form antiker Mythologie, geben sich in den Rundbildern mit den Taten des Herkules zu erkennen. Die Medaillons an den Wänden befanden sich ursprünglich wohl unter den Kapitellen der Pilaster.23 Generell sind es am Neuen Bau die Inschriften, die auf Landesherrschaft verweisen. Dabei wird in einzelnen Räumen häufig Ludwig als bayerischer Fürst allein genannt, während an prominenteren Stellen der Verweis auf alle drei Brüder Wilhelm, Ludwig und Ernst erfolgt, die dann wie gleichberechtigte Regenten des einen Landes erscheinen.24 Der Bauherr
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zimmer, Apollozimmer, Sechseckraum, Venuszimmer, Dianazimmer, Kapellengang. Zu den Bilderzyklen im Italienischen Bau s. Helmut Kronthaler, Die Ausstattung der Landshuter Stadtresidenz unter Herzog Ludwig X. (1536–1543). (Schriften aus dem Institut für Kunstgeschichte der Universität München, 21.) München 1987; Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 116–163 und 324–347 (Friedricke Sack). „CONCORDIA. PARVAE RES CRESCVUNT / DISCORDIA MAXIMAE DILABVNTVR”; zur Inschrift vgl. Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 291 (Brigitte Langer). Ich kann Bulst nicht zustimmen, der in der Inschrift „eine ethische Sentenz von allgemeiner Gültigkeit“ erkennen will, „ohne daß der aktuelle Bezug, die Eintracht der herzoglichen Brüder in Bayern, einen sichtbaren Niederschlag gefunden hätte.“; vgl. Bulst, Architektur und Ikonographie (wie Anm. 17), 186. Bulst, Architektur und Ikonographie (wie Anm. 17), 185. Dietrich von Plieningen hatte 1513 in Landshut eine Sallust-Übersetzung publiziert; vgl. Hitchcock, German Renaissance architecture (wie Anm. 16), 95 (nennt die 2. Auflage von 1515); vgl. auch Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 291. Oder wurden die Rundbilder frei auf der pilasterlosen Wand gesetzt? Vgl. die Abb. Endemann 1998 (wie Anm. 3). So in der Inschrift an der Loggia des Italienischen Baues aus dem Jahre 1543; in der deutschen Übersetzung „Von Gottes Gnaden Wilhelm, Ludwig und Ernst, Brüder, Pfalzgrafen bei Rhein, Herzöge
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selbst gibt sich im Italienischen Saal einzig durch seinen Namenszug auf dem Kamingesims zu erkennen.25 Beigegeben ist das bayerische Herzogswappen, umstellt von Reliefs mit Planeten-Darstellungen. Der Herzog fügt sich also nur durch seinen Namen in eine umfassende herrschaftliche und kosmologische Ordnung ein. Hier im großen Saal der Stadtresidenz gibt es also zwar allgemeine Anspielungen auf die Herrschaft der bayerischen Herzöge, doch bleibt eine personale Fixierung auf die Nennung des Bauherrn durch Inschrift und Wappen begrenzt. Wir sehen keine Darstellung einzelner bayerischer Herrscher und ihrer Taten. Was wir erkennen, ist ein allgemeines Programm historischer Personen der Antike und eine allegorische Darstellung von Herrschertugenden. Darüber hinaus finden sich politisch-ikonographische Bezüge zur Geschichte der bayerischen Herzöge nur noch in dem galerieartigen Gang zur Kapelle.26 Typisch ist aber auch hier, dass ein anspruchsvolles historisch-politisches Konzept die eigene Dynastie und auch andere Herrscherhäuser, die mit dem Hause Bayern verwandtschaftlich verbunden waren, in abstrahierenden Allegorien vorstellt und nicht durch Bildwerke verstorbener Fürsten27, wie wir dies von den Ahnengalerien üblicherweise kennen. Der „König aus Bayern“ und der „König aus Noricum“ fungieren als mythologische Urahnen, um deren historische Fixierung sich zeitgenössische Chronisten bemühten. Begleitet wird dies von einer für das Gesamtprogramm eher unspezifischen Reihe von Bildern aus der höfischen Lebenswelt, zur biblischen Josephsgeschichte sowie aus den Fabeln des Äsop. Bleibt zunächst festzuhalten, dass die neuen Bilder und Themen, die wir hier in den Innenräumen der Stadtresidenz finden, erstmals eine breite thematische Entfaltung der antiken Bilderwelten präsentieren, bei denen allerdings personale und historische Themen einer im engeren Sinne dynastisch-bayerischen Geschichte deutlich zurücktreten und in der sich der Hausherr nur in der bildlich sehr abstrakten Form der Wappen und Inschriften darstellen lässt. Diese Form fürstlicher, personaler Repräsentation wurde und wird bis heute den bereits von der Ländgasse her Eintretenden und auch den auf der Isar Reisenden vorgeführt. Diese herrschaftliche Repräsentation durch Wappen entsprach in Form und Ausrichtung einer seit dem späten Mittelalter weit verbreiteten Praxis der Auszeichnung eines herrschaftlichen Ortes, die bis weit in das 19. Jahrhundert hinein üblich blieb. Anders verfuhr Ludwig X. bei jenen Darstellungsformen und Medien, die sich in konkreter, bildhafter Weise auf den Initiator des Baues bezogen, der sich gerade durch seine zahlreichen und vielfältigen Porträts in Erinne-
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beider Bayern“; vgl. Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 117; auch Georg Spitzelberger, Der geistesgeschichtliche Hintergrund der Bildausstattung in der Landshuter Stadtresidenz, in: Der Italienische Bau 1994 (wie Anm. 3), 153–171, hier 156. Kamin mit Wappen und Inschrift „LVD. VTR. BAV. DUX.“; vgl. Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 299–303. Brigitte Langer, Ahnengalerie und Residenzkapelle, in: Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 348–357; Johannes Erichsen, Galerie und Kapelle der Landshuter Stadtresidenz, in: Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 102–115, hier bes. 106. In den Jahren 1530–35 wurde eine solche Porträtfolge von 14 Bildern in einem einheitlichen Format geschaffen. Es ist jedoch unbekannt, für welchen Ort diese von Barthel Beham geschaffene Folge gedacht war; s. Langer, Ahnengalerie (wie Anm. 26), 291ff.
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rung halten wollte. Dies war in der Zeit Ludwigs üblich und blieb es auch;28 doch Porträts gehörten nicht zu den wichtigen Ausstattungsgegenständen der Landshuter Residenz.
3. Die singuläre Stellung der Stadtresidenz Um die singuläre Position des Landshuter Baus verständlich machen zu können, ist ein erweiterter Blick auf Landshut selbst erforderlich; denn, und dies ist in jüngeren Publikationen immer wieder angesprochen worden, ohne dass man daraus entsprechende Konsequenzen gezogen hätte, „Residenz“ in einem strikten Sinne des Wortes war das Schloss auf dem Berg (Abb. 3). Man kann davon ausgehen, dass der Herzog nie beabsichtigte, die dortige Hofhaltung aufzugeben.29 Dies wäre sowohl aus Gründen der Tradition und der verschiedenen höfischen und landesherrlichen Funktionen, wie auch wegen der erforderlichen logistischen Versorgung des Hofes völlig unmöglich gewesen. Seit dem späten 15. Jahrhundert war es schon zur Auslagerung von Residenzfunktionen aus der Trausnitz in die Stadt (Kanzlei, Zoll, Herzogskasten) bzw. nach Burghausen (Frauensitz, Schatzkammer) gekommen, ohne dass dies den besonderen Status der Trausnitz berührt oder gar aufgehoben hätte.30 Für die Zeit Ludwigs X. selbst wie auch für die Zeit nach seinem Tod waren die Bau- und Ausstattungsaktivitäten auf der Trausnitz erheblich.31 Man kann also die mit dem Neuen Bau verbundenen Bau- und Ausstattungsaktivitäten nicht gegen das ‚alte Schloss‘ als Residenzort ausspielen. Entscheidend sind die Differenzen hinsichtlich Topographie, Typus und höfischer Semantik. Dies betrifft die landschaftliche und städtebauliche Lage wie auch die Regelmäßigkeit der Bautrakte und die Größe und Struktur der jeweiligen Bauareale. Zudem stellte die Trausnitz ihr Alter und damit ein dynastisch wichtiges Zeichenpotential gerade auch in den tradierten Architekturformen vor. Damit unterschieden sich beide Bauwerke erheblich hinsichtlich der Rolle, die sie für den Gesamteindruck der Residenzstadt spielten. Auch wenn es wichtige architektonische Differenzen waren, mit denen sich der Neubau von den benachbarten Bürgerhäusern absetzte, so waren diese doch nicht mehr als binnenstädtische Differenzierungen. Am Gesamtbild der Stadt änderte der Neubau nichts Entscheidendes. Hier dominierten weiterhin die großen Türme der Sakralbauten und die weithin sichtbare, große und mit Wehranlagen ausgestattete Burg auf dem Berg mit ihren traditionellen Turmmotiven. Wenn wir davon ausgehen müssen, dass die Trausnitz als Residenzschloss nie aufgegeben werden sollte, so stellt sich umso schärfer die Frage, welche Aufgaben der Neubau in der Stadt innerhalb der Hofhaltung übernehmen sollte. Belegt sind Räume für die landesherrlichen Verwaltungsaufgaben im Erdgeschoss und auch Wohnbereiche für den Herzog im Obergeschoss
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Als ein beliebiges Beispiel aus dem 16. Jahrhundert möchte ich auf die Kamin- und Eingangswand des Großen Saals der Wilhelmsburg in Schmalkalden, mit dem Porträt des Bauherrn, Landgraf Wilhelms IV. von Hessen-Kassel (1532–1592), aus der Zeit um 1590 verweisen. Zur Residenz auf der Trausnitz vgl. Langer in Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 238ff. Ziegler, Landshut (wie Anm. 6). Die Landshuter Stadtresidenz (wie Anm. 3), 17.
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des Deutschen Baues.32 Auch zum Italienischen Bau gibt es in der Forschung Vorschläge, wie hier die Nutzung von Räumen und Raumfolgen möglicherweise konzipiert war. Allerdings wissen wir Genaueres erst aus der Zeit nach dem Tode Ludwigs. Die letztendliche Entscheidung darüber, wer hier logieren durfte, blieb zu dieser Zeit dem regierenden Herzog in München vorbehalten, dessen Hofhaltung in der noch stark burgartig geprägten Neuveste untergebracht war. 33 Der Dualismus zwischen alter und neuer Architektur war also nicht nur für Landshut bestimmend. In gleicher Weise galt dies auch für die durch traditionelle Bauformen geprägte Hauptresidenz in München einerseits und dem neuen Logis-Bau in Landshut andererseits. Oftmals waren es Familienmitglieder und hochrangige, auswärtige Gäste, die im Neuen Bau einquartiert wurden. Dies betraf vor allem jene Zeit, als Herzog Wilhelm V. (1548– 1626) zwischen 1568 und 1579 als Erbprinz auf der Trausnitz lebte.34 Danach wurde der Neubau nur noch von Mitgliedern des engsten Familienkreises genutzt. Alles in allem lassen sich für den Zeitraum zwischen 1550 und 1600 etwa 20 Aufenthalte nachweisen, die maximal eine Woche dauerten. Wer wo untergebracht wurde, sagen die Quellen nur selten. Nun hat dies in der Literatur dazu geführt, den Neubau zu Recht als ein Logierhaus für fürstliche Gäste zu verstehen.35 Der regierende Herzog begriff es als ein Vorrecht, über die Einquartierung im Neuen Bau zu entscheiden. Gleichwohl bleibt auffällig, dass einige Gäste die angebotene Unterkunft ausschlugen, um lieber auf der Trausnitz zu wohnen. Um 1600 hat sich das Gewicht zwischen Trausnitz und Neuem Bau verschoben: So lehnte Herzog Wilhelm V. 1595 von München aus den Vorschlag ab, seinen Sohn Maximilian auf der Trausnitz einzulogieren. „ ... das wäre“, schrieb er „...zu ungereimt u. grob bayrisch“. Er veranlasst stattdessen eine Einrichtung des Neuen Baues mit Tapisserien, und er will wissen, ob Maximilian im Italienischen oder Deutschen Bau logieren werde. Nach dessen Einzug in die illuminierte Stadt findet ein Nachtmahl im Italienischen Saal statt, anschließend vor dem Deutschen Bau auf der Altstadt ein Feuerwerk. Später zieht Maximilian dann doch, wie alle Erbprinzen vor ihm, auf die Trausnitz.36 Unter dem Gesichtspunkt fürstlicher Hofhaltung muss man im Fall von Landshut also von einem Zusammenspiel zwischen dem Neuen Bau in der Stadt und dem alten Herrschaftssitz über der Stadt sprechen. Es kommt nicht zu einer Ablösung eines alten durch einen neuen Typus residenzstädtischer Architektur. Vielmehr ist das alte Modell eine notwendige Bedingung dafür, dass das neue Modell funktionieren kann. Zur Benennung des gesamten Baukomplexes sind in der jüngeren Zeit einige Vorschläge gemacht worden, die darauf hinauslaufen, die Bezeichnung „Stadtresidenz“ zurückzuwei32
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Zur Raumnutzung des Deutschen Baus s. Hubertus Günther, Il Deutscher Bau della residenza di Landshut. Funzioni e tipologie, in: Der Italienische Bau (wie Anm. 3), 65–76. Hilda Lietzmann, Die Landshuter Stadtresidenz unter den Herzögen Albrecht V. und Wilhelm V. (1550–1597), in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 122/123, 1996/1997, 139–173 (erweiterte Fassung von Hilda Lietzmann, Die Landshuter Stadtresidenz unter den Herzögen Albrecht V. und Wilhelm V. (1550–1597), in: Die Landshuter Stadtresidenz (wie Anm. 3), 249– 260; jeweils mit ausführlichen Quellennachweisen. Baerndt Ph. Baader, Der bayerische Renaissancehof Herzog Wilhelms V. (1568–1579). Leipzig und Straßburg 1943, 23ff., 217ff. passim. Etwa Brigitte Langer in: Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 381. Lietzmann 1998 (wie Anm. 33), 255–256. Als ein besonderes Ereignis fand 1585 im Italienischen Saal eine Ordensverleihung statt; ebenda 255.
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sen.37 Gerade vor dem Hintergrund der jüngeren Residenz-Forschung ist dies auch nicht anders denkbar, sollten wir doch davon ausgehen, dass mit „Residenz“ immer jener Ort zu bezeichnen ist, der dem permanenten Aufenthalt des Landesherrn diente. Und diese Permanenz bezog sich nicht allein auf die fürstliche Familie selbst, sondern schloss die zentralen Ämter der Hofhaltung und der landesherrlichen Behördenorganisation mit ein. „Residenz“ in Landshut war die Burg Trausnitz. Für den Neuen Bau in der Stadt fehlt uns ein angemessener Terminus. Hubertus Günther hat für den Deutschen Bau den Begriff „Amtsresidenz“ vorgeschlagen, der aber mit Blick auf die Residenzforschung kaum haltbar ist und zudem außer Acht lässt, dass Deutscher und Italienischer Bau in der Planung wie im späteren Gebrauch wechselseitig aufeinander bezogen waren.38 Die Funktion als Logierhaus für hochrangige Gäste und Familienmitglieder ist nicht mit einem feststehenden Terminus verknüpfbar. Vielmehr erscheint diese Aufgabe in der Frühen Neuzeit immer in Kombination mit anderen, vorrangigen, weil dauerhaft wahrgenommenen Funktionen. Wir wissen, dass in Süddeutschland „Zollhäuser“, wie hier in Landshut, dem Fürsten immer wieder zum zeitweiligen, kurzen Aufenthalt gedient haben.39 In Landshut übernahmen im späten Mittelalter sowohl das Zollhaus wie auch das Harnischhaus solche Aufgaben. Ähnliches ist vor allem für das 17. und 18. Jahrhundert bekannt, als die Landesherren ihre im Territorium verstreut liegenden Amtshäuser mit Appartements für fürstliche Gäste und für sich selbst ausstatten ließen.40 Im Falle Landshut haben wir es demnach mit einem Bau zu tun, der dauerhaft landesherrliche Verwaltungsaufgaben erfüllte und der gelegentlich als fürstliches Absteigequartier diente. Doch angesichts der höchst anspruchsvollen Architektur und Ausstattung des Neuen Baues reichen diese beiden Funktionen wohl kaum aus, den demonstrativen Akt architektonischer und künstlerischer Innovation zu begründen. In der Literatur werden gegenwärtig zur höfisch-funktionalen Kennzeichnung des Neuen Baues auch Bezeichnungen und Begrifflichkeiten wie „prunkvoller Palast“41, „Repräsentationspalast“42 und „Vorführpalast“43 benutzt. Doch in ihnen stellt sich nicht die Motivation des Bauherrn dar, die wir, da schriftliche Quellen fehlen, aus der besonderen Verfasstheit des Bauwerks und der Vita des Herzogs zu erschließen und plausibel zu machen haben. Dazu müssen wir uns vor Augen halten, dass im Landshuter Neuen Bau, abgesehen von den Räumen für die Zollverwaltung und Kanzlei44, die Räume die größte Zeit leer standen und demnach nicht im Sinne des höfischen Alltags oder des fürstlichen Zeremoniells genutzt wurden. Dem Herzog muss bewusst gewesen sein, wie schnell nach den dynastischen, landespoli37
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Gleichwohl wird immer noch umstandslos von „Ludwigs Neue(r) Residenz“ geschrieben; s. Wartena in: Ewig blühe Bayerns Land (wie Anm. 3), 274ff. Günther, Il Deutscher Bau (wie Anm. 32). Wolfgang Lippmann, Zollhäuser und fürstlicher Aufenthalt, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Bd. 4, München 2007, 272. In der ernestinischen Territorien Thüringens lassen sich dazu viele Beispiele nennen. Uwe Albrecht, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Bd. 4, München 2007, 210. Wartena, Landshuter Stadtresidenz (wie Anm. 3), 89. „der fürstlichen Repräsentation gewidmet“ so Lippmann, Zollhäuser (wie Anm. 39), 272. Wartena, Landshuter Stadtresidenz (wie Anm. 3), 90; diese Kennzeichnung geht offensichtlich auf Beatrix Hartick zurück, s. dazu Lange 1998 (wie Anm. 10), Anm. 14. Dazu der Hinweis von Wartena 2009 (wie Anm. 3), 83.
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tischen Gegebenheiten Landshut den Status einer herzoglichen Residenzstadt nach seinem Tod verlieren würde, und dass damit auch der Neue Bau nur in Ausnahmefällen als hochherrschaftliche Absteige würde dienen können. Aus diesen Gründen spricht viel dafür, in dem Landshuter Neubau – vor allem im Italienischen Bau – ein von alltäglichen höfischen Nutzungen weitgehend freigestelltes Monument zu erkennen, das mit seinem Traditions- und Konventionsbruch ein Denkmal sein wollte, um den Ruhm seines Bauherrn als gebildeten und in den Künsten kenntnisreichen Fürsten der Nachwelt zu verkünden. Hans Lange hat dazu schon wichtige Hinweise gegeben.45 Gerade auch die Rücknahme der sonst so üblichen Herrschaftsbilder und die Präsentation abstrakter Hinweise auf den Herzog begründen in dieser Sicht gleichermaßen den Sonderstatus des architektonischen Werks wie seines fürstlichen Stifters, der sich als humanistisch Gebildeter inszeniert. Die Freiräume, über die Ludwig X. auf Grund seiner besonderen dynastischen Position als zweitgeborener und unvermählter bayerischer Herzog verfügte, nutzte er zur Herausstellung seiner Memoria.46 Die negativen Seiten dieser Möglichkeiten waren jedoch erheblich: Das singuläre Werk wurde von den nachfolgenden bayerischen Herzögen nur fallweise genutzt. Für die Zeit nach 1600 lassen sich keine hochrangigen Besucher oder höfische Nutzungen mehr nachweisen. In den Landesbeschreibungen findet der Neubau nur knappe Erwähnung. Sollte Ludwig beabsichtigt haben, seinen eigenen Namen mit der errichteten Architektur zu verknüpfen, so ist diese Verbindung zwischen Werk und fürstlichem Auftraggeber schon ein Jahrhundert später nicht mehr gegenwärtig. In Merians Topographia von Bayern aus dem Jahre 1644 wird der Bau zwar mit seinen Zimmern und Ausstattungen als etwas für Landshut Besonderes hervorgehoben und gleichzeitig auch seine „Italienische Form“ betont; doch als Bauherr wird fälschlich „Hertzog Albrecht“ genannt.47 Bezeichnend auch, dass in der Landesbeschreibung von Michael Wening aus dem frühen 18. Jahrhundert einzig die Fassade des Deutschen Baus, nicht jedoch die Front des Italienischen Baus für abbildungswürdig erachtet wird. Dies alles lässt nur den Schluss zu, dass gerade das, was unter dem Blickwinkel tradierter Architektur- und Kunstgeschichtsschreibung so hoch taxiert wird, in der späteren Rezeption des Baues eine nur mindere Bedeutung besaß. Eine vergleichbare Rezeptionsverweigerung gilt auch außerhalb von Landshut und Bayern. In seiner stadträumlichen Lage, seiner fehlenden Befestigung und seiner innovativen Fassadengestaltung lässt der Neue Bau nichts vom dem erkennen, was den tradierten und aktuellen Normen residenzstädtischen Bauens im Alten Reich entsprach. Immer wieder und mit Recht ist sein ziviler, auf Fortifikationselemente verzichtender Charakter benannt worden, mit dem er sich deutlich in Opposition zu dem in dieser Zeit immer noch typischen Muster des ‚festen Schlosses‘ setzte. Als Beispiel sei dazu nur das seit den späten 1540er Jahren errichtete Schloss in Jülich genannt. Gern wird, um eine vermeintliche Zeittendenz für den Landshuter Bau fixieren zu können, auch auf Coburg verwiesen, kam es doch hier unter Herzog Johann Ernst von Sachsen-Coburg (1541–1553) nach 1543 zu einer Verlegung der Residenz von der über der Stadt gelegenen Veste in die Stadt. Der Neubau ist zur Stadt hin nicht mehr 45 46 47
Lange, Gasse (wie Anm. 10), bes. 151–152 und 154 zur Nutzung des Neuen Baues. Hierin folge ich Tönnesmann, Zeugung (wie Anm. 16), bes. 25. Matthaeus Merian, Topographia Bavariae. 2. Auflage 1657, Nachdruck Kassel 1962, 40.
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durch Graben und Mauer massiv befestigt. Doch nicht allein die Tatsache, dass er mit Vorburg und Hauptburg dem traditionellen Schlossschema folgt, unterscheidet ihn von der Landshuter Stadtresidenz. Es sind vor allem seine Lage am Rande der Stadt und seine architektonische Isolierung gegenüber den städtischen Wohnarealen, die ihn grundsätzlich von dem neuen bayerischen Bau unterscheiden.48 Auch eine umfassende Instrumentierung der Außenfassaden mit den Mitteln der Säulenordnungen blieb im 16. Jahrhundert eine Ausnahme. Üblich waren eher dekorative Muster, die zugleich die Möglichkeiten zur Entfaltung größerer Bildprogramme boten, wie etwa in Berlin oder Dresden. Diese wenigen Hinweise sollen genügen, um zu erkennen, dass der Etablierung eines neuen Typus von Residenzarchitektur in Landshut weder eine starke zeitgenössische Tendenz fürstlich-städtischen Bauens entsprach, noch dienten die von Ludwig X. initiierten architektonischen Innovationen im 16. Jahrhundert als Orientierungen und Anregungen bei späteren höfischen Architekturunternehmungen. Das Neubaukonzept Herzog Ludwigs X. wurde zu keinem Modell fürstlichen Bauens im Alten Reich. Da niemand es gebrauchte, wurde es bedeutungslos.
4. Modell ohne Kontext Wenn die Architekturgeschichtsschreibung an der Landshuter Stadtresidenz den originell verarbeiteten Import italienischer Formen und Muster mit Recht rühmt, so stellt sie damit die Frage nach den Bedingungen und Ergebnissen architektonischer Produktion in den Vordergrund. Die Innovationen lassen sich dann als Teil eines spezifischen Architektur- und Kunstprogramms lesen, das den Herzog einerseits als verantwortlichen und damit kundigen Initiator auswies, das andererseits jedoch auf der Ebene politischer Bildlichkeit den Fürsten als historisches Subjekt hinter seinem Bau zurücktreten ließ. Wenn wir weiter blicken und die Landshuter Stadtresidenz zugleich auch unter dem Blickwinkel ihrer Nutzung, Wahrnehmung und Rezeption nach dem Tode ihres Auftraggebers betrachten, so entsteht ein sehr zwiespältiges Ergebnis: Die ästhetischen Innovationen verweisen zum einen sehr deutlich auf die Sonderstellung des fürstlichen Auftraggebers, und sie signalisieren zugleich eine Rezeption aktueller italienischer Muster, die von den Nachfolgern und Standesgenossen des Bauherrn weder in ihrer gedächtnisstiftenden Tat, noch in ihrer kulturellen Orientierung aufgenommen wurden. Für die Frage nach der Bedeutung eines interhöfischen Kulturtransfers bedeutet dies, dass der Neue Bau in Landshut zwar als ein Beleg für die Wahrnehmung, Auseinandersetzung und produktive Aneignung eines neuen Musters italienischer Hofarchitektur durch einen Fürsten des Alten Reiches verstanden werden kann;49 doch blieb diese Rezeption auf diese eine singuläre Person begrenzt. Sie wurde zu keinem Modell einer neuen fürstlichen Architektur nördlich der Alpen.
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Ähnliches gilt für den Um- und Erweiterungsbau des gleichfalls unbefestigten Schlosses in Neuburg an der Donau (1534–1545). Zur „Perzeption“, „Kommunikation“ und „Adaption“ bei der Genese neuer höfischer Modelle vgl. Eva-Bettina Krems, Modellrezeption und Kulturtransfer. Methodische Überlegungen zu den künstlerischen Beziehungen zwischen Frankreich und dem Alten Reich (1660–1740), in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 31, 2004, 7–22.
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Darin wird eine grundsätzliche und im 16. Jahrhundert noch sehr deutliche Differenz zwischen der italienischen und der deutschen Form der Hofkultur deutlich. Die neuen Höfe in Italien waren nicht wie die Höfe im Alten Reich durch lange währende fürstliche Traditionen, sondern durch soziale Dynamik und künstlerische Innovation in den Residenzstädten geprägt. Den aufstrebenden Familien in den italienischen Stadtstaaten war es seit dem 15. Jahrhundert gelungen, ihre Statuserhöhungen durch die Realisierung völlig neuer, an der Antike ausgerichteter kultureller Muster vorzubereiten und zu begleiten. Auf diese Weise konnte vor allem das fehlende symbolische Kapital des dynastischen Alters kompensiert werden. Der für Ludwig X. so wichtige Hof in Mantua mit der Kunstpolitik unter Federico Gonzaga, von welcher der bayerische Herzog so begeistert war, bietet ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie das Streben zur Erlangung des Herzogstitels architektonische und künstlerische Energien freisetzte, für deren europaweite Rezeption der Neue Bau in Landshut nur ein Beispiel ist. Erst 1530 war der Gonzaga vom Deutschen Kaiser zum Herzog ernannt worden. Was Ludwig X. in Mantua bewunderte, war also die Kultur und Architektur eines sozialen Aufsteigers. Auch Ludwig X. wollte die aktuellsten italienischen Formen bei seinem Neubau verarbeitet sehen, ohne sie in den baulichen Kontext einer älteren fürstlichen Architektur zu integrieren, wie dies zuvor an einzelnen deutschen Residenzorten bereits geschehen war. Seine fürstlichen Standesgenossen und selbst die Mitglieder seiner Dynastie haben dieses Unternehmen jedoch offensichtlich nicht als einen zeitgemäßen Beitrag zur Entfaltung architektonisch-künstlerischer Kultur in ihrem höfisch-dynastischen Kontext verstanden. Der Bruch mit der Tradition war zu deutlich und nicht mehr mit dem zu vermitteln, was die kulturellen Normen für diese soziale Schicht im Alten Reich erforderten. In einer italienischen Stadt errichtet, wären die in Landshut so wichtigen Innovationen als Beitrag zu einer aktuellen künstlerischen Auseinandersetzung verstanden worden, und das Werk hätte seinem Bauherrn zu Ruhm und Ehre gereicht. Im Alten Reich blieb ihm allenfalls das Merkmal einer artifiziellen Kuriosität, um dann später der Vergessenheit anheimzufallen.50 Wie in Italien war auch im Alten Reich der Adel von der Dynamik sozialen Aufstiegs geprägt. Dies betraf vor allem den ‚neuen Adel‘. Auch er war wie die alten adeligen Familien auf das Land und nicht auf die Stadt hin orientiert, und dies markiert eine grundsätzliche Differenz gegenüber dem Adel in Italien.51 Das städtische Milieu in Italien erzwang bei den sozialen Aufsteigern die Formierung einer ästhetischen Kultur, die mit Rückgriff auf die Entwicklung und die hohe Ausdifferenzierung von neuen, distanzgebenden Zeichen hin angelegt war, die gerade auch innerstädtisch von großer Wirksamkeit waren. Dazu stellte das ästhetische und programmatische Potential der Antike die besten Voraussetzungen bereit.52 Anders als in Italien verband sich im Alten Reich sozialer Aufstieg und politische Anerkennung, zumindest im 16. Jahrhundert, vor allem mit der Präsentation von Formen, die primär durch ihr Alter
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Diesen Gedanken hat schon Wilhelm Lübke formuliert; vgl. das Zitat in Anm. 4. Zu den architektonischen Konsequenzen für Italien vgl. Lange, Gasse (wie Anm. 10), 152. Vgl. dazu Gerrit Walther, Adel und Antike. Zur politischen Bedeutung gelehrter Kultur in der Führungselite der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 266, 1998, 359–385; Volker Reinhardt, Die Renaissance in Italien. München 2002, bes. 67ff.; Paula Findlen, Possessing the past. The material world of the Italian Renaissance, in: The American historical review 108, 1998, 83–114 zu den antiken Sammlungsobjekten als “cultural capital”.
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und ihren sozialen Zeichenwert geprägt waren. Einzelne antike Bau- und Schmuckmotive konnten als modische Attribute eingefügt sein, sie bestimmten zunächst jedoch nicht das gesamte Erscheinungsbild eines Werkes. Eine solche Verbindung zwischen sozialer Dynamik und Hochwertigkeit alter Architekturzeichen wird etwa in den Landschlössern der Fugger überdeutlich, die im 16. Jahrhundert zu einem Zeitpunkt errichtet wurden, als die ehemals stadtbürgerliche Familie in den gräflichen Stand erhoben und zudem mit fürstlichen Privilegien ausgestattet worden war. Die Formen, mit denen sie dann ihre Schlösser erbauen ließen, folgten einem architektonischen Typus, der sich auf das hohe Mittelalter bezog, nicht jedoch auf die zeitgenössische Palazzo- oder Villenarchitektur Italiens.53 Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, unter dem Herzog und späteren Kurfürsten Maximilian I. von Bayern (1573–1651; ab 1623 Kurfürst) setzte sich in den bayerischen Territorien mit dem Um- und Ausbau der Residenz in München zu Beginn des 17. Jahrhunderts das durch, was Herzog Ludwig X. in Landshut versagt blieb: Eine produktive und zugleich erfolgreiche Verarbeitung italienischer Architektur- und Ausstattungsmuster, die für den nach dem Ende des 30–jährigen Krieges einsetzenden Bauboom entscheidende Voraussetzungen schufen. Die neuen Räume des Inneren und auch die Malerei an der Fassade zur Residenzstraße erinnern noch entfernt an die Muster des Italienischen Baues in Landshut. Jetzt erst traf das italienische Modell auf einen höfischen Kontext, der zur Aufnahme der Innovationen bereit war, die das Neue systematisch in die Zeichenwelt der eigenen höfischen Praxis einbezogen. Sie betrafen jetzt das Zentrum der Fürstenherrschaft, das Residenzschloss selbst und nicht mehr nachrangige höfische Bauten. Man kann den Neuen Bau in Landshut auch auf vergleichbare Fälle im Alten Europa beziehen, in denen es sehr häufig Vertreter in einer politisch und sozial eher prekären Stellung waren, die dazu neigten, ihre ständischen oder politischen Defizite durch Innovationen auf den unterschiedlichen Feldern höfischer Kultur zu kompensieren. Dies führte dann nicht selten zur Rezeption oder auch zur Herausbildung neuer Modelle höfischer Kunst. In dieser Hinsicht sind die Ambitionen der französischen Könige Franz I. (reg. 1515–1547) und Ludwig XIV. (reg. 1643–1715) wichtig, die Neues und Eigenständiges entstehen ließen, weil sie entweder politisch gescheitert waren, wie Franz I. gegenüber den Habsburgern, oder weil ihnen die Möglichkeit zur Präsentation traditioneller, alter Zeichen nicht gegeben war, wie bei Ludwig XIV. mit der vergleichsweise jungen Königswürde seines Hauses. Ludwig X. und Landshut gehören wohl zu jenen Fällen, in denen der Freiraum, den innerdynastische Sonderstellungen ermöglichten, die Entstehung neuer kultureller Modelle erzeugen konnte. Sie wären dann in einem epochalen Zugriff mit jenen Leistungen zu vergleichen, wie sie später Kaiser Rudolf II. (reg. 1576–1612) in Prag und der Preußenkönig Friedrich II. (reg. 1740–1786) in Potsdam erbrachten, die beide wie Ludwig X. ihre höfische Welt nicht auf einen leiblichen Erben ausrichten mussten und damit einen dynastischen Randstatus einnahmen.
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Unmittelbare Folge dieser Statuserhöhung war der Umbau des Schlosses in Babenhausen in den 1530er Jahren von Anton Fugger. Niederalfingen wurde 1551 von Anton und Raimund Fugger erworben und von Markus Fugger in den Jahren 1575–77 ausgebaut. Zu den Schlossbauten der Fugger vgl. Klaus Merten, Die Landschlösser der Familie Fugger im 16. Jahrhundert, in: Welt im Umbruch. Ausstellungskatalog. Band 3. Augsburg 1981, 66–81.
Auf der Suche nach einem neuen Modell James Harrington und die englische Republik Ulrich Niggemann
James Harrington galt lange Zeit als ein politischer Denker, der nur einigen wenigen Spezialisten besser bekannt war. Gegenüber Geistern wie Thomas Hobbes, John Milton oder John Locke gehörte er bestenfalls in die zweite Reihe der politischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts.1 Das hat sich freilich inzwischen deutlich verändert, was insbesondere John G. A. Pocock zu verdanken ist, der sich bereits in seinem Erstlingswerk „The Ancient Constitution and the Feudal Law“ mit den Ideen Harringtons auseinandersetzte und ihm in seinem zweiten großen Werk „The Machiavellian Moment“ sogar die Rolle des entscheidenden englischen Vermittlers eines bereits aus der griechischen Antike bis in die italienische Renaissance reichenden Traditionsstrangs zuerkannte. Das bei Harrington gebündelte und dem englischen politischen und historischen Bewusstsein angepasste Gedankengut sei dann konstitutiv geworden für das republikanische Denken in England und in Amerika. Letztlich sei die Ideengeschichte der Amerikanische Revolution und der US-Verfassung ohne das Gedankengut Harringtons und seiner geistigen Erben, der „Neo-Harringtonians“, nicht erklärbar.2 Neben vielen Einzelaufsätzen trug Pocock auch durch seine Edition des Gesamtwerks zur breiteren Rezeption Harringtons bei.3 Zahlreiche weitere Autoren haben inzwischen Arbeiten zu Harrington und insbesondere zu seinem 1656 publizierten Hauptwerk „The Commonwealth of Oceana“ vorgelegt, wobei freilich Pococks Interpretationsansätze inzwischen vielfach kriti-
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Diese Einschätzung noch bei Horst Dippel, Tugend und Interesse bei Harrington. Einige Anmerkungen anläßlich der Neuausgabe seiner Werke, in: Geschichte und Gesellschaft 10, 1984, 534–545, hier 534. John G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English Historical Thought in the Seventeenth Century. Cambridge 1957, hier zitiert in der Neuausgabe Cambridge 1987. Ders., The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republic Tradition. Princeton 1975, hier zitiert in der Neuausgabe Princeton/Oxford 2003. Zu den wichtigen früheren Arbeiten zu Harrington zählen u. a. Zera S. Fink, The Classical Republicans. An Essay in the Recovery of a Pattern of Thought in 17th Century England. 2. Aufl. New York 1962; und Charles Blitzer, An Immortal Commonwealth. The Political Thought of James Harrington. (Yale Studies in Political Science, Bd. 2.) New Haven/Conn. 1960. Auf die Vorbildfunktion Harringtons für die amerikanische Verfassung weist freilich schon hin Theodore W. Dwight, Harrington and his Influence upon American Political Institutions and Political Thought, in: Political Science Quarterly 2, 1887, 1–44. John G. A. Pocock (Hrsg.), The Political Works of James Harrington. Cambridge u. a. 1977. Eine Studienausgabe liegt vor in: James Harrington, The Commonwealth of Oceana and A System of Politics, hrsg. v. John G. A. Pocock. (Cambridge Texts in the History of Political Thought) Cambridge 1992. Diese Studienausgabe wird im Folgenden zitiert. Als frühere Edition sei zudem verwiesen auf Sten B. Liljegren (Hrsg.), James Harrington’s Oceana. (Skrifter, Bd. 4) Heidelberg 1924.
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siert worden sind. Insbesondere die Isolierung eines einzelnen Traditionsstrangs aristotelischen Gedankenguts wurde vielfach hinterfragt, so dass inzwischen eine regelrechte Pluralisierung der Ansätze zur Einordnung und ideengeschichtlichen Verortung Harringtons zu beobachten ist.4 Auf die verschiedenen Ansätze kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Wichtig ist jedoch, dass Harrington kein Unbekannter mehr ist, sondern inzwischen als politischer Denker in der anglo-amerikanischen Geschichte der Frühen Neuzeit etabliert ist.5 Wie die zentralen Werke von Thomas Hobbes sind auch die Schriften Harringtons, namentlich „The Commonwealth of Oceana“, im Kontext der Bürgerkriege und der Revolution der 1640er Jahre zu sehen. Seine Publikationen sind Stellungnahmen zur politischen Situation seiner Zeit und theoretische Überlegungen zur Staatsform der Republik. Die Interpretation Harringtons bei Pocock und zahlreichen anderen englischsprachigen Forschern bewegt sich freilich im Rahmen eines ganz bestimmten Interpretaments der Englischen Revolution und des Interregnums, das ursprünglich von den „Revisionisten“ seit den 1960er und 1970er Jahren etabliert wurde und seither kaum noch in Frage gestellt wird, nämlich der Vorstellung, dass das Verhältnis zwischen Krone und Parlament bis zum Ausbruch des offenen Konflikts 1642 und sogar noch darüber hinaus maßgeblich vom Streben nach Konsens gekennzeichnet gewesen sei. Dementsprechend seien republikanische Theorien auch erst nach der Hinrichtung Karls I. und der Abschaffung der Monarchie 1649 entwickelt worden – sozusagen als nachträgliche Rechtfertigung des Geschehenen.6 Bei Blair Worden etwa heißt es lapidar: 4
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Etwa J. Colin Davis, Utopia and the Ideal Society. A Study of English Utopian Writing 1516–1700. Cambridge u. a. 1981, 206–240; ders., Pocock’s Harrington: Grace, Nature and Art in the Classical Republicanism of James Harrington, in: The Historical Journal 24, 1981, 683–697; Dippel, Tugend (wie Anm. 1); Alan Cromartie, Harringtonian Virtue: Harrington, Machiavelli, and the Method of the Moment, in: The Historical Journal 41, 1998, 987–1009; Diana Stanciu, Practical Wisdom in Harrington’s Perfect Commonwealth, in: Heinrich C. Kuhn/Diana Stanciu (Hrsg.), Ideal Constitutions in the Renaissance. Papers from the Munich February 2006 Conference. (Renaissance Intellectual History, Bd. 1.) Frankfurt a. M. u. a. 2009, 53–72. Eine eher essayistische Gesamtinterpretation bietet Alois Riklin, Die Republik von James Harrington 1656. (Kleine politische Schriften, Bd. 6.) Bern/Wien 1999. Das zeigt sich auch an seiner Präsenz in Handbüchern zur Ideengeschichte, etwa bei Blair Worden, English Republicanism, in: James H. Burns (Hrsg.), The Cambridge History of Political Thought, 1450–1700. Cambridge 1996, 443–475; John G. A. Pocock/Gordon J. Schochet, Interregnum and Restoration, in: John G. A. Pocock (Hrsg.), The Varieties of British Political Thought, 1500–1800. Cambridge 1993, 146–179; Mark Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen. 5 Bde. München u. a. 1985–1993, Bd. 3, 1985, 275–352. So etwa John G. A. Pocock, Introduction, in: Harrington, Oceana (wie Anm. 3), xi; Pocock/Schochet, Interregnum (wie Anm. 5), 147f.; Blair Worden, Marchamont Nedham and the Beginnings of English Republicanism, 1649–1656, in: David Wootton (Hrsg.), Republicanism, Liberty, and Commercial Society, 1649–1776. (The Making of Modern Freedom) Stanford/Cal. 1994, 45–81; und mit Blick auf Milton: Thomas N. Corns, Milton and the Characteristics of a Free Commonwealth, in: David Armitage/Armand Himy/Quentin Skinner (Hrsg.), Milton and Republicanism. (Ideas in Context, Bd. 35.) Cambridge 1995, 25–42, hier 25f. Vgl. zum „Revisionismus“ die klassische Studie von Geoffrey Elton, A High Road to Civil War?, in: ders., Studies in Tudor and Stuart Politics and Government. Papers and Reviews 1946–1972. 2 Bde. Cambridge 1974, Bd. 2: Parliament / Political
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„They cut off King Charles’ head and wondered what to do next.“7 Vor diesem Hintergrund interessieren sich Pocock und viele andere Ideenhistoriker vor allem für Harringtons Erklärung des Bürgerkriegs und des Zusammenbruchs der Monarchie sowie allgemein für seine Geschichtsauffassung. Pocock betont, dass Harrington eine Theorie der Geschichte des Bürgerkriegs entwarf, die gleichsam Richard Tawneys These vom „Rise of the Gentry“8 vorweggenommen habe. Mit der Idee, dass politische Macht auf (Land-)Besitz („property“) beruhe und die Staatsform von der Besitzverteilung abhänge, habe Harrington eine neue, ökonomische Deutung des Bürgerkriegs etabliert.9 Schon Charles Blitzer konnte 1960 sagen, dass Harringtons ökonomische Fundierung politischer Macht sein berühmtester Beitrag zur politischen Theorie sei.10 Die Hauptleistung Harringtons bestand demnach vor allem in seiner Geschichtsphilosophie und seiner theoretischen Grundlegung eines republikanischen Staatswesens. Weit weniger stand bisher Harringtons konkreter Entwurf einer republikanischen Verfassung im Vordergrund der Erörterungen, obwohl Harrington gerade diesem Entwurf in seinem „Commonwealth of Oceana“ breiten Raum einräumt. Alois Riklin hebt zu Recht diese Innovation Harringtons hervor, indem er betont: „niemand hat vor Harrington als Buchautor eine geschriebene Verfassung entworfen. Und niemand hat vor ihm zum geschriebenen Verfassungsentwurf gleich auch noch den Kommentar mitgeliefert“.11 Nur kurz zuvor war ja mit dem Instru-
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Thought (zuerst 1966), 164–182; oder den Sammelband von Conrad Russell (Hrsg.), The Origins of the English Civil War. (Problems in Focus) London/Basingstoke 1973. Außerdem dazu Peter Wende, Revisionismus als neue Orthodoxie? Parlament und Revolution in der modernen englischen Historiographie, in: Historische Zeitschrift 246, 1988, 89–106; ders., Literaturbericht zur Englischen Revolution, in: Geschichte und Gesellschaft 20, 1994, 140–155; Kaspar von Greyerz, England im Jahrhundert der Revolutionen 1603–1714. Stuttgart 1994, 14–33; und Glenn Burgess, On Revisionism: An Analysis of Early Stuart Historiography in the 1970s and 1980s, in: The Historical Journal 33, 1990, 609–627. Blair Worden, Milton’s Republicanism and the Tyranny of Heaven, in: Gisela Bock/Quentin Skinner/Maurizio Viroli (Hrsg.), Machiavelli and Republicanism. (Ideas in Context, Bd. 18.) Cambridge 1990, 225–245, hier 226. Eine eher linksgerichtete Kritik gegenüber den Ansätzen der Revisionisten legte neuerdings etwa Geoff Kennedy, Radicalism and Revisionism in the English Revolution, in: Mike Haynes/Jim Wolfreys (Hrsg.), History and Revolution. Refuting Revisionism. London/New York 2007, 25–49, vor. Zumindest vorsichtig auch Cromartie, Harringtonian Virtue (wie Anm. 4), 991. Richard H. Tawney, The Rise of the Gentry, 1558–1640, in: Economic History Review 11, 1941, 1–38. Vgl. Pocock, Ancient Constitution (wie Anm. 2), 124–147; ders., Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 385–389; ders., Historical Introduction, in: Political Works (wie Anm. 3), 46–51; Pocock/Schochet, Interregnum (wie Anm. 5), 165–168; sowie Blair Worden, James Harrington and the Commonwealth of Oceana, in: Wootton (Hrsg.), Republicanism (wie Anm. 6), 82–110, hier 86–88; Goldie, Absolutismus (wie Anm. 5), 332f. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 114. Vgl. auch ebd., 175. Ähnlich sogar schon Richard H. Tawney, Harrington’s Interpretation of his Age, in: Proceedings of the British Academy 27, 1941, 199–223, hier 200f. Riklin, Republik (wie Anm. 4), 219. Zur Originalität abwägend auch Blair Worden, Harrington’s Oceana: Origins and Aftermath, 1651–1660, in: Wootton (Hrsg.), Republicanism (wie Anm. 6), 111– 138, hier 111. Pocock findet die Länge von Harringtons Verfassungsdarstellung „wearisome“; Pocock,
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ment of Government (1653) überhaupt erstmals eine schriftlich fixierte Verfassung – die einzige die England bis heute je besessen hat – in Kraft gesetzt worden.12 Gerade im Hinblick auf die Frage nach „neuen Modellen“ kommt dem Entwurf Harringtons eine besondere Bedeutung zu, die im Folgenden zu erörtern sein wird. Zunächst soll der Verfassungsentwurf als „Modell“, als normatives Vorbild für eine künftige englische Verfassung skizziert werden (I). Sodann wird in einem zweiten Schritt der Methode und dem Bewusstsein, in dem Harrington seinen Verfassungsentwurf schuf, einige Aufmerksamkeit zu widmen sein (II), denn es soll hier nicht allein um die Frage gehen, inwieweit der Entwurf ein neues Modell darstellte, sondern auch inwieweit dieses Modell als Innovation, als Neuerung konzipiert war. Stellte Harrington das neue Modell als Rückkehr zur guten alten Tradition dar oder wies er es selbst als Innovation aus?13
I. Das Modell „Oceana“ James Harrington verfasste sein „Commonwealth of Oceana“ 1656, zu einem Zeitpunkt also, als es nicht mehr allein um die Rechtfertigung der Gründung einer Republik gehen konnte, sondern vielmehr um die Zukunft eines Staatswesens, das mit dem Protektorat Oliver Cromwells zunehmend wieder in Richtung Monarchie driftete. „Oceana“ ist somit zu Recht von zahlreichen Autoren als Oppositionsschrift gegen das Cromwell-Regime gewertet worden.14 Anhand der Geschichte des fiktiven, aber deutlich als England identifizierbaren Inselstaates
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Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 393; und ähnlich Tawney, Harrington’s Interpretation (wie Anm. 10), 206. Der Text des Instrument of Government vom 16. Dezember 1653 liegt vor bei: John P. Kenyon, The Stuart Constituion 1603–1688. Documents and Commentary. Cambridge 1966, 342–348. Vgl. dazu jetzt Regina Pörtner, „The highest of time“: Verfassungskrise und politische Theorie in England 1640–1660. (Historische Forschungen, Bd. 90.) Berlin 2009, 95–97. Zum grundsätzlichen Problem von Innovation in der traditionsorientierten Gesellschaft des frühneuzeitlichen England auch Glenn Burgess, Radicalism and the English Revolution, in: ders./ Matthew Festenstein (Hrsg.), English Radicalism, 1550–1850. Cambridge 2007, 62–86, hier 62f. Von einem „model“ spricht übrigens auch Harrington selbst; so etwa Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 72. Vgl. dazu Pocock, Introduction (wie Anm. 6), xvii. Pocock, Historical Introduction (wie Anm. 9), 6–14; Pocock/Schochet, Interregnum (wie Anm. 5), 165f.; Worden, Harrington’s Oceana (wie Anm. 11), 117f.; ders., English Republicanism (wie Anm. 5), 450; und Quentin Skinner, Liberty before Liberalism. Cambridge 1998, 65. Eher als Handlungsanleitung für Cromwell und die Armee sieht Paul Rahe den Text; Paul A. Rahe, Republics Ancient and Modern. 3 Bde. Chapel Hill 1994, Bd. 2: New Modes and Orders in Early Modern Political Thought, 179. Strittig ist, ob Harrington noch auf das im Sommer 1656 gewählte und im September desselben Jahres erstmals zusammengetretene Parlament Einfluss nehmen wollte. Das Werk erschien im November des Jahres, doch die Verspätung ist wahrscheinlich auf die zeitweise Konfiskation des druckfertigen Manuskripts zurückzuführen; vgl. Worden, James Harrington (wie Anm. 9), 82. Worden weist freilich auch auf die Möglichkeit hin, dass Harrington bereits früher Teile des Werks skizziert hat und es somit Ergebnis eines längeren Entstehungsprozesses sein könne; Worden, Harrington’s Oceana (wie Anm. 11), 113–126. Auf eine eingehendere Kontextualisierung von Harringtons Werk innerhalb der Debatten der Zeit muss an dieser Stelle leider verzichtet werden.
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Oceana, der in Personalunion mit dem nördlichen Teil der Insel, Marpesia, und der Nachbarinsel Panopea verbunden ist und dessen monarchische Herrschaft vor kurzer Zeit als Ergebnis eines Bürgerkriegs abgeschafft worden ist, zeigt Harrington auf, wie ein kluger Gesetzgeber verfahren müsse, um eine stabile und dauerhafte Republik zu schaffen. In Oceana ist dieser Gesetzgeber der Lord Archon, Olphaus Megaletor, in der deutlich die idealisierte Person Cromwells zu erkennen ist.15 In gewisser Weise wird hier ein Cromwell vorgeführt, wie er sein sollte, auch wenn es dabei an Ironie nicht fehlt.16 Im ersten Teil der Präliminarien legt Harrington seine politischen Prinzipien dar. Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen ist Harringtons Unterscheidung von antiker und moderner Klugheit, wobei er der Einteilung der Geschichte Venedigs durch Donato Giannotti folgt. Demnach endete die erste Periode mit dem Ende der Freiheit Roms, also dem Ende der römischen Republik. Hier sieht er die Epochenwende von der „ancient prudence“ zur „modern prudence“.17 Unter der antiken Klugheit versteht Harrington die Bauprinzipien der antiken Republiken, angefangen beim alten Israel, über die griechischen poleis bis hin zur römischen Republik vor ihrer Zerstörung durch Caesar. Diesen Republiken habe ein annähernd korrektes Verständnis der natürlichen Staatsprinzipien zugrunde gelegen. Hier sei das „empire of laws and not of men“ verwirklicht gewesen.18 Die Grundelemente von Harringtons Auffassung der antiken Klugheit sind die Prinzipien der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung, der Wahlordnung, der Rotation der Ämter sowie die gleichmäßige Verteilung von Grundbesitz. Alle Glieder des Systems sind als Checks and Balances konzipiert, so dass kein Element auf die Dauer Macht usurpieren könne. Harrington ist der Überzeugung, dass nicht gute Menschen gute Gesetze machen, sondern gute Gesetze gute Menschen schaffen.19 Lediglich Venedig habe über den Zusammenbruch der antiken Republiken hinaus diese „ancient prudence“ bewahrt. Deutlich wird bei Harrington seine Bewunderung für die Serenissima und ihre Institutionen, die er aus eigener Anschauung kannte.20 15
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Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 66–68. Zu den fiktiven Namen und den ihnen zuzuordnen Personen ebd., 47 Anm. 5; und Riklin, Republik (wie Anm. 4), 78. So Riklin, Republik (wie Anm. 4), 123–127. Vgl. auch Worden, Harrington’s Oceana (wie Anm. 11), 120f.; und Paul A. Rahe, Against Throne and Altar. Machiavelli and Political Theory under the English Republic. Cambridge 2008, 322f. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 8. Harrington bezieht sich auf Donato Giannottis Libro della republica de’ Viniziani von 1540. Vgl. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 177f.; Arihiro Fukuda, Sovereignty and the Sword. Harrington, Hobbes, and Mixed Government in the English Civil Wars. (Oxford Historical Monographs) Oxford 1997, 2f., 72–75. Unter Berufung auf Aristoteles und Livius Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 8 und 20. Vgl. dazu auch Stanciu, Practical Wisdom (wie Anm. 4), 64. „‚Give us good men and they will make us good laws‘ is the maxim of a demagogue, and (through the alteration which is commonly perceivable in men, when they have power to work their own wills) exceeding fallible. But ‚give us good orders, and they will make us good men‘ is the maxim of a legislator and the most infallible in the politics“; Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 64. Vgl. zu dieser zentralen Doktrin Goldie, Absolutismus (wie Anm. 5), 332; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 213f. Vgl. Fukuda, Sovereignty (wie Anm. 17), 2. Zum Verhältnis Harringtons zu Venedig vgl. Fink, Classical Republicans (wie Anm. 2), 53f.; Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 19f., 299–305; Allgemein zum „Mythos“ Venedig Achim Landwehr, Die Erschaffung Venedigs: Raum, Bevölkerung, Mythos 1570–1750. Paderborn 2007.
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Mit dem Untergang der römischen Republik seien – sieht man von Venedig ab – diese Prinzipien verlorengegangen und durch die „modern prudence“ ersetzt worden. Damit meint Harrington vor allem das Ungleichgewicht, das aus der einer monarchischen Staatsform nicht adäquaten Landverteilung zugunsten des Adels im Feudalismus resultiere. Eben dieses Ungleichgewicht bezeichnet Harrington auch als „Gothic balance“. Das Ergebnis ist keine Mischverfassung im antiken Sinne, sondern eine „mixed monarchy“21, in der Regieren die Kunst gewesen sei, „whereby some man, or some few men, subject a city or a nation, and rule it according unto his or their private interest“. Im Gegensatz zur Antike sei dies ein „empire of men and not of laws“ gewesen.22 Damit setzt sich der zweite Teil der Präliminarien auseinander, indem er die Geschichte Oceanas in nachrömischer Zeit darstellt. Die spezifische „mixed monarchy“, deren Charakteristikum das Ungleichgewicht der Landverteilung zugunsten des Adels gewesen sei, habe dazu geführt, dass Krone und Hochadel sich in einem beständigen „wrestling match“ befunden hätten, in dem mal die eine, mal die andere Seite die Oberhand gewonnen habe.23 Schließlich habe König Panurgus (Heinrich VII.) die Aristokratie durch die Umverteilung von Land auf die Gentry entmachtet, ein Vorgang der durch die Auflösung der Klöster und die Vergabe von Kirchenland an die Gentry im Zuge der Reformation noch verstärkt worden sei. Das Land sei, so Harrington, in den Besitz des Volkes gelangt, das er kurzerhand mit der Gentry identifiziert. Gemäß seiner Prämisse, dass Herrschaft auf der Verteilung des Landbesitzes basiere – und zwar weil von ihm die Loyalität der Soldaten abhänge –, habe die Monarchie sich damit jedoch ihrer Grundlagen beraubt. Der Landbesitz durch das Volk bedinge notwendigerweise eine Herrschaft des Volkes.24 Eben diese Situation sei die eigentliche Ursache des Bürgerkriegs gewesen25, der jedoch
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Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 11f., 47f. Vgl. auch Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 184– 188; Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 388f. Zum essentiellen Unterschied einer klassischen Mischverfassung und des englischen „king-in-parliament“ vgl. auch Fukuda, Sovereignty (wie Anm. 17), 1 und 82–90. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 9. Vgl. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 178–183. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 53. Vgl. zu Harringtons Einschätzung und Bewertung der „mixed monarchy“ Pocock, Ancient Constitution (wie Anm. 2), 136f.; ders., Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 388f.; Worden, James Harrington (wie Anm. 9), 85f. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 54–56. Das Grundprinzip beschreibt Harrington bereits im ersten Teil seiner Präliminarien wie folgt: „Domestic empire is founded upon dominion. Dominion is property real or personal; that is to say in lands, or in money and goods. Lands, or the parts and parcels of a territory, are held by the proprietor or proprietors, lord or lords of it, in some proportion; and such […] as is the proportion or balance of dominion or property in land, such is the nature of the empire“; ebd., 11. Vgl. dazu auch Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 114–116, 188–196; Pocock, Ancient Constitution (wie Anm. 2), 128f., 131–133; Pocock/Schochet, Interregnum (wie Anm. 5), 167f.; Goldie, Absolutismus (wie Anm. 5), 332f.; Worden, English Republicanism (wie Anm. 5), 451f.; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 217–219; Rahe, Republics (wie Anm. 14), 182; Fukuda, Sovereignty (wie Anm. 17), 78f. Harrington bringt diese Erkenntnis auf den Punkt, indem er schreibt: „Wherefore the dissolution of the government caused the war, not the war the dissolution of this government“; Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 56; und an anderer Stelle formuliert er: „Oceana, or any other nation of no greater extent, must have a competent nobility, or is altogether incapable of monarchy. For where there is equality of estates, there must be equality of power; and where there is equality of power, there can
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nicht in die Errichtung einer Republik geführt habe, sondern in eine Tyrannei des Parlaments. Die alleinige Regierungsgewalt in den Händen einer einzigen Institution widerspreche den Grundprinzipien einer auf Gleichheit ausgerichteten Republik und damit der „ancient prudence“.26 Bis zu diesem Punkt handelt es sich ganz klar um eine Deutung der englischen Geschichte bis zu Harringtons Gegenwart. In dieser verfahrenen Situation lässt Harrington nun den siegreichen Feldherrn Olphaus Megaletor, alias Oliver Cromwell auftreten, der die Initiative ergreift, um Oceana eine neue, dauerhafte und republikanische Verfassung zu geben. Wie Lykurg im Falle Spartas soll diese Verfassung das Werk eines einzelnen charismatischen Führers sein, denn nur so könne eine Verfassung aus einem Guss entstehen.27 Mit Hilfe der Armee setzt Olphaus Megaletor das Parlament ab. Sodann wird er von der Armee zum Archonten und alleinigen Gesetzgeber ernannt, dem allerdings ein Rat von fünfzig Legislatoren zur Assistenz gegeben wird. In einem komplizierten Procedere wird schließlich die Verfassung oder das „model of the commonwealth of Oceana“ geschaffen, das Harrington in seinem Hauptkapitel beschreibt.28 Harrington geht davon aus, dass nur eine gleichmäßige Verteilung des Bodens auf die freie Bevölkerung die Stabilität einer Republik garantiere. Entscheidend ist dabei, dass es Harrington nicht um die Gleichheit des Besitzes geht, sondern um eine breite Verteilung. Zu umfangreichen Besitz lehnt er ebenso ab wie zu kleinen, dazwischen jedoch lässt er Differenzierungen zu. Eine der zentralen Maßnahmen in Harringtons Oceana ist also die Schaffung eines „agrarian“, eines Agrargesetzes, das die Erbschaft umfangreichen Landbesitzes begrenzt.29 Auf diese Weise will Harrington eine größere Schicht landbesitzender und waffenfähiger Bürger schaffen, die politisch partizipieren soll.
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be no monarchy“; ebd. 60. Dazu auch Pocock, Ancient Constitution (wie Anm. 2), 139–143; ders., Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 388f.; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 92f. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 64–66, wo er das revolutionäre Rumpfparlament mit den Oligarchien und den dreißig Tyrannen in Athen sowie mit den decemviri in Rom vergleicht. Vgl. dazu auch Cromartie, Harringtonian Virtue (wie Anm. 4), 1002f.; Worden, James Harrington (wie Anm. 9), 90; Fukuda, Sovereignty (wie Anm. 17), 3f.; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 94. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 66–68. Harrington beruft sich in seiner Hochschätzung eines einzelnen Verfassungsgebers auf Machiavelli, Discorsi I, 9; ebenfalls unter Berufung auf antike Vorbilder wie Romulus, Solon oder Lykurg kommt dieser zu dem Schluß: „Considerato adunque tutte queste cose, conchiudo come a ordinare una republica è necessario essere solo“; Niccolò Machiavelli, Opere, hrsg. v. Mario Bonfantini. Mailand/Neapel 1968, 116–118. Vgl. dazu Felix Raab, The English Face of Machiavelli. A Changing Interpretation 1500–1700. (Studies in Political History) London/Toronto 1965, 188; und generell zu Harringtons Annahme, dass die Verfassung von einem Einzelnen durchgesetzt werden müsse, Davis, Utopia (wie Anm. 4), 214; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 122f. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 67f., und zum „Council of Legislators“ ebd., 69–71. Das Gesetzgebungsverfahren wird zudem im Hauptkapitel in der Beschreibung der Verfassung immer wieder beschrieben, indem die Verfassung anhand der Reden und Gegenreden des Verfassungsgebungsverfahrens geschildert wird. Vgl. dazu auch Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 211–214. Zu den Prinzipien Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 11–16, und zum Agrargesetz selbst ebd., 101– 114. Vgl. zu Harringtons Ideen der Agrargesetzgebung auch Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 226–234; Worden, English Republicanism (wie Anm. 5), 453; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 161– 166; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 231–235.
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Alle freien Grundbesitzer sollen gleichermaßen wahlberechtigt sein; ausgeschlossen von der Wahlberechtigung bleiben jedoch alle Unfreien bzw. Dienstboten.30 Trotz dieser relativ weitgehenden Gleichberechtigung der freien Landbesitzer geht Harrington davon aus, dass ein kleinerer Teil der Bevölkerung stets klüger und talentierter sei als der Rest, so dass es eine Art natürlicher Aristokratie gebe. Diese sei zumeist unter den Wohlhabenderen zu finden, die aufgrund ihrer Muße mehr Zeit zum Studium besäßen.31 Aus diesen Befähigteren will er in einem komplizierten Wahlverfahren einen Senat wählen lassen, dem es obliegen soll, Gesetzesvorlagen zu entwickeln und zu beraten. Gemäß der Grundidee, Debatte und Entscheidung institutionell zu trennen, werden die so entwickelten Vorschläge des Senats einem Repräsentantenhaus vorgelegt, das die Vorschläge annehmen oder ablehnen könne, ohne freilich darüber debattieren zu dürfen. Auch dieses Repräsentantenhaus ist in freier und geheimer Wahl von der wahlberechtigten Bevölkerung zu wählen.32 Harrington entwickelt also ein Zweikammerparlament und ein mehrstufiges, geheimes Wahlverfahren, um eine dem Prinzip des Interessenausgleichs verpflichtete Repräsentation zu schaffen. Einen König und einen Erbadel gibt es nicht. Die Exekutive wird einer Signoria, einem Magistrat und einer Reihe von Ausschüssen, die aus dem Senat gewählt werden, anvertraut.33 Wichtig an Harringtons System ist die Ämterrotation. Kein Amt wird auf Lebenszeit vergeben, und niemand kann unmittelbar wieder in ein Amt gewählt werden, das er in der vorhergehenden Wahlperiode innehatte.34 So will Harrington die Korruption durch das Amt und Parteienbildung verhindern. Der Unterbindung von Parteienbildung und Aufruhr dient auch das Verbot der öffentlichen Debatte, die er unter schwere Strafe gestellt wissen will. Ein Vordenker einer modernen, Versammlungs-, Diskussions- und Pressefreiheit war Harrington sicher nicht.35
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Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 75. Dazu z. B. auch Goldie, Absolutismus (wie Anm. 5), 331; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 223f.; Worden, James Harrington (wie Anm. 9), 92f. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 23f., 141. Vgl. zu dieser „natural aristocracy“ bei Harrington Worden, English Republicanism (wie Anm. 5), 454; Rahe, Republics (wie Anm. 14), 193; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 220f.; Fukuda, Sovereignty (wie Anm. 17), 100f.; Worden, James Harrington (wie Anm. 9), 94–96. Zur Wahlordnung insgesamt Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 78–101. Zum Wahlverfahren, das Harrington weitgehend aus Venedig übernimmt, vgl. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 216– 226; Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 393f.; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 166–180; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 224–227. Zum Prinzip der Trennung von Beraten und Entscheiden Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 22–25, wo das Prinzip anhand der Anekdote von zwei Mädchen, die einen Kuchen aufteilen, indem die eine teilen und die andere wählen darf, verdeutlicht wird. Vgl. dazu auch Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 149–153; Dippel, Tugend (wie Anm. 1), 540; Worden, English Republicanism (wie Anm. 5), 454; Rahe, Republics (wie Anm. 14), 192; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 221f.; Fukuda, Sovereignty (wie Anm. 17), 99. Prinzipiell bereits in den Präliminarien Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 25; zur Einrichtung in Oceana ebd., 122–135. Vgl. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 155–157, 248–261; Goldie, Absolutismus (wie Anm. 5), 331; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 227f.; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 190– 192. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 95–97, 122–124. Vgl. Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 394; Goldie, Absolutismus (wie Anm. 5), 332; Worden, English Republicanism (wie Anm. 5), 453f.; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 168–170; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 226–228. Vgl. hierzu besonders Rahe, Republics (wie Anm. 14), 184–186.
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Mit dem Wahlrecht geht die Verpflichtung zum Waffendienst einher. Harringtons Konzept sieht ganz deutlich die Einheit von freiem Landbesitzer, politisch partizipierendem Bürger und Soldaten vor.36 Die gesamte Bevölkerung wird nach militärischen Kriterien eingeteilt, die zugleich auch das Einteilungsprinzip bei den Wahlen bilden. Die Jungen sollen die mobilen Verbände bilden, die Älteren die statischen Reserven für die Landesverteidigung.37 Harrington schafft hier also den Entwurf einer neuen Verfassung, die auf die englischen Verhältnisse angewandt werden soll. Die Aufforderung an Cromwell, ein solches Projekt zu verwirklichen, ist kaum verschleiert. Auffällig ist – das ist bereits mehrfach betont worden – das Harringtons Republik im Wesentlichen agrarisch geprägt ist. Harrington erkennt zwar an, dass es Handel und urbane Industrie gibt, doch seine Prinzipien politischer Partizipation gründen sich deutlich auf dem Landbesitz.38 Dementsprechend ist hervorgehoben worden, dass Harrington – im Sinne seiner eigenen Herkunft aus der Gentry – vor allem den Besitz und die politischen Rechte der landbesitzenden Schicht unterhalb der Aristokratie bewahren wollte.39 Wie immer dem auch sein mag, sicher ist, dass Harringtons Verfassung eine deutliche Verbreiterung der political nation, insbesondere der wahlberechtigten Bevölkerung mit sich gebracht hätte. Und auch wenn seine Vorstellungen möglicherweise nicht radikal waren, eine beträchtliche Umgestaltung der politischen Institutionen hätten sie zweifellos bewirkt. Vor dem Hintergrund der althergebrachten englischen Verfassungsverhältnisse waren sie sicher höchst innovativ und originell. Darüber hinaus ist – sicher mit einiger Berechtigung – hervorgehoben worden, dass Harringtons Prinzipien letztlich eben nicht aus der klassischen Staatslehre gewonnen, sondern viel stärker von Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes geprägt waren. Nicht Legitimität und Tugend standen im Mittelpunkt seiner Überlegungen, sondern Stabilität und Sicherheit.40 Es ging Harrington nicht um die aristotelische Idee des Menschen als zoon politikon, das grundsätzlich aufgrund seiner Geistesgaben in der Lage war, das Gute zu erkennen, sondern um das von Leidenschaften und Eigeninteressen beherrschte Wesen. Dieses Eigeninteresse nicht als Untugend zu verdammen, sondern es einzubinden und dem Wohl des Ganzen dienstbar zu machen, darin bestand das „neue“ Denken eines Harrington und eben auch eines Hobbes.41
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Z. B. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 76f. Vgl. auch Lois G. Schwoerer, „No Standing Armies!“ The Antiarmy Ideology in Seventeenth-Century England. Baltimore 1974, 65f.; Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 389f.; Goldie, Absolutismus (wie Anm. 5), 331; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 155f. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 75–77. Vgl. Riklin, Republik (wie Anm. 4), 156–159. Vgl. etwa Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 123–127; Pocock, Ancient Consitution (wie Anm. 2), 143, der betont, dass Harringtons Ansatz nicht wirtschaftlich, sondern militärisch ist. Prominent: Hugh R. Trevor-Roper, The Gentry 1540–1640. (The Economic History Review. Supplement Bd. 1.) London/New York 1953, 44–50. Vgl. zur Herkunft Harringtons z. B. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 5–26. Vgl. Fukuda, Sovereignty (wie Anm. 17), 70, 80f.; ähnlich auch die Tendenz bei Davis, Utopia (wie Anm. 4), 206–240. In einer späteren Schrift Harringtons findet sich die Schilderung einer Küche, in der Katzen so gefesselt und eingespannt waren, dass ihre Versuche, sich zu befreien, unweigerlich dazu führten, die Instrumente zur Herstellung einer Speise zu bedienen; James Harrington, A Discourse upon this Saying: The Spirit of the Nation is not yet to be Trusted with Liberty. London 1659, ediert in Politi-
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II. Die Begründung des „neuen Modells“ Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Begründung neuer Denkmodelle und Konzepte in der grundsätzlich traditionsorientierten Frühen Neuzeit. Selbstverständlich war die Frühe Neuzeit keineswegs arm an Innovationen, doch aus vielen Zusammenhängen ist uns bekannt, dass Neuheiten oft traditionell begründet wurden.42 Gerade in Bezug auf diese Fragestellung sind Harringtons Gedanken nicht nur, ja nicht einmal vorrangig aufgrund seiner revolutionären Inhalte von Interesse, die eindeutig mit den bestehenden Verfassungsverhältnissen in radikaler Weise brechen. Vielmehr ist für den Zusammenhang des vorliegenden Essays auch und gerade die Vorgehensweise Harringtons, seine Begründung des Verfassungsentwurfs von Bedeutung. Wie andere Denker seiner Zeit auch macht Harrington intensiv Gebrauch von historischen Exempeln. In den Präliminarien führt er antike und mittelalterlich-neuzeitliche Gemeinwesen an, um seine Thesen zu einer guten Staatsverfassung zu entwickeln und zu untermauern. Ein guter Politiker, so Harrington, müsse zuerst ein Historiker oder ein Reisender sein.43 Ganz besonders wichtig sind ihm dabei die Staaten, die er als Republiken charakterisiert, darunter das alttestamentliche Israel, Sparta und Athen, Rom, Venedig, die Niederlande und die Schweiz. Israel spielt dabei eine besondere Rolle, war seine Verfassung doch göttlichen Ursprungs und nach Harringtons Meinung Vorbild für alle späteren republikanischen Verfassungen.44 Sparta und Rom werden ebenfalls von Harrington bewundert, dagegen scheinen Athen oder gar die modernen Republiken der Niederlande und der Schweiz wenig attraktiv. Ganz anders Venedig, das er aus eigener Anschauung kannte und das er für die einzige überlebende Republik nach der „ancient prudence“ hielt.45 Über das historische Anschauungsmaterial hinaus bediente sich Harrington aus den Werken antiker und neuzeitlicher Staatstheoretiker. Zitiert werden unter anderen Aristoteles, Livius und ganz besonders
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cal Works (wie Anm. 3), 744. Vgl. zur Abgrenzung Harringtons vom aristotelischen Republikideal auch Rahe, Republics (wie Anm. 14), 181–183; ders., Throne (wie Anm. 16), 321–346; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 238; und ähnlich auch Pörtner, Verfassungskrise (wie Anm. 12), 101; Wilfried Nippel, „Klassischer Republikanismus“ in der Zeit der Englischen Revolution. Zur Problematik eines Interpretationsmodells, in: Wolfgang Schuller (Hrsg.), Antike in der Moderne. (Konstanzer Althistorische Vorträge, Heft 15.) Konstanz 1985, 211–224, hier 214f.; sowie mit einem – etwas überspitzten – Ausblick auf die „totalitären“ Tendenzen dieses Systems Davis, Pocock’s Harrington (wie Anm. 4), 696; und ders., Utopia (wie Anm. 4), 238f. Zur zentralen Bedeutung des Eigeninteresses bei Harrington Dippel, Tugend (wie Anm. 1), 538–545. Und zum Verhältnis von Harrington und Hobbes Fukuda, Sovereignty (wie Anm. 17), 1–4, und passim. Dagegen die aristotelische Interpretation von Harringtons Bürger als zoon politicon bei Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 386. Vgl. dazu die Einleitung des vorliegenden Bandes sowie den Beitrag von Wolf-Friedrich Schäufele. „[N]o man can be a politician, except he be first an historian or a traveller“; Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 205. Zum Umgang Harringtons mit der Geschichte als einer Exempelsammlung vgl. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 283f. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 8. Vgl. zum Stellenwert Israels und der biblischen Texte Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 278–283; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 134. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 8.
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Niccolò Machiavelli, „the only politician of later ages“.46 Auch die Ideen von Thomas Hobbes – im „Commonwealth of Oceana“ stets als „Leviathan“ bezeichnet – spielen, so sehr Harrington auch deren monarchische Zielrichtung ablehnt, eine wichtige Rolle in der Verfassungsarchitektur Oceanas.47 Historische Exempel und theoretische Vorbilder waren also für Harrington von großer Bedeutung. Darüber hinaus legt auch seine Hervorhebung der „ancient prudence“ und ihr Vorrang vor der „modern prudence“ nahe, dass Harrington seine Verfassung von Oceana vor allem als Wiederherstellung des Alten und Traditionellen vorstellen möchte.48 Doch dies ist nur auf den ersten Blick zutreffend. Bereits früh in den Präliminarien macht er deutlich, dass es sein Ziel sei, „to go mine way, and yet follow the ancients“.49 Harrington will also ausdrücklich zwar den Alten folgen, aber indem er in Abwägung ihrer Ansätze seinen eigenen Weg findet. Er hält es zwar für erforderlich, „that the archives of ancient prudence should be ransacked“, aber er betont zugleich auch die Neuartigkeit seiner eigenen Vorschläge, indem er den Lord Archon als den ersten Gesetzgeber nach Moses und Lykurg bezeichnet, der eine vollständige republikanische Verfassung errichtet habe.50 Entscheidend für Harringtons Vorgehen ist eben gerade das kritische Abwägen. Harrington nimmt die Exempel, die er verwendet, nicht kritiklos hin, er führt sie nicht einfach als positive oder negative Beispiele an, um seine Thesen zu bestätigen, sondern er stellt ihre Vorzüge und Schwächen gleichermaßen dar und zieht daraus in geradezu wissenschaftlicher Manier seine Schlüsse. Diese Vorgehensweise wird besonders deutlich in seiner Schilderung des Verfassungsgebungsprozesses. So wird in Harringtons Oceana dem Lord Archon, Olphaus Megaletor, ein Rat von fünfzig Legislatoren zur Seite gestellt. Diese sollen zunächst verschiedene Verfassungen studieren, bevor sie sich an die Arbeit der Verfassungsgebung machen. Per Losverfahren erhalten sie dann die zu studierenden Verfassungen zugeteilt, darunter diejenigen Israels, Athens, Spartas, Karthagos, Roms, der Schweiz, der Niederlande und Venedigs sowie der Staatenbünde der Achäer, Ätolier und Lykier. Da in diesen alles Gute, dessen Republiken fähig sind, enthalten sei, könne durch ihr Studium und durch den Vergleich der Verfassungen eine
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Zu Machiavelli ebd., 10. Vgl. allgemein zu den Einflüssen und Zitationen bei Harrington Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 277–309. Speziell zur Einschätzung Machiavellis durch Harrington Fink, Classical Republicans (wie Anm. 2), 53; Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 293–299; Raab, English Face (wie Anm. 27), 187–192; Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 383–400; und ders., Machiavelli, Harrington and the English Political Ideologies in the Eighteenth Century, in: ders., Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History, London 1972, 104–147. Zum Einfluss des Aristoteles, der sehr unterschiedlich eingeschätzt wird, z. B. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 286–290; Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 2), 386f., 390f., 395; Cromartie, Harringtonian Virtue (wie Anm. 4); Stanciu, Practical Wisdom (wie Anm. 4). Vgl. dazu Raab, English Face (wie Anm. 27), 192–198; Fukuda, Sovereignty (wie Anm. 17); und skeptischer James Cotton, James Harrington and Thomas Hobbes, in: Journal of the History of Ideas 42, 1981, 407–421. Auch Blitzer sieht darin noch das Selbstverständnis Harringtons; Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 277. Vgl. aber auch Goldie, Absolutismus (wie Anm. 5), 330. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 10. Ebd., 72 und 69. Vgl. diese Beobachtung bei Riklin, Republik (wie Anm. 4), 113.
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perfekte Verfassung für Oceana gefunden werden.51 Entscheidend für Harringtons Vorgehen war also die kritische Auseinandersetzung und die Methode des Vergleichs. Auch an anderen Stellen im Werk, etwa den Präliminarien, wandte Harrington immer wieder den Vergleich der verschiedenen Verfassungen an, um auf diese Weise jeweils Vorzüge und Nachteile herauszudestillieren. Die Verfassung Israels war für Harrington von Gott geoffenbart und somit der Ursprung der „ancient prudence“.52 Besonderes Lob fand er für die Agrarordnung und die Wehrhaftigkeit des Volkes.53 Dagegen sah er Defizite bei der Wahlordnung, weil insbesondere die Versammlung aller Stämme zu schwerfällig gewesen sei und bei den Wahlen keine Gleichheit geherrscht habe.54 Für besonders fatal hielt er die Einführung des Königtums.55 In Athen hätte eine gleichmäßige Verteilung des Landbesitzes gefehlt, die Zuständigkeit der Gremien sei vermengt gewesen und es habe über keinen adäquaten Adel verfügt. Die Folge sei ständige Unruhe gewesen.56 Weitaus positiver bewertete Harrington Sparta, das über eine gute Agrarordnung, eine effiziente Wehrverfassung und eine Trennung von Beraten und Entscheiden durch einen Senat und eine Bürgerversammlung verfügt habe.57 Kritischer sah er die lebenslange Mitgliedschaft im Senat und die Erblichkeit des Königtums, die seinem Rotationsprinzip widersprachen. Vor allem aber sei Sparta nicht zur Expansion befähigt gewesen.58 Rom hingegen sei vorbildlich in der Militärorganisation und im Patriotismus seiner Bürger gewesen, wodurch seine Expansion und imperiale Größe entstanden sei. Doch mit seiner starken Aristokratie und der beständigen Auseinandersetzung zwischen Plebejern und Patriziern sei bereits der Keim zum Verfall gelegt gewesen. Es habe sowohl bei den Wahlen als auch bei der Landverteilung an Gleichheit gefehlt, was der Grund für die schiefe Gestalt der römischen Verfassung gewesen sei.59 Als sehr positiv schätzte Harrington die Verfassung Venedigs, von der er einige Elemente für seinen eigenen Entwurf übernahm, etwa das Abstimmungsverfahren, die Wahlordnung und die Trennung von Entscheiden und Beraten. Doch auch hier entdeckte er Mängel, etwa in der fehlenden Agrarverfassung sowie in der Unfähigkeit zu militärischer Expansion.60 51
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Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 69–71. Vgl. zum Prozess auch Riklin, Republik (wie Anm. 4), 128–130. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 8. Vgl. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 278–283. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 98, 105. Die Beschreibung der israelitischen Verfassung findet sich ebd., 25–28; zu den Kritikpunkten auch ebd. 37, 141f., 163. Vgl. dazu auch Riklin, Republik (wie Anm. 4), 134. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 13, 107. Ebd., 37f., 136, 142f. Vgl. Riklin, Republik (wie Anm. 4), 135. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 29, 76, 105, 143, 155f. Vgl. auch Elisabeth Rawson, The Spartan Tradition in European Thought. Oxford 1969, 190–201. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 34f., 37, 143, 157, 218f. Vgl. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 284f.; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 134f. „Rome was crooked in her birth“; Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 160. Harrington argumentiert hier gegen Machiavelli, indem er betont: „For, as no man shall show me a commonwealth born straight that ever became crooked, so no man shall show me a commonwealth born crooked that ever became straight“; ebd. Insgesamt zur römischen Verfassung ebd., 37f., 80, 140, 142f., 150–155, 160–163. Vgl. Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 285; Riklin, Republik (wie Anm. 4), 135f. Zur grundsätzlich positiven Bewertung Venedigs, das er geradezu als einzige Republik ohne den Keim der Auflösung darstellt, Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 32, 125, 149, 159f., 161f., 218. Kri-
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Harringtons Verfassungsentwurf entstand so in einer ständigen kritischen Auseinandersetzung mit den Exempeln, mit der Geschichte, um aus den Fehlern und Schwächen, ebenso wie aus den Stärken und Vorzügen der Vergangenheit zu lernen und daraus einen ganz eigenen, innovativen Verfassungsentwurf vorzulegen, der den Anspruch hatte, perfekt und dauerhaft zu sein. Er folgte der induktiven Methode von William Harvey, dem Entdecker des Blutkreislaufs, den er sehr bewunderte und ausdrücklich anführte. Wie Harvey aus der Untersuchung einer Anzahl menschlicher Körper ein allgemeingültiges Bauprinzip der Natur ableiten konnte, so glaubte Harrington aus der Untersuchung einzelner Staatswesen allgemeine politische Erkenntnisse und Gesetzmäßigkeiten ziehen zu können.61 Die so gewonnenen Erkenntnisse nutzte er nicht zur Nachahmung einzelner oder mehrerer Staatswesen, sondern um aus ihnen eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Erkenntnis der Prinzipien der Natur diente dazu, ein möglichst perfektes Staatswesen zu entwerfen. Damit aber schuf Harrington etwas Neues und er machte keinen Hehl daraus, dass es etwas Neues war. Exempel aus der Geschichte wurden zwar angeführt und analysiert, aber sie wurden eben gerade nicht als unbedingte und handlungsleitende Normen verwendet, sondern letzten Endes wurden sie als Einzelfälle verworfen. In seiner kritischen Schau entdeckte Harrington viel Bewundernswertes und Nachahmenswertes, jedoch fand er nirgendwo Perfektion. Nirgendwo fand er das Vorbild, das unverändert für die Verfassung seiner Republik von Oceana hätte übernommen werden können, doch glaubte er die Grundprinzipien gefunden zu haben, nach denen eine neue Verfassung gestaltet werden konnte.
III. Fazit Aus dem bisher Festgestellten lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen: Auch in der grundsätzlich traditionsorientierten Frühen Neuzeit konnten neue Modelle als solche formuliert werden. Das Beispiel von Harringtons „Commonwealth of Oceana“ zeigt, dass zwar weiterhin historische Exempla verwendet wurden, doch nicht mehr als unbedingte handlungsleitende Norm, sondern als Analyseobjekte, die im Ergebnis zur Erkenntnis grundlegender staatstheoretischer Prinzipien führten, die wiederum für einen Neuentwurf verwendet werden konnten. Dabei war – wie bereits vielfach in der Forschung betont – auch Harringtons Umgang mit der Geschichte, mit den Exempla durchaus innovativ. Es ist somit nicht nur das Modell, im Sinne eines vorbildhaften, nachahmenswerten gedanklichen Entwurfs, neu und
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tische Bemerkungen ebd., 5, 34f., 155f. Vgl. Riklin, Republik (wie Anm. 4), 136–138; und insgesamt zu den Vorzügen und Nachteilen der Republiken aus Harringtons Sicht ebd., 133–139. Harrington, Oceana (wie Anm. 3), 9. Vgl. dazu Blitzer, Commonwealth (wie Anm. 2), 89–108; Davis, Utopia (wie Anm. 4), 216; Cotton, Harrington (wie Anm. 47), 418f.; und I. Bernard Cohen, Harrington and Harvey: A Theory of the State Based on the New Physiology, in: Journal of the History of Ideas, 55, 1994, 187–210. Es wäre auch darüber nachzudenken, inwieweit Harringtons Vorgehensweise der Discorso-Methode Machiavellis, wie sie von Cornel Zwierlein dargestellt wird, entspricht; vgl. Cornel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 74.) Göttingen 2006, 31–107.
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originell, sondern gerade auch die Art und Weise, wie Harrington zu diesem Modell gelangte. Sicher ist hier auch die politisch und historisch einmalige Situation zu beachten, in der Harrington schrieb. Es ist gut möglich, dass eine solche offene Innovation vor allem dann denkbar wurde, wenn die aktuelle Situation gar keinen Rückbezug auf Altvertrautes mehr zuließ, wenn die Situation mit Hilfe der üblichen und hergebrachten politischen Sprachen nicht mehr erfasst werden konnte. Die Radikalisierung und Auflösung gewohnter Denkmodelle ermöglichte die radikale Neuformulierung von Denkweisen. Im England der 1650er Jahre war hier zweifellos ein Punkt erreicht, an dem die Bindung an die Tradition den Diskurs weit weniger beherrschte als zu anderen Zeiten, so dass neues Denken in weitaus geringerem Maße verpflichtet war, sich auf Altes zu berufen. Innovation konnte sich daher leichter als das zeigen, was sie eigentlich war: etwas Neues.
Elisabeth I. von England Wandlungsprozesse eines (‚Herrscher-‘) Modells zwischen Integration und Polarisierung Kerstin Weiand
Am 23. Juni 1623 wurde auf dem Grabmal Elisabeths I. in der Westminster Abbey, genauer in der Hand ihres steinernen Abbildes, die Abschrift eines Pamphletes gefunden, das sich zu dieser Zeit großer Beliebtheit erfreute. In Form einer Verschmelzung von Untertanenpetition und Gebet an Elisabeth, „the blessed Saint Elizabeth of most famous memory“, enthielt es bittere Beschwerden über den Verfall und die Dekadenz der Gegenwart, die im krassen Widerspruch zu dem Goldenen Zeitalter unter der letzten Tudorherrscherin stünden. So klagten die „nowe most wretched and contemptible“ Commons, unter denen der anonyme Verfasser signiert1: „Was there a nation in the Universe More daring, once more bold, more stout, more fierce And is there now upon the earths broad face Any that cann be reckoned halfe soe base Is there a people soe much scorn’d dispised Soe laught soe trodd on soe vassaliz’d Wee that all Europe envy’d, wee even wee Are slaves to those wee kept in slaverie“2
Ein Beispiel von vielen. Die Erinnerung an Elisabeth I. war ungemein populär in den letzten Regierungsjahren ihres Nachfolgers, Jakob I., und die panegyrische Schilderung ihrer Herrschaft ist nahezu omnipräsent in der politischen Kommunikation der 1620er Jahre. Sie findet sich in kommerziell vermarkteten Flugschriften ebenso wie in handschriftlich kursierenden Pamphleten, in Parlamentsdebatten und Predigten ebenso wie in der Korrespondenz politischer Entscheidungsträger. Aus Elisabeth ließ sich offensichtlich gleichermaßen ökonomisches wie symbolisches Kapital schlagen. Beachtung erfuhr dieses Phänomen schon sehr früh. So beschreibt Godfrey Goodman, Bischof von Gloucester, bereits in den frühen 1650er Jahren in seiner apologetischen Darstellung des Hofes Jakobs I.:
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Das Pamphlet fand unter den undatierten Addenda für das Jahr 1624 Aufnahme in die Calendar of State Papers, Mary Anne Everett Green (Hrsg.), Calendar of State Papers Domestic: James I, 1623– 25. London 1859, 425–435 (http://www.british-history.ac.uk/source.aspx?pubid=471, eingesehen am 07.04.2009). Den Text dieses Pamphletes sowie Angaben zu seiner Entstehungsgeschichte siehe in der Online-Edition “Early Stuart Libels: an edition of poetry from manuscript sources.“ Ed. Alastair Bellany and Andrew McRae. Early Modern Literary Studies Text Series I (2005). (http:// purl.oclc.org/emls/texts/libels/, eingesehen am 23.07.2009), Niv1: If Saints in heaven cann either see or heare. Ebd., Z. 234–241.
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„The Queene did seem to revive; then was her memory much magnified, – such ringing of bells, such public joy and sermons in commemoration of her, the picture of her tomb painted in many churches, and in effect more solemnity and joy in memory of her coronation than was for the coming in of King James.“3 In die Forschung ist diese Erinnerung an Elisabeth entsprechend unter dem Begriff der „nostalgia“ eingegangen. Roy Strong und andere sehen in ihr ein Ventil für die Unzufriedenheit der Untertanen mit der Herrschaft Jakobs I., die sich in einer Rückwendung zu einer verklärten Tudorzeit niedergeschlagen habe.4 Diese Deutung fügt sich glänzend in die traditionellen whiggistischen Geschichtsläufte vom fortschreitenden Verfall und den sich kontinuierlich verschärfenden absolutistisch-konstitutionellen Gegensätzen unter den frühen Stuarts. Die Geschichte ist bekannt: Die ideologischen Spannungen zwischen Königsmacht und Bürgerfreiheit hätten schließlich im unausweichlichen Bürgerkrieg ihre Katharsis erfahren, durch die England einen weiteren Schritt auf seinem Weg hin zum modernen Parlamentarismus gegangen sei.5 In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel Kritik an der behaupteten Dichotomie von Stuartschem Absolutismus und parlamentarischen Konstitutionalismus als den Haupttriebfedern des Konfliktes geäußert und dieses Konzept kann in weiten Teilen als widerlegt gelten.6 3
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Godfrey Goodman, The Court of King James the First, hrsg. von John Brewer. 2 Bde. London 1839, Bd., 98. In den letzten Jahren ist die Elisabetherinnerung verstärkt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden siehe z. B. John Watkins, Representing Elizabeth in Stuart England. Literature, History, Sovereignty. Cambridge 2002; Julia M. Walker (Hrsg.), Dissing Elizabeth. Negative Representations of Gloriana. Durham 1998; Dies., The Elizabeth Icon. 1603–2003. Basingstoke 2004; Christa Jansohn (Hrsg.), Queen Elizabeth I: Past and Present. Münster 2004; Daniel R. Woolf, Two Elizabeths? James I and the Late Queen’s Famous Memory, in: Canadian Journal of History 209, 1985, 167–191; Curtis Perry, The Citizen Politics of Nostalgia. Elizabeth in Early Jacobean London, in: Journal of Medieval and Renaissance Studies 23, 1993, 89–111. Roy Strong, The Cult of Elizabeth. Elizabethan Portraiture and Pageantry. London 1977, 187 u. ö.; Dennis Kay, Melodious Tear. The English Funeral Elegy from Spenser to Milton. Oxford 1990, 68. Auch in neuen Arbeiten zum Thema ist diese Sichtweise vorherrschend, siehe als Beispiel: Julia M. Walker, Reading the Tombs of Elizabeth I, in: English Literary Renaissance 26, 1996, 511–530; Dies, Bones of Contention. Posthumous Images of Elizabeth and Stuart Politics, in: Walker (Hrsg.), Dissing Elizabeth (wie Anm. 3), 252–276, hier 257; John Watkins, Representing (wie Anm. 3); Richard McCoy, Alterations of State. Sacred Kingship in the English Reformation. New York 2002, 80–85. Der Begriff der Whig-Historiographie in diesem Sinne geht auf Herbert Butterfield zurück, der in seinem 1931 erschienen Werk eine grundsätzliche Charakterisierung dieser Strömung der Geschichtswissenschaft vornahm, Herbert Butterfield, The Whig-Interpretation of History. New York 1963 (Repr. der Auflage von 1931). Die verbreitete Geringschätzung der Epoche der frühen Stuarts und insbesondere Jakobs I. zeigt etwa Thomas Babington Macaulay: „On the day of the accession of James the First England descended from the rank which she had hitherto had, and began to be regarded as a power hardly of the second order.“ Thomas Babington Macaulay, The Works of Lord Macaulay, complete, hrsg. von Hannah Trevelyan. 8 Bde. London 1866, Bd. 1, 54. Besonders die Arbeiten von Conrad Russell zu den Stuartschen Parlamenten waren ausschlaggebend dafür, den angenommenen Gegensatz in Frage zu stellen. Siehe vor allem seinen gleichsam initiatorischen Aufsatz Conrad Russell, Parliamentary History in Perspective, 1603–1629, in: History 61, 1976, 1–27. Russels revisionistischen Ansätze wurden schnell aufgegriffen, wie der Sammelband Kevin Sharpes zeigt, der ebenfalls als eines der zentralen Werke des sogenannten Revisionismus
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Dennoch hat es sich in der Nische der Elisabeth-Nostalgie als sehr renitent erwiesen und treibt weiter bunte Blüten trotz einschränkender Äußerungen etwa von Curtis Perry und Daniel Woolf.7 Abgesehen von der Fragwürdigkeit des dahinter stehenden Geschichtsbildes gesteht die Interpretation als Gegenwartsflucht und verklärende Rückwärtsgewandtheit der Elisabetherinnerung allenfalls eine destruktive Funktion im Sinne von Fundamentalkritik und Polemik zu. Dies aber schließt eine differenzierte Sicht auf ihre Funktion im historischen Kontext bereits im Ansatz aus und lässt zahlreiche Fragen offen: Wieso etwa manifestiert sich diese vermeintliche Nostalgie gerade in der Gestalt Elisabeths, deren Herrschaft als, noch dazu unverheiratete, Frau ohne gesicherte Thronfolge ja keineswegs ein Ideal darstellen konnte? Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hier möglicherweise um einen Zirkelschluss handelt. Die Sicht vieler Historiker, die sich mit der Erinnerung an Elisabeth beschäftigen, ist geprägt von deren posthumer Bewertung. Die Memoria erscheint so als selbstverständlicher Reflex ihrer eigentlichen Lebens- und Regierungszeit. Ein Beispiel: Bis heute gilt als zentrales Charakteristikum der Herrschaft Elisabeths, das weithin Beachtung findet, die Rolle Englands als Seemacht. Dabei wurde dieser Aspekt zu Elisabeths Lebzeiten in der öffentlichen Wahrnehmung eher marginal behandelt und wurde erst einige Jahre nach ihrem Tod in der Erinnerung fest mit Elisabeth verknüpft und ist somit aussagekräftig allein für die Wahrnehmung nach ihrem Tod.8 Wie lassen sich derartige Zirkelschlüsse überhaupt vermeiden? Schließlich werden die Wahrnehmungen von Historikern ja zwangsläufig von derartigen Vorprägungen und daraus resultierenden Erwartungshaltungen beeinflusst. Eine mögliche Annäherung, die im Folgenden unternommen werden soll, versteht die Erinnerung an Elisabeth konsequent nicht als nostalgischen Reflex, als Reminiszenz an Vergangenes, sondern als gegenwartsbezogenes Produkt von politischen Rahmenbedingungen, mentalen Sinnzuschreibungen und Erwartungshaltungen und als wichtigen Bestandteil des zeitgebundenen politischen Kommunikationsprozesses. Aus der Vielzahl der möglichen Erinnerungen an und der potentiellen Unbegrenztheit narrativer Äußerungen über Elisabeth wird so jeweils ein neues Bild geschaffen, das selbstverständlich Bezüge zu vorangegangenen
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gelten kann: Kevin Sharpe (Hrsg.), Faction and Parliament. Essays on Early Stuart History. Oxford 1978. Gegen einen vermeintlichen Absolutismus der Stuartkönige hat sich vor allem auch Glenn Burgess ausgesprochen, Glenn Burgess, Absolute Monarchy and the Stuart Constitution. New Haven u. a. 1996. Woolf, Two Elizabeths (wie Anm. 3); Perry, The Citizen Politics of Nostalgia (wie Anm. 3). So fehlt dieser Aspekt in den Funeralschriften, die anlässlich ihres Todes im Jahr 1603 herausgegeben wurden, fast völlig. Zu Aufstellungen der Trauerschriften Elisabeths sei auf den Short Title Catalogue verwiesen, der jedoch keine Vollständigkeit garantiert. Zum Abgleich können auch die Aufstellungen bei W. A. Jackson, The Funeral Procession of Queen Elizabeth, in: The Library 26, 1946, 262–271, 270f., sowie bei Elkin Calhoun Wilson, England‘s Eliza. (Harvard Studies in English, Bd. 20.) New York 1966, 370–393, hinzugezogen werden; außerdem mit Fokus auf die Schriften zur Thronbesteigung Jakobs, aber unter Einbeziehung zahlreicher Trauerschriften zu Elisabeth John Nichols, The Progresses, Processions and Magnificent Festivities, of King James the First, His Royal Consort, Family and Court. London 1828, xxxvii–xli.
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Elisabethbildern aufweisen kann, jedoch jeweils auf einen spezifischen Kontext bezogen ist und insofern eine individuelle Bedeutung transportiert. Als heuristisches Instrument kann man sich dem über den Begriff des ‚Modells‘ annähern. Dabei wird Modell nicht verstanden als Abbild der Wirklichkeit, sondern mit Herbert Stachowiak als zielgerichtete „Konstruktion von Wirklichkeit“.9 Aufbauend auf Stachowiaks wissenschaftstheoretischer Definition lassen sich Überlegungen zu einem eigenen Modellbegriff formulieren. Als Modelle können dabei abstrakte oder konkrete Begriffe – und als solche eben auch Namen historischer Persönlichkeiten – fungieren, die über sich selbst hinaus auf eine übergeordnete Wirklichkeit verweisen und diesbezüglich grundlegende Gültigkeit beanspruchen. Methodische Anknüpfungspunkte ergeben sich entsprechend vor allem zur Begriffsgeschichte.10 Wie deren Untersuchungsgegenstand nämlich entziehen sich Modelle einer überzeitlichen Definition. Sie sind als historische Größen zu betrachten, die unterschiedlichen Interpretationen offen stehen und verschiedene Bedeutungen transportieren können. In dieser prinzipiellen Deutungsoffenheit aber liegt der besondere Erkenntniswert von Modellen wie Begriffen, stellen sie doch sensible Sensoren dar für Veränderungen in historischen Wahrnehmungen und Deutungsmustern. Bei allen strukturellen Ähnlichkeiten und Überschneidungen ist die Fragehaltung, die hier mit der Kategorie Modell verbunden ist, gegenüber der Begriffsgeschichte in ihrer klassischen, Koselleckschen Diktion gleichzeitig weiter und begrenzter. Begrenzter in dem Sinne, dass sie weniger nach den großen Linien und richtungsweisenden Umbrüchen in der Bedeutung von Begriffen als nach dem diskursiven Gebrauch in einer bestimmten historischen ‚Situation‘ fragt.11 Weiter jedoch in dem Sinne, dass sie neben der semantischen Bedeutung vor allem nach der von dieser zu unterscheidenden Zielrichtung eines Modells und seiner Funktion im jeweiligen Kontext fragt. Diese muss nicht zwangsläufig intentional im Sinne einer gezielten planerischen Steuerung sein, sondern kann durchaus diskursiv, im Rahmen überindividueller Deutungsmuster und 9
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So untersucht Stachowiak Modelle vor allem „in ihrer intentionalen Funktion“, Herbert Stachowiak, Modelle. Konstruktion der Wirklichkeit. (Kritische Information, Bd. 101.) München 1983, 130. „Ihr ‚Wirklichkeitsbezug‘ ist modelltheoretisch (entsprechend dem Originalbezug von Modellen) ein von bestimmten Betrachtern und potentiellen bzw. aktuellen Aktionssubjekten in bestimmten Zeiten zu bestimmten Absichten, Zwecken und Zielen hergestellter Bezug.“ Ebd., 286. Zu dem klassischen Konzept der Begriffsgeschichte siehe die Einleitung von Reinhart Koselleck in den Geschichtlichen Grundbegriffen: Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997, Bd. 1, 1972, XIII–XXVII. Der eigene Ansatz einer Modellgeschichte weist dabei vor allem eine Nähe zur Erweiterung der Koselleckschen Begriffsgeschichte durch Rolf Reichhardt in dessen lexikalischer Aufarbeitung von Schlüsselbegriffen des revolutionären Frankreichs auf, werden doch nicht moderne Begriffe in ihrer historischen Perspektive, sondern quellenimmanente Begriffe in den Fokus des Interesses gerückt. Siehe Rolf Reichhardt, Einleitung, in: ders. u. a. (Hrsg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. 20 Hefte. München 1985–2000. (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 10.) Heft 1/2, 1985, 39–148. Mit ‚Situation‘ ist die Gesamtheit der Äußerung eines Begriffs in einer bestimmten historischen Situation bezeichnet. Zum Begriff der ‚Situation‘ siehe auch Willibald Steinmetz, Neue Wege einer historischen Semantik des Politischen, in: ders. (Hrsg.), Politik. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit. (Historische Politikforschung, Bd. 14.) Frankfurt a. M. 2007, 9–40, 16f.
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zeitgebundenen Prioritäten konstituiert sein. Ein solcher Zugang über den Begriff des Modells stellt die Gegenwartsbezogenheit bestimmter semantischer Einheiten in den Mittelpunkt der Fragestellung. Indem diese konsequent historisch kontextualisiert werden, gerät ihr ursprünglicher Bedeutungsgehalt in den Hintergrund. Der hier zugrunde gelegte Modellbegriff erweist sich vor allem deswegen als heuristisch fruchtbar, weil er die inhaltliche Dimension eines Modells von dessen funktionaler Dimension unterscheidet.12 Die semantischen Inhalte eines Modells müssen nicht unmittelbar auf dessen jeweilige Zielrichtung verweisen. Der Rahmen oder die Situation, in der eine inhaltliche Aussage erfolgt, erst erlaubt tragfähige Rückschlüsse auf deren Funktion. Gefragt wird also nach der inhaltlichen ebenso wie der funktional-pragmatischen Ebene des Untersuchungsgegenstandes. Für die Erinnerung an Elisabeth bedeutet dieser Ansatz, dass diese nicht als negativ-destruktive Rückwendung oder Nostalgie, sondern im Gegenteil als funktionales Konstrukt gegenwartsbezogener Diskurse zu untersuchen ist. Entsprechend rückt vor allem die Wechselseitigkeit von Kontext und Semantik in den Mittelpunkt: Welche Faktoren nahmen in welcher Weise Einfluss auf die Erinnerung an Elisabeth? Verbunden ist damit die Frage, inwiefern sich ein diachroner Wandel im Elisabethbild und dessen Zielrichtung nachvollziehen lässt. In zwei Schritten sollen gerade die jeweilige Zeitgebundenheit und Deutungspluralität des Elisabethbildes innerhalb der politischen Kommunikationsprozesse gezeigt werden. In einem ersten Schritt soll die Erinnerung an Elisabeth unmittelbar nach ihrem Tod im Jahr 1603, in einem zweiten Schritt mit einem zeitlichen Abstand in den 1620er Jahren betrachtet werden.
1. Elisabeth als Modell nationaler Integration? Die panegyrisch geprägte Erinnerung an Elisabeth täuscht leicht darüber hinweg, dass zum Zeitpunkt ihres Todes durchaus eine gewisse Erleichterung über den Umstand herrschte, dass die altjüngferliche Königin dem Vater zweier Söhne das Feld räumte.13 Die Furcht vor inneren Unruhen angesichts der offenen Fragen hinsichtlich der Thronfolge und wachsende soziale Spannungen aufgrund von Hungerkrisen und der Belastungen durch den langwierigen Krieg mit Spanien hatten die letzten Regierungsjahre der Königin geprägt. Dieses Klima der Unsicherheit wurde verstärkt durch die seit der Armada präsente Möglichkeit 12
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Wichtige Anregungen kann hier das Konzept einer Historischen Semantik bieten, wie sie u. a. Willibald Steinmetz vertritt, der erst in zweiter Linie nach der inhaltlichen Dimension eines Begriffes fragt, siehe auch Willibald Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte – The State of the Art, in: Heidrun Kämper/Ludwig Maximilian Eichinger (Hrsg.), Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. Berlin 2008, 174–197; ders., Neue Wege (wie Anm. 11), 17. Diese Erleichterung über den Thronwechsel wird auch bei einigen zeitnah schreibenden Historikern reflektiert, so z. B. William Camden, Tomus alter annalium rerum Anglicarum et Hibernicarum regnante Elizabetha, qui nunc demum prodit, sive pars quarta Guil. Camdeno. London 1627, 283– 286; Francis Osborne, Some Traditional Memorials on the Reign of Q. Elizabeth, in: ders., The Works of Francis Osborne … Divine, Moral, Historical, Political in Four Several Tracts. London 1673, 409–466, hier 459.
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eines erneuten spanischen Invasionsversuchs sowie durch die offensichtlichen Friktionen innerhalb des Regierungszirkels, die in der Essex-Revolte von 1601 einen Höhepunkt erreichten.14 Trotz dieser Probleme wurde Elisabeth bereits im ersten Jahrzehnt nach ihrem Tod Gegenstand zahlreicher literarischer Bearbeitungen. Elisabeth verkaufte sich offenbar glänzend. In Gedichten, in Theaterstücken und Predigten wurde die verstorbene Herrscherin gepriesen. Dabei unterschied sich ihre Darstellung auf den ersten Blick kaum von konventioneller Herrscherpanegyrik: Regelrechte Tugendkataloge stellen ihre Milde, Gerechtigkeit, Weisheit und Mäßigung heraus. Thomas Dekker weist im Vorwort zu seinem Stück „The Whore of Babylon“ den Leser auf sein Ziel hin, „the Greatnes, Magnanimity, Constancy, Clemency, and other the incomparable Heroical vertues of our late Queene“ herauszustellen.15 Diese Tugenden werden zusammen mit der wechselseitigen Liebe von Königin und Untertanen als das Fundament der Herrschaft Elisabeths wahrgenommen.16 „Peace and plenty“, Frieden und Prosperität, erscheinen schlagwortartig als die Errungenschaften ihrer Herrschaft. In Samuel Rowlands Worten etwa liest sich das so: „It were ingrateful to forget the peace, The plentie, and the great prosperitie: The manifold great blessings and encrease, In foure and fourtie yeers felicitie, Vnder the Scepter of our gracious Princesse, Our peace-preserving, world admired Empresse.“17 14
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John Guy etwa spricht gar von einem ‘second reign’ in der Herrschaft Elisabeths, die sich durch die Belastungen in Folge des englisch-spanischen Krieges seit 1585 von deren ersten Regierungshälfte unterscheide, John Guy, The 1590s: The Second Reign of Elizabeth I?, in: ders. (Hrsg.), The Reign of Elizabeth I. Court and Culture in the Last Decade. Cambridge 1995, 1–19. Insgesamt beleuchten die Beiträge in dem von John Guy herausgegebenen Sammelband sehr anschaulich die verschiedenen Problemfelder in den späten Regierungsjahren Elisabeths. Thomas Dekker, The VVhore of Babylon As It was acted by the Princes Seruant. London 1607, A2. Ähnlich auch John Fenton, King Iames His Welcome to London With Elizaes Tombe and Epitaph, and Our Kings Triumph and Epitimie. Lamenting the Ones Decease, and Reioycing at the Others Accesse. London 1603, A3’ u. ö. Zur Liebe der Untertanen als Voraussetzung für ihre Herrschaft siehe etwa Anthony Nixon, Elizaes Memoriall. King Iames His Arriuall. And Romes Downefall. London 1603, A3‘; Thomas Rogers, Anglorum lacrimae in a Sad Passion Complayning the Death of Our Late Soueraigne Lady Queene Elizabeth: Yet Comforted againe by the Vertuous Hopes of Our most Royall and Renowned King Iames: whose Maiestie God long Continue. London 1603, B2. Samuel Rowlands, Aue Caesar. = God Saue the King The Ioyfull Ecchoes of Loyall English Hartes, Entertayning his Maiesties Late Ariuall in England. With an Epitaph vpon the Death of Her Maiestie Our Late Queene. London 1603, A3. Zur „Peace and Plenty“-Rhetorik siehe auch Nixon, Elizaes memoriall (wie Anm. 16), B3–B4; Henry Petowe, Englands Caesar. His Maiesties most Royall Coronation. Together with the manner of the solemne shewes prepared for the honour of his entry into the cittie of London. Eliza. Her Coronation in Heauen. And Londons sorrow for her visitation. London 1603, C1’; Oxoniensis Academiae funebre officium in memoriam honoratissimam serenissimae et beatissimae Elizabethae, nuper Angliae, Franciae, & Hiberniae Reginae. Oxford 1603, 48, 54, 130, 142, 144; Threno-thriambeuticon Academiae Cantabrigiensis ob damnum lucrosum, & infoelicitatem foelicissimam, luctuosus triumphus. Cambridge 1603, 40f.
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Fast völlig ausgeblendet wird in dieser Panegyrik die Ebene politischen Entscheidungshandelns. Verantwortlich für den Erfolg Elisabeths als Königin zeichnet ihre moralische Überlegenheit und persönliche Frömmigkeit, nicht rationale politische Klugheit. So betonte William Leigh in einer Predigt: „Surely if I would ascribe these our blessings by her gratious government rather to pollicie, then pietie, or reason, then religion, to the puisance of her power, then to her trust and confidence in her God, I should preiudice the right of faith, and the Princely vertues of her heavenly minde.“18 Kann die Frage nach dem Modellcharakter und damit der Zielgerichtetheit der Elisabetherinnerung angesichts dieser augenscheinlichen Allgemeingültigkeit und der vermeintlichen Abstraktion von der politischen Entscheidungsebene hier überhaupt gestellt werden? Handelt es sich nicht vielmehr um überkommene Topoi idealen Herrschertums, wie sie seit Jahrhunderten etwa in der Gattung der Fürstenspiegeln zu finden waren und deren politische Aussagekraft als „Agglomerationen aller Tugenden“ schon Heinz Duchhardt in seiner Untersuchung des protestantischen Herrscherbildes in Frage stellte?19 Der gerechte, fromme, weise und maßvolle Herrscher: Taugt eine solche Ansammlung von konsensualen Gemeinplätzen zum Modell? Dieser Problematik eingedenk erscheint es sinnvoll, genauer die Nuancen der Darstellung in den Blick zu nehmen. Bei näherer Betrachtung nämlich fallen einige Eigentümlichkeiten auf, die – in den historischen Kontext gestellt – durchaus Rückschlüsse auf individuelle Züge und Abweichungen bzw. Konkretisierungen des herkömmlichen Herrscherideals zeigen.20 Die Darstellung des Einzuges Elisabeths in London anlässlich ihrer Thronbesteigung 1558 wurde ein Jahr nach ihrem Tod im Druck neu aufgelegt und fand weite Verbreitung. Den Höhepunkt des Einzuges stellt in dieser Schilderung die Übergabe einer englischen Bibel dar. Elisabeth, so wird berichtet, nahm die Bibel auf, hob sie für alle sichtbar hoch, küsste sie und drückte sie an ihre Brust.21 Die Heilige Schrift als Inaugurationssymbol, das noch vor den traditionellen Krönungsinsignien geführt wird, findet sich auch in anderen Schriften. Im allegorischen Stück „The Whore of Babylon“ von Thomas Dekker wird der Fairyqueen alias Elisabeth im Prolog von der Allegorie der Wahrheit ein Buch als Grundlage
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William Leigh, Queene Elizabeth, Paraleld in Her Princely Vertues, with Dauid, Iosua, and Hezekia 1 With Dauid Her Afflictions, to Build the Church 2 With Iosua in Her Puissance, to Protect the Church 3 With Hezechia in Her Pietie, to Reforme the Chureh [sic]. In Three Sermons, as They Were Preached Three Seuerall Queenes Daye. London 1612, 118. Heinz Duchhardt, Das protestantische Herrscherbild des 17. Jahrhunderts im Reich, in: Konrad Repgen (Hrsg.), Das Herrscherbild im 17. Jahrhundert. (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., Bd. 19.) Münster 1991, 26–42, 29. Gerade Elisabeths Vielsprachigkeit und Bildung ist häufiges Thema besonders der Funeralliteratur. Siehe z. B. Oxoniensis Academiae funebre officium (wie Anm. 17), 6, 24, 28, 33 u. ö. Laut Heinz Duchhardt zählt Bildung zu den zentralen Charakteristiken eines protestantischen Herrscherideals, siehe Duchhardt, Das protestantische Herrscherbild (wie Anm. 19), 33–36. The Royall Passage of Her Maiesty from the Tower of Lon[don] to her Palace of White-hall with all the Speeches and Deuices, Both of the Pageants and otherwise, together with Her Maiesties Seuerall Answers, and most Pleasing Speaches to them all. 2. Aufl. London 1604, C1‘.
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ihrer Herrschaft überreicht.22 Der erste Teil von Thomas Heywoods äußerst populärem Theaterstück „If you know not me, you know nobody“ aus dem Jahr 1605 schildert sozusagen die Mädchenjahre einer Königin unter der Herrschaft ihrer katholischen Schwester Maria I. und kulminiert in der Thronbesteigung Elisabeths, die sich, nunmehr kaum verwunderlich, gleichfalls in der Überreichung einer englischen Bibel manifestiert.23 Heywoods Werk weist darüber hinaus ein weiteres Charakteristikum auf, das in der frühen Erinnerung an Elisabeth heraussticht und sich von der traditionellen Herrscherpanegyrik abhebt: Die Rolle Elisabeths als Opfer und Märtyrerin. Aufbauend auf John Foxes ‚Book of Martyrs‘ beschreiben Heywood und andere die Duldsamkeit, Demut, Gottesfürchtigkeit und Beharrlichkeit im protestantischen Glauben, die Elisabeth unter der Herrschaft ihrer Schwester Maria der Katholischen an den Tag gelegt habe. Letztlich seien es diese Eigenschaften gewesen, so der Grundtenor, die Elisabeth für das Königsamt haben befähigt sein lassen und die auch nach der Thronbesteigung ihre Haltung bestimmten.24 Ihr Erfolg als Herrscherin sei weniger auf ihre Rolle als ‚agent‘ denn als ‚patient‘, weniger auf ihre Handlungen denn auf ihre innere Haltung und Duldsamkeit zurückzuführen.25 Elisabeths Gottergebenheit sei es nämlich gewesen, die England unter besonderen göttlichen Schutz gestellt habe. Selbst die Armada habe auf diese Weise abgewehrt werden können. Nochmals William Leigh: „Shee armed her selfe with praiers to God against that great Armada, and prevailed, that the enemies might know they were men, and not God.“26 Auf dem Schutz Englands vor äußeren Gefahren und der damit in Verbindung stehenden persönlichen Frömmigkeit der Königin lag mithin in der Wahrnehmung unmittelbar nach ihrem Tod der semantische Schwerpunkt der Memoria.27 Diese Aspekte weisen jedoch über die Wiederholung allgemeingültiger Herrschertugenden hinaus auf kontextgebundene Spezifika.
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Dekker, The VVhore of Babylon (wie Anm. 15), A3‘. Thomas Heywood, If You Knovv not Me, You Know No Bodie: or, The Troubles of Queene Elizabeth. London 1605, G3f. Auch Foxe selbst wurde unter Jakob I. wieder aufgelegt: John Foxe, Actes and Monuments of Matters most Speciall and Memorable, Happening in the Church with an Vniuersall Historie of the Same: wherein Is Set forth at large the Whole Race and Course of the Church from the Primitiue Age to the Later Times … with the Bloody Times … and Great Persecutions against the True Martyrs of Christ …: now againe as it Was Recognised, Perused, and Recommended to the Studious Reader by the Author, Master John Foxe. London 1610. Siehe darin das Kapitel: „The miraculous preservation of Lady Elizabeth, nowe Queene of England, from extreme calamity and danger of life, in the time of Queene Mary her sister“, 1895–1901. Siehe dazu neben Heywodd, If You Knovv not Me (wie Anm. 23) auch John Norden, A Pensiue Soules Delight. The contents whereof, Is Shewen in these Verses Following. London 1603, B2–B3‘; The Poores Lamentation for the Death of Our Late Dread Soueraigne the High and Mightie Princesse [H]Elizabeth, Late Queene of England, France and Ireland VVith Their Prayers to God for the High and Mightie Prince Iames by the Grace of God King of England, Scotland, France and Ireland, Defender of the Faith. London 1603, A3‘-B1; Leigh, Queene Elizabeth (wie Anm. 18), 47 u. ö. Norden, A Pensiue Soules Delight (wie Anm. 25), B4‘. Leigh, Queene Elizabeth (wie Anm. 18), 93.
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Die starke Betonung der englischen Bibel als Grundlage königlicher Herrschaft unterstreicht zum einen den spezifisch protestantischen Charakter der Königin und weist zudem eine nationale Komponente auf. Die Hervorhebung ihrer persönlichen Gottesfürchtigkeit und Opferbereitschaft sowie der defensive Charakter der Schriften, der mit einer Abgrenzung nach außen einhergeht, stützen diese Beobachtung. Damit aber verkörpert Elisabeth eine Integration von konfessionellen und nationalen Elementen in eine neue spezifisch englische Variante eines protestantischen Herrschertums. Herrscher, Nation und Protestantismus formen eine unauflösbare Einheit. Die traditionelle Herrschervorstellung wird in diesem Sinne um zwei Kategorien erweitert, die im Folgenden und bis heute untrennbar mit der englischen Monarchie verbunden bleiben. Zwar lassen sich Ansätze dieses Bildes in der Tat bereits in der Reformationszeit nachweisen, die ja gar als die Geburtsstunde englischen Nationalismus gesehen wurde28, im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert verfestigten sich diese jedoch zu einem Leitbild englischer Herrschaft.29 Was den spezifischen Charakter des hier beschriebenen Protestantismus betrifft, so ist er vor allem negativ begründet durch Abgrenzungen zu als genuin katholisch verunglimpften Elementen wie Papst, Jesuiten oder Heiligenikonen, bleibt in seinen positiven Aussagen jedoch vage.30 Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesen Beobachtungen für die funktionale
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Siehe dazu u. a. John Lane, An Elegie vpon the Death of the High and Renowned Princesse, Our Late Soueraigne Elizabeth. London 1603, A4’; Richard Mulcaster, In mortem serenissimae Reginae Elizabethae. Naenia consolans. London 1603, A3; A Mournefull Dittie, Entituled Elizabeths Losse together with a Welcome for King Iame. To a Pleasant New Tune. London 1603, Oxoniensis Academiae funebre officium (wie Anm. 17), 21, 25, 35, 44, 48, 81, 94, 110f., 120, 123, 143; Sorrovves Ioy. Or, A Lamentation for Our Late Deceased Soveraigne [H]Elizabeth, with a Triumph for the Prosperous Succession of Our Gratious King, Iames, &c. London 1603, 9; Threno-thriambeuticon Academiae Cantabrigiensis (wie Anm. 17), 12; Weepe with Ioy. A Lamentation, for the Losse of Our Late Soueraigne Lady Queene Elizabeth, with Ioy and Exultation for Our High and Mightie Prince, King Iames, Her Lineall and Lawful Successor. London 1603, 1; Henry Chettle, Englands Mourning Garment Worne heere by Plaine Shepheards, in Memorie of their Sacred Mistresse, Elizabeth; Queene of Vertue while She Liued, and Theame of Sorrow Being Dead. To the which Is Added the True Manner of Her Emperiall Funerall. With Many New Additions, Being now againe the Second Time Reprinted, which Was Omitted in the First Impression. London 1603, B2’; Richard Crompton, A most Exact and Neuu Inventorie of all the Goods, Excellencies, and Memorable Actions Worthy any Generall or Particular Knowldege, from the First Daies of the Conquerer to the Last Daies of Queene Elizabeth together, with a Discourse vpon the Portugale Action, the Cales Action, and other Actions Vndertaken by the Late Earle of Essex. London 1608, C2, C4, N1’f. Siehe etwa Christopher Hill, The Collected Essays of Christopher Hill. 3 Bde. Brighton 1985–1986, Bd. 2: Religion and Politics in the 17th Century England. 1986, 21–36. Die hier gezeigten Abgrenzungsbestrebungen prägten sich erst in den späten Regierungsjahren Elisabeths heraus. Dies kann Ronald Asch in seiner Untersuchung der drei wichtigsten Konstituenten des englischen Nationgefühls, der protestantischen Konfession, der Rechts- und Verfassungsordnung der ‚Ancient Constitution‘ und des ‚Common Law‘ sowie des Antikatholizismus, zeigen, Ronald G. Asch, An Elect Nation? Protestantismus, nationales Selbstbewußtsein und nationale Feindbilder in England und Irland von zirka 1560 bis 1660, in: Alois Mosser (Hrsg.), „Gottes auserwählte Völker“. Erwählungsvorstellungen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte. (Pro Oriente, Bd. 1.) Frankfurt a. M. u. a. 2001, 117–141, hier 125, 130–132, 134–136.
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Dimension der Elisabetherinnerung ziehen? Wie ist es um ihre Zielrichtung bestellt, die ja nach der zugrunde gelegten Definition Wesensmerkmal eines Modells ist? Angesichts der Offenheit der politischen Situation im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts, angesichts des Dynastiewechsels und der mit ihm verbundenen Unklarheit über künftige politische Richtungsentscheidungen31, angesichts der Furcht vor sozialen und konfessionellen Konflikten im Inneren und der anhaltenden Bedrohung durch äußere Mächte wurde mit der Erinnerung an die verstorbene Königin eine Identifikations- und Integrationsfigur geschaffen.32 Diese verschmolz eine protestantische und nationale Perspektive mit den konsensualen Elementen eines traditionellen Herrscherideals. Nicht hinterfragbare Herrschertugenden wurden so verbunden mit dem Verweis auf die englische Bibel und wiesen den Herrscher als Garanten von Sicherheit und Konsens innerhalb des als Einheit begriffenen Gemeinwesens aus. Die Zielrichtung des in der Elisabetherinnerung vermittelten Herrschermodells, so lässt sich folgern, ist entsprechend weniger eine ethisch-moralische denn eine politisch-soziale. Angesichts der vielfältigen Umwälzungen der Zeit ist gerade in der geringen politischen Konkretisierung, dem Verbleib auf einer Ebene oberhalb des praktischen Regierungshandelns, die eigentliche Wirkmächtigkeit dieses Modells zu sehen. Seine Funktion lag in der Konsensstiftung, nicht in konkreten Handlungsanleitungen. In diesem Sinne konnte die Erinnerung an Elisabeth – anders als oftmals behauptet33 – eine systemstabilisierende Wirkung entfalten und trug somit im weiteren Sinne dazu bei, die Herrschaft des ersten Stuart zu stützen.34 Somit lässt sich von einem neuen Modell eines spezifisch englischen-protestantischen Herrschers sprechen. Ein Modell, das in Zeiten tiefgreifender Verunsicherung eine integrative Funktion entfaltete, das der Konsensschaffung und der Identifikationsbildung diente.
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Oxoniensis Academiae funebre officium (wie Anm. 17), 9, 170 u. ö. Diese Unsicherheit erwähnt etwa der venezianische Botschafter Contarini in einem Brief vom 1. Mai 1603, Horatio F. Brown (Hrsg.), Calendar of State Papers Relating to English Affairs in the Archives of Venice, Volume 10 – 1603–1607. London 1900, 16–28 (http://www.british-history.ac.uk/source. aspx?pubid=1009, eingesehen am 13. März 2009). Zu dem Gefühl der Unsicherheit, das zu einem verstärkten Bedürfnis nach Einigkeit und Geschlossenheit führte, siehe: Letter from the French Ambassador (M. de Beaumont.) in London to the French Ambassador in Spain, Enclosed in preceding Despatch: „But his title is most legitimate and is supported by the good opinion the English have of his character, by the fact that he has sons, and because he is already versed in government. Add to this the alarm that everyone feels lest discord should open the door to foreigner. All these considerations have counselled to unanimity and promptness in receiving and recognising him.“ Brown, Calendar of State Papers (wie Anm. 32), 16–28; May 1603, 1–15 (http://www.british-history.ac.uk/source.aspx?pubid=1009, eingesehen am 06 März 2009). Siehe etwa Walker, Bones of Contention (wie Anm. 4). Dagegen siehe Perry, The Citizen Politics of Nostalgia (wie Anm. 3) und Woolf, Two Elizabeths (wie Anm. 3).
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2. Polarisierung und Dissens: Elisabeth als Modell einer militanten Außenpolitik Wie aber lässt sich dieses konsensuale Modell mit der martialischen und polemischen Erinnerung an Elisabeth in den 1620er Jahren in Einklang bringen, wie sie offensichtlich das eingangs erwähnte Pamphlet aus der Westminster Abbey beherrschte? Mit Beginn des Dreißigjährigen Krieges im Jahr 1618 erfuhr die Erinnerung an Elisabeth eine bislang unbekannte Aufwertung. Dabei gewann sie neue Bereiche: Nicht mehr primär in literarischem Schrifttum, sondern verstärkt als Argument in konkreten politischen Debatten und Zielkonflikten fand sich nun der Verweis auf Elisabeth. Voraussetzung hierfür war es, dass Elisabeth nun nicht mehr als ‚patient‘ dargestellt wurde. Betont wurde vielmehr ihr geradezu zum Aktionismus gesteigerter Handlungseinsatz. Der Fokus des öffentlichen Interesses hatte sich zwischenzeitlich hin auf den Bereich der Außenpolitik verschoben. Dies zeitigte unmittelbare Auswirkungen auf die Semantik der Elisabetherinnerung: Unter den europäischen Mächten habe sich Elisabeth hervorgetan durch ihre außerordentliche Tüchtigkeit bei der Verbreitung englischen Ruhmes. Der defensive, konsensuale Unterton, der die Elisabeth-Memoria lange Zeit geprägt hatte, wich einer offensiven, ja sogar aggressiven Konnotation. Eine weit verbreitete Flugschrift von John Reynolds, Vox Coeli, von 1621 beschreibt eine himmlische Zusammenkunft verstorbener Tudors und Stuarts unter der Wortführerschaft von Elisabeth.35 Diese klagt bei der Gelegenheit ausführlich über die fehlgeleitete Politik ihres Nachfolgers. Sie habe zum Niedergang englischen Ruhms geführt, der durch die militärischen Triumphe ihrer Herrschaft erworben worden sei: „When […] I raigned, our Valour could stop the Progression of Spaine; yea my Ships domineerd in his Seas and Ports, and their Clouds of smoke and fire, with their Peales of Thunder, struck such amazements to the hearts, that every Spanish Bird kept his owne Nest, not powerfull enough to defend themselves, much lesse to offend any, and lest of all England, who was then in her Triumphes, in her lustre, in her glory.“36 Dies entspricht vielen anderen Schriften, die die Siege unter Elisabeth nun nicht mehr als Ausweis göttlichen Schutzes, sondern als Leitbilder der militärischen Exzellenz und des Führungsanspruchs Englands unter den europäischen Mächten feierten. Nicht mehr die ‚Friedensfürstin‘, sondern die ‚Warrior Queen‘ beherrschte die Szene. In diesem Kontext erfuhr auch die konfessionelle Komponente des Elisabethbildes eine radikale Umdeutung. Elisabeth galt nun nicht mehr als Vertreterin eines nationalen, auf Abgrenzung und inneren Konsens zielenden Protestantismus, sondern wurde gleichsam zum 35
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Siehe dazu auch Daniel R. Woolf, The Idea of History in Early Stuart England. Erudition Ideology and the Light of Truth from the Accession of James I to the Civil War. Toronto u. a. 1990, 123. In den EEBO findet sich diese Schrift mit dem Namen von Thomas Scott: Thomas Scott, Vox coeli, or, Newes from Heaven, of a Consultation there Held by the High and Mighty Princes, King Hen. 8., King Edw. 6., Prince Henry, Queene Mary, Queene Elizabeth, and Queene Anne wherein Spaines Ambition and Treacheries to most Kingdomes and Free Estates of Europe, Are Vnmask’d and truly Represented, but more particularly towards England, and now more especially vnder the Pretended Match of Prince Charles, with the Infanta Dona Maria; whereunto Is Annexed Two Letters Written by Queene Mary from Heaven, the One to Count Gondomar, the Ambassadour of Spaine, the Other to all the Romane Catholiques of England. 1624, 37.
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Modell einer geradezu gegensätzlichen politischen Zielrichtung, zur Vorkämpferin eines aggressiven europäischen Panprotestantismus in dessen chiliastischen Kampf gegen den Katholizismus.37 Auf die funktionale Dimension dieser Umdeutung lässt sich aus dem historischen Kontext der 1620er Jahre schließen. Im Gegensatz zu den ersten Regierungsjahren Jakobs hatte sich die Lage im Innern deutlich gefestigt: Die neue Dynastie war fest etabliert, die Nachfolge gesichert. Durch eine lang anhaltende Friedenszeit hatte sich zum einen die ökonomische Situation stabilisiert und zum anderen die Furcht vor äußerer Bedrohung und sozialen Unruhen abgeschwächt. 38 Mit dieser wachsenden inneren Stabilisierung ging ein verstärktes Interesse der englischen Öffentlichkeit an den Ereignissen auf dem Kontinent einher, den sich verschärfenden konfessionellen Spannungen sowie der Positionierung Englands in den eskalierenden Konflikten. Die pazifistische und überkonfessionelle Ausgleichspolitik Jakobs geriet dabei zunehmend in Kritik zugunsten einer stärker konfessionell ausgerichteten offensiven Außenpolitik.39 Die sich in diesem Zusammenhang verschärfende Debatte blieb nicht ohne Folgen für die Wahrnehmung der englischen Monarchie. An die Stelle eines integrativen Herrschermodells trat der politische Akteur und Entscheidungsträger. Nicht länger die sittlich-moralische Grundhaltung des Monarchen, sondern seine politische Klugheit und Durchsetzungsfähigkeit, die sich in konkreten Entscheidungen manifestierte, wurde ausschlaggebend für die Bewertung eines Monarchen. Das hatte weitreichende Folgen: Durch den Fokus auf politische Handlungen nahm zwangsläufig die Konsensfähigkeit des Herrscherbildes ab: Über allgemein formulierte Herrschertugenden ließ sich nicht streiten, politische Richtungsentscheidungen waren und sind dagegen stets Ansichtssache. In diesem Kontext wurde das Modell Elisabeth als Integrationsbasis obsolet. Es wurde abgelöst von einem Modell, dessen Funktion in der Formulierung eines politischen Programms lag, das mit einer bestimmten außenpolitischen Zielsetzung verknüpft war und in Konkurrenz zu alternativen Programmen stand. 37
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Siehe z. B. William Douglas Hamilton/Sophia Crawford Lomas (Hrsg.), Calendar of State Papers Domestic: Charles I, 1625–49 – Addenda. London 1897, Nr. 44 (http://www.british-history.ac.uk/ source.aspx?pubid=644, eingesehen am 8. April 2009). Damit wurde gleichsam eine Kontinuität englischer Monarchen konstruiert: Siehe die Rede des Lord Speakers an den König vom 19. März 1627: John Rushworth (Hrsg.), Historical Collections of Private Passages of State: Volume 1 – 1618– 29. The first of eight volumes, beginning in the sixteenth year of the reign of James I and continuing until the fifth of Charles I. London 1721: „The first Christian Kings of Europe, that abated the swelling pride of the Pope, by banishing the usurped power over God’s Vice-gerent, that first established the true Religion now professed, were all Kings of England, and the last a young one; Queen Elizabeth was a Woman, yet Spain had good cause to remember her, and the Protestants of France will never forget her.“ (http://www.british-history.ac.uk/report.aspx?compid=70148&strquery=queen Elizabeth, eingesehen am 25. November 2008). Zur Expansion des englischen Handels in Folge der Friedenszeit in den frühen Regierungsjahren Jakobs siehe Barry E. Supple, Commercial Crisis and Change in England, 1600–1642. A Study in the Instability of a Mercantile Economy. Cambridge 1959, 28–32. Siehe zu den sich verschärfenden Auseinandersetzungen um Fragen der Außenpolitik in den 1620er Jahren etwa Thomas Cogswell, The Blessed Revolution. English Politics and the Coming of War, 1621–1624. Cambridge 1989; Simon Adams, Foreign Policy and the Parliaments of 1621 and 1624, in: Sharpe (Hrsg.), Faction and Parliament (wie Anm. 6), 139–171.
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Das formulierte Programm eines hegemonialen Protestantismus unter englischer Führung hatte freilich mit der ursprünglichen Elisabetherinnerung nichts mehr gemein, was Inhalt oder Zielrichtung betraf. Es ist zu verstehen als gegenwartsbezogene Antwort auf das Problem der Positionierung Englands unter den europäischen Mächten angesichts sich verschärfender konfessioneller Spannungen auf dem Kontinent. Während Jakob sich in seinem Bemühen um einen konfessionsübergreifenden Ausgleich unter den europäischen Fürsten zum Salomon und Arbiter stilisierte, entstand in der neuen Form der Erinnerung an Elisabeth gleichsam ein Gegenmodell. Dessen Funktion lag nicht allein in der Opposition oder der Kritik gegenüber Jakobs Herrschaft und war damit nicht primär destruktiv, sondern es bezog sich vor allem auf die Formulierung, Legitimierung und letztlich die Durchsetzung neuer politischer Zielsetzungen. Bedeutung kam diesem Prozess weit über den Kontext der 1620er Jahre hinaus zu: Die Umdeutung der Elisabeth-Memoria weist auch auf eine Pluralisierung von Herrschermodellen hin. Anstelle eines integrativen übergeordneten Herrschermodells wird das Sprechen über und erinnern an den Herrscher nun gleichsam heruntergebrochen auf die polyphone und konfliktträchtige Ebene politischer Entscheidungsträgerschaft.
3. Fazit Bezogen auf den Modellbegriff als Analysekategorie verdeutlicht der diachrone Querschnitt der Elisabetherinnerung deren Komplexität und Dynamik. Wandlungsprozesse lassen sich dabei nicht allein in der semantischen, sondern vor allem auch in der funktionalen Bedeutung des Modells Elisabeth erkennen. Zu beziehen sind diese Bedeutungen auf ihren jeweiligen politisch-sozialen Kontext. Sie verweisen aber auch auf sich verschiebende Diskurse, die gleichsam den Denkrahmen bilden für das Sprechen über monarchische Herrschaft. Während in der Erinnerung an Elisabeth in den ersten, unsicheren Regierungsjahren Jakobs ein protestantisch und national zentriertes Modell geschaffen wurde, welches der Integration und Konsensstiftung diente, wirkte sie in seinen späten, gefestigten Regierungsjahren als Argument innerhalb politischer Auseinandersetzungen konfliktverschärfend. Überspitzt lässt sich formulieren, dass die Erinnerung an Elisabeth in den 1620er Jahren somit nicht nur Zeichen für die Unzufriedenheit mit der Herrschaft Jakobs war, sondern auch gerade für deren Stabilität. Offensichtlich war das Bedürfnis nach einheitsstiftenden Diskursen nicht mehr drängend. Die übliche Umschreibung der Erinnerung an Elisabeth als „nostalgia“ trägt nicht der Tatsache Rechnung, dass hier neue Vorstellungen von Königtum und von der Rolle des englischen Monarchen formuliert wurden. Im Sinne einer zielgerichteten Wirklichkeitskonstruktion nämlich stand Elisabeth zunehmend als Modell für eine Politik, die englische Hegemonie auf militärischer Basis anstrebte, nicht einen auf Honor beruhenden Ehrenvorrang, wie ihn Jakobs Arbitermodell vorsah. Somit diente die Erinnerung an Elisabeth der Verbalisierung und Legitimierung neuer politischer Programme. Dies bedeutete zugleich eine Abkehr von einem konsensstiftenden Herrscherideal und eine Formulierung von politischen Herrscher-Alternativen. Die Wahrnehmung des Herrschers verschob sich weg von einer übergeordneten Integrationsfigur hin zu einem obersten politischen Entscheidungsträger, dessen Handeln und Motivation zunehmend im Fokus des Interesses und auch der
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Kritik standen. Die Konsequenzen dieser Wahrnehmungsverschiebung für die Herrschaft der frühen Stuarts waren nicht unerheblich. Das eingangs erwähnte Pamphlet tauchte im Übrigen – diesmal in gedruckter Form – zwei Jahrzehnte nach seinem ersten Erscheinen erneut auf: Im Jahr 1642, unmittelbar nach Ausbruch des Bürgerkrieges.
New (?) Model (?) Army* Jürgen Luh
„New Model Army, developed by Oliver Cromwell during the English Civil War, was the first modern army in form, function, and training“, lautet der erste Satz unter dem Lemma in der International Encyclopedia of Military History von 2006, der jüngsten Zusammenfassung von Sein und Werden der englischen Parlamentsarmee.1 Das Neue, Modellhafte an dieser Armee wird wenige Zeilen weiter erläutert: „The New Model Army was disciplined, well-paid, well-trained, and manned from all levels of society. [...] Promotion in the New Model Army was based on merit, not birth or wealth, and, therefore, it drew popular support from the English masses“. Diese Aussagen beschränken sich auf die militärische Bedeutung der New Model Army, auf die auch ich mich konzentrieren möchte. Die mit der New Model Army verbundenen politischen und sozialen Implikationen sollen hier außer Acht bleiben.2 Die New Model Army wurde im Februar 1645 neu formiert. In ihr wurden die drei bislang existierenden Armeen des Parlaments, die Armeen der Generäle Essex, Manchester und Waller, organisatorisch zu einem einzigen Heer zusammengefasst. Der Grund dafür lag im Misserfolg der Parlamentstruppen gegen die des Königs – wenn auch die letzte und größte Schlacht der ersten Phase des Bürgerkriegs, die Schlacht bei Marston Moor 1644, mit einem Erfolg der Roundheads geendet hatte, also zugunsten des Parlaments ausgegangen war. Allerdings war es ein knapper Sieg gewesen – und ein sehr, sehr glücklicher.3 Die New Model Army bestand auf dem Papier und idealer Weise aus 2.300 Offizieren und 22.000 Gemeinen. Ein Drittel davon, die Reiter nämlich, waren Freiwillige. Die übrigen zwei Drittel, die Infanteristen, waren dienstverpflichtete Soldaten. Oberbefehlshaber der Armee war Sir Thomas Fairfax. Unter ihm kommandierte Philip Skippon die Infanterie, die Kavallerie aber Oliver Cromwell, dem in erster Linie die New Model Army ihre Entstehung, d. h. ihre konzeptionelle Vorstellung und Organisation verdankte.4 * Michael Kaiser danke ich sehr für Rat und hilfreiche Kommentare. 1 Katrina A. Parise, New Model Army, in: James C. Bradford (Hrsg.), International Encyclopedia of Military History. 2 Bde. New York/London 2006, Bd. 2, 946–947, Zitat: 946. 2 Siehe dazu die zusammenfassenden Ausführungen von Tânia Ünlüdag-Puschnerat, „Wir sind keine bloße Söldnerarmee“. Cromwells Revolutionsarmee 1645–49, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Bulletin 6, 2002, 108–124. Ünlüdag-Puschnerat sieht durchaus Neues in der New Model Army, verlässt sich in diesen Passagen allerdings auf die Arbeit von Charles H. Firth, Cromwell’s Army (s. unten Anm. 7). 3 Siehe dazu zusammenfassend Maurice Ashley, The English Civil War. 7. Aufl. Phoenix Mill/Thrub/ Stroud 1997, 119–124. 4 Zur Stärke der New Model Army, den Offizieren und der Rekrutierung im Einzelnen siehe: Parise, Army (wie Anm. 1), 946; Ian Gentles, The New Model Army in England, Ireland and Scotland, 1645–1653. Oxford/Cambrigde/Mass. 1994, 31–40. Zur tatsächlichen Armeestärke in den Monaten von April 1645 bis April 1646 s. die Tabelle auf 39. Zu Cromwell allgemein: Peter Gaunt, Oliver
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Während der Englischen Bürgerkriege (1642–1651) errang die New Model Army Sieg um Sieg, so bei Naseby (1645), bei Preston (1648) und bei Worcester (1651) in England. Sie verlor nicht eine Schlacht in Irland in den Kämpfen, die dort von 1649 bis 1652 ausgetragen wurden, und ebenso kein einziges Gefecht während der Kampfhandlungen in Schottland zwischen 1650 und 1651.5 Diese Erfolge begründeten ihr bis heute anhaltendes Renommee. 1660, mit der Restauration der Monarchie unter Karl II., auch das hat vor allem zu ihrem heutigen Ruhm beigetragen, löste sich die New Model Army quasi selbst auf: Ihre Soldaten und Offiziere ließen sich nach Bezahlung des rückständigen Soldes ohne Widerstand entlassen.6 Bevor die New Model Army sich neuen Herausforderungen stellen musste und dabei womöglich ihren Nimbus einbüßen konnte, existierte sie nicht mehr. Was nun war das Modellhafte an dieser neuen Modellarmee? Schaut man in die übersichtliche neuere Spezialliteratur zu dem Thema – es liegen, sieht man von den vielen Veröffentlichungen, hauptsächlich zu den Bürgerkriegen und hier wiederum zu Oliver Cromwell, ab, grundlegende und wichtige Untersuchungen vor von C. H. Firth: Cromwell’s Army, aus dem Jahr 19027; von demselben und Godfrey Davies: Regimental History of Cromwell’s Army, aus dem Jahr 19408; von Mark Kishlansky: The Rise of the New Model Army, von 19799; von Ian Gentles: The New Model Army in England, Ireland and Scotland, aus dem Jahr 199210 sowie von Keith Roberts aus dem Jahr 2005: Cromwell’s War Machine11 –, so gelten mehrheitlich als modellhaft und vorbildlich die Disziplin der New Model Army, dass die Truppen gut ausgebildet, exerziert und gedrillt worden sind, dass die Soldaten der New Model Army einheitlich ausgerüstet und gut verpflegt worden sind, sie halbwegs pünktlich und gut bezahlt wurden sowie dass die Angehörigen der New Model Army aus allen Schichten der Gesellschaft stammten. Die Literatur bestätigt also die Eigenschaften, die der New Model Army auch in dem eingangs zitierten Lemma der International Encyclopedia of Military History zugeschrieben wurden. Aber war das neu? Bleibt man jenseits des Kanals, auf den britischen Inseln, und sieht sich die Verhältnisse von dort an, wie dies die gerade genannten Autoren getan haben, dann lautet die Antwort auf diese Frage mehrheitlich: ja. Dieser Ansicht sind Firth, Davies, Roberts
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Cromwell. Oxford 1996; zuletzt Katrina A. Parise, Cromwell, Oliver, in: Bradford (Hrsg.), Encyclopedia (wie Anm. 1), Bd. 1, 349–352. Dazu detailliert Gentles, New Model Army (wie Anm. 4), 235–265 und 350–412. Keith Roberts, Cromwell’s War Machine. The New Model Army 1645–1660. Barnsley 2005, 260. Charles H. Firth, Cromwell’s Army. A History of the English Soldier during the Civil Wars, the Commonwealth and the Protectorate. London 1902. 4. Aufl. Methuen 1962. Charles H. Firth/Godfrey Davies, The Regimental History of Cromwell’s Army. 2 Bde. Oxford 1940. Mark A. Kishlansky, The Rise of the New Model Army. Cambridge/New York 1979. 2. Aufl. Cambridge/New York/Melbourne 1983. Gentles, New Model Army (wie Anm. 4). Gentles Arbeit ist die umfassendste zur New Model Army. Das Werk ist auf einer breiten Quellengrundlage entstanden; es gilt zurzeit als das Referenzwerk zur Geschichte der New Model Army. Roberts, War Machine (wie Anm. 6).
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und ebenso, wenn auch zurückhaltender, Gentles.12 Lediglich Kishlansky vertritt eine andere Ansicht. Die Meinung, dass die New Model Army etwas Einzigartiges, von allen ihren Vorgängerinnen deutlich Unterscheidbares gehabt hätte, lehnt Kishlansky vehement ab. Die Armee sei auf denselben „conservative military principles“, auf denselben alten, ja sogar rückwärtsgewandten Prinzipien gegründet gewesen, wie die vorhergehenden Parlamentsheere (und ebenso die Kronheere, muss man hinzufügen). In ihrer Form, ihrer Finanzierung und ihrer Zusammensetzung habe sie sich von den alten Armeen kaum unterschieden – was sich aufgrund der prosopographischen Belege, die Kishlansky für die Offiziere der New Model Army beibringen kann, zumindest zugunsten der gerühmten egalitären Zusammensetzung der Armee nicht leicht vom Tisch wischen lässt. Die New Model Army, so Kishlansky, habe genauso funktioniert wie die drei Armeen, die sie ersetzt hat. Sie habe mit denselben Problemen zu kämpfen gehabt: Nie habe sie genug Soldaten besessen, auch ihren etatmäßigen Stand nach der Erstaufstellung im Lauf der Kriegsjahre habe sie nie mehr erreichen können. Ihr haben Desertionen stark zugesetzt und ebenso die aus unterschiedlichen Gründen dauerhafte Abwesenheit von Offizieren und Gemeinen. Außerdem sei sie mit den Soldzahlungen an ihre Soldaten stets im Rückstand gewesen.13 Kishlanskys Thesen beruhen in erster Linie auf seiner Untersuchung der Jahre 1647 bis 1652 beziehungsweise bis zur Auflösung der Armee im Jahr 1660. (Die New Model Army ist ja nach Beendigung der Bürgerkriege auch auf dem europäischen Festland eingesetzt worden – in französischem Dienst gegen Spanien.) Gentles, der sich mit Kishlanskys Resultaten und Ansichten auseinandergesetzt hat, kommt hingegen, was beispielsweise die Bezahlung der Truppen anlangt, zu dem Ergebnis, dass diese im Gegensatz zur Vorzeit doch gut funktioniert habe: „What this survey shows is that the New Model Army was paid with remarkable regularity for more than two years. While not discounting the suffering that was experienced when money was delayed even by a few weeks, it must be recognized that the New Model was better cared for than other contemporary armies or than the ones it had replaced.”14 „Neu“ wird das Modell im Hinblick auf die Besoldung der Truppen nach Gentles Auffassung also zu recht genannt. Allerdings hat Gentles nur die Jahre von 1645 bis 1647 untersucht, und sein Befund beruht auf der sehr genauen Auswertung der aus diesem Zeitraum stammenden Quellen.15 Die auf 1647 folgenden Jahre hat er nur sporadisch betrachtet beziehungsweise gar nicht mehr angeschaut – und damit kein Argument gegen Kishlansky gewonnen. Denn der hatte ja nicht bestritten, dass das neue Modell im Fall der Truppenbesoldung in den ersten zwei Jahren seit seiner Einführung einigermaßen funktionierte, sondern festgestellt, dass es sich auf Dauer nicht hatte halten und sich schon gar nicht hatte durchsetzen können.
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Siehe Firth, Cromwell’s Army (wie Anm. 7), 35f., 316f.; Gentles, New Model Army (wie Anm. 4), 10–16. Siehe Kishlansky, Rise (wie Anm. 9), 50, 66f., 73, 74f., 291. Siehe besonders 50: „The new army was an amalgamation, not a fresh beginning.“ und 70: „Thus in its composition and organization as much as in its material condition of pay and supply, the New Model was very like the old armies.“ S. dazu Gentles, New Model Army (wie Anm. 4), 2. Gentles, New Model Army (wie Anm. 4), 49. Ebd., 47–52.
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Neu an dem Modell war aber unzweifelhaft – auch Kishlansky argumentiert nicht ernsthaft dagegen – das Erscheinungsbild der New Model Army, d. h. die weitestgehend einheitliche Uniformierung und Ausrüstung der Truppen, genau genommen, die der Infanterie. Die Kavallerie war nicht gleichartig gekleidet und gab kein einheitliches Erscheinungsbild ab, so dass Kishlansky auch die angeblich geschlossene Gesamterscheinung der New Model Army in Zweifel ziehen konnte.16 Doch scheint mir diese Deutung etwas übertrieben und in diesem Fall wenig überzeugend. Tatsächlich ist die New Model infantry berühmt dafür, die erste englische Truppe gewesen zu sein, welche red coats, rote Uniformen, getragen hat – und zwar Zeit ihres Bestehens. Hier sind die Quellen ganz eindeutig. Ein zeitgenössischer Bericht vom 7. Mai 1645 aus den Perfect Passages, einem zeitgenössischen Journal, hielt etwa über den Ausmarsch der New Model Army aus Windsor fest: „The men are Redcoats all, the whole army only are distinguished by several facings of their coats.“17 Und so äußern sich auch andere Beobachter. Die erhaltenen Kontrakte der New Model Army mit Tuchmanufakturen belegen ebenso, dass die Soldaten bis zur Auflösung der Armee 1660 in rote Uniformen gekleidet blieben.18 Das ist in unserem Zusammenhang ein wichtiger Punkt, auf den ich noch einmal zurückkommen werde. Wie neu nun war die Ausbildung der New Model Army, wie neu waren das Exerzieren und die Übungen? Um es gleich vorweg zu sagen: der gelobte Drill war wohl wenig bis gar nicht neu, er war nicht modellhaft. Kishlansky hat hier recht mit seiner Ansicht. Und die beiden, die nach ihm geschrieben haben, Gentles und Roberts, weichen dieser Frage bezeichnenderweise aus. Sie beschreiben nur sehr allgemein die Ausbildung der Soldaten des neuen Modells.19 Überhaupt ist erstaunlich, dass keine der großen Arbeiten zur New Model Army die Frage stellt, wie die Training Methods der englischen Armee sich im Zusammenhang entwickelt haben, ob sie eigene englische Entwicklungen waren oder ob sie auf auswärtigen, kontinentalen Einflüssen beruhten und wenn ja, woher diese Einflüsse kommen. Das liegt zum großen Teil daran, dass man die englischen Bürgerkriege in der britischen und amerikanischen Historie als etwas Besonderes, rein Englisches betrachtet, etwas Insulares, das mit dem Kontinent und den Entwicklungen dort nichts zu tun hatte: Bürgerkriege gab es auf der Insel – den Dreißigjährigen Krieg und den spanisch-französischen Krieg dagegen auf dem Kontinent. Man kann die militärischen Entwicklungen auf Kontinent und Insel aber nicht so einfach durch den Kanal trennen. Denn seit 1585 waren englische Truppen beständig in die Kriege und Kämpfe auf dem europäischen Festland verwickelt, so in den Niederlanden, so in Frankreich und so auch auf der iberischen Halbinsel; auch im Dreißigjährigen Krieg gab es, wenn auch vielleicht nur in bescheidenem Umfang, englische Söldner, so auf der Seite des Pfalzgrafen Friedrich V., der ja Schwiegersohn des englischen Königs James I. war, und auch
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Kishlansky, Rise (wie Anm. 9), 74. Perfect Passages. London 1645, zit. nach Roberts, War Machine (wie Anm. 6), 50. Ebd. Siehe Roberts, War Machine (wie Anm. 6), 81–94. Bei Gentles, New Model Army (wie Anm. 4), kommen die Begriffe Training oder Training Methods nicht vor, nach der Rekrutierung zieht die New Model Army gleich in den Kampf, s. 31ff. und 52ff.
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später noch in schwedischen Diensten.20 Die englischen Soldaten sind also mit den militärischen Ideen und Neuerungen, die auf dem Kontinent entstanden sind, seit diesem Stichjahr 1585 dauerhaft und kontinuierlich in Berührung gekommen und gewesen.21 Und dies mit Folgen: Denn tatsächlich stammen sämtliche Neuerungen in Ausbildung und Taktik, die seit dem letzten Fünftel des sechzehnten Jahrhunderts in der englischen Armee eingeführt wurden, vom Festland. Sie sind das Ergebnis der militärischen Vorgänge und Überlegungen dort. Die Erlebnisse des Schotten Robert Monro auf den Feldzügen Gustav Adolfs wurden bereits 1637 in London gedruckt und eifrig rezipiert.22 In der Zeit von 1485 bis 1585 waren englische Truppen im Gegensatz etwa zu französischen oder deutschen 77 Jahre lang in keinen Krieg, nicht einmal in ein Gefecht verwickelt. Das änderte sich dauerhaft erst, als Elisabeth I. 1585 beschloss, sich auf Seiten der niederländischen Provinzen zu engagieren, die gegen die spanische Herrschaft kämpften. Der englische Kapitän John Shute stellte dazu 1598 im Rückblick auf die vorangegangenen Jahre fest: „A good captain could not be made in the life of a butterfly. Long years of military experience, or at least a period of systematic training, were required. Before 1585, the former could only be gained if the soldier was willing to serve in the armies of foreign powers to make up for the lost experience his own could not provide. Systematic training began only in the final decades of the century.“23 Aus Shutes Bemerkung geht deutlich hervor, woraus sich die Ende des sechzehnten Jahrhunderts in England einsetzende militärische Entwicklung speiste: aus den Erlebnissen und Erfahrungen, die englische Soldaten in den Heeren von foreign powers, im Dienst von kontinentaleuropäischen Mächten gesammelt hatten. Mit anderen Worten: Die nun in England einsetzenden Veränderungen und Verbesserungen der militärischen Ausbildung, die training methods, wie auch die Überlegungen zur militärischen Taktik sind von den Offizieren und Soldaten importiert worden, die aus dem Dienst in fremden Heeren nach England zurückgekehrt waren. Die wesentlichen Grundsätze, auf denen dann die englische Ausbildung, ja die ganze militärische Entwicklung des Landes fußte, waren abgeleitet aus den Neuerungen der Ora-
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In den frühen 1620er Jahren standen die Truppen unter dem Kommando von Sir Horace Vere. Um 1630 landeten noch englische Truppen unter Hamilton im Reich, um auf Seiten der Schweden zu kämpfen. Hilary L. Rubinstein, Captain Luckless. James, first duke of Hamilton 1600–1649. Edinburgh/London 1975. Roberts, War Machine (wie Anm. 6), 35–39, fasst die Oranische Heeresreform kurz zusammen, setzt sich in vier Absätzen (43f.) auch mit „The English Regiments in Dutch Service“ auseinander, kommt aber nicht zu dem Schluss, dass diese trainierten Soldaten, zurück in England, ihre Erfahrungen und die Kenntnisse, die sie sich im niederländischen Dienst erworben hatten, natürlich an die Daheimgebliebenen weitergegeben haben. Robert Monro, Monro His Expedition with the worthy Scots Regiment (called Mac-Keyes Regiment) levied in August 1626. London 1637. Siehe auch William S. Brockington, Robert Monro, Professional Soldier, Military Historian and Scotsman, in: Steve Murdoch (Hrsg.), Scotland and the Thirty Years’ War 1618–1648. (History of Warfare, Bd. 6.) Leiden/Boston/Köln 2001, 215–241. Dies nach David Eltis, The Military Revolution in Sixteenth-Century Europe. 2. Aufl. New York 1998, 99.
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nischen Heeresreform.24 Diese Reform wurde von Moritz von Nassau-Oranien in den Niederlanden seit dem Jahr 1590 durchgeführt, wobei sich zwar das Jahr des Beginns, 1590, leicht bestimmen lässt, nicht aber der genaue Endpunkt der Reform. Die Reform war eine Reaktion auf die niederländischen Niederlagen auf den Schlachtfeldern gegen die spanischen Truppen, eine Reaktion auf den taktischen Verband des Tercios, der sich so sehr überlegen gezeigt hatte.25 Diese spanische Formation umfasste zwischen 1.200 oder 1.500 bis zu 2.000, ja sogar 3.000 Mann. Ein Block von Pikenieren bildete das Zentrum, Schützen sicherten die Flanken. Das Tercio war als taktischer Verband leichter zu kommandieren und beweglicher als die früheren Gevierthaufen der Schweizer oder der deutschen Landsknechte.26 Um das Tercio im Kampf zu schlagen, setzten Moritz von Nassau und seine Cousins Ludwig Wilhelm und Johann auf die zunehmend wichtiger werdende Rolle der Feuerwaffen auf dem Kampfplatz. „Daß ‚das Gewehrfeuer den Sturmangriff als das entscheidende Moment in der Schlacht abgelöst hatte‘, wurde zuerst von Prinz Moritz erkannt; die Pike hatte die Muskete zu schützen und nicht umgekehrt.“27 Auf Grundlage dieser Überlegung zogen die Grafen von Nassau folgende Konsequenz: Zum einen musste eine Formation entwickelt werden, die eine möglichst maximale Ausnutzung der Feuerkraft erlaubte, zum anderen waren Verfahren einzuüben, die gewährleisteten, dass die Schussfolge kontrolliert und kontinuierlich aufrechterhalten werden konnte. Der innovative Ausgangsgedanke zur Erhöhung der Feuergeschwindigkeit der Musketiere war, die Soldaten in mehreren langen Reihen hintereinander aufzustellen. Durch Abfeuern der Musketen der ersten Schützenreihe, die sich danach sofort zum Laden nach hinten zurückzog, um der zweiten Schützenreihe Platz zu machen, die dann ihre Waffen abfeuerte, und so weiter, sollte ein ständiges geschlossenes Gewehrfeuer gewährleistet wer-
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Dazu Werner Hahlweg, Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen Johann von Nassau-Siegen (1561 bis 1623). (Historische Kommission für Nassau, Bd. 20.) Wiesbaden 1973. Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. 4 Bde. Berlin 1900– 1920, Bd. 4: Neuzeit, 1920. Photomechan. Ndr. der 1. Aufl. Mit einer Einleitung v. Otto Haintz. Berlin 1962, 178–198; Winfried Schulze, Die Heeresreform der Oranier, in: Zeitschrift für Historische Forschung 1, 1974, 233–239. Sehr anschaulich nach wie vor: Herbert Schwarz, Gefechtsformen der Infanterie in Europa durch 800 Jahre. Bd. 1. München 1977, 151–179. Siehe auch Eberhard Birk, Die oranische Heeresreform und ihre Bedeutung für die neuzeitliche Kriegskunst, in: ders., Militärgeschichtliche Skizzen zur Frühen Neuzeit. Anmerkungen zu einer Phänomenologie der bewaffneten Macht im 17. und 18. Jahrhundert. Hamburg 2005, 79–98. Zuletzt zur Heeresreform der Oranier und deren Wirkung bis ins 18. Jahrhundert: Michael Rohrschneider, Leopold von Anhalt-Dessau, die oranische Heeresreform und die Reorganisation der preußischen Armee unter Friedrich Wilhelm I., in: Peter Baumgart/Bernhard R. Kroener/Heinz Stübing (Hrsg.), Die preußische Armee. Zwischen Ancien Régime und Reichsgründung. Paderborn u. a. 2008, 45–71, bes. 51–55. Dazu Michael Roberts, Die militärische Revolution, in: Ernst Hinrichs (Hrsg.), Absolutismus. Frankfurt a. M. 1986, 273–309, 274–276. Im Original gut zu greifen in: Clifford J. Rogers (Hrsg.), The Military Revolution Debate. Readings on the Military Transformation of Early Modern Europe. Boulder 1995, 13–35; s. a. Eltis, Revolution (wie Anm. 23), 63f. Siehe Birk, Heeresreform (wie Anm. 24), 85. Ebd., 86. Siehe auch Michael Howard, Der Krieg in der europäischen Geschichte. München 1981, 78.
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den. Gegen solchen Salvenbeschuss, so die richtige Annahme, hatte das dicht gedrängte Tercio keine Chance. Diese taktische Neuerung hatte wichtige Konsequenzen. Wenn ein ungefähr 50 Reihen tiefes Pikenier-Karree in eine nur zehn Reihen tiefe Musketierlinie verwandelt wurde, mussten sich weitaus mehr Männer dem direkten Kampf stellen – und dies verlangte vom einzelnen Soldaten mehr Mut und vor allem mehr Disziplin. Wichtig war nun außerdem, dass die taktischen Einheiten die für erfolgreiche Salven notwendigen Abläufe schnell und möglichst synchron durchführten.28 Die Lösung für beide Probleme lautete: Drill. „Die Truppen mußten ausgebildet werden, gemeinsam zu feuern, zurückzumarschieren, zu laden und Manöver auszuführen. Die Grafen von Nassau gliederten ihr Heer deshalb in viele kleinere Formationen auf – Kompanien von 250 Mann mit elf Offizieren wurden auf 120 Mann mit zwölf Offizieren reduziert, Regimenter von 2.000 Mann durch Bataillone von 580 Mann ersetzt – und unterwarfen es einem harten Reglement. Aus dem Tagebuch Anthonis Duycks, der Moritz’ Generalstab angehörte, geht hervor, daß vor 1600 die holländischen Soldaten im Feld praktisch dauernd beim ‚Exerzieren‘ waren: Sie formierten sich und bildeten neue Formationen, sie marschierten und paradierten, so wie es zu Zeiten der Römer die Militärtheoretiker Vegetius und Aelian sowie später dann der politische Philosoph Justus Lipsius in seiner Schrift De militia romana aus dem Jahr 1595 empfohlen haben.“29 Und mitten unter den holländischen Soldaten und an ihrer Seite exerzierten und marschierten, formierten sich und kämpften englische Soldaten und Söldner. Ihre Zahl ging in die Tausende. Die Armee Moritz von Nassaus umfasste nicht nur niederländische, deutsche und französische Regimenter, sondern auch eine ganze Anzahl englische und schottische. Der bekannteste englische Offizier in niederländischen Diensten im ersten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts (1628–1631) war wohl Sir Thomas Fairfax (1612–1671), der Befehlshaber der New Model Army.30 Er, wie auch alle anderen Rückkehrer brachten die Idee der Oranischen Heeresreform und die Innenansicht ihrer Umsetzung mit zurück nach England. Ausbildung und Taktik der New Model infantry entsprachen deshalb weitgehend dem niederländischen Vorbild – um nicht zu sagen: Modell. Dazu beigetragen hat jenseits des Kanals außerdem ein neues Hilfsmittel des modernen militärischen Trainings: das illustrierte Exerzierhandbuch. Graf Johann von Nassau hatte um 1600 damit begonnen, die Bewegungsabläufe zu analysieren, die zur Bedienung der unterschiedlichen Infanteriewaffen – Muskete, Arkebuse, Pike – notwendig waren, jeder einzelnen Bewegung eine Ziffer zugeordnet und skizziert, wie diese Bewegung auszuführen sei. Es gab zunächst 15 Zeichnungen für die Pike, 25 für die Arkebuse und 32 für die Muskete. In den Jahren 1606/1607 wurden diese Richtlinien noch besser ausgearbeitet und verfeinert. Nun gab es 32 Stellungen für die Pike und jeweils 42 für die beiden Feuerwaffen. Eine Folge
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Dazu Helmut Schnitter/Thomas Schmidt, Absolutismus und Heer. Zur Entwicklung des Militärwesens im Spätfeudalismus. (Militärhistorische Studien, Neue Folge, Bd. 25.) Berlin 1987, 74. Geoffrey Parker, Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500– 1800. Frankfurt a. M./New York 1990, 41. Zu Fairfax siehe: John Wilson, Fairfax. A Life of Thomas, Lord Fairfax. London 1985; Conor Kostik, Fairfax, Thomas, in: Bradford (Hrsg.), Encyclopedia (wie Anm. 1), Bd. 1, 443f.
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nummerierter Bilder wurde hergestellt und unter Aufsicht Graf Johanns in Jacob de Gheyns Wapenhandlingen van roers, musquetten ende spiessen (Exerzieren mit Arkebuse, Muskete und Pike) aufgenommen und abgebildet. Das Werk erschien 1607 in Amsterdam und erlebte rasch hintereinander zahlreiche Auflagen in holländischer Sprache.31 Zudem wurde es ins Dänische, Deutsche, Französische und – noch 1607 – auch ins Englische übersetzt. – In England zirkulierten zu dieser Zeit bereits Kopien holländischer Manuskripte mit den wesentlichen Grundzügen von Moritz’ Reform. Gedruckte Versionen davon wurden in den folgenden Jahren von Privatunternehmern herausgebracht, ehe dann 1623 ein offizielles Manual unter dem Titel Instructions for Musters and Armes an the Use Thereof erschien.32 Darin konnte man also spätestens 22 Jahre vor Etablierung der New Model Army lesen, dass regelmäßige Soldzahlungen notwendig waren, um Meutereien und Aufstände der Soldaten zu verhindern, und dass Gelder bereitgestellt werden müssten, um die Truppen mit Kleidung sowie mit Waffen derselben Größe und desselben Kalibers auszustatten, auch wie man die Soldaten zu drillen hatte. Moritz von Nassau hatte all diese Überlegungen und Vorstellungen ab 1590 bei den Generalsstaaten als wesentliche und sichere Basis für eine dauerhafte Feldarmee durchgesetzt. Diese Grundsätze hatten die Zufriedenheit der Truppen und damit ihren Erhalt garantiert. Diese Grundsätze wurden in England vierzig Jahre später für die New Model Army adaptiert. Die Siege der New Model Army auf dem Schlachtfeld erfocht nun aber meist nicht die Infanterie, sondern ganz überwiegend die Kavallerie, die berühmten Ironsides.33 Folgten nun diese von Cromwell befehligten Reiter einem neuen Modell? Auch dies muss man wohl verneinen. Die Idee, der Kavallerie ihre eigentliche Funktion wiederzugeben, ihr das Karakolieren, das Schwenken, zu untersagen, ihr zu befehlen, das Ziel mit dem Säbel anzugreifen und ihr vorzustellen, dass sie nur erfolgreich sein könne, wenn sie sich ganz auf die Wirkung der Wucht von Ross und Reiter konzentrierte, stammte nicht von Oliver Cromwell, sondern von Gustav Adolf von Schweden. Cromwell hatte dessen Taktik auch bereits vor Entstehung der New Model Army angewandt, 1644 bei Marston Moor, als der Angriff seiner schweren Reiter eine für das Parlamentsheer schon fast verlorene Schlacht noch zu dessen Gunsten drehte.34 Unter der Regierung König Gustav Adolfs wurden auch schon Männer aus allen Schichten der Bevölkerung für die schwedische Armee rekrutiert. Auch dieser, bei der New Model Army stets hervorgehobene Gesichtspunkt war also nicht neu und modellhaft. Bei Michael Roberts, der als erster die militärische Entwicklung zwischen 1560 und 1660 als „Militärische Revolution“ beschrieb, kam die New Model Army folgerichtig überhaupt nicht vor.35 Seine Überlegungen knüpfen an die Oranische Heeresreform und die Reformen des Militärwesens durch Gustav Adolf an. In der Tat waren – im Sinn des Themas „Neue Modelle im alten Europa“ – die Reformen der Grafen von Nassau ein neues Modell für das Militärwesen der frühen Neuzeit. Sie waren vorbildlich, an ihnen orientierten sich praktisch
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Siehe Parker, Revolution (wie Anm. 29), 41; Roberts, War Machine (wie Anm. 6), 81f. Ebd., 93. Dazu ebd., 58–66. Siehe Ashley, Civil War (wie Anm. 3), 107–109. Roberts, Die militärische Revolution (wie Anm. 25).
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alle anderen Staaten – und eben auch England bei der Konzipierung und Aufstellung der New Model Army. Diese selbst war nur – und jetzt, zum Schluss, möchte ich noch einmal auf die Kleidung zurückkommen – in einem Punkt ganz offensichtlich modellhaft und beispielgebend: in ihrer Uniformierung, durch die red coats der New Model infantry. In seinen Memoiren notierte James II., damals Herzog von York und in spanischen Diensten, über die Schlacht in den Dünen gegen die Franzosen (das war am 14. Juni 1658), „that he recognized the New Model infantry as they began to deploy ,whom I easily knew by their redcoats‘ “.36 James II. ist die rote Uniformfarbe der New Model infantry aufgefallen, weil die übrigen am Geschehen beteiligten Regimenter beider Seiten sich offenbar nicht farblich voneinander unterscheiden ließen; das Rot der New Model infantry war also ungewöhnlich – jedenfalls zu dieser Zeit auf dem Kontinent. Auf den britischen Inseln dagegen kannte man diese einheitliche Farbgebung innerhalb der New Model Army. Auf dem Kontinent hatte es zwar zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges ebenfalls „farbige“ Regimenter gegeben, doch waren die um die Mitte des 17. Jahrhunderts fast alle aufgelöst worden.37 Einzelne Regimenter nach Farben zu benennen, stellten Richard Brzezinski und Richard Hook in ihrem Buch über die Armee Gustav Adolfs von Schweden fest, war zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges „in protestantischen Staaten eine Modeerscheinung“ geworden. „Um 1620/21 hatte Graf Mansfeld für die deutschen Protestanten rote, blaue, gelbe und grüne Söldnerregimenter aufgestellt, um 1625/26 konnten die Dänen eine ganz ähnliche Farbpalette vorweisen. In Schweden gab es zwischen 1625 und 1627 die ersten Farbnamen für die Regimenter – bezeichnenderweise die gleichen Farben, die Mansfeld für seine Regimenter ausgewählt hatte. Tatsächlich hatten viele Angehörige der Truppen zuvor unter Mansfeld und später unter den Dänen gedient, ehe sie nach Schweden kamen.“38 Die Idee der Farbigkeit war also offensichtlich von Offizieren und Soldaten aufgenommen, als sinnvoll erachtet und weitergegeben worden. Jedoch bezog sich die Benennung eines Regiments nach einer Farbe nicht auf die Färbung der Uniformen, sondern auf die Farbe der Fahnen. Lediglich das dänische Rote und Blaue Regiment trugen, wie man weiß, 1625 „entsprechend rote bzw. hellblaue ‚casaques‘.“39 Mit dem Ausscheiden der Dänen aus dem Krieg verschwanden aber auch diese Regimenter aus dem Bewusstsein. An ihre Stelle traten die schwedischen. In einem Bericht von Sir James Spens, dem englischen Botschafter in Schweden, der gleichzeitig auch schwedischer Botschafter in England war, an Karl I. aus dem Oktober 1627 heißt es: „Für die Kleidung seiner Armee hat er [Gustav Adolf] groben Stoff in seinem Land herstellen lassen; ... damit kleidet er seine gewöhnlichen Soldaten ein, wobei er sie veranlasst, sie rot, gelb, grün und blau zu färben, was auf dem Schlachtfeld für ein großes Spektakel sorgt. Vor der Zeit dieses Königs hatte es so etwas noch nie gegeben.“40 Das traf, wie am Beispiel Dänemark gesehen, nicht die
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Zitat in: Roberts, War Machine (wie Anm. 6), 50. Vgl. Richard Brzezinski/Richard Hook, Die Armee Gustav Adolfs. Infanterie und Kavallerie. Königswinter 2006, 17. Ebd., 15. Ebd., 36. Zitat bei: ebd., 37.
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Wahrheit, sorgte aber dafür, dass Gustav Adolf in späterer Zeit für den „Erfinder“ der Uniform gehalten wurde. Doch haben sich bislang „keine Vorschriften finden lassen, dass in den schwedischen farbigen Regimentern Uniformen in der namensgebenden Farbe getragen werden mussten.“41 Von den vier Regimentern wurden das Rote und Grüne 1635 aufgelöst, das Gelbe im selben Jahr an Frankreich abgegeben, das Blaue 1650 abgedankt, so dass die kurze „farbige“ Tradition damit abbrach. Da viele Engländer, Schotten, Iren während des Dreißigjährigen Krieges als Söldner in den Heeren der Dänen, Schweden, Franzosen, Kaiserlichen gedient hatten, kann man davon ausgehen, dass die Idee der farblichen Unterscheidung mit ihnen zurück vom Kontinent auf die Insel kam, d. h. ebenfalls keine ursprüngliche englische war. Doch die Durchgängigkeit und Dauerhaftigkeit, mit der die Infanterie der New Model Army rot gekleidet wurde, war ein Novum. Dies hatte es zuvor nicht gegeben, dies fiel auf – und regte offenbar seinerseits zur Nachahmung an. Die einheitliche Farbgebung der englischen Uniformen dürfte damals nicht nur James II. sondern auch Ludwig XIV. aufgefallen sein.42 Diese einheitliche Farbigkeit muss auch beeindruckt haben. Denn Ludwig begann nun nach und nach seine Garden ebenfalls in einheitliche Uniformen zu kleiden. Und diesem Beispiel folgten im alten Europa bald immer mehr Herrscher – bis das Prinzip am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts dann allgemein wurde.43 Für die Farbigkeit der Heere im Ancien Régime, für die Adoption von „Nationalfarben“, hat, so sieht es aus, die New Model Army mehr als jede andere militärische Einheit zuvor Modell gestanden.
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Ebd., 36. Eventuell fiel die Farbigkeit auch weit über Zentraleuropa hinaus auf, denn ein Veteranen-Regiment der New Model Army wurde von Karl II. 1663 nach Portugal geschickt, siehe Jeremy Black, A Military Revolution? Military Change an European Society 1559–1800. Houndmills/Basingstoke 1991, 14. Dazu Jürgen Luh, Kriegskunst in Europa 1650–1800. Köln/Weimar/Wien 2004, 178–194; Gerhard Förster/Peter Hoch/Reinhold Müller, Uniformen europäischer Armeen. Berlin 1978, 10 (für die New Model Army) und 12.
Louis XIV und die Erfindung des Boulevards Katharina Krause
1676 erscheint in Paris ein neuer Stadtplan (Abb. 1).1 Hierin gibt sich die französische Kapitale auf den ersten Blick als eine klar polygonal geformte Figur zu erkennen. Sie erstreckt sich zu gleichen Teilen beiderseits des Flusses, der das Blatt mittig von oben nach unten teilt. Eingepasst in einen Rahmen aus Lorbeer- und Eichenlaub fingiert der Plan ein Bild, das an die Wand gehört. In dieser Präsentationsform und in der Ausrichtung schließt er an eine ältere kartographische Tradition zu Paris an. Gerade deswegen stechen im Vergleich die Neuerungen ins Auge: Mit zuvor nicht erreichter Genauigkeit zeigt der Plan in orthogonaler Projektion maßstabsgetreu die Gestalt der Stadt und verspricht damit die Übereinstimmung von Darstellung und Wirklichkeit. Die Stadt hat neue Grenzen bekommen, und in der gleichmäßigen Streuung prominenter Gebäude, die dreidimensional in das Straßennetz hineingestellt sind, deutet sich Wohlfahrt der ganzen Stadt als Einheit an. Diese Hauptbotschaft wird in den vier Kartuschen sehr prägnant ausgedrückt. Auf Befehl des Königs und im Auftrag der Stadtregierung hätten die königlichen Architekten und Ingenieure Pierre Bullet und François Blondel gemeinsam die nötigen Vermessungen durchgeführt. Der Plan zeige – so die Inschrift – den gegenwärtigen Zustand der Stadt und die Werke an, die auf Befehl des Königs begonnen und für die öffentliche commodité weitergeführt werden können. Zwei Themen, die der Plan selbst enthält, werden durch die Kartuschen machtvoll akzentuiert: die Befestigung und die Wasserversorgung der Stadt. Die polygonale Grundfigur lässt eine moderne Fortifikation erahnen. Bei näherem Hinsehen werden aber anstelle der Bastionen und der Wälle Alleen ablesbar, die die Stadt auf dem rechten Ufer der Seine umziehen, aber noch nicht vollständig gepflanzt sind. Vier Triumphbögen mit großen Durchfahrten werden durch die Beschriftung als Stadttore ausgewiesen, deren fortifikatorischer Nutzen jedoch ablesbar gering ist. Die 1671 geprägte Medaille, die Ludwig XIV. erstmals den Beinamen „Magnus“ verleiht, feiert die Felicitas Publica. Dazu sind nicht allein der Verzicht auf die Stadtbefestigung nötig, der triumphalen Frieden verheißt, sondern auch die Herrschaft über ein Territorium und eine ausreichende Wasserversorgung. Auf den unteren Kartuschen erscheinen daher Karten: Seine und Marne bilden die wesentlichen Koordinaten der Ile-de-France. Der Plan der Wasserleitungen und Brunnen, die das Stadtgebiet durchziehen, wird durch eine Seinebrücke ergänzt, die als Sockel für Flussgottheiten dient und das Panorama der Stadt am Fluss rahmt. Wenn zu einem neuen Modell gehört, dass dieses gesetzt und propagiert, vielleicht sogar als Modell erkannt und nachgeahmt wird, stellen sich am Beispiel der Boulevards und der Stadttore von Paris mehrere Fragen: Was umfasste dieses Modell, bezogen auf die militärischen, ökonomischen und sozialen Funktionen einer Stadt? Wurde dieses Modell ganz oder in Teilen propagiert, was die Frage nach den Akteuren und den Medien einschließt? Wer waren die Adressaten? Worin bestand deren Reaktion?
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Zu den Pariser Stadtplänen vgl. Pierre Pinon, Les plans de Paris. Histoire d’une capitale. Paris 2004.
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Abb. 1 Pierre Bullet, Plan de Paris levé par les Ordres du Roi […], 1676, Stich
Aus den Inschriften und den Bildprogrammen der Triumphbögen sowie den staatsnahen Schriften lassen sich die wesentlichen Teile des Modells und die Intentionen der Akteure erschließen. Der Traité de la Police von Nicolas Delamare fasst es rückblickend zusammen: „Jusqu’icy nous avons vû tous les Souverains qui ont été maîtres de la Ville de Paris, appliqués à la fortifier, pour la mettre en état de défense contre leurs ennemis.“ Die Reihe der Herrscher beginnt mit Caesar, und sie endet mit Ludwig XIII.: „Toutes les choses ont changé sous le Regne de Louis le Grand. La force et la justice de ses armes ont réüni à la Couronne la plus grande partie des Provinces qui en avoient été separées sous les Regnes précedens; et sa profonde sagesse s’en est affermi la possession par les titres les plus justes, par les traitez les plus solemnels. Ainsi les anciennes bornes de la France rétablies de tous côtez; la Capitale, qui était presque frontiere, se trouve aujourd’huy au centre du Royaume. … C’est pourquoy nous ne verrons plus dans ce qui nous reste à parcourir, que des fossez comblez, des Portes
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abbatuës, des Arcs de triomphe élevez aux places qu’elles occupoient, des ruës élargies, de nouvelles ruës bâties sur les ruines des anciennes fortifications, ou sur celles des Hôtels, qui par leur antique structure défiguroient la Ville; des Places publiques ouvertes, des buttes applanies, des quays revêtus; c’est qui restoit des places vuides baties, et peuplées; de nouveaux pont construits. Après cela si l’on a entrepris une nouvelles enceinte de Paris, au lieu de Murs, de courtines, et des bastions, qui marquoient autrefois la crainte des Citoyens; c’est un Cours planté d’Arbres pour leurs délices, et qui fait également connoitre la magnificence de leur Ville, et la securité presente.“2
Die Aufgabe der Befestigung, der Ersatz der befestigten Tore durch Triumphbögen und die Anlage von Promenaden erscheinen somit als Teil umfassender politischer und urbanistischer Maßnahmen. Während alle anderen Vorhaben wie die Erschließung neuer Quartiere und die Verbreiterung von Straßen von der außenpolitischen Sicherheitslage weitgehend unabhängig waren, konnten die Festungswerke erst aufgrund der militärischen, durch nachfolgende Verträge gesicherten Erfolge Ludwigs XIV. niedergelegt werden. Während alle anderen Maßnahmen einen ökonomischen Nutzen haben sollten, wird der cours an der Stelle der ehemaligen Wälle ohne jede Nutzanwendung, allein für das Vergnügen der Bevölkerung errichtet. Inschriften und Bildprogramme betteten dieses Vergnügen in eine Gesamtschau der Leistungen des Königs und somit in eine im Stadtbild wahrnehmbare Geschichte seiner Regierung ein.3 Aus diesem Gesamtprogramm seien nur zwei Tore genauer betrachtet: Die Porte Saint-Antoine (Abb. 2) war im 16. Jahrhundert vor das eigentliche mittelalterliche Tor im Westen der Stadt an Bastille vorgebaut und dann mehrfach umgebaut worden, so dass sich am Ende des 17. Jahrhunderts die verschiedenen historischen Schichten ablesen ließen. Zum ältesten Schmuck noch aus dem 16. Jahrhundert gehörten die Flussgottheiten Seine und Marne. 1660 war der feierliche Einzug des Königspaars in die Stadt erfolgt. Mit der im Pyrenäenfrieden von 1659 ausgehandelten Hochzeit zwischen der spanischen Königstochter und dem französischen König wurde – so die Darstellung in Frankreich – das Ende eines langen Krieges dauerhaft besiegelt. Die Porte Saint-Antoine wurde daher zur Entrée des Königspaares 1660 neu dekoriert und zeigte auf ihrer Feldseite nun in den Nischen eine Allegorie der spes gallica und Abb. 2 Porte Saint-Antoine, 1698, Kupferstich aus: der securitas publica, die eine Büste des Königs einrahmten.4 Überragt von der Figur François Blondel, Cours d’Architecture, Bd. 1, 1698
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4
Nicolas Delamare, Traité de la Police. Bd. 1. 2. Aufl. Paris 1722, 106. Zur Geschichte der Triumphbögen vgl. Wolfgang E. Stopfel, Triumphbögen in der Architektur des Barock in Frankreich und Deutschland. Diss. Freiburg 1964, 14–74. Karl Möseneder, Zeremoniell und monumentale Poesie. Die „Entrée solennelle“ Ludwigs XIV. 1660 in Paris. Berlin 1983, 86–89, Anhang, 6–7, mit Abb. 25–26.
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des Hymen reichten sich die auf dem Giebel lagernden Allegorien Frankreichs und Spaniens zum Zeichen des Bundes die Hand. Die Inschrift nannte alle handelnden Personen: PACI VICTRICIBUS LUDOVICI XIV ARMIS FELICIBUS ANNAE CONSILIIS, AUGUSTIS M. THERESIAE NUPTIIS, ASSIDUIS JULII CARDINALIS MAZARINI CURIS PARTAE FUNDATAE AETERNUM FIRMATAE, PRAEFECTUS URBIS, AEDILESQUE SACRAVERE, ANNO M.D.C.LX.5
Im Zusammenhang mit der Neuordnung der Umwallung erhielt dann François Blondel um 1670 den Auftrag, das Tor um zwei zusätzliche Durchfahrten zu erweitern. Zu diesem Zeitpunkt war der Devolutionskrieg um das niederländische Erbe der König geführt und mit dem Frieden von Aachen zum Vorteil Frankreichs beendet. Reliefs über den Durchfahrten kündeten von diesen Taten des Königs. Nachlesen konnte dies der Passant in neuen Inschriften auf der Attika: LUDOVICO MAGNO PRAEFECTUS ET AEDILES ANNO R[eparatae]. S[alutis].H[umanae]. MDC.LXXII. QUOD URBEM AUXIT, ORNAVIT, LOCUPLETAVIT P[osuere]. C[onsules].6
Stadtseitig war der Schmuck sparsamer gehalten. Hier ließ Blondel über den seitlichen Öffnungen ein Abbild der von dem Stadtregiment geprägten Medaille anbringen. Das Bildnis Ludwigs des Großen und die Felicitas Publica kündeten den Bürgern und Fremden beim Verlassen der Stadt von deren Wohlstand und dem Widmungsträger dieser Triumphpforte. Mit dem Bau der Porte Saint-Denis wurde 1671 begonnen (Abb. 3).7 Das Tor galt schon den Zeitgenossen als ein Meisterwerk, mit dem François Blondel als Architekt die Bauaufgabe im Idiom der Antike mustergültig ausgedrückt habe. Durch hohe Mauern blieb das Tor an den Stützmauern des Cours angebunden, es stand also nicht vollständig frei. Der eine hohe Bogen ist in das Mauermassiv des Tores eingestellt, auf das Obelisken als Siegeszeichen aufgelegt sind. Auf dem Gebälk ist monumental und lapidar der Widmungsträger des Triumphs angegeben. Während Stadt und Feldseite sich hierin nicht unterscheiden, wird in den Reliefs über dem Bogen und auf den Pyramiden differenziert. Es ist bemerkenswert, dass die Stadtseite den höheren Aufwand, aber auch die größere Martialität zeigt. Hier werden die kriegerischen Grundlagen für die Befriedung und friedliche Öffnung der Stadt präsentiert: Über dem Bogen ist der Passage du Rhin, der vielfach verherrlichte Übergang der französischen Armee über den Rhein im Juni 1672, dargestellt. Das Resultat des Feldzugs ist in der verzweifelt und erniedrigt zu Füßen der linken Trophäe hockenden Gestalt der Niederlande zu erkennen, der auf der rechten Seite ein gelassen agierender, gleichwohl dem König unterworfener Flussgott, der Rhein, antwortet. Das Tor vermittelte eine unmissverständliche Botschaft über die Herrschaftsverhältnisse an die Bürger und Gäste der Stadt, und diese Botschaft wird in den zeitgenössischen Darstellungen noch verstärkt: als Monument für den Sieg des Königs über eine fremde Macht, aber auch als Herrschaftsgeste gegenüber der Stadt Paris, die in einem zeremoniell geregelten 5
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Pierre-Thomas-Nicolas Hurtaut, Dictionnaire historique de la ville de Paris et ses environs. Paris 1779, Bd. 2, 117. François Blondel, Cours d’architecture. Paris 1698, 607. Vgl. Stopfel, Triumphbögen (wie Anm. 3), 69.
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Verfahren die Erlaubnis erhielt, den Bogen zu errichten. Als Einzelmonument, in der Größe gegenüber der umgebenden Bebauung gewaltig übersteigert und weitgehend unabhängig von der Umwallung plaziert, ist es Denkmal für einen Triumph, der immer ein militärisch errungener Triumph ist. Die Leistungen des Königs als siegreicher Oberbefehlshaber im Devolutionskrieg und im Holländischen Krieg wurden also anhand der Pariser Tore zwischen 1670 und 1674 Schritt für Schritt nachvollzogen und abgebildet. Möglich war dies nur aufgrund des Beschlusses, die Festungsanlagen zwischen der Porte Saint-Antoine und der Porte SaintMartin zu entmilitarisieren und sie mittels einer Baumpflanzung am Platz der Wälle und Gräben zu erneuern. GeAbb. 3 Frontispiz aus: François Blondel, Cours d’Architecture, plant und Etappe für Etappe Bd. 1, 1698 ausgeführt wurde eine doppelreihige Ulmenallee, wobei in der Mitte eine Fahrbahn sowie schmalere begleitende Wege angelegt wurden (Abb. 4). Die Allee – in der Terminologie der Zeit ein cours – blieb zum Teil gegenüber dem Terrain der Stadt und der Faubourgs erhöht, die Herkunft aus der Umwallung war also deutlich wahrnehmbar. Eine Verbindung mit dem Straßennetz der Stadt oder des Umlandes wurde nicht angestrebt. An den Beschluss zum Ersatz der Befestigung durch die Allee und an seine Legitimation erinnerten Inschriften, die an der Kutschenzufahrt an der Porte Saint-Antoine angebracht wurden. Stadtseitig war zu lesen: LUDOVICUS MAGNUS ET VINDICATAS CONJUGIS AUGUSTAE DOTALES URBES VALIDA MUNITIONE CINXIT, ET HOC VALLUM CIVIUM DELICIIS DESTINARI JUSSIT. ANN[o]. R[eparatae]. S[alutis]. H[umanae]. M. DCLXXI.
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Abb. 4 Claude Lucas, Plan de Paris, sogenannter Plan de Turgot, 1734–1739, Stich nach Zeichnungen von Louis Bretez
Auf der Feldseite wurde die Begründung für die Ausdehnung des Stadtgebiets gegeben: LUDOVICUS MAGNUS PROMOTIS IMPERII FINIBUS ULTRA RHENUM, ALPES ET PYRENAEOS, POMOERIUM HOC, MORE PRISCO PROPAGAVIT. ANN[o]. R[eparatae]. S[alutis]. H[umanae]. M. DCLXXI.8
Es ist hier sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass erst die Verschiebung der Grenzen Frankreichs, und zwar in allen Richtungen, für Sicherheit sorgt und es erlaubt, die Befestigung der Hauptstadt nunmehr „dem Vergnügen der Bürger“ widmen zu lassen. Der Kontrast von im 8
Blondel, Cours (wie Anm. 6) 602; Hurtaut/Magny, Dictionnaire (wie Anm. 5), Bd. 2. 602.
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Krieg und durch Stärke errungener Sicherheit war an der Porte Saint-Antoine im Bildprogramm und darüber hinaus unmittelbar, in der Evidenz der Bastille und in der Erinnerung an die letzte innere Gefährdung des Reichs durch die Gefechte während der Fronde 1652, präsent. In den folgenden Jahren wurden große Anstrengungen unternommen, die Umrundung der Stadt durch von neuen Toren unterbrochene Alleen zu vollenden. Noch weit bis in das 18. Jahrhundert hinein blieb die Trassierung der Ringallee ein Problem. Für alle urbanistischen Maßnahmen im Paris des Ancien Régime war charakteristisch, dass durch die lange Dauer der Realisierung immer wieder neue Einzelentwicklungen – wie z. B. der Invalidendom und später die Ecole militaire – als Störung in die einmal gefassten Pläne eingebunden werden mussten. Man kann also von einem Schritt für Schritt entwickelten Gesamtkonzept ausgehen, das vermutlich von Anfang an als Idealbild die gesamte Stadt in den Blick nahm. Es galt, die Grenzen von Paris, als rechtliche, militärische und kulturelle Grenzen, neu zu definieren.9 Zugleich war man sich darüber im Klaren, dass im Unterschied zu den übrigen Städten Frankreichs Paris aufgrund seiner Größe, aber auch aufgrund seiner traditionellen Teilung in die „Ville“ auf dem rechten Ufer, die „Cité“ auf der Insel und die „Université“ auf dem linken Ufer und den damit verbundenen Partikularrechten nicht leicht als Ganzes zu behandeln war. Die schöne regelmäßige Form eines Polygons hat Paris nie gewonnen, und die Eindämmung des Wachstums gelang nie. Die Avenue von Westen wurde zwar von Vincennes bis an die Place du Throne geführt, der weitere Durchbruch durch den Faubourg Saint-Antoine war indessen nicht möglich. An der Place du Throne, deren Name an den Festakt zur Entrée des Königspaares von 1660 erinnerte, gelang es nicht, den gewaltigen Triumphbogen zu errichten, der hier ab 1669 geplant war.10 Die Zollgrenzen mussten in die Faubourgs verlegt werden, so dass die eigentliche Eingangssituation wenig repräsentativ blieb. Von Norden her lag die Barriere am großen Abwasserkanal und war in die engen Straßen der Faubourgs eingezwängt. Unter den urbanistischen Maßnahmen in Paris hatten die Aufgabe der Befestigung und ihr Ersatz durch eine Ulmenallee dennoch einen hohen Rang. Er lässt sich an der Vielzahl von Äußerungen im Schrifttum der Zeit ablesen: Die offene Stadt, die unbefestigte Kapitale, war ein starkes Zeichen für die Sicherheit des Landes, das aufgrund der administrativen, militärischen und diplomatischen Erfolge äußeren und inneren Frieden genoss. In der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen und in der Steuerung der Wahrnehmung durch das Schrifttum hatten die Triumphbogentore allerdings ein weitaus größeres Gewicht als die Allee selbst. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen standen die Tore als Monument auch in 9
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Vgl. Philipp Heraut/Jeanne Huguenay/Pierre Lavedan, L’urbanisme à l’époque moderne, XVIIe– XVIIIe siècles. Genf/Paris 1982, 140–142; Béatrice de Andia (Hrsg.), Les enceintes de Paris. Ausstellungskatalog. Paris 2001. Mit den Beiträgen von Alexandre Gady, Claude Mignot und Yoann Brault; Yoann Brault, Ville déclose, ville ouverte?, in: Alexandre Gady/Jean-Marie Pérouse de Montclos (Hrsg.), De l’esprit des villes. Nancy et l’Europe urbaine au siècle des Lumières, 1720–1770. Ausstellungskatalog. Versailles 2005, 142–151; Yoann Brault, Fortifications, esplanades et champs de Mars. Nature citadine et principes de contiguïté entre civils et militaires, in: Sandra Pascalis/Daniel Rabreau (Hrsg.), La nature citadine au siècle des lumières. Promenades urbaines et villégiature. Bordeaux 2005, 203–213. Michael Petzet, Claude Perrault und die Architektur des Sonnenkönigs. München/Berlin 2000, 399–442.
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der Hierarchie der Bauaufgaben in höherem Rang als die der Gartenkunst zuzuordnende Allee. Zum anderen gab es einen Widerspruch zwischen damals aktuellen verkehrstechnischen Erfordernissen der Stadt und der Anlage der Alleen als cours für die Spazierfahrt: Das Straßennetz der Stadt war weiter von den radial auf das Zentrum zulaufenden Hauptstraßen dominiert, eine Umfahrung der Stadt war nicht möglich. Die Akzeptanz der Allee als cours aber ließ auf sich warten – dies erklärt die geringe Präsenz der Allee in den Guiden und Reiseberichten der Stadt bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Geplant und gebaut wurde also am lokalen Pariser Bedarf vorbei – was die Nachahmung des Modells in anderen Städten nicht zwangsläufig hätte einschränken müssen. Die Inschriften und Skulpturenprogramme verdeutlichen zugleich, dass die urbanistischen Maßnahmen weit über die Kapitale hinaus in ein Gesamtmodell von Sicherheit und Frieden für Frankreich eingebunden wurden. Ein sehr prominenter, wesentlich und kausal verknüpfter Bestandteil war der von Vauban konzipierte sogenannte Pré Carré. Es handelt sich um die doppelte Reihe von befestigten Städten und festen Plätzen, die die Grenze zu den Niederlanden sicherte. Hiermit entwickelten sich, wie jüngst von der französischen Forschung betont wurde, funktional unterschiedliche Stadttypen, die im Ganzen des Staates Aufgaben wahrnahmen.11 Die Grenzstädte als Städte, die sehr wesentlich auch durch ihre militärischen Funktionen geprägt wurden, konnten von den Städten im Inneren des Landes unterschieden werden. Beispielhaft kann Lille für das Modell von befestigter Grenzstadt stehen.12 Lille war 1667 nach vierwöchiger Belagerung von den Franzosen eingenommen worden, im Frieden von Aachen wurde die Stadt Frankreich zugeschlagen. Unmittelbar danach begann Vauban damit, die Stadt nach außen wie nach innen zu sichern: Der Bau der Zitadelle und die bastionäre Befestigung wurden angelegt. Die Porte de Paris, durch die Louis XIV am 18. August 1667 in die eroberte Stadt eingezogen war, wurde 1677 als Triumphtor ausgebaut.13 Hier wurde der Sieg über die Stadt, die von der Zitadelle kontrolliert wurde, ebenso gefeiert wie der Sieg über den habsburgischen Nachbarn. Mit der neuen Befestigung einher ging auch eine sehr wesentliche Veränderung in der inneren militärischen Verfassung der Stadt: Die Bürgergarden wurden verboten, an ihrer Stelle sorgte die Garnison für die polizeiliche Sicherheit in der Stadt. Nicht mehr die Bürgergarde, sondern die Garnison exerzierte nun täglich auf der alten zentralen Place d’Armes, obwohl die neue Esplanade an der Zitadelle ausreichend Platz geboten hätte. Lille war eine der befestigten Städte, deren Wälle mit einer doppelreihigen Ulmenallee bepflanzt wurden.14 Diese Alleepflanzung wurde allein militärisch legitimiert: Die schnell wachsenden Ulmen bewurzelten und befestigten den Wall, sie konnten im Belagerungsfall die Versorgung der Verteidiger mit Holz sichern, und ihr Laubwerk machte es dem Feind
11
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Brault, Ville déclose (wie Anm. 9); Victoria Sanger, Vauban urbaniste, in: Isabelle Warmoes (Hrsg.), Vauban, bâtisseur du Roi-Soleil. Ausstellungskatalog. Paris 2007, 214–223. Josette Grandazzi (Hrsg.), Lille au XVIIe siécle. Ausstellungskatalog. Paris 2000; Catherine Denys, La Grand-place. Un enjeu essentiel pour la police urbaine dans les villes des Pays-Bas et de la France du Nord au XVIIIe siècle, in: Laurence Baudoux-Rousseau/ Philippe Bragard/Youri Carbonnier (Hrsg.), La place publique urbaine. Du Moyen Age à nos jours. Arras 2007, 115–121. Stopfel, Triumphbögen (wie Anm. 3), 69–71. Vgl. Sanger, Vauban (wie Anm. 11).
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schwer, die Ziele in der Stadt, die über den Wall ragenden Gebäude genauso wie die auf dem Wall platzierten Kanonen auszumachen.15 Der ästhetische Wert der Baumpflanzung auf den Wällen wird von den Militärbaukunst indessen ebenfalls herausgestrichen: Die Stadtgrenze wurde mit den mit Rasen oder Gebüsch bepflanzten Wällen, die von einer Allee bekrönt wurde, markiert. Wie die Avenuen und Landstraßen, die als Alleen das Territorium durchzogen und von der raumordnenden Herrschaft der Zentralgewalt kündeten, war die Natur an der Grenze von Stadt und Land der ordnenden Hand der Militäringenieure dienstbar und somit ein klares Herrschaftszeichen. Lille, dem im 16. Jahrhundert Lucca oder Antwerpen vorausgingen, war typisch für die befestigten Städte Frankreichs. Dieses Bild der von Bäumen bekrönten Wälle wurde nach Paris übertragen – der Wall indessen dort einer friedlichen Nutzung zugeführt, der Spazierfahrt. Mit der Frage, wie die Spazierfahrt im Paris des 17. und des 18. Jahrhunderts ablief und wer an ihr teilnahm, nähern wir uns dem Problem, warum das Modell der offenen Stadt mit dem erhöhten Grüngürtel um 1700 weder in Bildern noch Texten jene Aufmerksamkeit fand, die ihm nach dem von den Inschriften und offiziellen Verlautbarungen zugemessenen Rang innerhalb der Felicitas Publica hätte zukommen sollen. Das Paris des frühen 17. Jahrhunderts erscheint in den Plänen als ein Konglomerat von Häusern, aus denen die Kirchen und die festen Schlösser herausstechen. In der Stadt ist der Platz knapp, daher haben sich die Paläste mit den großen Gartenanlagen außerhalb der Befestigungsanlagen in den Faubourgs angesiedelt. Außerhalb der Stadt, doch schon so abseits gelegen, dass er von den Plänen nicht mehr mit erfasst wird, liegt der Cours-la-Reine.16 1616 von Maria Medici errichtet, diente die doppelreihige Ulmenallee entlang der Seine der Ausfahrt des Hofes. Es handelte sich um eine Sandbahn, die von Toren bewacht war und nach etwa der Hälfte der Strecke ein Rondell aufwies, das als Wendepunkt dienen konnte. Während in der mittleren Bahn vier Kutschen nebeneinander fahren konnten, war die Breite der seitlichen Wege für jeweils zwei Kuschen bemessen. Die Angaben über die Zahl der gleichzeitig anwesenden Wagen schwanken, einmütig ist jedoch von großer Frequentierung, ja von Überfüllung und der dadurch erzeugten Ambivalenz der Attraktivität zu lesen. Die Ausfahrt erfolgte abends, vom Frühjahr bis zum Herbst, und es gab feste Regeln dafür, wer Vorrang besaß und wie man sich gegenseitig zu grüßen hatte. Aus der Sicht eines englischen Besuchers von 1698 war der Cours-la-Reine daher dem Hyde Park unterlegen: „Sous un rapport, ce cours est fort inférieur que nous avons à Hyde-Park; s’il est plein, vous ne réussissez pas deux fois dans une heure à voir la compagnie que vous cherchez, car vous êtes obligé de vous tenir à la file; & souvent les princes du sang, qui y viennent & passent où il leur plaît, arrêtent
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Vgl. z. B. Jacques Ozanam, Traité de fortification. Paris 1694, 78–79. Vgl. auch die Wiedergabe der Bepflanzung in den Modellen der befestigten Städte und Plätze, z. B. in: Nicolas Faucherre/Guillaume Monsaingeon/Antoine de Roux, Les plans en relief des places du Roy. Paris 2007. Henri Sauval, Histoire et recherches des antiquités de la ville de Paris. Paris 1724, Bd. 2, 287, 71; Heraut u. a., Urbanisme (wie Anm. 9), 173–176; Daniel Rabreau, La promenade urbaine en France aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Monique Mosser/Georges Teyssot (Hrsg.), Histoire des jardins de la renaissance à nos jours. Paris 1991, 301–312; Sandra Pascalis, La Promenade, nouvelle place plantée de la ville française des XVIIe et XVIIIe siècles, in: Baudoux-Rousseau, Place (wie Anm. 12), 193–202.
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tout & causent d’étranges embarras. En outre, s’il a plu, il n’est pas possible d’y aller, tant il est boueux & mal sablé.“17 Der Cours und was auf ihm passierte war also ein Abbild der sozialen Hierarchie und Teil der höfischen Existenz. Er fügte sich in ein System von Pariser Freizeitvergnügen im öffentlichen Raum ein, die jeweils zu unterschiedlichen Jahreszeiten und Anlässen aufgesucht wurden.18 Auf dem Höhepunkt des Karneval, also vor der Öffnung des Cours, wurde die Avenue de Vincennes benutzt, so wie der Corso in Rom. Das Karnevalsvergnügen war weniger exklusiv und geregelt als der Cours-la-Reine. Fahren und Reiten erfolgte dort von Frühjahr bis Herbst. In den Tuileriengärten ging man zu Fuß spazieren. Wie auf den ‚gefahrenen‘ Promenaden war die hohe Frequentierung durch die Aristokraten ein wesentlicher Anziehungspunkt. Zu den frühen Anlagen für die Freizeit gehörten auch die Mail-Bahnen, von denen diejenige am Arsenal, am Seineufer, zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt zählte und ebenfalls von einer hochgestellten Klientel besucht wurde. Ungezwungener schließlich ging es zu auf den Champs-Elysees, die ab 1667 als Allee gepflanzt wurden,19 im Bois de Vincennes und im Bois de Boulogne. Wesentlich für den Cours war also die Trennung vom urbanen Straßensystem. Diese Trennung war die Voraussetzung für die Promenade in langsam fahrenden Kutschen als exklusives, starken sozialen Konventionen unterworfenes Vergnügen. Für die Teilnehmer an der Promenade war diese Exklusivität entscheidend; aktive Teilnahme an der Promenade hieß, der guten Gesellschaft anzugehören. Welche sozialen und kulturellen Veränderungen die Gründe dafür darstellten, dass sich die Promenade als Freizeitverhalten gegen 1740 weiter verbreitete, kann hier nicht diskutiert werden. Es kann auch sein, dass das Gedränge auf den etablierten Promenaden zum Ausweichen an andere Orte führte. Heißt es im Parisführer von Germain Brice 1686 noch, in einigen Jahren werde die Allee auf den Wällen „einen besonders angenehmen Ort mit guter Luft bilden“,20 ist dieser Zustand um 1740 erreicht. Eine Generation später ist diese neue Promenade also nicht nur etabliert, sondern eröffnet auch ein Programm für ein neues städtisches Publikum. Der Reiz liegt hier nicht mehr in der Exklusivität der Akteure, die einem nicht aktiv teilnehmenden Publikum ein interessantes Schauspiel bieten, sondern in der Durchmischung sozialer Gruppen, den Angeboten an Unterhaltung und Gastronomie, die über die eigentliche Spazierfahrt hinausgehen. Auch hier gab es eine feste Zeit, zu der man sich auf dem Boulevard zeigte, den Donnerstag. Eine Opera Comique von 1753 verdichtet die wesentlichen Attraktionen in einer Regieanweisung für die erste Szene und das Bühnenbild: Läden eines Limonadeverkäufers und eines Patissiers, ein Seiltänzer, ein Marionettentheater 17
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Martin Lister, Voyage de [Martin] Lister à Paris en MDCXCVIII. Erstübersetzung ins Französische von E[rnest] de Sermizelles. Paris 1873, 163. Rabreau, Promenade (wie Anm. 16); Alain Montandon, Une pratique sociale/Lieu de mémoire. La promenade, in: Francia 25/2, 1998, 49–67; Olivier Dautresmes, La promenade, un loisir urbain universel? L’exemple du Palais-Royal à Paris à la fin du XVIIe siècle, in: Histoire urbaine 2001, 83–102. Laurent Turcot, Les Champs-Élysées. D’une allée plantée excentrée à une plantation urbaine, in: Sandra Pascalis/Daniel Rabreau (Hrsg.), La Nature citadine au siècle des Lumières. Promenades urbaines et villéggiature. Paris 2005, 51–60. Germain Brice, Description de la ville de Paris. Paris 1684; hier nach der Londoner Ausgabe von 1686, 77: „which in some years will make a most pleasing place where to take the Air.“
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und eine Schau mit Affen, Freudenmädchen und der gegen den Staub eingesetzte Wasserwagen.21 Von nun an wird die alte militärische Bezeichnung Boulevard zum Begriff für einen mondänen großstädtischen Vergnügungsort. Er bleibt dabei weiterhin aus dem regulären Verkehrssystem ausgeschlossen. Die Integration erfolgt erst schrittweise, nachdem die Straße ab 1772 gepflastert wird und Fußgängerwege abgegrenzt werden.22 Erst die Ausbreitung und Veränderung des städtischen Freizeitvergnügens Promenade in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts führt zur Annahme des Angebots, das mit der Umwandlung der Boulevards in einen Cours eröffnet worden war. Es steht zu vermuten, dass die Geste des Königs, die Stadt Paris zu öffnen, sich nicht an das „Volk“, sondern die Oberschicht der Pariser Bürgerschaft, die „Ville“, richtete: Für eine Nutzung als Promenade bestand aber um 1670 kein Bedarf, da hierfür der Cours-la-Reine etabliert war und aufgrund der besonderen sozialen Funktion der Promenade Fülle und Überfüllung an Besuchern konstitutiv war. Nur im Paris Ludwigs XIV. und einigen anderen französischen Städten wurde ein ansonsten in Europa verbreitetes politisches Thema – das der inneren und äußeren Befriedung des Landes – in Verbindung mit dem Wachstum der Städte urbanistisch und ästhetisch bearbeitet. Das Modell der inmitten eines befriedeten Landes mit festen Städten sicher und unbefestigt liegende Kapitale war aber auch in Frankreich nicht unumstritten. Den Militäringenieuren z. B. war die Öffnung der Hauptstadt suspekt. Ein Memorandum Vaubans sieht nicht nur die Reparatur und Modernisierung der inneren Befestigung von Paris vor, sondern auch den Bau zweier Zitadellen und eines zweiten Festungsgürtels, der die Anhöhen von Paris einschließt.23 Das wurde nicht realisiert, zeichenhaft blieb allerdings auch Paris eine befestigte Stadt. Dazu trug nicht nur das Erscheinungsbild des Boulevards bei, wobei die Triumphbogentore den deutlichsten Akzent setzten. Das galt auch für die üblichen Medien, für die Gazetten, Reiseführer und Reiseberichte, die die vollkommene Befriedung und die in der Außenpolitik errungene Sicherheitsgarantie für die Hauptstadt einem breiten Publikum demonstrierten. Die Hauptstädte anderer Staaten schlossen aus unterschiedlichen Gründen an Paris nicht an: London war bereits vor dem großen Brand von 1666 weit über die Mauern gewachsen, an den Bau einer modernen bastionären Befestigung war nicht zu denken, weil alle Kräfte auf den Wiederaufbau der Innenstadt gerichtet werden mussten. Die Öffnung der Stadt war hier der Kontingenz einer urbanen Katastrophe einerseits, dem schnellen, nicht mehr beherrschbaren Wachstum andererseits geschuldet. In Wien wurde nach Abwendung der unmittelbaren Türkengefahr der Befestigung weiterhin ein hoher militärischer, vor allem aber ein
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Louis Anseaume/Farin de Hautemer (beide Libretto)/Jean Louis Laruette (Komposition), Le Boulevard. Opéra-Comique, Ballet en un acte, représenté pour la premiere fois sur le théâtre de la Foire St. Laurent, le 24. Août 1753, Paris 1753, n. p. Hurtaut/Magny, Dictionnaire (wie Anm. 5), Bd. 1, 659–660; Bd. 2, 602–603. Sebastien Le Prestre de Vauban, De l’importance dont Paris est à la France et le soin que l’on doit prendre de sa conservation. Mémoire inédit. Paris 1821. Vgl. Auch Jean-François Pernot, Projets de Vauban pour Paris en 1689, in: Andia, Enceintes (wie Anm. 9), 125–127.
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ideeller Wert beigemessen.24 Den deutlichsten Kontrast zu Paris aber bildet Berlin. Hier wurde noch 1708 geplant, die sich schnell erweiternde Stadt mit einer neuen Bastionsbefestigung zu umgeben. Der Umschwung erfolgte 1734, als König Friedrich Wilhelm I. dieses Vorhaben aufgab und die Stadtgrenze nur mit der unerlässlichen Akzisemauer markierte: Hier war jene Gebühr für die Einfuhr von Waren zu entrichten, die seit 1667 erhoben wurde und ganz erheblich für die blühende Ökonomie der wachsenden Kapitale und der Repräsentationsbauten sorgte. Die bastionäre Befestigung wurde nach und nach aufgegeben und überbaut. Die Geschichte der Stadtentwicklung ist – das ist meines Wissens in der Kartographie der Epoche einmalig – im großen Plan von 1757 mit Hilfe von Beikarten festgehalten. Der Unterschied zu Paris ist bemerkenswert: In Berlin wurde die Aufgabe der bestehenden Befestigung in der Stadt in der Straßenführung gerade nicht programmatisch hervorgehoben und im Stadtbild akzentuiert, sondern nur noch im Kartenbild als vergangener Zustand der durch eine Fülle von Prachtbauten glänzenden Gegenwart gegenübergestellt. Die Befriedung und der Wohlstand des Landes, die die Voraussetzung für die Aufgabe der Befestigung bildeten, wurden nicht für eine städtebaulich sichtbare Maßnahme genutzt. Die aufgegebene bastionäre Befestigung und der ihr vorgelagerte Wassergraben blieben als Störung der urbanistischen Entwicklung sichtbar.25 Noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wurde Stadt durch ihre Grenze, die Mauer, und deren Wehrhaftigkeit definiert. Der miserable bauliche Zustand und die wehrtechnische Rückständigkeit der Pariser Befestigung stellte daher in der Mitte des 17. Jahrhunderts für alle Akteure ein Problem dar. Zu den Reparaturen der ersten Jahrhunderthälfte konstatiert Henri Sauval um 1660: „Après tant de frais et des soins, on n’a fait autre chose que de lui donner la forme d’une ville, pour la distinguer d’un village, ainsi toute sa force consiste seulement dans la multitude de ses habitants“.26 Man kann an dieser Äußerung die Tragweite der Entscheidung und ihrer konsequenten Durchsetzung ermessen, die 1670 die Mauer, dieses Konstitutiv von Stadt, in Paris als einziger Stadt der (westlichen) Welt den „delices“ eben dieser Bewohner widmete. Erst die Ringstraße im kaiserlich-königlichen Wien hat die urbanistische und symbolische Besetzung der ehemaligen Befestigung als Zeichen von Prosperität und Befriedung eines großen Reiches wiederholt.
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Lady Montagu, in: Hellmut Lorenz, Vienne – La Ville-Résidence de l’Empéreur, in: Gady/Pérouse de Montclos, Esprit (wie Anm. 9), 291–294. Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins. Bd. 1. 3. Aufl. Berlin 2002; Helmut Zschokke, Die Berliner Akzisemauer. Die vorletzte Mauer der Stadt. Berlin 2007; Andreas Matschenz, Stadtpläne von Berlin. Berlin 2006; Günther Schulz, Die ältesten Stadtpläne Berlins, 1652 bis 1757. Weinheim 1986. Sauval, Histoire (wie Anm. 16), Bd. 1, 44f.
„Faire céder l’art à la nature“ Natürlichkeit in der französischen Gartenkunst des frühen 18. Jahrhunderts Iris Lauterbach
Im Jahr 1709 erschien in Paris ein Traktat, der die Gestaltungsmotive und -prinzipien des klassischen französischen Gartens erstmals zusammenfasste und gleichzeitig neue Wege einschlug: La théorie et la pratique du jardinage ou l’on traite à fond des beaux jardins appellés communément les jardins de plaisance et de propreté. Der Autor Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville (1680–1765) arbeitete mit dem Architekten und Gartenkünstler Jean-Baptiste Alexandre Le Blond zusammen, von dem wahrscheinlich die Tafeln dieser ersten Auflage stammen.1 Der erst knapp dreißigjährige Dezallier d’Argenville, kein praktischer Gärtner, sondern ein in Gartendingen gut informierter Literat und Dilettant, sollte mit diesem über die Jahre hinweg mehrfach neu bearbeiteten und ergänzten Werk enormen Erfolg haben. Mehrere französische Auflagen folgten, wobei die zweite, 1713, und die letzte französische Auflage, 1747, in Text und Tafeln jeweils umfangreich ergänzt wurden. Die erste Auflage wurde 1712 von John James ins Englische übersetzt und 1728 und 1743 neu aufgelegt.2 Der zweiten Auflage folgte die 1731 in Augsburg erschienene deutsche Übersetzung des Salzburger Hofgärtners und Gartenintendanten Franz Anton Danreiter, die ebenfalls mehrfach neu aufgelegt wurde.3 Von 1748 an war Dezallier d’Argenville, wahrscheinlich unterstützt durch seinen Sohn Antoine-Nicolas, Autor zahlreicher Artikel zur Gartenkunst in der großen Encyclopédie von Diderot und D’Alembert. Erst in der zweiten, erweiterten Auflage der Théorie et pratique du jardinage von 1713 findet sich in der Aufzählung der vier Grundsätze, welche die Anlage eines Gartens leiten sollten, jene Formulierung, die ein neues Naturverständnis ausdrückt und für die Gartenkunst zum Vorbild erhebt:
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Vgl. Ingrid Dennerlein, Die Gartenkunst der Régence und des Rokoko in Frankreich. Worms 1981, 3–28; Clemens Alexander Wimmer, Geschichte der Gartentheorie. Darmstadt 1989, 122–135; zuletzt ders., La Theorie (sic) et la Pratique du Jardinage von Dezallier d’Argenville. Zum 300jährigen Jubiläum des Buches, in: Zandera 24, 2009, 2, 70–82; Olga Medvedkova, Jean-Baptiste Alexandre Leblond architecte 1679–1719 de Paris à Saint-Pétersbourg. Paris 2007. – Zwar gibt es eine Reihe von Reprints des Traktats, aber nur in Ansätzen einen Vergleich der verschiedenen Auflagen, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Am Institut national d’histoire de l’art, Paris, läuft ein Forschungsprojekt zu Dezallier d’Argenville, das 2012 in eine Ausstellung münden soll. John James, The theory and practice of gardening. Done from the French original, printed at Paris 1709. London 1712 (Ndr. Farnborough 1969). Die Gärtnerey, so wohl in ihrer Theorie oder Betrachtung, als Praxis oder Übung. Augsburg 1731 (Ndr. Leipzig 1986, Nachwort Harri Günther).
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„On peut distinguer quatre maximes fondamentales pour bien disposer un Jardin: la première, de faire céder l’Art à la Nature; la seconde, de ne point trop offusquer un Jardin; la troisième, de ne le point trop découvrir; & la quatrième, de le faire toujours paroître plus grand qu’il ne l’est effectivement.“4
„Daß die Kunst der Natur weiche“5: Diese Forderung war in der vier Jahre zuvor erschienenen ersten Auflage noch nicht zu finden. Die Mimesis, die Nachahmung der Natur, für die Kunst der Gartengestaltung zu beanspruchen, ist nicht erst eine Folge der kunsttheoretischen Ertüchtigung der Disziplin im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts. Auf die Natur beruft sich jeder Gartenkünstler. Gleichzeitig hat die Diskussion dessen, was Kunst und was Natur sei, im Bereich der Gartenkunst einen herausragenden Stellenwert, da es sich um natürliche und natürlich sich entwickelnde Gestaltungselemente handelt. Das Verhältnis zwischen Kunst und Natur beschäftigt grundsätzlich alle Schriften zur Gartenkunst. In der englischen Gartentheorie des 17. Jahrhunderts war ebenso wie in Frankreich die Forderung nach der Naturnachahmung im Garten üblich, ohne dass diese automatisch eine irreguläre Gestaltung nach sich gezogen hätte.6 Frühe Konzepte des häufig als Gegenbild zum französischen Garten entwickelten englischen Landschaftsgartens und die im Traktat Dezallier d’Argenvilles geforderte verstärkte Orientierung an der Natur sind Phänomene, deren Ausbildung gleichzeitig verlief. Ebenso wie das Naturverständnis im 18. Jahrhundert hat die „Natürlichkeit“ der Gartenkunst viele Facetten. Sie geht nicht automatisch mit einer Stilwahl einher, sondern ist ein differenzierter Modus der Gartengestaltung, der seit dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in Theorie und Ausführung formuliert und als neu und vorbildlich empfunden wurde.
1. „Faire céder l’art à la nature“ Dezallier d’Argenvilles erste Maxime der Gartengestaltung könnte man als lediglich eine Variante der grundsätzlichen Forderung nach Naturnachahmung in der Gartenkunst interpretieren, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts weiter aufgefächert werden sollte.7 Dass sie aber tatsächlich ein neues Vorbild und Modell für die Gärten seiner Zeit formuliert, wird deutlich, wenn man auch die anderen für die zweite Auflage seines Buchs in Text und Bild vorgenommenen Ergänzungen seiner Théorie et pratique du jardinage berücksichtigt. Im „Avis“ der zweiten Auflage präzisiert der Autor, die Ergänzungen habe er seinem Buch auf den Rat mehrerer (leider ungenannter) Personen hinzugefügt.8 Die sechs neuen Tafeln seien besonders interessant, denn „elles renferment des desseins tres-nouveaux en ce genre, & generalement tout ce qu’il y a de plus à la mode dans les Jardins de propreté.“9 Hatte Dezal-
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Dezallier, Théorie et pratique du jardinage. Zweite, erweiterte Auflage Paris 1713, 18. Dezallier, Gärtnerey (wie Anm. 3), 23. Vgl. Adrian von Buttlar, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Köln 1989. Vgl. Iris Lauterbach, Der französische Garten am Ende des Ancien Régime. Worms 1987, 235–241. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage, 1713 (wie Anm. 4), Avis. Ebd., Avis.
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lier d’Argenville in der ersten Auflage seines Buchs die aktuellsten Ideen übersehen oder nur unzureichend dargestellt, wie die erwähnten Ratgeber nach der Lektüre monierten? Oder trat in den Jahren zwischen 1709 und 1713 eine neue Entwicklung ein, auf die den jungen Autor die Experten aufmerksam machten? Diese neuen Aussagen erhalten umso mehr Gewicht, als die Kommentare anderer einflossen. Gegenüber der ersten Auflage von 1709 kommt außer den Tafeln mehr als ein Drittel Text hinzu, der auch zahlreiche Vergleiche enthält. Der Autor stellt den seiner Ansicht nach übertrieben künstlich und architektonisch konzipierten Gärten des Königs und des Adels in und bei Paris nun diejenigen gegenüber, die er als natürlich und daher vorbildlich bezeichnet.10 Gegenüber der „affectation“, der Anwendung unnatürlicher Motive in gezwungener und überladener Häufung, bevorzugt der Autor die edle Schlichtheit, „noble simplicité“, die durch die Verwendung natürlicher Gestaltungsformen erzielt wird. Meudon biete in dieser Hinsicht ein negatives Beispiel, die Gärten von Saint-Cloud und Sceaux, auch von Chantilly und Marly hingegen seien „très-naturels“. Die Forderung nach Natürlichkeit deckt sich mit der Verweigerung zu großen Aufwandes, der unmäßige Kosten verursache.11 Welche neuen natürlichen Gestaltungsmotive beschreibt Dezallier d’Argenville? Vom Schlängelweg oder anderen Formen einer „Natürlichkeit“ suggerierenden künstlichen Wegeführung ist in keiner der Auflagen seines Buchs die Rede. Dabei hatten schon einige Bosketts in Gärten Ludwigs XIV. Schlängelwege als natürliche Wegeführung in bewusstem Kontrast zum regelmäßigen Raster aufgewiesen: das durch André Le Nôtre vor 1679 entworfene Bosquet des Sources in Versailles, das wenig später der Colonnade Jules Hardouin-Mansarts weichen musste; der stattdessen 1687–89 beim Grand Trianon angelegte Jardin des Sources, der nicht über Wege, sondern auf Rasenflächen begangen wurde;12 das ab 1698 entstandene Bosquet de la Princesse/Bosquet de Louveciennes in Marly. Englische Theoretiker des frühen 18. Jahrhunderts sahen die geschwungene oder geschlängelte Linie als Ausdruck von Natürlichkeit an, wie etwa Stephen Switzer (1718) oder Batty Langley (1728).13 Der Garten von Chiswick bei London, ab 1715 durch William Kent angelegt, von 1730 an weiter zum Landschaftsgarten umgestaltet, zeigt im Plan von John Roque (1736) außer der Dominanz des Rasens eine unregelmäßige Wegeführung, die jedoch in das geometrische Gesamtgerüst des Plans eingebunden ist.14 Erst die durch William Hogarth 1751 in seiner Analysis of Beauty eingeführte „Line of Beauty“ sollte als kunsttheoretisches Linienkonzept Einfluss auf die Grundrissgestalt des Landschaftsgartens haben. Natürlichkeit zeigte sich nach Dezallier d’Argenvilles Darstellung nicht im Plan und Grundriss, sondern im „Aufriss“, also der Terrainmodellierung und Bepflanzung: im Bodenbelag und der Auskleidung ganzer Boskettkabinette mit Rasen statt mit totem Material und
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Ebd., 18f. Ebd., 19. Vgl. Michael Brix, Der absolute Garten. André Le Nôtre in Versailles. Stuttgart 2009, 155–161. Stephen Switzer, Ichnographia rustica, London 1718, Bd. III, 6 schlägt „as many Twinings and Windings as his Villa will allow“ vor; Batty Langley, New principles of gardening. London 1728. Vgl. John Harris (Hrsg.), The Palladian revival. Lord Burlington, his villa and garden at Chiswick. New Haven 1994.
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in der vegetabilen Verkleidung von Architektur beziehungsweise dem Ersetzen steinerner Bauwerke oder von Lattenwerk – treillage – durch pflanzliche, grüne Architektur.
2. „À l’angloise“ Die blumenbestandene, liebliche Wiese ist Bestandteil existierender mittelalterlicher Gärten ebenso wie, als literarisches Motiv, des Locus amoenus. Dann jedoch verschwindet sie aus dem Repertoire der Gartenkunst, bis sie im späteren 18. Jahrhundert im Landschaftsgarten wieder erscheint, beispielsweise als charakteristisches Merkmal im Werk des bayerischen Hofgartenintendanten Friedrich Ludwig von Sckell. Die aus Blumen und Gräsern bestehende, nur selten gemähte Wiese bietet einen schönen Anblick, eignet sich aber nicht zum Begehen. Wenn eine Grünfläche genutzt werden soll, ob zum Betreten, Spielen oder Sitzen, muss das Gras kurz und robust gehalten werden. So gehört eine Rasenbank zum Repertoire spätmittelalterlicher Mariendarstellungen und Liebesgärten. In der Gartenkunst der italienischen Renaissance spielte der Rasen kaum eine Rolle, denn das mediterrane Wetter ist im Allgemeinen zu heiß für einen schönen Rasen. Die grüne Rasenfläche wurde daher schon aus klimatischen Gründen nördlich der Alpen zum Gestaltungsmotiv. Sofern Alleen als breite Allées découvertes gestaltet, also nicht durch geschnittene oder ungeschnittene Baumwipfel überwölbt sind, kann ihre mittlere Bahn statt mit Kies und Sand mit einer langgezogenen Rasenfläche bedeckt werden, dem Tapis vert. Bereits der französische Gärtner André Mollet, der eine internationale Karriere machte und seit 1629 mehrfach am englischen Hof gearbeitet hatte, hebt Englands Rasenkultur hervor und zeigt in seinem Buch Le Jardin de plaisir (1651) zahlreiche Rasenornamente, ob in Parterres oder Bosketts. Anders als Jacques Boyceau, der sich in seinem Traité du Jardinage (1638) nur generell über die schöne Blumenblüte äußert, nicht aber über die Farbwirkung des Gartens, betont Mollet die angenehme Wirkung grüner Farbwerte: „On peut aussi entremêler plusieurs sortes de verts outre le gazon (...) qui donneront par leurs différents verts une décoration très agréable.“15 Auch Dezallier d’Argenville verweist für ganz mit Rasen bedeckte Allées vertes auf England.16 Bereits 1709 und erneut 1713 erweitert er die Anwendungsbereiche des Rasens deutlich und reagiert damit auf eine aus England übernommene Mode.17 Gegenüber den Broderieparterres nehmen nun nicht nur die Parterres de compartiments, mit ornamentalen Rasenflächen durchsetzte Broderieparterres, größeren Raum ein, sondern auch die schlichteren, auch Parterres à l’angloise genannten Rasenparterres.18 „On lui donne ce nom de Parterre à l’Angloise, parce que la mode en vient d’Angleterre. Ces pièces sont aujourd’hui très-pratiquées en France.”19
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André Mollet, Le jardin de plaisir. Paris 1651, Nachwort Michel Conan. Paris 1981, 34. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage. Erste Auflage, Paris 1709, 59. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage (wie Anm. 4) 1713, 41. Vgl. Wilfried Hansmann, Das Gartenparterre. Gestaltung und Sinngehalt nach Ansichten, Plänen und Schriften aus sechs Jahrhunderten. (Grüne Reihe, Bd. 28.) Worms 2009, 17 und passim. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage, 1713 (wie Anm. 4), 41.
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Ein ganzes Kapitel seines Traktats (Kap. VII) widmet Dezallier d’Argenville der Gestaltung größerer Flächen und der Terrainmodellierung mit Rasen: „Des boulingrins ou Renfoncemens de gazon, des grandes Rampes, Glacis, Talus & Tapis de gazon.“20 Das Boulingrin leitet Dezallier vom englischen Bowlinggreen ab, da die Engländer auf Rasenflächen gerne Boule spielten. In der französischen Gartenkunst hingegen bezeichnet der Begriff abgestufte, vertiefte Rasenpartien innerhalb größerer Flächen oder inmitten eines Parterres. Rasenrampen, Rampes de gazon, sind flach abfallende Tapis verts; ein Talus de gazon hat ein steileres Profil als ein Glacis, das einen Terrainunterschied möglichst unauffällig kaschiert. Innerhalb des Parterrebereichs entsteht ebenso wie in den Bosketts mit den Boulingrins ein differenziertes Relief der Anlage. Sie tragen zum Eindruck einer komplexeren Raumwirkung bei und bieten darüber hinaus, so Dezallier d’Argenville, einen geeigneten Untergrund, um sich niederzulassen und im Schatten der Bäume zu ruhen.21 „À l’angloise“ bedeutet in diesem Kontext immer „mit Rasen“. Denn Dezallier d’Argenville hebt ebenso wie die englischen Gartentraktate des frühen 18. Jahrhunderts und noch 1757 der Artikel „Gazon“ in der großen Encyclopédie22 hervor: Den schönsten Rasen gebe es in England, wo die Gärtner besonders viel Erfahrung in der Pflege der Rasenflächen hätten, um einen zwar trittfesten und teppichartigen, aber natürlichen Bodenbelag von einheitlicher grüner Farbwirkung, „de beaux tapis de gazon bien unis & bien veloutés“23, zu erzielen. In England erfolgreich entwickelte Methoden, Rasen zu versetzen, und die Pflege desselben schildert Dezallier d’Argenville ausführlich.24 1715 publizierte der englische Gartentheoretiker Stephen Switzer sein einflussreiches Buch The nobleman, gentleman, and gardener’s recreation, in dem er den 1712 durch John James ins Englische übersetzten Traktat des französischen „Konkurrenten“ häufig und sehr lobend zitiert und kommentiert. Eine direkte Antwort auf Dezallier d’Argenville scheint auch das Kapitel „Of Grass and Gravel“. Schon dieser prägnanten Überschrift meint man anzumerken, dass Switzer gegenüber Frankreich den Rasen und „those natural Ornaments of our Country-Seats, by which we much excel all other Nations, and are indeed the Glory of all our Gardens”25 ganz eindeutig für sein Heimatland reklamieren will.
3. „une espèce d’ordre d’Architecture champêtre“26 Blickt man auf die Geschichte der Gartentheorie, so haben viele Autoren, schon in der italienischen Villenliteratur des 16. Jahrhunderts, bei der Beschreibung und Definition des Zwittercharakters grüner, vegetabiler Architektur terminologisch gerungen.27 Insgesamt wird 20 21 22 23 24 25 26 27
Dezallier, Théorie et pratique du jardinage, 1709 (wie Anm. 16), 59–66. Ebd., 60. Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Scienes, des Arts et des Métiers. Paris, Bd. 7 (1757), 535. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage, 1709 (wie Anm. 16), 64. Ebd., 62–66. Stephen Switzer, The nobleman, gentleman, and gardener’s recreation. London 1715, 241. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage, 1709 (wie Anm. 16), 45. Vgl. den in der Gartenliteratur viel kommentierten Begriff der „terza natura”, der im Traktat La villa von Bartolomeo Taegio (Mailand 1559) die durch Natur und Kunst geprägte Zwittergestalt von
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häufiger die Natürlichkeit einer solchen Architektur gepriesen als ihre Künstlichkeit getadelt. Neben der verstärkten Verwendung des Rasens in Parterres und Boulingrins sowie als natürliche Verkleidung von Bodenflächen und -stufen beschreibt und propagiert auch Dezallier d’Argenville natürliche Gartenarchitekturen. Von ihnen handelt bereits 1709 Kapitel VIII des ersten Teils seines Buches, übertitelt „Des Portiques, Berceaux & Cabinets de Treillage, Figures, Vases, & autres ornemens servant à la décoration & embellissement des Jardins“. Geschnittene Hecken bilden eine eigene ländliche architektonische Ordnung, „une espèce d’ordre d’Architecture champêtre“.28 Gartenarchitekturen und Sichtschutzkonstruktionen aus grün gestrichenem hölzernen Lattenwerk (treillage) riefen als prachtvolles Element der Gartengestaltung zwar nach wie vor Bewunderung hervor, kamen seit dem frühen 18. Jahrhundert aber aus Gründen des hohen technischen und finanziellen Aufwandes für die Herstellung und Pflege außer Mode.29 Einen freilich noch weit höheren Aufwand und höchste gärtnerische Fertigkeit erforderten natürlich wirkende Gartenarchitekturen, deren aus den geschmeidigen Ästen der Hainbuche oder Ulme zusammengeflochtene, auch von Rosen, Jasmin, Geißblatt oder Wein überwachsene architektonische Gänge und Gewölbe mit Hilfe eines Gerüsts aus Holz oder Eisen konstruktiv zusammenhielten. Bereits der französische Hofgärtner Claude Mollet hatte in seinem Lehrbuch Théâtre des plans et jardinages (1652) den „Portiques & Pallissades faites en forme d’Architecture“ ein umfangreiches Kapitel gewidmet, dessen Tafeln leider verlorengegangen sind.30 Parallel verlaufende, in erstaunlicher Kunstfertigkeit zu Gewölben geschnittene vegetabile Laubengänge waren im Garten von Liancourt zu finden, der in den 1630er bis 1640er Jahren möglicherweise von dem jüngeren Claude Mollet gestaltet wurde.31 Diesen „berceaux naturels ou de verdure, appelez champêtres“32 galt noch im frühen 18. Jahrhundert höchste Begeisterung. Dezallier d’Argenville nennt diese grüne Architektur „un chef-d’œuvre & un miracle en fait de Jardinage“.33
4. Modell Marly Bei der Beschreibung neuer, natürlicher Gestaltungselemente, Rasen wie auch grüne Architektur, beruft sich Dezallier d’Argenville in der ersten Auflage seines Buches 1709 zuweilen, von 1713 an aber auffallend häufig auf Marly. Vielleicht hatten ihn seine Ratgeber gerade auf diese in einem ständigen Prozess der Erneuerung befindliche Anlage Ludwigs XIV. hingewiesen. In einer ersten Phase, von 1678 bis 1687, wurden zunächst das Schloss und die Pavil-
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Laubengängen bezeichnet: s. Iris Lauterbach, The gardens of the Milanese ,villeggiatura‘ in the midsixteenth century, in: John Dixon Hunt (Hrsg.), The Italian Garden. Art, Design and Culture. Cambridge, Mass. 1996, 127–159, hier 152–159. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage, 1709 (wie Anm. 16), 45. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage. Dritte, erweiterte Auflage 1747, 92. Vgl. Iris Lauterbach, „Nul bien sans peyne“. Claude Mollet und sein „Théâtre des plans et jardinages“, in: Barockberichte, 46/47, 2007, 44–60, hier 52. Vgl. Aurélia Rostaing, André le Nôtre et les jardins français du XVIIe siècle: perspectives de recherche et „vues bornées“, in: Revue de l’art 129, 2000, 3, 15–27, Abb. 8. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage, 1713 (wie Anm. 4), 89. Ebd.
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Abb. 1 Vorschläge für Berceaux und Galeries de verdure (Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville, La théorie et la pratique du jardinage. Paris 1747, Taf. 30, entspricht Taf. 2E der zweiten, erweiterten Auflage 1713)
lons errichtet, von 1698 an bis zum Tod des Königs 1715 stand vor allem der in einzelnen Partien ständig veränderte Garten im Mittelpunkt des Interesses. Die in einem waldigen Tal gelegene und daher durch starkes Terrainrelief und den umgebenden Jagdpark geprägte Anlage enthält einen zentral angeordneten Pavillon für den König und seine Familie, zwölf kleinere Gästepavillons, die den durch drei große Bassins gestalteten niedrigsten Bereich flankieren, sowie Nebengebäude. Die Gesamtdisposition der Anlage lässt sich als die Monumentalisierung eines klassischen Bosketts mit Cabinet de verdure und Bassin charakterisieren. Die nach Entwurf des Architekten Jules Hardouin-Mansart, nicht des hier nur am Rande tätigen Gartenkünstlers André Le Nôtre entstandene Schloss- und Gartenanlage bezeichneten die Zeitgenossen von Anfang an als neuartig und ungewöhnlich.34 Auf die erste Beschreibung im Mercure galant von 1686 folgten von 1701 an mit Piganiol de la Forces häufig neu 34
Vgl. Gerold Weber, Der Garten von Marly (1679–1715), in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 28, 1975, 55–105; Karl Möseneder, Über Vorbilder der Schlossanlage von Marly, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 43, 1992, 133–150; Claudia Hartmann, Das Schloß Marly. Eine mythologische Kartause. Form und Funktion der Retraite Ludwigs XIV. Worms 1995, 152f.; Katharina Krause, Die Maison de plaisance. Landhäuser in der Ile-de-France (1660–1730). München/Berlin 1996, 74–84.
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aufgelegtem und erweiterten Führer zahlreiche Guiden sowie Beschreibungen in den Reiseberichten ausländischer Künstler.35 Darüber hinaus ist bereits für das Jahr 1700 die Absicht belegt, aquarellierte Ansichten der Anlage in einem Album zusammenstellen.36 1714 wurde dieses Vorhaben realisiert, der Autor der Zeichnungen ist nicht bekannt.37 Auch andere königliche Gärten wurden, im Aufwand vergleichbar, in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Alben gewürdigt. Eines von ihnen enthält Pläne des Gartens von Versailles, die der Zeichner Jean Chaufourier 1720 im Auftrag des Duc d’Antin, Directeur des Bâtiments du Roi seit 1708 und Surintendant des Bâtiments von 1715 bis 1726, anfertigte.38 Derselbe Chaufourier signierte zwei der Tafeln, die Dezallier d’Argenville 1713 der zweiten Auflage seines Buchs hinzufügte. Vermutlich ebenfalls von ihm stammen die anderen neuen, wenn auch nicht signierten Tafeln. Sie zeigen unregelmäßige Gartenentwürfe (Taf. 5A), Rasenparterres (Taf. 7B), geschnittene Hecken in den Gärten von Liancourt, Chantilly, Trianon und Versailles (ohne Tafelnummer), Boulingrins (Taf. 2E), Berceaux naturels (Taf. 2E) (Abb. 1) und mit Rasen verkleidete Treppen, Rampen und Vertugadins, die ebenfalls dem Garten von Marly entnommen sind (Taf. 3H) (Abb. 2). Der deutsche Architekt Leonhard Christoph Sturm besichtigte Marly 1699 und lobt den Garten, „weil er nach einem gantz andern und contrairen Principio angeleget ist als der zu Versailles, und weil er dieses neu und vor sich besonder hat, dass er nicht in Alleen, und dazwischen eingeschlossene Plätze, sondern gleichsam in lauter neben einander liegende, doch artig von einander unterschiedene Alleen eingetheilet ist […].“39 Seit Anfang der 1690er Jahre waren den mit Fassadenmalereien versehenen Bauten schrittweise jene vegetabilen Elemente hinzugefügt worden,40 die eine geradezu programmatische Verbindung von Architektur und Gartenkunst vor Augen führen. Zunächst wurde nur das Hauptgebäude durch einen halbkreisförmig verlaufenden Laubengang zum Wald hin abgeschirmt.41 Später fügte man geschlossene, überwachsene Laubengänge zwischen den unteren Pavillons an, „also daß die Herrschafft, so in diesen Pavillons logiret, verdecket aus ihren Gemächern zusammen kommen kan.“42 Außerdem wurden die niedrigeren Perrons um die große Bassinzone nun von je zwei parallel verlaufenden natürlichen Galerien überspannt. Die Raffinesse dieser Berceaux naturels bestand darin, dass die Kronen von jeweils zwei Reihen Ulmen so über den Weg gebogen wurden, dass sie Kreuzgratgewölbe bildeten, während die Seiten offen 35 36 37
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Vgl. Anm. 34. Weber, Marly (wie Anm. 34), 86. Vgl. Gérard Mabille/Louis Benech/Stéphane Castelluccio, Vues des jardins de Marly: le roi jardinier. Paris 1998. Pierre Arizzoli-Clémentel (Hrsg.), Les Jardins de Lenôtre à Versailles par Jean Chaufourier. Paris 2000. Dieses Album kopierte ein früheres, 1711 von Pierre Le Pautre gezeichnetes, das nach 1717 an Zar Peter I. von Russland als Geschenk übersandt wurde. Vgl. Brigitte de Montclos, Un album du duc d’Antin à Saint-Pétersbourg. Les jardins de Versailles en 1711, in: Bulletin de la Société de l’Histoire de l’Art français 2004, 85–95. Leonhard Christoph Sturm, Durch einen grossen Theil von Teutschland und den Niederlanden biss nach Pariss gemachete Architectonische Reise-Anmerckungen. Augsburg 1719, 124. Weber, Marly (wie Anm. 34), Anm. 79. Krause, Maison de plaisance (wie Anm. 34), Abb. 70. Sturm, Reise-Anmerckungen (wie Anm. 39), 124.
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Abb. 2 Vorschläge für Terrainmodellierung mit Rasen (Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville, La théorie et la pratique du jardinage. Paris 1747, Taf. 38 entspricht Taf. 3H der zweiten, erweiterten Auflage 1713)
blieben und so den Blick zu beiden Seiten hin, auf die Pavillons und auf den Bassinbereich, ermöglichten und die Luft zirkulieren ließen: „welches nicht nur was ungemeines ist, das man nirgends also finden wird, sondern auch etwas recht charmantes, als eine gewachsene Collonnata.“43 Die nächstunteren Terrainstufen erhielten mit der „Allée des Boules“ – zu Kugeln geschnittenen Formbäumen – und darunter der „Allées des Ifs“ – kegelförmig geschnittenen Eiben – dunkelgrüne Akzente. Der Salzburger, später Münchner Hofgärtner Matthias Diesel, der sich von 1706 an für vermutlich sechs Jahre in Frankreich aufhielt und die französische Gartenkunst studierte, schätzte in Marly die „fast übernatürlich Molierung und Beschneidung der Bäume“ und gleichzeitig „die annehmlichste Promenades der Waldungen“ (Abb. 3).44 Generell ist zu registrieren, dass die Berceaux naturels in Marly nicht als „vergewaltigte Natur“ kommentiert wurden, sondern, im Gegenteil, als positive Beispiele für eine vegetabile, natürliche Architektur. Auch Lieselotte von der Pfalz, die mit dem König hier auf die Jagd ging und häufiger zu der Schar der vom König ausgewählten Gäste gehörte, betont die „Natürlichkeit“ des Gar43 44
Ebd., 124. Matthias Diesel, Erlustirende Augenweide. (Bibliotheca hortensis, Bd. 6) Ndr. Leipzig 1989, Vorwort.
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Abb. 3 Matthias Diesel, Erlustirende Augenweide, Erste Folge, „Prospect und Perspectiv deß Königl(ichen) Lustgarten zu Marly“, Kupferstich von Johann August Corvinus
tens von Marly, der den Charakter einer lieblichen Lichtung im Walde gehabt zu haben scheint. Sie schreibt von Blumenduft und dem Gesang der Nachtigallen und staunt über die in scheinbar natürlichem Rasenbett herabplätschernden Cascades champêtres.45 Das in Marly, anders als in Versailles, zunächst reichlich vorhandene Wasser ermöglichte die Gestaltung von Kaskaden, die, kaum fertiggestellt, mehrfach erneut verändert wurden. Die Natürlichkeit dieser Cascade champêtre, Rivière und Les Nappes genannten Kaskaden stand im Einklang mit dem Charakter der Gesamtanlage.46
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Helmuth Kresel (Hrsg.), Die Briefe der Lieselotte von der Pfalz. Frankfurt 1981, 139f. (Brief an Kurfürstin Sophie, 28.7.1701), 151 (Brief an Kurfürstin Sophie, 26.4.1704), 180f. (Brief an Kurfürstin Sophie, 24.4.1712). Vgl. Gerold Weber, Brunnen und Wasserkünste in Frankreich im Zeitalter von Louis XIV. Worms 1985, 176–183, 226–240.
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5. „alia viridia“ – „de la verdure“47 Bereits Gerold Weber und nach ihm explizit vor allem Katharina Krause haben das typologische Vorbild für Marly in der vormaligen Funktion von Schloss Versailles identifiziert, ein Modell des Rollenwechsels, das Ludwig XIV. und sein Architekt Hardouin-Mansart nun auf die neue Anlage übertrugen. Darüber hinaus betont Claudia Hartmann das Vorbild der religiösen Kartause Mont Valérien.48 Die Ausdifferenzierung verschiedener Nutzungskonzepte für die Residenz und die Schlösser des französischen Hofes zeigt sich in der Gestaltung wie auch der Wahrnehmung des Gartens von Marly. Der Garten wurde vorwiegend für die Promenade und für gesellige Spiele wie Mail, Schiffsschaukel oder Roulette (eine Art Sommerschlitten) genutzt, deren Installationen die Ansichten von 1714 wiedergeben. Ein Broderieparterre gab es in Marly nicht, dafür kleidete Rasen viele der Boskettkabinette und -säle in Marly aus (Abb. 4). Rasenbedeckte Sitzreihen und -stufen, Vertugadins oder Escaliers de gazon, bis hin zu aufwen-
Abb. 4 Marly, Amphithéâtre de Mercure, 1714
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Jean-François Félibien des Avaux, Les plans et les descriptions de deux des plus belles maisons de campagne, de Pline le Consul. Amsterdam 1706, 81. Vgl. die in Anm. 34 zitierte Literatur.
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digen Amphithéâtres de gazon, luden die Gartenbesucher zum Sitzen und Lagern ein. Auch den bloßen Anblick der hier dominanten grünen Farbe scheinen die Zeitgenossen als neu und außerordentlich angenehm empfunden zu haben. Leonhard Sturm lobt die Rasenglacis: „Die beyden innersten Absätze sind mit Rasen sauber verkleidet, welche Fuß auf Fuß dossiret oder geschmieget sind. Es ist nicht wohl zu glauben biß man es siehet, was diese gantz sonderbahre Disposition vor einen lieblichen Effect in den Augen thut.“49
Man sollte annehmen, dass in einem Garten die Farbe Grün nicht ungewöhnlich sei. Neu war aber offenbar, dass sie gegenüber den im klassischen französischen Garten üblichen hellen Farben von Stein und Sand, den Farben der Streumaterialien in den Broderieparterres (rot, schwarz, gelb, weiß) und dem Blumenflor der Rabatten dominierte. Auch Stephen Switzer betonte 1715 als eine Wahrnehmung, die offenbar noch nicht genügend bekannt war: „a good Green being one of the pleasantest Colours in Nature.“50 Die neue Dominanz natürlicher Materialien und damit von Grüntönen setzte sich in den Gartenarchitekturen fort. Wo sich in Versailles Marmor und Stein vor grünem Hintergrund abhoben, so etwa die Colonnade oder die Dômes, verband sich in Marly das Grün der Berceaux naturels mit dem der waldartigen Boskettzone. Die außerordentlich umfangreiche Ausstattung des Gartens von Marly mit Skulpturen,51 die innerhalb der königlichen Gärten immer wieder neu verteilt wurden, erklärt sich vielleicht auch mit der ansprechenden Wirkung heller Marmorstatuen vor dem grünen Hintergrund der Hecken oder Rasenstufen. Wie die aquarellierten Ansichten des Gartens zeigen, bestanden sogar die vielen Gartenbänke in Marly nicht aus hellem Stein, sondern aus grün gestrichenem Holz, wie es auch Dezallier d’Argenville empfahl.52 Das allegorisch-mythologische Programm der Fassadenmalereien und der Innenausstattung der Pavillons scheint in Marly generell durch die Farben als ikonographisch aussagekräftige Motive ergänzt worden zu sein.53 Die Architektur in Marly war bunt, die Außenfassaden ebenso wie die Innenräume, die Bassins waren mit bunten Fayencekacheln ausgekleidet, und der – weit mehr als in Frankreich bis dahin üblich – durch die Farbe Grün dominierte Garten trug zu einer solchen farbigen Gesamtwirkung erheblich bei. Eine Reihe formaler Vorbilder für die ungewöhnliche Schloss- und Gartenanlage von Marly sind vorgeschlagen worden, unter anderem die Beschreibungen der beiden Villen des jüngeren Plinius, Tuscum und Laurentinum.54 Mit Plinius hat Katharina Krause das Aufkommen eines neuen Modells der Natürlichkeit am Beispiel des seit den späten 1680er Jahren errichteten Schlosses und Gartens von Villeneuve-le-Roi in Verbindung gebracht, die der Auftraggeber Claude Le Peletier 1695 in einem nach antiken Autoren, u. a. Plinius, kompilierten Text, Comes rusticus, kommentierte.55 Die Rekonstruktion der laurentinischen Villa 49 50 51
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Sturm, Reise-Anmerckungen (wie Anm. 39), 125. Switzer, The nobleman (wie Anm. 25), 243. Vgl. Betsy Rosasco, The sculptures of the Chateau of Marly during the reign of Louis XIV. New York 1986. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage, 1709 (wie Anm. 16), 74. Krause, Maison de plaisance (wie Anm. 34), 83. Vgl. die in Anm. 34 aufgeführte Literatur. Krause, Maison de plaisance (wie Anm. 34), 188–200.
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Abb. 5 Jean-François Félibien, Rekonstruktion der Villa Tuscum, Plan (Les plans et les descriptions de deux des plus belles maisons de campagne, de Pline le Consul. Amsterdam 1706, Taf. II nach S. 62)
durch Vincenzo Scamozzi (1615) war mehrfach, 1681, 1687 und 1694/95, in der Pariser Académie de l’architecture studiert worden. Le Peletier förderte die Beschäftigung des jungen Architekten Jean-François Félibien des Avaux mit Scamozzi und Plinius, so dass Félibien 1699 in Paris eine Ausgabe der Briefe des Plinius im lateinischen Original publizierte, mit französischen Übersetzungen und Kommentaren sowie der Villenbeschreibung Scamozzis, ergänzt durch weitere Passagen aus anderen Briefen von Plinius und durch Tafeln mit seinen Rekonstruktionen beider Villen (Abb. 5). Neuauflagen folgten 1706 in Amsterdam und 1707 in London, noch 1725 wurde nachgedruckt.56 Der französische Architekt rekonstruierte, wie eine Generation nach ihm auch der Engländer Robert Castell in seiner großformatigen Publikation The Villas of the Ancients (1728),57 zwei ideale Anlagen, in denen er Mittel
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Vgl. Anm. 47. Krause, Die Maison de plaisance (wie Anm. 34), 369, Anm. 339; s. auch Pierre de La Ruffinière Du Prey, The villas of Pliny from antiquity to posterity. Chicago u. a. 1994, 123–131. Ruffinière, The villas of Pliny (wie Anm. 56), 131–142.
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und Möglichkeiten natürlicher und künstlicher Gartengestaltungen seiner Zeit zusammenführt. Als antikes Beispiel für die Verwendung von Ars topiaria und als Vorbild für zirkus- und hippodromartige Strukturen, wie sie seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in der Gartenkunst wiederaufgegriffen wurden, ist Plinius’ tuskische Villa immer wieder zitiert worden, so wie auch die Blickführung innerhalb der Gebäude und die visuelle Verschränkung zwischen Architektur, Garten und Landschaft oft rezipiert worden sind. Charakteristische Merkmale der Gesamtanlage und des Gartens von Marly sind bei Plinius, vor allem in der ausführlicheren Beschreibung des Gartens der tuskischen Villa, wiederzufinden, so der hippodromartige, gestufte Aufbau des Hauptbereichs des Gartens. Manche Passagen von Félibiens Übersetzung lassen sich ohne weiteres auf Marly beziehen, wobei nicht auszuschließen ist, dass den Autor bei der Imaginierung und Darstellung der „grandeur & magnificence des maisons de campagne“58 des Plinius gerade die Schlösser des französischen Königs inspiriert haben mögen: „Et autour de tout le parterre il y a pour se promener des allées environnées d’arbres verts fort touffus & taillez avec soin. D’autres allées […] forment au-delà une maniere de cirque, & renferment quantité de buis & arbustes taillez chacun de differente figure. Tous ces jardins sont clos d’une muraille cachée par des palissades de buis. On voit pardessus un grand pré, dont la beauté naturelle ne plaît pas moins à la vûë que la politesse des jardins precedens.”59
Aufschlussreich ist sowohl bei Félibien als auch bei Castell die Terminologie der jeweiligen Übersetzung in aktuelle französische bzw. englische Begriffe. Nur wenige andere Texte zur Villa und/oder zum Garten beschreiben in so großer terminologischer und funktionaler Differenzierung wie Plinius Varianten des gestalteten Weges, die verschiedene Arten der verborgenen oder offenen, schattigen oder sonnigen, ruhigen oder sportlichen Kommunikation und Bewegung ermöglichten:60 „portique“, „galerie ouverte“ („porticus“); „grande allée“ („gestatio“); „treilles“, „berceaux bien couverts“ („vineæ“), „promenoir“ („ambulatio“, „xystus“); „cryptoportique“, „gallerie fermée“ („cryptoporticus“) etc. Wandelgänge, Kryptoportiken, von Wein umrankte Laubengänge und mit Efeu bewachsene Bäume stellten besonders in der tuskischen Villa eine ungewöhnlich enge Verknüpfung von Achitektur und Garten her. Grün geäderter Marmor aus Karystos ergänzte die vegetabilen Strukturen im Garten.61 Auffallend häufig hebt Plinius die grüne Farbe hervor, die sich dem Blick von der tuskischen Villa aus und in ihrem Garten auf allen Seiten darbietet; „in viridia“, ins Grüne, ob im Garten oder der Landschaft, blicke er.62 Die Farbe ist ihm beim Garten ebenso wichtig wie bei der Architektur, die er als „quelque lieu imaginé & peint à plaisir des couleurs les plus vives & les plus exquises“63 bezeichnet. Kein einziger gartentheoretischer Text der Neuzeit vor der Plinius-Übersetzung Félibiens erwähnt so nachdrücklich ausgedehnte grüne Flächen, die betreten werden können und sollen und deren Anblick dem Auge angenehm ist. Mit dem für seine Zeit ungewöhnlich 58 59 60 61 62 63
Félibien, Les plans et les descriptions (wie Anm. 47), 96. Ebd., 71. Vgl. auch das Stichwortregister, ebd., nach 112. Ebd., 80. Wie Anm. 47. Félibien, Les plans et les descriptions (wie Anm. 47), 69.
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farbigen und besonders grünen Marly stellten Hardouin-Mansart und André Le Nôtre möglicherweise eine Verbindung zu diesem antiken Villenkonzept her. Die Bodendecker in Plinius’ Villengärten sind Rasen – „un grand pré“ („pratum“), „boulingrins“ („pratulum“, „gramina“)64 – und niedriger, weicher Akanthus.65 Plinius erwähnt in einem anderen, von Félibien ebenfalls übersetzten Brief das Gehen auf weichem, also bewachsenem Boden: „ces allées où l’on marche si mollement, & qui neanmoins sont si fermes & si solides“ („illa mollis et tamen solida gestatio“).66 Das Lagern auf dem Gras ist ein Topos der antiken Literatur, der über die frühere Rezeption Homers und Vergils, etwa durch den Franzosen René Rapin (Hortorum libri quatuor, 1666) und dessen englische Übersetzungen (1673 und 1706), in die neuzeitliche Gartenkunst Eingang gefunden hat: „Making our beds upon the grassie bank, / For which no art, but nature we must thank.“67 Félibiens Tafeln mit den Rekonstruktionen beider Villen zeigen auffallend viel Rasen, als Parterres, Boulingrins und Tapis vert. Neben der Gruppierung der Pavillons sowie der Verwendung eines großen Bassins statt eines Parterres war die „Natürlichkeit“ des Gartens von Marly ein Motiv, das die Zeitgenossen als neu erkannten und aufnahmen. Im Garten der Favorite bei Mainz, von Maximilian von Welsch in Zusammenarbeit mit dem Obergärtner Johann Kaspar Dietmann seit 1700 für den Mainzer Fürstbischof angelegt, gab es Boulingrins und Rasenglacis, auf denen sich die Gartenbesucher paarweise oder in Grüppchen niederließen, wie Salomon Kleiners Kupferstichserie (1726) zeigt.68 Der Große Garten in Dresden erhielt 1693/94, nach einem Entwurf des sächsischen Hofgärtners Johann Friedrich Karcher, der die französischen königlichen Gärten und auch Marly kennengelernt hatte, zunächst die Pavillonstruktur; erst in einer zweiten Phase von 1709 bis 1715 legte Karcher dann nicht nur den monumentalen Palaisteich, sondern auch die seitlichen Bosketts an und verwendete eine vereinfachte Parterreund Boskettgestaltung fast ausschließlich aus Rasen.69 Matthias Diesels Nachfolger, der spätere Salzburger Garteninspektor Franz Anton Danreiter, lernte auf einer Studienreise 1723/24 die französischen königlichen Gärten kennen.70 Marly muss ihn nachhaltig beeindruckt haben, denn seine wenig später publizierten Vier und Zwantzig Gärten-Grundriße wei64 65
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Ebd., 71, 79, 73. Robert Castell, The Villas of the Ancients. London 1728, 128, führt aus, der von Plinius erwähnte Akanthus sei eine ganz niedrige Sorte, auf der man sogar barfuß gehen könne. Félibien, Les plans et les descriptions (wie Anm. 47), 88. Zit. nach John Dixon Hunt/Peter Willis (Hrsg.), The Genius of the Place. The English Landscape Garden 1620–1820. Cambridge, Mass./London 1988, 83. Rapins Buch wurde durch John Evelyns Übersetzung von 1673 in England bekannt. – In der englischen Porträtmalerei hat seit dem 16. Jahrhundert die Darstellung des Porträtierten in der Natur und auf dem Rasen, ob sitzend oder liegend, eine lange Tradition. Hedwig Brüchert im Auftrag des Fördervereins Stadthistorisches Museum Mainz e.V. (Hrsg.), Vom kurfürstlichen Barockgarten zum Stadtpark. Die Mainzer Favorite im Wandel der Zeit. Mainz 2009; Salomon Kleiner, Schönbornschlösser. Drei Vedutenfolgen aus den Jahren 1726–31. Dortmund 1980. Sächsische Schlösserverwaltung, Andrea Dietrich (Hrsg.), Der Große Garten zu Dresden. Gartenkunst in vier Jahrhunderten. Dresden 2001, 20–33: Harald Blanke, Die Entwicklungsgeschichte des Großen Gartens zu Dresden; ders., Der Große Garten zu Dresden. Geschichte und Gestaltung im Zeitalter August des Starken 1676–1733. Dresden 2000. Vgl. Iris Lauterbach, Franz Anton Danreiter, hochfürstlicher Garteninspektor in Salzburg, in: Barockberichte 53/54, 2010, 501–520.
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sen drei in Deutschland damals ungewöhnliche Merkmale auf, die ohne das Modell Marly nicht zu denken sind: dominante Bassins, die statt eines Parterres direkt vor dem Schlossgebäude liegen; Berceaux de verdure, die ein mehrstufig abgesenktes Becken umziehen; sorgfältige Auskleidung und Ausstattung von Boskettkabinetten mit Rasenstufen, Rasenbänken, Rasentheater, Verwendung von Rasen als Einfassung von Kaskaden. In Marly erkannte Gerold Weber „eigenständige ästhetische Qualitäten“, die von den Zeitgenossen und noch Jahrzehnte später als ein wegweisendes Modell erkannt wurden.71 Am Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. war der Garten von Marly nicht nur in der Architektur und Nutzung, sondern auch in der Gartengestaltung zu einem international erfolgreichen Gegenmodell zu Versailles ausgebildet. Seine Vorstellungen wurden durch den Theoretiker Noël-Antoine Pluche aufgegriffen, der im Garten „la nature même rapprochée sous nos yeux, et mise en œuvre avec art“ sehen wollte.72 Dezallier d’Argenville forderte bereits 1709 und verstärkt seit 1713 eine neue Natürlichkeit für die Gartenkunst. „Die Kunst weiche der Natur“: Dieses Postulat mündete in der Ausprägung des Rokokogartens im mittleren Drittel des 18. Jahrhunderts und seit den 1770er Jahren im französischen Jardin anglo-chinois73, der charakteristische Struktur- und Gestaltungsmotive der Anlage von Marly aufgriff: die Vereinzelung der Gebäude und im Garten die von Nicolas Bricaire de la Dixmerie 1765 für Marly beschriebenen „beautés de l’Art rapprochées de celles de la Nature“74, also jene künstliche Natürlichkeit, welche diesen Garten von Anfang an auszeichnete.
6. „Making our beds upon the grassie bank”75 Der Rasen ist ein Gestaltungselement, das dem um 1700 in einem Garten flanierenden Spaziergänger „Natürlichkeit“ signalisierte, in England und Frankreich gleichermaßen. Die wesentliche Neuerung aber, die zu einer neuen sozialen Nutzung der Gartenräume einlud, war die vermehrte Anlage von Boulingrins und Rasenglacis, auf denen sich die Spaziergänger niederlassen konnten: „un agrément pour se reposer après une longue promenade“.76 Es ist ein sowohl in Frankreich als auch in England erfahrener Künstler, der eine extensive Nutzung des Rasens wiedergibt und ihn damit als natürlichen Aktionsraum der höfischen Gesellschaft darstellt: der französische Kupferstecher und Verleger Jacques Rigaud (1680–1754).77 Im Zeitraum zwischen 1729 bis Anfang der 1750er Jahre schuf er in mehreren Einzelserien Veduten französischer Schlösser und Gärten, die zu einer Serie zusammengefasst und nach seinem Tod von seinem Neffen Jean-Baptiste weitergeführt wurden. Auf Einladung des englischen königlichen 71 72
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Weber, Marly (wie Anm. 34), 55. Zitiert nach Dennerlein, Gartenkunst (wie Anm. 1), 28; Wimmer, Gartentheorie (wie Anm. 1), 135– 141. Vgl. Iris Lauterbach, Einführung, in: Georges-Louis Le Rouge, Détail des nouveaux jardins à la mode. Paris 1775–1790. Ndr. Nördlingen 2009, 32–34. Zitiert bei Weber, Marly (wie Anm. 34), 55. Wie Anm. 66. Dezallier, Théorie et pratique du jardinage, 1709 (wie Anm. 16), 73. Vgl. zuletzt Bruno Bentz/Benjamin Ringot, Jacques Rigaud et les recueils des Maisons royales de France, in: Nouvelles de l‘estampe 224, 2009, 22–34.
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Abb. 6
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Jacques Rigaud, „Vue du Chateau de Marli“, Radierung und Kupferstich
Hofgärtners Charles Bridgeman arbeitete Rigaud von 1733 an einige Jahre in England, wo er sich zunächst in Claremont aufhielt und Ende der 1730er Jahre die Landschaftsgärten von Chiswick und – im Auftrag Lord Cobhams – Stowe (1739) porträtierte.78 Rigauds umfangreiches Werk belegt seinen hohen Rang in der Geschichte der topographischen Vedute: In originellen Perspektiven zeigt er französische und englische Schlösser und Gärten sowie Pariser Stadtszenen, die allesamt ungewöhnlich dicht belebt sind von städtischem und höfischem Publikum. In vielen Varianten wählte er Schrägansichten der Schlösser, Gärten und Plätze und führte damit ein innovatives Motiv ein, das später von anderen Kupferstechern nachgeahmt wurde. Für die Geschichte der Gartenkunst ist Rigauds Werk aber auch deshalb aufschlussreich, weil er nicht nur Parterres, Alleen und Bosketts von Gärten differenziert wiedergibt, die in der Phase der Régence und des Rokoko zunehmend natürlicher gestaltet wurden, sondern auch eine neue soziale Nutzung des Gartens dokumentiert, die gleichzeitig galant und ländlich ist (Abb. 6). Auf den Wegen promenieren wie gewohnt in angeregter Konversation Paare und Gruppen. Trotz ihrer auffallend modischen und eleganten Gewänder aber lagern Damen wie Herren auf den Rasenflächen der Parterres à l’angloise, den Boulingrins und Rasenglacis (etwa in Saint-Germain-en-Laye, Marly, Sceaux, Clagny). Dies ist neu. Die Betonung natürlicher 78
Stowe gardens in Buckinghamshire laid out by Mr. Bridgeman, delineated in large plan, and fifteen perspective views drawn on the spot by Mons. Rigaud. Ndr. London 1987, Nachwort George B. Clarke; Peter Willis, Jacques Rigaud’s Drawings of Stowe in the Metropolitan Museum of Art, in: EighteenthCentury Studies VI, 1972, 1, 85-98; Jacques Carré, Through French Eyes. Rigaud’s Drawings of Chiswick, in: Journal of Garden History 2, 1982, 2, 133-142; Harris, The Palladian revival (wie Anm. 14); Peter Willis, Charles Bridgeman and the English Landscape Garden. Newcastle upon Tyne 2002.
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Gartengestaltung ging mit veränderten Formen des Sozialverhaltens einher. Leichtigkeit und Ungezwungenheit prägten seit der Régence ein neues Modell des gesellschaftlichen Umgangs und der Konversation.79 Jacques Rigaud kannte die durch den Gärtner Charles Bridgeman angelegten frühen englischen Landschaftsgärten Claremont, Chiswick und Stowe, in denen das Schreiten und Sitzen auf dem Rasen üblich war. Das kunstvoll natürliche, mehrfach in Kupferstichen wiedergegebene Rasenamphitheater im Garten von Claremont wirkt wie eine direkte Weiterentwicklung der Rasenbosketts von Marly (Abb. 4), wurde durch Bridgeman aber erst mehr als zwei Jahrzehnte später, in den 1720er Jahren, angelegt.80 Womöglich hat Rigaud hier, mehr als bisher bekannt, eine Vermittlerrolle gespielt. Zur Pflege von Alleen und Rasen bediente man sich in England, wie schon André Mollet schrieb, breiter Walzen, was im Effekt „une très belle décoration dans les jardins“81 ergebe. Eine kuriose Variante ist ein englischer Gartensessel auf breiten Walzen, der dem Sitzenden Bequemlichkeit bot und gleichzeitig den Rasen planierte. 1775 wurde dieser praktische Planiersessel in die Motivsammlung des Stichwerks von Georges-Louis Le Rouge aufgenommen.82 Die Haltung von Schafen als natürliche „Rasenmäher“ in englischen Gärten rief Kritik hervor, da der Kot die Kleidung beschmutzte. Übertrug Rigaud die legere Nutzung englischer Landschaftsgärten auf seine Darstellung französischer Gärten, oder handelt es sich um das sowohl in England als auch in Frankreich gleichzeitige Aufkommen eines „natürlicheren“ Sozialverhaltens vor natürlicherer Kulisse? Rigaud kannte die im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts entstandenen, vor allem bei einem bürgerlichen Sammlerpublikum erfolgreichen Fêtes galantes von Antoine Watteau und übertrug diese Visionen einer freien Kommunikation der Geschlechter vor scheinbar natürlicher Kulisse in seine Veduten englischer und französischer Schlösser. So wie in Watteaus auffälliger Kontrastierung der kostbaren Seidengewänder der Frauen und Männer mit den im Ungewissen verschwimmenden Baumkulissen eine programmatische Unterscheidung zwischen Kunst und Natur liegt, so betont auch Rigaud die Wechselwirkung natürlicher Gartenkunst und kodifizierter sozialer Interaktion. Das Modell eines sichtbaren Zusammenspiels von Garten, Emotion und Kommunikation sollte bis ins späte 18. Jahrhundert hinein wirksam bleiben.83 79
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Vgl. La vie de Philippe d’Orléans, petit-fils de France, Régent du Royaume, London 1737, passim. S. auch Hansmann, Das Gartenparterre (wie Anm. 18), 17 über das Sitzen auf dem Rasen; Iris Lauterbach, Raum Figur Bild: Zur Typologie der Gartenstaffage im 17. und 18. Jahrhundert, in: Hubertus Fischer (Hrsg. u. a.), Reisen in Parks und Gärten – Umrisse einer Rezeptions- und Imaginationsgeschichte (im Druck). Willis, Bridgeman (wie Anm. 78), 48–50; Abb. 30–32. Mollet, Le jardin de plaisir (wie Anm. 15), 36. Le Rouge, Nouveaux jardins (wie Anm. 73), Heft II, Taf. 5. Vgl. Andrea Linnebach, „Der Rasen ist Tisch und Stuhl zugleich“ – Höfische Gartenfeste der Aufklärungszeit, in: Hildegard Wiewelhove (Hrsg.), Gartenfeste. Das Fest im Garten. Gartenmotive im Fest, Ausstellungskatalog. Bielefeld 2000, 102–107; Werner Busch, Daniel Chodowieckis „Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens“, in: Ernst Hinrichs/Klaus Zernack (Hrsg.), Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann. (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 22.) Tübingen 1997, 77–99.
Der Absolutismus als „neues Modell“? Überlegungen zur Erforschung absolutistischer Repräsentationen in der Frühen Neuzeit Lothar Schilling
Diskutiert man über neue Modelle im Alten Europa, kann der Absolutismus schwerlich übergangen werden. Dies sei einleitend an zwei Beispielen verdeutlicht, die auf den ersten Blick überraschen mögen. Obwohl in Polen spätestens seit den Konstitutionen des Sejm von Radom im Jahre 1505 verfassungsrechtlich festgeschrieben war, dass die königliche Gesetzgebung stets der Zustimmung des Senats und der Landboten bedurfte1, ließen sich die polnischen Könige des 16. und frühen 17. Jahrhunderts als absolut bezeichnen. In Schriftstücken der königlichen Kanzlei findet sich immer wieder der Hinweis auf die plenitudo potestatis des Königs. Besonders nachdrücklich auf seiner absoluten Gewalt beharrte Stefan Batory (1576 bis 1586), der zu einem Zeitpunkt König wurde, als sich nach dem Fall des litauischen Erbrechts (1569) und dem Aussterben der Jagiellonen (1572) die Wahlmonarchie definitiv etablierte. In einer Radikalität, wie sie sonst nur Ludwig XIV. zugeschrieben wird, stellte Batory fest: „Mea persona et Respublica idem sunt, ego Reipublicae personam gero“2. Stefan Batory war ein zupackender König, der Handlungsspielräume entschieden nutzte und ganz offensichtlich bestrebt war, seinen Herrschaftsanspruch mit allen nur erdenklichen Mitteln zu unterstreichen – dazu gehörte nach seinem Selbstverständnis auch der Anspruch auf die plenitudo potestatis, auf die absolute Herrschaftsgewalt.
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Druck der in Radom verabschiedeten Konstitution „Nihil novi“ aus dem Jahre 1505 in: Stanisław Grodziski/Irena Dwornicka/Wacław Uruszczak (Hrsg.), Volumina Constitutionum. Bislang 2 Bde. Warschau seit 1996, Bd. I/1: 1493–1526, 1996, 138–143; zum Ganzen Gotthold Rhode, Geschichte Polens. Ein Überblick. 3. Aufl. Darmstadt 1980, 149, 177; Alfons Brüning, Unio non est unitas: PolenLitauens Weg im konfessionellen Zeitalter (1569–1648), Wiesbaden 2008, 75; Maciej Serwański/ Michal Zwierzykowski, Entre le centralisme et la décentralisation. L’évolution des diétines dans le système institutionnel de la Pologne (XVIe–XVIIIe siècles), in: Marie-Laure Legay/Roger Baury (Hrsg.), L’invention de la décentralisation. Noblesse et pouvoirs intermédiaires en France et en Europe, XVIIe–XIXe siècles. (Études présentées à la Commission Internationale pour l’Histoire des Assemblées d’États, Bd. 87.) Villeneuve d’Ascq 2009, 229–240, hier 231. Zitiert nach Konstanty Grzybowski, Les éléments monocratiques en Pologne (XVIe–XVIIIes), in: La monocratie. (Recueils de la société Jean Bodin pour l’Histoire Comparative des Institutions, Bd. 20–21.) 2 Bde. Brüssel 1969–1970, Bd. 2, 1969, 699–725, hier 706, sowie bei Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, 78; vgl. ferner Wacław Uruszczak, Constitutional Devices Implementing State Power in Poland, 1300–1700, in: Antonio Padoa Schioppa (Hrsg.), Legislation and Justice. (The Origins of the Modern State in Europe, Bd. C.) Oxford 1997, 175–196, bes. 176f.
Der Absolutismus als „neues Modell“?
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Das zweite Beispiel betrifft die frühneuzeitliche Confoederatio Helvetica. Hier bildete der Anspruch, eine „Absolute, Independente, Souveraine und zugleich auch Neutrale Republic“ zu sein, den definitorischen Kern des sich im 17. Jahrhundert etablierenden republikanischen Selbstverständnisses der politischen Eliten. Diesen Eliten schien der Hinweis auf die Absolutheit der Republik offenbar besonders geeignet, zu unterstreichen, dass sie im Hinblick auf ihre Staatlichkeit und ihre Unabhängigkeit dem mächtigen, politisch wie kulturell nach Hegemonie strebenden Nachbarn Frankreich in nichts nachstand.3 Was zeigen diese beiden Beispiele? Sie verdeutlichen zunächst, wie weit das politische Ideal der „Absolutheit“ im Europa der Frühen Neuzeit verbreitet war, und legen es somit nahe, dieses Ideal als erfolgreiches „neues Modell“ zu untersuchen. Sie werfen aber auch ein Schlaglicht auf die Schwierigkeit, genau abzugrenzen, was man unter dem politischen Ideal der „Absolutheit“ in der Frühneuzeit verstand. Das traditionelle Konzept des Absolutismus vermag die anhand der beiden Beispiele dokumentierte Attraktivität des politischen Absolutheitsideals in der Frühneuzeit jedenfalls schwerlich zu erfassen. Dieses Konzept greift zwar frühneuzeitliche Formeln auf, geht aber bekanntlich auf eine Prägung aus der Spätphase der Französischen Revolution zurück, die ursprünglich auf die Diffamierung der gestürzten Monarchie abzielte, ehe sie von einem negativ besetzten politischen zu einem positiv besetzten historischen Konzept umgeformt wurde.4 So bezeichnet Absolutismus bis heute eine auf unumschränktes monarchisches Regiment angelegte Staatsform, die tiefgreifend auf die entsprechenden Gesellschaften einwirkte, gestützt auf die von Partizipationsansprüchen wie auch von den überkommenen menschlichen Gesetzen unabhängige Gesetzgebungsbefugnis des Monarchen und legitimiert durch Gottesgnadentum, dynastisches Erbrecht und die Gewährleistung von Sicherheit und Wohlstand.5 Es dürfte einleuchten, dass keines der beiden eingangs skizzierten Beispiele mit diesem Absolutismus-Konzept angemessen zu fassen ist, da es begrenzte Wahlmonarchien und erst recht nicht-monarchische Herrschaftsordnungen per definitionem ausschließt. Im Folgenden wird zunächst eine kulturgeschichtlich akzentuierte Kritik und „relecture“ des Absolutismus-Konzepts versucht (I.), um auf dieser Grundlage der Frage nachzugehen, inwieweit man Absolutismus als frühneuzeitliches Modell deuten kann, und nach dem Verhältnis von absolutistischen Repräsentationen und Herrschaftspraxis zu fragen (II.). Anschließend sollen – dem Leitthema der Tagung folgend – zwei Probleme näher beleuchtet werden: die Frage der inhaltlichen Geschlossenheit des Absolutismus (III.) und die Frage 3
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Vgl. Thomas Maissen, Eine „Absolute, Independente, Souveraine und zugleich auch Neutrale Republic“. Die Genese eines republikanischen Selbstverständnisses in der Schweiz des 17. Jahrhunderts, in: Michael Böhler/Etienne Hofmann/Peter Reill/Simone Zurbuchen (Hrsg.), Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers. Lausanne 2000, 129–150, das Zitat: 144f. Vgl. zur Begriffsgeschichte Lothar Schilling, Art. Absolutisme, in: Olivier Christin (Hrsg.), Dictionnaire européen des sciences sociales/European Dictionary of the Social Sciences. Paris 2010, 25–38. Prägnant zusammengefasst findet man dieses Konzept bei Johannes Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Régime. 2. Aufl. Göttingen 1999, 20.
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nach dessen „Neuheit“ (IV.). Da ein eventuelles „Modell Absolutismus“ spätestens im 18. Jahrhundert kaum mehr als neu gegolten haben dürfte, da sich nun zudem ein neues, aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein6 und ein neuerungsfreudiger Politikstil durchsetzten, stellt sich für diese Epoche auch die Frage nach „neuen Modellen“ ganz anders. Der „Aufgeklärte“ oder Reformabsolutismus7 des späteren 18. Jahrhunderts muss hier somit außer Betracht bleiben.
I. In jüngerer Zeit haben zumal in Deutschland viele Historiker Abstand vom Absolutismus genommen. Jenseits intellektueller Moden und des auch unter Historikerinnen und Historikern nicht unbekannten Herdentriebs liegen der Absetzbewegung ernsthafte Einwände zugrunde8: 1) Kritisiert wird die Unschärfe des Begriffs, die unter anderem daran deutlich wird, dass es nicht möglich ist, ihm quellengestützte Gegenbegriffe gegenüberzustellen. Der Begriff „Republik“ bezeichnete in der Frühneuzeit (etwa bei Bodin) oft das Gemeinwesen schlechthin, auch „Stände/ états/ Staaten“ wurde weit umfassender verstanden als heute von der historischen Forschung; Ständeversammlungen wurden im 16. und 17. Jahrhundert nicht unbedingt als unvereinbar mit einer absoluten Monarchie erachtet; der Begriff „Peripherie“ war in der politischen Sprache unüblich. 2) Mit dem ersten Problem verknüpft ist die unklare zeitliche Ein- und Abgrenzung des Absolutismus, die auch durch Binnenperiodisierungen wie die auf Wilhelm Roscher zurückgehende Unterscheidung zwischen „konfessionellem“, „höfischem“ und „aufgeklärtem“ Absolutismus nicht zu lösen ist. 3) Der älteste und am häufigsten begegnende Einwand zielt auf die begrenzte Wirksamkeit des „Absolutismus“ jenseits der höfisch-bürokratischen Zentralsphäre. Inzwischen sind 6
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Vgl. zu diesem Wandel grundsätzlich Reinhard Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, zuerst 1967, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, 38–66; ders., Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, zuerst 1968, in: ebd., 17–37; ders., Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Herzog/Reinhard Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12.) München 1987, 269–282; Johannes Burkhardt, Strukturelemente der neuen historischen Wissenschaften, in: August Nitschke (Hrsg.), Verhaltenswandel in der Industriellen Revolution. Beiträge zur Sozialgeschichte. Stuttgart 1975, 73–91. Vgl. zusammenfassend nun Walter Demel, Art. Reformabsolutismus, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bislang 11 Bde. Stuttgart/Weimar seit 2005, Bd. 10, 2009, 785–794. Im Folgenden sollen lediglich die wichtigsten Argumente einer Debatte zusammengefasst werden, die inzwischen als bekannt vorausgesetzt werden kann; auf Einzelnachweise wird deshalb verzichtet. Vgl. mit den entsprechenden Nachweisen Lothar Schilling, Vom Nutzen und Nachteil eines Mythos, in: ders. (Hrsg.), Absolutismus – ein unersetzliches Forschungskonzept? L’absolutisme – un concept irremplaçable? Eine deutsch–französische Bilanz. Une mise au point franco–allemande. (Pariser Historische Studien, Bd. 79.) München 2008, 13–32, insbesondere 14–22; Wolfgang Reinhard, Zusammenfassende Schlußüberlegungen, in: ebd., 229–239; ferner Dagmar Freist, Absolutismus. (Kontroversen um die Geschichte) Darmstadt 2008.
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die meisten diesbezüglichen Einwände – ob sie nun das Fortbestehen ständischer und korporativer Strukturen, die begrenzte Effizienz der fürstlichen Beamtenapparate oder die mangelnde Befolgung von Gesetzen anbelangen – seitens der Absolutismusforschung grundsätzlich anerkannt, die aber dennoch argumentiert, der Absolutismus stelle das prägende Strukturmerkmal der Epoche dar. 4) Gegen diese Einschätzung wird eingewandt, das Absolutismusparadigma verstelle das Verständnis wichtiger Charakteristika frühneuzeitlicher Herrschaft. Tatsächlich hat die Forschung Strukturmerkmale herausgearbeitet, die kaum ins herkömmliche Bild des Absolutismus passen; darunter etwa a) die strukturelle Notwendigkeit von Konsens, Kompromiss und verschiedensten Formen des „Aushandelns“ von Interessen und Ansprüchen für die Legitimität und Stabilität von Herrschaftsbeziehungen, b) die zentrale Rolle, die Patronage- und Klientelstrukturen in der frühneuzeitlichen Herrschaftspraxis zukam, c) die konstitutive Funktion von Petitionen, Suppliken und Gravamina als Voraussetzungen eines den jeweiligen lokalen Bedingungen angepassten Herrschaftshandelns. 5) Ein Einwand betrifft schließlich die ideologischen Implikationen des Absolutismus-Konzepts – darunter nicht zuletzt die Fixierung auf den Macht- und Anstaltsstaat als Fluchtund Zielpunkt der historischen Entwicklung. Ungeachtet dieser Kritik besteht in der Forschung weitgehend Einigkeit, dass in Europa vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert in großer Breite Diskurse und Performanzen zu beobachten sind, die auf die extreme Überhöhung des Monarchen (und gelegentlich sogar nicht monarchischer Herrschaftsordnungen) abzielten, seine (bzw. ihre) Ungebundenheit, ja Entrücktheit betonten und für eine Stärkung seiner (bzw. ihrer) Prärogative eintraten.9 Unübersehbar ist auch, dass diese postulierenden, propagandistischen, ja teilweise regelrecht mythisierenden Quellen (wie etwa juristische und staatstheoretische Werke, fürstliche Selbstzeugnisse, Instruktionen und Memoranden und die Quellen aus dem Bereich der höfischen Repräsentation) seitens der Absolutismusforschung bevorzugt herangezogen wurden. Insofern ist das in der Absolutismusdebatte der letzten Jahre immer wieder begegnende Argument, der Absolutismus sei ein Mythos, nicht unberechtigt. Andererseits erscheint es einigermaßen naiv, dem frühneuzeitlichen Mythos eine mythos- und propagandalose politische „Wirklichkeit“ gegenüberstellen zu wollen. Nicht der postulierende, überhöhende Charakter der von der Absolutismusforschung traditionell herangezogenen Quellen ist problematisch, sondern der verbreitete Versuch, diese Quellen entweder als objektive Beschreibungen von Herrschaftsverhältnissen auszugeben oder aber die Diskrepanz zwischen ihren Aussagen und den ihnen entgegenstehenden Befunden teleologisch aufzulösen, indem man sie als Ausdruck eines zielgerichtet-sinnhaften, aber wegen des Widerstands retardierender Kräfte noch nicht vollends erfolgreichen Strebens der Idee des Machtstaats deutet. Angemessener und ertragreicher ist es, den Absolutismus mit Hilfe kulturgeschichtlicher Ansätze als labile, veränderliche Konstruktion der Frühneuzeit zu analysieren, als Vorstellungswelt, in der Einflussmöglichkeiten und Herrschaftsansprüche symbolisch repräsentiert 9
Zum Folgenden Schilling, Vom Nutzen und Nachteil (wie Anm. 8), 24–26.
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Lothar Schilling
wurden. So notwendig es ist, Abschied zu nehmen von den teleologischen Großerzählungen des 19. Jahrhunderts und den damit verbundenen Ideologemen, so lohnend ist es andererseits, die monarchische Herrschaft überhöhenden Repräsentationen, die Diskurse und Performanzen systematisch zu untersuchen und nach ihren Funktionen zu fragen.
II. Der Ansatz, den Absolutismus als frühneuzeitliches Modell zu untersuchen, ist prinzipiell mit dem vorgestellten Absolutismus-Konzept vereinbar. Versteht man – ausgehend von der Allgemeinen Modelltheorie Stachowiaks10 – Modelle als komplexe Repräsentationen, die eine begrenzte Zahl in pragmatischer Absicht ausgewählter Attribute eines Gegenstands darstellen, so wäre das „Modell Absolutismus“ als ein Set zeitgenössischer frühneuzeitlicher Repräsentationen von Herrschaft zu definieren. Dabei muss die bereits in der frühneuzeitlichen Philosophie – etwa zwischen Leibniz und Locke – umstrittene Frage, nach welchen Kriterien (Ähnlichkeit, funktionale Analogie, wesenhafte Übereinstimmung usw.) die zur Modellbildung herangezogenen Attribute ausgewählt werden11, wie sich also das Modell zum repräsentierten Gegenstand verhält, nicht theoretisch geklärt werden – es genügt, dieses Verhältnis anhand konkreter absolutistischer Repräsentationen zu untersuchen. Auch die für eine mögliche Modellbildung maßgeblichen pragmatischen Absichten müssen (und sollten) nicht a priori theoretisch eingegrenzt werden, doch ist unverkennbar, dass absolutistische Repräsentationen vor allem die Außerordentlichkeit, Ungebundenheit und Unantastbarkeit der Herrschaft betonten, während sie die kompromisshaften Züge frühneuzeitlicher Herrschaftspraxis systematisch ausblendeten oder als Ausfluss spezifischer Herrschaftstugenden wie etwa der Milde deuteten. Ein mögliches „Modell Absolutismus“ wäre also konstituiert durch frühneuzeitliche Bestrebungen, die darauf abzielten, durch die Auswahl bzw. Betonung einzelner positiver Charakteristika die Stellung oder die Person des Monarchen (bzw. in seltenen Fällen auch nicht-monarchische Herrschaftsordnungen) als unantastbar, ungebunden, kurzum: als absolut darzustellen – mit dem Ziel, Legitimität, Zusammenhalt bzw. Sinn zu stiften. Ein möglicher Effekt dieser Modellbildung wäre die europaweite Zirkulation entsprechender Repräsentationen und ihre Übernahme durch andere Monarchen bzw. Herrschaftsträger. Vor einem Missverständnis sei freilich gewarnt: Modell heißt weder Idee noch Masterplan. Lange ist zumal die deutsche, vom philosophischen Idealismus des 19. Jahrhunderts geprägte Absolutismusforschung der Vorstellung gefolgt, die postulierenden, idealisierenden, überhöhenden absolutistischen Repräsentationen der Frühen Neuzeit seien Ausdruck der nach Verwirklichung strebenden „Idee“ des Machtstaates. Doch diese Repräsentationen 10
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Vgl. Herbert Stachowiak, Allgemeine Modelltheorie. Wien 1973, insbesondere 130–133; Stachowiak sieht Modelle durch drei Merkmale bestimmt: das Abbildungs- bzw. Repräsentations-, das Verkürzungs- und das pragmatische Merkmal. Vgl. zur frühneuzeitlichen philosophischen Diskussion über Modelle Friedrich Kaulbach/Klaus Mainzer, Art. Modell, in: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. 12 Bde. Darmstadt 1971–2004, Bd. 6, 1984, 45–50, hier 45f.
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boten in der Regel keine unmittelbar umsetzbaren Pläne zur Umgestaltung der politischen Wirklichkeit, sondern begründeten symbolisch Ansprüche und lieferten Deutungsangebote. Wie hätte man auch höfische Inszenierungen, etwa die Balletts, bei denen Ludwig XIV. als Apollo auftrat12, herrschaftspraktisch „verwirklichen“ sollen? Selbst die gelehrten, sich in jahrhundertealte Argumentationsstränge einschreibenden Werke frühneuzeitlicher Juristen über Souveränität und absolute Gewalt waren in der Regel alles andere als Anleitungen zur Gestaltung der rechtlichen und politischen Ordnung. Wenn etwa der von Richelieu geförderte Jurist Cardin Le Bret in seinem Werk über die Souveränität postulierte, letztere sei ebenso unteilbar wie der Punkt in der Geometrie13, so war dies gewiss ein einprägsames Bild, das zumal gegenüber den Partizipationsansprüchen der Obergerichte zur Legitimation des vom französischen König beanspruchten alleinigen Gesetzgebungsrechts herangezogen werden konnte. Doch lieferte Le Bret keinen Plan für die grundlegende Veränderung der Verfassungsordnung oder auch nur für die Gestaltung des Regierungshandelns – zumal er in demselben Werk auch Aussagen (etwa zum Widerstandsrecht von Amtsträgern)14 vorstellte, die sich schwerlich in ein praktikables „Modell Absolutismus“ eingefügt hätten. Die absolutistischen Repräsentationen der Frühneuzeit sollten also nicht vorschnell und ungeprüft als Konstituenten einer operativen oder prospektiven Modellbildung15 charakterisiert werden. Vielmehr gilt es ihre Autonomie gegenüber der Herrschaftspraxis zu berücksichtigen. Sie waren zwar in herrschaftlich strukturierte Dispositive eingebunden und in der Regel auf die Herrschaftspraxis bezogen, konnten aber doch in einem von Fall zu Fall ganz unterschiedlichen Spannungsverhältnis zu dieser Praxis stehen. Sie zielten gewiss häufig auf deren Idealisierung und Überhöhung, dienten aber auch der Kritik – oder der Ablenkung, indem sie gerade die Schwächen der jeweiligen Herrschaftsträger bemäntelten.16 So ist es kein Zufall, dass im frühneuzeitlichen Frankreich nie häufiger von der absoluten Gewalt des 12
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Vgl. Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Berlin 1993; Rudolf Braun/David Guggerli, Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550– 1914. München 1994. Cardin Le Bret, De la souveraineté du Roy, zuerst 1632, zitiert nach: Les œuvres de Messire C[ardin] le Bret [...], Revües, corrigées & augmentées par l’Autheur. Paris 1635, 1–336, hier 34: „l’on demande, si le Roy peut faire & publier tous les changemens des Loix & d’Ordonnances, de sa seule authorité, sans l’advis de son Conseil, ny de ses Cours souveraines. A quoy l’on respond, que cela ne reçoit point de doute, pource que le Roy est seul Souverain dans son Royaume, & que la souveraineté n’est non plus divisible, que le poinct en la Geometrie.“ Vgl. etwa Vittor Ivo Comparato, Cardin Le Bret: ,royauté‘ e ,ordre‘ nel pensiero di un consigliere del ‘600. (Il pensiero politico, Bd. 2.) Florenz 1969. Vgl. etwa Le Bret, De la souveraineté (wie Anm. 13), 107f. Vgl. Stachowiak, Allgemeine Modelltheorie (wie Anm. 10), 99, 269–281. Die Modelltheorie Stachowiaks betont zeitbedingt die praxeologische Bedeutung der Modellbildung für die technologische und politische Planung. Eben diese Dimension geht den absolutistischen Diskursen und Performanzen in der Regel ab; es wäre problematisch, sie im Wege der Verwendung des Modell–Konzepts in das „Modell Absolutismus“ hineinzuprojizieren. Dies betont bereits Denis Crouzet, Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion vers 1525 – vers 1610. 2 Bde. Paris 1990, hier Bd. 2, 624: „L’absolutisme [...] est d’abord langage; il est un discours qui, s’il authentifie la ,potestas absoluta‘ du roi, n’est pas moins un écran destiné à cacher les faiblesses du pouvoir“.
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Königs die Rede war als während der Religionskriege, als die französische Monarchie unter den letzten Valois-Königen in ihren Grundfesten erschüttert wurde.17 Obschon die absolutistischen Repräsentationen meist weder getreue Abbildungen der Herrschaftspraxis noch klare Handlungsanweisungen oder Konstruktionspläne für deren Umgestaltung lieferten, sind sie historisch alles andere als irrelevant. Vielmehr erscheint es kaum möglich, die Herrschaftspraxis ohne die auf sie bezogenen symbolischen Repräsentationen zu verstehen. Dabei genügt es freilich nicht, die sich zwischen beiden auftuenden Widersprüche festzustellen oder gar zu versuchen, erstere durch letztere zu widerlegen. Vielmehr geht es darum, die jeweils konkreten Entstehungsbedingungen absolutistischer Repräsentationen, ihre Verwendung und ihre Funktion im Einzelnen zu untersuchen. Die Allgemeine Modelltheorie betont zu Recht, dass Modelle stets pragmatisch konstruiert bzw. genutzt werden. Dabei ist zu bedenken, dass die das „Modell Absolutismus“ konstituierenden Repräsentationen immer wieder neu akzentuiert, modifiziert, ja umgedeutet werden konnten. So zeigt etwa ein Blick auf den Absolutismusdiskurs im Frankreich der Religionskriege, dass die Berufung auf die absolute Gewalt auch bei der Krone nahestehenden Autoren bis etwa 1570 vorwiegend dazu genutzt wurde, dem Monarchen besondere Mäßigung nahezulegen. Im Gefolge der Bartholomäusnacht 1572 versuchte die Krone dann den Gebrauch des Absolutheitsarguments zu usurpieren, nun freilich, um außerordentliche Gewaltmaßnahmen zu begründen, die angeblich notwendig waren, um den Umsturz der öffentlichen Ordnung zu verhindern.18 Tatsächlich war die Bedeutung keines einzigen Elements der „absolutistischen“ Herrschaftsrepräsentation und keines Begriffs der „absolutistischen“ Staatstheorie fixier- bzw. kanonisierbar. Vielmehr war das „Modell Absolutismus“ stets Gegenstand von Deutungskonflikten. Was Nutzung und Funktion absolutistischer Repräsentationen anbelangt, ist bislang vor allem deren mächtepolitische Bedeutung kaum untersucht. Manches spricht indes für die Annahme, dass in vielen Fällen der Anspruch, über absolute Gewalt zu verfügen, primär von dem Bestreben geprägt war, im durch ständige Konkurrenz geprägten europäischen Mächtegefüge nicht ins Hintertreffen zu geraten und gegenüber anderen Mächten nicht als mindermächtig oder gar nachrangig zu erscheinen. Dies zeigt bereits ein Blick auf die Anfänge der Lehre von der absoluten Gewalt. Formeln wie jene von der plenitudo potestatis entstammten dem kanonischen Recht und fanden zunächst Eingang in päpstliche Rechtsakte. Der Bischof, Kanonist und Legist Hostiensis (Henricus de Segusio) griff im 13. Jahrhundert die im Rahmen der theologischen Diskussion um die Allmacht des Schöpfergottes übliche Unterscheidung zwischen der potestas ordinata und
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Vgl. Arlette Jouanna, Die Debatte über die absolute Gewalt im Frankreich der Religionskriege, in: Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700). (Münstersche Historische Forschungen, Bd. 9.) Köln/Weimar/Wien 1996, 57–78; Lothar Schilling, Normsetzung in der Krise. Zum Gesetzgebungsverständnis im Frankreich der Religionskriege. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 197.) Frankfurt a. M. 2005. Vgl. Denis Crouzet, Langages de l’absoluité royale, in: Schilling (Hrsg.), Absolutismus (wie Anm. 8), 107–139.
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der potestas absoluta auf und übertrug sie auf den Papst. Ganz allgemein bildete das Oberhaupt der Kirche ein überaus einflussreiches Vorbild für die Herleitung einer nicht an das überkommene Recht gebundenen Herrschaft aus dem göttlichen Recht und für die Parallelisierung der fürstlichen mit der göttlichen Gewalt.19 Jene Fürsten, die schließlich vom 14. Jahrhundert an eine potestas absoluta für sich beanspruchten, schlüpften, wie Ernst H. Kantorowicz es bildhaft formulierte, in die „Schuhe des Papstes“20; sie übernahmen großenteils die dessen Herrschaftsanspruch legitimierenden Formeln und Argumente. Dabei ging es ihnen in erster Linie darum, ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Papst und ihre Gleichrangigkeit mit anderen Monarchen zu unterstreichen. Als dann zu Beginn des 16. Jahrhunderts die französischen Juristen Jean Ferrault, Barthélemy de Chasseneuz und Charles de Grassaille versuchten, die von italienischen Humanisten vertretene Lehre von der Suprematie des Kaisers über alle anderen Monarchen zu widerlegen, indem sie die jeweiligen Herrschaftsrechte aller wichtigen europäischen Monarchen zusammentrugen (und dabei ganz selbstverständlich dem französischen König eine besondere Vorrangstellung zuerkannten), spielte erneut der Rekurs auf die Formeln des seit Hostiensis entwickelten „absolutistischen“ Diskurses eine entscheidende Rolle.21 Die Forschung hat die Werke der genannten Juristen denn auch als proto-absolutistisch oder gar als absolutistisch bewertet22, dabei aber ausgeblendet, dass keiner der drei auch nur im Ansatz über ein Konzept verfügte, das es erlaubt hätte, die Gesamtheit der von ihnen angeführten Herrschaftsrechte zusammenzufassen. Tatsächlich ging es Ferrault, Chasseneuz und Grassaille vorrangig um den Rang des französischen Königs im Vergleich zu den übrigen Monarchen
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Vgl. John A. Watt, The Theory of Papal Monarchy in the 13th Century. The Contribution of the Canonists. London 1965, 107–133; Kenneth Pennington, The Prince and the Law, 1200–1600. Sovereignty and Rights in Western Legal Tradition. Berkeley/Los Angeles/Oxford 1993, 106–118; Dieter Wyduckel, Princeps Legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre. (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 30.) Berlin 1979, 97–101. Ernst H. Kantorowicz, Mysteries of State. An Absolutist Concept and its Medieval Origins, zuerst 1955, erneut in: Selected Studies, hrsg. von Michael Cherniavsky/Ralph E. Giesey. New York 1965, 381–398, hier 382: „The Prince [...] had stepped into the pontifical shoes”. Jean Ferrault, Insignia pecularia christianissimi Francorum regni, numero viginti, seu totidem illustrissimae Francorum coronae prerogative ac preeminentie. Lyon 1512; Barthélemy de Chasseneuz, Catalogus gloriae mundi, laudes, honores, excellentias, ac Praeeminentias omnium fere statuum [...]. Lyon 1529; Charles Grassaille, Regalium Franciae libri duo. Jura omnia & dignitates christianiss. Galliae regis continentes. Carolo Degrassalio Carcassonensi authore. Item tractatus iura seu privilegia aliqua Regni Franciae continens, per Ioannem Ferrault V.I. licentiatum editus. Zuerst 1538, hier 3. Aufl. Paris 1545. Vgl. Enzo Sciacca, Ferrault, Chasseneuz e Grassaille. Alle origini della teoria della sovranità nel pensiero politico moderno, in: Studi in onore di Cesare Sanfilippo. Bd. 6. Mailand 1985, 695–752; Jacques Poujol, Jean Ferrault on King’s privileges. A study on the medieval sources in Renaissance political Theory, in: Studies in the Renaissance 5, 1958, 15–26; Henri Morel, L’absolutisme français procède-t-il du droit romain?, zuletzt in: ders., L’influence de l’antiquité sur la pensée politique européenne, préface de Michel Ganzin. Paris 1996, 113–130, hier 122.
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in Europa – eine auf die Veränderung der Herrschaftspraxis abzielende Modellbildung lag weit außerhalb ihres Horizonts.23 Obwohl die innenpolitische Bedeutung, ja Brisanz absolutistischer Argumentationen und Vorstellungen seit dem Zeitalter der Religionskriege eindeutig wuchs, gab es auch noch im 17. und 18. Jahrhundert gewichtige außenpolitische Motive für den Rekurs auf das „Modell Absolutismus“. Denn die Völkerrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts ging teilweise davon aus, dass auswärtigen Mächten gegenüber Republiken und eingeschränkten Monarchien ein Interventionsrecht zustehe, sofern Bürger oder Stände in Ausübung ihres Widerstandsrechts um Beistand nachsuchten, während sie ein Interventionsrecht gegenüber uneingeschränkten, absoluten Monarchien durchweg verneinte.24 Hier liegt der Grund für die oben angesprochene Qualifizierung der Schweiz als absolute Republik – und womöglich auch ein Motiv für die breite Rezeption von Formen der Hofhaltung, des Garten- und Schlossbaus, die der Überhöhung der Stellung des Fürsten dienten, in begrenzten und Wahlmonarchien.25 Bislang fehlen indes Untersuchungen, die etwa der Frage nachgehen, welche Bedeutung absolutistischen Repräsentationen und einer entsprechenden Reputation in der zeitgenössischen Wahrnehmung, der Beurteilung und dem Vergleich von Staaten zukam, und die prüfen, inwieweit der Rückgriff auf solche Repräsentationen womöglich außenpolitisch motiviert war. Doch auch im Hinblick auf die innere Politik sind Nutzung und Funktion absolutistischer Repräsentationen nur punktuell untersucht, da die traditionelle Absolutismusforschung ja zu wissen glaubte, wozu die entsprechenden Aussagen in den Quellen dienten. Erst wenn auf breiter Grundlage geklärt ist, welche Funktionen absolutistischen Repräsentationen zukamen, wie sie genutzt wurden, unter welchen Bedingungen ihre Diffusion und Rezeption erfolgte und in welchem Verhältnis sie jeweils zur Herrschaftspraxis standen, wird man auf gesicherter Grundlage entscheiden können, inwieweit von einem frühneuzeitlichen „Modell Absolutismus“ die Rede sein kann.
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Vgl. zum Ganzen jetzt Lothar Schilling, La comparaison dans le discours juridico-politique français du XVIe siècle, in: Armelle Lefebvre (Hrsg.), Comparaisons, raisons, raisons d’État: les politiques de la république des lettres au tournant du XVIIe siècle. München 2010, 14–26, hier 16–18. Vgl. etwa Emer de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, appliqués à la conduite et aux affaires des Nations et des Souverains. London 1758, Buch II, Kap. IV, §§ 56–59, 298–302 (dort heißt es etwa: „Se gouverner soi-même à son gré, c’est l’appanage de l’indépendance“, 300); zur Bedeutung dieses Grundsatzes bei Richelieu sowie in der völkerrechtlichen und staatstheoretischen Literatur des 17. Jahrhunderts vgl. Fritz Dickmann, Rechtsgedanke und Machtpolitik bei Richelieu. Studien an neuentdeckten Quellen, zuerst 1963, zuletzt in: ders., Friedensrecht und Friedenssicherung. Studien zum Friedensproblem in der neueren Geschichte. Göttingen 1971, 36–78, hier 42f. mit Anm.14 (S. 161). Vgl. zusammenfassend Heinz Duchhardt, Europa am Vorabend der Moderne, 1650–1800. Stuttgart 2003, 15f.; ferner die überzeugende Einzelstudie von Aloys Winterling, Der Hof der Kurfürsten von Köln, 1688–1794. Eine Fallstudie zur Bedeutung „absolutistischer“ Hofhaltung. Bonn 1986.
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III. Gewiss stimmten alle absolutistischen Repräsentationen insoweit überein, als sie die Ungebundenheit eines Monarchen (oder einer Herrschaftsordnung) betonten. Doch hinsichtlich der Leitbilder und Symbolisierungen, hinsichtlich der Herleitungen und Begründungen, aber auch hinsichtlich der Definition jener Normen und Bindungen, von denen der bzw. die Inhaber der absoluten Gewalt befreit sein sollten, unterschieden sich die betreffenden Repräsentationen oftmals grundsätzlich. Die Problematik, auf Basis dieser Repräsentationen den Modellbegriff anzuwenden bzw. von einem Modell im Singular zu sprechen, mag ein kurzer Blick auf die Aussagen zweier grundlegender Texte zu einem zentralen Problem der Absolutheit von Herrschaft, der Entbindung des Inhabers der absoluten Gewalt von den Gesetzen, verdeutlichen. Beide Texte werden traditionell der „absolutistischen Staatstheorie“ zugerechnet und haben als solche auch vielfach Eingang in historische Handbücher und Lehrwerke des Sekundarunterrichts gefunden: Jean Bodins Six livres de la République aus dem Jahre 1576 und der in ihrem Kern um 1680 entstandenen, zwischen 1700 und 1704 ergänzten und schließlich 1709 posthum publizierten Politique tirée des propres paroles de l’Écriture Sainte Jacques Bénigne Bossuets. Im Zentrum der von Bodin unter dem Eindruck der französischen Religionskriege vorgelegten politischen Theorie stand bekanntlich eine Neudefinition des seit dem Spätmittelalter geläufigen, aber bis dahin recht unscharfen Souveränitätsbegriffs. Den Kern der souveränen Gewalt nach Innen hin bildete ihm zufolge die Gesetzgebungskompetenz: „Le poinct principal de la maiesté souueraine, & puissance absolue“, heißt es in den Six livres de la République, „gist principalement à donner loy aux subiects en general sans leur consentement“.26 Als maßgebliche Gewalt des Souveräns nach Innen konnte man die Gesetzgebungskompetenz freilich nur definieren, wenn man voraussetzte, dass der Gesetzgeber von allen früheren Gesetzen entbunden war, denn nur so konnte er das von Menschen geschaffene Recht nach seinem Willen frei gestalten. Tatsächlich definierte Bodin unter Rückgriff auf römischrechtliche Parömien und eine seit dem 12. Jahrhundert geführte juristische Diskussion die souveräne Gewalt, die maiestas, als „summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas“.27 Die historische Forschung hat vielfach die Bedeutung dieses Ansatzes unterstrichen. So hat Helmut Quaritsch mit Blick auf Bodins Definition geradezu euphorisch von der ihrerseits nicht an Gesetze gebundenen Gesetzgebungskompetenz als von dem „archimedischen 26
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Jean Bodin, Les six livres de la République, zuerst 1576, hier zitiert nach der Ausgabe Paris 1583, Ndr. Aalen 1961, Buch I, Kap. 8, 142. Vgl. zu Bodins Souveränitätslehre etwa Horst Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München. München 1973; Jean Bodin. Actes du colloque interdisciplinaire d’Angers. Angers 1985; Simone Goyard-Favre, Jean Bodin et le droit de la république. Paris 1989; Olivier Beaud, La puissance de l’État. (Collection Léviathan). Paris 1994, 53–130; Yves Charles Zarka (Hrsg.), Jean Bodin. Nature, histoire, droit et politique, Paris 1996; Thomas Gergen: Art. Bodin, Jean (1529/30–1596), in: Albrecht Cordes u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl. Bislang 1 Bd. Berlin 2008, 692–694. Jean Bodin, De republica libri sex, Paris 1586, Buch I, Kap. 8, 78. Bodin greift hier die Parömie princeps legibus solutus (Digesten, 1.3.31) auf. Im französischen Text ist die Formulierung weniger prägnant, aber sinnentsprechend.
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Lothar Schilling
Punkt“ gesprochen, „von dem aus der staatliche Gesetzgeber der Neuzeit die alte Welt aus den Angeln zu heben vermochte“.28 Freilich sollte man nicht übersehen, dass Bodin in den Six livres an mehreren Stellen nachdrücklich davor warnt, von dem souveränen Recht, die von Menschen geschaffenen Gesetze nach Belieben zu ändern, in der Praxis ohne Not Gebrauch zu machen.29 Vor allem aber sollte bedacht werden, dass selbst Bodins mit vielerlei einschränkenden Empfehlungen für die Praxis versehene Definition auch im „absolutistischen“ Frankreich des 17. Jahrhunderts alles andere als unumstritten war. Zu den prominentesten Kritikern dieser Definition gehörte Jacques Bénigne Bossuet, der als Hofprediger und Prinzenerzieher am Hofe Ludwigs XIV. zu den engsten Beratern des Sonnenkönigs und zugleich zu den bedeutendsten politischen Theoretikern seiner Zeit gehörte. Wie Bodin gilt Bossuet als einer der wichtigsten Theoretiker des Absolutismus – tatsächlich markiert seine Politique in mancherlei Hinsicht, etwa was die sakrale Überhöhung zumal des französischen Königtums angeht, einen Höhepunkt des französischen Absolutismusdiskurses.30 Die legibus solutio indes, die Entbindung des Monarchen von den menschlichen Gesetzen, lehnte Bossuet entschieden ab. Zwar wiederholte er das bereits von Thomas von Aquin gebrauchte Argument, der Monarch könne nicht zur Einhaltung der Gesetze gezwungen werden, verwies aber ansonsten nachdrücklich auf die Konstitution digna vox des römischen Rechts, der zufolge der Fürst sich den Gesetzen unterwerfen solle, da seine Autorität von der Autorität des Rechts abhänge.31 Die Ablehnung der legibus solutio war vom Standpunkt Bossuets aus durchaus konsequent. Denn Bossuet rückte den sakral-providentiellen Charakter des französischen Königtums in den Vordergrund. Für ihn waren die französischen Könige Repräsentanten und Beschützer 28 29
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Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1: Grundlagen. Frankfurt a. M. 1970, 510. Bodin, Les six livres de la République (wie Anm. 26), Buch IV, Kap. 3, 576: „parlant des edicts & ordonnances volontaires, encores qu’elles soyent tresbelles & utiles en soy, neantmoins le changement est tousiours perilleux“. Jacques-Bénigne Bossuet, Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture sainte. Edition critique avec introduction et notes par Jacques Le Brun. Genf 1967; vgl. zu Bossuets Biographie etwa Jean Meyer, Bossuet. Paris 1993; Georges Minois, Bossuet. Entre Dieu et le Soleil. Paris 2003; zur nach wie vor geläufigen Einschätzung des Bossuetschen Werks als „point culminant de l’absolutisme“ Marcel Prélot, Histoire des idées politiques. 2. Aufl. Paris 1961, 308; vgl. ferner Lothar Schilling, Bossuet, die Bibel und der ,Absolutismus‘, in: Andreas Peçar/Kai Trempedach (Hrsg.), Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beih. 43.) München 2007, 349–370. Bossuet, Politique (wie Anm. 30), IV/I/4, 97: „De là cette belle loi d’un empereur romain: ‚C’est une parole digne de la majesté du prince, de se reconnaître soumis aux lois‘ “; Bossuet gibt die Konstitution ‚digna vox‘ der Kaiser Theodosius II. und Valentinian III. aus dem Jahr 429 wieder: Codex Iustinianus, 1.14.4: „Digna vox maiestate regnantis legibus alligatum se principem profiteri: adeo de auctoritate iuris nostra pendet auctoritas. Et re vera maius imperio est submittere legibus principatum“. Vgl. zur (auch von zeitgenössischen Theologen wie Mariana, Suarez und Escobar aufgegriffenen) Argumentation des Aquinaten etwa Wyduckel, Princeps Legibus Solutus (wie Anm. 19), 131f.; Sophie Petit-Renaud, ,Faire loy‘ au royaume de France de Philippe VI à Charles V (1328–1380). Paris 2003, 119f. und öfter.
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der natürlichen, gottgewollten, tradierten Ordnung der französischen Monarchie. Unter dieser Prämisse war schwer vorstellbar, die Könige zugleich von dieser als gottgewollt vorausgesetzten Ordnung zu entbinden. Die hier dargestellten Differenzen, die ein zentrales Bestimmungsstück dessen betreffen, was traditionell als Absolutismus bezeichnet wird, sind umso gewichtiger, als beide Texte, obschon im Abstand von mehr als hundert Jahren verfasst, zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie argumentieren jeweils mit Blick auf die politische Ordnung der französischen Monarchie und greifen eine weit ins Spätmittelalter zurückführende Argumentationstradition auf, die man plakativ als französischen Absolutismusdiskurs bezeichnen kann. Es ließen sich fraglos weit stärker divergierende Beispiele finden. Die Differenzen sind im übrigen sicher nicht damit zu erklären, dass Bossuet weniger „absolutistisch“ gewesen wäre als Bodin, zielte doch die Sakralisierung des Monarchen ebenso auf seine „absolutistische“ Überhöhung wie seine Entbindung von den Gesetzen. Die gegensätzlichen Aussagen Bodins und Bossuets zur legibus solutio führen vielmehr einerseits die inneren Spannungen und latenten Widersprüche des „absolutistischen“ Diskurses vor Augen; andererseits legen sie die Problematik einer eindimensionalen Betrachtungsweise offen, die sich, ausgehend von der Fiktion eines in sich geschlossenen und widerspruchsfreien Konzepts „Absolutismus“ darauf verlegt, den jeweiligen Grad der Annäherung an dieses Konzept zu bewerten.32 Tatsächlich aber gingen die absolutistischen Repräsentationen von ganz unterschiedlichen theoretischen Prämissen aus und knüpften an ganz unterschiedliche Traditionen an. Sieht man vom Postulat bzw. der symbolischen Darstellung der Absolutheit ab, fügten sich ihre Argumente, Darstellungen und Performanzen schwerlich zu einem einheitlichen, kohärenten Modell. Nun liegt ein Vorteil einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Absolutismusforschung gerade darin, dass sie die dem traditionellen Absolutismusverständnis inhärente Annahme eines in sich geschlossenen Systems des Absolutismus, dem konsequenterweise nur Nichtabsolutistisches entgegenstehen konnte, erübrigt. Stattdessen wird es möglich, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Versuche einer Überhöhung des Monarchen unterschiedliche Ansätze verfolgten, einander zum Teil widersprachen und auch in sich nicht immer konsistent waren. Auf dieser Grundlage lassen sich auch Phänomene möglicher Modellbildung untersuchen, wobei auf der Grundlage der bislang vorliegenden Befunde nicht von einem frühneuzeitlichen „Modell Absolutismus“, sondern von verschiedenen Modellen politischer Absolutheit auszugehen ist – Modellen, die offensichtlich in starkem Maße geprägt waren von der als vorbildhaft und nachahmenswert gedeuteten Herrschaftsinszenierung und -legitimierung einzelner Monarchien wie Frankreich.
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Diese Tendenz findet sich in vielen älteren Arbeiten zur politischen Theorie des Absolutismus, so etwa in der ansonsten noch immer sehr nützlichen Arbeit von William F. Church, Constitutional Thought in Sixteenth-Century France. A Study in the Evolution of Ideas, zuerst 1941. Ndr. New York 1969. Da Church die Aussagen der Zeitgenossen primär an einer eindimensionalen „Absolutismus– Skala“ misst, erscheint die Akzentuierung des Gottesgnadentums selbstverständlich als Steigerung des absolutistischen Moments; dass sie zugleich in einem inneren Widerspruch zur „absolutistischen“ Vorstellung der legibus solutio steht, kommt bei Church indes nicht zur Sprache.
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IV. Wie steht es um die „Neuheit“ des Absolutismus? Auf den ersten Blick scheint die Beantwortung dieser Frage einfach. Haben jene Monarchen, die traditionell dem Absolutismus zugerechnet werden, nicht viele Neuerungen angestoßen, haben sie nicht zahllose Gesetze erlassen und damit die überkommene Rechtsordnung verändert, haben sie nicht neue Steuern und Abgaben eingeführt, stehende Heere geschaffen, Partizipationsrechte von Ständeversammlungen und anderen Zwischengewalten beschnitten, den Behördenapparat ausgebaut …? Tatsächlich dürfte kaum zu bezweifeln sein, dass frühneuzeitliche Monarchen, die absolute Gewalt für sich reklamierten, ungeachtet der inzwischen von der Forschung hinreichend nachgewiesenen kompromisshaften Züge ihrer Herrschaft erhebliche Neuerungen bewirkt haben. Doch diese Antwort greift schon deshalb zu kurz, weil – die jüngere Forschung zu Problemen der Staatsbildung und der frühneuzeitlichen Policey zeigt dies überdeutlich – auch in eingeschränkten Monarchien und Republiken im Laufe der Frühneuzeit erhebliche Neuerungen verwirklicht wurden.33 Vielmehr ist zu fragen, inwieweit absolutistische Repräsentationen von den Zeitgenossen als neu wahrgenommen oder gekennzeichnet wurden und welche Rolle ihnen bei der Legitimierung von Neuerungen zukam. Auffällig ist zunächst, dass in der Frühneuzeit vor der Mitte des 18. Jahrhunderts grundlegende Änderungen der Sozial- und Verfassungsordnung nur selten als solche kenntlich gemacht und legitimiert wurden. Sonderfälle stellen indes die böhmische Verneuerte Landesordnung von 1627 und die dänische lex regia (dän. Kongelov) von 1665 dar, bei denen – aus jeweils unterschiedlichen Gründen – nicht nur faktisch, sondern auch symbolisch ein klarer Bruch gegenüber der bisherigen Ordnung vollzogen wurde. Die Verneuerte Landesordnung34 symbolisierte die von den siegreichen Habsburgern bewusst und deutlich sichtbar vollzogene Abkehr von der partizipativ-ständestaatlichen Tradition der böhmischen Monarchie und den Willen zur bedingungslosen Rekatholisierung des 33
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Vgl. zur Staatsbildung in eingeschränkten Monarchien und Republiken zusammenfassend Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (wie Anm. 2), 47–80 und 322–333; die Forschung zur frühneuzeitlichen Policey sind inzwischen kaum mehr zu überblicken; vgl. für einen aktuellen Forschungsüberblick Karl Härter, Art. Polizei, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 7), Bd. 10, 2009, 170–180. Vgl. Hugo Toman, Über die Tragweite der gesetzgebenden Gewalt des Königs und des Landtages in Böhmen nach der Verneuerten Landesordnung. Prag 1871; Otto Peterka, Rechtsgeschichte der böhmischen Länder in ihren Grundzügen dargestellt. 2 Bde. Ndr. der Ausgabe Reichenberg 1928/1933, Aalen 1965, hier Bd. 2, 135–143; Jörg K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert. München 1987, 238–240; Johannes Kunisch, Staatsräson und Konfessionalisierung als Faktoren absolutistischer Gesetzgebung. Das Beispiel Böhmen (1627), in: Barbara Dölemeyer/Diethelm Klippel (Hrsg.), Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit. (Zeitschrift für Historische Forschung, Beih. 20.) Berlin 1997, 131–156; Lutz Rentzow, Die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Verneuerten Landesordnung für das Königreich Böhmen von 1627. (Rechtshistorische Reihe, Bd. 172.) Frankfurt a. M. u. a. 1998; Hans-Wolfgang Bergerhausen, Die „Verneuerte Landesordnung“ in Böhmen 1627. Ein Grunddokument des habsburgischen Absolutismus, in: Historische Zeitschrift 272, 2001, 327–351; Marta Kadlecová, Verneuerte Landesordnungen in Böhmen und Mähren (1627/1628). Das prozessuale Vorverfahren, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 120, 2003, 150–179.
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Landes. Sie bedeutete gewiss eine Stärkung der Prärogative des Königs, unter anderem durch die Fixierung seines Gesetzgebungsmonopols – ob sie freilich als „Grunddokument des habsburgischen Absolutismus“ zu bewerten ist35, erscheint ungeachtet des mit ihr vollzogenen symbolischen Traditionsbruchs fraglich. Die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein geradezu symbiotischen Beziehungen zwischen feudalen Grundherren und Königtum, die inhaltlichen Parallelen zwischen der Verneuerten Landesordnung und den seit Ferdinand I. verfolgten Reformbemühungen sowie die in vielen Bereichen nachweisbare inhaltliche Kontinuität der Gesetzgebung über die Zäsur der 1620er Jahre hinweg sprechen gegen diese These.36 In der lex regia37 wurde der 1660/61 erfolgte „vertragsförmige Staatsstreich“38 Friedrichs III. von Dänemark durch ein schriftliches Verfassungsdokument sanktioniert, das unter anderem das Wahlkönigtum abschaffte, die Primogeniturerbfolge fixierte (§ 16) und die Einrichtung eines „mit allen jura majestatis, absoluter Macht, der Souveränität und allen Königlichen Vorrechten und Regalien“ ausgestatteten „Alleinherrschafts-Erbkönigtums“ vorsah39 – es ist dies in der europäischen Geschichte der Frühneuzeit der einzige Fall, in dem die absolute Monarchie durch eine Verfassungsurkunde begründet wurde. Auch dieser Schritt, der mit tiefgreifenden inneren Umwälzungen und zumal mit der Ablösung der feudalen Gesellschaftsordnung durch eine neue, durch Privilegien auf den König hin geordnete 35 36
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So die Kernthese von Bergerhausen, Die „Verneuerte Landesordnung“ (wie Anm. 34). Vgl. in diesem Sinne einige Arbeiten zur Geschichte der Böhmischen Stände nach dem Böhmischen Aufstand, etwa Thomas Winkelbauer, Krise der Aristokratie? Zum Strukturwandel des Adels in den böhmischen und niederösterreichischen Ländern im 16. und 17. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 100, 1992, 328–353; Arno Strohmeyer, Vom Widerstand zur Rebellion: Praxis und Theorie des ständischen Widerstands in den östlichen österreichischen Ländern im Werden der Habsburgermonarchie (ca. 1550–1650), in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich. Berlin 2001, 207–243; Jaroslav Pánek, Das politische System des böhmischen Staates im ersten Jahrhundert der habsburgischen Herrschaft (1526–1620), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 97, 1989, 53–82; ders., Ferdinand I. – der Schöpfer des politischen Programms der österreichischen Habsburger?, in: Petr Mat’a/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas. (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, Bd. 24.) Stuttgart 2003, 63–72. Vgl. Dietrich Gerhard, Probleme des dänischen Frühabsolutismus, in: Rudolf Vierhaus/Manfred Botzenhart (Hrsg.), Dauer und Wandel der Geschichte. Festgabe für Kurt von Raumer zum 15. Dezember 1965. Münster 1966, 269–292; Kersten Krüger, Absolutismus in Dänemark – Ein Modell für Begriffsbildung und Typologie, in: Zeitschrift der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte 104, 1979, 171–206; Johannes Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus. (Historische Forschungen, Bd. 15.) Berlin 1979, 17–44, sowie Peter Brandt, Von der Adelsmonarchie zur königlichen „Eingewalt“. Der Umbau der Ständegesellschaft in der Vorbereitungs- und Frühphase des dänischen Absolutismus, in: Historische Zeitschrift 250, 1990, 33–72; Sebastian Olden-Jørgensen, Machtausübung und Machtinszenierung im dänischen Frühabsolutismus 1660–1730, in: Historisches Jahrbuch 120, 2000, 97–113. So Brandt, Von der Adelsmonarchie zur königlichen „Eingewalt“ (wie Anm. 37), 60. Eine Übersetzung der lex regia ist als Anhang abgedruckt bei Krüger, Absolutismus in Dänemark (wie Anm. 37), 196–206, hier 200 und 196 (zitiert).
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soziale Hierarchie mit dem königlichen Hof als Zentrum einherging40, erfolgte als bewusste Abkehr von der bisherigen politischen Ordnung. Denn die Adelsmonarchie der ersten Jahrhunderthälfte war nach wirtschaftlichen Krisen und der geradezu traumatischen Erfahrung des außenpolitischen Misserfolgs im Konflikt mit dem übermächtigen Nachbarn Schweden, schließlich auch durch die Selbstlähmung der Stände nachhaltig delegitimiert. Hier kann man in der Tat von der bewussten Einführung einer neuen Ordnung sprechen, wobei noch im Detail zu untersuchen ist, an welchen Vorbildern sie sich orientierte41, um zuverlässig beurteilen zu können, inwieweit ihr eine Modellbildung zugrundelag. Ihrerseits modellbildend war die lex regia offenbar nicht; jedenfalls blieb sie bis zum Ende des Ancien régime die einzige schriftliche Verfassung einer absoluten Monarchie. Häufiger als der offen thematisierte Bruch mit der tradierten Herrschaftsordnung waren vor der Mitte des 18. Jahrhunderts jene Fälle, in denen Veränderungen und zumal Versuche der Ausweitung der fürstlichen Prärogative aus älteren Traditionen hergeleitet, als Rückkehr zu einem älteren Zustand dargestellt oder mit außerordentlichen Notlagen begründet wurden. Zur Verdeutlichung sei hier auf das frühneuzeitliche Frankreich verwiesen, dem in den Forschungsdiskussionen um den Absolutismus bis heute der Status eines Modellfalls zukommt. Entscheidend ist zunächst, dass der systematische Gebrauch „absolutistischer“ Argumentationsmuster in Frankreich bis zu den Legisten des 13. Jahrhunderts zurückreichte.42 Mochten diese Argumentationsmuster auch lange Zeit relativ isoliert gebraucht werden und wenig Bezug zur inneren Herrschaftspraxis aufweisen, so konnte sich, wer im späten 16. oder
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Vgl. Knud J. V. Jespersen, The Rise and Fall of the Danish Nobility 1600–1800, in: Hamish M. Scott (Hrsg.), The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. 2 Bde. London 1995, Bd. 2, 41–70, insbesondere 43–45. Die Verfassungsordnung des überlegenen Nachbarn Schweden kommt dafür nicht in Frage; man kann sie vor 1680 schwerlich als absolutistisch charakterisieren; vgl. Brandt, Von der Adelsmonarchie zur königlichen „Eingewalt“ (wie Anm. 37), 38f. Unverkennbar sind Bezugnahmen auf das Naturrecht sowie auf Formeln des römischen Rechts, die seit dem Spätmittelalter von Juristen zur Rechtfertigung der absoluten Gewalt herangezogen wurden. Dies gilt insbesondere für die in den Titel des Verfassungsgesetzes, der auf zwei Parömien aus den Institutionen (1.2.6: „Sed et quod principi placuit, legis habet vigorem, cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem concessit.“) und den Digesten (1.4.1: „Quod principi placuit legis habet vigorem, utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conferat.“) anspielt. Zumal der letzteren bei der Rechtfertigung der von den überkommenen Gesetzen gelösten, allein auf die voluntas principis als Geltungsgrund der Gesetze abhebenden absolutistischen Gesetzgebungsdoktrin eine zentrale Rolle zukam, obwohl die Berufung auf die lex regia für eine Erbmonarchie ein durchaus zweischneidiges Argument darstellte, da diese die Gewalt des Fürsten auf deren Übertragung durch das Volk zurückführte. Zudem ließ sich aus ihr insofern eine Bindung des Fürsten an das überkommene Recht ableiten, als sie die fürstliche Gewalt aus einem Gesetz herleitete, so dass „die doppelte Möglichkeit der Interpretation der ‚lex regia‘ als Grundlage der Volkssouveränität oder des Absolutismus“ bestand (so Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, zuerst englisch 1957, hier zitiert nach der deutschen Übersetzung der 2. Aufl. Princeton 1966. München 1990, 120). Vgl. Schilling, Normsetzung in der Krise (wie Anm. 17), 300–341.
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im 17. Jahrhundert für die absolute Stellung des Königs eintrat, doch auf eine lange Tradition berufen. Hinzu kam, dass spätestens im 16. Jahrhundert starke Monarchen wie Franz I. (1515– 1547), Heinrich II. (1547–1559) und Heinrich IV. (1589–1610) ihre Prärogative deutlich hatten ausweiten können. Sie haben freilich jeweils kein neues System geschaffen, kein neues Modell, keinen neuen Verfassungstyp installiert.43 So geriet die Monarchie nach dem Unfalltod Heinrichs II. in eine Existenzkrise, und nach der Ermordung Heinrichs IV. war die Autorität der Krone erneut schweren Anfechtungen ausgesetzt. Dennoch konnten diese Monarchen im absolutistischen Diskurs des 17. Jahrhunderts als Referenz angesprochen werden. Nach der journée des Dupes des Jahres 1630, dem definitiven Sieg Richelieus über seine inneren Gegner44, kam es in Verwaltung und Herrschaftspraxis (etwa im Zusammenhang mit der systematischen Einführung von Intendanten) zu erheblichen, auch außerhalb Frankreichs stark beachteten45 Veränderungen46, die insofern mit der Tradition der starken Monarchie brachen, als auf konsensuale Verfahren ganz verzichtet wurde und neben informellen, auf Klientelpolitik, Geschenke und andere Formen der Begünstigung rekurrierenden Methoden der Loyalitätssicherung verstärkt auf verschiedenste Formen der Repression (von der Hinrichtung hochadliger Gegner des Kardinalministers bis zur militärischen Unterdrückung der zahlreichen Aufstände) zurückgegriffen wurde. Obwohl auch Richelieu, Mazarin und schließlich auch Ludwig XIV. auf Kompromisse mit einzelnen Gruppen der adligen und administrativen Elite nicht verzichteten47, entwickelte sich unter ihrer Ägide eine Form gewaltbewehrter bürokratischer Herrschaft, die vor allem die steuerpflichtige Bevölkerung mit größter Härte auspresste. Gerechtfertigt wurden diese Änderungen freilich nicht mit der Notwendigkeit von Neuerungen, sondern mit dem Argument, die raison d’État gebiete radikale Maßnahmen, die nicht
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Vgl. als Gesamtüberblick Arlette Jouanna, La France du XVIe siècle. 2. Aufl. Paris 1997. Vgl. zur Bedeutung dieses Ereignisses Georges Montgrédien, 10 novembre 1630. La Journée des Dupes. (Trente Jours qui ont fait la France) Paris 1967. Vgl. etwa Karl Kirchmair von Reichwitz, Von den königlichen französischen Finanzen, Renten, Gefällen und Einkommen und deren Ober-Aufsehern und Verwaltern, Les sur-intendants des finances de France genannt, sonderlich zu der letzten vier Könige Zeiten bis auf Nicolas Fouquet, und was es mit ihm vor einen Ausgang bekommen, neben achtzehen Conterfeiten. Nürnberg 1665. Die Forschung zu den Intendanten ist abundant. Vgl. etwa Roland Mousnier, Etat et commissaire. Recherches sur la création des intendants des provinces (1634–1648), zuerst 1958, in: ders., La plume, la faucille et le marteau. Institutions et société en France du moyen âge à la Révolution. Paris 1970, 179–199; ders., Les rapports entre les gouverneurs de province et les intendants dans la première moitié du XVIIe siècle, zuerst 1962, in: ebd., 201–213; Adriana Petracchi, Intendanti e prefetti. L’intendante provinciale nella Francia d’Antico regime, Bd.1: 1551–1648. (Archivio della Fondazione Italiana per la storia amministrativa. Prima collana, Bd. 13.) Mailand 1971; Klaus Malettke, ‚Trésories généraux de France‘ und Intendanten unter Ludwig XIV. Studien zur Frage der Beziehungen zwischen ‚officiers‘ und ‚commissaires‘ im 17. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 220, 1975, 298–323; Michel Antoine, Genèse de l’institution des intendants, in: Journal des savants, juillet–décembre 1982, 283–317; Anette Smedly-Weill, Les intendants de Louis XIV. Paris 1995. Vgl. zum ludovizianischen Elitenkompromiss etwa Katia Beguin, Louis XIV et l’aristocratie: coup de majesté ou retour à la tradition?, in: Histoire, économie et société 19, 2000, 497–512.
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an den überkommenen moralischen und rechtlichen Normen gemessen werden könnten.48 Die auf die Antike zurückgehende Vorstellung, wonach Not kein Gesetz kenne, war an sich seit langem anerkannt und hatte auch Eingang in die seit dem Spätmittelalter verbreitete Vorstellung einer auf Notfälle beschränkten absoluten Gewalt des Königs gefunden.49 Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wurde dieses ältere Verständnis durch eine die Permanenz der absoluten Gewalt in den Mittelpunkt rückende Konzeption verdrängt. Parallel dazu entwickelte sich eine kontroverse Diskussion um die Frage, ob die Notlage, angesichts derer der König berechtigt war, gegen Moral und Recht zu verstoßen, wenigstens im Nachhinein offengelegt werden musste, oder ob er über solche Fragen das Geheimnis wahren durfte. Richelieu und seine Propagandisten traten entschieden für die letztere Auffassung ein. Die Sicherung und Ausdehnung der Herrschaft des Königs wurden demnach zur höchsten, alle tradierten Normen außer Kraft setzenden politischen Maßregel erklärt und zugleich jeder öffentlichen Beurteilung entzogen. Der Rekurs auf die raison d’État und die arcana imperii sollte jegliche Maßnahme rechtfertigen und zugleich allein vom König und seinen engsten Beratern beurteilt werden. Die als vorübergehend eingeführten Notmaßnahmen verfestigten sich dann angesichts der bis zum Tode Ludwigs XIV. beinahe ohne Unterbrechung geführten Kriege nach und nach zu dauerhaften Strukturen. Man mag hier von einem neuen absolutistischen System sprechen, muss aber ergänzen, dass nicht etwa die Herbeiführung einer neuen Ordnung dessen konzeptionellen Kern bildete, sondern die Perpetuierung eines durch den Krieg gerechtfertigten Ausnahmezustandes. Wie die oben bereits angesprochene, insgesamt im Frankreich des 17. Jahrhunderts bemerkenswert zurückhaltend aufgenommene These von der legibus solutio erlaubte es im Übrigen auch die Berufung auf die necessitas und die daraus abgeleitete Lehre von der raison d’État in erster Linie, die Befreiung von überkommenen Regeln zu rechtfertigen, taugte aber schwerlich zur inhaltlichen Herleitung von Neuerungen. Fragt man nach „absolutistischen“ Neuerungen und Traditionsbrüchen im Frankreich des 17. Jahrhunderts, wird man am ehesten bei isolierten, ostentativen Akten fündig. So sorgte Richelieu dafür, dass 1632 entgegen bisherigen Gepflogenheiten selbst ein Herzog von Montmorency hingerichtet wurde, weil er sich einem Aufstand angeschlossen hatte.50 Um ein Exempel zu statuieren, ließ derselbe Richelieu bereits 1627 zwei Duellanten öffentlich exekutieren, obwohl Duelle bis dahin mit großer Milde behandelt worden waren und sich zahllose hochgestellte Persönlichkeiten für die beiden verwandten.51
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Vgl. Étienne Thuau, Raison d’État et pensée politique à l’époque de Richelieu. Paris 1966; William F. Church, Richelieu and Reason of State. Princeton 1972; Julien Freund, La situation exceptionnelle comme justification de la raison d’État chez Gabriel Naudé, in: Roman Schnur (Hrsg.), Staatsräson. Geschichte eines politischen Begriffs. Berlin 1975, 141–164; Marcel Gauchet, L’État au miroir de la raison d’État: La France et la chrétienté, in: Yves Charles Zarka (Hrsg.), Raison et déraison d’Etat. Théoriciens et théories de la raison d’Etat aux XVIe et XVIIe siècles. Paris 1994, 193–244. Vgl. im einzelnen Schilling, Normsetzung in der Krise (wie Anm. 17), 86–97. Vgl. Yves-Marie Bercé, La naissance dramatique de l’absolutisme, 1598–1661. Paris 1992, 134–139. Zu diesem aufsehenerregenden Fall um François de Montmorency-Bouteville vgl. François Billacois, Le duel dans la société française des XVIe et XVIIe siècles. Essai de psychosociologie historique. Paris 1986, 247–275.
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Ludwig XIV. war fraglos ein besonderer Meister bewusst inszenierter Verstöße gegen alte Traditionen. Nirgends konnte er seine Begabung, seinen Herrschaftsanspruch durch gezielte Regelverstöße, durch extravagante und outrierte Inszenierungen und Provokationen zu unterstreichen, so entfalten wie an seinem Hof. Doch auch im Umgang mit altehrwürdigen Institutionen suchte er gelegentlich den ostentativen Traditionsbruch. Ein typisches Beispiel ist sein bekannter Auftritt im Frühjahr 1655 vor dem parlement de Paris, das gewagt hatte, über Steuergesetze zu beraten, denen er durch ein lit de justice bereits Rechtskraft verliehen hatte.52 Erbost über die Eigenmächtigkeit des Gerichts, platzte der Sechzehnjährige im Jagdkostüm, mit der Peitsche in der Hand, in dessen Sitzung und wies die von der Würde ihres Amtes durchdrungenen Räte in unflätiger Weise zurecht – ein gezielter Verstoß gegen jahrhundertealte Zeremonialregeln, der den Anspruch des Königs, sich über jegliches auf Menschen zurückgehendes Recht hinwegsetzen zu können, effektiver verdeutlichte als es noch der brillanteste absolutistische Traktat eines Juristen vermocht hätte. Gerade an diesen symbolischen Akten wird freilich deutlich, worauf die absolutistischen Repräsentationen im Frankreich des 17. Jahrhunderts vor allem abzielten: sie sollten anhand besonders einprägsamer Einzelfälle sinnfällig machen, dass der König den für seine Untertanen verbindlichen überkommenen Traditionen und Normen enthoben war. Auch in den absolutistischen staatstheoretischen Schriften wurde der Akzent auf die Entbindung des Monarchen von überkommenen Regeln gelegt, während seine Rolle als Neuerer kaum thematisiert wurde. Der Monarch ließ sich immer wieder als jener feiern, der den Bürgerkrieg (den „désordre“, wie es in Ludwigs Memoiren heißt53) überwunden hatte und die Ordnung wieder hergestellt hatte. Diese Ordnung indes wurde nicht als dezidiert neue, sondern als natürliche, gottgegebene Ordnung definiert. Wie kann man diese Befunde erklären? Zwei Erklärungsansätze mögen genügen: Zum einen ist zu bedenken, dass der gelehrte Diskurs über die französische Monarchie in starkem Maße von Juristen geprägt war. Die gelehrten Juristen der Frühneuzeit aber folgten (ähnlich wie die Theologen) einer Methode, die darauf abzielte, eigene Aussagen in ein – oft durch Allegationen und andere Zitate präsent gemachtes – Geflecht früherer Aussagen einzuschreiben.54 Allein schon aus dieser Methode ergab sich fast zwingend das – etwa bei Bodin mit Händen zu greifende – Bestreben, anhand unzähliger Exempla zu zeigen, dass die absolute Gewalt des Monarchen mitnichten eine Neuerung darstellte, sondern seit jeher konstitutiv war für die eigentliche, die reine, die wahre französische Monarchie. Bodin hätte sich im Übrigen mit Nachdruck gegen die Unterstellung verwahrt, ein „neues Modell“ entwickelt zu haben. Die These von der legibus solutio war für ihn wie für die anderen sich darauf berufenden Juristen gerade deshalb so attraktiv, weil sie sich auf Formeln des römischen Rechts zurückführen ließ. Dass in dieser Argumentationskultur schwerlich systematische
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Vgl. Joёl Cornette, Histoire de France. Absolutisme et Lumières 1652–1783. (Collection Carré Histoire, Bd. 23.) Paris 1993, 10. Louis XIV, Mémoires pour l’instruction du Dauphin, hrsg. v. Pierre Goubert. Paris 1992, 46: „Le désordre régnait partout“. Vgl. Fanny Cosandey/Robert Descimon, L’absolutisme en France. Histoire et historiographie. (Points histoire, Bd. 313.) Paris 2002, 28.
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Begründungen für die Einführung von Neuerungen entwickelt werden konnten, dürfte einleuchten. Zum zweiten sei in Erinnerung gerufen, dass in Frankreich auch im Rahmen des „absolutistischen“ Diskurses die Legitimität des Königtums stets an seiner Rolle als Vermittler des göttlichen und natürlichen Rechts und Wahrer der überkommenen Rechtsordnung festgemacht wurde. Veränderungen und Neuerungen waren vor diesem Hintergrund nur insoweit legitimierbar, als sie dazu beitrugen, diese Ordnung in ihrer Gesamtheit zu schützen.55 Mit dieser Argumentation konnte man in der Praxis viele faktische Neuerungen rechtfertigen – Neuerungen theoretisch modellieren und legitimieren konnte man damit indes nicht.
V. Abschließend seien einige Ergebnisse dieses notgedrungen sehr kursorischen Problemaufrisses zusammengefasst: a) Der „Absolutismus“ der frühneuzeitlichen Zeitgenossen stellte kein in sich stimmiges, einheitliches Modell dar, sondern war extrem facettenreich, zum Teil in sich widersprüchlich. Dies hat seinem Erfolg freilich keinen Abbruch getan, sondern ihn womöglich befördert, weil es die Verwendung der betreffenden überhöhenden Argumente, Bilder und Inszenierungen in ganz unterschiedlichen Kontexten ermöglichte. b) Die Frage nach dem Absolutismus als Modell kann neue Perspektiven eröffnen, sofern der Vielfalt und Offenheit absolutistischer Repräsentationen Rechnung getragen wird und dementsprechend ihre Diffusion und Rezeption, ihre Nutzung und ihre Funktion im Verhältnis zur Herrschaftspraxis untersucht werden. Dabei muss zunächst offenbleiben, ob und in welcher Weise es tatsächlich zu Modellbildung(en) gekommen ist. c) Der offene Bruch mit der tradierten Herrschaftsordnung ist vor dem 18. Jahrhundert nur in seltenen Fällen zu beobachten. Häufiger war die Herleitung faktischer Neuerungen aus einer lange zurückreichenden (gegebenenfalls fiktiven bzw. erfundenen) Tradition. Im Mittelpunkt absolutistischer Repräsentationen und durch sie legitimierter Normen und Praktiken stand in der Regel die (punktuelle) Entbindung des Monarchen von überkommenen Regeln, nicht die Schaffung einer neuen Ordnung. Zu offen behandelten, ja beherrschenden Themen des politischen Diskurses und der politischen Praxis wurden Fortschritt und Innovation erst im Zeitalter der Aufklärung.
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Vgl. Schilling, Normsetzung in der Krise (wie Anm. 17), 455.
Ein Neues Modell von Sicherheit Traditionsbruch und Neuerung als Instrument kaiserlicher Reichspolitik 1688/89 Christoph Kampmann
I. Einleitung Neue Modelle wurden in der Frühen Neuzeit in unterschiedlichen Bereichen und mannigfachen Gestaltungsformen erprobt. Doch all diesen Neuen Modellen scheint eines gemeinsam zu sein: Sie erregten die Aufmerksamkeit und das Aufsehen der Zeitgenossen. Dies hing mit dem provozierenden Charakter der jeweiligen Neuen Modelle zusammen. In einer Epoche, in der in aller Regel das Neue, die Veränderung gegenüber dem Alten, Bewährten, als legitimationsbedürftig erschien, musste es als eine Herausforderung wirken, etwas grundlegend Neuartiges ins Werk zu setzen – etwas Neuartiges, das dann auch noch beispielgebend für die Zukunft wirken sollte. Wie unerhört dies wirken konnte, zeigt schon die Tatsache, dass der Begriff vom „Neuen Modell“ selbst etwas Abwertendes haben konnte und so als Kampfbegriff Verwendung fand.1 Dieser provokative Charakter, der den Neuen Modellen eigen war, verweist auf ihr politisches Potential. Neue Modelle eigneten sich vorzüglich als Medium der symbolischen Kommunikation in der Frühen Neuzeit.2 Gerade weil sie aufrüttelnd wirkten und in einer traditionsorientierten Umwelt häufig als durchaus anstößig empfunden werden konnten, waren Neue Modelle geeignet, in drastischer und sichtbarer Weise Zäsuren und Übergänge zu Neuem zu markieren. Dies galt gerade in Bereichen, in denen die allgemein obwaltende Tendenz zu Beharrung und Bewahrung überdurchschnittlich stark ausgeprägt war. Gerade dort konnten Neue Modelle als Medium symbolischer Kommunikation folgerichtig auch besondere Bedeutung erlangen. Dies haben die Akteure im politischen Bereich durchaus erkannt und wiederholt entsprechend eingesetzt.
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Vgl. dazu grundsätzlich die Ausführungen in der Einleitung zu diesem Band; als Beispiel für die unmittelbar pejorative Verwendung des Begriffs des „Neuen Modells“ vgl. die gegen die angeblich neuerungssüchtigen, umstürzlerischen Absichten der Reformierten im Reich gerichtete Flugschrift Calvinischer Sendbrieff an die Lutherischen […], o. O. 1627 [benutztes Exemplar: Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. Flugschriftensammlung Gustav-Freytag Nr. 5318], deren Kritik an der Gegenseite darin gipfelte, dieser das Streben nach einem „new model des Reichs“ zu unterstellen, vgl. ebd., fol. A2’. Zur Bedeutung und zum Potential symbolischer Kommunikation in der Frühen Neuzeit auf der Basis eines erweiterten Kommunikationsbegriffs vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Perspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31, 2004, 491–504.
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Diese abstrakten Überlegungen zur Rolle des Neuen Modells in der symbolischen Kommunikation möchte ich im Folgenden an einem konkreten Beispiel illustrieren, und zwar an der reichs- und sicherheitspolitischen Offensive der kaiserlichen Regierung von 1688/89. Die kaiserliche Politik scheint sich in dieser Krisensituation in hohem Maße der Neuerung, des Traditionsbruchs und der Modellbildung bedient zu haben, um die Notwendigkeit von Veränderung und Neuaufbruch zu demonstrieren. Anders formuliert: Die Regierung Kaiser Leopolds I. (1658–1705) setzte radikale, modellbildende Neuerungen als Mittel symbolischer politischer Kommunikation ein, auch deshalb, weil sie den Reichsständen so ihre Beurteilung der Sicherheitslage im Reich und deren Konsequenzen wirkungsvoller und flexibler vermitteln konnte als auf sprachlich-begrifflichem Weg. Konkret möchte ich dies im Folgenden in drei Schritten darlegen. Zunächst wird erläutert, was ich als reichspolitische Offensive bezeichne. Dies kann in der hier gebotenen Kürze nur in exemplarischer Form geschehen, durch die Darstellung einiger markanter verfassungspolitisch besonders einschneidender, modellbildender reichspolitischer Schritte des Wiener Hofs im Kriegs- und Krisenjahr 1688/89. Im zweiten Schritt soll der Verfassungshintergrund des kaiserlichen Vorgehens umrissen werden, vor dem deutlich wird, weshalb die Neuerungen besonders provokativ wirken mussten und gewirkt haben. Gerade weil der Wiener Hof sich dieser Tatsache bewusst war, konnte er die verfassungspolitischen Neuerungen kommunikativ einsetzen und tat es auch mit großer Wirkung. Im dritten Schritt schließlich sollen kurz einige Überlegungen zum politischen Ziel der Offensive folgen – Überlegungen, die in engem Zusammenhang mit der Problematik der im Reich in dieser Phase seiner Entwicklung geradezu omnipräsenten Sicherheitsthematik stehen. Der Fokus wird im hier betrachteten thematischen Rahmen auf Fragen der Modellbildung und politischen Kommunikation gerichtet. Eine angemessene Erklärung der kaiserlichen Strategie, ja, der Reichspolitik insgesamt würde ihre Einordnung in den Gesamtkontext der europäischen Politik voraussetzen, die aber in diesem Rahmen nicht geleistet werden kann und einer Beschäftigung in anderem Zusammenhang vorbehalten bleiben muss.3
II. Neue Modelle in der reichs- und sicherheitspolitischen Offensive des Kaisers 1688/89 1. Der Plan zur Änderung des Reichsdirektoriums Am 11. November 1688 hatte der Gesandte des Kurfürsten von Mainz am Kaiserhof, Christoph Gudenus, seinem Herrn in Mainz Alarmierendes mitzuteilen. Alle politisch ausschlaggebenden Kräfte, Kaiser Leopold selbst, die kaiserlichen Minister, ja, im Prinzip der gesamte Wiener Hof, seien einhellig der Auffassung, dass der Kurfürst von Mainz derzeit nicht in der
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Die folgenden Darlegungen sind Teilergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Die militärische Intervention zum Schutz fremder Untertanen in der Frühen Neuzeit. Die England-Intervention des Prinzen von Oranien 1688“. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist für die großzügige Unterstützung zu danken, durch die auch der Besuch des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin, des Nationalarchivs in Den Haag sowie weiterer Archive möglich wurde.
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Lage sei, seine Funktionen als Erzkanzler im Reich weiterhin auszuüben.4 Damit gab Gudenus die Stimmung am Kaiserhof durchaus treffend wieder. Die Wahrheit war sogar noch beängstigender für den Mainzer Kurfürsten Anselm Franz von Ingelheim (1679–1695), hatte man doch am Kaiserhof bereits damit begonnen, dieser Einschätzung Taten folgen zu lassen und Schritte gegen Kurmainz einzuleiten. Konkret ging es dabei um die Stellung des Kurmainzers als Reichsdirektor. Schon wenige Tage vor Gudenus’ Schreiben hatte Kaiser Leopold der kaiserlichen Prinzipalkommission in Regensburg die Weisung erteilt, ernsthaft zu sondieren, wie dem Mainzer Kurfürsten das Reichsdirektorium entzogen werden könne. Sollten die Voraussetzungen vorliegen, so sei Kurmainz „per Decretum“ mitzuteilen, dass „es sich der Consultation und Direction bei jetzigen Umständen entäussern mögte“, also das Reichsdirektorium niederzulegen habe.5 Eine Niederlegung des Amtes als Reichsdirektor durch den Kurfürsten von Mainz wäre reichspolitisch und reichsverfassungsrechtlich einer Sensation gleichgekommen. Denn für den Verfahrensablauf des Reichstags, aber auch und besonders für den Kurfürsten selbst wäre ein solcher erzwungener Rücktritt ein Schritt von kaum zu überschätzender Tragweite gewesen. Dem Reichsdirektor oblag die gesamte Aktenführung des Reichstags; er fungierte quasi als dessen Geschäftsführer – ein Geschäftsführer, dessen Einfluss weit über eine rein formale Aktenverwaltung hinausging. Als Reichsdirektor hatte der Kurfürst entscheidenden Einfluss darauf, welche Propositionen auf dem Reichstag vorgetragen, welche zur Beratung gebracht und zu welchem Zeitpunkt sie verabschiedet werden sollten. Jeder, der auf dem Reichstag in Regensburg etwas erreichen wollte – sei es die Bekanntmachung eines Gegenstands, eine Beschlussfassung oder eben auch die Verzögerung oder Verhinderung einer Beschlussfassung – war auf die Mitwirkung des Reichsdirektors entscheidend angewiesen. Zudem konnte der Reichsdirektor auch auf eigene Initiative hin Beratungsgegenstände einbringen, womit er in unausgesprochener Konkurrenz zum Kaiser mit dessen Propositionsrecht kam.6 Das Amt des Kurmainzers als Reichsdirektor erwuchs aus dessen angestammter Rolle als Reichserzkanzler, ja, man kann im Sinne der Neubewertung der symbolisch-rituellen Praxis des Reichstags und der „Präsenzkultur“ des Reichs7 noch weiter gehen: Auf dem Reichstag
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Schreiben Christoph Gudenus’ an Kurfürst Anselm Franz (Ausfertigung) 1688 November 11, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (künftig HHStA) MEA Mil. 23a, fol. 20–20’, hier 20. Kaiser Leopold I. an die Prinzipalkommission in Regensburg (Entwurf ) 1688 November 7, HHStA RK Prinzipalkommission, Weisungen Fsz. 4a, fol. 1’-2 [Weisungen sind in dem Fsz. jeweils gesondert foliiert]. Vgl. zur Stellung des Reichsdirektors Karl Härter, Das Kurmainzische Reichstagsdirectorium: eine zentrale reichspolitische Schaltstelle des Reichserzkanzlers im Reichssystem, in: Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten Mannes im Alten Reich. Stuttgart 1997, 171–203; mit besonderem Blick auf die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts schon Josef Wýsocki, Kurmainz und die Reunionen. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Kurmainz von 1679 und 1688. Mainz 1961, 161–167; und ders., Die Kurmainzer Reichstagsdirektorien um 1680. Die Praxis einer Reichsinstitution, in: Festschrift Johannes Bärmann. (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 3) 2 Teile. Wiesbaden 1966–1967, Teil 2, 1967, 153–167. Dazu Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reichs. München 2008, 299–305. In Abgrenzung einer allein an der Schriftlichkeit der
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wurde die Stellung von Kurmainz als Erzkanzler vor allem durch das Reichsdirektorium vergegenwärtigt, seine Erzkanzlerschaft bestand dort in hohem Maße im Reichsdirektorium.8 Unter dieser Perspektive betrachtet wird sofort einsichtig, welche Tragweite ein Verlust, selbst ein zeitweiliger Verlust des Reichsdirektoriums für Kurmainz und seine Ersetzung durch einen anderen Kurfürsten bedeutet hätte: Kurmainz wäre vor der Öffentlichkeit des Reichstags als Erzkanzler geradezu desavouiert und degradiert worden9, mit dramatischen Folgen für die Position im Reich. Insofern war Gudenus’ Mitteilung, dass man am Kaiserhof den Mainzer Kurfürsten seiner „erzkanzlerischen Funktionen“ zu entheben gedenke, keine Übertreibung. Macht man sich zudem klar, dass Kurmainz das Reichsdirektorium bereits seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert als Erzkanzler und als nach dem Kaiser ranghöchster Fürst ohne Unterbrechung und im Prinzip unbestritten ausgeübt hatte10, so wird der geradezu revolutionäre Charakter eines solchen Schritts verständlich. Schon allein die kaiserlichen Sondierungen auf dem Reichstag über eine Ablösung des Mainzers als Reichsdirektor wegen möglicher Amtsunfähigkeit und die nun einsetzende Diskussion darüber mussten über alle Maßen demütigend und schädlich sein für den Reichserzkanzler. Hintergrund der kaiserlichen Initiative waren die Kriegsereignisse im Westen des Reichs. Nachdem Ludwig XIV. ultimativ die Erfüllung seiner Forderungen auf die Einsetzung seines Klienten Fürstenberg in Kurköln, auf die Erbansprüche seines Hauses im Pfälzischen sowie auf die endgültige vertragliche Anerkennung der Réunionen verkündet hatte, waren starke französische Truppenverbände im Westen des Reiches eingefallen und dort rasch vorgestoßen.11 Nachdem es ihnen gelungen war, Worms, Speyer, Heidelberg und Trier zu besetzen, war der französische General Louis François de Boufflers an der Spitze einer Armee von 20.000 Mann vor Mainz erschienen.12 Angesichts der Unmöglichkeit, mit einer Garnison
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Verfassungsüberlieferung orientierten älteren Verfassungsgeschichtsschreibung richtet StollbergRilinger die Aufmerksamkeit auf die ständig erneuerte rituelle Repräsentation des Reichs, durch die das Reich nicht nur dargestellt, sondern stets aufs neue hergestellt worden sei. Vgl. zur Vergegenwärtigung des Mainzer Reichserzkanzleramtes in seiner Funktion auf dem Reichstag schon sehr plastisch die Darlegungen von Johann Jacob Moser in seiner Einleitung zum Kurmainzischen Staatsrecht von 1755: „Wann der Kayser und das Reich bey Reichs-Conventen in Corpore versammlet seynd, zeiget sich das Churfürstlich-Maynzische Lustre in seinem vollen Pracht“; zitiert nach Härter, Reichstagsdirectorium (wie Anm. 6), 171f. Die Formulierung „Degradierung“ verwendet die kurfürstliche Regierung selbst, etwa im Schreiben an den nach Wien entsandten Sonderbotschafter von Dalberg, in dem sich Anselm Franz ereifert, dass die kaiserliche Regierung doch wissen müsse, dass „zu Degradierung eines Kurfürsten“ mehr erforderlich sei als „zue abschaffung eines bauernschultheissen“; vgl. Schreiben des Kurfürsten an Dalberg, 1689 Januar 31 (Entwurf ), HHStA MEA mil. 23a, fol. 27–28’, hier 28’. Vgl. Susanne Friedrich, Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. Berlin 2007, 83f. Vgl. Klaus Malettke, Les relations entre la France et le Saint-Empire au XVIIe siècle. Paris 2001, 484f.; Charles Boutant, L’Europe au Grand Tournant des Années 1680. La Succession palatine. Paris 1985, 840f. Friedhelm Jürgensmeier, Vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Zerfall von Erzstift und Erzbistum, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte. 3 Bde. Würzburg 1997–2002, Bd. 3, Teilbd. 1, 2002, 233–469, hier 308.
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von 800 Mann die Verteidigung der Stadt aufzunehmen, und ohne jede Hoffnung auf Entsatz von außen, hatte sich der Kurfürst nach Beratungen mit dem Domkapitel zu Verhandlungen entschieden, die zu einem – wie es Kurfürst und Domkapitel erschien – angesichts der militärisch völlig ungleichen Kräfteverhältnisse annehmbaren Ergebnis führten: Die Stadt kapitulierte vor dem französischen Militär, dafür garantierte Frankreich dem Kurfürsten die volle und freie Regierungsausübung, zudem die weitgehende Verschonung von Einquartierungen, den freien Abzug der Mainzer Garnison sowie die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit des Kurfürsten, seines Hofes, seiner Regierung und des Domkapitels.13 Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass diese Abmachung angesichts der aussichtslosen militärischen Lage insgesamt recht günstig für Kurmainz ausgefallen war, jedenfalls weit günstiger, als entsprechende Übergabekapitulationen in vergleichbaren militärischen Situationen.14 Zu vermuten ist, dass hinter der relativ milden Behandlung des fast schutzlosen Mainzer Kurfürsten eine grundsätzliche Strategie der französischen Regierung zu Beginn des Feldzugs von 1688 stand. Versailles wollte einen großen Krieg zu diesem Zeitpunkt vermeiden; vielmehr hoffte die französische Regierung nach dem raschen Vormarsch im Westen des Reichs auf einen baldigen Friedensschluss mit dem Reich zu seinen Bedingungen.15 Eine glimpfliche Behandlung des Mainzers fügte sich in diese Zielplanung vorzüglich ein. Doch schon bald erwies sich, dass Kurfürst Anselm Franz die Wirkung seines Vertrags mit Frankreich im Reich und insbesondere am Kaiserhof völlig falsch eingeschätzt hatte. In Wien war man in keiner Weise bereit, die Handlungsweise des Mainzers hinzunehmen. Gudenus wurde, als er die Nachricht von der Übergabe von Mainz überbringen wollte, vom Kaiser mit geradezu schneidender Schärfe abgefertigt, wie er seinem kurfürstlichen Herrn entsetzt berichtete.16 Die politisch entscheidende Reaktion war die skizzierte Initiative zur Suspendierung des Kurmainzers als Reichsdirektor. Mit dem Argument, dass die kurfürstliche Regierung nun keine Handlungsfreiheit mehr besitze und sich in der Hand Frankreichs befinde, setzte die kaiserliche Regierung die beschriebene Diskussion über eine Suspendierung des Kurmainzers in Gang.17
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Kopie der Kapitulationsurkunde in: HHStA MEA Reichstagsakten 276, Nr. 30; ratifiziert durch König Ludwig XIV. am 25. Oktober 1688. Wýsocki, Kurmainz (wie Anm. 6), 156. Malettke, Les relations (wie Anm. 11), 485f.; vgl. auch die treffende Formulierung von Heinz Schilling, Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763. Berlin 1994, 252f., der Ludwig XIV. 1688/89 im „Angriff aus Angst vor der Defensive“ sieht. Vgl. das Schreiben Gudenus’ an Anselm Franz, 1688 November 4 (Ausfertigung), HHStA MEA Mil. 23a fol. 2–3, hier 2, über den demütigenden Verlauf seiner kurzen Audienz bei Kaiser Leopold I.: Nachdem er, Gudenus, auf die gefährliche Notlage des Kurfürsten nach dem militärischen Einbruch der französischen Heere im Reich hingewiesen und die Verhandlungen mit Frankreich entsprechend zu rechtfertigen versucht habe, habe der Kaiser geantwortet, „Sie [die kaiserliche Majestät] würden es sich zue nachricht dienen lassen, und im übrigen darbey sich comportiren, wie es ihr kayserlichen Ambts auch Ihre und des Reichßs sicherheit erforderte, nahmen darauff andere auff ihrem tisch liegende briefschafften in handen, und ließen mich ohne weittere rede.“ Vgl. die kaiserlichen Weisungen an die Prinzipalkommission von 1688 Oktober 20, HHStA RK Prinzipalkommission, Weisungen Fsz. 4a, fol. 2–2’ und von 1688 November 7, ebd., fol. 2 [Schreiben sind jeweils gesondert foliiert].
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Dabei ging es dem Kaiser wohl zunächst vor allem darum, eine reichstagsöffentliche Diskussion über die Amtsunfähigkeit des Mainzers auszulösen. Schon eine solche war für die Stellung des Mainzer Kurfürsten in höchstem Maße schädlich. Denn einen wirklich geeigneten Nachfolger – dies wurde intern durchaus eingestanden18 – für das Amt des Reichsdirektors hatte man in Wien gar nicht. Und dieses Kalkül ging voll auf: Die Nachricht, dass der Kaiser die zeitweilige Absetzung des Kurmainzers als Reichsdirektor sondiere, schlug sofort große Wellen in Regensburg und löste am Reichstag heftige Diskussionen aus. Deren Verlauf war geeignet, den Mainzer Kurfürsten in zusätzliche Verlegenheit zu bringen. Denn offenbar war dabei nicht die Behandlung des Kurmainzers das Hauptthema, sondern die Sorge, dass eine Auseinandersetzung um die Nachfolge – etwa zwischen Kursachsen und Kurtrier – die gerade jetzt dringend notwendige Einigkeit im Reich beschädigen könne.19 Dass es Wien nicht nur um die angeblich mangelnde politische Handlungsfreiheit des Mainzers ging, sondern auch darum, in der Situation des Herbstes 1688 an dem Kurfürsten ein Exempel zu statuieren, wurde spätestens in dem Moment offenbar, als Anselm Franz Mainz verlassen und sich nach Erfurt begeben hatte.20 Denn auch danach ging die vom Kaiserhof in Gang gesetzte, für das Ansehen von Kurmainz so abträgliche Diskussion über das Reichsdirektorium unvermindert weiter, ja, im Grunde wurde sie noch demütigender, weil nun deutlich wurde, dass die persönliche „Unzuverlässigkeit“ des Mainzers und sein sicherheitspolitisches „Fehlverhalten“ den Vorstoß zur Ablösung des Reichsdirektors verursacht hatten.21 Sie war umso schädlicher, als sich im Kurkolleg und auch sonst im Reich – soweit zu sehen ist – kaum eine laute Stimme zugunsten des Kurmainzischen Direktoriums erhob.
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Vgl. die kaiserliche Weisung in dem Schreiben an die Prinzipalkommission von 1688 Oktober 20, HHStA RK Prinzipalkommission, Weisungen Fsz. 4a, fol. 2’, in der die Schwierigkeiten genannt werden, die sich bei eventuellen kurfürstlichen Ersatzkandidaten bzw. Nachfolgern ergeben könnten: Wegen seiner kriegerischen Bedrängnisse würde Kurtrier (wohl der Kurfürst, den der Kaiserhof am liebsten als Nachfolger gesehen hätte) das Amt derzeit „nicht gern übernehmen“. Der Kölner Kurfürst sei eindeutig zu jung und Kursachsen wäre das Amt wohl in näherer Zukunft kaum wieder zu nehmen – ein Hinweis darauf, dass ein dauerhafter Verbleib des Reichsdirektoriums bei Kursachsen der kaiserlichen Regierung wohl aus konfessionellen Gründen wenig ratsam erschien. Vgl. zu dieser sofort einsetzenden Diskussion auf dem Regensburger Reichstag das Schreiben des brandenburgischen Kurfürsten an seine Regensburger Botschafter Danckelmann und Metternich, 1688 November 10/20 (Entwurf ), Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (künftig GStA Pr) Rep. X 51 Fsz. 3 (unfol.); Hauptintention Brandenburgs in der Angelegenheit sei, eine „collision“ zwischen Kursachsen und Kurtrier, „so nur den feinden zugute kommen würde“, zu verhüten. Jürgensmeier, Zerfall (wie Anm. 12), 308. Das war problemlos möglich, weil Frankreich dem Kurfürsten volle Bewegungsfreiheit zugesichert hatte und sich daran hielt. Für die Entscheidung zur raschen Abreise war also keineswegs nur – wie bislang in der Literatur angenommen – das Verhalten der französischen Garnison ausschlaggebend, sondern auch und vor allem die für den Kurmainzer peinliche Diskussion um seine Handlungsfreiheit. Aufschlussreich ist die Korrespondenz zwischen Berlin und der brandenburgischen Reichstagsgesandtschaft, in der das Thema Reichsdirektorium bzw. die Frage nach dem geeigneten Nachfolger auch lange nach der Übersiedlung von Anselm Franz nach Erfurt zentral bleibt; vgl. z. B. das Schreiben der kurbrandenburgischen Reichstagsgesandtschaft (Danckelmann/Metternich) aus Regensburg an Friedrich III., 1688 Dezember 21/31, GStA Pr Rep. X 51 Fsz. 3 (Ausfertigung), in der die Frage des Reichsdirektoriums und der Nachfolge eingehend erörtert wird.
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Alle Rechtfertigungsversuche, die die Wiener und die Regensburger Botschafter im Auftrag der Mainzer Regierung unternahmen, und in denen sie darzulegen versuchten, dass die Kapitulationsverhandlungen mit Frankreich doch zu einem recht günstigen Resultat geführt hätten und auch andere Reichsstände sich im Herbst 1688 vergleichbar verhalten hatten, wurden recht kühl aufgenommen und erzielten keine durchschlagende Wirkung. Der Kaiser war durchaus darauf bedacht, Kurmainz und das Reich über das weitere Vorgehen in puncto Reichsdirektorium noch etwas im Ungewissen zu lassen. Noch im Januar 1689 berichtete die Reichstagsgesandtschaft ihrem Herrn ausführlich nach Erfurt von ihren Anstrengungen, die Angriffe auf das Kurmainzer Reichsdirektorium und seine angebliche Schädlichkeit für die Reichssicherheit abzuwehren.22 Erst seit Ende Januar 1689 rückte der Wiener Hof langsam und schrittweise von seinem Absetzungsplan ab, woraufhin sich auch die Situation in Regensburg entspannte.23 Natürlich argumentierte die überrumpelt und argumentativ etwas hilflos wirkende Kurmainzer Regierung24 auf dem Höhepunkt der Debatte auch mit dem rechtlichen Herkommen, also mit dem traditionellen, unangefochtenen Anspruch des Mainzer Kurfürsten auf das Reichsdirektorium: Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass Kurmainz – wie ein am Regensburger Reichstag verbreitetes Informationsschreiben formulierte – in der Vergangenheit stets „wegen Ihres Reichs Directorii ohne die geringste wissentliche oder offentliche Anfechtung in quietissima possessione et exercitio Directorii verblieben“25 sei. Besonders wirkungsvoll war dies nicht, denn an der traditionellen Stellung des Mainzer Kurerzkanzlers als Reichsdirektor gab es ohnedies keinen Zweifel, auch nicht in Wien. Im Gegenteil: Der Wiener Hof initiierte die Diskussion über die Fähigkeit des Kurfürsten von Mainz, das Reichsdirektorium auszuüben, in vollem Bewusstsein, hier einen Traditionsbruch zu begehen, sehr wahrscheinlich genau deswegen. Dies war umso auffälliger, als die kaiserliche Regierung etwa zeitgleich eine zweite reichspolitische Neuerung anstieß. Sie war keinesfalls weniger augenfällig, erregte sogar 22
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Vgl. die Reichstagsgesandtschaft an Anselm Franz, 1689 Januar 27, HHStA MEA RTA 277 (Ausfertigung), fol. 207–208, hier 208. Die allmähliche Haltungsänderung in Wien spiegelt sich in den Instruktionen des Kurfürsten an seinen nach Wien entsandten Sonderbotschafter Dalberg wider; in der Weisung an Dalberg vom 20. Januar 1689 ist von ersten Entspannungszeichen die Rede, was aber die Regierung Anselm Franz’ nicht daran hindert, Dalberg mit ausführlichem Argumentations- und Rechtfertigungsmaterial gegen weitere Vorstöße gegen das Mainzer Reichsdirektorium zu „munitionieren“; vgl. das Schreiben Anselm Franz’ an seinen Wiener Sondergesandten Dalberg, 1689 Januar 17, HHStA MEA mil. 23a, fol. 14–23. In den Schreiben vom 20. und vom 31. Januar 1689 geht es zwar weiterhin um am Wiener Hof umlaufende Spargimenta und Calumnien gegen das Mainzer Reichsdirektorium, aber insgesamt nimmt die Zuversicht am Erfurter Hof zu; vgl. HHStA MEA mil. 23a, fol. 21–28. Im Mittelpunkt der kurfürstlichen Selbstverteidigung stand die etwas hilflose Polemik gegen jene angeblich am Wiener Hof aktiven, schädlichen Leute, die durch ihre Calumnien Kaiser und Kurfürst zu entzweien trachteten; vgl. schon das Schreiben des Kurfürsten an den Kaiser, 1688 November 19, HHStA MEA mil. 23a, fol. 2–4; seitdem wurden sie ständig wiederholt, so noch im Januar 1689; vgl. Schreiben Anselm Franz’ an seinen Wiener Emissär, den Domherrn von Dalberg, 1689 Januar 31, HHStA MEA mil. 23a, fol. 27–28’. So in der Informatio in puncto Directorii (Januar/Februar 1689), die der Regensburger Reichstagsgesandtschaft zugestellt wurde; HHStA MEA RTA 277, fol. 377–380, hier 377f.
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eigentlich noch größeres Aufsehen, obwohl es um eine eher verfahrenstechnische Neuerung im Reich ging, nämlich um ein neues Procedere der Reichskriegserklärung. Doch in diesem Falle war die über den Reichstag hinausgehende öffentliche Wirkung sogar Teil der neuen Strategie.
2. Das Neue Modell der Reichskriegserklärung Bekanntlich war dem Reichstag im Westfälischen Frieden feierlich das Recht zuerkannt worden, im Einvernehmen mit dem Kaiser über den Kriegseintritt wie den Friedensschluss des Reichs mit zu entscheiden.26 Schon vor 1688 hatte der Reichstag im Zusammenwirken mit dem Kaiser dieses Recht wahrgenommen, wobei er sich jener herkömmlichen Formen und Verfahren der Reichsfeinderklärung bediente, die schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts angewendet worden waren.27 Traditionell wurde der Reichskrieg dabei mittels sogenannter Avocatorial- oder Montorialmandate öffentlich erklärt, durch die sämtlichen Reichsangehörigen der Dienst für den „Reichsfeind“ untersagt wurde. Durch diese Mandate wurde inner- wie außerhalb des Reichs verbindlich mitgeteilt, wer als (äußerer oder innerer) Reichsfeind zu gelten hatte.28 Im Sinne der Bestimmungen des Westfälischen Friedens wirkten Kaiser und Reichstag beim Erlass und der Publikation solcher Mandate nach 1648 zusammen. So war es im Holländischen Krieg (1672–1679) bei den entsprechenden Mandaten gegen Frankreich und Schweden geschehen, durch die beide Mächte verbindlich zu Kriegsfeinden des Reiches erklärt worden waren und die zuvor die Approbation des Reichstags erhalten hatten.29 Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass der Kaiserhof seit November 1688 ergänzend dazu ein weiteres, erheblich spektakuläreres Procedere zur Reichskriegserklärung anstrebte. Die kaiserliche Prinzipalkommission in Regensburg erhielt die Weisung, nicht mehr nur die Zustimmung des Reichstags zu entsprechenden Mandaten gegen Frankreich einzuholen, sondern die Verabschiedung einer eigenen, gesonderten, feierlichen Deklaration vorzubereiten, durch die der andauernde Krieg mit Frankreich explizit zum Reichskrieg erklärt werden solle.30 Mit der Vorlage des Commissionsdecrets vom 13. November 1688, in
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Im Artikel VIII Absatz 3 des IPO; vgl. dazu Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763. Stuttgart 2006, 110f.; Christoph Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts. Stuttgart 2008, 173f. Zwischenzeitlich wurde die Existenz einer Reichskriegserklärung 1674 bezweifelt (vgl. Klaus Müller, Zur Reichskriegserklärung im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte/Germanistische Abteilung 90, 1973, 246–259), weil die spätere, seit 1689 übliche Form der formellen Reichskriegserklärung als Maßstab genommen wurde. Tatsächlich erfolgte 1674 die Reichskriegserklärung in traditioneller Form; vgl. dazu Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung (wie Anm. 26) und Christoph Kampmann, Reichstag und Reichskriegserklärung im Zeitalter Ludwigs XIV., in: Historisches Jahrbuch 113, 1993, 41–59. Vgl. ebd., 49f. Ebd. Vgl. die kaiserliche Weisung an die Regensburger Prinzipalkommission, 1688 Oktober 20 (Entwurf ), HHStA RK Prinzipalkommission, Weisungen Fsz. 4a, fol. 2.
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dem der Principalcommissar die Reichskriegserklärung förmlich proponierte, kam das entsprechende Verfahren in Gang.31 Eine solche Formal=Declaration, eine formelle Kriegserklärung mit Zustimmung des Reichstags, war ein völliges Novum – eine Tatsache, die in den folgenden Beratungen von keiner Seite, auch nicht von kaiserlicher geleugnet wurde. Im Gegenteil wurde darauf hingewiesen, dass die besondere Dramatik der Situation auch einen solchen neuartigen Schritt erforderlich mache.32 In der existentiellen Bedrohung, in der sich das Reich nach dem Bruch des Waffenstillstands durch Frankreich bei gleichzeitig fortgehendem Krieg im Südosten gegen die Osmanen33 befinde, sei – so wurde von kaiserlicher Seite argumentiert – eine solche Formal=Declaration der geeignete Weg, allen Reichsständen die Bedrohungslage unmissverständlich klarzumachen und keine Spaltungsversuche im Reich, die sich religiöser Vorwände bedienten, zuzulassen.34 Nur in einem Punkt wurden historische Vorbilder beschworen, bis in die Formulierung der Kriegserklärung hinein: Frankreich habe sich seit seinem Angriff implizit und explizit zum Verbündeten des Osmanischen Reichs gemacht und verdiene daher, genauso wie ehedem im Reichsabschied von 1544, nicht nur Feind des Reiches, sondern der gesamten Christenheit genannt zu werden.35 Diese historische Parallelisierung war der zeitgenössischen antifranzösischen Publizistik entlehnt, an der sich der Text der
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Vgl. das Commissionsdecret vom 13. November 1688, in: Johann Josef Pachner von Eggenstorff (Hrsg.), Vollständige Sammlung Aller […] Reichs-Schlüsse. 2. Bde. Regensburg 1740, Bd. 2, 646f., hier 647. Vgl. das Reichsgutachten, durch das beschlossen wurde, dass Frankreich zum Reichsfeind zu deklarieren sei; Pachner (Hrsg.), Vollständige Sammlung (wie Anm. 31), Bd. 2, 654–656. Dieses Gutachten argumentiert mit dem unbedingten, durch die zahlreichen „unchristlichen Hostilitäten“ und Grausamkeiten demonstrierten Willen Frankreichs, das Reich zu unterwerfen und dessen Freiheit und Libertät ganz zu vernichten. Nur durch unbedingte Einigkeit im Reich, die keinerlei Neutralität unter welchem Vorwand auch immer erlaube und eine gemeinsame Abwehranstrengung aller erfordere, sei das Reich zu retten. Daher sei es notwendig, Frankreich „nunmehro auch ex parte Imperii und zwar nach allerseits einhelligem Schluß, formaliter darfür [sc. zum Reichsfeind] zu declariren“; vgl. ebd., 655. Seit 1682/1683 wurde der „Große Türkenkrieg“ in Südosteuropa zwischen der „Heiligen Allianz“ (u. a. Kaiser, Polen, Venedig, Russland) und dem Osmanischen Reich ausgetragen; vgl. Ekkehard Eickhoff, Venedig, Wien und die Osmanen. Umbruch in Südosteuropa 1645–1700. Stuttgart 2008, 371–413. Seit 1686 befand sich die christliche Seite militärisch in der Offensive. Dass Frankreich seinen Vorstoß während des fortgehenden Türkenkriegs geführt hatte, war schon seit Oktober 1688 Leitthema der kaiserlichen Publizistik; vgl das kaiserliche Gegenmanifest gegen die französische Erklärung vom 18. Oktober 1688, Pachner (Hrsg.), Vollständige Sammlung (wie Anm. 31), Bd. 2, 640–646. Dieser Punkt wird dann im Text der Formal=Declaration ausführlich dargelegt. Vgl. das Reichsgutachten (wie Anm. 32), hier 655. Die Einigkeit im Reich sei gegen alle gefährlichen Versuche Frankreichs zu verteidigen, unter Instrumentalisierung der Religion und anderer Punkte, „Trenn= und Collidirung der Gemüther im Reich“ zu säen. Konkreter Bezugspunkt dieses Arguments war die kontroverse Diskussion im Reich und auf dem Reichstag über die Legitimität der Expedition Wilhelms von Oranien nach England im Herbst 1688. Der Römisch=Kayserlichen Majestät Kriegs=Erklärung wider die Cron Franckreich, Pachner (Hrsg.), Vollständige Sammlung (wie Anm. 31), 673–676, hier 675.
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Reichskriegserklärung ohnehin orientierte.36 An der Neuartigkeit des Verfahrens änderte diese historische Reminiszenz nichts37 – die Neuartigkeit war unbestreitbar und wohl auch gewollt. Nach längeren Verhandlungen, auf die gleich noch kurz einzugehen ist, wurde eine gesonderte Kriegsdeclaration am 14. Februar 1689 vom Reichstag endgültig beschlossen, um dann als Kriegs=Erklärung wider Frankreich unter dem Datum des 3. April 1689 öffentlich verbreitet zu werden. Im Fall der Reichskriegserklärung von 1688/89 ist die Bildung eines Neuen Modells bekanntlich auch langfristig geglückt. Die späteren Reichskriegserklärungen orientierten sich an dem Modell von 1688/89; bei der förmlichen Kriegserklärung des Reichs gegen Frankreich zu Beginn des Polnischen Thronfolgekriegs konnte bereits darauf verwiesen werden, dass eine solche „Formal-Declaration“ dem Reichsherkommen entspreche – die Modellbildung war damit vollendet.38
3. Die römische Königswahl eines unmündigen Kindes Die Bereitschaft des Wiener Hofs, nach Ausbruch des Krieges 1688 in zentralen Bereichen der Reichspolitik bzw. der Reichsverfassungsentwicklung mit Traditionen zu brechen und grundlegende Neuerungen anzustoßen, wird schließlich auch im Zusammenhang mit einem der markantesten Ereignisse der Reichsgeschichte dieser Zeit deutlich, der Wahl des ältesten Kaisersohns, Erzherzog Josefs, zum römischen König zu Lebzeiten des Vorgängers (vivente Imperatore). Denn auch diese Wahl war in entscheidender Hinsicht ein Novum. Grundsätzlich war es nichts Ungewöhnliches und auch nichts Neues, dass der amtierende Kaiser durch die Königswahl seines Sohns die Sukzession seines Hauses im Kaiseramt frühzeitig zu sichern trachtete.39 Als wichtigste Legitimation einer solchen Königswahl vivente Imperatore diente dabei regelmäßig die Beschwörung der Gefahr eines Interregnums, das beim plötzlichen Tod des regierenden Kaisers eintreten könne und als unbedingt zu vermeidende Bedrohung geradezu „perhorresziert“ (Axel Gotthard) wurde.40 36
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Franz Bosbach, Der französische Erbfeind. Zu einem deutschen Feindbild im Zeitalter Ludwigs XIV., in: ders. (Hrsg.), Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit. Köln u. a. 1992, 117–139, hier 134–139. Der Bezug auf 1544 in der Formal=Declaration bezog sich auch ausdrücklich nicht auf das Verfahren – 1544 handelte es sich um einen Reichsabschied, nicht um eine vom Reich approbierte Kriegserklärung – sondern auf die angebliche Parallelität der politischen Lage, durch die die französische Krone „für einen offenbaren Feind nicht allein des Reichs, sondern der Christenheit, nicht anders, als der Türck selbsten, geachtet werde“; vgl. Formal=Declaration (wie Anm. 35), 675. Müller, Reichskriegserklärung (wie Anm. 27), 257. Grundsätzlich zu den Königswahlen vivente Imperatore in der Frühen Neuzeit Helmut Neuhaus, Die Römische Königswahl vivente imperatore in der Neuzeit. Zum Problem der Kontinuität in einer frühneuzeitlichen Wahlmonarchie, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. (Zeitschrift für Historische Forschung, Beih. 19.) Berlin 1997, 1–53; Axel Gotthard, Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband. (Historische Studien, Bd. 457.) 2. Bde. Husum 1999, Teilbd. 2: Wahlen. Der Kampf um die kurfürstliche „Präeminenz“, 593–652. Zu diesem, bei allen Wahlen vivente Imperatore stets unterschiedlich ausgeschmückt wiederbegegnenden Topos von der angeblichen Bedrohlichkeit eines Interregnums für das Reich vgl. ebd. 593f.
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Auch Leopold I. hatte bereits vor Kriegsausbruch Sondierungen in Hinblick auf eine mögliche Königswahl seines ältesten Sohnes vorgenommen und sogar eine vertragliche Unterstützungszusicherung, diejenige Kurbrandenburgs, erhalten.41 Seit dem Kriegsausbruch ging der Kaiserhof dazu über, nun energisch konkrete Schritte zur Durchführung einer Königswahl einzuleiten. Die Königswahl – seit Herbst und Winter 1688/89 war dies die politische Linie der Wiener Regierung – sollte so rasch wie irgend möglich umgesetzt werden. Wie entschieden die Wiener Regierung dieses Ziel nun betrieb, zeigen bemerkenswerterweise vor allem die Allianzverhandlungen mit einer auswärtigen Macht, den Generalstaaten. In diesen Verhandlungen forderten die kaiserlichen Minister vehement und regelmäßig als eine zentrale Bedingung für den Bündnisabschluss die Zusicherung Den Haags, eine möglichst rasche Königswahl Josefs mit allen Mitteln zu unterstützen42; mit Erfolg: Im Allianzvertrag vom 12. Mai 1689 verpflichteten sich die Generalstaaten, dazu beizutragen, dass die Königswahl Josefs „quanto citius“ durchgeführt werde.43 Mit dieser internationalen Rückendeckung, mit der man dann auch innerhalb des Reiches argumentierte44, bemühte sich der Kaiserhof seit Frühjahr 1689 um die ausschlaggebende Unterstützung der Kurfürsten. Bemerkenswert ist, dass der Kaiserhof auch hier nichts unversucht ließ, um das Verfahren zu beschleunigen und auch vor Mitteln von Druck und Täu-
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Vgl. Art. 17 des Vertrags zwischen Kurbrandenburg und Kaiser Leopold I., vom 22. März 1686, in: Theodor von Mörner (Hrsg.), Kurbrandenburgs Staatsverträge von 1601 bis 1700. Berlin 1867, 484. Vgl. dazu Bernhard Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen, 1648–1740. 2 Bde. Berlin 1892–1893, Bd. 2, 1893, 36. Vgl. das Schreiben des Sonderbotschafters der Generalstaaten in Wien, Jacob Hop, an die Generalstaaten über die kaiserlichen Bedingungen eines Vertragsabschlusses, 1689 Februar, in: G. von Antal/J.C.H. de Pater (Hrsg.), Weensche Gezantschapsberichten van 1670 tot 1720. 2. Bde. Den Haag 1929/1934, Bd. 1, 1929, 418–425, hier 424. Die kaiserliche Regierung fordert von den Generalstaaten, ihren Einfluss bei den Kurfürsten für eine rasche Sicherung der Königswahl geltend zu machen. Dies zeigt, dass sich die Wiener Führung bereits im Winter 1688/89 und nicht erst im Frühsommer 1689 sehr konkret mit der Königswahl auseinandersetzte (so Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte (wie Anm. 41), Bd. 2, 1893, 37 und noch Gotthard, Säulen des Reiches (wie Anm. 39), Teilbd. 2, 604, Anm. 71; vor allem aber wird die eindeutige und alleinige Initiative des Wiener Hofs bei dieser Königswahl deutlich. Eine kurfürstliche Initiative ist – anders als Gotthard (ebenda) mutmaßt – nicht zu erkennen; die Generalstaaten wurden von Wien aufgefordert, ihren Einfluss auf die Kurfürsten in dieser Angelegenheit geltend zu machen (vgl. auch die folgende Anm.). Vgl. die geheimen Zusatzartikel der Offensiv- und Defensivallianz zwischen Leopold I. und den Generalstaaten gegen Frankreich, 1689 Mai 12, in: Österreichische Staatsverträge. Niederlande, Bd. 1: bis 1722, bearb. v. Heinrich Ritter von Srbik. Wien 1912, 271–276, hier 275: „Deinde etiam apud dominos principes electores imperii foederatos suos omnia amica officia et studia collaturos, ut quanto citius ser.mus Hungariae rex Iosephus, Sacrae Caesareae Majestatis primogenitus, in regem Romanorum eligatur.“ Tatsächlich verwies die kaiserliche Regierung schon unmittelbar nach der Vertragsunterzeichnung gegenüber den Kurfürsten darauf, dass die Generalstaaten die rasche Königswahl wünschten; vgl. Alfred Francis Pribram, Österreich und Brandenburg 1688–1700. Prag/Leipzig 1885, 30; dass Wien sich diese Unterstützung zuvor ausdrücklich (und sogar vertraglich) auserbeten hatte, wurde dabei offenbar verschwiegen, so dass Pribram tatsächlich in Den Haag die Urheber des Königswahlplans vermutete.
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schung nicht zurückschreckte, wie in der neuesten Forschung hervorgehoben wird.45 Auffällig ist, wie wenig sich der Kaiserhof gegenüber den Kurfürsten, die ständig zur Eile gedrängt wurden, um ein konsensuelles Verfahren bemühte. In sehr charakteristischer Weise wird dies erneut deutlich im Umgang mit dem Kurfürsten von Mainz, der die neuen Tendenzen kaiserlicher Reichspolitik ja bereits schmerzhaft zu spüren bekommen hatte. Anfang Juni 1689 wurde dem Kurfürsten über seinen Botschafter Gudenus vom kaiserlichen Minister Königsegg unverblümt mitgeteilt, dass alle übrigen Kurfürsten der Königswahl bereits zugestimmt hätten, es auf sein Votum also gar nicht mehr ankäme – eine Bemerkung, die allen diplomatischen Gepflogenheiten im Umgang mit dem wahlausschreibenden Kurerzkanzler Hohn sprach und im Übrigen in dieser Eindeutigkeit gar nicht zutraf.46 Um nun rasch zu einer Wahlausschreibung zu gelangen, sei – so ließ man Anselm Franz wissen – Reichshofratspräsident Wolfgang von Öttingen mit klaren Weisungen nach Erfurt entsandt worden. Es liege nun am Kurfürsten selbst, den Eindruck zu vermeiden, er handle in der Wahlangelegenheit auf äußeren Druck hin. Dies sei für den Kurfürsten dann noch möglich, wenn er vor Eintreffen des kaiserlichen Botschafters „wie aus eigenem Antrieb“ („tanquam motu proprio“) persönlich in Wien die Klärung der Sukzession und die Einleitung der Wahl empfehle.47 Der Kaiserhof bediente sich hier eines von Eile und Druck geprägten Umgangsstils, der nicht einmal den Anschein der Pression gegenüber dem Reichserzkanzler vermied – und dies mit Erfolg: Der nicht zuletzt durch die demütigenden Ereignisse des Winters eingeschüchterte Kurerzkanzler willfuhr geradezu postwendend dem kaiserlichen Wunsch und regte in einem (pflichtschuldigst vordatierten) Schreiben die Regelung der Sukzessionsfrage an, das in der Forschung lange Zeit als entscheidende Initiative zu der Königswahl galt.48 Erstaunlich rasch war damit der kaiserlichen Regierung gelungen, die Königswahl in Gang zu setzen. Ganz so schnell, wie sich Wien das vorgestellt hatte49, gelang dann der Abschluss des Wahlprozesses zwar nicht, aber immerhin wurde Erzherzog Josef gut sieben Monate später, am 24. Januar 1690 in Augsburg zum römischen König gewählt. Dies war ein 45
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Den Kurfürsten wurde jeweils der Eindruck vermittelt, die übrigen hätten der schnellen Wahl Josefs schon zugestimmt – ein Eindruck, der keineswegs zutraf, aber seine Wirkung nicht verfehlte; vgl. dazu Gotthard, Säulen des Reiches (wie Anm. 39), Teilbd. 2, 603f. Gudenus an den Kurfürsten, 1689 Juni 6 (Ausfertigung), HHStA MEA RTA 276. Vgl. zur Taktik des Wiener Hofs, gegenüber den einzelnen Kurfürsten mit der (vermeintlichen) Zustimmung der jeweils anderen zu argumentieren Gotthard, Säulen des Reiches (wie Anm. 39), Teilbd. 2, 604f. zu dem „nicht gerade fairen“ Agieren des Wiener Hofs im Vorfeld der Wahl. Die Frage der „Fairness“ etc. sei dahingestellt, deutlich wird aber, dass der Kaiserhof dezidiert nicht um ein konsensuelles Verfahren bemüht war, die Mitbestimmung der Kurfürsten vielmehr eher als Formalie behandelte. Gudenus an den Kurfürsten, 1689 Juni 6 (wie Anm. 46). Schreiben Anselm Franz’ an Leopold I. vom 6. [sic!] Juni 1689, HHStA RK WaKr 23a. Vgl. auch Gotthard, Säulen des Reiches (wie Anm. 39), Teilbd. 2, 606, Anm. 75. Die verbreitete Deutung des kurfürstlichen Schreibens vom 6. Juni 1689, dessen Vordatierung und Bestellung verkannt wurden, als entscheidendem Ausgangspunkt der Königswahl scheint auf Pribram, Österreich und Brandenburg (wie Anm. 44), 24 zurückzugehen, von dem die erste gründlichere Beschäftigung mit der Königswahl von 1690 stammt. Entsprechende Fehldeutung auch bei Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte (wie Anm. 41), Bd. 2, 1893, 36 und noch bei Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806, Band 2, Stuttgart 22005, 55. Vgl. Pribram, Österreich und Brandenburg (wie Anm. 44), 34.
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großer Erfolg des Kaisers, der umso bemerkenswerter war, als die Wahl – und dies ist der für unseren Zusammenhang entscheidende Punkt – gleichfalls reichsrechtlich neuartig war. Der Grund dafür war das jugendliche Alter des Kandidaten, bei dem es sich zum Zeitpunkt seiner Wahl um einen Knaben von elf Jahren handelte. Die Wahl eines so jungen römischen Königs vivente Imperatore hatte es in der gesamten Frühen Neuzeit, ja, wenn ich richtig sehe, seit der Goldenen Bulle noch nicht gegeben. Dass ein römischer König gewählt wurde, der sich noch im Kindesalter befand, berührte den gesamten Charakter der Wahl und der sie begleitenden Wahlumstände. Grundsätzlich – dies ist in der Forschung wiederholt herausgestellt worden – befand sich die Wahl vivente Imperatore in einer verfassungsrechtlichen Grauzone: Die Goldene Bulle hatte sie explizit weder erlaubt noch verboten, weshalb sich die Kurfürsten legitimiert sahen, unter besonderen Umständen eine solche Wahl durchzuführen.50 Ausdrücklich verboten war auch die Wahl eines Kindes zum römischen König nicht; aber die Widersprüche zu den üblichen Umständen der Wahl wurden hier besonders greifbar. Zum einen hatte die Goldene Bulle das Mindestalter der aktiven kurfürstlichen Wähler ausdrücklich auf 18 Jahre festgelegt.51 Es war schon eine kühne Neuauslegung der Goldenen Bulle, ein solches Mindestalter bei der passiven Wählbarkeit zu leugnen, zumal die Goldene Bulle auch festlegte, dass die kurfürstlichen Wähler sich einen Eindruck von der persönlichen Tauglichkeit des Wahlkandidaten für die Nachfolge im Kaiseramt hatten verschaffen können.52 Rechtlich problematisch wirkte sich die Jugendlichkeit des Gewählten auch hinsichtlich der Wahlkapitulation aus, die seit der Kaiserwahl Karls V. im Jahre 1519 fester Bestandteil jeder Wahl war. Diese Wahlkapitulation, die den Charakter eines Vertrags zwischen Wählern und Gewähltem besaß, zugleich aber auch reichgesetzliche Züge hatte53, war traditionell vom Gewählten nach dem Wahlakt, aber vor der Krönung zu beschwören.54 Hier gab es 1689/90 markante Neuerungen, die der Jugendlichkeit des Gewählten geschuldet waren. Zunächst wurde üblicherweise von den Wählern vor dem Wahlakt beschworen, die Wahlkapitulation in dem Fall einzuhalten, wenn sie selbst gewählt wurden – ein Akt von hoher ritueller Kraft und erheblichem Stellenwert, da bis dahin die künftigen Könige und Kaiser regel-
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Neuhaus, Königswahl vivente imperatore (wie Anm. 39), 8f. Goldene Bulle, Kapitel VII, 1; vgl. Lorenz Weinrich (Hrsg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte des römisch-deutschen Reichs im Spätmittelalter (1250–1500). Darmstadt 1983, 347. Vgl. dazu die Eidesformel der kurfürstlichen Wähler, Goldene Bulle, Kapitel II, 2; Weinrich (Hrsg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (wie Anm. 51), 335 (lat.: „id est regem Romanorum in Caesarem promovendum, qui hoc existat ydoneus“; in der verbindlichen deutschen Eidesformel: „kiesin will ein zitlich houbit cristim folke, daz ist ein Romisch konig zu eynem kunfftigen keysir, der darzu bequemeliche sy“). Vgl. Gerd Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen. Geschichte, Wesen, Funktion. Karlsruhe 1968, 101–133. Stollberg-Rilinger, Kaisers alte Kleider (wie Anm. 7), 180f. Der Eid gehört zu den (zahlreichen) Bestandteilen des Wahlakts, die nicht in der Goldenen Bulle geregelt und doch fester Bestandteil des Wahlakts waren; vgl. Kleinheyer, Wahlkapitulationen (wie Anm. 53), 61.
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mäßig die böhmische Kurstimme geführt hatten.55 Dieser Akt verlor jetzt seine Bedeutung, da der künftige König erstmals seit 1519 (!) nicht zu den Wählern gehörte.56 Zudem gab es bei der Königswahl Josefs ernsthafte und rechtlich sehr nachvollziehbare Zweifel, ob die Wahlkapitulation, die auch Josef dann nach der Wahl, aber vor seiner Krönung beschwor und unterzeichnete, aufgrund seiner Minderjährigkeit überhaupt rechtsverbindliche Wirkung haben konnte. Deshalb wurde festgelegt, dass König Josef sie bei seinem Regierungsantritt als Kaiser noch einmal beschwören solle; überdies sollte der Vater des Gewählten die Wahlkapitulation seines Sohnes quasi als Vormund mit unterzeichnen.57 Ob freilich Kaiser Josef beim späteren Regierungsantritt wirklich zur Beschwörung und Einhaltung der Wahlkapitulation verpflichtet werden konnte, die er als unmündiges Kind nicht rechtsverbindlich hatte schließen können, musste füglich bezweifelt werden. Anders formuliert: Der gesamte Charakter der Wahlkapitulation als Selbstverpflichtung des Gewählten, die in Ritual und Schriftlichkeit betont wurde, stand durch die Kür eines unmündigen Kindes in Frage. Auffällig war auch der Artikel der Wahlkapitulation, in dem sich der römische König verpflichtete, nicht vor Erreichung seines 18. Lebensjahrs die Regierung anzutreten, sondern die Regierung in diesem Fall den Reichsvikaren zu überlassen, die dann in seinem Namen, aber in eigener Verantwortung die Leitung der politischen Geschäfte innehaben sollten.58 Auch dieser Passus zeigte die innere Widersprüchlichkeit der römischen Königswahl eines Kindes recht eindrücklich: Die Königswahl vivente Imperatore wurde – wie erwähnt – normalerweise mit der Notwendigkeit begründet, beim plötzlichen Tod des Kaisers ein Interregnum unbedingt zu vermeiden. Denn die Kurfürsten besaßen ein lebhaftes Interesse daran, dass der neugewählte König unmittelbar nach dem Tod seines Vorgängers seine Herrschaft antrete, da sie so leichter andere politische Einflüsse (insbesondere den päpstlichen) ausschließen konnten.59 Nun war es anders, wie die Kurfürsten selbst in der Wahlkapitulation festlegten. Denn ein solches Interregnum mit der Regierungsausübung durch die Reichsvikare würde trotz der Wahl eintreten, wenn Leopold vor dem 18. Geburtstag seines Sohnes versterben würde. 55
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Vgl. ebd., 52f.; zur hohen Bedeutung dieser vorherigen eidlichen Unterwerfung, durch die für eine „sonst selten erreichte Entscheidungssicherheit“ gesorgt wurde, vgl. Stollberg-Rilinger, Kaisers alte Kleider (wie Anm. 7), 178. Dies führte im Übrigen bei der Wahl 1690 zu der Besonderheit, dass Böhmen erstmals eine Ausfertigung einer Kapitulationsurkunde erhielt, weil der Gewählte ungewöhnlicherweise nicht zugleich die böhmische Kurstimme geführt hatte – ein Punkt, der später als wichtige Etappe auf dem Weg zur regulären Introduktion Böhmens ins Kurkolleg gewertet wurde; vgl. Kleinheyer, Wahlkapitulationen (wie Anm. 53), 15–17. Vgl. ebd., 114f. Die Unterschrift des Kaisers wurde auch in den gedruckt verbreiteten Fassungen mit publiziert; vgl. den Abdruck der Wahlkapitulation in: Johann Christian Lünig, Das Teutsche Reichs=Archiv. Leipzig 1733, 810–829, hier 829. Freilich leistete Leopold I. seine Unterschrift, ohne dadurch in seiner eigenen Regierungsführung selbst gebunden zu sein, wie ausdrücklich festgestellt wurde: Dies war konsequent, war es doch nicht seine eigene Wahlkapitulation, sondern die seines Sohnes. Vgl. Art. 47 der Wahlkapitulation Josefs I., in: ebd., 828; es gab eine – nicht in die offizielle Kapitulation aufgenommene – Nebenabrede, dass Josef ggf. schon im Alter von 16 Jahren zur Regierung zugelassen werden sollte; vgl. Kleinheyer, Wahlkapitulationen (wie Anm. 53), 117. Vgl. Stollberg-Rilinger, Kaisers alte Kleider (wie Anm. 7), 174.
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Indirekt wurde also eingestanden, dass es gar nicht die Furcht vor dem Interregnum war, die zur Königswahl geführt hatte, sondern die Sicherung der (erblichen) Sukzession des Hauses Österreich. All dies waren Innovationen, die zusammengenommen die Gewichte bei der Königswahl grundsätzlich in Richtung einer weiteren markanten und sichtbaren Stärkung des dynastisch-erblichen Elements der römisch-deutschen Monarchie verschoben. Prinzipiell war – auch im gesamten 17. Jahrhundert – unbestritten, dass das römisch-deutsche Reich eine Wahlmonarchie war, die aber durch „die faktische Bindung der Kaiserwürde an das Haus Österreich“ (Volker Press)60 eine ebenso eindeutige dynastische Komponente hatte. Gerade bei den Königswahlen vivente Imperatore war letztere offensichtlich und wurde zeremoniell besonders unterstrichen.61 Der Ablauf der Königswahl 1689/90 mit seinen Neuerungen stärkte diese dynastische Komponente noch einmal erheblich. Um die dynastische Sukzession Habsburgs im Kaiseramt zu sichern, wurden andere, traditionelle Elemente der Königswahl deutlich zurückgedrängt und entwertet, die rechtlich-zeremoniell in der Königswahl große Bedeutung hatten. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man sich den beschriebenen, recht drastisch-herrschaftlichen Umgang der kaiserlichen Regierung mit den einzelnen Kurfürsten zur Anbahnung der Königswahl vergegenwärtigt und sich zudem die Tatsache bewusst macht, dass nach menschlichem Ermessen nach der Wahl eines Elfjährigen sehr lange keine Königs- bzw. Kaiserwahl im Reich mehr nötig sein würde. Auch dies bedeutete natürlich nicht die gänzliche Aufgabe des Wahlprinzips, aber hier wurde doch in geradezu demonstrativer Weise ein neues, weit stärker dynastisch geprägtes Modell von Sukzession im Reich erprobt.62
III. Erneuerung als Programm: die kaiserliche Kommunikationsstrategie und die Reichsverfassung seit 1648 Insgesamt haben die genannten reichspolitischen Initiativen der kaiserlichen Regierung seit dem Ausbruch des Krieges 1688 erstaunlich wenig Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden. Manche – wie die von Wien ausgelöste Diskussion um die Ablösung von Kurmainz als Reichsdirektor – sind praktisch, wenn ich richtig sehe, überhaupt nicht beachtet worden63; 60
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Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600–1715. (Neue deutsche Geschichte, Bd. 5.) München 1991, 85. Neuhaus, Königswahl vivente imperatore (wie Anm. 39), 12. Zur zeremoniellen Unterstreichung bei den Königswahlen vivente Imperatore vgl. Stollberg-Rilinger, Kaisers alte Kleider (wie Anm. 7) in Hinblick auf die Ferdinands IV. 1653, 180: Der Neugewählte dankte seinem kaiserlichen Vater für die Wahl, nicht den Kurfürsten; überhaupt war alles so inszeniert, dass der Neugewählte die neue Würde aus der Hand des Vaters empfing. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Hinweise von Stollberg-Rilinger, dass der Charakter des römisch-deutschen Reichs als Wahlmonarchie nie vollständig gefestigt worden war und eine Weiterentwicklung des Reichs in eine Erbmonarchie ähnlich wie in anderen europäischen Monarchien stets eine reale Möglichkeit blieb. Ebd., 181. Die Studie von Wýsocki, Kurmainz (wie Anm. 6) endet 1688, bevor die eigentliche Diskussion um das Direktorium begann.
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und selbst das markanteste Ereignis, die Königswahl Josefs I., ist bisher noch nicht gründlich, schon gar nicht monographisch behandelt worden.64 Auch im Geschichtsbild Kaiser Leopolds I., der in jüngerer Zeit gewisse Aufmerksamkeit der Forschung gefunden hat, spielen sie nur eine sehr untergeordnete Rolle; dessen Bild als Reichspolitiker ist nach wie vor stark von der frühen Herrschaftszeit geprägt.65 Einer der Gründe für die relativ geringe Bedeutung, die der kaiserlichen Reichspolitik in der Krise seit Kriegsausbruch 1688 zugemessen wurde, ist die Tatsache, dass die verschiedenen reichspolitischen Maßnahmen nicht im Zusammenhang betrachtet worden sind. Denn erst in der Gesamtsicht wird deutlich, dass die unterschiedlichen Neuerungen, die von Wien auf diesem Feld angestoßen wurden, eine Einheit bilden, eben, wie hier geschehen, in gewisser Weise als eine einzelne reichspolitische Offensive betrachtet werden können. Dies gilt hinsichtlich der reichspolitischen sowie der dynastischen Ziele dieser Offensive, die im Folgenden nicht im Vordergrund stehen sollen.66 Dies gilt aber auch hinsichtlich der in dieser Offensive verfolgten Kommunikationsstrategie, auf die nun die Aufmerksamkeit gerichtet wird. Denn es fällt auf, dass die kaiserliche Regierung seit Herbst 1688 nicht nur zahlreiche reichspolitische Innovationen betrieb, sondern sich auch nicht scheute, sich offen zu diesen Neuerungen zu bekennen, diese also auch – um den Titelbegriff zu verwenden – als „Neue Modelle“ darzustellen. Besonders deutlich wird das gerade bei jenen reichspolitischen Innovationen, bei denen die Ziele möglicherweise auch ohne einen solchen offenen Traditionsbruch hätten erreicht werden können. Dies zeigt die skizzierte neuartige Reichskriegsdeklaration von April 1689. Die Erklärung Frankreichs zum „Reichsfeind“ wäre auch auf traditionellem Weg, mit Hilfe von Mandaten, möglich gewesen, die nach ihrer Verkündung mit der Zustimmung der Reichsstände rein juristisch die gleiche Bindungswirkung gehabt hätten. Die Tatsache, dass Frankreich nach Erlass der entsprechenden Mandate als Reichsfeind zu gelten hatte, war im 64
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Die letzten gründlicheren Auseinandersetzungen mit der auch wegen der begleitenden Verhandlungen politisch wichtigen Wahl Josefs I. sind (aus der Perspektive der brandenburgisch-kaiserlichen Verhandlungen) findet man bei Pribram, Österreich und Brandenburg (wie Anm. 44) (1885!) sowie Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte (wie Anm. 41) (1893). Prägend für das neuere Geschichtsbild zu Leopold I. ist seine Regierungszeit bis Mitte der 1680er Jahre, in der er sich als vorsichtig agierender Herrscher des Westfälischen Friedens erwies, dessen Regierungspraxis von großer Akzeptanz des reichsverfassungsrechtlichen Gefüges geprägt war und der die Führungsrolle des Kaisertums durch konsensorientiertes Agieren in diesem Gefüge zu erreichen suchte. Vgl. zusammenfassend Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden. Mainz 1991, 237 und 270; ders., Leopold I., in: ders./Walter Ziegler (Hrsg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918, Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. München 1990, 166–185, hier 182. Ein solch ausgesprochen konsensuelles Agieren ist m. E. seit 1688/89 nicht mehr zu erkennen, im Gegenteil wird in Stil und Inhalt ein autoritär-zentralistisches Vorgehen sichtbar, das kaiserlicherseits die entsprechenden Handlungsspielräume der Reichsverfassung voll ausschöpft. Zu den weitreichenden politisch-dynastischen Zielvorstellungen, die die kaiserliche Regierung auch in den Verhandlungen mit den Verbündeten zu Beginn des Neunjährigen Krieges weitreichende politisch-dynastische Zielvorstellungen erkennen ließ, vgl. jetzt Christoph Kampmann, Ein großes Bündnis der katholischen Dynastien 1688? Neue Perspektiven auf die Entstehung des Neunjährigen Krieges und der Glorious Revolution, in: Historische Zeitschrift (i. E., voraussichtlich 2011).
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Holländischen Krieg (1672–1679) auch ohne explizite Reichskriegserklärung nicht in Frage gestellt worden.67 Aber offensichtlich wollte der Wiener Hof ein Zeichen setzen und initiierte 1688/89 ein gänzlich neuartiges Verfahren. Grundsätzlich überrascht diese Vorgehensweise, wenn man sie vor dem Hintergrund der Reichsverfassungsentwicklung seit 1648 betrachtet. In der neuesten Forschung ist überzeugend herausgearbeitet worden, dass Reichspolitik und Reichsverfassung nach 1648 von einem eminent konservativen Grundzug geprägt waren. Nach den furchtbaren Erschütterungen der ersten Jahrhunderthälfte war die reichspolitische Stimmung Veränderungen gegenüber zutiefst abgeneigt, der Westfälische Friede und der Jüngere Reichsabschied hatten als Reichsgrundgesetze nach vorherrschender Auffassung die verbindliche „Ewige“ Reichsordnung geschaffen.68 Dies bedeutet keineswegs, dass es nach 1648 reichsverfassungsrechtlich keine Innovationen gegeben hätte. Die Entstehung des Immerwährenden Reichstags nach 1663, der zu einer zentralen politischen Kommunikations-„Drehscheibe“ wurde, ist der beste Beleg dafür.69 Die Vorstellung einer Erstarrung des Reichs, die die Historiographie im 19. Jahrhundert vertrat, ist zweifellos so nicht mehr aufrecht zu erhalten. Zutreffend ist aber, dass Neuerungen in der Reichspolitik und der Verfassungsentwicklung nach 1648 unter besonderem Legitimationsdruck standen, der über die übliche Traditionsorientierung der Epoche noch weit hinausging. Es bestand ein „ideeller Grundkonsens“ im Reich, dass grundsätzliche Alternativen zum Bestehenden nicht artikuliert werden dürften.70 Aufgrund dieser auf Bewahrung und Neuerungsfeindlichkeit angelegten Grundbefindlichkeit im Reich waren die Akteure bemüht, Innovationen, die sich als unumgänglich erwiesen, im Gesetzgebungsverfahren nach 1648 nach Möglichkeit als Rückkehr zur Tradition zu tarnen und sie hinter einer konservativen Begrifflichkeit „sorgfältig zu verbergen“ (Christmann).71 Zudem erwies sich auch die praktische Durchsetzung von Veränderungen als schwierig, weil es keine verbindlichen Entscheidungsinstanzen gab. Es entstand jene charakteristische Offenheit und Unentschiedenheit der Reichsverfassung, der auch der Immerwährende Reichstag letztlich seine Entstehung verdankte.72 67 68
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Vgl. Kampmann, Reichstag und Reichskriegserklärung (wie Anm. 27), 43–49. Vgl. Gabriele Haug-Moritz, Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: Zeitschrift für Historische Forschung 19, 1992, 445–482; in diesem Sinne auch Stollberg-Rilinger, Kaisers alte Kleider (wie Anm. 7), 223–225. Vgl. zum Charakter des Immerwährenden Reichstags als neuartigem Kommunikationszentrum im Reich und in Europa Susanne Friedrich, Drehscheibe Regensburg (wie Anm. 10). Doch war die Innovation nicht intendiert, sondern Ergebnis der Unentschiedenheit der Reichsverfassung; vgl. Christoph Kampmann, Der Immerwährende Reichstag als „erstes stehendes Parlament“? Aktuelle Forschungsfragen und ein deutsch-englischer Vergleich, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55, 2004, 646–662; zur ungeplanten, dezidiert nicht intendierten Entstehung des Immerwährenden Reichstags auch Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung (wie Anm. 26), 75. So überzeugend Haug-Moritz, Kaisertum und Parität (wie Anm. 68), 450. Vgl. zur vorherrschenden Tendenz, im Rechtsetzungsverfahren des Reichstags jeden notwendigen Wandel sorgfältig zu verbergen, Thomas Christmann, Das Bemühen von Kaiser und Reich um die Vereinheitlichung des Münzwesens. Zugleich ein Beitrag zum Rechtsetzungsverfahren im Heiligen Römischen Reich nach dem Westfälischen Frieden. Berlin 1988, 182. Vgl. Schindling, Anfänge des Immerwährenden Reichstags (wie Anm. 65), 42f.; Kampmann, Der Immerwährende Reichstag (wie Anm. 69).
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Angesichts dieser Grundsituation verwundert es nicht, dass die kaiserliche Regierung mit ihren geradezu demonstrativ angestoßenen Neuerungen auf Widerstände stieß, und zwar auch bei solchen Reichsständen, die in dieser Phase die kaiserliche Politik deutlich unterstützten. Auch hier kann das neue Verfahren zur Reichskriegserklärung als Beispiel dienen. So äußerte einer der Armierten des „Magdeburger Konzertes“, Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, der eigentlich ein entschlossener Anhänger aller scharfen Abwehrmaßnahmen gegen Frankreich war73, im Schreiben an seine Abgesandten in Regensburg zunächst seine Bedenken gegenüber dem neuartigen Wiener Procedere in Hinblick auf die Reichskriegserklärung. Es sei besser gewesen – so ließ er seine Emissäre in Regensburg wissen –, es beim bewährten Verfahren zu belassen, aber jetzt, da der Kaiser eine solche eigenständige Kriegserklärung einmal ins Spiel gebracht habe, werde man es nolens volens mittragen, um den Eindruck einer Spaltung der Verbündeten zu vermeiden.74
IV. Zur Deutung der Kommunikationsstrategie: ein Neues Modell von Sicherheit Angesichts dieser prinzipiell neuerungskritischen Haltung im Reich stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser politischen Strategie der kaiserlichen Regierung. Warum setzte die Wiener Reichspolitik seit Ausbruch des Krieges 1688 so energisch und entschieden auf Innovationen, von denen doch im Reich eine zuweilen geradezu schockierende Wirkung ausgehen musste? Man kommt einer Erklärung näher, wenn man sich die Legitimation der unterschiedlichen Neuerungen vergegenwärtigt. Auch hier gab es nämlich bemerkenswerte Parallelen. In den Mittelpunkt der Legitimation rückte der Kaiserhof die gefährdete Sicherheitslage des Reichs. Die Bedrohung des Reichs – so argumentierte der Kaiserhof – sei beispiellos, deshalb müssten auch Maßnahmen ergriffen werden, die ungewohnt seien. Die Sicherheit des Reichs erfordere diese neuen Maßnahmen.
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Vgl. zur Positionierung Kurbrandenburgs auf antifranzösischer Seite zuletzt Daniel Bellingradt, Das Entscheidungsmomentum 1688: Gestaltende Kräfte der kurbrandenburgischen Außenpolitik am Vorabend der Glorreichen Revolution in England, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 16, 2006, 139–170. Vgl. das Schreiben Kurfürst Friedrichs III. an die Reichstagsgesandtschaft in Regensburg, 1688 November 20, GStA Pr Rep. X 51 Fsz. 3 (Entwurf ); nachdem er in diesem Schreiben ausdrücklich alle kaiserlichen Abwehrmaßnahmen begrüßt hatte, setzte er zur Reichskriegserklärung fort: „Was sonsten das in dem kays. Commissionsedecret […] enthaltenen desiderium, dass nehmlich gegenwärtiger Krieg für einen Reichs=Krieg declariret werden möchte, anbetreffend seind Wir der Meinung dass es auch dessen nicht bedürfft hette, in dem kein vernünfftiger mensch in abrede sagen kan, dass das Reich nicht sollte mit Krieg angegriffen seyn, und hette man demnach solches nicht erst zur deliberation bringen, sondern als ein fundament der gegenwehr und rettung allegiren sollen; Nachdem es aber geschehen und also nicht mehr res integra, kann man weniger nicht thun, als solche erklährung geben, daß nemblich dieser Einbruch für einen Reichs=Krieg zu halten sey, dan, wan man haesitire, oder gar contrarium votiren sollte, würde daraus eine höchstschädliche division entstehen [die nur Frankreich und seinen Anhängern im Reich nützen würde].“
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Die Argumentation mit der Sicherheit des Reichs war keineswegs neu, im Gegenteil: Die securitas publica, die öffentliche Sicherheit, war ein, wenn nicht das entscheidende Schlagwort der öffentlichen Debatte im Reich im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts. Nicht zu Unrecht überschreibt Georg Schmidt in seinem Überblickswerk zur Geschichte des Alten Reichs den Abschnitt über das letzte Viertel des 17. Jahrhunderts knapp und schlagwortartig mit dem Titel „Sicherheit“.75 Sicherheit war in der Reichspolitik dieser Zeit das alles beherrschende Thema. Dies galt zum einen auf theoretischer Ebene, der Diskussion in der reichspublizistischen Literatur.76 Die Frage, wie die Sicherheit des Reichs und ihrer Glieder zu garantieren sei, war eine Schlüsselfrage dieser Debatte, die unter breitester Beteiligung, auch führender Köpfe wie Leibniz, geführt wurde.77 Dies galt aber auch für die politische Alltagsarbeit in den Reichsgremien und Reichsinstitutionen, und hier natürlich zu allererst für den Immerwährenden Reichstag. Die Materia Securitatis publicae war hier das ständig neu und wieder behandelte Thema.78 Sicherheit war von Begriff und Sache her so allgegenwärtig im Reich, dass es – in Anlehnung an eine von der Zeitgeschichte entwickelte Terminologie – zweifellos gerechtfertigt ist, von einer ausgeprägten „Sicherheitskultur“ im römisch-deutschen Reich nach 1648 zu sprechen.79 Das Schlagwort Sicherheit allein war also nichts Neues, doch unterschied sich der sicherheitspolitische Diskurs, mit dem der Kaiser seine Maßnahmen seit Ausbruch des Krieges 1688 rechtfertigte, doch beträchtlich von der Verwendung des Sicherheitsarguments vor 1688. Kaiserlicherseits wurde nämlich damit argumentiert, dass das Reich unmittelbar vor seinem Zusammenbruch und der Fremdherrschaft stehe, wenn nicht ein grundlegender Kurswechsel stattfinde. In einer solch dramatischen Tonlage, wie der Wiener Hof seine
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Vgl. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reichs. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495– 1806. München 1999, 212. So schon sehr dezidiert Werner Conze, Art. Sicherheit, in: Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Studienausgabe. 8 Bde. Stuttgart 2004, Bd. 5, 831–862, hier 841f. Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung (wie Anm. 26), 105–110; Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg. Mainz 2004, 546–560. Vgl. zur intensiven Beschäftigung von Leibniz mit der Problematik der Sicherheit Kirsten Hauer, „Securitas publica“ und „Status praesens“: Das Sekuritätsgutachten von Gottfried Wilhelm Leibniz (1670), in: Sven Externbrink/Jörg Ulbert (Hrsg.), Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem. Festschrift für Klaus Malettke zum 65. Geburtstag. Berlin 2001, 441–466; Christoph Kampmann, Eine „neue Formel“ für die Vorherrschaft Ludwigs XIV.? Leibniz, Bodin und das Arbitrium Europae, in: Klaus Malettke/Christoph Kampmann (Hrsg.), Französisch-deutsche Beziehungen in der neueren Geschichte. Festschrift für Jean Laurent Meyer zum 80. Geburtstag. (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit. Marburger Beiträge, Bd. 10.) Berlin 2007, 129–148. Vgl. Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung (wie Anm. 26), 116–132. Vgl. dazu Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53, 2005, 357–380. Die von Conze gewählte Formulierung von der Sicherheit als „umfassendem soziokulturellem Orientierungshorizont“ (ebd., 360) ist mutatis mutandis durchaus auf die politische Kultur des Heiligen Römischen Reichs im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts anwendbar.
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Christoph Kampmann
reichspolitischen Schritte seit Herbst 1688 rechtfertigte, war die Diskussion zuvor doch noch nicht geführt worden. Dies galt bemerkenswerterweise keineswegs nur für die öffentlichen Stellungnahmen80, sondern auch für die internen Vorlagen in den Reichsgremien. Ein beredtes Beispiel ist die kaiserliche Proposition zur Königswahl Josefs I., die – soweit mir bekannt – zeitgenössisch nicht im Druck veröffentlich wurde. Darin wurde das Bild einer extremen, existenzbedrohenden Lage des römisch-deutschen Reichs entworfen. Frankreichs Angriff habe das Reich in seinen Grundfesten erschüttert, indem es zahlreiche Fürstentümer und Kurfürstentümer „gantz über den Hauffen geworfen habe“, und es greife nun unverhohlen nach der Herrschaft über das gesamte Reich.81 Dank der bekannten virtuos angewandten Methoden der französischen Krone, nämlich einer Mischung aus betrügerischen Verheißungen und handfesten tyrannischen Bedrohungen, sei die Gefahr einer völligen Überwältigung des Reichs real gegeben. Der Vorsatz Frankreichs, in nicht allzu ferner Zukunft den Dauphin als Nachfolger des regierenden Kaisers installieren zu können, sei ungebrochen.82 Zusätzlich dramatisiert wurde dieses Szenario noch durch das ständig wiederholte Bild der gleichzeitig von West und Ost gegen das Reich andrängenden feindlichen Heere, die Deutschland unschwer überwältigen würden, wenn jetzt nicht alle Anstrengungen auf vollkommene Geschlossenheit und Abwehr gerichtet würden. Sollte in der entstandenen Lage nicht der Sicherheit des Reichs – so der Tenor der Legitimation – von allen Reichsgliedern absolute Priorität eingeräumt werden, so sei das Reich verloren.83 Kurz: die Bedrohungssituation sei geradezu beispiellos, die Sicherheitsfrage brisanter denn je. Vor diesem Hintergrund wird erklärbar, weswegen die kaiserliche Regierung sich offen zu der Neuartigkeit der vorgeschlagenen reichspolitischen Initiativen bekannte. Der noch nicht dagewesenen Ungeheuerlichkeit der Gefährdungslage des Reiches entsprach die Beispiellosigkeit der angeregten reichspolitischen Schritte. Anders herum gewendet: Die Neuartigkeit 80
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Vgl. u. a. die Reichskriegserklärung von 1689 April 3 (wie Anm. 35), hier 674, zur ernsthaften, dem Reich von Frankreich drohenden Gefahr, unter der Last des Doppelangriffs von West und Ost „über den Hauffen“ geworfen und unter „das Joch [Frankreichs] gebracht“ zu werden. Vgl. HHStA RK Wahl und Krönungsakten 22, fol. 1–11, hier fol. 6f. u. ö. Ebd. fol. 6v. Vgl. als charakteristisches Beispiel für diesen drastischen Argumentationsstil das Kaiserliche Commissionsdecret von 1688 November 13 (wie Anm. 31), 646f.: „Es seye der Churfürsten, Fürsten und Stände anwesenden vortrefflichen Räthen, Bottschafften und Gesandten bereits vorgekommen, wasgestalt die Cron Franckreich, über die vormahls angeregte Feindthätlichkeiten […] vorgenommen, weniger nicht in den Schwäbischen und Fränckischen Creyß tieffer eingedrungen, und schon an vielen Orten mit Sengen und Brennen, auch andern Grausamkeiten unchristlich verfahren seye. Wann nun damit erst=besagte Cron Ihr ungerechtestes Vorhaben gegen das Heilige Römische Reich, und dessen getreue Stände, je länger, je mehrers an Tag giebt, nemlichen den Krieg immer weiters ins Reich fortzusetzen, wie Dieselbe allschon, wegen nicht gefundenen Widerstands, beynahe die gantze 4. Rheinische Churfürstenthümer, nebenst sovielen andern Herrschafften und Städten, übergewältiget, also das völlige Reich übern Hauffen zu werffen, und unter Ihr Joch zu bringen, oder doch gäntzlich zu verheeren, und zum Steinhauffen zu machen: und demnach die äusserste Noth von selbsten anweiset, daß mit allhiesigen Berathschlagungen über die eingereichten Klagden, und wegen der gesuchten Hülffe, nicht ferners zu verziehen, sondern vielmehr ohne eintzigen Aufschub solche in denen Reichs=Collegiis vorzunehmen.“ Vgl. auch die Reichskriegserklärung (wie Anm. 35), 675f.; Proposition (wie Anm. 81), fol. 4’-6.
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und Beispiellosigkeit der kaiserlichen Reichspolitik unterstrich in dieser Weise die vom Kaiserhof behauptete Dramatik der außenpolitischen Situation des Sacrum Imperium. Nimmt man die seit Herbst 1688 angestrengten unterschiedlichen reichspolitischen Innovationen zusammen, so entwarf die kaiserliche Regierung damit ein Neues Modell der Sicherheit des Reichs, das sich radikal und bewusst von der früheren Reichspolitik unterschied. Dieses Neue Modell korrespondierte unmittelbar mit der neuartigen Gefahrenanalyse und es gab keinen Zweifel, was dieses Neue Modell von Sicherheit aus kaiserlicher Sicht bedeutete: Zum einen ein neues Maß an Geschlossenheit im Reich, das keinen Raum für irgendwelche ständischen Sonderwege und Parteibildungen zuließ.84 Der Kaiserhof ließ keinen Zweifel, dass er diese Fraktionierungen anders als etwa im letzten Krieg mit Frankreich, dem Holländischen Krieg85, diesmal nicht zulassen und in vorher nicht gekannter Weise ahnden werde, wie am Beispiel eines so prominenten Reichsstands wie Kurmainz in eindrucksvoller und für alle sichtbarer Weise demonstriert wurde. Zum anderen bedeutete dies eine bis dahin unbekannte Mobilisierung der Reichsglieder zur Abwehr gegen die äußeren Feinde, die das Reich überwältigen und zerstören wollten. Und schließlich wies das auf eine neue Form der Zentralisierung, der Sammlung unter Führung des Kaisers und seines Hauses hin. Der kaiserlichen Regierung kam es offensichtlich darauf an, den Bruch, die Zäsur zu den älteren Formen dezentraler Reichspolitik zu verdeutlichen. Die vom Kaiser offensiv initiierten Innovationen und Traditionsbrüche waren geeignet, dieses Neue Modell von Sicherheit, diesen Bruch mit bisherigen Gepflogenheiten der Reichspolitik, zu kommunizieren. Denn gerade weil solche Neuerungen aufrüttelten, schockierten, konnten sie nachdrücklich verdeutlichen, was sicherheitspolitisch die Stunde geschlagen habe. Das vertraute Leitthema „Sicherheit“ erhielt hier auf einmal ein vollkommen neues Gepräge. Ihr Schutz – so wurde auf diese Weise unmissverständlich vermittelt – werde die Reichsglieder, insbesondere die Reichsstände, zwingen, auf große Teile der vertrauten „Libertät“ zu verzichten und sich der kaiserlichen Führung anzuvertrauen bzw. unterzuordnen, wenn sie das Reich retten wollten. „Sicherheit statt Libertät“ – so könnte man das Neue Modell der Sicherheit des Reichs, um das es in der reichspolitischen Offensive 1688/89 ging, knapp und zugespitzt auf den Nenner bringen. Bezeichnend ist aber, dass die kaiserliche Reichspolitik dieses Neue Modell von Sicherheit eben nicht – und das ist hier entscheidend – auf den sprachlichen Begriff gebracht hat, sondern die angestrebte Zäsur in der Reichsund Sicherheitspolitik durch bewusst inszenierten Traditionsbruch und Innovation symbolisch kommunizierte.
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Drastisch formuliert in der Reichskriegserklärung (wie Anm. 35), 676. Zur reichständischen Parteibildung im Holländischen Krieg, auf die indirekt 1688/89 ständig rekurriert wurde, vgl. Klaus Peter Decker, Frankreich und die Reichsstände 1672–1675. Bonn 1981.
Ideal und Verkörperung der Aufklärung St. Petersburg im 18. Jahrhundert Ada Raev
1. Zum Modellcharakter von St. Petersburg In seiner Denkschrift zu Russland vom Dezember 1708 verwendet Gottfried Wilhelm Leibniz für die Beschreibung seines anhaltend verfolgten Anliegens, Russland zu einem Land der Wissenschaften und Künste zu machen, eine denkwürdige Metapher: „Ich stehe auch in dem gedanken, nachdem es meist alda noch tabula rasa ist und als ein neuer Topf, so noch nicht frembden Geschmack in den Studien angenommen, es werden viele bey uns eingeschlichene fehler verhütet und verbessert werden können, sonderlich weil alles durch das Haupt eines weisen Herrn gehet, also seine gebührende Stimmung und Harmonie erlangen kann, gleich einer auff einmahl und nach einem Eigen Riss neu erbauten Statt, dahingegen die alten Städte, so allmählich anwachsen insgemein unordentlich gebauet werden.“1
Als der unermüdliche und über Landesgrenzen hinaus denkende Aufklärer diese Worte niederschrieb, lag die Gründung von St. Petersburg gerade fünf Jahre zurück. Im Frühjahr 1703, mitten im Nordischen Krieg, soll Peter I., der Adressat der Leibniz’schen Denkschriften, der Legende nach auf einem Ritt durch das den Schweden abgetrotzte unwirtliche Marschland der Neva-Mündung verfügt haben: „Hier soll eine Stadt entstehen“.2 Noch im Nachhinein erschien vielen Russen dieses Ansinnen und seine opferreiche Realisierung so kühn und aberwitzig, dass Vladimir Odoevskij die romantische Metapher in die Welt setzte, Peter habe die Stadt im Himmel erschaffen und dann wie ein riesiges Modell auf die Erde herabgelassen.3 Der Vergleich von St. Petersburg mit einem Modell und das von Leibniz gebrauchte Wunschbild des künftigen Russlands als eine von Harmonie bestimmte Planstadt sind kein Zufall. Die ehrgeizige Neuschöpfung war von Anfang an sehr viel mehr als lediglich nur eine Stadt auf der weitläufigen Karte des Russischen Reiches. Es stand außer Frage, dass in der im Aufbau befindlichen Stadt wegen ihrer von Wasser bestimmten Lage, die komplizierte Entwässerungs- und Befestigungsbemühungen erforderlich machte und doch immer wieder Überschwemmungen zur Folge hatte, nichts dem Zufall überlassen werden sollte. Darauf achteten auch die nachfolgenden russischen Zarinnen und Zaren, denn wie ihrem Gründer lag auch ihnen daran, diese Stadt, die 1712 Moskau als Hauptstadt des Russischen Reiches 1
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Zitiert nach: Mechthild Keller, Wegbereiter der Aufklärung. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Wirken für Peter den Großen und sein Reich, in: dies. (Hrsg.), Russen und Russland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert. (West-östliche Spiegelungen. Reihe A, Bd. 1.) München 1988, 391–413, hier 402. Am Baubeginn nahm der Zar vermutlich nicht teil. Vgl. Andrej V. Ikonnikov, Tysjača let russkoj architektury (Tausend Jahre russischer Architektur). Moskau 1990, 226. Vgl. V. F. Odoevskij, Sočinenija (Werke). Bd. 2. Moskau 1912, 146.
Ideal und Verkörperung der Aufklärung
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ablöste, zum Symbol des neuen, mit der europäischen Zivilisation verbundenen Russlands zu machen und damit auch der eigenen Herrschaft ein Denkmal zu setzen.4 Mehr noch, St. Petersburg wuchs wie ein Kunstwerk heran und beeindruckt bis heute durch das stimmige Miteinander von Bauten unterschiedlicher Epochen. Als Referenzrahmen boten sich aus urbanistischer Sicht so unterschiedliche Städte wie Amsterdam und Venedig an, die mit St. Petersburg viele Kanäle und ein flaches Bodenprofil gemeinsam haben. Die Schönheit und die urbanen Vorzüge der holländischen Hauptstadt hatte Peter I. auf seinen Gesandtschaften persönlich schätzen gelernt5, die Großartigkeit und den pittoresken Reiz von Venedig kannte er aus Büchern und Stichen. Aber auch Paris und vor allem die glanzvolle Inkarnation des Absolutismus, Versailles, verfehlten ihre Wirkung auf Russland nicht. Schon der Sommergarten in St. Petersburg und umso mehr die Parks der Residenzen von Peterhof und Carskoe Selo sollten Versailles übertreffen. Um die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, wurden einerseits ausländische Architekten nach St. Petersburg eingeladen und andererseits bereits 1716 angehende russische Baumeister wie Petr Eropkin, Ivan Korobov und andere nach Italien und den Niederlanden zur Vervollkommnung ihrer Kenntnisse geschickt. Die russischen Herrscherinnen und Herrscher ließen keinen Zweifel an der Verbindlichkeit ihrer eigenen ästhetischen Vorstellungen. Peter I. legte zum Beispiel per Dekret fest, dass die Paläste gleichmäßige Fassaden haben sollten, und zwar in Übereinstimmung mit von ihm persönlich abgesegneten Entwürfen. Besonderen Wert legte er auf einheitliche Dachfirste, und für die Balkone und Mauern zur Uferseite hin schrieb er Eisengitter vor. Die 1706 ins Leben gerufene Kanzlei für städtische Angelegenheiten, 1723 in Baukanzlei umbenannt, hatte für die Umsetzung der Pläne und die Einhaltung der Regeln zu sorgen. Unter Katharina II. wurde dieser Ansatz in städtebaulichen Dimensionen von der 1762 ins Leben gerufenen „Kommission für Steinbau St. Petersburgs und Moskaus“ weiter entwickelt. Eine ihrer Hauptaufgaben bestand darin, „die Stadt Sankt-Petersburg in eine solche Ordnung und einen Zustand zu versetzen und ihr eine solche Großartigkeit zu verleihen, wie es sich für die Hauptstadt eines riesigen Reiches geziemt“.6 In Übereinstimmung mit der bereits bestehenden Bausubstanz sollten Panoramen großer, gerader Magistralen entstehen, deren Schnittpunkte durch schöne Plätze akzentuiert werden sollten. Seit 1762 wurde zunächst das Palastufer mit Granit befestigt. In den 1770er Jahren wurden dann auch die Ufer der Flussarme und die Kanäle mit Granit und kunstvollen Eisengittern eingefasst, so dass die Bauwerke dahinter wie in einem Rahmen umso wirkungsvoller zur Geltung kamen. 4
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Zu diesem Aspekt in Bezug auf Peter I. vgl. Frithjof Benjamin Schenk, Die Stadt als Monument ihres Erbauers. Orte der symbolischen Topographie, in: Karl Schlögel/Frithjof Benjamin Schenk/Markus Ackeret (Hrsg.), Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. Frankfurt/New York 2007, 47–58. Zur Architektur der Peter-Zeit insgesamt siehe James Cracraft, The Petrine Revolution in Russian Architecture. Chicago/London 1988. Vgl. Wolfgang Griep/Frauke Krahé (Hrsg.), Peter der Große in Westeuropa. Die Große Gesandtschaft 1697–1698. Ausstellungskatalog. Bremen 1991; Dieter Alfter (Hrsg.), Zar Peter der Große. Die zweite große Reise nach Westeuropa 1716–1717. Ausstellungskatalog. Hameln 1999. Zitiert und übersetzt nach Galina N. Komelova, Architektura Peterburga vtoroj poloviny XVIII veka (Die Architektur St. Petersburgs der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts), in: Ekaterina Velikaja Russkaja kul’tura vtoroj poloviny XVIII veka (Katharina die Große. Die russische Kultur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts). Ausstellungskatalog. St. Petersburg 1993, 15.
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2. Visuelle Konstanten im Stadtbild von St. Petersburg Seit jeher frappierten die weiten Dimensionen von St. Petersburg, die seinen Schöpfern ungekannte inszenatorische Spielräume boten. In den frühen Stichen und Panoramen (Abb. 1) ist eine Qualität besonders betont, die Madame de Staël 1812 bei ihrem Besuch in St. Petersburg angesichts der barocken und klassizistischen Bausubstanz des 18. Jahrhunderts zu der Bemerkung veranlasste, dass „hier alles für die visuelle Wahrnehmung erschaffen“ worden sei.7 Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Dominanz der Horizontalen gegenüber den Vertikalen, die man auf andere Weise auch in skandinavischen Städten wie Helsinki und Kopenhagen findet. In St. Petersburg bilden die Horizontalen, wie der Kulturhistoriker Dmitrij Lichačev betont8, unangefochten die Grundlage, von der alle anderen Linien ausgehen. Ihren Ursprung haben sie in dem völlig flachen Delta der Neva mit ihren vielen, natürlich vorhandenen Armen und den im Zuge der Trockenlegung der Sumpfgebiete angelegten Kanälen. Die Linien am Horizont, an denen Himmel, Erde und Wasser zusammenstoßen, waren für die in St. Petersburg tätigen Architekten immer die Ausgangsbasis für ihre Planungen. Das betraf sowohl die Anlage der in die Tiefe des Raumes vorstoßenden Kanäle als auch die von den Neva-Brücken ausgehenden, lang gezogenen und geraden Straßen und Prospekte mit ihren einzelnen Bauten und Häuserzeilen, bei denen man auf eine einheitliche Höhe achtete. Als Faustregel galt, nicht höher zu bauen als das Winterpalais, damit der Zarensitz das Maß aller Dinge bleiben konnte.9 Vertikale Zeichen wurden sowohl durch die Bauten selbst, ihre Bekrönungen oder aber durch Denkmäler gebildet, derer es in St. Petersburg viele gibt. Von besonderer Bedeutung für die Stadtsilhouette sind bis heute drei weit in den Himmel aufragende Nadelspitzen: die des Admiralitätspavillons, des Glockenturms der St.-Peter-und-Pauls-Kathedrale in der gleichnamigen Festung und des zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbauten Michaels-Schlosses. Durch den hohen Wasserstand der Neva und ihre Breite wirkt die Stadt wie von Wasser erfüllt, so, als habe sie keinen Grund und befände sich in einem permanenten Schwebezustand. Charakteristisch ist zudem das Streben nach einer durchgehenden Bebauung, ohne dass es Lücken zwischen den Häusern gibt, was die naturgegebenen Horizontalen noch zusätzlich betont. Durch mannigfache Spiegelungen im Wasser gewinnen die Bauten des Petersburger Barocks und Klassizismus trotz schwerer Einzelformen an Leichtigkeit und Beweglichkeit.
3. Imperiale Gesten Im Werden von St. Petersburg, Russlands „Fenster nach Europa“, das „die größte Ansammlung grandioser Baukunst aus dem 18. Jahrhundert östlich des Rheins“10 beherbergt, treten
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9 10
Hier zitiert nach Orlando Figes, Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands. Berlin 2003, 32. Dmitrij Lichačev, Obraz goroda (Das Bild der Stadt.), in: ders., Russkoe iskusstvo ot drevnosti do avangarda (Die russische Kunst von den alten Zeiten bis zur Avantgarde). Moskau 1992, 331–357. Vgl. Komelova, Architektura Peterburga (wie Anm. 6), 15. Thomas DaCosta Kaufmann, Sankt Petersburg und Umgebung im 18. Jahrhundert, in: ders., Höfe, Klöster und Städte. Kunst und Kultur in Mitteleuropa 1450–1800. Köln 1998, 371.
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Abb. 1 Aleksej Zubov, Panorama St. Petersburgs, 1716, Radierung, St. Petersburg, Staatliche Eremitage (Fragment).
nicht nur der Universalismus der russischen Aufklärung, sondern nach Meinung von Thomas DaCosta Kaufmann auch die imperialen Bestrebungen des Russischen Reiches anschaulich zu Tage.11 Ein erster und wichtiger Schritt zur visuell ‚sprechenden‘ Umsetzung dieser Ideen und für ihr Verständnis war das von Peter I. in Auftrag gegebene und 1705 in Amsterdam erstmals gedruckte, im Folgenden ergänzte und mehrfach wieder aufgelegte Buch Izbrannye emblemy i simvoly na Rossijskom, Latinskom, Francuzskom, Nemeckom i Anglijskom jazykach ob’jasnennye [...] (Selecta Emblemata et Symbola Rossica, Latina, Gallica, Germanica et Anglica linguis exposita […]).12 Zusammengestellt aus verschiedenen Quellen, machte es den russischen Leser mit der höfischen, religiösen, naturphilosophischen, poetischen, staatspolitischen, heraldischen und später auch freimaurerischen Symbolik und ihrer Auslegung ver-
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DaCosta Kaufmann, Höfe (wie Anm. 10), 373. Vgl. Ėmblemy i simvoly (Embleme und Symbole). Einleitung und Kommentare von Aleksandr Evgenevic Machov. Moskau 2000.
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traut. Erst die allmähliche Aneignung der geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der neuzeitlichen, auf der Antike basierenden Kunst durch den Adel verlieh den in ihr verkörperten Botschaften anhaltende Wirksamkeit in der russischen Gesellschaft. In zwei monumentalen Reiterstandbildern Peters I. finden imperiale Gesten auf je unterschiedliche Weise einen sinnfälligen Ausdruck.13 Das von Rastrelli geschaffene, stärker der Tradition verpflichtete Denkmal gelangte erst verspätet zur Aufstellung und tritt im Stadtbild kaum hervor. Das andere, eine Schöpfung Falconets, wurde von Anfang an im direkten und übertragenen Sinne als kühn nach Europa und in die Zukunft weisend, als „Symbol der Petrinischen Europäisierung, der Aufklärung und generell des Fortschritts“14 interpretiert. Aleksandr Puškin hat es 1833 in seinem Poem Der eherne Reiter (Mednyj vsadnik) literarisch verewigt. Die Planungen des ersten Reiterstandbildes Peters I. von Bartolomeo Carlo Rastrelli, das erst im Jahre 1800 zur Aufstellung kam, gehen auf das Jahr 1716 zurück.15 Peter I. knüpfte mit diesem Auftrag an die römische Tradition an, gemäß derer erfolgreiche Herrscher und Heerführer noch zu Lebzeiten Reitermonumente von sich aufstellen ließen. Konkret bezog sich die Konzeption des Reitermonumentes von Rastrelli auf die Siege gegen die Schweden im Nordischen Krieg, die Peter als die wichtigste Angelegenheit seiner Herrschaft, als Grundlage für die Erfolge auf allen Gebieten der gesellschaftlichen Umgestaltung in Russland betrachtete. Bartolomeo Carlo Rastrelli war auf eine solche Aufgabe bestens vorbereitet, denn durch seine italienische Herkunft und durch sein Wirken in Paris am Hof Ludwigs XIV. zu Beginn des 18. Jahrhunderts kannte er die einschlägigen Reitermonumente in Europa: sowohl das antike Reitermonument von Marc Aurel in Rom als auch die darauf rekurrierenden Reiterstandbilder des Gattamelata von Donatello in Padua und das des Bartolomeo Colleoni von Andrea Verrocchio in Venedig sowie diejenigen der europäischen Monarchen des 16. und 17. Jahrhunderts. Anregungen von vielen dieser Vorläufer sind im Entstehungsprozess des Reiterstandbildes Peters I. von Rastrelli zu beobachten. Für einen der Entwürfe stand einerseits ein Relief mit der Darstellung Ludwigs XIV. von Antoine Coysevox Pate – daher die pyramidale Komposition, die Figur des fliegenden Ruhmes und die gefesselten Gefangenen auf dem Sockel des Denkmalsentwurfs. Andererseits lehnt sich die Reiter-Pferd-Gruppe eher an das Reiterdenkmal Ludwigs XIV. von François Girardon an. Das heißt, dass sich Rastrelli für das Reiterdenkmal Peters I. im Unterschied zu seinen an Berninis dynamisches Porträtkonzept anknüpfenden Porträtbüsten auf die klassizistische Linie der französischen Barockkunst bezog. In eine andere Entwurfsskizze sind aber auch Eindrücke von dem Reiterstandbild des Großen Kurfürsten von Andreas Schlüter aufgenommen, das Rastrelli 1716 13
14
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Vgl.: Vera Proskurina, Peterburgskij mif i politika monumentov (Der Mythos von Petersburg und die Denkmalpolitik.), in: Novoe literaturnoe obozrenie, Bd. 2, 2005, 103–131. Felix Philipp Ingold, Die Faszination des Fremden. Eine andere Kulturgeschichte Russlands. München 2009, 163. Zur Geschichte und Aufstellung dieses Reitermonumentes vgl. Vsevolod Petrov, Konnaja statuja Petra I raboty Rastrelli (Das Reiterstandbild Peters I. von Rastrelli.), in: ders., Očerki i issledovanija. Izbrannye stat’i o russkom iskusstve XVIII–XX vekov (Essays und Studien. Ausgewählte Aufsätze über die russische Kunst des 18.-20. Jahrhunderts). Moskau 1978, 19–42; auch: Volker Hunecke, Europäische Reitermonumente. Ein Ritt durch die Geschichte Europas von Dante bis Napoleon. München 2008, 267–268.
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bei seiner Übersiedelung nach Russland in Berlin gesehen hatte. Das äußert sich vor allem im Kontrast zwischen der feierlichen Ruhe des Reiters und der erregten Dynamik der allegorischen Figuren des Sockels. Auf letztere wurde bei der sehr viel späteren Aufstellung allerdings ganz verzichtet – der hohe Sockel ist mit Bronzereliefs bedeutender Schlachten des Nordischen Krieges, die unter der Leitung von Michail Kozlovskij ausgeführt wurden, geschmückt. Die zeitliche Verzögerung der Ausführung (1744) und der Aufstellung des Denkmals (1800) ist das Ergebnis der wechselnden Machtkonstellationen innerhalb der Dynastie der Romanovs, die von den jeweiligen Protagonistinnen und Protagonisten mit symbolischen Handlungen untermauert wurden. In der realisierten Form erscheint das Monument mit seiner auf ruhigen Horizontalen und Vertikalen basierenden Komposition als Inkarnation absolutistischer Herrschaft alten Stils. Ruhig, beherrscht, voll innerer Kraft und unbedingter Disziplin, gleichsam getragen vom Bewusstsein um die eigene Bedeutung, lenkt Peter I. das im Stand befindliche Pferd mit angehobener rechter Hufe. Er ist in eine Rüstung und einen die Würde steigernden Überwurf aus Hermelin gekleidet, in den Doppeladler eingewirkt sind, und mit einem Lorbeerkranz geschmückt. Der Gesichtsausdruck mit den hervorstehenden Augen ist gespannt, in der Hand hält er den obligatorischen Marschallstab. Die einheitliche Masse von Reiter und Pferd und die verlangsamte Bewegung können als Metapher für die den Augenblick überdauernde Bedeutung der Herrschaft Peters I. und die Größe Russlands gelesen werden. Ob man es aufgrund seiner komplexen Traditionsbezüge mit Volker Hunecke einseitig als „phantasielos“16 abtun sollte, sei dahingestellt, doch war es tatsächlich nicht diesem Denkmal mit der Aufschrift „Der Enkel dem Großvater“ beschieden, über Generationen hinweg das Bild von St. Petersburg als Ort des Aufbruchs Russlands in die Neuzeit zu prägen. Katharina II. hatte gewichtige Gründe, dem machtbewussten, dynamischen und visionären Gründer der neuen russischen Hauptstadt zu huldigen und ihn zu preisen. Sie stand unter Druck und setzte alles daran, mit verschiedenen Mitteln die Umstände ihrer gewaltsamen Thronbesteigung, den Mord an ihrem Ehemann und Vorgänger auf dem russischen Thron, Peter III., aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen und sich in eine positiv konnotierte Genealogie einzuschreiben. Die Widmung eines monumentalen Reiterstandbildes dem im Westen geachteten Peter I. erschien als besonders geeignetes Mittel, die Illegitimität der eigenen Thronbesteigung vergessen zu machen.17 Ivan Bezkoj, der persönliche Sekretär der Zarin, machte 1764 Vorschläge für die Gestaltung eines neuen Reiterstandbildes Peters I., wiederum im Geiste des Marc Aurel-Typus, und für mögliche Schöpfer, die die Kaiserin jedoch ablehnte. Sie erschienen ihr alle wie das von Rastrelli geschaffene Monument zu konventionell. Mehrere französische Bildhauer mit einschlägiger Erfahrung wie Jean-Baptiste Lemoyne d. J., Augustin Pajou, Jacques-Francois-Joseph Saly, Louis-Claude Vassé und Guillaume Coustou bekundeten ihr Interesse, doch erging der Auftrag, ein Denkmal Peters des 16 17
Vgl. Hunecke, Reitermonumente (wie Anm. 15), 268. Zu Katharina II. vgl. Hans Ottomeyer (Hrsg.), Katharina die Große. Ausstellungskatalog. Kassel 1997; Claus Scharf (Hrsg.), Katharina II., Russland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 45.) Mainz 1992.
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Großen für St. Petersburg zu schaffen, 1765, vermittelt durch Denis Diderot, überraschend an Étienne-Maurice Falconet.18 Falconet hatte weder Erfahrung mit monumentalen plastischen Bildwerken, noch mit Porträtplastiken, doch war er als Gegner der Winckelmann‘schen Kanonisierung der klassischen Kunst bekannt und als jemand, der jedes Dogma und leere Repräsentation in der Kunst ablehnte. In seinem Traktat Gedanken zur Skulptur forderte er in Anlehnung an seinen Lehrer Pierre Puget bereits 1761 von den Künstlern, dass es die lebendige, beseelte und leidenschaftliche Natur sei, die der Bildhauer in Marmor, Bronze und Stein darstellen solle.19 In seiner Schülerin und Assistentin Marie-Anne Collot hatte Falconet eine kongeniale Mitstreiterin, die den Kopf Peters gemäß den Forderungen ihres Lehrers nach der noch von Rastrelli abgenommenen Gesichtsmaske und den Porträtbüsten des Zaren für den Guss modellierte. Sie schuf einen von großzügigen, bewegten Massen bestimmten Kopf, in dessen Ausdruck sowohl das Temperament als auch die Willensstärke des Zaren, aber auch seine Unerbittlichkeit eingegangen sind. Sie realisierte damit ein Porträtkonzept, das dem Anspruch des Denkmals entspricht, den Maßstab Peters als Herrscher quasi ‚natürlich‘, ohne zusätzliche allegorische Attribute, vorzuführen – eine Idee, die Katharina II. gegen viele Widerstände verteidigte. In einem Brief vom 26. Februar 1767 aus St. Petersburg an Diderot erläuterte Falconet seine ungewöhnlichen künstlerischen Absichten in Bezug auf das Reiterstandbild: Die Ausführung des Monuments, an dem ich hier arbeite, wird einfach sein. Die Barbarei, die Liebe der Völker und das Symbol der Nation wird es daran nicht geben. Derartige allegorische Figuren würden dem Werk vielleicht mehr Poesie einhauchen; aber in meinem Metier muß man, zumal wenn man fünfzig Jahre zählt, vereinfachen, wenn man das Werk jemals zu Ende bringen will. Hinzu kommt, dass Peter der Große selbst sein eigener Gegenstand und seine eigene Allegorie ist; allein dies gilt es zu zeigen.“20
Weiterhin betonte er, dass er sich auf das Standbild des Helden beschränken und ihn nicht als großen Heerführer und Sieger darstellen werde, auch wenn dieser gleichwohl das eine wie das andere gewesen sei. Viel höher veranschlagte er für sich die Persönlichkeit des Zaren als Gründer, als Gesetzgeber und Wohltäter seines Landes, was man den Menschen zeigen müsse: „Mein Zar hat kein Zepter in der Hand; er breitet seine wohltätige Rechte über das Land, das er durchreitet. Er steigt zur Spitze des Felsens auf, der ihm als Sockel dient – das ist das Symbol der von ihm bezwungenen Schwierigkeiten. So ist diese väterliche Hand, der Ritt auf dem steilen Felsen das Sujet, das ich Peter dem Großen gegeben habe. Natur und Menschen haben ihm die abschreckendsten Schwierigkeiten entgegengestellt. Kraft der Hartnäckigkeit seines Genius hat er sie überwunden und rasch all das Gute geschaffen, das niemand wollte.“21
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Neben Hunecke vgl. Alexander M. Schenker, The Bronze Horseman. Falconet’s Monument to Peter the Great. New Haven/London 2003. Etienne Maurice Falconet, Réflexions sur la sculpture, in: ders., Oeuvres Complètes, troisième edition, revue et corrigée par l’auteur. Paris 1808, Ndr. Genf 1970, Bd. 1. In deutscher Übersetzung zitiert nach Hunecke, Reitermonumente (wie Anm. 15), 271. Ebd., 276.
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Abb. 2 Anton Losenko, Zeichnung des Denkmals für Peter I. nach Falconets großem Modell, 1770, Bleistift auf Papier (?), Nancy, Musée des Beaux Arts.
Auch teilte er Diderot mit, dass er Peter nicht auf römische Art kleiden wolle, so wie er Julius Cäsar oder Scipio nicht in russische Gewänder kleiden würde. Seine spektakuläre Wirkung verdankt das Denkmal, das schon als Modell beeindruckte und dessen Aufstellung Anton Losenko auf einer eindrucksvollen Zeichnung antizipierte (Abb. 2), neben der Pose des sich aufbäumenden Pferdes nicht zuletzt der ungewöhnlichen Sockellösung in Gestalt eines behauenen Monolithen. 1770 hatte man den nach der Bearbeitung vor Ort immer noch 275 Tonnen schweren Fels aus den Wäldern nördlich des Finnischen Meerbusens zunächst fünf Meilen bis zur Küste geschleppt und ihn dann auf einem eigens konstruierten Kahn nach St. Petersburg gebracht. Diese unter der Leitung von Falconet erbrachte ingenieur-technische Leistung erregte nicht nur in Russland Stolz und Bewunderung. Sie war der zivilisatorischen Leistung des Mannes, zu dessen Ehrung sie beitragen sollte, ebenbürtig. Als das Denkmal am 7. August 1782 anlässlich des 100. Jahrestages der Krönung Peters I. auf dem Senatspatz mit großem Aufwand eingeweiht wurde, fehlten seine Schöpfer. Nach vielen Intrigen und Kränkungen durch Beckoj hatten sie Russland bereits 1778 verlassen. Was sie der Nachwelt in St. Petersburg hinterließen, war die so moderne wie metaphorisch überzeugende Umsetzung eines alten Themas – die Verkörperung von imperialer Herrschaft, hier verstanden als dynamischer, aber vom Verstand geleiteter Akt der ausgreifenden
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Beherrschung von Natur und der Niederwerfung des Bösen in Gestalt der Schlange. In Moskau fungierte seit alters her der Hl. Georg, der Drachentöter, als Schutzpatron der Stadt; in St. Petersburg übernahm der Eherne Reiter, wenn auch nicht von allen geliebt, diese Funktion in modernisierter Form.22
4. „Erbaut zum Nutzen aller und zu Russlands Zierde“ oder „Bastardarchitektur“? Programmatisch wurde in St. Petersburg im Verlauf des gesamten 18. Jahrhunderts und auch später auf das umfassende europäische Potential an Wissen, praktischen Erfahrungen und ästhetischen Mustern in der Baukunst und in den Bildkünsten zurückgegriffen, wobei das ursprüngliche Defizit an geistesgeschichtlichen Voraussetzungen allmählich ausgeglichen werden konnte. Man scheute keine Mühen und Kosten, um namhafte Architekten und Künstler aus verschiedenen Ländern nach St. Petersburg zu holen23, die zunächst allein, später im Zusammenwirken mit ihren russischen Kollegen das Bild der Stadt und damit des neuen Russland gestalten sollten. Das war zur damaligen Zeit durchaus kein ungewöhnliches Vorgehen, auch die Herrscher anderer Länder, namentlich in Mitteleuropa, beschäftigten gern ausländische Baumeister und Künstler.24 Peter I. schickte zudem russische Baumeister und Künstler zur Weiterbildung nach Westeuropa, damit sie sich in verschiedenen Zentren wie Rom, Paris oder Antwerpen mit den Standards der modernen Kunst vertraut machen und sie dann zu Hause anwenden sollten. 1752 pries der Dichter Vasilij Tredjakovskij in einer Ode emphatisch das in St. Petersburg gleichsam aus dem Nichts schon Geschaffene, Peter I. folgend als „Paradies“ „begründet von Peter unserem Zaren, / Erbaut zum Nutzen aller und zu Russlands Zierde“, und versprach für die Zukunft eine Metropole mit internationaler Ausstrahlung: „Ihr werdet sehn, Nachkommen, die ihr in dieser Stadt / Aus aller Herren Ländern dicht zusammen strömt, / Die ihr alle schauen werdet und Euch wundern über alles / Und sagen werdet: dies Paradies erstand, wo Ödnis war und Leere!“25
Auch Aleksandr Puškin wusste die „strenge Wohlgestalt“ St. Petersburgs zu schätzen, doch nicht alle, weder ausländische Besucher, noch russische Bewohner der Stadt waren geneigt, sich das frühe russische Selbstlob zueigen zu machen. Graf Francesco Algarotti, italienischer Diplomat und Reiseschriftsteller, besuchte die russische Hauptstadt 1739 und berichtete in Briefen über seine Eindrücke; später fasste er sie in 22
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Vgl. Aleksej Peskov, Evropejskaja ėmblematika v kontekste russkoj ėschatologii. Pamjatnik Petru Pervomu raboty Fal’kone (Die europäische Emblematik im Kontext der russischen Eschatologie. Das Denkmal Peters I. von Falconet), in: Pinakoteka. Pinakothẽkẽ, 13–14, 2001, 25–30. Vgl. Cracraft, Petrine Revolution (wie Anm. 4); Ninel V. Kaljazina, Galina N. Komelova, Russkoe iskusstvo petrovskoj ėpochi (Die russische Kunst der Epoche Peters I.). Leningrad 1990. Vgl. DaCosta Kaufmann, Höfe (wie Anm. 10); Marina Dmitrieva, Italien in Sarmatien. Studien zum Kulturtransfer im östlichen Europa in der Zeit der Renaissance. (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, Bd. 32.) Stuttgart 2008. Vgl. Riccardo Niccolosi, Die Petersburg-Panegyrik. Frankfurt 2002, 57f., hier zitiert nach: Ingold, Faszination (wie Anm. 14), 136.
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einem Bericht unter dem Titel Viaggi di Russia zusammen. Von ihm stammt auch die später von Aleksandr Puškin in seinem Poem Der Eherne Reiter aufgegriffene und immer wieder zitierte politische Metapher „Fenster nach Europa“ für St. Petersburg.26 Doch er leitete aus der Praxis, Architekten aus ganz Europa für den Aufbau von St. Petersburg zu gewinnen, früh ein Negativbild ab, obwohl er selbst bei verschiedenen Monarchen und adeligen Gönnern Europas in Diensten stand. Voller Missgunst schrieb Algarotti Mitte des 18. Jahrhunderts nach England: „In dieser Hauptstadt herrscht eine Art Bastardarchitektur vor. Sie stiehlt von der italienischen, der französischen und der holländischen.“27 Unter Katharina II., so möchte man mit Blick auf die kommenden Jahrzehnte hinzufügen, kam dann doch noch die englische Architektur hinzu, in deren Version des Klassizismus wiederum der Palladianismus eine wichtige Rolle spielt. Algarottis Vorbehalte machten sich später andere in der Beurteilung von St. Petersburg zueigen und spitzten sie noch zu. Der weit gereiste Fedor Dostoevskij, dessen Erzählungen und Romane häufig in St. Petersburg vor und in bedrohlicher und düsterer Kulisse spielen, war mit den Mustern der Kritik an der Architektur von St. Petersburg vertraut, wie sie zum Beispiel der Marquis Astolphe de Custine, der 1839 in Russland gewesen war, vorgebracht hatte28: „Griechische Architektur, römische Architektur, byzantinische Architektur, holländische Architektur, Rokoko-Architektur, die jüngste italienische Architektur und unsere orthodoxe Architektur – das alles sei, sagt der Reisende, auf urkomische Weise zusammengewürfelt, so dass es letztlich kein einziges wirklich schönes Gebäude gibt.“29
Zeitweilig war er geneigt, die baulichen Besonderheiten der Stadt, die er als „Haupt und Herz Russlands“ und als Inkarnation der „Geschichte des europäischen Lebens Petersburgs und ganz Russlands“ bezeichnete, positiv und gerade wegen der vielen Übernahmen als Ausdruck einer spezifisch russischen Kreativität zu sehen. Später urteilte er ablehnender, wobei seine Formulierungen nicht nur auf die Architektur um ihrer selbst willen zielen, sondern vor allem auf den Verlauf des Prozesses der Aufklärung in Russland insgesamt: „… in architektonischem Sinn ist sie [die Stadt St. Petersburg – A.R.] eine Widerspiegelung sämtlicher Architekturen in der Welt, sämtlicher Perioden und Moden; alles ist kontinuierlich entliehen und auf besondere Weise (po-svoemu) verunstaltet worden. Aus diesen Bauten kann man, wie aus Büchern, sämtliche Zuflüsse sämtlicher Ideen und Ideechen ersehen, welche allmählich oder plötzlich aus Europa zu uns geflogen sind und die uns langsam überwältigt und gefangen haben.“30
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Vgl. A. S. Nekljudova, Aleksandr L. Ospovat, “Okno v Evropu.” („Ein Fenster nach Europa“.), in: Lotmanovskij sbornik, 2, 1997, 255–272. Francesco Algarotti, Letters from Count Algarotti to Lord Harvey and the Marquis Scipio Maffei, containing the state of the trade, marine, revenues, and forces of the Russian empire. Glasgow 1770, 76, hier zitiert nach: Figes, Nataschas Tanz (wie Anm. 7), 35. Vgl.: Christian Sigrist, Das Rußlandbild des Marquis de Custine. Von der Zivilisationskritik zur Rußlandfeindlichkeit. Frankfurt a. M. 1990. Auszug aus Fedor Dostoevskij, Peterburgskaja letopis’. (Petersburger Chronik.) (1847), hier zitiert nach: Ingold, Faszination (wie Anm. 14), 138. Auszug aus Fedor Dostoevskij, Dnevnik pisatelja (Tagebuch eines Schriftstellers, 1873), hier zitiert nach: Ingold, Faszination (wie Anm. 14), 140.
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Erst ein Teil der nächsten Generation, die Zeuge eines wiederum vehementen Modernisierungsschubes in Russland wurde, vermochte die Dinge anders zu sehen, namentlich die vielgestaltige Architektur des 18. Jahrhunderts. Vor allem der Künstler und Kunsthistoriker Aleksandr Benua, in dessen Adern, wie er betonte, kein Tropfen russischen Blutes floss und der sich dennoch als Vertreter der russischen Kultur und eben deshalb als bekennender St. Petersburger fühlte, pries wiederholt seine Heimatstadt. Sein Aufsatz Živopsnyj Peterburg (Malerisches St. Petersburg) von 1902 liest sich wie eine späte Antwort auf Algarottis und Dostoevskijs Diskreditierungen der Stadt: „Schauen Sie sich die alten Ansichten Petersburgs an. Das ist doch keine allgemein-europäische und schon gar keine russische, sondern eine ganz besondere, zweifelsohne wunderschöne und grandiose Stadt. Der Typ der Häuser, Kirchen, Paläste, die Größe der Straßen, der Grundriss – alles war eigenartig und ganz besonders. Natürlich, alle Formen sind übernommen worden: die Säulen, Giebel, Pilaster, später – die klassischen Basreliefs, Attikas und Vasen wurden aus Frankreich, Italien und Deutschland entliehen. Und doch ist alles auf so besondere Weise angeordnet worden, dass am Ende etwas Großartiges und völlig Eigenständiges herausgekommen ist.“31
5. Von der Festung zur europäischen Hauptstadt Das erste städtebauliche Konzept für St. Petersburg stammt von dem französischen Architekten Jean-Baptiste Leblond, den Peter I. nach seiner zweiten Auslandsreise 1716 nach Russland einlud. Dessen graphisch eleganter Plan ging, ganz zeitgemäß, noch vom Grundmuster der Stadt als einer Festung aus. Die drei vom Verlauf der Neva gebildeten Stadtteile – die Petersburger Seite im Norden, die Admiralitäts- oder Moskauer Seite im Süden und die Vasil’evInsel im Nordwesten – sollten von einem gemeinsamen, weit ausholenden Befestigungsoval eingefasst werden. Nachfolgende Stadtpläne der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Abb. 3) zeigen St. Petersburg als dynamischeres und vielteiliges, auf mehrere Inseln verteiltes Ensemble. Darauf sind die Flussarme im Interesse der Gewinnung neuen Baulandes durch Kanäle ergänzt. Diese Vision wurde schließlich auch umgesetzt. Seit den 1720er Jahren wurden die einzelnen Teile der Stadt allmählich durch eine Vielzahl von Brücken verbunden. Die Erschließung der einzelnen Inseln erfolgte durch ein reguläres Planungsschema. Besonders eindrucksvoll ist das auf der Vasil’ev-Insel nachvollziehbar, die zunächst das administrative Zentrum der Stadt hatte werden sollen. Die rasterförmig angelegten Straßen heißen bis heute Linien und sind mit Nummern versehen – vergleichbar mit Manhattan in New York oder mit Quartalen, wie sie nach dem Erdbeben von 1755 in Lissabon entstanden sind. Auch auf der Moskauer, der Festlandsseite fallen sowohl die großen Magistralen als auch kleinere Straßen im Stadtplan durch ihren geraden Verlauf auf. In den späten 1730er Jahren wurden die vom Admiralitätsplatz ausgehenden drei Magistralen – der Nevskij-Prospekt, die Gorochovaja ulica und der Voznesenskij-Prospekt – nach einem Patte-d’oie-Muster wie in Versailles angelegt. Dmitry Shvidkovsky nimmt an, dass auch die Berliner Friedrichsvorstadt ein Vorbild gewesen sein
31
Aleksandr Benua, Živopisnyj Peterburg (Malerisches Petersburg.), in: Mir iskusstva, 7, 1–6, 1902, 3.
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Abb. 3 Plan von St. Petersburg aus Johann Baptiste Homanns Atlas, Nürnberg, 1725, Gotha, Forschungsbibliothek.
könnte.32 Zudem sollte das Netz aus regulären Straßen begrünt werden. Ökologische Erwägungen und das Streben nach Repräsentativität dürften hier Hand in Hand gegangen sein. Um das Baugeschehen zu beschleunigen, nutzte Peter I. seine uneingeschränkten Möglichkeiten als absolutistischer Herrscher. 1714 verfügte er, dass vorübergehend nur in St. Petersburg in Stein gebaut werden dürfe, um die Versorgung der neuen Hauptstadt mit Baumaterial zu gewährleisten. Der ungeheuere Bedarf an Arbeitskräften wurde durch zur Zwangsarbeit verurteilte Gefangene sichergestellt. Charakteristisch für viele Bauten aus der Peter-Zeit sind, unabhängig von den Architekten, Züge wie Einfachheit, Zweckentsprechung, Sachlichkeit und Sparsamkeit des Bauschmuckes. Als erster ausländischer Architekt kam der aus der Schweiz stammende Domenico Trezzini nach St. Petersburg. Er hatte in der Lombardei berufliche Erfahrungen gesammelt und war dann an den Hof nach Kopenhagen gegangen. In St. Petersburg wurde er unter anderem mit der Aufgabe betraut, Typenbauten für Wohnhäuser der verschiedenen sozialen Schichten 32
Dmitry Shvidkovsky, Russian Architecture and the West. New Haven /London 2007, 202.
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zu entwerfen; allein zwischen 1711 und 1716 wurden über 400 solcher Wohnhäuser erbaut, wobei selbst das Wohnhaus für Wohlhabende mit Rustika-Verzierungen an den Ecken und dem zentralen Eingangsbereich für den Bescheidenheitsgestus steht, auf den Peter I. bis zu seiner Frankreichreise 1716 setzte. Dieser Haltung verlieh er auch mit seinem Häuschen im Sommergarten, dem frühesten Park in St. Petersburg, Ausdruck. Der Entwurf geht vermutlich auf Andreas Schlüter zurück. Er ist auch der Autor der allegorischen Schmuckreliefs, die dem Beherrschen des Meeres gewidmet sind. Von einer ausgesprochen rationalistischen Baugesinnung zeugt auch das von Trezzini entworfene Gebäude der 12 Kollegien als Sitz der neu geschaffenen Ministerien auf der Vasil’ev-Insel. Von der Neva-Seite aus fällt die Stirnseite des Gebäudes, in dem heute die St. Petersburger Universität ihren Sitz hat, kaum auf. Das wegen seiner Länge von 300 Metern gelegentlich mit der Kopenhagener Börse verglichene Gebäude besteht aus zwölf aneinander gefügten, gleichen Baukörpern mit jeweils einem schwach hervortretenden Mittelrisalit. Dmitry Shvidkovsky sieht in diesem Gebäude die für viele St. Petersburger Bauten typische Verschmelzung unterschiedlicher Bautraditionen. Während er die zwölf einzelnen Baukörper mit dem additiven Prinzip der Prikazy (Verwaltungsbauten der vorpetrinischen Zeit) im Moskauer Kreml in Verbindung bringt, bewertet er den flachen, graphisch gehaltenen Bauschmuck als Echo der lombardischen Barocktradition.33 Das von Georg Johann Mattarnovi entworfene und von mehreren Architekten, darunter Nicolas Herbel, errichtete Gebäude der Kunstkammer, in der die umfangreichen Sammlungen und die Bibliothek Peters I. eine angemessene, moderne Heimstatt finden sollten, steht für den deutschen Beitrag zur frühen St. Petersburger Architektur. Es handelt sich dabei um eine dreiteilige, der Neva zugewandte Anlage, ebenfalls auf der Vasil’ev-Insel: Das flache Schmuckwerk der beiden dreigeschossigen Flügel und des fünfgeschossigen Turmes besteht aus sparsamen Fensterrahmungen, Pilastern und Lisenen, die dem Gebäude trotz der horizontalen Ausdehnung eine gewisse vertikale Tendenz verleihen. Auffallend ist seine bei vielen St. Petersburger Bauten gerade des 18. Jahrhunderts anzutreffende farbige Gestaltung. Man kann sie unterschiedlich deuten, zum Beispiel als Reaktion auf die nicht sehr günstigen klimatischen Bedingungen, die über weite Phasen des Jahres einen bedeckten Himmel und Lichtmangel mit sich bringen. Im gewissen Sinne knüpft sie aber auch an die russische Architektur des 17. Jahrhunderts, besonders an die Bauten des sogenannten Naryškin-Barocks, an. Sie zeichnen sich durch ein effektvolles Zusammenspiel von weißem, plastischem Schmuckwerk, das damals noch in nicht klassischen Formen und Proportionen gehalten war, und rotem Ziegelmauerwerk aus. Unter der Zarin Elizaveta Petrovna, die von 1741–1762 auf dem russischen Thron saß, entwickelte sich in St. Petersburg nach dem vielgestaltigen architektonischen Auftakt eine spezifisch russische, imperiale Version der Barockarchitektur. Sie ist Ausdruck des unter der neuen Zarin in einer für Russland vergleichsweise friedlichen Zeit aufkommenden Optimismus, der Freude am Ritual und einer üppigen Festkultur. Ihr überragender Schöpfer war im Sakral- wie im Profanbau Francesco Bartolomeo Rastrelli, der Sohn des Bildhauers Carlo Bartolomeo Rastrelli.34 In synthetischer Weise gelang es ihm in allen seinen Bauten, das 33 34
Vgl. Shvidkovsky, Russian architecture (wie Anm. 33), 198–200. Zur Biographie vgl. Cornelia Skodock, Barock in Russland. Zum Œuvre des Hofarchitekten Francesco Bartolomeo Rastrelli. Wiesbaden 2006.
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Abb. 4 Das Winterpalais in St. Petersburg, Fassade zur Newa.
Prinzip des Regulären mit dekorativer Pracht zu verbinden. Seine Version der wiederum stark farbigen Barockarchitektur ist durch ein hohes Maß an Repräsentativität und plastischer Durchbildung der Fassaden sowie des Bauschmucks im Einzelnen gekennzeichnet. Wie kein anderer Architekt seiner Zeit wusste Rastrelli mit der Kolossalordnung so umzugehen, dass die Harmonie des Ganzen und die bewegt festliche Pracht der Dekoration im Detail keinen Schaden nahmen. Im Bau der Kathedrale des Smol’nyj-Klosters, das Elizaveta Petrovna für sich als Alterssitz plante, äußert sich die von der Bauherrin gewünschte Bezugnahme auf die altrussische Tradition. Der Grundriss der Kathedrale weist die Form eines griechischen Kreuzes auf, und es wurde eine 5–Kuppellösung gewählt. Savva Čevakinskij, der einzige Rivale Rastrellis, variierte diesen Bautypus und auch das attraktive Zusammenspiel von türkisblauer Fassade, weißen Säulen und gelben Kapitellen bei der von ihm errichteten Kirche Nikolaus der Marine. Insgesamt kann man konstatieren, dass die russische Barockarchitektur weit entfernt ist von der Orientierung auf das Mystische und Übersinnliche, wie sie für die italienische Baukunst des Barocks charakteristisch ist. Das ist insofern nicht verwunderlich, als der Barock in Russland nicht als Ergebnis und Zeugnis der antirationalistischen Gegenreformation Fuß fasste, sondern im Zuge des sich etablierenden Absolutismus als hauptsächlich weltliche Herrschaftsform. Daher war die Palastarchitektur eine der wichtigsten Bauaufgaben im russischen Barock. Die von Rastrelli errichteten Adelspaläste, wie der Stroganov-Palast und der Voroncov-Palast, aber auch das Winterpalais, genauer gesagt der heutige, vierte Bau (Abb. 4), sind weitläufige, geschlossene Anlagen mit einem großen Innenhof, denen durch ein akkordreiches Spiel von Wand und Gliederungselementen ein festlicher und zugleich zwingender und monumentaler Charakter eignet. Alle Fassaden variieren jeweils ein Grundmuster, in dem die Geschichte der italienischen Palastarchitektur in Verbindung mit der französischen Schlossarchitektur aufgehoben ist. Im Falle des Winterpalais ist es eine zweizonige
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Kolonnade mit leicht vorspringenden Risaliten. Heute wirkt der Bau gegenüber dem ursprünglichen Erscheinungsbild insofern etwas schwerfälliger, als durch eine spätere Anhebung des Uferquais das Sockelgeschoss nicht mehr sichtbar ist. Hervorzuheben ist jedenfalls die städtebauliche Wirksamkeit der prachtvollen Einzelbauten Rastrellis, eine Qualität, die auf die nächste Phase der St. Petersburger Architektur vorausweist. In der Regierungszeit Katharinas II. von 1762 bis 1796 wurde im Zuge ihrer weit reichenden Reformbemühungen in ganz Russland exzessiv gebaut, insbesondere in den neuen Verwaltungszentren. Hier entstanden nicht nur Paläste für einzelne Persönlichkeiten, sondern Häuser für jene Schichten der Bevölkerung, die den ökonomischen und zivilisatorischen Aufschwung des Landes trugen. In der Hauptstadt wurden die Flussufer und Straßen, aber auch bereits vorhandene Anlagen mit weiteren repräsentativen Zweck-, Palast- und Kirchenbauten ausgestattet, die von der politischen Macht, dem ökonomischen Fortschritt und dem kulturellen Anspruch ihrer Elite und namentlich der Kaiserin künden. Die neue ideologische Orientierung im Interesse einer weiteren Modernisierung des russischen Staates unter der russischen Minerva brachte einen schnellen Geschmackswandel in Richtung Klassizismus und Antikenrezeption unter französischem Einfluss mit sich.35 Ein Beispiel mit Vorbildcharakter ist das Gebäude der Akademie der Künste. Die Bedeutung dieser Institution kann für die Entwicklung der neuzeitlichen russischen Kunst und Kultur nicht hoch genug veranschlagt werden. Unter Katharina II. wurde die 1757 noch unter Elizaveta Petrovna gegründete Institution nach St. Petersburg verlagert. Die Hauptfassade ihres 1764 bis 1788 errichteten Sitzes, der architektonisch Maßstäbe setzten sollte, säumt die südliche Uferpassage der Vasil’ev-Insel. Jean-Baptiste Vallin de la Mothe und Aleksandr Kokorinov bezogen sich in ihrem Entwurf auf das in Moskau nicht realisierte Projekt von Jacques-François Blondel, doch sind die Hauptmassen des neuen Gebäudes stärker akzentuiert. Zudem ist die korinthische Ordnung programmatisch durch die strengere römische Dorik ersetzt worden. Mit seinem hohen Rustikageschoss, den Portiken, den Pilastern und der flachen Kuppel spiegelt es das Selbstverständnis des sich aufgeklärt gebenden Absolutismus unter Katharina II. Nutz- und Repräsentationsaspekte halten sich in diesem Gebäude die Waage. Es zeigt im Grundriss ein großes Rechteck mit einem gewaltigen, runden Innenhof, der von vier kleineren Höfen an den Ecken flankiert wird. Um diese herum sind die Wohn- und Unterrichtsräume gruppiert, in der Mitte befinden sich die Ausstellungssäle. Der Vergleich zweier prominenter Stadtbauten für zwei der Favoriten Katharinas II. offenbart sowohl das kurze Zwischenspiel des russischen Rokokos als auch den Geschmackswandel innerhalb des Klassizismus und belegt zudem den ästhetischen Spielraum in ihrer Regierungszeit.
35
Vgl. Dmitrij Švidkovskij, Ideal’nyj gorod russkogo klassicizma. Deni Diderot i kul’tura ego ėpochi (Die Idealstadt des russischen Klassizismus. Denis Diderot und die Kultur seiner Epoche). Moskau 1986. Dagegen machte sich in den Residenzen rund um St. Petersburg vor allem englischer Einfluss bemerkbar, wie das Beispiel Charles Cameron zeigt. Vgl. Dmitry Shvidkovsky, The Empress and the Architect. British Architecture and Gardens at the Court of Catherine the Great. New Haven/London 1996. Vgl. auch Irina S. Artem’eva (Hrsg.), Catarina di Russia. L’imperatrice e le arti. Ausstellungskatalog. Mailand 1998.
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Abb. 5 Karl Friedrich Sabath, Ansicht der Neva bei der Kunstakademie, nach 1820, aquarellierte Federlithographie, St. Petersburg, Staatliche Eremitage.
Das sogenannte Marmorpalais wurde 1768 für Grigorij Orlov, den Mitorganisator der Palastrevolte gegen Peter III. und Günstling Katharinas in jungen Jahren, von Antonio Rinaldi, einem Schüler des römischen Architekten Luigi Vanvitelli errichtet. Seinen Namen verdankt es erlesenen Zusammenstellungen verschiedenfarbigen Marmors, mit dem die Fassaden und einige Innenräume verkleidet sind. Durch seinen fein geschnittenen, flachen Bauschmuck entfaltet dieser Palast eine Eleganz, die trotz der Geschlossenheit der Fassade noch etwas vom Geschmack des Rokokos verrät. Das Rokoko hatte in der zweiten Hälfte der 1750er Jahre in Russland Fuß gefasst, gewissermaßen als erste Phase einer klassizistischen Auffassung. So hatte sich die damalige Großfürstin Ekaterina Alekseevna in Oranienbaum eben von Antonio Rinaldi ein Chinoiserie-Schlösschen bauen lassen – als Ort des Rückzuges vor dem ungeliebten Ehemann und der regierenden Zarin. Das von 1783 bis 1789 im Auftrag der Zarin für Grigorij Potemkin-Tavričeskij als Dank für dessen Beitrag zu den Gebietsgewinnen im Krieg gegen die Osmanen von Ivan Starov errichtete Taurische Palais ist ein Beispiel für den Palladianismus in Russland, der in der späten Regierungszeit Katharinas II. weite Verbreitung erfuhr. Das von einem großen, landschaftsparkähnlichen Garten umgebene Palais wurde sowohl in planerischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die Interpretation der Antike zum Prototyp zahlloser russischer Landsitze und öffentlicher Gebäude. Das Ensemble ist hier anders gelöst als bei früheren Palastbauten, denn es besteht aus drei einzeln stehenden Gebäuden, die durch niedrige Galerien miteinander verbunden sind. So ergibt sich ein weitläufiger Gesamtkomplex, der ästhetisch dennoch den Eindruck erweckt, als seien seine Bestandteile relativ klein und intim. Dazu tragen vor allem die massiven Säulen der vorgelagerten Portiken bei.
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Ivan Starov gehört jener Generation russischer Architekten an, die ihre Ausbildung bereits an der Petersburger Akademie der Künste erhalten hatten und Auslandserfahrung sammeln konnten. Er ist der zweiten Phase des russischen Klassizismus, die auch als strenger oder reifer Klassizismus bezeichnet wird, zuzuordnen. Ihm wurde auch die ehrenvolle Aufgabe zuteil, im Aleksandr Nevskij-Kloster, dem ältesten Kloster der russischen Hauptstadt und Sitz des Metropoliten von St. Petersburg und Novgorod, eine neue Kathedrale zu errichten. Die zwischen 1778 und 1790 erbaute Dreifaltigkeits-Kathedrale wurde mit ihrer ganz dem französischen Klassizismus verpflichteten Gestalt zum Prototyp moderner Sakralbauten in Russland. Der dreischiffige Bau mit zwei Glockentürmen an der Westfassade, einem breiten Querschiff und einer halbrunden Apsis erhebt sich über einem Grundriss in Form eines lateinischen Kreuzes. Die Vierung wird von einer mächtigen Kuppel bekrönt, die auf einem säulengeschmückten Tambour ruht, wie sie Jacques-Germain Soufflot für die Kirche St. Geneviève in Paris konzipiert hatte. Dem Haupteingang ist ein sechssäuliger Portikus in toskanischer Ordnung vorgelagert. Im Inneren ist dagegen mit dem Wechsel von Säulen und Pfeilern ein Echo jener Architekturdebatten zu erahnen, die Starov während seiner Studienzeit bei Charles de Wally in Paris erlebt hatte. Mit Katharina II. hatte das expandierende Russland endgültig Eingang in die Reihe der bedeutendsten europäischen Staaten gefunden. Seine Hauptstadt St. Petersburg war im Verlauf von nur einem Jahrhundert zu einer glanzvollen Stadt im europäischen Geist geworden – dank dem Willen seiner weitsichtigen Herrscher und Herrscherinnen, die es verstanden, das kulturelle Kapital des neuzeitlichen Europas auf russischem Boden gewinnbringend anzulegen.
Le premier exemple des Königs im Exil Stanislas I. Leszczyński in Nancy Eva-Bettina Krems
Im Abschlussbericht von 1759 über die Baumaßnahmen des polnischen Königs Stanislas I. Leszczyński (1677–1766) in Nancy findet sich eine Passage, die die Novität der Bauten, besonders der großen Platzanlage im Zentrum der Stadt, hervorhebt. Die Worte des Controlleur de La Maison du Roi, Nicolas-Léopold Michel, führen somit unmittelbar zum Thema dieses Bandes, dem neuen Modell, hier in Form baukünstlerischer Gestaltung: „Le projet de S. M. [Stanislas I. Leszczyński] fut dès son principe de réunir en Lorraine, dans un même-tems, deux Souverains qui ne devoient que s’y succéder et de donner à tous les siècles le premier exemple d’un Roi qui dans ses propres Etats érige des Statues à un autre Roi. On peut en élever à ses prédécesseurs, mais il étoit donné au seul Stanislas d’en consacrer une à son successeurs […]“.1
Die Neuerung drückt sich aus in der Formel „le premier exemple“, das darin bestehe, dass der regierende Souverän in Lothringen, Stanislas Leszczyński, seinem Nachfolger bzw. seinen Nachfolgern ein Denkmal errichte und damit die gleichzeitige Herrschaft zweier Souveräne in Lothringen zur Anschauung bringe. In der Tat stellt dieses Projekt des als „Philosophe Bienfaisant“ bekannten polnischen Königs eine neue und ungewöhnliche Maßnahme dar.2 Wenngleich dieses Beispiel keine direkte gebaute Folge im Sinne einer modellbildenden Wirksamkeit hatte, verspricht dennoch der Abschlussbericht selbst einen heuristischen Gewinn. Denn nicht der Befund interessiert, dass diese Maßnahme der gleichzeitigen Visualisierung zweier Souveräne in der Baugeschichte folgenlos blieb und insofern alle mit der sprachlichen Wendung „le premier exemple“ verbundene Ursprünglichkeit der Neugestaltung von Nancy lediglich der panegyrischen Pflicht des Controlleur de La Maison du Roi geschuldet war. Interessant ist vielmehr die Tatsache, dass in der königlich-herzoglichen Selbstdeutung insbesondere die neue Platzanlage von Nancy als etwas Neues bewertet wird, nicht allein bezogen auf die realisierten Bauprojekte, sondern auch auf den politischen Anspruch, der sich mit diesem Projekt verband. 1
2
Nicolas-Léopold Michel („Controlleur de La Maison du Roi“), 1759; zitiert nach Julia Rau-Gräfin von der Schulenburg, Emmanuel Héré, Premier Architecte von Stanislaus Leszczynski in Lothringen (1705–1763). Berlin 1973, 192. („Die Absicht seiner Majestät [Stanislas Leszczyński] war es von Anfang an, in Lothringen gleichzeitig die Herrschaft zweier Souveräne zu vereinen, die auf einander folgen sollten, und allen zukünftigen Zeiten das erste Beispiel eines Königs zu geben, der in seinem eigenen Staat Statuen [Denkmäler] einem anderen König setzt. Man könnte ein Denkmal seinen Vorfahren errichten, aber Stanislas hat eines seinen Nachfolgern gewidmet.“) Zur Platzanlage selbst siehe unten Anm. 11. Zu Stanislas Leszczyński vgl. zuletzt besonders Stanislas. Un roi de Pologne en Lorraine, Ausstellungskatalog. Nancy 2004; Anne Muratori-Philip, Le roi Stanislas. Paris 2005; Renata Tyszczuk, The Story of an Architect King: Stanislas Leszczynski in Lorraine 1737–1766. Bern 2007.
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Stanislas Leszczyński, der sich seit seiner ersten Absetzung als polnischer König 1709 im Exil befand, ist in der Forschung als ein Wegbereiter für innovative architektonische und künstlerische Projekte im 18. Jahrhundert bekannt. In seiner Figur konzentrieren sich zugleich exemplarisch die Unwägbarkeiten der Machtpolitik im 18. Jahrhundert mit ihren fragilen politischen Gebilden und den seltsam durchlässigen territorialen Grenzen, in denen der Herrscher beweglich und austauschbar war. Auch Lothringen selbst3, wo Stanislas – seit 1725 Schwiegervater von König Ludwig XV. – ab 1737 als Herzog regieren wird, bestätigt dieses Muster: ein Grenz- und Pufferstaat zwischen Frankreich und dem Reich, der nur eine Summe verschiedenster Territorien und immer wieder Gegenstand von Tauschgeschäften der Mächte im Dienste einer waghalsigen Form des Ausgleichs hegemonialer Interessen war. Lothringen war bereits mehrmals von Frankreich besetzt und dann wieder in eine labile Souveränität entlassen worden, gestützt nur durch die Ausgleichsmechanismen der europäischen Großmachtdiplomatie. Die zeitweiligen lothringischen Herrscher waren dazu gezwungen, Gegensätze zu vereinen und bemüht darum, die reine Existenz des Territoriums immer wieder sichtbar werden zu lassen. Bauwerke zu errichten – auch wenn das die finanziellen Ressourcen weit überstieg – erschien als eine durchaus sinnvolle Maßnahme zur Steigerung der Sichtbarkeit. Bauprojekte als Zeichen territorialer Souveränität umzusetzen und zu verwerten, ist vielleicht eines der ältesten Motive architektonischen Gestaltens überhaupt. In Lothringen hatte es bereits einer von Stanislas’ Vorgängern, Herzog Leopold Joseph (1679–1729), in großem Maße für sich entdeckt. Fremd- und Selbstdeutungen zu unterscheiden, dürfte dabei wichtig gewesen sein. So verband sich mit der territorial zeichenhaften baulichen Neugestaltung, lokal und regional, nicht nur die Sichtbarkeit nach außen, vielmehr wurde das Bauen gerade in Lothringen zum Zeichen bloßer Existenz des Souveräns in seiner Selbstdeutung als Landesherr. Dass in Lothringen einige baukünstlerische Innovationen begegnen, führt zwangsläufig zu der Frage, ob nicht gerade in der besonderen Situation der implantierten und exilierten Herzöge Lothringens sogar eine Voraussetzung für Neuerungen, für einen sichtbar gesuchten Innovationsbedarf, liegen könnte. Die Interkulturalität und die damit verbundenen Herkunftsspannungen des Souveräns veränderten ohne Zweifel die Ansprüche an das eigene Bauen. Denn wie vertrug sich etwa die Austauschbarkeit des Herrschers mit dem Bedürfnis nach Beständigkeit künstlerischer Repräsentation der institutionellen Fürstenschaft, die doch – regional- und ortsbezogen – im Europa der Frühen Neuzeit vor allem eine Nachweisführung von legitimer Herkunft war?4 Im Fall von Leopold und Stanislas als Herzöge von Lothringen ist man geneigt anzunehmen, dass es doch gerade der Verpflichtung auf solcherart Traditionsnachweis zum Trotz gelungen ist, Neues zu schaffen – schärfer noch, dass erst die genealogische wie auch territoriale Irrelevanz herkunftsbezogener Nachweispflicht im Exil den folgerichtig Entfesselten das Neue schaffen lässt. Die Beweisführung kann umgekehrt
3
4
Hans-Walter Hermann, Lothringen – Geschichte eines Grenzlandes. Saarbrücken 1984. Aus der Perspektive Nancys: Charles Pfister, Histoire de Nancy. 3 Bde. Paris 1974 (Ndr. der Ausg. Paris 1902–1909). Siehe zur Repräsentation von Tradition zuletzt den Sammelband: Christoph Kampmann/Katharina Krause/Eva-Bettina Krems/Anuschka Tischer (Hrsg.), Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Köln 2008.
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auch auf eine Formel von berückender Einfachheit gebracht werden: Das Erlahmen baukünstlerischer Innovationskraft der Territorialfürsten ist eine Funktion regionaler Herkunftsverdichtung, also ein Mangel an erlebtem Exilantentum und somit an empfundener Fremde. Dies betrifft auch die Ebene der Selbstdeutung: Wer immer schon im Territorium war, muss sich dessen nicht mehr in dem besonderen Maße mit baukünstlerischer Anstrengung versichern, wie es der Exilant sich in der Fremde selbst aufzutragen gleichsam gezwungen ist. Ob das Motiv der Fremd- oder Selbstdeutung bei der baukünstlerischen Innovationsfreude überwiegt, ist zum Nachweis der Gültigkeit des Prinzips eher zu vernachlässigen. Im Einzelfall mag jedoch genau diese Unterscheidung interessieren, wobei es aber wesentlich auf die Quellenlage sowie auf den Baubefund und die damit verbundenen bauhistorischen Konsequenzen ankommt. Tatsächlich erscheint es fruchtbar, die Place Royale in Nancy (1751–1755) als ein in jeder Hinsicht bedeutendes städtebauliches und architektonisches Projekt des polnischen Königs Stanislas Leszczyński im französischen Exil auf die bislang entfalteten Aspekte hin zu untersuchen. Auf den Untersuchungsgängen sollte indes stets bedacht bleiben, dass die Neuartigkeit dieses Bauprojekts modellbildend vor allem als Anspruch gebauter Macht eines Exilanten gedacht war, der sich selbst seiner territorialen Herrschaft zu versichern hatte. Nach außen blieb ihm – einem Exilkönig ohne wirksame Genealogie und regional befestigte Herkunft – nur ein einziger Ausweg aus dem Dilemma mangelnder Rechtfertigung: Er musste seine Legitimation aus der Zukunft beziehen. Insofern bewertete der Controlleur de la Maison du Roi die Baumaßnahmen als Denkmal für die Nachfahren, also als einen von kommenden Territorialfürsten – den französischen Königen – gewährten Kredit, die sich dann auf den landesfürstlich umbauten Raum legitimatorisch beziehen konnten. Diese Vorstellung ist in ihrer einzigartigen Konstruktion faszinierend: Der migrierte Herrscher aus dem polnischen Exil beansprucht Rechte, über die er zu diesem Zeitpunkt nicht verfügt. Um seine Rechtfertigungsverpflichtung zukünftig einlösen zu können, deckt er sich mit kulturellem Kapital in Form von eigenen Bauprojekten ein, und seine Währungsabsicherung sind die zukünftig auf regional Gebautes zugreifenden Legitimationsbedürfnisse der Nachkommen. Dieser kulturelle Leerverkauf ist tatsächlich modellbildend gewesen, eben als baupolitisches Modell. Im 18. Jahrhundert war es beispielsweise bei den Hohenzollern wirksam, die die Stadtanlage eines urbanen Gebildes, das den Namen Berlin erhielt, ebenfalls mangels herkunftsbezogener Legitimation neu erfanden. Ein Denkmal für die Nachfahren ist nicht unbegründet. Bevor Stanislas Leszczyňski im Jahre 1737 im Alter von knapp 60 Jahren zum lothringischen Herzog ernannt wurde, hatte er eine wahre Odyssee durchlebt. Als Spross einer der mächtigsten und angesehensten Adelsgeschlechter der polnischen Republik war er im Jahre 1704 dank schwedischer Unterstützung zum König von Polen gewählt worden, konnte sich aber nicht lange an der Macht halten. Schon 1709 musste Stanislas die Königskrone an den Wettiner August den Starken, den Favoriten der russischen und österreichischen Fraktion, zurückgeben und floh nach Stockholm, wo er um Zustimmung bat, als polnischer König abzudanken. Diese Bitte wurde ihm jedoch verwehrt. Eine Rückkehr nach Polen war damit ausgeschlossen. Das Festhalten am Titel, verbunden mit dem Exil, führte dazu, dass es zwischen 1704 und 1766, dem Tode Stanislas’, zwei Könige von Polen gab.
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Als weitere Stationen seines Exils seien hier nur das damals osmanische Bender, heute Moldawien, das schwedisch regierte Herzogtum von Pfalz-Zweibrücken und die französische Garnisonsstadt Weißenburg/Wissembourg im Elsass genannt. Dies zeigt nicht nur die Labilität seiner politischen Situation, sondern auch die Möglichkeiten, Anregungen für künstlerisch-architektonische Projekte zu sammeln. Während seines Aufenthalts in Zweibrücken (1714–1719) ließ sich Stanislas ab 1715 vor den Toren der Stadt, im Ehrwoog, einen Landsitz mit dem Namen Tschifflick (türkisch: Landhaus) errichten, der zeigt, wie sich ein polnischer König ohne Land im schwedisch regierten Territorium der Pfalz eine Melange aus chinesischen, türkischen und polnischen Elementen mit hochaktuellen französischen Mustern von einem schwedischen Baumeister errichten ließ.5 Das wichtigste Ereignis für die bis dato eher düster verlaufende politische Karriere des exilierten polnischen Königs war 1725 die Hochzeit seiner Tochter Maria Leszczynska mit dem jungen französischen König Ludwig XV., die aus dem König im Exil den Schwiegervater des mächtigsten Königs in Europa machte. Als 1733 der amtierende polnische König August der Starke starb, unternahm Stanislas einen erneuten Versuch, diesmal mit französischer Unterstützung, das Königreich Polen zurückzuerobern. Am 11. September 1733 wurde er ein zweites Mal zum König und Großfürsten gewählt – jedoch wieder nur für wenige Monate. Durch eine militärische Koalition aus Österreich, Russland und Kursachsen sowie eines Teils des polnischen Adels, die die Wahl Augusts III. und dessen Krönung im Januar 1734 unterstützten, wurde Stanislas gestürzt und entmachtet. Im Rahmen der Verhandlungen, die den polnischen Erbfolgekrieg beenden sollten, musste er auf die polnische Krone verzichten: Er erhielt stattdessen das Herzogtum Lothringen.6 Dies war ein geschickter Schachzug Frankreichs: Die Krise der polnischen Thronfolge wurde genutzt und ein aus zweimaliger Absetzung glücklich davongekommener Exilkönig, der zugleich der Schwiegervater des französischen Königs war, in einem Territorium eingesetzt, dessen Eingliederung in das Königreich nur eine Frage der Lebenszeit des bereits 60 Jahre alten Stanislas war. Denn nach seinem Tod – so lautete die Vereinbarung – sollte das Herzogtum Lothringen zu einem Teil Frankreichs werden. Stanislas erhielt also ein nicht erbliches Herzogtum. Hinzu kam, dass vom französischen König ein Intendant für die Justiz, die Polizei und die Finanzen eingesetzt wurde, so dass schon zu Lebzeiten des polnischen Königs die französische Annexion unübersehbar im Gange war. Das einzige, was Frankreich nicht bedacht hatte, war die Robustheit des neuen Herzogs: Stanislas sollte, wohl unerwartet, noch fast dreißig Jahre Herzog von Lothringen sein und damit eine für ihn ungewöhnlich lange Zeit an einem Ort verbringen, bevor er 1766 starb. Für Lothringen bedeutete die Einsetzung des polnischen Königs zunächst einen Bruch: Denn die beiden vorherigen Herzöge, vor allem der von 1698 bis 1729 regierende Leopold,
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Planer der Anlage war der schwedische Architekt Jonas Erikson Sundahl, die Forschung geht jedoch davon aus, dass der König selbst viele eigene, z. T. auch exotische Ideen einbrachte. Siehe zuletzt Stanislaus Leszczynski. Ein König im Exil, Ausstellungskatalog. Zweibrücken 2006. Der bisherige Herzog von Lothringen, Franz III. bzw. Franz Stephan, heiratete 1736 die künftige Kaiserin Maria Theresia und verzichtete seinerseits auf das Herzogtum. Als Gegenleistung erlangte er das Großherzogtum Toskana.
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waren wegen ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen deutlich nach Wien orientiert, während der Konflikt mit den Franzosen das politische Geschehen vor Ort dominierte. Leopold hatte 1702 die Besetzung seiner Residenz- und Hauptstadt Nancy durch französische Truppen miterleben müssen. Um der Demütigung zu entgehen und wohl auch um den Protest sichtbar zu machen, hatte Leopold daraufhin seine Residenz kurzerhand von Nancy in das etwas abseits gelegene Lunéville verlegt, wo er einen aufwändigen Schlossneubau initiierte. Auf diese Weise konnte er seine Souveränität erhalten, während Nancy bis 1717 besetzt blieb.7 Die unübersehbaren Probleme eines Grenz- und Pufferstaates behinderten die kulturelle Vielfalt indessen keineswegs. Die Gratwanderung im politischen Kräftespiel veranlasste Herzog Leopold vielmehr, seine Bemühungen um einen kulturellen Brückenschlag in beide Richtungen, Wien und Versailles, zu verstärken. Französische Lebensart, höfisches Verhalten, Sprache und Schrift bestimmten den Alltag am Hof von Lunéville, kombiniert mit habsburgischen Elementen wie etwa der Hofoper. Dem Gedankengut der Aufklärung und allen wissenschaftlichen Neuerungen stand man hier offen gegenüber, der Nährboden für Innovationen schien bestens bereitet. Ab 1735 zeichnete sich zwar ein deutlicher Bruch zwischen den von Wien abhängigen Herzögen und dem neu eingesetzten, von Frankreich gesteuerten polnischen Exilkönig ab, der sich schon darin zeigte, dass Stanislas Leszczyński in Lunéville ein Schloss vorfand, aus dem sein Vorgänger Franz III. die Möbel, Tapisserien und das Archiv hatte entfernen lassen, so dass Stanislas ein Schloss ohne Vergangenheit bezog. Dennoch nahm er die vor allem von Leopold vorgegebenen Bemühungen auf und knüpfte an die Periode wirtschaftlichen Aufschwungs und wissenschaftlich-künstlerischer Innovationen an.8 Als Stanislas‘ bis heute berühmtestes Werk gilt die Platzanlage in Nancy, einer Stadt, die zwar Hauptstadt, aber schon seit Leopold nicht mehr Residenzstadt war.9 Hier sollte Stanislas ein „premier exemple“ setzen: Ein König errichtet nicht sich selbst, sondern seinen Nachfolgern ein Denkmal, um gleichzeitig die Herrschaft zweier Souveräne zu visualisieren.10 Die unter der Leitung des aus Nancy stammenden Architekten Emanuel Héré de Corny in den wenigen Jahren zwischen 1751 und 1755 geschaffene Anlage11 ist nicht allein mit dem Planen
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Das Schloss Luneville, erbaut von Germain Boffrand, einem Neffen und Mitarbeiter des von Ludwig XIV. beschäftigen Architekten Jules Hardouin-Mansart, wird selbst bis in jüngste Publikationen hinein als „Versailles Lorrain“ apostrophiert, wozu einerseits der Typus mit dem von zwei Seitenflügeln flankierten Mitteltrakt und dem sich zur Stadt öffnenden Ehrenhof, andererseits ein berühmt gewordener Ausspruch von Voltaire Anlass gegeben haben mögen, der in seinem Etat de la France schrieb, dass man kaum glaubte, den Ort gewechselt zu haben, wenn man von Versailles nach Luneville kam. Vgl. zum Schloss z. B. Jacques Charles-Gaffiot (Hrsg.), Lunéville. Fastes du Versailles lorrain. Paris 2003. Vgl. bes. auch Klaus Geiben, Verfassung und Verwaltung des Herzogtums Lothringen unter seinem letzten Herzog und einstigen König von Polen Stanislaus Leszczynski. Saarbrücken 1989, 31ff. Seine Residenz nahm Stanislas Leszczyński in Lunéville und Commercy, nicht in Nancy. Vgl. oben Anm. 1. Zur Platzanlage sei aus der reichhaltigen Literatur bes. verwiesen auf: Pfister, Histoire (wie Anm. 3), Bd. 1, 465–499; Albert Erich Brinckmann, Platz und Monument als künstlerisches Formproblem. Berlin 1923, 140–153; Pierre Marot, La genèse de la place Royale de Paris, in: Annales de l’est 5, 1954,
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Abb. 1 Nancy, Plan von La Ruelle, 1611
einer Place Royale gleichzusetzen, einem Platztyp, der im frühen 17. Jahrhundert in Paris entstand und sich seither zur Honorierung des Königs – dessen Denkmal das Zentrum des Platzes besetzte – in einigen französischen Provinzstädten Verbreitung fand.12 Vielmehr handelt es sich um eine Folge von Plätzen, die die gesamte Stadtstruktur betraf.
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45–76; ders., La Place royale de Nancy. Image de la réunion de la Lorraine à la France. Nancy 1966; Rau, Héré (wie Anm. 1), 189–261; Wolfgang Kemp, Text/Kontext – Grenze/Austausch. Zugleich ein Versuch über Nancy zur Zeit Stanislaus Leszcynskis, in: Thomas W. Gaehtgens (Hrsg.), Künstlerischer Austausch. Artistic Exchange. Bd. 2. Berlin 1993, 653–664; Katrin Bek, Achse und Monument. Zur Semantik von Sicht- und Blickbeziehungen in fürstlichen Platzkonzeptionen der Frühen Neuzeit. Weimar 2005, 99–108; De l‘Esprit des villes. Nancy et l‘Europe urbaine au siècle des Lumières, 1720–1770, Ausstellungskatalog. Nancy 2005, 71–81; Wolfgang Schmid, Die Brunnen von Nancy, in: Dorothee Rippman, Wolfgang Schmid und Katharina Simon-Muscheid (Hrsg.), …zum allgemeinen statt nutzen. Brunnen in der europäischen Stadtgeschichte. Trier 2008, 231–259. Zu den Places Royales vgl. Andreas Köstler, Place Royale. Metamorphosen einer kritischen Form des Absolutismus. München 2003; Richard L. Cleary, The Place Royale and Urban Design in the Ancien Régime. Cambridge 1999.
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Abb. 2 Nancy, Place Royale und Place de la Carrière, schematischer Plan A Hôtel de Ville, B Hôtel de l’Intendance, 1 Place Royale, 2 Triumphbogen, 3 Place de la Carrière
Nancy stellte sich um 1750 als Doppelstadt dar (Abb. 1):13 Das mittelalterliche Nancy im Norden mit dem Herzogsschloss in der Mitte war eine stark verdichtete, unregelmäßige, gewachsene Anlage, während die größere, orthogonal gerasterte Neustadt im Süden, eine Gründung des späten 16. Jahrhunderts, bis dahin keine überzeugende Zentrumsbildung aufwies. Zwischen beiden Städten gab es nur einen befestigten Übergang. Die Platzanlage sollte die beiden Städte miteinander in einen gemeinsamen Organismus vereinigen, aber auch neue Achsen bilden (Abb. 2). Die Nord-Süd-Achse war dabei unverkennbar die bedeutendste Achse, auf der zwei Hauptgebäude, jeweils in der Altstadt und Neustadt gelegen, die äußeren Bezugspunkte bilden: das Hôtel de Ville in der Neustadt im Süden (Abb. 2, A) und das Hôtel de l’Intendance in der Altstadt im Norden (Abb. 2, B). Die dazwischen liegenden 500 Meter werden durch eine Abfolge mehrerer Plätze oder Raumabschnitte gestaltet, die durch Größe, Richtung und Höhe ihrer Bebauung zwar deutlich differenziert sind, aber nicht isoliert voneinander bestehen: Den Auftakt bildet die annähernd querrechteckige Place Royale (Abb. 2, Nr. 1) mit dem im Zentrum platzierten Monument Ludwigs XV. und dem Rathaus an der Stirnseite. Gegenüber dem Rathaus verengt sich der Platz zu einer schmalen Passage, flankiert von eingeschossigen Bauten, die zu einem Triumphbogen geleiten (Abb. 2, Nr. 2), der den Übergang zwischen Neu- und Altstadt markiert und die von Ludwig XIV.
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Zur Stadtgeschichte und Stadtplanung vgl. Pfister, Histoire (wie Anm. 3), Bd. 2.
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Abb. 3 Nancy, Gesamtplan von Belprey, 1754
errichtete Porte Royale ersetzte.14 Es schließt sich die lang gestreckte Place de la Carrière (Abb. 2, Nr. 3) an, deren Innenfläche durch geschnittene Baumkulissen aus Linden und vorgelegte Sockelmauern optisch isoliert wird. Gegen Norden folgt der elliptische Vorplatz am Regierungsgebäude des Intendanten, das durch zwei Blendkolonnaden über Halbkreisgrundriss mit den Pavillons am Ende der Carrière-Bauten verbunden ist. Hinter dem Gebäude – gut zu erkennen auf Belpreys Stadtplan von 1754 (Abb. 3) – schließt sich ein Garten an, der öffentlich zugänglich war. Belpreys Plan veranschaulicht darüber hinaus, dass es nicht nur die Nord-Süd-Achse gab, also die Achse zwischen dem Regierungsgebäude des Intendanten und dem Rathaus mit dem Monument des Königs als zentralem Bezugspunkt, vielmehr wurde auch die Querachse betont: Sowohl im Westen als auch im Osten gab es in der Verlängerung dieser Achse jeweils Stadttore, als Triumphbögen ausgestaltet, die zur selben Zeit errichtet wurden. So wurde auf dieser West-Ost-Achse ein nach außen offener Wegraum geschaffen, auf den auch die Königsstatue, die mit dem Rücken zum Rathaus stand, Bezug zu nehmen schien.15 Der Blick des
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Zur Diskussion, ob Stanislas Leszczyński und sein Architekt an dieser Stelle gezwungen waren, das Tor beizubehalten, vgl. Wolfgang Kemp, Die Mauern und Tore von Nancy und Potsdam. Über Stadtgrenzen, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, in: Markus Bauer/Thomas Rahn (Hrsg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin 1997, 242, Anm. 9. Die Statue Ludwigs XV. wurde in der französischen Revolution zerstört; zur ursprünglichen Statue siehe Rau, Héré (wie Anm. 1), 227–228.
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Königs zielte nach Westen, der Arm mit dem Kommandostab nach Osten. Diese Achse sichert dem Monument eine enorme Fernsicht und bezieht zugleich die Stadt noch stärker in den Platzraum, die Place Royale, ein. In der Schaffung dieser zusätzlichen Achse und damit zweier Achsen, die im Standbild des Königs kulminieren, wird eine große Neuerung gesehen.16 Doch die Frage bleibt offen, ob die Straßenachse im Dienste des Monuments steht oder umgekehrt. Ist die Öffnung des Monuments zur Stadt das Entscheidende oder nimmt die Stadt auf das Monument Bezug? Die mangelnde Eindeutigkeit sei zum Anlass genommen, das Neuartige dieser Platzanlage auch hinsichtlich der Rolle des Stifters und Mitentwerfers Stanislas Leszczyñski zu befragen, dessen Ausgangslage sich als ein mehrfacher Verzicht und damit eigentlich als eine fast absurde Situation darstellte. 1737 verzichtete Franz von Lothringen auf sein ohnehin hochverschuldetes Herzogtum, welches Stanislas Leszczyñski für seinen Verzicht auf die polnische Krone auf Lebenszeit erhielt. Darin steckt der dritte Verzicht, nämlich auf eine Zukunft, denn Lothringen wurde Stanislas als ein nicht erbliches Herzogtum übergeben. Ein entthronter polnischer König ohne Vergangenheit und ohne Zukunft residiert in einem fremden Land. Ist es daher nur konsequent, dass Stanislas auch Selbstverzicht übt, oder positiv formuliert: dass er seinen Dank und sein Vermächtnis an den Schwiegersohn visualisiert? Die Platzanlage wird gemeinhin interpretiert als der Versuch, die Übernahme Lothringens durch die Franzosen psychologisch vorzubereiten, als eine in vorweggenommenem Gehorsam errichtete steingehauene Huldigung für Ludwig XV., die die Untertanen auf den neuen Herrscher einstimmen sollte. Diese Vorstellung scheint in der Place Royale mit dem Denkmal Ludwigs XV. in der Mitte bestätigt.17 Betrachten wir aber die Voraussetzungen der sogenannten Regierung von Stanislas nochmals genauer. Er trug in dieser Zeit den Titel: „Stanislas, par la grace de Dieu. Roi de Pologne, Grand Duc de Lithuanie, Russie etc, Duc de Lorraine et de Bar“.18 Ein Großteil dieser Titel war reine Makulatur: Roi de Pologne etwa, aber auch „par la grace de Dieu“, was bekanntlich bedeutet, dass der so angeredete Herrscher keine andere Macht über sich anerkenne als Gott, worin der Ausdruck völliger Souveränität liegen sollte. Dieses Attribut hatte jedoch bei Stanislas im Wesentlichen keine Relevanz: Stanislas war nicht souverän. Das legte die Deklaration von Meudon, eine geheime Übereinkunft von 1736 auf Veranlassung Ludwigs XV. fest, in der Stanislas vorgab oder vorgeben musste, mit der Finanzverwaltung und den Einkünften nicht belästigt zu werden: Er überlasse alle Einkünfte seinem Schwiegersohn und wolle nur seine jährliche, durchaus stattliche Rente beziehen.19 Indem der neue Herzog auf die Finanzhoheit verzichtete, gab er einen wesentlichen Teil der Souveränität dieses Landes zugunsten eines fremden Staates bereits preis. Er behielt sich lediglich vor, dass die Verwaltung nach außen hin in seinem Namen zu führen sei. Allerdings
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Zur Diskussion dieser Achse siehe Bek, Achse (wie Anm. 11), 101–102. So vor allem Rau, Héré (wie Anm. 1), 192 mit Verweis auf weitere Literatur. „Stanislas, par la grâce de Dieu, Roi de Pologne, Grand-Duc de Lituanie, Russie, Prusse, Mazovie: Samogirle, Kiovie, Volhinie, Podlachie, Livonie, Smolensko, Sévérie, Czernichovie, Duc de Lorraine et de Bar, Marquis de Pont-à-Mousson et de Nomeny, Comte de Vaudemont, de Blamont, de Sarwerden, et de Salm“; Geiben, Leszczynski (wie Anm. 8), 32. Ebd., 15ff.
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wurde, wie bereits erwähnt, ein Intendant für die Justiz, die Polizei und die Finanzen eingesetzt. Auch die militärische Oberhoheit besaß Stanislas nicht. Bei seiner Besitzergreifung im Januar 1737 hat Stanislas zwar verkündet, er „übernehme Lothringen, um es in voller Souveränität zu besitzen“, gab jedoch gleichzeitig dem französischen Intendanten „pleins pouvoires“, also eine unbeschränkte Vollmacht zur Verwaltung Lothringens.20 Dies hob nicht nur Stanislas’ Souveränität auf, sondern höhlte auch die Verträge mit den europäischen Mächten aus, wonach Lothringen bis zu Stanislas’ Tode ein selbstständiges Herzogtum bleiben sollte. Der Intendant war sich seiner Bedeutung derart bewusst, dass er noch vor dem Einzug des neuen Herrschers Stanislas und vor der Feier zur Besitzergreifung die Geschäfte in Lothringen übernahm und sich im alten Herzogspalast in Nancy selbst niederließ. Das heißt, dass mit der Herrschaftsübernahme durch Stanislas in Lothringen die Souveränitätsrechte bereits aufgegeben wurden. Ist es somit wirklich sinnfällig, dass Stanislas diesen Prozess der Übernahme mit Hilfe der Architektur und des Städtebaus ‚vorbereiten‘ wollte? War dies überhaupt noch nötig, da dieser Prozess in den 1750er Jahren schon so weit fortgeschritten war? Musste er diese in allen Bereichen bereits spürbare Annexion mit Hilfe von Kunst und Architektur auch noch so deutlich sichtbar werden lassen? Oder könnte man auch vermuten, dass hier ein letztes, wenn auch verhaltenes Aufbäumen eines zwar auf dem Papier, nie aber in der Praxis souveränen Herrschers, spürbar wird? Es sei dabei keineswegs von Untergrabung königlicher Repräsentation gesprochen, dafür war Stanislas seinem Schwiegersohn Ludwig XV. zu sehr zu Dank verpflichtet. Zudem war der König über alle Planungen informiert, da ihm der Architekt Héré im Auftrag Stanislas‘ schon 1753 eine aufwändige Stichpublikation überreicht hatte21, so dass der französische König Einspruch hätte einlegen können. Allerdings lassen sich in der Tat Planänderungen nachweisen, die auf ein – so ist zu vermuten – fehlendes königliches Einverständnis und entsprechende Korrekturen schließen lassen. Die Planungen und die ausgeführte Platzanlage seien daher im Folgenden nochmal genauer betrachtet. Ein eindeutiges Bekenntnis zum König wäre durch die alleinige Schaffung einer Place Royale mit dem Standbild Ludwigs XV. sichtbar geworden. Angeboten hätte sich hierfür eine Überformung des Marktplatzes in der Neustadt, wogegen sich jedoch die Händler wehrten22, oder aber eine Verbindung mit dem Regierungssitz des Intendanten auf der bereits vorhandenen Place de la Carrière. Dadurch hätte man auch die Schleifung der Befestigung umgehen können, denn die größte Hürde bei der Planung waren die alten Bastionen: Die Entfestigung der Stadt war nachweislich nicht im Sinne des französischen Königs. Die Ironie liegt darin, dass Nancy Anfang des 17. Jahrhunderts zu einer der stärksten Befestigungen der Welt ausgebaut worden war, um sich gegen die Franzosen zu schützen. Genau diese Franzosen versuchten nun, da die Übernahme Lothringens kurz bevor steht, die Schleifung der Bastionen zu verhindern. Stanislas erwirkt jedoch 1752 hartnäckig beim Kriegsmi-
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Ebd., 28. Hemmanuel Héré, Recueil des plans, élévations et coupe tant géométrales qu‘en perspective des châteaux, jardins et dépendances que le roy de Pologne occupe en Lorraine y compris les batimens qu‘il y a fait élever, ainsi que les changemens considérables, les décorations et autres enrichissemens qu‘il a fait faire à ceux qui étoient déjà construits. Paris 1753. Vgl. dazu Rau, Héré (wie Anm. 1), 193–194.
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nister, beim Kommandanten und beim Intendanten die Genehmigung, die Binnenfortifikationen bis auf den Graben niederzulegen.23 Erstaunlicherweise wird dann in der Gesamtplanung nicht das Hôtel de l’Intendance, sondern das Rathaus, das Hôtel de Ville, an der Place Royale platziert, also nicht das Herrschaftsgebäude des Fürsten, sondern die Vertretung der Stadt und ihrer Bürger. Dieses Gebäude wird zudem durch seine Gestalt mit dem Mittelrisaliten, dem Dreiecksgiebel und den betonten Eckrisaliten gegenüber den seitlichen Palästen hervorgehoben und beherrscht den Platz eindeutig.24 Völlig neuartig und keineswegs nur königlich ist zudem die Funktion der Gebäude auf der Place Royale: Hier standen neben dem Zollamt, der medizinischen Akademie und dem Theater, also Verwaltungs- und Kultureinrichtungen, die die Volksaufklärung heben sollten, auch Einrichtungen, die dem Vergnügen dienten: In den niedrigen Pavillons, den Basses Faces, an der Nordseite der Place Royale wurden Billardsalons und Kaffeehäuser errichtet, die sicherlich nicht nur ein höfisches Publikum versorgten und versorgen sollten.25 Die bauliche Anlage des Platzes schließlich entspricht ebenfalls nicht dem Typus der Place Royale. Mag zwar um die Mitte des 18. Jahrhundert schon länger nicht mehr der frühe, hermetisch durch Gebäude abgeschlossene Platz wie die unter König Heinrich IV. geplante Place Royale in Paris, die heutige Place des Vosges (1605–12), das vorrangige Konzept darstellen, so muss man bei der Place Royale in Nancy dennoch feststellen, dass die Öffnung des Platzes und damit eine Öffnung zur Stadt hin schon sehr weit fortgeschritten ist. Zwar zeigt sie an jeder der vier Seiten eine in sich symmetrische Ausbildung durch Bauten, jedoch weisen diese einzelnen Baukörper relativ weite Abstände zueinander auf. Bronzene, vergoldete Gitter dazwischen, geschaffen vom berühmten Kunstschmied Jean Lamour, lösen die steinerne Materialität auf und sorgen für eine flirrende Transparenz (Abb. 4). An der Nordwestund Nordost-Ecke steigern sie sich zu prunkenden, triumphbogenartigen Einfassungen von Brunnenanlagen.26 Diese rauschenden Zierbrunnen sind äußerst selten in französischen Städten des 18. Jahrhunderts, die Fontänen fast nur als Wasserspeicher und -abgabestellen zur Versorgung des jeweiligen Viertels kennen. Hier werden also Elemente aus der Gartenkunst erstmals in Frankreich in größerem Umfang in den städtischen Raum, zumal in eine Place Royale, die ein eigenes hohes Dekorum ausgebildet hatte, integriert. Zudem greifen sie noch ausgesprochen spielerisch das Hoheitsmotiv des Triumphbogens auf. Stanislas und sein Architekt übersteigern somit nahezu das Diktum des „bien percée“ (gut durchbrochen sein) eines Platzes, das in der zeitgenössischen Theorie proklamiert wurde, um den Platzraum zur Stadt zu öffnen und mit dem städtischen Kontext zu verbinden.27 Eine Öffnung des Platzes erfolgt in Nancy aber nicht nur durch die weiten Abstände zwischen den Gebäuden, sondern auch durch die Bebauung selbst: Gegenüber dem Rathaus an
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Marot, Genèse (wie Anm. 11), 45ff.; Kemp, Text/Kontext (wie Anm. 11), 657–658. Wobei im 1. Stock die Stadtwohnung des Königs eingerichtet war, die er jedoch nie bewohnt hat. Es ist dabei jedoch zu bezweifeln, ob hier wirklich der Anspruch des Königs Gestalt annahm, an den städtischen Belangen mitzuwirken, wie Bek, Achse (wie Anm. 11), 100, es formuliert. Zum Rathaus vgl. auch Rau, Héré (wie Anm. 1), 211ff. Siehe ausführlich bei Rau, Héré (wie Anm. 1), 212–221. Zu den Brunnen und Gittern ebd. 221–224. Dazu vor allem Kemp, Text/Kontext (wie Anm. 11), 658.
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Abb. 4 Nancy, Place Royale, Blick vom Rathaus Richtung Triumphbogen und Basses Faces, Gemälde, zwischen 1759 und 1771 entstanden, Frankreich, Privatbesitz
der Nordseite gibt es nur niedrige Begrenzungsbauten, die allein aus dem rustizierten Podium bestehenden sogenannten Basses faces. Die zeitgenössische Vogelschau (Abb. 4)28 zeigt, wie sehr sich der Raum dadurch wiederum öffnet, so dass die Bäume der dahinterliegenden Gärten auf den alten Bastionen sichtbar werden. Gegenüber diesen wohlkalkulierten Ausblicken ins Grüne scheint die andere Funktion der niedrigen Bauten etwas zurückzutreten, denn auch der Triumphbogen mit seinem imperialen Charakter sollte sich angemessen erheben dürfen: Für ihn bilden die Basses faces eine Art Vorplatz. Hier am Triumphbogen, der zugleich als Stadttor fungierte, wird der Mittelpunkt der beiden neu verbundenen Städte markiert.29 Der skulpturale Schmuck des Triumphbogens verharrt dabei in einer eher herkömmlichen Krieg-und-Frieden-Ikonographie, die recht vorhersehbar die militärischen Topoi im Zusammenhang mit Ludwig XV. bedient. Zudem weist um die Mitte des 18. Jahrhunderts dieses stark militärisch geprägte Programm einer guten Herrschaft schon fast anachronistische Züge auf. Direkt hinter dem Triumphbogen und von diesem flankiert findet sich erneut eine Platzsituation, gesäumt vom Palais de Justice und der Bourse des Marchands. Die Gebäude der Gerichtsbarkeit und des Handels erhalten durch die Verknüpfung mit dem Triumphbogen eine Nobilitierung, was gerade bei der Cour Souveraine interessant ist, denn diese Behörde arbeitete nachweislich auch gegen den Intendanten.30 Die anschließende Place de la Carrière unterscheidet sich nicht nur in den Gebäuden, sondern auch in der Bepflanzung von der Place Royale. Auch hier ist die Grünanlage ein entscheidendes Thema. Der langgestreckte, 290 m große Platz wurde bereits 1751 mit Linden bepflanzt und somit zu einem Jardin public, zu einem eleganten Promenadenplatz der 28
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Zu dem Gemälde, das vor 1771 entstanden sein muss, vgl. Stanislas, Ausstellungskatalog (wie Anm. 2), 219–220. Zum Triumphbogen siehe Rau, Héré (wie Anm. 1), 225ff. Geiben, Leszczynski (wie Anm. 8), 49.
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Abb. 5 Nancy, Hôtel de l’Intendance, Gouache, ca. 1760, Nancy, Musée lorrain
durchaus bürgerlichen Öffentlichkeit, wobei die Bäume den Blick auf das Regierungsgebäude eher verstellen als lenken. Erst der halbkreisförmige Grundriss des Platzes vor dem Hotel de l’Intendance scheint wie eine Cour d’honneur dem Gebäude vorgelagert zu sein. Jedoch genau hier gab es einschneidende Planänderungen31: Die offenen Kolonnaden an den Seiten setzen sich im Parterre des Palastes fort und waren ursprünglich, wie die Gouache von ca. 1760, die auf die Planung Hérés zurückgeht, veranschaulicht (Abb. 5), in den mittleren neun Achsen ebenfalls offen. Das transparente Erdgeschoss des Palastes sollte wiederum genau die Funktion, Offenheit zu propagieren, erfüllen und den Blick in die Gärten freigeben, so dass eigentlich das Prinzip der Cour d’honneur – abzuschirmen und eine begrenzte Richtung vorzugeben – wieder ausgehebelt war. Die Arkaden wurden jedoch, wie der Vergleich mit dem ausgeführten Palast erkennen lässt (Abb. 6), schon während der Bauzeit geschlossen, wodurch das letzte Glied in der Folge von offenen Räumen, nämlich der von Bäumen und Gitterwerk umgebene Garten hinter dem Palast aus der Gesamtkomposition ausgeschaltet wurde. Transparenz und die damit verbundene horizontale Akzentuierung wurden offenbar als nicht angemessen für ein Regierungsgebäude des Intendanten empfunden. Die schließlich ausgeführte riegelartige Fassade des Regierungspalastes (Abb. 6) weist zudem eine zusätzliche Doppelsäulenordnung im Mittelrisalit auf: ein durchschaubares architektonisches Zeichen zur Hebung der Bedeutung des Intendanten. Ebenfalls wurde der Dreiecksgiebel mit dem Wappen über dem Mittelrisalit entfernt, was eine einschneidende Änderung war, denn in diesem Giebel hätte endlich Stanislas selbst deutliche Spuren hinterlassen. Dort sollte eigentlich das Wappen des polnischen Königs angebracht werden und zwar als Pendant zum Rathaus am anderen Ende der Platzanlage, wo das Wappen Stanislas’ – nicht dasjenige König Ludwigs XV. – ebenfalls im Giebel über dem Stadtwappen zu 31
Dazu auch Rau, Héré (wie Anm. 1), 234–240.
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Abb. 6 Nancy, Hôtel de l’Intendance, Hauptfassade
finden ist. Das mit einer Krone geschmückte Wappen des polnischen Königs, dessen Schild von zwei Adlern präsentiert wird, flankiert von den Kardinaltugenden Prudentia und Justitia, ist noch heute dort zu sehen. In dieser ursprünglich intendierten doppelten Präsenz Stanislas’ im Hôtel de l’Intendance und Hôtel de Ville wäre dem polnischen König, der bisher kaum in Erscheinung trat, im räumlichen Kontinuum eine bedeutende rahmende Funktion zugekommen, die sogar noch entscheidend erweitert worden wäre, nämlich in den zwei bereits erwähnten, für die Axialität der gesamten Anlage wichtigen Triumphbögen in der Verlängerung der Querachse: die Porte Saint-Stanislas im Westen und die Porte Sainte-Catherine, die auf seine Frau Bezug nimmt, im Osten (Abb. 3).32 Dieses Tor weist neben dem Wappen der Fürstin Figuren von Merkur, den Musen, Justitia und Ceres auf, während die Porte Stanislas Apoll und Minerva sowie vier Personifikationen der Künste – Musik, Architektur, Skulptur und Malerei – zeigt. Bei so vielen Zeichen für Stanislas’ eigenes Verständnis als Schutzherr, Friedensbringer und kultureller Neubegründer der Stadt erscheint die Krieg-und-Frieden-Ikonographie des Triumphbogens für den französischen König einigermaßen eintönig. Fast unbemerkt – beziehungsweise doch nicht ganz unbemerkt, weil das Wappen am Intendanturpalast eben nicht angebracht wurde – schlich sich der polnische König doch in sein großes urbanistisches Projekt.33 32 33
Ebd., Abb. 80. Diese Triumphbögen finden bei Rau nur kurz Erwähnung; ebd., 203. Kemps Feststellung, Stanislas Leszczyñski habe nur als „Substitut“ geplant, ist daher zurückzuweisen; Kemp, Text/Kontext (wie Anm. 11), 657.
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Als ein kompromissloser Selbstverzicht und eine ganz uneigennützige Inszenierung des zukünftigen Königs lässt sich Nancys Platzanlage also nicht verstehen. Wichtig ist daher das, was der zu Beginn zitierte Controlleur de La Maison du Roi bemerkte, nämlich dass Stanislas nicht nur seinem Nachfolger ein Denkmal errichtet hat, sondern dass er die gleichzeitige Herrschaft zweier Souveräne visualisiert habe. Dies ist in der Tat beispiellos. Das Errichten einer Place Royale um die Mitte des 18. Jahrhunderts war nicht neu. Jedoch war der Akt des Hauptakteurs Stanislas Leszczyñski ohne Vorbild, die gleichzeitige Herrschaft zweier Souveräne darzustellen, die aber, wenn man genau hinschaut, unterschiedliche Rollen bekleiden: der französische König in seiner nahezu retrospektiven militärischen Haltung, der zeitweilige und eigentlich nicht souveräne Herzog in seiner Rolle als Kulturbringer und Visionär. Viele Elemente, die bereits in anderen Place Royale-Planungen angedacht waren, aber nicht zur Ausführung kamen, griffen Stanislas und sein Architekt dabei auf. Zweifellos hat die besondere Situation in Lothringen zur Beschleunigung mancher Prozesse beigetragen; es wurde vieles vorweggenommen, was erst im 19. Jahrhundert wirklich zur Ausprägung kommen sollte, wobei die in der figürlichen Ausgestaltung sichtbare Ikonographie ausgesprochen lapidar bleibt und die wirklichen Neuerungen in den urbanistischen Bemühungen lagen: in dem Entschluss zur Entfestigung,34 vor allem aber in der Verzahnung von Stadt- und Naturraum. Natur ist hier nicht mehr ornamentale Rahmung des Monuments oder das Gegenüber der Stadt, sondern integratives Element einer organischen Stadtgestaltung, stets mit dem Wissen, dass Parks und Gärten nicht mehr nur das Privileg von Fürsten waren, sondern nun in den Dienst der Allgemeinheit gestellt wurden. Neu und bedenkenswert ist jedoch vor allem Stanislas’ eigene Rolle. Welche Motivation hatte er, wenn wohlbekannte Motive wie Statuserhöhung oder Konkurrenzen bei ihm keine Rolle spielten? Ging es ihm – und das war ja keineswegs neu – nur um seine Memoria? Oder um die ebenfalls altbekannte Legitimation eines nur auf dem Papier souveränen Herrschers durch Kunst?35 Dafür hätte indes ein größerer Apparat zur Verfügung gestanden, den Stanislas bei weitem nicht ausgeschöpft hat. Ihm ging es auch nicht um die Darstellung einer lothringischen Identität. Der alte Herzogspalast war haarscharf nicht in das Platzkonzept integriert worden, und Stanislas selbst suchte keine Nähe zu dieser ihm als implantierten Herrscher fremden Tradition: Den noch bestehenden Flügel des Herzogspalasts hatte er früh der Stadt vermacht, um seinen Entschluss zu verdeutlichen, dass er in Nancy nicht residieren würde. Und seine Grablege bereitete er auch nicht in der Franziskanerkirche Les Cordeliers direkt neben dem alten Herzogspalast, also der Grablege der Herzöge, vor, sondern in der eigens errichteten Kirche Notre Dame de Bon-Secours südlich der Neustadt von Nancy. Obwohl Stanislas die prachtvolle Place Royale angelegt hatte, wollte er in Nancy nicht leben, nicht regieren und auch nicht begraben sein. Eines ist ihm aber sicherlich gelungen: Er schuf eine eigene Identität, jenseits der vom Land auferlegten, der Tradition, und jenseits der vom König auferlegten, der Pflicht. Was 34
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Zur Entfestigung ebd., 657–658. Vgl. auch Cornelia Jöchner, Der Außenhalt der Stadt. Topographie und politisches Territorium in Turin, in: Dies. (Hrsg.), Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit. Berlin 2003, 67–68. Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, die letzte Regentin des Landes, sagt über ihn: „Le roi Stanislaw n’était maitre qu’en peinture“; zitiert nach Marot, Place Royale (wie Anm. 11), 13.
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bleibt dann anderes als die Visualisierung gesellschaftlicher urbanistischer Utopien, die vielleicht am ehesten in seiner Platzanlage bestimmend ist, während das Monument des Königs nur noch einen Teil des Ganzen bekleidet. Die Geschichte sollte ihm recht geben: Sie holt Stanislas auf seinen Platz zurück, spätestens nachdem im 19. Jahrhundert sein Denkmal anstelle des in der französischen Revolution zerstörten Monuments des Königs aufgestellt wurde. Seit 1831 heißt die Place Royale in Nancy Place Stanislas.
Die Teilungen Polen-Litauens Ein neues Modell in der europäischen Außenpolitik Hans-Jürgen Bömelburg
Den Schriftsteller und Publizisten Johann Gottfried Seume (1763–1810) quälten im Sommer 1805 Nachtgedanken. Er befürchtete, wie er in der Zueignung an den Leser zu „Mein Sommer 1805“ schrieb, den Untergang der deutschen Nation und eine endgültige Eingliederung des Alten Reichs in das napoleonische Imperium und griff dabei auf einen nicht lange zurückliegenden historischen Vergleich zurück: „Wir sind, wenn wir so fort fahren, in der Gefahr, weggewischt zu werden wie die Sarmaten; und bald wird man in unsern Gerichten fremde Befehle in einer fremden Sprache bringen. Ob die Menschheit dabei gewinnt oder verliert, wer vermag das aus dem Buche des Schicksals zu sagen?“1 Unter „Sarmaten“ verstand die gebildete Öffentlichkeit Europas die adligen Eliten Polen-Litauens, die ihre Herkunft mehrheitlich auf das antike skythische Reitervolk zurückführten und in den Teilungen 1772–1795 zwischen dem Russländischen Kaiserreich, Preußen und dem Habsburgerreich aufgeteilt worden waren. In privaten Briefen ging Seume Ende des Jahres 1805 noch weiter. Er beschwor den Untergang der deutschen Nation aus eigener Schuld und zog auch hier eine Parallele zu Polen: „Nach dem, was ich sehe, geht es uns in kurzem wie Oestreich, muß uns so gehen; […] Es ist eine allgemeine Ehrlosigkeit ohne Beispiel; nirgends ein Funke wahrer Nationalsinn. […] Wir sind die Pohlen von A[nn]o 64–94.“2 Seume wusste, wovon er sprach. Er hatte zwischen 1792 und 1797 in zarischen Diensten gestanden und war als Sekretär des russischen Gesandten Igelström in Warschau unmittelbar an dem Teilungsgeschäft beteiligt gewesen, das in die zweite und dritte Teilung Polen-Litauens 1793 und 1795 einmündete.3 Vor dem Hintergrund, dass er bereits 1797 überzeugt war, dass „Polen sich wahrscheinlich nie wieder erheben wird“, stand dem deutschen Patrioten Seume 1805 die Gefahr eines Un1
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Johann Gottfried Seume, Mein Sommer 1805, in: ders., Werke, hrsg. v. Jörg Drews. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1993, Bd. 1, 541–736, hier 552. Brief von Mitte Dezember 1805 an Carl August Böttiger, in: Johann Gottfried Seume, Briefe, hrsg. v. Jörg Drews/Dirk Sangmeister. Frankfurt a. M. 2002, 521–522. Über Seumes polnische Bezüge und Lebensabschnitte vgl. Hermann Buddensieg, Johann Gottfried Seume und Polen. Zum Gedächtnis seines 150. Todestages, in: Mickiewicz-Blätter 5, 1960, Nr. 15, 161–216; Gerard Kozielek, Johann Gottfried Seumes Stellung zum polnischen Aufstand von 1794, in: ders., Reformen, Revolutionen und Reisen. Deutsche Polenliteratur im 18. und 19. Jahrhundert. Wrocław u. a. 1990, 141–161; David Pickus, Johann Gottfried Seume. Political Indignation and Personal Resentment, in: ders., Dying with an Enlightening Fall. Poland in the Eyes of German Intellectuals 1764–1800. Lanham 2001, 233–264; Andreas Lawaty, Revolution und Untergang. Seume als Zeitzeuge und Interpret der Ereignisse in Polen am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Jörg Drews (Hrsg.), In Polen, Palermo und St. Petersburg. Vorträge der Colloquien zu Johann Gottfried Seume in Grimma, Riga und Tartu 2003 und 2005. Bielefeld 2008, 233–266.
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tergangs Deutschlands nach polnischem Muster drohend vor Augen.4 Nach Seume ist dieser Untergang selbstverschuldet, Deutsche wie Polen seien über die eigene „Egoisterey“ und Privilegienwirtschaft gestolpert, sie erwartet ein vergleichbares Schicksal, mit dem aus der Seumeschen Gedankenwelt heraus wohl der Verlust sprachlich-nationaler Identität gemeint gewesen sein wird, wie er am Neujahrstag 1808 formulierte: „Nach Jahrhunderten, ja sogar schon nach einem Jahrhundert werden wir Elsässer, Lothringer, Kurländer und Livländer gemeinsam mit den Polen sein, die in ihrem Elend schon alle nicht wissen, was für Landsleute sie sind, und zu welchem Volke man sie rechnet. Bei diesen hat dies der Wahnsinn des Adels bereits erreicht, bei uns wird er es in kurzer Zeit tun.“5 Eine Entnationalisierung im Gefolge von Annexionen, Elitenversagen des Adels und Teilungen schreite in ganz Mitteleuropa fort und erreiche nach den Polen nun die Deutschen. Den alten Seume trieben solche Teilungs- und Versklavungsängste um, denn das Recht habe in Beziehungen zwischen den Staaten keine Wirkung mehr, das Völkerrecht sei dementsprechend nur noch Theorie: „Die fremden Länder hatten sie natürlich unter sich geteilt, ohne sich um Recht und Billigkeit zu kümmern, und indem sie der Zügellosigkeit ihrer Natur folgten.“6 Auch für die deutschen Staaten sah er um 1808 eine Teilung zwischen dem napoleonischen Frankreich und dem alexandrinischen Russländischen Reich voraus: „So dringt denn aus dem Norden schon eine harte Barbarei in Verbindung mit Sklaverei herein; vom Süden zwar eine etwas mildere Herrschaft, aber eine nicht weniger gefährliche und noch schmachvollere Knechtschaft. […] wir sind nichts als Beute.“7 Soviel im Moment zu Seume, der in dieser Parallelisierung der Teilungen Polen-Litauens und der Aufteilung des Alten Reichs wohl die herausragende zeitgenössische Stimme ist. Soziales Ungerechtigkeitsempfinden und bürgerlicher Nationalismus vermischt sich bei ihm mit modernen Ordnungsvorstellungen gegen die (Miss)Wirtschaft des „russischdeutschpolnischen Adelsgezücht[s] mit den Privilegien und allem alten Unsinn“.8 Aus dieser Perspektive werden die Aufteilung Polen-Litauens und des Alten Reichs als Elitenversagen wahrgenommen, wobei das Teilungsgeschehen in Polen den Deutschen als Warnung und Abschreckung drohend vor Augen gestellt wird.
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Zur Frage der Vergleichbarkeit des Endes von Polen-Litauen und dem Alten Reich vgl. Michael G. Müller, Das Ende zweier Republiken: Die Teilungen Polens und die Auflösung des alten Reichs, in: Andreas Lawaty/Hubert Orlowski (Hrsg.), Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. München 2003, 57–63. Leider ohne über das Reich hinausgehende Perspektive bleibt Wolfgang Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reichs und die Generation 1806. (Bibliothek Altes Reich, Bd. 2.) München 2006. Johann Gottfried Seume, Vorwort zu einem Bändchen, Bemerkungen und Konjekturen zu zahlreichen schwierigen Stellen des Plutarch, in: ders., Prosaschriften. Mit einer Einleitung von Werner Kraft. Darmstadt 1974, 1186. Ebd., 1180. Ebd., 1186. Johann Gottfried Seume, Apokryphen, in: Seume, Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 9–137, hier 85.
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1. Die Teilungen Polen-Litauens: Nationales Ereignis oder Zäsur in einer europäischen Strukturgeschichte? Bei einem Versuch, den Vorbild- und Modellcharakter der Teilungen Polen-Litauens in einem europäischen Kontext zu diskutieren, kann man sich nur sehr begrenzt auf die Forschungsliteratur zum Thema „Teilungen Polens“ stützen. Ältere deutschsprachige Arbeiten sprachen in borussischer Tradition häufig von selbstverschuldeten internen Ursachen in Polen, die die Teilungen herbeigeführt hätten und variierten den zeitgenössisch verbreiteten Anarchievorwurf.9 Typologische Überlegungen zum Vorbild- und Modellcharakter der Teilungen wurden jedoch grundsätzlich nicht angestellt; erst in der aktuellen Forschung findet sich der Versuch, polnische und deutsche Erfahrungen mit Fremdherrschaft im Gefolge der Teilungen um 1800 zu parallelisieren und die in beiden Kulturen ähnlichen Bilderwelten zu analysieren.10 Allerdings erschienen sehr wohl in der deutschen Forschung die Teilungen Polen-Litauens als ein Symptom eines im 18. Jahrhundert sich europaweit verbreitenden Systems eines instrumentellen Umgangs fürstlicher Eliten mit Herrschafts- und Besitztiteln. Karl Otmar von Aretin sah Ursachen vor allem im europäischen Gleichgewichtssystem, das keine einseitige Machterweiterung einer Großmacht zugelassen, sondern stets konsequent Kompensationen für die anderen Mächte eingefordert habe, woraus dann Teilungs- und Tauschgedanken erwuchsen seien. Nicht nur im Falle Polen-Litauens, so wurde argumentiert, habe die Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts zum Mittel der Aufteilung und Annexion fremder Territorien gegriffen, um der eigenen Staatsräson und dem Erhalt des europäischen Gleichgewichts Genüge zu tun. Wurzeln lägen bereits in Tausch- und Teilungsprojekten in Norditalien (Piemont) und in der Behandlung der bayrischen Erbfolgefrage zeitlich parallel zur Entwicklung im östlichen Europa.11 In der polnischen Geschichtsschreibung existiert eine entwickelte europäische Historiographie- und Wahrnehmungsgeschichte der Teilungen12, auf die im Folgenden zurückgegriffen werden kann, wenn diskutiert wird, inwieweit im späten 18. Jahrhundert und in der Sattelzeit die Teilungen Polen-Litauens als Modell für Europa wahrgenommen wurden. Im modernen Europa wurden die Teilungen allerdings mehrheitlich als nationales Problem erinnert und diskutiert. Als „polnische Frage“ bestimmten sie die Mächtepolitik des langen 19. Jahrhunderts mit und zwangen über mehr als ein Jahrhundert lang die drei Teilungs9
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Zuverlässige monographische deutschsprachige Einführung: Michael G. Müller, Die Teilungen Polens 1772 – 1793 – 1795. München 1984, 7; polnische Ausgabe: ders., Rozbiory Polski. Historia Polski i Europy XVIII wieku. Poznań 2005. Andreas Lawaty, Zur romantischen Konzeption des Politischen. Polen und Deutsche unter fremder Herrschaft, in: Alfred Gall u. a. (Hrsg.), Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, Bd. 8.) Wiesbaden 2007, 21–59. Karl Otmar von Aretin, Tausch, Teilung und Länderschacher als Folgen des Gleichgewichtssystems der europäischen Großmächte. Die polnischen Teilungen als europäisches Schicksal, in: Klaus Zernack (Hrsg.), Polen und die Polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701– 1871. Berlin 1982, 53–68. Marian Henryk Serejski, Europa a rozbiory Polski. Warszawa 1970.
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mächte – einschließlich des preußisch-deutschen Kaiserreichs – in ein Bündnis zur Wahrung des status quo gegen die polnischen Eliten zusammen. Durch die Nationalisierung Europas erschienen die Teilungen selbst bei liberalen Publizisten ausschließlich als Problem der Geschichte Polens und seiner Eliten, die in ihren historischen, modern in ihren Selbstbestimmungsrechten verletzt worden waren. Mit der Neubegründung des polnischen Staates 1918 schien dies erledigt. Dass die größten europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts, die deutsche und die sowjetisch-russische, dies über Jahrzehnte nicht akzeptierten und erst schrittweise die Existenz eines Nachfolgestaates akzeptierten, löste einen weiteren Weltkrieg aus, wurde aber kaum als langfristige Auswirkung gesehen. Umso umstürzender erschienen die Ergebnisse des revolutionären Umbruchs 1989/91, als dessen Ergebnis nun auf einmal vier Nachfolgestaaten des historischen Polen-Litauen, nämlich Polen, Litauen, Belarus’ und die Ukraine, entstanden. Ein Blick auf die Landkarte Europas zeigt, dass die Grenzen dieser Staaten sich zu einem erheblichen Teil mit den historischen Grenzen Polen-Litauens decken, wenn man gesondert die Westverschiebung Polens als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs berücksichtigt.13 Alle vier Staaten sehen sich als Nachfolgestaaten des vormodernen Polen-Litauens: Neben Polen betont vor allem die litauische Geschichtspolitik die eigenen staatlichen Traditionen im bis 1795 bestehenden Großfürstentum Litauen (2009 erfolgte der Wiederaufbau des Großfürstlichen Palastes in Vilnius, der 3. Mai als Jahrestag der polnisch-litauischen Verfassung von 1791 gilt auch als Nationalfeiertag). Aber auch in Belarus’ wird das Großfürstentum von Seiten der Regierung Luka enka wie der Opposition mit Berufung auf die altweißrussische Kanzleisprache und die ostslavischen Eliten nun als weißrussische Protostaatlichkeit in Anspruch genommen. Selbst in der Ukraine, die die eigene Staatlichkeit insbesondere auf die Kosaken und den „Hetmanstaat“ zurückführt, spielen die polnisch-litauischen kulturellen und historischen Traditionen eine erhebliche Rolle in der Entwicklung einer eigenen Nationalerzählung. Diese Neuaneignung der polnisch-litauischen Geschichte hat struktur- und erinnerungsgeschichtliche Konsequenzen und verändert auch unsere Wahrnehmung der Teilungen: Diese werden heute und in Zukunft weniger als ein Ereignis ausschließlich der Mächtepolitik des Ancien Régime oder eine Unterbrechung der polnischen Nationalgeschichte, sondern als epochale Zäsur in der Geschichte des nördlichen Ostmitteleuropas bzw. des gesamten östlichen Europas begriffen. Keine Grenzveränderungen und Annexionen im Europa des 18. Jahrhunderts erreichten auch nur entfernt die Dimensionen der Teilungen Polen-Litauens, in der über 850.000 km und 12 Millionen Menschen zwischen den Teilungsmächten aufgeteilt wurden. Inwieweit entstand hier im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch die Teilungen ein Muster, das regional und gesamteuropäisch bis in die Moderne ausstrahlte und erinnerungsgeschichtlich bis heute präsent ist – dieser Frage soll in skizzenhafter Form im Folgenden nachgegangen werden.
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Eine Karte, die die historischen Grenzen Polen-Litauens mit den aktuellen Grenzen der Nachfolgestaaten überblendet, findet sich unter http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f0/ Rzeczpospolita2nar.png (24.09.2010).
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2. Die Teilungen aus der Sicht der Akteure: Vorbild zu einer friedlichen Konfliktlösung und „Wohltat für die Menschheit“? Theoretische Teilungsüberlegungen gegenüber Polen-Litauen gibt es in Ansätzen seit dem Zweiten Nordischen Krieg (1656–1660), intensiver dann im Großen Nordischen Krieg (1700–1721), teilweise angestoßen durch den polnischen König und sächsischen Kurfürsten August II., der um sein politisches Überleben kämpfte.14 Von kontinuierlichen und konkreten Teilungsplänen kann man von Jugend auf in den außenpolitischen Entwürfen Friedrichs II. sprechen. Bereits als Kronprinz begründete Friedrich in Briefen den Erwerb des Polnischen Preußens (das spätere Westpreußen) mit dem „Recht der politischen Notwendigkeit“.15 In den politischen Testamenten von 1752 und 1768 kleidete Friedrich die Teilungspläne in die plastische Artischocken-Metapher, die Region müsse Stück für Stück ohne Krieg erworben werden. 1752 hieß es: „La province qui nous conviendroit le mieux apres la Saxse, ce seroit la prusse polonaise. […] Je ne crois pas que la voye des armes soit le meilleur moyein pour ajouter cette province au royaume, et je serois tenté de vous dire ce que Victor Amadée, Roy de sardagne, repetoit a Charles Emanuel: Mon fils, il faut manger le Milanais come un artichot, feuille par feuille. […] Je crois qu’en faissant la conquete passifique de la Prusse, il seroit absolument nesesaire de reserver Danzic pour le dernier morceau.“16 Angedeutet wird hier ein Verhandlungsweg im Kontext wechselseitiger Kompensationen, den Friedrich II. auch im Siebenjährigen Krieg verfolgte, wobei ein Erfolg von ihm selbst allerdings als wenig wahrscheinlich angesehen wurde.17 Es ist übrigens nicht möglich, den Verweis auf Piemont und Victor Amadeus zu verifizieren, möglich ist auch eine Erfindung des angeblichen historischen Musters. Auch auf russischer Seite gab es unter führenden Politikern wie Zachar G. Černyšev (1722–1784) 1763 ebenfalls gegen Polen-Litauen gerichtete Annexionspläne.18 Ähnliches gilt 1763 für den führenden österreichischen Politiker Wenzel Anton Fürst Kaunitz.19 Solche Pläne fanden sich allerdings in der zeitgenössischen Politik zuhauf und waren nicht ausschließlich gegen Polen-Litauen, sondern auch etwa gegen Reichsterritorien (Bayern) gerichtet, verblieben jedoch zunächst durchweg auf dem Papier.
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Józef Gierowski, Preußen und das Projekt eines Staatsstreiches in Polen im Jahre 1715, in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas 3, 1959, 296–317. Brief an den Kammerjunker Natzmer, in: J.D.E. Preuß (Hrsg.), Oeuvres de Frédéric le Grand. 31 Bde. Berlin 1846–1857, hier Bd. 16, 1850, 3–5. Richard Dietrich (Bearb.), Die politischen Testamente der Hohenzollern. Köln/Wien 1986, 369– 375; Erika Bosbach, Die „Rêveries politiques“ in Friedrichs des Großen Testament von 1752. Köln/ Graz 1960, 16–24, 79–104. Hans-Jürgen Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756–1806). München 1995, 209–212 mit den entsprechenden Belegen. P. Žukovič, Upravlenie i sud v Zapadnoj Rossii v carstvovanie Ekateriny II [Verwaltung und Gericht in Westrussland unter der Herrschaft Katharinas II.], in: Žurnal Ministerstva Narodnogo Prosveščenija, 1914, Nr. 2, 265–315, hier 266–267. Adolf Beer, Die erste Theilung Polens. Bd. 1. Wien 1873, 93.
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Seit 1768 entwickelte vor allem die österreichische und preußische Politik wiederholte, nun erheblich konkretere Teilungspläne, in denen von habsburgischer Seite durch Tauschgeschäfte und Zufriedenstellung Preußens in Polen die Rückkehr Schlesiens, von preußischer Seite eine Arrondierung und Erweiterung des Machtbereichs auf Kosten Polen-Litauens angestrebt wurden. Diese Projekte wurden zwischen den beteiligten Mächten erörtert und schrittweise konkretisiert.20 Im unmittelbaren diplomatischen Umfeld der ersten Teilung nach 1772 gab es unter den Monarchen jedoch keine Versuche, die Lösung einer Aufteilung auch öffentlich als modellhaft darzustellen. Ganz im Gegenteil, es wurden auf traditionelle Art und Weise historische Rechte beschworen: Friedrich II. rechtfertigte die Teilung mit Rückgriff auf pommersche Verbindungen nach Pommerellen und preußische Ansprüche aus der Ordenszeit, Joseph II. mit ungarischen Ansprüchen in Rotreußen und Podolien21 und schließlich Katharina II. mit „Rechten, ebenso alte wie auch legitime, deren Erfüllung man niemals durchsetzen konnte“ sowie altrussischen Fürstengeschlechtern.22 Anders sah es jedoch hinter den Kulissen aus: In geheimen Denkschriften auf österreichischer Seite entstand bereits 1772 der Gedanke, die Teilungen auch und vor allem auf das Osmanische Reich auszudehnen. In der im Januar 1772 im Umfeld von Wenzel Anton Fürst Kaunitz verfassten Denkschrift „Sieben Partage-Tractus-Vorschläge, die türkischen Länder in Europa betreffend“23 sollte in drei Varianten das Osmanische Reich zwischen Russland und Habsburg aufgeteilt werden. Als sich Berlin und Petersburg sperrten, schwenkte auch die habsburgische Politik auf die Teilung Polen-Litauens ein. Parallel sondierte die österreichische Diplomatie jedoch bereits im Herbst 1772 und 1773 weitere Pläne für eine Aufteilung Bayerns und Frankens.24 Friedrich II. sprach 1778 in seinen „Erinnerungen“ in Bezug auf die erste Teilung PolenLitauens ausdrücklich von „dem ersten Beispiel, das die Geschichte gegeben hat, für eine Teilung, die auf friedliche Weise zwischen drei Großmächten geregelt und abgeschlossen worden ist“.25 Ein europäischer Krieg sei so verhindert und Blutvergießen vermieden worden. Borussische Historiker sind dem gefolgt und sprachen von einem „Meisterstück friderizianischer Diplomatie“ (Otto Hinze). Fachhistorisch muss hier entgegnet werden, dass die gefundene Teilungslösung – wie die kommenden Ereignisse rasch zeigten – gerade keine friedliche Lösung sicherte, sondern im Gegenteil neue Teilungspläne entstehen ließ: „Die Vorgeschichte der zweiten und dritten Teilung Polens ist vielmehr auch und vor allem als 20 21 22
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Müller, Teilungen Polens (wie Anm. 9), 33–39 mit den entsprechenden Plänen. Exposé préliminaire des droits de la Couronne de Hongrie sur la Russe Rouge et la Podolie, 1.12.1772. Petr V. Stegnij, Razdely Pol’ši i diplomatija Ekateriny II. 1772. 1793. 1795. [Die Teilungen Polens und die Diplomatie Katharinas II.]. Moskva, 2002, 421–429. Abgedruckt bei Gustav Berthold Volz, Die Massinischen Vorschläge. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der ersten Teilung Polens, in: Historische Vierteljahrsschrift 10, 1907, 367–373. Tadeusz Cegielski, Das Alte Reich und die erste Teilung Polens 1768–1774. Warszawa/Wiesbaden 1988, 74–75. “C’est là le premier exemple que l’histoire fournisse d’un partage réglé et terminé paisiblement entre trois puissances; sans les conjonctures où l’Europe se trouvait alors, les plus habiles politiques y auraient échoué“. Friedrich II., Mémoires depuis la paix de Hubertsbourg 1763, jusqu’à la fin de la partage de la Pologne, 1775, in: Preuß (Hrsg.), Oeuvres (wie Anm. 15), Bd. 6, 1847, 52.
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eine Geschichte der Fortschreibung von krisenhaften Entwicklungen zu sehen, die mit eigener Logik zur Wiederholung des Verfahrens der ersten Teilung führten.“26 Dieses zweifelhafte moralische Rechtfertigungsmodell für die Teilungen, nämlich eine angeblich europaweite Friedenssicherung, tauchte jedoch zeitgenössisch als Argument auch unter führenden russischen Akteuren auf. Der russische Außenminister Graf Nikita I. Panin formulierte in einer Depesche an den russischen Gesandten in Wien Fedor Golicyn bereits im Sommer 1772: „Der Friede und die Ruhe ganz Europas sind in unserer Hand.“27 Zugleich wurde das europaweit regulierende und umverteilende Potential des Teilungsgedankens in der Hand der großen Mächte von hellsichtigen zeitgenössischen Akteuren auf Seiten der Teilungsmächte durchaus erkannt. Prinz Heinrich (1726–1802), der Bruder Friedrichs, der die preußisch-russischen Teilungspläne 1771 in Petersburg maßgeblich mit ausgehandelt hatte, sprach von einem Zusammengehen der Großmächte, das, wenn es zu einem dauerhaften Bündnis führe, Europa dominieren könne. Aus dem gelungenen Procedere von 1771/2 entwickelte er Pläne, solche Teilungsprojekte auch auf das Alte Reich auszudehnen.28 Im Oktober 1777 schrieb er an seinen Bruder Friedrich: „Wenn Du mein lieber Bruder und der Kaiser es gemeinsam plantet, Ihr würdet Deutschland haben, ehe dass irgend jemand gegen so überlegene und vereinte Kräfte vermochte.“29 In der Krise um die bayrische Erbfolge 1778 plädierte Prinz Heinrich für ein Ausnutzen der Situation und eine Teilung der geistlichen Reichsterritorien, konnte sich aber gegen seinen Bruder nicht durchsetzen und zog sich nach Rheinsberg zurück. Aus der Sicht der Akteure schufen die Teilungen eine „neue Ordnung“ im Norden Europas, die durch die zweite und dritte Teilung Polen-Litauens 1793 und 1795 erneuert und gefestigt wurde. Das Modell hatte sich damit zumindest in der östlichen Hälfte Europas bewährt und wurde begrifflich als „démembrement“ und „partage“ zu einem Teil der politischen Doktrin der Epoche. Das „Modell Teilungen“ bildete darüber hinaus im russischen politischen Denken eine Option, die im späten 18. Jahrhundert auch gegenüber dem Osmanischen Reich erwogen wurde. Im Umfeld des sog. „Griechischen Projekts“, einer geplanten Restauration des byzantinischen Reichs als Russische Sekundogenitur mit einem Enkel Katharinas, Konstantin, als Herrscher, plante die russische Politik eine Aufteilung des Osmanischen Reichs. 1781/82 wurde in diese Teilungspläne Joseph II. eingeweiht, 1786 ein russisch-österreichisches Offensivbündnis geschmiedet. Nach diesen Plänen sollte Österreich Bosnien, Serbien und Albanien erhalten, Russland dagegen die Moldau und die Walachei, Bulgarien 26 27
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Müller, Die Teilungen Polens (wie Anm. 9), 39. „Mir i tišina vsej Evropy v našich rukach.“ Panin an Golicyn, 6. Juni 1772. Političeskaja perepiska Imperatricy Ekateriny II. [Die politische Korrespondenz der Kaiserin Elisabeth II.], T. 7: 1772–1773, in: Sbornik Russkago Istoričeskago Obščestva, Bd. 118. St. Petersburg 1904, 139, hier zit. nach Cegielski, Das Alte Reich (wie Anm. 24), 76. Herbert Kaplan, The First Partition of Poland. New York 1962, 131; Chester Verne Easum, Prinz Heinrich von Preußen, Bruder Friedrichs des Großen. Göttingen 1958, 398–399, 421–425. Zit, nach Karl Otmar von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund. 2. Aufl. Göttingen 1993, 18; Andreas Pečar, Ein Prinz von Geblüt auf dem Abstellgleis. Prinz Heinrich als Politiker in: Jahrbuch der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg 4, 2001/02, 113–132, hier 117.
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und Teile Klein-asiens einschließlich Konstantinopels. Um eine Opposition zu vermeiden, wurde auch Frankreich eine Beteiligung an der Beute angeboten: Frankreich sollte Ägypten und die Levante erhalten. Letztendlich scheiterte der Plan trotz eines mehrjährigen Krieges (1786–1792) an der militärischen Stärke der Osmanen sowie deren Unterstützung durch europäische Mächte (osmanisches Bündnis mit Schweden, Frankreich).30 Die Teilungspläne gegenüber dem Osmanischen Reich kamen zwar nicht zur Ausführung; sie belegen aber, welche Ausstrahlungskraft das Modell am Vorabend der Französischen Revolution besaß. Am „Geschäft der Teilungen“ Polen-Litauens war ein größerer Personenkreis von Diplomaten, Militärs und Beamten beteiligt, der – berücksichtigt man den administrativen Bedarf der Teilungsmächte – mehrere tausend Personen umfasste. Innerhalb dieser Eliten, die auch publizistisch aktiv waren, wurden mehrere Rechtfertigungsmodelle der Teilungen entwickelt. Zeitgenössisch besonders verbreitet war der Anarchievorwurf, der durch den Terreur der Französischen Revolution in den 1790er Jahren an Schärfe gewann. 1791 hatte es über die polnisch-litauische Maiverfassung noch geheißen, sie sei „eine neue Constitution von Polen, eine wahrhaft weise, der französischen Anarchie-Constitution ganz entgegengesetzte“31, nach dem Ausbruch des Kościuszko-Aufstandes im Gefolge der Zweiten Teilung Polen-Litauens wurden der Aufstand in der preußischen, russischen und österreichischen Propaganda wiederholt als „Jakobinertum“ und „Anarchie“ denunziert, obwohl die innere Organisation der Aufständischen sich durch ein straffes bürokratisches Regiment auszeichnete. Der Aufstand sei ein „Zeugnis für Einflüsse französischer Demagogen“32 – so preußische Rechtfertigungsschriften. Die „Unruhen“ und die „Zügellosigkeit“ der „Jakobiner an der Weichsel“ hätten die Großmächte als Ordnungskräfte zu einem Eingriff gezwungen, um ein Ausbreitung der „französischen Seuche“ zu verhindern.33 In der Erstfassung des preußischen Besitzergreifungspatents von 1793 hieß es: „was aber mehr als alles übrige die ernstlichste Aufmerksamkeit der benachbarten Höfe hat erwecken müßen, ist der in Polen überhand nehmende französische Empörungs-Geist, und die nicht mehr zweifelhafte genaue Verbindung vieler in diesem Lande errichteten Gesellschaften, mit jener verabscheuungswürdigen Partey, welche durch Zerreissung aller religiösen, bürgerlichen und politischen Bande der Gesellschaft ein großes, blühendes Reich an den Abgrund des Verderbens gebracht hat […]; einer Parthey, die […] mit nie erhörter Schamlosigkeit
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Edgar Hösch, Das sogenannte „griechische Projekt“ Katharinas II. Ideologie und Wirklichkeit der russischen Orientpolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 12, 1964, 168–206. Anonym, Historisch-politische Übersicht des Jahres 1791, in: Politisches Journal 1, 1792, 10. Vgl. auch Deutsche Chronik 60, 1791, 500f. Sirisa [d.i. August Sadebeck], Polen zur Zeit der zwey letzten Theilungen dieses Reichs: historisch, statistisch und geographisch beschrieben. Nebst einem allegorischen Frontispiz, drey Prospekten und einer Landcharte, welche die verschiedenen Theilungen Polens in den Jahren 1772, 1793 und 1795 dem Auge deutlich macht. Berlin 1807, 12, 16. Zahlreiche Belege bei Erhard Moritz, Preußen und der Kościuszko-Aufstand 1794. Zur preußischen Polenpolitik in der Zeit der Französischen Revolution. Berlin 1968.
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öffentlich den festen Vorsatz ankündigt, ihr Gift über alle Staaten zu verbreiten […] und überall Zwietracht, Gesetzlosigkeit und Aufruhr zu stiften.“34 Der Anarchievorwurf war in der französischsprachigen Öffentlichkeit ganz Europas prominent verbreitet und durch führende Vertreter der Aufklärung wiederholt gegenüber Polen-Litauen erhoben worden.35 Auch französische Kronzeugen wie Pierre Samuel Dupont de Nemours bekräftigten den Anarchievorwurf und sprachen so von einem selbstverschuldeten Untergang: „L’anarchie a seule amené le partage de la Pologne; elle l’a seule rendu possible; elle a seule empêché la Pologne d’être ou de redevenir une puissance.“36 Eine Analyse von Michel Marty über französische Reiseberichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam zu der textnah belegten Schlussfolgerung, im Zentrum aller französischen Reiseberichte zu PolenLitauen stehe ein unklar gefülltes, jedoch als archaisch und ordnungslos negativ konnotiertes Anarchiesyndrom.37 Die Teilungen nun als ein potentielles Modell für einen Umgang mit der Ausbreitung der „französischen Seuche“ in ganz Europa, so kann die Argumentation der europäischen Großmächte in den frühen 1790er Jahren zusammengefasst werden. Ein anderes – im 19. Jahrhundert dominant werdendes und von preußischen, habsburgischen und russischen Eliten vertretenes – Erklärungsmodell sah in den Teilungen eine Zivilisierungsmission, von der letztendlich die Betroffenen profitieren würden. Bereits Friedrich II. hatte den Zivilisationsstand der Teilungsgebiete gezielt minimiert, auch, wie er selbst in einem Brief an seinen Bruder Heinrich zugab, um weniger Eifersucht zu wecken. Aus dieser Perspektive waren die Bevölkerungen vor Ort auf dem Stand von Eingeborenen in den Kolonien, alles Indianer, „Huronen“ oder „Irokesen“: „On ne peut comparer les provinces polonaises à aucun Etat de l’Europe: elles ne peuvent entrer en parallèle qu’avec le Cananda.“38 Joseph II. verbreitete ein ähnliches Bild Polen-Litauens. Als der Naturwissenschaftler Georg Forster ihn am 24. August 1784 in Wien auf der Durchreise nach Wilna besuchte, äußerte der Kaiser während des Gesprächs: „Ich sehe nicht ab, wie Sie mit den Polen auskommen werden; Was wollen Sie denn da machen? – Naturgeschichte lehren. – Ich dächte anstatt Wissenschaften, müsste man ihnen erst das abc lernen.“39 34
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Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, I. HA, Rep. 7 C, Fasz. 2, Bd. 1, Bl. 29v-30r, hier zit. nach Boris Olschewski, Zwangsinklusion durch Herrschaftswechsel – Besitzergreifungspatent und Erbhuldigungseid im Kontext der Ersten Teilung Polens und Litauens, in: Helga SchnabelSchüle/Andreas Gestrich (Hrsg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa. Frankfurt a. M. 2006, 359–384, hier 370. Marc Delaplace, L’Anarchie de Mably à Proudhon (1750–1850). Histoire d’une appropriation polémique. Paris 2000. Pierre Samuel Dupont de Nemours, Mémoires soumis à la troisième classe de l’institut [...] particulièrement sur l’occasion de M. de Rulhière intitulé De l’anarchie de Pologne. Paris 1810, 12–13. Michel Marty, Voyageurs français en Pologne durant la seconde moitié du XVIIIe siècle. Écriture, lumière et altérité. (Les dix-huitièmes siècles, Bd. 80.) Paris 2004. Friedrich II. an Voltaire, 10.12.1773, zit. nach Reinhold Koser/Hans Droysen (Hrsg.), Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire. 3 Bde. Leipzig 1908–1911, Bd. 3, 1911, 284. Dazu: Izabela Surynt, Postęp, Kultura i kolonializm. Polska a niemiecki projekt europejskiego Wschodu w dyskursach publicznych XIX wieku [Fortschritt, Kultur und Kolonialismus. Polen und das deutsche Projekt eines europäischen Ostens in den öffentlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts]. Wrocław 2006. Georg Forster, Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hrsg. v. d. Akademie der Wissenschaften der DDR. Bislang 18 Bde. Berlin seit 1958, Bd. 12, 1973, 121–123. Vgl. auch die sorgfältige Interpretation
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Im Umfeld der Teilungen entstanden in Galizien und insbesondere in Westpreußen Vorstellungen einer positiv konnotierten „deutschen Ordnung“. In Westpreußen findet sich weiterhin der älteste schriftliche Nachweis einer negativ konnotierten „polnischen Wirtschaft“ im administrativen Umgang mit den polnischen Adelseliten: „Das ist alles die liederliche polnische Wirtschaft der dortigen Edelleute Schuld, die sich nicht zur Ordnung gewöhnen wollen, darum müssen sie das so machen und durchaus keine Reste gestatten, vielmehr scharf dahinter her sein und den Edelleuten Exekution geben, bis sie alles bezahlet haben.“40 Gerade von den vor Ort am Teilungsgeschäft beteiligten Beamten wurde die Auffassung einer Zivilisierungsmission mit Nachdruck vertreten, denn sie diente auch zur Selbstlegitimation. Seume schrieb als Kommentar zu den Teilungen: „Kosmisch genommen, war es unstreitig zur Wohltat für die Menschheit.“41 An anderer Stelle formulierte er stärker abwägend: „Wenn eine mißliche Sache mit ihrem kosmischen Zwecke gerechtfertiget werden könnte, so dürfte man vielleicht auch hier sagen, der Zustand Polen habe gewonnen, und unter allen drei neuen Gouvernements werde nun nicht mehr so eigenmächtige Bedrückung, mehr Ordnung und Gerechtigkeit, und im Allgemeinen mehr Wohlstand herrschen.“42 Bemerkenswert ist, dass Seume diese Auffassung noch 1805 auf das „Teilungsgeschäft“ gegenüber dem Alten Reich übertrug: „Ob die Menschheit dabei gewinnt oder verliert, wer vermag das aus dem Buche des Schicksals sagen?“43
3. Die Teilungen aus polnisch-litauischer Sicht: Teilungspsychose und innenpolitisches Argument Diese in den diplomatischen Eliten der Teilungsmächte auch nach 1772 fortwährend lebendige Überlegung, das „Teilungsgeschäft“ wiederaufzunehmen, die auch instrumentell eingesetzt wurde, um die polnische Außenpolitik zu steuern, gelangte natürlich auch polnischen Diplomaten zur Kenntnis und existierte in der polnisch-litauischen Diplomatie als stete Befürchtung. Dort wurden regelmäßig Nachrichten über neue Teilungsabsichten gesammelt und nach Warschau weitergeleitet. Solche teilweise monatlich und jährlich erneut einlaufenden Nachrichten und Gerüchte förderten unter den polnisch-litauischen Eliten Ängste
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bei Hans-Joachim Althaus, „Wie wäre da deutsche Wirthschaft möglich?“ Einige Überlegungen zu Georg Forsters Diktum „polnische Wirtschaft“, in: Orbis Linguarum. Legnickie Rozprawy Filologiczne 7, 1997, 51–90, hier 55–58. Kabinettsordre an Kammerdirektor von Korckwitz, 2.10.1781, abgedruckt in: Max Bär, Westpreußen unter Friedrich dem Großen. 2 Bde. Leipzig 1909, Bd. 2, 439–440. Johann Gottfried Seume, Über das Leben und den Karakter der Kaiserin von Russland Katharina II, in: Seume, Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 229–327, hier 259. Ebd., 281–282. Seume, Mein Sommer (wie Anm. 1), 552.
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vor einer neuen Teilung bis hin zu einer regelrechten „Teilungspsychose“44, wurden infolge ihrer Häufigkeit jedoch manchmal auch nicht mehr ernst genommen.45 Zugleich wurden Ängste vor einer Wiederholung des Modells „Teilungen“ jedoch in Polen-Litauen auch gezielt innenpolitisch instrumentalisiert. Am Vorabend der Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai 1791 übte die Reformpartei auf widerstrebende Abgeordnete, die keine neue Verfassung wollten, systematisch Druck aus, eine neue Teilung stände bevor: Zu diesem Zweck wurden ältere Gesandtschaftsberichte tendenziös zugespitzt und am 3. Mai in der Plenarsitzung vorgestellt. Dieses Bedrohungsszenario trug zu einer Verabschiedung der neuen Verfassung am Nachmittag des 3. Mai 1791 bei.46 Die Gruppe der polnischen Reformer setzte um 1790 Nachrichten oder Ängste vor weiteren Teilungen durchaus instrumentell als innenpolitisches Mittel ein, um weitere Reformen voranzutreiben. In Denkschriften und Szenarien wurde eine Teilung als Ausweg aufgezeigt, sollte es in Polen-Litauen zu keinen Reformen kommen.47 Dieser Sachverhalt verdeutlicht, dass das „Modell Teilungen“ – in diesem Fall als negatives Szenario, durchaus politikwirksam eingesetzt werden konnte und zumindest den polnischen und litauischen Eliten um 1790 präsent war.
4. Die Teilungen aus der Sicht der Reichsstände: Ein gefährliches und Präzedenzfälle schaffendes Muster Im zweiten großen zusammengesetzten Reichsverband Mitteleuropas, dem Alten Reich, verbreiteten sich die Nachrichten über die erste Teilung 1772 mit großer Geschwindigkeit, zumal auch polnische Abgesandte die Reichsöffentlichkeit zu erreichen versuchten. Zudem wurden Befürchtungen über ein Übergreifen einer Teilungspolitik durch die Großmächte Habsburg und Preußen auch von der französisch beeinflussten Publizistik geschürt, die das „dritte Deutschland“ zu einer Anlehnung an Frankreich bewegen wollte. In den Quellen fassbar ist, dass die Höfe der Reichsstände in München, Mannheim, Trier oder Mainz eine Übertragung der österreichisch-preußischen Entente auch auf das Reich und im Spannungsfall oder bei geeigneten Gelegenheiten eine Aufteilung der kleineren Reichsterritorien fürchteten.48
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Besonders einflussreich: Stanisław Szaszic, Przestrogi dla Polski [Warnungen für Polen]. 1. Aufl. 1790. Wrocław 2008. Maciej Kucharski, Dyplomacja polska wobec groźby drugiego rozbioru Rzeczypospolitej [Die polnische Diplomatie gegenüber einer zweiten Teilung Polen-Litauens], in: Jerzy Grobis (Hrsg.), Oświeceni wobec rozbiorów Polski. Łódź 1998, 64–75. Walerian Kalinka, Sejm Czteroletni [Der vierjährige Sejm]. 2 Bde. 2. Aufl. Lwów 1881. Reprint Warszawa 1991, 506–517; Dariusz Nawrot, Sprawa pruskich propozycji rozbiorowych z marca 1791 roku na tle przygotowań do uchwalenia Konstytucji 3 maja [Preußische Teilungsprojekte vom März 1791 als Hintergrund der Ausrufung der Verfassung vom 3. Mai], in: Grobis (Hrsg.), Oświeceni wobec rozbiorów (wie Anm. 45), 76–86. Auswahl: Łukasz Kądziela (Hrsg.), Kołłątaj i inn i. Z publicystiki doby Sejmu Czteroletniego [Kołłątaj und andere. Aus der Publizistik des Vierjährigen Reichstags]. Warszawa 1991. Den Nachweis aus den Quellen führt die Studie von Cegielski, Das Alte Reich (wie Anm. 24), so dass hier summarisch argumentiert werden kann.
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Solche Ängste waren auch in der unabhängigen Reichspublizistik lebendig, ein Aufsatz in der in Frankfurt erscheinenden Frankfurter Kayserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung vom 13. Februar 1773 stellte fest, beide Staaten könnten sofort Heere aufstellen und die Reichsterritorien aufteilen.49 Insbesondere bei den Wittelsbachern, wo in Bayern die Erbfolgefrage nach dem Tode des kinderlosen Max III. Joseph (1727–1777) offen war, fürchtete man eine Übertragung „polnischer Muster“. Der sächsische Vertreter in München, Christian Gottlieb Unger, berichtete nach Dresden: „L’electeur Son Maître commence à songer sérieusement à un arrangement solide de la succession de Bavière, et que c’est le partage de la Pologne, qui lui fallait sentir la nécessité de régler cette affaire à temps.“50 Auch in den anderen Wittelsbacher Territorien des Alten Reichs kursierten Ängste, man könne das Opfer von preußisch-österreichischen Teilungen werden. Kurfürst Carl Theodor von Pfalz-Sulzbach, der Erbe Bayerns, äußerte diese Befürchtungen in einer Instruktion vom Oktober 1777 – einige Monate vor dem tatsächlichen Erbfall 1778 – auch schriftlich: „Sie werden alle meine Lande nehmen und mir Mannheim und Heidelberg lassen und eine Insel im Rhein, mit der sie mir den Königstitel geben können, damit ich zufrieden bin.“51 Tatsächlich forcierte die habsburgische Politik unter Leitung von Joseph II. 1778 eine Aufteilung Bayerns, die erst an der Intervention Preußens scheiterte und in den von beiden Seiten als Machtdemonstration geführten Bayerischen Erbfolgekrieg 1778/79 mündete. Es verdiente genauere Quellenstudien der Frage nachzugehen, inwieweit im Umfeld des Sitzkriegs beide Seiten Verhandlungen über weitere Partagepläne führten. Konkret umgesetzt wurde die Aufteilung des Alten Reichs zwanzig Jahre später, diesmal als gemeinsames preußisch-französisches Teilungsgeschäft an dem auch die süddeutschen Rheinbundstaaten erheblichen Anteil hatten. Aber: Mir ist außer den einleitenden angeführten Äußerungen Seumes kein weiterer Verweis bekannt, dass zeitgenössisch eine Parallele zwischen dem Ende Polen-Litauens und den Teilungen (der Auflösung) des Alten Reichs gezogen wurde. Die Ursachen hierfür liegen auf mehreren Ebenen: In der Epoche der Französischen Revolution trat der Rückgriff auf den – durchaus belasteten Teilungsbegriff – zugunsten anderer Begriffe zurück. Die Annexionen und Erwerbungen des revolutionären Frankreichs bzw. Preußens wurden in der Regel nicht unter dem Begriff „Teilungen“ registriert, obwohl es sachliche Parallelen zu den Teilungsprozeduren gab. Sicherlich spielte dabei eine erhebliche Rolle, dass die „Teilungsmächte“ im Alten Reich mit Ausnahme Frankreichs ebenfalls deutschsprachig waren und so keine Fremdherrschaftsvorstellungen mit Breitenwirkung entstehen konnten.52
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Ebd., 80–83. Unger an Carl Graf von der Osten-Sacken, 04.10.1772, zit. nach ebd., 128. Zit. nach von Aretin, Tausch (wie Anm. 11), 57. Tadeusz Cegielski, Preußische „Deutschland- und Polenpolitik“ in dem Zeitraum 1740–1792, in: Zernack (Hrsg.), Polen und die Polnische Frage (wie Anm. 11), 21–27. Christian Koller, Fremdherrschaft. Ein politischer Kampfbegriff im Zeitalter des Nationalismus. Frankfurt a. M. 2005.
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Obwohl der Zusammenbruch Polen-Litauens und des Alten Reichs in zeitlicher Nähe erfolgten und Wechselwirkungen bestanden, sah die Erinnerung unterschiedlich aus. Eine Parallele kann benannt werden: Die polnischen und deutschen Erinnerungsgemeinschaften definierten sich nach 1800 jeweils als sprachliche und kulturelle Gemeinschaften mit einer Reichsvergangenheit, die als „Schläfernationen“ (ein Begriff von Andreas Lawaty) zukünftig zur Herrschaft bestimmt seien. Zurzeit lebe man in einer Epoche der Vergeistigung, so die deutsche Auffassung, in einer „Zeit der Bestrafung und Verbannung“, so die polnische Wahrnehmung. Zurückgegriffen wurde in Polen wie in Deutschland auf die Metapher vom Sturz Trojas als Bild für den Zusammenbruch: „Dieser Grabhügel begräbt nicht euer Geschlecht! Troja ging unter, damit Rom geboren wurde“, eine Äußerung von Jan Paweł Woronicz, dem späteren Primas von Polen anlässlich eines Besuchs in dem frühen nationalen Pantheon in Puławy.53 „Nam fuimus Troes“ – „Einst waren wir Trojaner“ – so die Metapher des Untergangs in der deutschen Wahrnehmung um 1806.54
5. Die Teilungen gesamteuropäisch: Menetekel für den Untergang einer Rechtsordnung oder Zivilisierungsmission? Die gesamteuropäische Wahrnehmung der Teilungen Polen-Litauens ist im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts äußerst gegenläufig und komplex, denn hier stehen mehrere Tendenzen nebeneinander. Ein Teil der aufgeklärten französischen Publizisten teilte die Vorstellung von einer Zivilisationsmission der Teilungsmächte. Voltaire lobte die Expansionspolitik Katharinas II. gegenüber dem Osmanischen Reich und Polen-Litauen als Gewinn für die Zivilisation und rechtfertigte die Teilungen.55 Zugleich wurden unter französischen Autoren allerdings auch skeptische Stimmen über die Konsequenzen der Machtverschiebung im östlichen Europa laut: Nach Philippe Joubert kann die „Revolution“ in Polen nicht mit dem Aufstand der Niederlande oder der Glorious Revolution verglichen werden, denn sie bedrohe mit ihren äußeren Auswirkungen ganz Europa.56 Die Antiabsolutistische Publizistik, etwa bei dem Schweizer Historiker Johannes von Müller, sah in den Teilungen eine Bedrohung der europäischen Freiheit: „Hast du die ungerechte Eroberung von Großpolen in der Zeitung gelesen? Dafür sitzt vielleicht dieser König in unserer Noth still. Indes die Despoten am Untergang der europäischen Freiheit arbeiten, erhebt sich eine neue Republik im Norden von Amerika.“57
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„Nie zagrzebie waszego rodu ta mogiła! Troja na to upadła, aby Rzym zrodziła.” Jan Paweł Woronicz, Pisma wybrane [Ausgewählte Schriften], hrsg. v. Małgorzata Nesteruk/Zofia Rejman. Warszawa 1993, 210. Beispiele bei Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt (wie Anm. 4), 208–211. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of civilization on the Mind of Enlightenment. Stanford 1994, 195–234. Philippe L. Joubert, Histoire des révolutions de Pologne depuis la mort d’Auguste III. 2 Bde. Varsovie 1775, Bd. 1, 17 (Einleitung). Johannes von Müller, Briefe aus Genf (1774), in: ders., Sämtliche Werke hrsg. v. Johann Georg Müller. 40 Bde. Stuttgart u. a. 1831–1835, Bd. 29, 1834, 47.
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Am bekanntesten und in der Art ihrer Reflexion herausgehoben ist die Berichterstattung im britischen „Annual Register“, dessen leitender Redakteur Edmund Burke war. Dies führte dazu dass die dort publizierten Beiträge Burke selbst zugeschrieben wurden, obwohl nicht geklärt werden kann, welchen persönlichen Anteil er daran hatte. Die Ausführungen spiegeln auf jeden Fall auch die Auffassungen Burkes wider.58 Zu Beginn des Jahrgangs 1772 heißt es herausgehoben in der einleitenden Jahresübersicht über “The history of Europe”, das Jahr habe durch die unerwartete und völkerrechtswidrige Teilung Polens eine bemerkenswerte Veränderung, ja Revolution ausgelöst, die Teilung sei „der erste große Einbruch in das moderne politische System Europas“ gewesen, vergleichbar nur mit dem Einfall der Mongolen und Tartaren im Mittelalter; ähnlich wie dieser habe die Teilung die Barriere zwischen Asien und den deutschen Territorien niedergerissen und die „große westliche Republik“ als Ganzes in Frage gestellt: „It presents us with a revolution as unexpected as important, in that general system of policy, and arrangement of power and domination, with had been for some ages an object of unremitting attention, with most of the states of Europe. […] The present violent dismemberment and partition of Poland, without the pretence of war, or even the colour of right, is to be considered as the first very great breach in the modern political system of Europe. […] We now behold the destruction of a great kingdom, with the consequent disarrangement of power, dominion, and commerce, with as total an indifference and unconcern, as we could read an account of the exterminating one hord of Tartars by another, in the days of Genghizcan or Tamerlane.“59 Zugleich wird auch von englischer Seite sofort die Parallele zum Alten Reich gezogen: “The free states and cities of Germany, seem to be more immediately affected by the present extraordinary transaction, than any other part of Europe. Indeed if the partition of Poland takes place in its utmost extend, the existence of the Germanic body in its present form, for any length or time, will be a matter rather to be wished for than expected.“60 Die Reichsterritorien seien, so führt der Beitrag aus, insbesondere von der preußischen Expansionspolitik bedroht. Zugleich wird und das ist wohl die bekannteste Passage des Räsonnements, auf die gesamteuropäischen Konsequenzen des Teilungsvorgangs hingewiesen, denn die russische Machtpolitik besitze nun keine natürliche Barriere mehr, die bis dato Polen-Litauen gewesen sei, und könne sich nach Mitteleuropa ausdehnen: „Poland was the natural barrier of Germany, as well as of the northern states, against the overwhelming and ambition of Russia.“61 Was dies bedeuten könne, analysiert das Annual Register 1773: „The extraordinary power and uncommon activity of some of the continental princes, the jealousy of others, and the ambition of all, are ill calculated for the preservation of the public tranquillity. […] The state of Poland is still undetermined. […] With respect to frontier, for the neighbourhood of the peaceable, indolent and impotent Pole, Russia has now extended her boundaries into contact with those of her jealous, watchful, and enterprising rivals; and has thereby laid the
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Zu polnischen Kontakten, die Burke beeinflussten, vgl. Zofia Libiszowska, Misja polska w Londynie w latach 1769–1795 [Die polnische Mission in London 1769–1795]. Łódź 1966, 34–35. The Annual Register, or a View of the History, Politics and Literature for the year 1772. London 1773, 1–2. Ebd., 3. Ebd., 4.
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foundation (if the present system continues), for such endless altercation and disputes, as must keep Germany and the North in a continual state of warfare and confusion. The wisest and most benevolent statesman could not have wished for a happier barrier than Poland, to prevent the clashing of the German and Muscovite empires; nor could the demon of discord have thrown out bitterer feeds of contention, than it is now likely to produce.”62 Endloser Streit und Konflikte seien zu befürchten, die Mitteleuropa (Germany and the North) in einen fortwährenden Kriegszustand versetzen könnten. Erneut wird auf das Alte Reich hingewiesen, ein völliger Systemwechsel stehe dort bevor, das Gleichgewicht sei ernsthaft gestört und könne nur durch außerordentliche Maßnahmen widerhergestellt werden: „Such measures are probably the first that will be taken, to prepare the way of a total change of system in Germany. […] The equilibrium is entirely overthrown; and it must be only by a series of the most extraordinary events, that it can be restored.“63 Diese britischen Kommentare fanden zeitgenössisch in der deutschsprachigen Welt nur begrenzt Beachtung und wurden auch in der deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts kaum zitiert. Sie zeigen jedoch, dass für manche konservativen Zeitgenossen die Teilungen ein schockierendes Modell einer neuen Form von Traditionsvergessenheit in Europa darstellten. Sie bildeten somit, und so wurde Burke bereits in den Revolutionskriegen durchaus verstanden, den eigentlichen Ausgangspunkt für die Auflösung der alten europäischen Staatenbeziehungen und der völkerrechtlichen Ordnung des Ancien Régime. In diese Tradition stellte sich Charles Maurice de Talleyrand, wenn er am 19.11.1814 anlässlich der Verhandlungen über die zukünftige europäische nachnapoleonische Ordnung an Clemens Wenzel von Metternich schrieb: Die Teilungen Polen-Litauens „fut le prélude, en partie le cause et peut-être, jusqu’a certain point, excuse des bouleversements, auxquels l’Europe a été en proie“.64 Sicherlich bemühte sich Talleyrand hier auch um eine Entlastung des revolutionären Frankreichs und suchte die Schuld für den Untergang des Ancien Régimes auf mehrere Schultern, darunter auch die habsburgische, zu verteilen. In der europäischen Diplomatie im Umfeld des Wiener Kongresses war jedoch die Vorstellung von dem „Modell Teilungen“ das den Zusammenbruch der alten Ordnung mit verursacht habe, zumindest präsent.
Epilog Über die Frühmoderne hinaus ist das „Modell Teilungen“ zumindest in einer breiteren Öffentlichkeit Europas über 200 Jahre hinweg stets präsent. In der polnischen öffentlichen Meinung bilden die „Teilungen“ einen Erinnerungsort, der bei politischen Ereignissen stets neu aktualisiert werden kann. Die Neuordnung Europas 1815 wurde aus dieser Perspektive als „vierte Teilung“ gesehen, der Hitler-Stalin-Pakt 1939 je nach Zählung als „vierte“ bzw.
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The Annual Register, or a View of the History, Politics, and Literature for the year 1773. London 1774, 2–4. Ebd., 9. Zit. nach Félix Colson, De la Pologne et les Slaves. Paris 1863, 160–161.
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„fünfte“ Teilung gewertet.65 Auch aktuell ist der Teilungsbegriff ein fester Bestandteil der polnischen Tagespolitik und Publizistik: Anlässlich der Unterzeichnung des Abkommens um die Errichtung der Nord-Stream-Pipeline von Vyborg bis Mukran bei Rügen 2007 wurden von polnischen Publizisten Vergleiche bis hin zu einer erneuten energiepolitischen Teilung beschworen.66 Auch in Zukunft kann prognostiziert werden, dass Teilungsängste in der polnischen Publizistik wiederholt beschworen und populistisch ausgebeutet werden werden. Jenseits dieser Aktualisierungen endete der Modellcharakter der Teilungen im Laufe des 19. Jahrhunderts. Nach den blutig niedergeschlagenen polnischen Aufständen konnten die Teilungen – je stärker Volkssouveränität und ein nationales Selbstbestimmungsrecht europaweit verankert wurde, umso mehr – keinen Modellcharakter mehr beanspruchen. Sie erschienen nicht mehr als diplomatische Innovation, sondern ausschließlich als zynische Machtpolitik. Man kann argumentieren, dass Teilungskonzepte mit dem Aufkommen von „Nation“ als neues Modell politischer Ordnung zumindest öffentlich obsolet wurden. Allerdings besaß im Zeitraum zwischen 1770 und 1820 das Modell der Teilungen PolenLitauens in der europäischen Diplomatiegeschichte eine erhebliche Ausstrahlungskraft. Es wurde insbesondere von den Teilungsmächten als Friedenssicherungsmodell dargestellt. Vor allem russische und habsburgische Diplomaten suchten, das Modell auch in andere Regionen zu übertragen, die gescheiterte Aufteilung des Osmanischen Reichs in ihrer diplomatischen Vorbereitung und in dem konkreten Vorgehen beider potentiellen Teilungsmächte ist das umfangreichste Beispiel. In der gebildeten Öffentlichkeit – etwa in den kleineren Reichsterritorien – entwickelten sich Ängste, ebenfalls Aufteilungen zu unterliegen. Andererseits wurde, insbesondere in der französischen Publizistik seit 1815, die zynische Machtpolitik der Teilungsmächte als Ursache für den Untergang des Ancien Régimes angesehen. Das „Modell Teilungen“ ist so ein neues politisch-diplomatisches Procedere des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts, das allerdings öffentlich seit den Revolutionskriegen zunehmend diskreditiert und deshalb von den politisch Handelnden des 19. Jahrhunderts zumindest in Europa nicht mehr als Modell angesehen wurde. Inwieweit es dennoch im Verborgenen handlungsleitend blieb, ist eine andere Frage.
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Marek Kornat, Der Pakt. Ideologie und Wahrheit. Erinnerung in der Volksrepublik Polen heute, in: Osteuropa 59, 2009, H. 7/8, 279–294. Stephan Raabe, Der Streit um die Ostsee-Pipeline. Bedrohung oder notwendiges Versorgungsprojekt? (Rapporte der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr. 14.) Warschau 2009; Marcin Miodek, „Das ist ein neuer Ribbentrop-Molotov-Pakt!“ Eine historische Analogie in Polens Energiedebatte, in: Osteuropa 59, 2009, H. 7/8, 295–305.
Abbildungsnachweis Thomas Schauerte Bildarchiv des Verfassers: 1, 2, 4, 8, 9 Bildarchiv Fotomarburg: 5, 7 Kurt Löcher, Die Gemälde des 16. Jahrhunderts [Bestandskatalog Germanisches Nationalmuseum Nürnberg], 1997: 6 Hans Ottomayer/Jutta Götzmann/Ansgar/Reiss, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806, Ausstellungskatalog, 2006, Nr. V.38: 10 Reinhard Stauber/Gerhard Tausche/Richard Loibl, Niederbayerns Reiche Herzöge (Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 38), 2009, 59: 3 Matthias Müller Verfasser: 5–7, 12 Stephan Hoppe, Schlossbau der Spätgotik in Mitteldeutschland, 2007: 3 Bildarchiv des Verfassers: 1–2, 4, 8–11 Ulrich Schütte Iris Lauterbach (Hrsg.), Die Landshuter Stadtresidenz, 1998: 1, 4, 5 Gerhard Hojer (Hrsg.), Der italienische Bau, 1994: 2 Mattheus Merian, Topographia, Reprint 1962: 3 Katharina Krause Kunstgeschichtliches Institut der Philipps-Universität Marburg: 1–4 Iris Lauterbach München, Zentralinstitut für Kunstgeschichte: 1, 2, 5 Matthias Diesel, Erlustirende Augenweide, 1989: 3 Gérard Mabille/Louis Benech/Stéphane Castelluccio, Vues des Jardins de Marly. Le roi jardinière, 1998: 4 Archiv der Verfasserin: 6 Ada Raev N. V. Kaljazina, G. N. Komelova, Russkoe iskusstvo petrovskoj ėpochi, 1990: 1 Volker Hunecke, Europäische Reitermonumente. Ein Ritt durch die Geschichte Europas von Dante bis Napoleon, 2008: 2 Erich Donnert, Russland im Zeitalter der Aufklärung, 1983: 3 Rolf Toman (Hrsg.), Die Kunst des Barock, 1997: 4 St. Petersburg um 1800. Ein goldenes Zeitalter des russischen Zarenreichs. Meisterwerke und authentische Zeugnisse der Zeit aus der Staatlichen Ermitage, Ausstellungskatalog, 1990: 5
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Abbildungsnachweis
Eva-Bettina Krems Kunstgeschichtliches Institut der Philipps-Universität Marburg: 1, 3, 6 Wolfgang Braunfels, Abendländische Stadtbaukunst, 1976: 2 De l’Esprit des villes. Nancy et l‘Europe urbaine au siècle des Lumières, 1720–1770, Ausstellungskatalog, 2005: 4, 5
Christine roll , Fr ank Pohle, Matthias MyrCzek (hg.)
grenzen und grenzübersChreitungen bil anz und PersPek tiven der FrühneuzeitForsChung (Frühneuzeit-iMPulse, band 1)
Der Band dokumentiert die Aachener Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit 2009. Er zieht eine Zwischenbilanz und diskutiert neue Perspektiven der Forschung, denn gerade in der Frühneuzeitforschung sind Grenzen und Räume, Grenzregionen und Raumvorstellungen zu wichtigen Forschungsfeldern geworden. An Grenzverhältnissen in unterschiedlichen Bereichen (z.B. politische Grenzen, Grenzen der Nachbarschaft, Initiationsrituale, Geschlechtergrenzen, Naturgrenzen) fragen die Beiträge nach den Erträgen des ›spatial turn‹ für die Geschichtswissenschaft und erörtern die Tragfähigkeit der Grenz-Metapher auch für solche Lebensbereiche, die nicht räumlich organisiert sind. 2010. 684 S. Mit 30 S/w-Abb. Gb. 155 x 230 MM. iSbN 978-3-412-20646-8
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Christoph K AmpmAnn, K AthArinA Kr Ause, evA-bettinA Krems, AnusChK A tisCher (hg.)
bourbon – hAbsburg – or Anien KonKurrierende modelle im dynAstisChen europA um 1700
Europa um 1700 – lange galt dies allein als das Europa des »Sonnenkönigs« Ludwigs XIV., eine Auffassung, die von der Frühneuzeitforschung seit einiger Zeit in Frage gestellt wird: Gerade die Vielfalt und die Wechselwirkung der dynastischen Modelle prägten Europa um 1700. Die drei rivalisierenden dynastischen Machtzentren Bourbon, Habsburg und Oranien, personifiziert durch die jeweiligen Protagonisten Ludwig XIV., Leopold I. und Wilhelm III., stehen im Zentrum des Buches. Dargestellt wird aus der Perspektive von Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte die Konkurrenz der drei Modelle in kulturell-künstlerischer, dynastischer und politischer Hinsicht. Aspekte der Konstituierung, der Kommunikation und der Rezeption der Modelle werden untersucht. Sie werden angewandt auf Gestalt und Wirkung der Historiographie, der höfischen Architektur, der Bildprogramme, des Zeremoniells sowie auf unterschiedliche Verfahren des Transfers mittels Personen, Schriften und Bildern. 2008. VI, 301 S. mIt 45 S/W-ABB. gB. 170 x 240 mm. ISBN 978-3-412-20152-4
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien
studien zur Kunst
Band 21:
Ralph Gleis
anton romako (1832–1889) Eine Auswahl.
Band 11:
die entsteHung des modernen Historienbildes
Doris Helga Lehmann
Historienmalerei in Wien anselm FeuerbacH und Hans makart im spiegel zeitgenössiscHer kritik
2011. VIII, 527 S. 124 s/w- und 20 farb. Abb. auf 64 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20107-4
Band 15:
Caroline Horch
»nacH dem bild des kaisers« Funktionen und bedeutungen des cappenberger barbarossakopFes
2012. Ca. 304 S. Ca. 49 s/w- und 8 farb. Abb. auf 32 Taf. 2 Faltkarten. Gb. ISBN 978-3-412-20346-7
Band 18:
Dietrich Seybold
2010. 317 S. Mit 73 s/w-Abb. 28 farb. auf 16 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20613-0
Band 22:
Julian Blunk
das taktieren mit den toten die FranzösiscHen königsgrabmäler in der FrüHen neuzeit
2011. 432 S. 193 s/w-Abb. auf 80 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20626-0
Band 23:
Isabel Wünsche
kunst & leben micHail matJuscHin und die russiscHe aVantgarde in st. petersburg
2011. 258 S. Mit 35 s/w-Abb. und 17 farb. Abb. auf 12 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20730-4
leonardo da Vinci im orient
Band 24:
gescHicHte eines europäiscHen mytHos
Von der kunst abzudanken
2011. 368 S. 10 s/w-Abb. Mit CD-Rom-Beilage. Gb. ISBN 978-3-412-20526-3
die repräsentationsstrategien königin cHristinas Von scHWeden
Band 19:
2012. Ca. 312 S. Ca. 80 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20790-8
Eva Kernbauer
der platz des publikums modelle Für kunstöFFentlicHkeit im 18. JaHrHundert
2011. 338 S. 62 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20555-3
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Kathrin Iselt
»sonderbeauFtragter des FüHrers«
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die WittelsbacHer und europa kulturtransFer am FrüHneuzeitlicHen HoF
2012. Ca. 344 S. Ca. 90 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20810-3
der kunstHistoriker und museumsmann Hermann Voss (1884–1969)
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2010. 516 S. Gb. ISBN 978-3-412-20572-0
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