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German Pages 536 [525] Year 2006
Ideen als
gesellschaftliche Gestaltungskraft
Ordnungssysteme Studien
zur
Ideengeschichte der Neuzeit
Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 20
R.
Oldenbourg Verlag München 2006
Lutz
Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.)
Ideen als
gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit
Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte
R.
Oldenbourg Verlag München
2006
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2006 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet:
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Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH., Bad Langensalza ISBN 13:978-3-486-57786-0 ISBN 10: 3-486-57786-7
Inhalt Vorwort.9
Lutz Raphael
Jdeen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit": Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogramms.11 ,
I. Frühneuzeitliche Politik-Diskurse Raimund Ottow Die ,Cambridge-School' und die Interaktion politischer Diskurse in England vor der Zeit Elisabeth' I bis zur Revolution.31 Luise Schorn-Schütte Kommunikation über Herrschaft: Matthias
Obrigkeitskritik im
16. Jahrhundert.71
Weiß
„...weltliche hendel werden geistlich." Zur política Christiana
des 16. Jahrhunderts.109 Theo Stammen/Susanne Schuster Wie lässt sich Gemeinsinn institutionalisieren? Politisch-theoretische Positionen des Common Sense Diskurses von John Locke zu Edmund Burke.125
Christof Dipper Kommentar.153
II. Theorien in Recht, Politik und Gesellschaft Michael Stolleis Zur Ideengeschichte des Völkerrechts 1870-1939.161 Thorsten Lange Die Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende.173
Lutz Danneberg
Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen.193
6
Sandra Pott
Säkularisierung Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte.223 -
Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt „The Last Real Discussion of Fundamentals": Zum Problem
hybrider Sprachen im politischen Diskurs in Großbritannien um 1800.239
Heinz-Elmar Tenorth
Geltung und Wirksamkeit
Ideen im Kontext. Ein Kommentar.259 -
III. Nation und Politik seit dem 19. Jahrhundert Frank Becker Auf dem Weg zu einer „Kulturgeschichte der Ideen"? Deutung der Einigungskriege und bürgerlicher Militarismus im Deutschen
Kaiserreich.267
Gangolf Hubinger/Helen Müller Ideenzirkulation und Buchmarkt. Am Beispiel der konfessionellen und politischen Sortimentsbuchhandlungen im Kaiserreich.289 Moritz Fbllmer/Andrea Meissner Ideen als Weichensteller? Polyvalenz, Aneignung und Homogenitätsstreben im deutschen Nationalismus 1890-1933.313
Dagmar Günther Der Ort des Nationalen in der autobiographischen Selbstthematisierung deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs eine Bilanz.337 -
Dieter Langewiesche Die Idee Nation als Handlungsorientierung. Kommentar.359
IV. Normen:
Recht, Moral, Religion in der Moderne
Diethelm Klippel/Martina Henze/Sylvia Kesper-Biermann Ideen und Recht. Die Umsetzung strafrechtlicher Ordnungsvorstellungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts.371 Susanne zur Nieden Der homosexuelle Staatsfeind
zur -
Geschichte einer Idee.395
7
Maren Hoffmeister Deskriptionen und Erektionen.
Projektion auf den Körper des Mörders... 429
Lutz Raphael Kommentar.441
V. Wissenschaftliche
Ideen, Diskurse und Praktiken
Andreas Hoeschen/Lothar Schneider Herbartianismus im 19. Jahrhundert: Umriss einer intellektuellen
Konfiguration.447 Ruth
Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
Psychologische Eignungsdiagnostik in westdeutschen Großunternehmen: Wirkung von Ideen als Neufiguration wissenschaftlicher Konzepte in professionellen Verwendungsfeldem.479 Heinz-Elmar Tenorth Bildsamkeit und Behinderung Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee.497 -
Doris
Kaufmann
Kommentar.521
Ausschreibungstext.525 Geförderte Projekte.533
Autorenverzeichnis.535
Vorwort Der
vorliegende
Band versammelt
Ergebnisse
des
Schwerpunktprogramms
„Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit
Aneiner neuen .Geistesgeschichte'", das die DFG von 1997 bis 2003 gefördert hat. Selbstverständlich können die Ergebnisse nicht vollständig, sondern nur exemplarisch repräsentiert werden, nicht einmal in bibliographischer Vollständigkeit, schon weil die Arbeit im Kontext der einzelnen Forschungsvorhaben noch nicht insgesamt abgeschlossen ist. Mit dem vorliegenden Band können wir aber den Ertrag der interdisziplinären Arbeit doch so dokumentieren, dass die geförderten Projekte nicht allein gegenüber der DFG, sondern auch gegenüber der wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Öffentlichkeit Rechenschaft ablegen über die Verwendung der Mittel, die in diese Forschungsarbeit geflossen sind. Schwerpunktprogramme stellen eine Form der Forschungsförderung dar, mit der die DFG zu bearbeitungswürdigen Themen disziplinoffen und interdisziplinär, aber thematisch und problemorientiert fokussiert, zu innovativer Forschungsarbeit einlädt. Es ist ein wettbewerbsorientiertes Verfahren, denn auf einen Programmentwurf hin den wir für dieses Schwerpunktprogramm im Anhang abdrucken haben die interessierten und relevanten Disziplinen und Forscher Gelegenheit, sich mit Projektentwürfen um die Vergabe von Forschungsmitteln zu bewerben. Das Auswahlverfahren wird in einer kollektiven Begutachtung vollzogen, bei der sich alle Antragsteller und die Gutachterkommission begegnen und in direkter Kommunikation die offenen Fragen und Erwartungen, aber auch die Leistungen und Defizite der Anträge zwischen den beteiligten Akteuren öffentlich kommuniziert werden. Gemeinsame Diskussionen über die theoretischen, methodischen, historiographischen und empirischen Probleme der Arbeit sind auch für die Folgezeit charakteristisch: Das hier präsentierte Schwerpunktprogramm hat insofern in drei Tagungen in Erfurt, Rauischholzhausen und Berlin den eigenen Anspruch und die Einlösung und Einlösbarkeit der zu behandelnden Forschungsprobleme intensiv und kontrovers, aber auch produktiv diskutiert. Die Absicht des Programms war es, die in den historischen Disziplinen ins Abseits geratene Ideengeschichte in Deutschland wieder zu beleben, sie in der internationalen Kommunikation anschlussfähig und neu vernehmbar zu machen und dabei vielleicht auch dem spezifisch deutschen Begriff der „Geistesgeschichte" und ihrer Tradition eine historiographisch neue und erneut anerkennungsfähige Gestalt zu geben. Das große Interesse an der Ausschreibung, die Arbeit in den mehr als 30 Projekten und die Publikationen aus den unterschiedlichen Forschungsvorhaben haben die Erwartung bestätigt, dass in den historisch-sozialwissenschaftlichen Disziplinen „Ideen" als sätze
zu
-
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-
10
Vorwort
Thema und Herausforderung der Forschung nicht ignoriert werden können, vor allem dann nicht, wenn die Frage der Wirksamkeit der Ideen ins Zentrum des Interesses gerückt wird. Die hier dokumentierten Ergebnisse der interdisziplinären Anstrengung müssen jetzt für sich selbst sprechen, aber selbstverständlich zeigt auch dieses Forschungsprogramm, dass die Beantwortung großer Fragen nicht zuletzt dadurch produktiv werden kann, dass sie das Spektrum der Probleme bereichert, denen sich die Forschung widmen muss. Die Herausgeber haben sich durch die beteiligten Projekte, die Gutachter und die DFG die Rolle von Sprechern des Schwerpunktprogramms und die Aufgabe zuschreiben lassen, das Ergebnis dieser Arbeit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wir freuen uns, dass wir heute dank der Beteiligung zahlreicher Projekte Berichte und exemplarische Ergebnisse der Forschungsarbeit vorstellen können, in denen die theoretische Ambition und der methodische und historiographische Ertrag des Schwerpunktprogramms vor allem in seinem interdisziplinären Anspruch umfassend sichtbar und in seinen Leistungen, auch von den beteiligten Kommentaren aus, diskutierbar werden kann. So weit nicht schon die einzelnen Beiträge die Hinweise auf weitere Ergebnisse und Publikationen aus den Forschungsprojekten geben, liefern die jeweils projektspezifisch ausgewiesenen bibliographischen Hinweise die Möglichkeit, auch die weitere Arbeit der Projekte zu verfolgen; das Verzeichnis der insgesamt bewilligten Projekte soll noch einmal die Breite der Themen und der beteiligten Disziplinen verdeutlichen. Ohne Unterstützung kann ein solcher Band nicht gelingen. Neben dem Dank an die Autoren, Kommentatoren und an die Gutachter, von denen uns Doris Kaufmann, Christoph Dipper und Dieter Langewiesche bis zur Formulierung von Kommentaren in diesem Band mit ihrer kritischen Unterstützung treu geblieben sind, müssen wir vor allem Kerstin Zumach in Berlin und Julia Schreiner in München für die Erstellung der Druckvorlage und die verlegerische Betreuung erwähnen; ohne ihre geduldige Arbeit hätten wir den Abschluss der Arbeiten, zumal unter dem immer drohenden Zeitdruck, nicht bewältigt. Guido Lammers in der Geschäftsstelle der DFG hat nicht nur das Schwerpunktprogramm vom Ursprung an begleitet und die Projekte über die Phasen der Berichterstattung und neuer Antragstellung hinweg geduldig unterstützt, er hat auch nicht nachgelassen, uns immer neu an die Einlösung des Versprechens zu erinnern, das Schwerpunktprogramm nicht nur in individuellen Forschungsergebnissen in den Annalen der Wissenschaft enden zu lassen, sondern an einem Ort versammelt zu diskutieren. Ihm gilt unser besonderer Dank, stellvertretend auch für die Förderung, die das Schwerpunktprogramm durch die DFG erfahren hat. Lutz Raphael, Trier
Heinz-Elmar Tenorth, Berlin
„Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit": Bemerkungen zur Bilanz eines DFG- Schwerpunktprogramms Lutz Raphael
„Die herkömmliche Ideen- und Geistesgeschichte verfügt gerade in Deutschland über eine lange Tradition, die jedoch seit vielen Jahrzehnten erstarrt ist. Ähnliche methodische und theoretische Innovationen, wie sie andere Bereiche der Geschichtswissenschaft auszeichnen, haben diese alte Teildisziplin
nicht belebt. Es gibt jedoch in der internationalen Geschichtswissenschaft und in benachbarten Wissenschaftsdisziplinen ein breites Spektrum an kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die für eine Erneuerung der überkommenen Ideen- und Geistesgeschichte genutzt werden können. Dies anzustoßen, ist das Hauptziel des Schwerpunktprogramms."1 Diese einleitenden Sätze fassen knapp die wichtigsten Ziele zusammen, die den Initiatoren bei der Einrichtung des Schwerpunktprogramms der DFG „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit Ansätze zu einer neuen ,Geistesgeschichte'" vorschwebten. Über den Zeitraum von sechs Jahren haben insgesamt 31 Projekte in je spezifischer Weise an diesem Ziel mitgearbeitet, Methodik und Konzeption einer neuen Ideen- oder Geistesgeschichte weiterzuentwickeln. Die in diesem Band versammelten Beiträge, deren erste Versionen auf einer gemeinsamen Tagung des Schwerpunktprogramms in Berlin im Mai 2003 vorgetragen und diskutiert wurden, präsentieren so etwas wie eine vorläufige Bilanz dieser gemeinsamen Anstrengungen. Das Programmpapier, aus dem die einleitend zitierten Sätze stammen, formulierte in wünschenswerter Klarheit die Mindestbedingungen und die Leitideen, an denen sich alle Projekte dieses Schwerpunktprogramms orientieren. Dort wurde auch die Forderung des bekannten britischen Kulturhistorikers Peter Burke zitiert: „Die ruinöse Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, die die Gesellschaft ausklammert, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert", muss überwunden werden. „Ideen" sind in diesem Schwerpunktprogramm als „Deutungssysteme und Denkstile" gefasst worden, wurden als Teil von „Verbreitungs- und Kommunikationsprozessen" verstanden und in „Wissens- und Wissenschaftsordnungen" gesucht. Damit sind sehr abstrakt drei große Forschungsfelder formuliert worden, denen sich die beteiligten Projekte mit unterschiedlicher Ausschließlichkeit zuordnen lassen. Diese analytische Dreiteilung eines komplexen Wirkungszusammenhangs zwischen Ideen und Gesellschaft erlaubte es den beteiligten Gutachtern, geeignete -
1 Der vollständige Ausschreibungstext für das DFG-Schwerpunktprogramm Anhang, siehe S. 533f.
findet sich im
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Lutz Raphael
Projekte zu identifizieren und zu evaluieren. Diese Dreiteilung war aber kaum geeignet, die Projekte selbst trennscharf zu gruppieren. Dementsprechend ordnet der vorliegende Band die unterschiedlichen Beiträge in viel stärkerem Maße nach Sachgesichtspunkten.
„Intellectual History" „Neue Ideengeschichte" in den „Kulturwissenschaften": der wissenschaftliche Kontext
1.
-
Mit den Stichworten „Denkstile", „Verbreitungs- und Kommunikationsprozesse" und drittens „Wissens- oder Wissenschaftsordnungen" sind bereits drei Schlüsselwörter bzw. Leitthemen der neueren Ansätze der Ideen bzw. Geistesgeschichte benannt. Explizit forderte das Schwerpunktprogramm die Projekte auf, „eine Verbindung her(zu)stellen zwischen der Analyse der Konstitution und Konzeption von Ideen einerseits und ihrer Wirkungsmächtigkeit in gesellschaftlichen Prozessen andererseits". Mit diesem programmatischen Ziel setzt sich das Schwerpunktprogramm eindeutig von älteren Formen der Ideengeschichte ab. Ganz im Sinne der plakativen Forderung Peter Burkes standen und stehen die hier versammelten Beiträge unter der Verpflichtung, die komplexe Wechselwirkung zwischen sozialen Situationen, materiellen Bedingungen, lebensweltlichen Konstellationen einerseits und generalisierungsfähigen und generalisierten Gedankensystemen, Diskursen oder Denk-
gebäuden nachzuspüren. Die Projekte des Schwerpunktprogramms sind eingebettet in eine sehr dynamisch sich entwickelnde ideengeschichtliche Wissenschaftslandschaft. Deren Konturen sind gerade während der Laufzeit des Schwerpunktprogramms immer deutlicher geworden. In kurzer Zeit sind erste Bilanzen und Übersichten vorgelegt worden, welche die theoretischen und methodischen Orientierungspunkte des neuen Forschungsfeldes zu umreißen versuchen.2 Die Standortbestimmungen konvergieren in hohem Maße. Sie unterstreichen zum einen die Erbschaften der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschungen seit den 70er Jahren. Die Ideengeschichte neuer Prägung hat sich insgesamt zum Bereich des „Sozialen" hin geöffnet, die „Kontexte" der von 2
Lottes, Günther: „The State of the Art". Stand und Perspektiven der „intellectual history", in: Kröll, Frank-Lothar (Hrsg.): Neue Wege der Ideengeschichte. FS für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 27-46; der Abschnitt: „Neue Ideengeschichte" in: Eibach, ¡oachim/Lottes, Günther (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft: ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 261-328, mit Beiträgen von Günther Lottes: Neue Ideengeschichte, S. 261-269, Luise Schorn-Schütte: Neue Geistesgeschichte, S. 270-280, Raingard Eßer. Historische Semantik, S. 281-292, Iain Hampsher-Monk: Neuere angloamerikanische Ideengeschichte, S. 293-306, Robert Jütte: Diskursanalyse in Frankreich, S. 307-317 sowie der Abschnitt „Begriffsgeschichte/Diskursgeschichte" in: Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/M. 2001, S. 345-379.
„Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit"
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ihr untersuchten Texte und Bilder sind vielfältiger geworden, die Suche nach ihnen führt die Ideenhistoriker weit hinaus in ganz unterschiedliche Lebenswelten, institutionelle Rahmenbedingungen von „Autoren", „Empfängern" und „Texten". Den sozio-ökonomischen, aber viel stärker noch den soziokulturellen Einbettungen von „Ideen", ihrer Verdichtung zu „Denkstilen" und ihre alltägliche Verknüpfung mit Handlungsroutinen oder Objekten zu „Ordnungssystemen" gilt auch nach dem Ende des sozialgeschichtlichen Booms nach wie vor das Interesse von „neuen" Ideenhistorikern. Zweitens hat sich die Quellenbasis der Ideengeschichte erweitert. Der tradierte Kanon relevanter Dokumente für Arbeitsfelder wie die politische Ideengeschichte oder die Geschichte wissenschaftlicher Disziplinen ist aufgelöst worden, bei der Auswahl einschlägiger Quellen gilt die besondere Aufmerksamkeit den früher vernachlässigten Gattungen, Texten und Autoren, den Durchschnittsprodukten und den zeitgenössisch erfolgreichen, aber vielfach wieder in Vergessenheit geratenen Beiträgen. Drittens haben sich einige methodisch-konzeptionelle Vorbilder etabliert, auf die sich die neueren Forschungen über Fächergrenzen hinweg immer wieder beziehen. Darunter haben drei Ansätze gewissermaßen den Status neuer „Klassiker" erreicht und werden in fast allen Übersichten und Einführungen ausführlich dargestellt: die begriffsgeschichtlichen Ansätze, wie sie von Reinhart Koselleck und Rolf Reichardt in den beiden großen Lexikonwerken der Geschichtlichen Grundbegriffe3 und der politisch-sozialen Grundbegriffe in Frankreich 1680-18204 theoretisch entwickelt und praktisch umgesetzt worden sind.5 Der Ansatz der Begriffsgeschichte oder der historischen Semantik hat das Bewusstsein der neueren Ideengeschichte für die komplizierte Dreiecksbeziehung zwischen realhistorischem Wandel, den Erfahrungen der historischen Akteure in diesem Wandel und der sprachlichen Fixierung beider in den zeitgenössischen politisch-sozialen Schlüsselwörtern oder Sprachen geschärft. Noch breiter über die Fächergrenzen hinweg wird schließlich der diskursanalytische Ansatz Michel Foucaults als ein neuer klassischer Theoriebezug für die Ideengeschichte rezipiert. Der späte Siegeszug des Foucaultschen Diskursbegriffs in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften mag nach wie vor skeptisch betrachtet werden, zumal Foucaults Konzepte und Texte 3
Brunner, Otto/Conze, Wemer/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart
Historisches Lexikon 1972-1991.
4
Reichardt, RoWSchmitt, Eberhard (Hrsg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, München 1985ff. 5 Vgl. mit Hinweisen auf die umfangreiche Literatur zu diesen Ansätzen: Lottes: State, S. 32-35; Daniel: Kompendium, S. 345-352 sowie Lehmann, Uartinut/Richter, Melvin (Hrsg.): The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte, Washington 1996.
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Lutz
Raphael
deutungsoffen und situativ variabel formuliert worden sind.6 Aber sein radikaler Bruch mit gängigen Kontinuitätsannahmen in der Wissenschaftsgeschichte und sein Blick für das Geflecht von institutionell gestützten Praktiken und ebenfalls institutionell fixierten Sprachgewohnheiten bzw. Wissensordnungen haben breite Aufnahme auch über die Grenzen strikter Anhänger einer Diskursanalyse gefunden, ohne das bereits in jedem Fall deutlich unterschieden werden könnte zwischen Mode und Aneignung.
Der dritte Ansatz ist vielleicht noch stärker als die beiden erstgenannten allem prominent in Einführungen und Vorworten, deutlich seltener hingegen in neueren Forschungen zu beobachten: Der Ansatz der Cambridge School, die politischen Ideen der Frühen Neuzeit radikal zu kontextualisieren und als Sprechakte und Aktualisierungen unterschiedlicher Diskurse oder languages zu rekonstruieren, ist mit erheblicher Verzögerung von einer breiteren Zahl deutschsprachiger Idenhistoriker rezipiert worden. Neben diesen quasi schon „klassisch" gewordenen Theoriereferenzen sind jedoch noch zwei weitere Bezugspunkte zu nennen, die der deutschsprachigen Tradition der Ideengeschichte entstammen. Zum einen ist der wissenssoziologische Ansatz zu nennen. Neben Karl Mannheim ist insbesondere Ludwik Fleck wieder präsent, dessen Überlegungen und Begriffsvorschläge vor
Kontextualisierung wissenschaftlicher Ideenentwicklungen („Denkstil", „Denkkollektiv", „aktive" „passive Koppelungen") sich immer größerer Beliebtheit und wachsender Verbreitung erfreuen.7 Wissenssoziologische Leitideen und Begriffe dienen jedenfalls vielfach als Orientierungshilfen, wenn es darum geht, die immer schwierige Verbindung zwischen Sozialem und Symbolischem herzustellen. zur
Ein auch nur oberflächlicher Blick in die ideengeschichtliche Produktion im deutschsprachigen Wissenschaftsraum seit Mitte der 80er Jahre lässt jedoch erkennen, dass der Weg von den neuen klassischen Referenzwerken zur eigenen Praxis sehr lang und gewunden sein kann, zuweilen gar nicht vorhanden ist bzw. die ausgeschilderten Wege praktisch gar nicht betreten werden. Hier ist nicht der Ort für eine eingehendere vergleichende Analyse der tatsächlich angewandten Methoden und leitenden Konzepte auf den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der deutschsprachigen Ideengeschichte. Festzuhalten ist, dass die Forschungspraxis breit streut und keineswegs die neuen Methoden und Konzepte dominieren. Eher durch die Hintertür und ohne größeres Aufsehen haben gerade auch die älteren Routinen biographischer 6
Diaz-Bone, Rainer: Entwicklungen im Feld der Foucaultschen Diskursanalyse, in: Historical Social Research 28 (2003), Nr. 4, S. 60-102; Keller, Reiner: Diskursforschung. Eine Einführung für Sozialwissenschafterlnnen, Opladen 2003; Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren: Einfiihrung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001. 7 Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt/M. 1980 (1935); Mannheim, Karl: Wissenssoziologie, hrsg. v. Kurt H. Wolff, Neuwied/Berlin 1965.
„Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit"
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kontinuitätszentrierter Untersuchungen zu den UrsprünDiffusion politischer oder wissenschaftlicher Leitideen wieder große Verbreitung gefunden. Die eingangs vorgestellten Präzisierungen und Zuspitzungen des Schwerpunktprogramms sind auch als Korrektur der bereits Mitte der 90er Jahre erkennbaren Diskrepanz zwischen theoretischen Innovationsansprüchen und eher konventionellen Praktiken in der deutschsprachigen Intellectual History zu interpretieren. Der Leser mag entscheiden, wie weit es den Beiträgen gelingt, auch diesen Teil des Forschungsprogramms einzulösen. In dem insgesamt rasch expandierenden Feld ideengeschichtlicher Forschungen zur Neuzeit lassen sich in den letzten 15 Jahren einige markante Schwerpunkte beobachten. Gerade weil die hier versammelten Beiträge keinen repräsentativen Ausschnitt dieser Gesamtproduktion bieten, sei an dieser Stelle wenigstens auf einige Haupttrends hingewiesen. Zweifellos bildet die Wissenschaftsgeschichte das wichtigste, sich am raschesten entwickelnde Teilfeld der neuen Ideengeschichte. Während die traditionelle, streng fachzentrierte Geschichte der einzelnen Disziplinen nur am Rande in die gerade skizzierten Kontroversen und Neuansätze einer „allgemeinen" Ideen- oder Kulturgeschichte eingebunden war und großenteils auch noch ist man denke nur an einschlägige Beiträge zur Medizin-, Rechts- oder Physikgeschichte hat sich eine ganz neue Strömung etabliert, welche auch die Wissensordnungen der Wissenschaften in den breiteren Kontext kultureller, politischer und gesellschaftlicher Ideen, Institutionen und Praktiken stellt. Dies gilt sowohl für Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften wie der Geistes- und Sozialwissenschaften.8 Die deutschsprachige Wissenschaftsgeschichte ist mit großem Erfolg dabei, den Anschluss an die internationale Forschung zu gewinnen. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass viele der Neuansätze, die sich bereits im hier dokumentierten Schwerpunktprogramm der DFG niedergeschlagen haben, inzwischen ihre Fortsetzung gefunden haben in dem bereits 2003 eingerichteten Schwerpunktprogramm „Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und 20. Jahrhundert". Einige Themenschwerpunkte in diesem weiten Feld lassen sich trotz aller Ausdifferenzierung der Spezialforschung erkennen. Die meisten Kulturwissenschaften erlebten in den letzten Jahren einen Trend zur selbstreflexi-
Werkinterpretation, gen oder
zur
-
-
ven
8
Historisierung der eigenen Disziplin.
Ganz
auffällig und besonders
stark
Vom Bruch, RüdigerlKaderas, Brigitte (Hrsg.): Wissenschaft und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002. Hinweise und Überblicke über die neuere Forschungsliteratur bieten: Szöllösi-Janze, Margit: Wissenschaftsgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 30 (2004), S. 277-313.
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Lutz
Raphael
ist dieser Trend im Fach Geschichte. Dort hat die Geschichte der Geschichtswissenschaft einen regelrechten Boom erlebt. Deutlich sind dabei die Diskontinuitäten gegenüber der älteren Forschung, aber auch gegenüber den traditionskritischen Zugängen der 70er Jahre. Zu nennen ist insbesondere der Versuch, für die gesamte Neuzeit eine international vergleichend angelegte Problemgeschichte der Genese und Entwicklungstrends zu entwerfen.9 Das Hauptaugenmerk der Forschung galt aber weiterhin der kritischen Aufarbeitung der Fachentwicklung während der NS-Diktatur.10 Dieses Interesse an den intellektuellen Verwicklungen der deutschen Wissenschaften in die Verbrechen des Nationalsozialismus war auch in allen anderen Disziplinen der wichtigste Impuls für den Aufschwung der' Wissenschaftsgeschichte. Ansätze, wie sie zuerst bzw. im 20. Jahrhundert1 im Umfeld der Medizingeschichte mit Blick auf Rassenhygiene, Zwangssterilisation und „Eufhanasie"morde entwickelt worden sind, haben inzwischen auch in zahlreichen anderen Sektoren der Wissenschaftsgeschichte der Zwischenkriegszeit Anwendung gefunden. Vor allem die beiden Forschungsverbünde zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Institute und zur Geschichte der DFG haben dann jüngst diese Forschungsinitiativen gebündelt.12 Für den Bereich der Geisteswissenschaften haben Tagungen des MPI für Geschichte in Göttingen und am Historischen Kolleg in München ähnliche Wirkungen gezeigt.13 Gewissermaßen an der Nahtstelle beider Forschungsfelder sind die Studien anzusiedeln, welche sich mit Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 beschäftigen. Dieses Forschungsfeld profitierte zum einen von den Interessen an einer kritischen 9
Küttler, Wolfgang//?üse«, ¡öm/Schulin, Ernst: Geschichtsdiskurs, 5 Bde., Frankfurt/M.
1993-1999. 10
Schattier, Peter (Hrsg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. 19181945, Frankfurt/M. 1997; Schulze, Wnfried/Oexle, Otto Gerhard (Hrsg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1999. '' Cornelißen, Christoph: Gerhard Ritter, Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Oexle, Otto Gerhard: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996; Berg, Nicolas:
Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003; Etzemüller, Thomas: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001. 12 Aus der Fülle der Literatur seien hier nur die wichtigsten Aufsatzbände genannt, die meist im Zusammenhang internationaler Tagungen entstanden sind: Meinet, Christoph/ Voswinckel, Peter (Hrsg.): Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 1994; Renneberg, Monika/Walker, Mark (Hrsg.): Science, Technology, and National Socialism, Cambridge 1994; Kaufmann, Doris (Hrsg.): Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, 2 Bde., Göttingen 2000; Szöllösi-Janze, Margit Science in the Third Reich, Oxford 2001. (Hrsg.): 3 Raphael, Lutz: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaften im NS-Regime, in: GG 27 (2001), S. 540; Lehmann, Hartmut (Hrsg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Göttingen 2004; Hausmann, Frank-Rutger (Hrsg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945, München 2002.
„Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit"
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Kontextualisierung der Gründungsphase der modernen Sozialwissenschaften, gleichzeitig aber auch von einer starken Strömung, die eine Reformulierung gegenwärtiger kulturwissenschaftlicher Perspektiven durch eine kritische Rekonstruktion der „klassischen" Debatten in der Aufbruchs- und Gründungsphase der modernen Wissenschaften zwischen 1880 und 1920 anstreb-
te.14
Ein vierter übergreifender Themenschwerpunkt der letzten 15 Jahre bildete die Geschichte politischer Ideen bzw. Strömungen. Nachdem im Zeichen einer politischen Sozialgeschichte die ideengeschichtliche Behandlung politischer Argumente eher marginal geworden war, haben die begriffs- und diskursgeschichtlichen Impulse auf diesem Feld ihren vielleicht unmittelbarsten Niederschlag gefunden.15 Für das 19. Jahrhundert sind Studien zum Liberalismus und Konservatismus zu nennen. Im 20. Jahrhundert werden vor allem die politischen Ideenkonglomerate der totalitären Weltanschauungen in einem schärfer analysierten Spannungsfeld von Utopie und Wissenschaft sowie die Transformation politisch-sozialer Ordnungsmuster im Zeichen des West-
Ost-Gegensatzes untersucht.16 Während so für den Untersuchungszeitraum ab 1750 vielfältige Indikatoren für eine Wiederaufnahme ideengeschichtlicher Forschungen vorliegen, bietet die Forschungslandschaft zur Frühen Neuzeit ein widersprüchliches Bild. Eine „Neue Ideengeschichte" ist eher randständig geblieben gegenüber Ansätzen, die sich an den Konzepten einer „Neuen Kulturgeschichte" orientieren, also die Traditionen der Historischen Anthropologie bzw. der Geschlechtergeschichte weiterführen. Die Übergänge zu ideengeschichtlichen Ansätzen sind fließend, aber anders als im Fall der gerade genannten Forschungsfelder wird in diesen Studien „Ideen", „Leitbegriffen" oder „Diskursen" eher geringere eigenständige Wirkungskraft zugeschrieben bzw. richtet
14
muss der Hinweis auf einige Werke eine systematische Bibliographie erHübinger, Gangolf/vo/n Bruch, Rüdiger/Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, 2 Bde., Stuttgart 1989, 1997; Hübinger, Gangolf: Kulturprotestantismus und Politik, Tübingen 1994; ders. (Hrsg.): Intellektuelle im Deut-
Auch hier
setzen:
schen Kaiserreich, Frankfurt/M. 1993. 15 Leonhard, Jörn: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines
europäischen Deutungs-
musters, München 2001; Steinmetz, Willibald: Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780-1867, Stuttgart 1993. 16 Für beide Jahrhunderte ist die breit und interdisziplinär angelegte Ideen- und Kulturgeschichte des modernen Nationalismus ein ausgesprochen dynamisches Forschungsfeld; vgl. hierzu die Forschungsberichte mit der neueren internationalen Literatur bei Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur (NPL) 40 (1995), S. 190-236; ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter Versuch einer Bilanz, in: ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in der deutschen und europäischen Geschichte, München 2000, S. 14-34. -
18
Lutz
sich die Aufmerksamkeit der
Raphael
Forschung
eher auf die Prozesse der sozialen und Aneignung.17 Vermittlung („Kommunikation") Abschließend ist auf die institutionellen und diskursiven Verschiebungen hinzuweisen, welche das Umfeld ideengeschichtlicher Forschungen in der Bundesrepublik in den letzten 15 Jahren verändert haben. Der Terminus „Kulturwissenschaften" hat sich als erweiterter Bezugshorizont für die interdisziplinäre Zusammenarbeit jenseits der fachspezifischen Dispute etabliert. Einführungen und Handbücher sind inzwischen erschienen, die das weite Feld neu vermessen und damit auch auf die Anforderungen reagieren, welche ein solches Integrationskonzept für die universitäre Lehre darstellt.18 Dabei ist die institutionelle Stellung dieses Konstrukts, die Etablierung entsprechender Studiengänge für diese übergreifende Forschungsperspektive nach wie vor offen. Forschungsinitiativen wie das hier dokumentierte Schwerpunktprogramm werden mit darüber entscheiden, ob sich gemeinsame Leitfragen, aber auch methodische Mindeststandards etablieren, ohne welche das wissenschaftspolitische Projekt der „Kulturwissenschaften" wohl kaum überlebensfähig sein wird.
2. Thematische und zeitliche
Schwerpunkte des Programms
Dass
genügend kulturwissenschaftliche Gemeinsamkeiten vorhanden sind, zeigt der Blick auf die am Schwerpunktprogramm beteiligten Fächer. Neben dem Fach Geschichte, das mit 16 Projekten mehr als die Hälfte aller Projekte stellte, waren folgende Fächer präsent: Politikwissenschaft und Rechtsgeschichte (je drei Projekte), Theologie, Soziologie und Germanistik (je zwei Projekte) sowie Erziehungswissenschaft, Verwaltungs- und Musikwissenschaft (je ein Projekt). Chronologischer Rahmen dieses interdisziplinären Schwerpunktprogramms war die „Neuzeit", d.h. der Zeitraum der letzten 500 Jahre. Mit dieser konventionellen Chronologie vermied das Programm zeitlich engere Festlegungen, wie sie mit Konzepten der Frühen Neuzeit, der Sattelzeit oder der Zeitgeschichte verbunden sind und welche gerade für solche ideengeschichtlichen Forschungen, die sich für Phänomene langer Dauer interessieren, fatal geworden wären. Wie verteilten sich nun die geförderten Projekte entlang der Zeitachse?19 Sieben 17
Projekte beschäftigten
sich mit
Phänomenen, die zwischen 1500 und
Zur Neuen Kulturgeschichte vgl. die Beiträge von Martin Dinges, Roger Chartier, Susanna Burghartz, Rolf Reichardt und Rebekka Habermas in: EibachlLottes (Hrsg.): S. 179-260. Kompass, 18 List, Elisabeth (Hrsg.): Grundlagen der Kulturwissenschaften, Tübingen 2004; Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, 3 Bde., Stuttgart 2004. 19 Die Zuordnung der einzelnen Projekte zu Epochen bzw. Zeitabschnitten erfolgte auf der Grundlage der Projekttitel bzw. der Projektpublikationen, siehe Liste im Anhang.
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„Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit"
1800 zu beobachten waren bzw. deren Anfange in den Projekten bis in diesen Zeitraum zurückverfolgt worden sind. Gerade bei diesen Projekten dominieren Studien (fünf), welche sich für Entwicklungen langer Dauer (100 Jahre und mehr) interessieren. Explizit wird dabei von mehreren Projekten die Epochenschwelle der Aufklärung bzw. der Sattelzeit überschritten und Zeiträume wie zum Beispiel zwischen 1688-1900, 1750-1939, 16.-19. Jahrhundert in den Blick genommen. 16 Projekte (von 31) beschäftigen sich mit Phänomenen eines ideengeschichtlich langen 19. Jahrhunderts, das für Deutschland vielfach (sieben Projekte) über das Kaiserreich bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts weiter verfolgt wird. Die in der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts so markante Zäsur des Ersten Weltkriegs ist in diesem wirkungsgeschichtlich angelegten Schwerpunkt also bewusst überschritten worden, um Ideenkonstellationen beginnend im wilhelminischen Kaiserreich zu analysieren. Ideengeschichtlich erscheint der Zeitraum 1880-1945 (mit seinen Nachwirkungen bis 1960) im Spiegelbild der hier geleisteten Forschungsarbeit für den deutschsprachigen Raum vielfach als eine zusammenhängende Epoche. So kann es nicht überraschen, dass nur ein Projekt ausschließlich der NS-Zeit zugerechnet werden kann, aber ebenfalls zeitlich weiter ausgreift.20 Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass diese Akzentuierung in keiner Weise repräsentativ für die Schwerpunktbildungen der neueren Idengeschichte insgesamt ist. Hier bildet die Ideen- und Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus ein besonders starkes und nach wie vor boomendes Forschungscluster. Der Ideengeschichte der Bundesrepublik und ihrer Vorgeschichte in der Zwischenkriegszeit waren vier Studien gewidmet. Die daran beteiligten beiden zeitgeschichtlichen Projekte überschreiten dabei implizit oder explizit wiederum die politische Zäsur des Jahres 1945. Aufschlussreich für die Forschungsstrategien und Leitfragen einer neuen Geistesgeschichte ist schließlich auch noch die Dauer des Untersuchungszeitraums, den die Projekte gewählt haben. Für die ältere Ideengeschichte war das komplementäre Interesse an den großen, langfristigen Entwicklungslinien, also den Phänomenen der Traditionsbildung und der „Klassiker", und an den Detailstudien großer Werke und großer Denker typisch. Lange Dauer und Ideen als Ereignisse markierten also in schematischer Vereinfachung die beiden dominanten Pole. Im Schwerpunktprogramm lässt sich dagegen eine deutliche Verschiebung zugunsten einer „mittleren" Zeitspanne von 10 bis 50 Jahren beobachten. Das entspricht zunächst einmal der Aufgabenstellung einer Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte, wie es das Programm -
20
Vgl. in diesem Band: schichte einer Idee.
zur
-
Nieden, Susanne: Der homosexuelle Staatsfeind
Zur Ge-
Lutz Raphael
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formuliert hatte. 13 Projekte wählten eine solche Beobachtungsperspektive, sechs erweiterten den Blick auf Zeiträume zwischen 70 und 100 Jahren, fünf Projekte untersuchten ideelle Phänomene über mehrere Jahrhunderte hinweg. Die Wahl der jeweiligen Untersuchungszeiträume ist in sehr starkem Maße der Tatsache geschuldet, dass den institutionellen Rahmenbedingungen der jeweils untersuchten Ideenkonstellationen Rechnung getragen werden sollte. Das Interesse für die „mittleren" Zeitspannen entspricht nicht allein pragmatischen Überlegungen der Durchführbarkeit von Forschungsvorhaben, sondern kann auch als Indiz für ein zentrales Charakteristikum des Schwerpunktprogramms insgesamt gelten: die gewachsene Aufmerksamkeit/Sensibilität für die institutionelle Kontextualisierung von Diskursen bzw. Ideen.21 Welche thematischen Schwerpunkte lassen sich erkennen? Hier ergibt sich ein überraschend klares Bild: die 31 Projekte können bei allen Schwierigkeiten der Zuordnung im Einzelnen eindeutig vier großen Schwerpunkten zugeordnet werden: 14 Projekte beschäftigen sich mit politischen Ideen, davon allein sieben mit der Idee der Nation.22 Den zweiten Schwerpunkt bilden Studien, die wissenschaftliche Ideen im Kontext von Politik, Sozialphilosophie oder spezifischen Anwendungsfeldern untersuchen (zehn Projekte)23, ein Sonderbereich bildet hier die Beschäftigung mit Rechtsideen zwischen Wissenschaft und Politik (vier Projekte)24 bzw. für die Frühe Neuzeit die Thematisierung
21
Siehe die Beiträge von Theo Stammen/Susanne Schuster: Wie lässt sich Gemeinsinn institutionalisieren? Politisch-theoretische Positionen des Common Sense Diskurses von John Locke zu Edmund Burke; Andreas HoeschenlLothar Schneider: Herbartianismus im 19. Jahrhundert; Heinz-Elmar Tenorth: Bildsamkeit und Behinderung Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee; Ruth RosenbergerfLutz Raphael/ioharmes Platz: Psychologische Eignungsdiagnostik in westdeutschen Großunternehmen: Wirkung von Ideen als Neufiguration wissenschaftlicher Konzepte in professionellen Verwendungsfeldern. 22 Siehe die Beiträge von Moritz Föllmer/Andrea Meissner: Ideen als Weichensteller? Polyvalenz, Aneignung und Homogenitätsstreben im deutschen Nationalismus 1890-1913; Frank Becker: Auf dem Weg zu einer „Kulturgeschichte der Ideen"? Deutung der Einigungskriege und bürgerlicher Militarismus im Deutschen Kaiserreich; Dagmar Günther. Der Ort des Nationalen in der autobiographischen Selbstthematisierung deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs eine Bilanz; Gangolf HübingerlHe\en Müller: Ideenzirkulation und Buchmarkt. Am Beispiel der konfessionellen und politischen Sortimentsbuchim Kaiserreich und den Kommentar von Dieter Langewiesche in diesem Band. handlungen 23 Siehe die Beiträge von HoeschenISchneider: Herbartianismus; Tenorth: Bildsamkeit und Behinderung; RosenbergerlRaphael!Platz, Psychologische Eignungsdiagnostik sowie den Kommentar von Doris Kaufmann. 24 Siehe die Beiträge von Diethelm KlippellWiarúna Henze/SyWia Kesper-Biermann: Ideen und Recht. Die Umsetzung strafrechtlicher Ordnungsvorstellungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts; Maren Hoffmeister. Deskriptionen und Erektionen. Projektion auf den Körper des Mörders; Michael Stolleis: Zur Ideengeschichte des Völkerrechts 1870-1939. -
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„Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit"
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der política Christiana.25 Deutlich schwächer besetzt sind die beiden Themenbereiche Religion (drei Projekte) und soziale Ordnungsmuster (fünf Projekte).26 Auffällig ist die geringe Präsenz des wirtschaftlichen Bereichs. Nur zwei Projekte lassen sich diesem Feld zuordnen. Nach wie vor sind in der deutschsprachigen Forschungslandschaft die Wege lang, die von der Wirtschaftsgeschichte zur Ideengeschichte und zurückführen. Auffällig ist die große Aufmerksamkeit, welche die meisten der hier versammelten Studien den institutionellen Rahmungen von Diskursen, Ideen oder Schlüsselwörtern schenken: deren Zirkulation bzw. Umformung im Kontext von Buchhandel, Professionen, wissenschaftliche Disziplinen oder politischen Institutionen wird immer wieder analysiert. Die Einsicht in die Relevanz institutioneller Ordnungen oder sozialer Rahmungen für die Ausgestaltung von Wissensproduktion oder die Weitergabe von Ordnungsvorstellungen eint zahlreiche Beiträge in diesem Band. Er bietet somit ein reiches Anschauungsmaterial für die Wege einer institutionenorientierten
Ideengeschichte. Eine letzte Beobachtung gilt der geographischen Verteilung der Themen. Die große Mehrheit der Projekte beschäftigte sich mit Ideen des deutschen (bzw. frühneuzeitlich auch noch lateinischen) Sprachraums: nur vier Projekte (davon drei zur englischen Ideengeschichte) behandelten Phänomene, die nicht in den ideengeschichtlichen Kontext der (groß)deutschen Geschichte hineingehören. Ganz ähnlich wie im früheren Fall der Sozialgeschichte scheint auch der Neuanfang auf dem Feld der Ideengeschichte zunächst einmal bei den nächstliegenden, best zugänglichen, sprachlich auch adäquat zu bearbeitenden Quellen zu beginnen. Ein Blick in die Beiträge zeigt aber, dass sich daraus nicht zwangsläufig eine Nationalzentrierung im Sinne der Engführung von Fragestellungen und der Ausblendung von grenzüberschreitenden Transferprozessen und gesamteuropäischen Phänomenen ergibt. Europäische bzw. internationale Kontexte werden in der Regel sorgfältig registriert und ihre Auswirkungen auf den eigenen Untersuchungsgegenstand immer wieder diskutiert. Hier seien exemplarisch nur drei größere übergreifende, vergleichende bzw. transfergeschichtlich angelegte Forschungsfelder genannt, in denen die Projekte des Schwerpunktprogramms sich selbst verortet haben:
25
Matthias Weiß: „weltliche hendel werden geistlich." Zur política Christiana des 16. Jahrhunderts; Luise Schorn-Schütte: Kommunikation über Herrschaft: Obrigkeitskritik im 16.Jahrhundert. Zur Nieden: Staatsfeind.
26
22 -
Lutz Raphael
Forschungen
zur
Kultur- und
Ideengeschichte
des modernen Nationalis-
mus, -
Forschungen
zur
20. Jahrhundert, -
Verwestlichung
Forschungen
zu
neuzeitlichen
Europa. 3.
den
bzw.
Amerikanisierung Europas
grenzüberschreitenden
im
Politikdiskursen im früh-
Forschungsansätze und Methoden
Welche Methoden werden von einer neuen Ideen- oder Geistesgeschichte Welche theoretischen Leitorientierungen lassen sich erkennen? Für das im Programm geforderte aufmerksame Hin und Her zwischen Ideen und Gesellschaft, vorgegebener sozialer, politischer Realität und den vielfältigen symbolischen Ordnungsentwürfen mussten und müssen die einzelnen Projekte ihre jeweils spezifische Methodik entwickeln. Von einem Königsweg, gar einer fest gefügten Brücke zwischen Ideen- und Sozialgeschichte kann auch in dieser Bilanz nicht gesprochen werden. Nur eine kleine Minderheit der Beiträge folgt stringent den Vorgaben eines einzigen Forschungsansatzes, verwendet strikt dessen Methoden und Konzepte. Hoffmeister, Ottow und Lange liefern Beispiele dafür, wie man erfolgreich Foucaults Diskursanalyse, den Ansatz der Cambridge School bzw. der sozialwissenschaftlichen Diffusionstheorie in Verbindung mit der Methode der quantifizierenden Inhaltsanalyse für ein spezifisches Untersuchungsgebiet in diesem Fall die Konstruktion des Lustmordes in der Kriminologie und im Strafrecht, die Felder der politischen Sprachen im vorrevolutionären England und die mediale Karriere neoliberaler Ideen zwischen 1970 und 1982 nutzen kann.27 Der Beitrag von Stammen!Schuster schließlich kann als klassischer Beitrag zur Begriffsgeschichte der Sattelzeit gelesen werden, wenn er die Artikulation des Leitbegriffs „common sense" in klassischen Texten der englischen politischen Theorie und des britischen Parlaments im 18. Jahrhundert untersucht.28 Die meisten anderen Projektbeiträge kombinieren unterschiedliche Ansätze, eine dritte Gruppe von Aufsätzen schließlich entwirft eigene Vorschläge, diskutiert kritisch die Implikationen der dominierenden Form der Ideen-
bevorzugt?
-
-
27
Siehe die Beiträge Hoffmeister: Deskriptionen; Raimund Ottow: Die .CambridgeSchool' und die Interaktion politischer Diskurse in England von der Zeit Elizabeth I. bis zur Revolution; Thorsten Lange: Die Bedeutung der Neuen Vertragstheorie fur die Neoliberale Wende. 28 Stammen!Schuster. Gemeinsinn.
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23
geschichte seit Pocock und Skinner29 oder stellt eigene Modelle bereit. Frank Becker z.B. expliziert in seinem Aufsatz, was auch in den meisten anderen Beiträgen zu beobachten ist, aber nur am Rande, sieht man wiederum von Hellmuth/Schmidt ab, oder gar nicht thematisiert wird: Eine Festlegung auf einen Ansatz wäre der eigenen Fragestellung und den Spezifika des Untersuchungsmaterials nicht gerecht geworden, die Kombination verschiedener Ansätze erweitert den Horizont der eigenen Forschungen.30 Unübersehbar ist ein weiterer Befund: die meisten Beiträge nutzen weiter klassische ideengeschichtliche Auswertungsverfahren wie z.B. die Inhaltsanalyse, um in kontrollierter Form die Verbreitung von Argumenten bzw. die spezifische Zusammensetzung
erkennen und darstellen zu können. Noch viel häufiger jedoch nutzen die Beiträge die Chance jenseits aller Quantifizierung, ausgewählte Texte genau zu lesen und zu interpretieren. Die Hermeneutik ist nach wie vor das wichtigste Verfahren ideengeschichtlicher von
Semantiken
zu
Forschung.
Auch ein Blick auf die Leitbegriffe der Aufsätze veranschaulicht, in welchem Maß die „neue Geistesgeschichte" eklektizistisch sich der Konzepte und Begriffe unterschiedlichster Provenienz bedient. Es zirkuliert eine Vielzahl von Schlüssel- oder auch Schlagwörtern, während die Zahl präziser Begriffe eher klein ist. Nach wie vor dient das Wort „Idee" vor allem ergänzt durch weitere Spezifizierungen dazu, ein mehr oder weniger stabiles Ensemble von sprachlich oder bildlich artikulierten Argumenten und Vorstellungen zu bezeichnen. So ist von „konservativen Ideen", „zentralen Ideen", der „Idee des common sense" oder „der Nation" die Rede. Explizit wird damit häufig auch die Vorstellung einer spezifischen Gestaltungskraft evoziert bzw. thematisiert. Breiter und unspezifischer ist der Gebrauch des Wortes „Diskurs" ohne diesen Neologismus kommt, wenn ich richtig beobachtet habe, keiner der hier versammelten Aufsätze mehr aus. Eine Verbindung zu einer expliziten Diskurstheorie findet sich wie bereits erwähnt nur in wenigen Fällen. Seltener, aber immer noch recht populär ist das Wort „Ordnung", das in Verbindungen wie „Ordnungssysteme", „Ordnungsvorstellungen" oder „Ordnungsideen" wohl hauptsächlich dazu dient, die Funktion von Wörtern, Argumenten und Vorstellungen bei der Genese und Reproduktion von sozial wirksamen, politisch und rechtlich relevanten Klassifikationsschemata kenntlich zu machen. Entsprechend vielfältig sind also die Mixturen der Methoden und Theorien, die in den einzelnen Beiträgen zu finden sind. Hier wird der Spezialist -
29
Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt: „The Last Real Discussion of Fundamentals". Zum Problem hybrider Sprachen im politischen Diskurs in Großbritannien um 1800. 30 Becker. Weg.
24
Lutz Raphael
im Einzelnen prüfen, ob die gewählten Lösungen neue Perspektiven eröffnen und Erkenntniszuwächse ermöglichen. Typisch erscheint also die Kombination von Methoden, um Einseitigkeiten und Erkenntnisgrenzen zu minimieren. Der methodische Rigorismus früherer Zeiten der sozialwissenschaftlichen Forschung und der geisteswissenschaftlichen Kontroverse ist jedenfalls nur in wenigen Beiträgen und dann auch eher in Abschwächung oder als Nachhall zu erkennen. Weitergehende Ansprüche formulieren einige Beiträge, wenn sie generalisierungsfähige Ansätze anbieten und sich als quasi exemplarische Fallstudien präsentieren. Dies ist so bei den Untersuchungen von Tenorth, Danneberg und Pott, Hübinger/Müller sowie von RosenbergerlRaphael/Platz. Die beiden letztgenannten Studien versuchen eine Antwort auf die methodische Anforderung des Ausschreibungstextes zu geben, der die Projekte aufforderte „nach den methodischen Voraussetzungen zu fragen, ideelle Wirkungsanteile in komplexen Wirkungszusammenhängen zu ermitteln". Die Studie von Hübinger/Müller versteht sich als eine Fallstudie über die mediale Verbreitung und Selektion von Ideen, hier über den weltanschaulich ausdifferenzierten Buchhandel des Kaiserreichs. RosenbergerlRaphael!Platz entwickeln am Beispiel der Ideenwelt des betrieblichen Personalwesens in der Bundesrepublik ein Modell für den Transfer und die Transformation wissenschaftlicher Konzepte, aber auch politisch-sozialer Ordnungsvorstel-
lungen
in
anwendungsbezogenes Expertenwissen.31 Forschungskonzepte ent-
werfen schließlich auch die Studien von Pott und Danneberg sowie Tenorth, die sich mit dem langfristigen Wandel von Wissensordnungen beschäftigen.32 Pott präsentiert die theoretischen und methodischen Schlussfolgerungen aus den Projektstudien zur Säkularisierung in Wissenschaft und Literatur. Das Modell einer nicht linearen, sondern zyklisch schwankenden Verschiebung von Argumenten und Begriffen weg vom Pol theologisch-religiöser Semantik versteht sich als Alternative zum revisionistischen Verzicht auf diesen zentralen Prozessbegriff neuzeitlicher Ideengeschichte.
4.
Revisionen, Probleme und neue theoretische Perspektiven
Die in den
Beiträgen erkennbare Bilanz dieses Schwerpunktprogramms lässt einige grundlegende Probleme erkennen, deren weitere Klärung bzw. kontroverse Behandlung auch in Zukunft für die Forschungen von großer Bedeu31
Hübinger!Müller. Ideenzirkulation; RosenbergerlRaphael!Platz: Psychologische Eignungsdiagnostik. 32 Sandra Pott: Säkularisierung Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte; Danneberg, Lutz: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen; Tenorth: Bildsamkeit und Behinderung. -
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rung sein dürfte. Viele Beiträge verbindet der Trend, die neuen „klassischen" Theorieentwürfe ihrerseits zu dekonstruieren. Dies ist ganz deutlich in mehreren Anmerkungen zur Cambridge School oder in Kommentaren zu soziologischen Klassikern wie Max Weber zu erkennen.33 Kritische Weiterentwicklung und deutliche Wahrnehmung der Grenzen theoretischer Modellbildung gehen hier Hand in Hand. Stattdessen tauchen neue Vorschläge und Ansätze in der theoretischen Debatte auf. Der systemtheoretische Ansatz Niklas Luhmanns zur historischen Semantik34 oder die kultursoziologischen Konkretisierungen des Feldbegriffes von Pierre Bourdieu35 haben Eingang in die Forschungsarbeit des Schwerpunktprogramms gefunden.36 Der Prozess der theoretischen Neuorientierung ist offensichtlich noch längst nicht abgeschlossen und die in den eingangs vorgestellten Einführungen und Handbüchern zu beobachtende
Kanonisierung einiger Ansätze etwas voreilig.
Nach wie vor besteht unter Ideenhistorikern bzw. Kulturwissenschaftlern kein Konsens darüber, wie das Kernproblem, mit dem sich dieses Schwerpunktthema zu beschäftigen hatte nämlich die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Ideen forschungsstrategisch zu bewältigen ist. Bestenfalls lässt sich in den Beiträgen so etwas wie ein kleinerer Kreis von kultur- bzw. sozialhistorisch inspirierten Ansätzen erkennen, deren Hauptaugenmerk auf die Wirkung von Ideen in Professionen und deren Institutionen gerichtet ist. Vielfach geht es dabei darum, über einen mikroskopischen Blick auf die vielfältigen Vernetzungen zwischen Sozialem und Ideellem der sozialen Genese neuer Ideen und der Wirkungsmächtigkeit solcher neuen Ideen auf die Spur zu kommen. Nicht überraschend ist die Beobachtung, dass mehreren Studien eine dezidiert revisionistische Stoßrichtung eigen ist. Gerade die Frage nach Wirkungszusammenhängen, die in diesem Schwerpunktprogramm so deutlich formuliert worden ist, hat hier Früchte getragen. So korrigieren etwa die Untersuchungen von Günther und FöllmerlMeissner die weitreichenden Wirkungsvermutungen (Mobilisierungskraft, Vergemeinschaftung), welche gerade die kulturgeschichtliche Forschung mehr oder weniger pauschal für die Nationsidee in der Hochzeit des Nationalismus entwickelt hat. Der Blick in bildungsbürgerliche Autobiographien, aber auch in Schulbücher und Verbandspublikationen der Industrie provoziert eine sowohl differenziertere als auch skeptischere Sicht auf die Gestaltungskraft der nationalen Idee.37 An-
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33
FöllmerlMeissner. Ideen; Becker. Weg. Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Frankfurt/M. 1993-1999. 35 Pierre: Die Regeln der Kunst, Frankfurt/M. 2001. Bourdieu, 36 Vgl. Tenorth: Bildsamkeit und Behinderung; Becker. Weg; RosenbergerlRaphaellPlatz: 34
Eignungsdiagnostik. Psychologische 37 Günther. Ort; FöllmerlMeissner: Ideen; Langewiesche: Kommentar.
26
Lutz
Raphael
ders revisionistisch argumentiert Frank Becker: Seine Analyse zur Darstellung und Deutung der Einigungskriege im Kaiserreich wiederum legt die Vermutung nahe, dass die bürgerliche Deutungsmacht es vermochte, die machtpolitische Schwäche im politisch-militärischen Geschehen quasi zu überblenden im Leitbild eines bürgerlichen Militarismus. Damit wird eine dezidiert ideengeschichtliche Revision etablierter Deutungsmuster der politischen Sozialgeschichte des Kaiserreichs formuliert.38 Am wenigsten herrscht darüber Klarheit, ob das Konzept der „Idee", welche für die deutschsprachige Ideengeschichte ja von kaum zu leugnender Relevanz ist, hinreichende Trennschärfe besitzt, um Phänomene bzw. Zusammenhänge symbolischer Ordnungen bzw. ideeller Produktionen und kultureller Ereignisse zusammenzuführen. Diese Kategorie funktioniert problemlos als Bezeichnung für so etwas wie Nation. Idee markiert hier die problemhistorisch zu begründende Einheit eines weiten Felds von symbolischen Produktionen, deren offener oder versteckter Bezugspunkt in der Gestaltung des politischen Gemeinwesens zu fassen ist. Nach wie vor fehlen Untersuchungen, welche die spezifische Wirkungskraft von großformatigen „Leitideen" als etablierten Normen in gesellschaftlichen bzw. politisch-rechtlichen Zusammenhängen konkretisieren bzw. ihre fundamentale Relevanz als Klassifikationsschema bzw. Klassifikationsgeneratoren in den vielfältigen, ausdifferenzierten Ordnungssystemen neuzeitlicher Gesellschaften aufspüren. Die Mehrzahl der in diesem Band beteiligten versammelten Beiträge eint die Überzeugung von der wirklichkeitskonstituierenden Kraft von Ideen und Symbolen. Trotz aller postmodernen Blickschärfe für die machtproduzierende wie machttragende Dimension von Ideenkonstrukten scheint in den meisten Texten eine distanziert-ironische Gelassenheit im Urteil über die Gestaltungskraft symbolischer Ordnungen in der gesellschaftlichen Dynamik der europäischen Neuzeit durch. Zweitens eint die Beiträge die gemeinsame Erwartung, dass auch im Bereich der Ideengeschichte so etwas wie empirische Pläusibilität mittlerer Reichweite erreicht werden kann. Gelassen gehen alle Beiträge mit dem Problem um, harte Standards der Beweisbarkeit unterlaufen zu müssen. Sie sind jedoch genauso weit entfernt von der hochmütigen Verwechslung von Denkmöglichem bzw. argumentativ Plausiblem mit historisch Wahrscheinlichem oder ,Real'wirksamem. Diese Pose radikaler Interpretation im Sinne einer realitätsfernen Virtuosität der Interpretation ist allen Beiträgen fremd. Damit ist aber bereits auch ein Mindeststandard kulturwissenschaftlicher Forschung gegenüber literarisch künstlerischer Deutung derselben Phänomene benannt. Gerade angesichts der gemeinsamen Orientierung von Literaten, Künstlern 38
Becker: Weg; vgl. auch ders.: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001.
in der
„Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit"
27
und Ideenhistorikern am Leitbild der Originalität und Kreativität ist diese Differenz ganz wesentlich. Der größte Dissens, vielleicht sogar ein tragendes Gegensatzpaar im Feld der neueren Ideengeschichte wird aufgespannt durch den Gegensatz zwischen den Optionen für Makrokonstruktionen oder Mikroanalysen. Er scheint weniger ein Gegensatz unterschiedlicher Analyseebenen und -methoden zu sein denn eine radikale Differenz in der Erwartung daran, auch in der Ideengeschichte so etwas wie Prozesse langer Dauer und Modelle größter oder größerer Reichweite entwickeln und plausibilisieren zu können. An diesem Punkt zeigt sich, in welchem Maße auch die neuere Ideengeschichte in die großen Kontroversen der beteiligten Disziplinen eingebunden bleibt, die vielfach plakativ um die Positionen postmoderner Kulturinterpretationen kreisten. Darin zeigt sich andererseits auch die Anschlussfähigkeit der hier repräsentierten ideengeschichtlichen Ansätze für aktuelle Fragestellungen der Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte. Dass ideengeschichtliche Forschungen zur Untersuchungen des Großphänomens Nationalismus gehören, hat sich inzwischen rumgesprochen und ist aus der gegenwärtigen Wahrnehmung einer zentralen Frage der deutschen Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert nicht mehr wegzudenken. In ganz anderer Weise anschlussfähig wiederum ist die mikrogeschichtlich bzw. kleinteilig orientierte Ideengeschichte eingebunden in die neuere Sozial- und Kulturgeschichte. Dabei scheint sich in diesem Bereich vor allem an der Schnittstelle zur Wissenschaftsgeschichte so etwas wie eine neues Modell einer Sozialgeschichte der Ideen bzw. der Ideengeschichte des Sozialen herauszubilden. Hier spielt die neue Ideengeschichte ihren Part, um die etablierten Grenzen zwischen Kultur-, Politik- und Sozialgeschichte aufzulösen. -
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I. Frühneuzeitliche Politik-Diskurse
Die
,Cambridge-School' und die Interaktion politischer Diskurse in England von der Zeit Elizabeth' I bis zur Revolution Raimund Ottow I.
publizierte Peter Laslett, Historiker in Cambridge, nach Vorarbeiten Neuausgabe von John Lockes Two Treatises of Government} Die vordergründige Intention Lasletts in seiner Einführung war, die Entstehung des Textes (oder: der Texte, da der erste und der zweite Treatise zu verschiedenen Zeiten geschrieben wurden) neu zu bestimmen. Sein Ergebnis war, dass der Text im Wesentlichen der Zeit ab 1679 zuzuordnen ist, deren politische Konstellation sich erheblich von jener der Zeit der Erstpublikation nach der so genannten .Glorious Revolution' unterscheidet. Mit der Hinfälligkeit der Annahme, Lockes Text sei zu verstehen als nachträgliche Rechtfertigung dieser Bewegung, ergab sich aber auch, dass der Text interpretativ auf einen früheren Kontext, jenen der .Exclusion Crisis', zu beziehen war. Diese Umdatierung und Umdeutung von Locke wurde später vor allem von Richard Ashcraft bestätigt, der zwar die Datierung und Entstehung der Texte nochmals leicht korrigiert hat, mit Laslett aber gegen eine Kontextualisierung in die ,Glorious Revolution' argumentierte.2 Unter dem Firnis der langen Tradition der Locke-Interpretation als Apologeten der .Glorious Revolution', auf 1960 seine
Ich benutze die englische Namensform. Für methodologische Aspekte verweise ich auf meinen Aufsatz: Ein Modell politischer Diskursanalyse, in: Archives Européennes de 42 (2002), S. 243-271. Sociologie ' Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von 1994: Locke, John: Two Treatises of Government, hrsg. v. Peter Laslett, Cambridge. 2 Siehe Ashcraft, Richard: Revolutionary Politics & Locke's ,Two Treatises of Government', Princeton 1986; ders.: Locke's ,Two Treatises of Government', London 1987, zur Datierung bes. der App.; ders./Goldsmith, Maurice M.: Locke, Revolution Principles, and the Formation of Whig Ideology, in: The Historical Journal (HJ) 26 (1983), S. 773-800; ders.: The radical dimensions of Locke's political thought: a dialogic essay on some problems of interpretation, in: History of Political Thought (HPTh) 13 (1992), S. 703-772; Wootton, David: John Locke and Richard Ashcrofts Revolutionary Polities', in: Political Studies 40 (1992), S. 79-98, und Ashcrofts Antwort: Simple Objections and Complex Reality: Theorizing Political Radicalism in Seventeenth-century England, ebd., S. 99-115; Tully, James: Placing the ,Two Treatises', in: Phillipson, Nicholas/Skinner, Quentin (Hrsg.): Political Discourse in Early Modern Britain, Cambridge 1993, Text 12; Schwoerer, Lois G.: The right to resist: Whig resistance theory, 1688 to 1694, ebd., Text 11; Goldie, Mark: The Roots of True Whiggism, 1688-1694, in: HPTh 1 (1980), S. 195-236; für eine Langfrist-Diskussion ders.: Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, in: Fetscher, Iñng/Münkler, Herfried (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, 5 Bde., München/Zürich, Bd. 3, 1985, Kap. 7, S. 275-352.
32
Raimund Ottow
der das Selbstverständnis der .Whigs' und der Liberalen des 18. und 19. Jahrhunderts ruhte, erscheint ein Revolutionär, der offensichtlich in clandestine Aufstandsbestrebungen verwickelt war, dessen Aktivitäten als Verschwörer aber gerade deshalb so schwer nachzuweisen sind, weil er um die Gefährlichkeit seines Tuns wusste und nach dem politischen Scheitern der Bewegung, als er mit seinem Patron, Anthony Ashley-Cooper, dem ersten Earl of Shaftesbury, ins Exil ging, sorgfältig Spuren verwischt hat. Shaftesbury seinerseits hatte seine politische Karriere zur Zeit der Republik begonnen und Locke sicher im Sinne von .Commonwealth'-Traditionen beeinflusst3, die späteren .Whigs' und Liberalen Anathema waren, welche zwischen der zu verurteilenden ,Great Rebellion', dem .Königsmord' und der englischen Republik einerseits, und der, daran gemessen, konservativen .Glorious Revolution', die nur die alte englische Verfassung gegen eine Tyrannis verteidigt habe, andererseits, strikt unterschieden. Edmund Burke vor allem hat zur Zeit der Französischen Revolution diese konservative Auslegung der .Glorious Revolution' gegen Thomas Paine, Richard Price und andere Radikale ausgearbeitet.4 Die historische Relozierung Lockes zerstörte diese Interpretation und führte zur Einsicht, dass in der .Glorious Revolution' (auch) radikalere Kräfte aktiv waren als man später wahrhaben wollte. Methodisch führte Lasletts Text zu der Einsicht, dass die Historiographie des politischen Denkens sich nicht auf die Interpretationstraditionen einer späteren Zeit verlassen kann, sondern Texte sorgfältig in ihre originalen Kontexte rücken muss, um zu einen angemessenen Verständnis zu gelangen. Inhaltlich trug Laslett zum so genannten .Revisionismus' bei, der die liberale ,Whig'-Geschichtsschreibung in Frage stellte. Seit den 1930er Jahren hatte Herbert Butterfield diese Kritik am Mythos einer gewissermaßen Ideologischen Entwicklung der englischen Geschichte hin zu einer liberalen Selbstauslegung der englischen Gesellschaft, wie sie im 19. Jahrhundert standardisiert und kanonisiert wurde, vorgetragen.5 Sie gewann Momentum in den 3
Systematische Verbindungen analysiert Manfred Brocker: Die Grundlegung des liberalen Verfassungsstaates. Von den Levellern zu John Locke, Freiburg/München 1995; siehe auch ders.: Freiheit und Eigentum. Neuere Literatur zur Politischen Philosophie John Lockes, in: Neue Politische Literatur (NPL) 37 (1992), S. 64-76; vgl. dagegen Aylmer, Gerald E.: Locke no Leveller, in: Gentles, Ian u.a. (Hrsg.): Soldiers, writers and statesmen of the English Revolution, Cambridge 1998, Text 14. 4
Siehe Burke, Edmund: Reflections on the Revolution in France, Harmondsworth 1984; ders.: Further Reflections on the Revolution in France, hrsg. v. Daniel E. Ritchie, Indianapolis 1992; Price, Richard: Political Writings, hrsg. v. David O. Thomas, Cambridge etc. 1991; Paine, Thomas: The Rights of Man, Harmondsworth 1984; Macpherson, Crawford B.: Burke, Oxford 1990. 5 Siehe Butterfield, Herbert: The Whig Interpretation of History, zuerst 1931, Neudruck, London 1968; ders.: The Englishman and his History, Cambridge 1944; vgl. Elton, Geoffrey R.: Herbert Butterfield and the Study of History, in: ders.: Studies in Tudor and Stuart Politics and Government. Papers and Reviews, 4 Bde., Cambridge 1974-1992, Bd. 4, Text 63.
Die
,Cambridge School' und die Interaktion politischer Diskurse
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1970er und 1980er Jahren und wird seit einer Reihe von Jahren nunmehr selbst wegen ihrer Übertreibungen kritisiert.6 Aber diese inhaltlichen Auseinandersetzungen können doch nicht dazu führen, die methodische Einsicht aufzugeben, dass das Denken einer Zeit aus ihr selbst heraus zu verstehen ist, dass also Texte in ihre originalen Kontexte zu rücken sind, um die Intention eines Autors zu entschlüsseln. Quentin Skinner vor allem hat seit den 1960er Jahren im Anschluss an Laslett für eine methodisch-theoretische Ausarbeitung und Verallgemeinerung dieser Einsicht für die Historiographie des politischen Denkens gesorgt.7 Er versteht einen Text, im Anschluss an die philosophische ,Speech Act'-Theorie,8 als eine komplexe Sprachhandlung, die pragmatisch auf die Beeinflussung eines je gegebenen (bzw. vom Autor imaginierten) Publikums gerichtet ist und daher als eminent politische Handlung zu verstehen sei. Das erinnert an die Tradition der antiken Rhetorik, die neben der Gerichtsrede und der Lobrede die öffentliche, politische Rede als dritten Grundtypus kannte. Die Vorstellung, politisches Denken sei als kontemplativer, zeitenthobener Akt zu verstehen, so dass die Texte sich dem 6
Siehe für Revisionismus in Bezug auf das 16. Jahrhundert: Coleman, Christopher/Sfariev, David (Hrsg.): Revolution Reassessed. Revisions in the History of Tudor Government and Administration, Oxford 1986; für das 17. Jahrhundert: Hellmuth, Eckart: Die englische Revolution in revisionistischer Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 16 (1990), S. 441-454; Burgess, Glenn: Review Article: Revisionism, Politics and Political Ideas in Early Stuart England, in: HJ 34 (1991), S. 465-478; Baskerville, Stephen K: Puritans, Revisionists, and the English Revolution, in: Huntington Library Quarterly 61 (2000), S. 151-71; zur amerikanischen Geschichte: Vorländer, Hans: Auf der Suche nach den moralischen Ressourcen Amerikas. Republikanischer Revisionismus und liberale Tradition der USA, in: NPL 33 (1988), S. 226-251; Nolte, Paul: Ideen und Interessen in der amerikanischen Revolution. Eine Zwischenbilanz der Forschung 1968-1988, in: GG 17 (1991), S. 114-140. Siehe Tully, James (Hrsg.): Meaning and context. Quentin Skinner and his Critics, Cambridge/Oxford 1988; Skinner, Quentin: Language and Political Change, in: Ball, Terence u.a. (Hrsg.): Political Innovation and Conceptual Change, CUP 1989, S. 6-23; Tully, James: The pen is a mighty sword: Quentin Skinner's analysis of politics, in: British Journal of Political Science 13 (1983), S. 489-509; Nederman, Cary J.: Quentin Skinner's state: historical method and traditions of discourse, in: Canadian Journal of Political Science 18 (1985), S. 339-352; Palonen, Kari: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster und meine Rezension in: Politische Vierteljahresschrift 46 (2005), H. 1, S. 164-167. 2004, 8 Siehe Searle, John R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay (1969), Frankfurt/M. 1976; Habermas, Jürgen: Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie, in: ders. : Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1989; ders. : Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt; ders.: Zur Kritik der Bedeutungstheorie; ders.: Bemerkungen zu J. Searles .Meaning, Communication, and Representation', alles in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1992; Jay, Martin: Braucht die Geistesgeschichte eine sprachliche Wende? Überlegungen zur HabermasGadamer-Debatte, in: LaCapra, Dominick/'Kaplan, Steven L. (Hrsg.): Geschichte denken. Neubestimmungen und Perspektiven moderner europäischer Geistesgeschichte, Frankfurt/M. 1988, S. 87-114; Dallmayr, Fred: Language and Politics. Why does language matter to Political Philosophy?, Notre Dame/London 1984.
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Verständnis ohne Rekurs auf weitere Kontexte erschließen, wird damit aufgegeben. Was ein Autor mit seiner Sprachhandlung erreichen wollte, seine .Intention', so die Einsicht, ist nicht einfach aus dem Text selbst zu erschließen, sondern erst aus der Aufschließung der Kontexte, in denen der Autor wirkt und in die er hineinwirken will. Diese Methodik bricht mit der Idee, man könne die Geschichte politischen Denkens betreiben unter ausschließlicher Konzentration auf die so genannten ,großen Texte', die angeblich nur zählen sollen, unter Konzentration auf die so genannten ,Klassiker', die angeblich für alle Zeiten gleiche Gültigkeit haben, oder die, wenn sie überholt sein sollten, so durch spätere ,Klassiker' überholt wurden, so dass die Geschichte des politischen Denkens als eine Abfolge ,klassischer Texte' zu verstehen ist, die sich selbstexplikativ aufeinander beziehen. Generell wird diese Geschichte analog zur Whig-History' als eine Fortschrittsgeschichte erzählt, aber auch wenn sie als Verfallsgeschichte erzählt wird, wie von Leo Strauss und seiner Schule9, funktioniert sie jedenfalls unter Abstrahierung von historischen und geistesgeschichtlichen Kontexten. Zwei Argumente, unterschiedlicher Art, können für diese Art von Geistesgeschichte in Anspruch genommen werden: Zum einen kann argumentiert werden, dass politische Philosophie sich nicht sonderlich für die historische Bedeutung von Texten interessieren muss, sondern Argumente dort aufnimmt, wo sie sie findet, um damit für die Gegenwart relevante Reflektion vorzunehmen. Dagegen ist kaum etwas zu sagen, nur ist zu betonen, dass dieses Verfahren mit Historiographie nichts zu tun hat, und dass daran geknüpfte Ansprüche auf Autorisierung eines Argumentes, weil man es von einem .Klassiker' hat, kaum gelten können, weil die ,Klassiker' und ihre Texte in diesem Verfahren in ihrer intellektuellen Integrität abgewertet werden. Das zweite Argument ist pädagogischer Art und hebt auf die Schwierigkeit ab, Geschichte des politischen Denkens zu lehren, ohne sich zunächst auf ,
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Strauss, Leo: Political Philosophy and History, zuerst 1949, Neudruck in: King, Preston (Hrsg.): The History of Ideas. An Introduction to Method, London etc. 1983, Text 9; ders.: On Collingwood's Philosophy of History, zuerst 1952, Neudruck ebd., Text 6; ders.: Naturrecht und Geschichte, Frankfurt/M. 1977; Tarcov, Nathan: Philosophy and History: Tradition and interpretation in the work of Leo Strauss, in: Polity 16 (1983/84), S. 5-29; Susser, Bernard: Leo Strauss: The antient as modem, in: Political Studies 36 (1988), S. 497-514; Holmes, Stephen: Wahrheiten für wenige. Leo Strauss und die Gefährlichkeit der Philosophie, in: Merkur 44 (1990), S. 554-569; Söllner, Alfons: Leo Strauss, in: Graf Ballestrem, Karl/'Ottmann, Henning (Hrsg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1990, S. 105-122; Bluhm, Harald: Erhellende Gegensätze Michael Walzers und Leo Strauss' Rückgriff auf die Antike, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), S. 1049-1057; ders.: Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von -
Leo Strauss. Habilitationsschrift, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2000; ders.: Hannah Arendt und Leo Strauss. Kritik politischer Philosophie oder Restitution antiker politischer Philosophie?, MS 2000; Beiträge in Graf Kielmansegg, Peter u.a. (Hrsg.): Hannah Arendt and Leo Strauss. German Emigrés and American Political Thought after World War II, Cambridge (Mass.) 1997.
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genannten .Klassiker' wäre doch
akzeptiert, schen Täuschung,
zu
zu konzentrieren. Wenn man dieses Argument fordern, dass didaktisch der nahe liegenden opti-
als könne die Geschichte des Denkens als eine Abfolge Texte verstanden werden, entgegenzuwirken ist.10 Diese Argu,klassischer' mente gegen die Notwendigkeit von Kontextualisierung in der Geschichtsschreibung politischen Denkens reichen also nicht weit.
II. Was meint .Kontextualisierung'? Als Kontexte für einen Text können zunächst Texte des gleichen Autors gelten. Wir gewinnen damit eine Vorstellung vom Denken eines Autors in der Zeit. Nahe liegend ist sodann, mehr über den Autor selbst in Erfahrung zu bringen, über seine Biografíe, seine
Lebensumstände, Bekanntschaften, sonstigen politischen Aktivitäten,
usw.
ermöglicht, die Texte als Sprachhandlungen zu entschlüsseln. Weiterhin benötigen wir auch eine Vorstellung davon, wie er die geistesgeschichtliche Situation der Zeit gesehen hat, und das lässt sich nicht nur aus seinen Texten selbst oder aus biographischem Hintergrundmaterial (Tagebücher und ähnliches) erschließen, sondern nur durch Rekurs auf jene Texte, die der Autor eventuell selbst gelesen hat. Diese jedenfalls vermögen uns den besten Anhalt für eine Rekonstruktion der geistesgeschichtlichen Situation zu geben, und alles dies kann dann zu einem adäquateren Verständnis der Intention eines Autors verhelfen. Auf diese Weise verstehen wir einen Text als Sprachhandlung und damit die Intention eines Autors besser als ohne Kontextualisierung, und das ist eine sinnvolle Erkenntnisleistung. Geschichte allerdings wird erst dann daraus, wenn wir die Sprachhandlung weiterverfolgen, d.h. uns die Frage vorlegen: Hatte der Autor Erfolg? Hat die Sprachhandlung gewirkt? Und hat sie so gewirkt, wie der Autor dies intendierte? Wenn ein Text in der Welt ist, unterliegt er nicht mehr der Kontrolle des Autors. Er wird rezipiert. Und da jeder Text unterschiedlich rezipiert werden kann, wird die Rezeption wahrscheinlich nicht vollständig mit der Erwartung des Autors übereinstimmen. Durch eine genaue Analyse der geistesgeschichtlichen Situation kann ein Autor eine mehr oder weniger zutreffende Vorstellung von dem möglichen Publikum gewinnen, kann seinen Sprechakt antizipatorisch darauf einstellen und sich so Das
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So hat etwa Iain Hampsher-Monk, als Anhänger der .Cambridge School', sein Lehrbuch über: A History of Modern Political Thought. Major Political Thinkers from Hobbes to Marx, Oxford 1993, mit einer Apologie eingeführt, durch Zwecke der Lehre zu dieser Art von Reduktion der Geschichte politischen Denkens auf so genannte ,Klassiker' gezwungen zu sein, und hat gleichzeitig in den Darstellungen im einzelnen großen Wert auf Kon-
textualisierung gelegt.
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vielleicht vor groben Missverständnissen schützen. Aber er kann die Rezeption nicht wirklich kontrollieren, die grundsätzlich mit einem Text macht, was sie will, so dass hier der Schlüssel liegt zur Beantwortung der Frage, ob und wie ein Text wirkt. Ein Text, der nicht rezepiert wird, ist historiographisch (fast) bedeutungslos, weil er nur als Indiz zu gelten vermag, welche Denkmöglichkeiten ein Individuum in einer bestimmten historischen Konstellation entwickelt hat. Wenn nun ein Text massenhaft rezipiert wird und anscheinend große Wirkungen entfaltet, liegt der Schluss nahe, diese Wirkungen dem Autor zuzuschreiben. Aber das ist eine optische Täuschung, denn offensichtlich hängt, ob ein Text Wirkung entfalten kann, entscheidend von der Rezeption ab. Es müssen hier, auf Seiten des Publikums, Bedingungen existieren, die eine Empfänglichkeit für bestimmte Ideen darstellen, die durch einen Text gleichsam aktualisiert und ausgeformt wird. Natürlich bedarf es des Textes, damit sie aktualisiert werden. Und wenn es diesen bestimmten Text nicht gäbe, würden sie sich vermutlich nicht in genau jener Form aktualisieren, die dieser Text auslöst. Insofern ist nicht gleichgültig, ob es diesen Text gibt. Aber entscheidender scheint doch zu sein, dass der Sprechakt des Autors ,auf fruchtbaren Boden fällt', zumal wenn wir berücksichtigen, dass die Rezeption sich generell keineswegs an die originären Intentionen des Autors hält. Und warum auch? Gesellschaftliche Diskursivität, zumal politische Diskursivität, orientiert sich an bestimmten Problemen oder Problemlagen, für die die Gesellschaft nach Lösungen sucht. Fragen der intentionalen Integrität eines Autors, gar Fragen geistiger Urheberschaft oder ähnliches, sind dabei ziemlich gleichgültig. Dabei werden die Definitionen des Problems, oder der Probleme, voneinander abweichen. Es mag eine Reihe von .Tatsachen' geben, die unstrittig sind, aber bereits bei der Frage, welche Tatsachen auf Probleme verweisen, sodann, wie diese Tatsachen aufeinander zu beziehen sind, beginnt der Streit. Und selbst angenommen, man wäre sich über die Probleme einigermaßen einig, so werden doch die angezielten Lösungen voneinander abweichen schon weil alles projektierte Handeln, sei es von Gruppen, sei es (wenn das vorstellbar wäre) der Gesellschaft im Ganzen wahrscheinlich also der Politik, die für vorliegende Zwecke als Selbststeuerungsfähigkeit einer Gesellschaft definiert werden kann im Unsicheren operiert: über die tatsächlichen Folgen dieser oder jener Handlungsoption. In diesen Streit spielen dann noch normative Differenzen, Konflikte hinein, schon auf der Ebene der Definition von Problemen, aber auch auf der Ebene der Projektion politischen Handelns unter Bedingungen von Unsicherheit. Um in diese Konstellation erfolgreich zu intervenieren, muss ein Autor nicht nur die Problemdefinition einer hinreichenden Masse von Rezipienten treffen, sondern auch ihre projektiven Annahmen, und in beidem ihre normativen Präferenzen. Der einzelne Sprechakt kann natürlich dazu beitragen, gedankliche In-
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konsistenzen aufzuklären und eventuell faktische Annahmen durch überzeugende Nachweise zu erhärten oder zu erschüttern. Aber ohne ein erhebliches Maß an Anschließung an gegebene Annahmen und Überzeugungen, wird der einzelne Sprechakt gar nicht erst zu einer relevanten Rezeption gelangen und also auch seine Korrektivfunktion nicht ausüben können, ebenso wenig wie er seine kreative Funktion, das was ihn vielleicht originell macht, entfalten kann sagen wir z.B.: die theoretische Exploration einer bisher nicht bedachten Handlungsstrategie. Originalität steht einer breiten Rezeption im Wege, so sehr ein wenig Originalität notwendig ist, um die Rezeption anzuregen. Das Triviale findet keine Aufmerksamkeit, weil es trivial ist, und das sonderlich Originelle, weil es unverständlich und daher uninteressant ist. Die Rezeption setzt daher dem einzelnen Sprechakt deutliche Grenzen, oder anders: sie macht deutliche Vorgaben, die wahrscheinlich auf diese oder jene Weise, mehr oder weniger bewusst, in die Sprachhandlung des Autors eingehen. Die gesellschaftliche Diskursivität, die sich im Schreiben eines Autors reflektiert, und sodann die Rezeption machen einen .Klassiker', wenn man darunter einen Autor versteht, der nicht nur für einen Moment, sondern strategisch sich in der Rezeption behaupten kann, weil er strategische Probleme für den Moment originell, aber nicht zu originell aufgreift und durchdenkt. Dies alles verweist darauf, dass historiographisch mit der Kontextualisierung einzelner Sprechakte, Texte, noch nicht viel erreicht ist. Entscheidend wird die Perspektivenverschiebung und -erweiterung auf die Rezeption und ihre Bedingungen, auf die gesellschaftliche Diskursivität, ihre Substantialität, ihre dynamischen Mechanismen, ihre Aufnahmefähigkeit, ihre Zerklüftung. Erst von hier aus wird der einzelne Sprechakt vollends verständlich, weil wir das Problem des einzelnen Autors verstehen, sich dazu zu verhalten, seinen Sprechakt antizipatorisch wirksam zu machen, und weil von hier aus eine Erfolgskontrolle möglich wird. Aber wenn diese Perspektivenverschiebung vollzogen ist, erscheint der einzelne Sprechakt nur noch als einer unter vielen. Die idolisierende Subjektbezogenheit, die der europäischen Historiographie, und gerade der ,Geistesgeschichte', so tief in den Knochen steckt, wird damit unterminiert. Die Vorstellung, dass ,große Individuen', durch ihre (eventuell platonisch-ewigen) ,Ideen', die Geschichte machen, indem sie gleichsam stellvertretend für die Gesellschaft denken, wird unplausibel, denn selbst dort, wo der Kult um die .Geistesheroen' floriert, können gesellschaftlich-diskursive Bedingungen für ihre Rezeption identifiziert werden, und überall sehen wir auch, dass die Intention des Autors und das, was die Rezeption daraus macht, nicht deckungsgleich sind. John Pocock, der erst im Laufe der Zeit für ein breiteres Publikum erst seit der Publikation seines Buches über das Machiavellian Moment von -
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197511 als der andere bedeutende Repräsentant der .Cambridge School' neben Skinner wahrgenommen wurde, ist diesen Weg gegangen.12 Bei ihm erst finden wir eine theoretisch reflektierte Analyse von .Diskursen', nicht nur Kontextualisierung von Texten mit sprachtheoretischen Mitteln.13 Nach-
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Pocock, John G. A.: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975; siehe davor ders.: Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History, zuerst 1971, repr., Chicago/London 1989; Goodale, Jesse R.: J. G. A. Pocock's Neo Harringtonians: A Reconsideration, in: HPTh 1 (1980), S. 237-259, und Pococks Antwort: A Reconsideration impartially considered, ebd., S. 541-545; Nippel, Wilfried: .Klassischer Republikanismus' in der Zeit der Englischen Revolution. Zur Problematik eines Interpretationsmodells, in: Schuller, Wolfgang (Hrsg.): Antike in der Moderne. XENIA. Konstanzer althistorische Vorträge und Forschungen, H. 15, Konstanz 1985, S. 211-224; Gebhardt, Jürgen: Autorität und Macht in der .Politik' James Harringtons, in: ders.IMünkler, Herfried (Hrsg.): Bürgerschaft und Herrschaft. Zum Verhältnis von Macht und Demokratie im antiken und neuzeitlichen politischen Denken, Baden-Baden 1993, S. 97-116. 12 Methodologische Stellungnahmen Pococks sind: Time, Institutions and Action: An Essay on Traditions and their Understanding, in: King, Preston/Parekh, Bhikhu C. (Hrsg.): Politics and Experience. FS für Michael Oakeshott, Cambridge 1968, S. 209-237; ders.: Languages and their Implications: The Transformation of the Study of Political Thought, in: ders.: Politics, Language and Time, Nr. 1; ders.: The reconstruction of Discourse: Towards the Historiography of Political Thought, in: Modem Language Notes 96 (1981), S. 959-980; ders.: ,The Machiavellian Moment' Revisited: A Study in History and Ideology, in: Journal of Modern History (JMH) 53 (1981), S. 49-72; ders.: Introduction: The state of the art, sowie: Virtues, rights, and manners. A model for historians of political thought, in: ders. : Virtue, Commerce, and History. Essays on political thought and history, chiefly in the eighteenth century, Cambridge 1985, S. 1-50; ders.: Texts as Events: Reflections on the History of Political Thought, in: Sharpe, Kev'mJZwicker, Steven N. (Hrsg.): Politics of Discourse. The Literature and History of Seventeenth-Century England, Berkeley etc. 1987, S. 21-34; ders.: The concept of a language and the .métier d'historien': some considerations on practice, in: Pagden, Anthony (Hrsg.): The Languages of Political Theory in early-modem Europe, Cambridge 1987, S. 19-40; ders.IBall, Terence: Introduction, in: dies. (Hrsg.): Conceptual Change and the Constitution, University Press of Kansas 1988, S. 1-12; siehe Hampsher-Monk, Iain: Political languages in time the work of J. G. A. Pocock, in: British Journal of Political Science 14 (1984), S. 89-116. 13 Diskussionen der Methodologie sind: immanent kritisch David Boucher: New histories of political thought for old?, in: Political Studies 31 (1983), S. 112-121; ders.: Language, politics and paradigms: Pocock and the study of political thought, in: Polity 17 (1984/85), S. 761-776; ders.: Texts in Context. Revisionist Methods for Studying the History of Ideas, Dordrecht etc. 1985, wertvoll für die Entwicklungsgeschichte der ,CambridgeSchool'; Ball, Terence: Political Argument and Conceptual Change, in: ders.: Transforming Political Discourse. Political Theory and Critical Conceptual History, Oxford 1988, Text 1; ders.: Reappraising Political Theory. Revisionist Studies in the History of Political Thought, Oxford 1995, die ersten beiden Texte; Kevin Sharpe: A commonwealth of meanings: languages, analogues, ideas and politics, in: ders.: Politics and Ideas in Early Stuart England. Essays and Studies, London/New York 1989, S. 3-71, plädiert für eine Ausweitung der Diskurstheorie auf symbolische Medien jenseits von Texten; Rosa, Hartmut: Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der .Cambridge School' zur Metatheorie, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), S. 197-223; Schochet, Gordon J.: Why should history matter? Political theory and the history of discourse, in: Pocock, John G. A. u.a. (Hrsg.): The varieties of British political thought, 1500-1800, Cambridge 1996, Text 10; z.T. unter Bezug auf die .Cambridge School': Norval, Aletta J.: Review Article: The Things We Do with Words Contemporary Approaches to the Analysis of Ideology, -
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fraglich hat er sein erstes Buch über The Ancient Constitution and the Feudal Law von 1957 als Diskurstheorie avant la lettre dargestellt, denn eine Cambridge School' gab es zu der Zeit noch nicht.14 Inhaltlich bearbeitet dieser Text ein Thema aus dem Bereich der Kritik der ,Whig-History', die Pocock von seinem akademischen Lehrer Butterfield aufgenommen haben dürfte. Als Neuseeländer wird er von vornherein eine gewisse Distanz zu den Legitimationsmythen der englischen Historiographie mitgebracht haben. Aber abgesehen von dieser revisionistischen' Intention, zeichnet sich dieses Buch durch die Fähigkeit aus, die Wandlung, die Transformation ideologischer Komplexe, auch und gerade unter dem Schein ihrer Kontinuität aufzudecken. Es kann heute als trivial gelten, dass die Ideologie, oder .Sprache' der .Ancient Constitution', deren Transformation Pocock analysiert, in den politischen Konflikten des 17. Jahrhunderts in England eine entscheidende Rolle gespielt hat.15 Um Diskurstheorie handelt es sich, insofern Pocock die Politisierung des ,Common Law' aufzeigt, das der Opposition, innerhalb und außerhalb des Parlaments, spezifische ideologische Ressourcen im Widerstand gegen die Krone zur Verfügung stellte. Sein Buch über das Machiavellian Moment zeichnet dagegen die Geschichte des aus Italien stammenden .Bürgerhumanismus' in England nach, der an bestimmten Punkten in Republikanismus
in: British Journal of Political Science 30 (2000), S. 313-346; Hampsher-Monk, Iain u.a. (Hrsg.): History of Concepts. Comparative Perspectives, Amsterdam UP 1998. 4 Pocock, John G. A.: The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English historical Thought in the Seventeenth Century. A Reissue with a Retrospect (1986), Cambridge etc. 1990; ders.: Texts as Events, in: Sharpe/Zwicker (Hrsg.): Politics of Discourse,
S.26. 15 Siehe fur neuere Diskussionen Howard Nenner: By Colour of Law. Legal Culture and Constitutional Politics in England, 1660-1689, Chicago/London 1977; ders.: The later Stuart age, in: Pocock, John G. A. u.a. (Hrsg.): The Varieties of British Political Thought. 1500-1800, Cambridge 1996, Text 6; Witrwer, Wolfgang W.: Das alte Recht und die alte Verfassung in England im 17. Jahrhundert, in: Staat und Gesellschaft in Mittelalter und früher Neuzeit, FS für Joachim Leuschner, hrsg. v. Historischen Seminar der Universität Hannover, Göttingen 1983, S. 212-225; Sommerville, Johann P.: Politics and Ideology in England, 1603-1640, London/New York 1986, Kap. 3; Greenberg, Janelle: The Confessor's Laws and the Radical Face of the Ancient Constitution, in: The English Historical Review 104 (1989), S. 611-637; Christianson, Paul: Royal and Parliamentary Voices on the Ancient Constitution, c. 1604—1621, in: Levy Peck, Linda (Hrsg.): The Mental World of the Jacobean Court, Cambridge, 1991, Text 5; Beiträge in Sandoz, Ellis (Hrsg.): The Roots of Liberty. Magna Carta, Ancient Constitution, and the Anglo-American Tradition of Rule of Law, Columbia/London 1993; Klein, William: The ancient constitution revisited, in: Phillipson/Skinner (Hrsg.): Political Discourse in Early Modem Britain, Text 2; Burgess, Glenn: The Politics of the Ancient Constitution. An Introduction to English Political Thought, 1603-1642, Pennsylvania State UP 1993; siehe auch ders.: Absolute Monarchy and the Stuart Constitution, New Haven/London 1996, Kap. 5, 6; Comstock Weston, Corinne: England: ancient constitution and common law, in: Burns, James H./Goldie, Mark (Hrsg.): The Cambridge History of Political Thought, 1450-1700, Cambridge 1994, Kap. 13, S. 374-411; Tubbs, James W.: Custom, Time and Reason: Early SeventeenthCentury Conceptions of the Common Law, in: HPTh 19 (1998), S. 363^106; ders.: The Common Law Mind. Medieval and Early Modern Conceptions, Baltimore/London 2000.
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Aber Pocock konzentrierte sich in diesen Büchern jeweils auf einen Diskurs und seine Entwicklung, ohne sich ausführlicher auf die Frage einzulassen, wie sich diese Diskurse zueinander verhalten, die doch im 17. Jahrhundert synchron existierten. Und auch für spätere diskurstheoretische Literatur über diese Zeit gilt zu einem Grossteil, dass man sich auf einen Diskurs konzentriert, oder dass die Entwicklung politischen Denkens im Lichte eines Diskurses, aus der Perspektive eines Diskurses erzählt wird, der dadurch jeweils als der entscheidende erscheint.16 Dabei ist besonders auf die ältere Rede von der .puritan Revolution' hinzuweisen, die die Konflikte des 17. Jahrhunderts wesentlich aus der Perspektive religiöser Konfrontation erschließen will.17 Sehen wir dagegen diese verschiedenen Diskurse zusam-
umschlägt.
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In seinem einflussreichen Einführungstext stellt Sommerville: Politics and Ideology, verschiedene Diskurse kapitelweise nebeneinander; Ansätze für Interaktionsanalyse finden sich bei John G. A. Pocock: Transformations in British Political Thought, in: Political Science 40 (1988), S. 160-178; Condren, Conal: The Language of Politics in SeventeenthCentury England, New York 1994; Pocock, John G. A.: A discourse of sovereignty: observations on the work in progress, in: Phillipson/Skinner (Hrsg.): Political Discourse in Early Modem Britain, Text 17. '7 Hill, Christopher: Puritanism and Revolution (Aufsätze zuerst 1940-1958), Harmondsworth 1986; ders.: Society and Puritanism in Pre-revolutionary England (zuerst 1964), Harmondsworth 1986; ders.: God's Englishman. Oliver Cromwell and the English Revolution (zuerst 1970), Harmondsworth 1983; ders.: The World turned upside down. Radical Ideas during the English Revolution (zuerst 1972), Harmondsworth 1984; noch in der erweiterten Neuausgabe 1997 seines Buches über: Intellectual Origins of the English Revolution, von 1962, hat Christopher Hill geschrieben: „The issues at stake in the seventeenth century were often discussed in what we would regard as religious language", und „in looking for the intellectual origins of the major achievements of the English Revolution I should now wish to give more weight to the Protestant Reformation than I did", etwa hinsichtlich der „intimate connexion of radical religious ideas with radical politics", Intellectual Origins of the English Revolution .Revisited', Oxford 1997, S. 285, 339; siehe auch Freund, Michael: Die große Revolution in England (zuerst 1951), München 1979; Stadelmann, Rudolf: Geschichte der englischen Revolution, Wiesbaden 1954; Dietz, Heinrich: Die große englische Revolution. Wechselwirkung ihrer religiösen und politischen Dynamik, Laupheim 1956; Trevor-Roper, Hugh: The Crisis of the Seventeenth Century. Religion, the Reformation, and Social Change (Aufsätze 1959-1967), Indianapolis 2001; ders.: Catholics, Anglicans and Puritans. Seventeenth Century Essays, London 1987; Manning, Brian: Puritanism and Democracy. 1640-1642, in: Pennington, Donald!Thomas, Keith (Hrsg.): Puritans and Revolutionaries. FS für Christopher Hill, Oxford 1978, S. 139-160; Zaret, David: Religion and the rise of liberal-democratic ideology in seventeenth-century England, in: American Sociological Review 54 (1989), S. 163-179; Lamont, William M.: The Puritan Revolution: a historiographical essay, in: Pocock u.a. (Hrsg.): The Varieties of
Thought, Text 4; Baskerville: Puritans, Revisionists, and the English Revolution; Burgess, Glenn: Was the English Civil War a War of religion? The Evidence of Political Propaganda, in: Huntington Library Quarterly 61 (2000), S. 173-201; ders.: British Political
Religious War and Constitutional Defence: Justifications of Resistance in English Puritan Thought, 1590-1643, in: von Friedeburg, Robert (Hrsg.): Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, Zeitschrift für historische Forschung (ZHF), BH 26 (2001), S. 185-206; Dzelzainis, Martin: Anti-monarchism in English Republicanism, in: van Gelderen, Martin/Skinner, Quentin (Hrsg.): Republicanism. A shared European Heritage, 2 Bde., Cambridge 2002, Bd. 1, Text 2.
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ergibt sich, dass wir es hier und das ist vermutlich verallgemeinerbar, abhängig von Diskursbedingungen wie Existenz, Verbreitung und Verfugung über Kommunikationsmedien, Bildung, Zensur u. dgl., die die Entfaltung von Diskursivität begünstigen oder einschränken mit einem Diskursfeld zu tun haben, in dem die einzelnen Diskurse auf spezifische Art miteinander interagieren. Mag es also forschungspragmatisch eventuell auch men, dann
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geboten sein, sich auf einen Diskurs zu konzentrieren, erscheint doch zwingend, um Einseitigkeiten zu vermeiden, die Perspektive nochmals zu erwei-
und anstatt einzelner Diskurse Diskursfelder und die Interaktion der Diskurse zu analysieren, die sich wechselseitig dynamisch antreiben. Dabei wird aus der Perspektive der Historiographie politischen Denkens besonders interessant, welche Gegensätze und Bündnisse sich bilden, denn politisches Denken als Praxis (nicht als scheinbar zeitlose Kontemplation in einem .Klassiker'-Elysium) zielt, um Wirksamkeit zu erlangen, auf ideologische Hegemonie, die die Macht, die politischen Institutionen, den Staat dominiert.18 Der Frage, wie das politische Denken Englands in den Jahrzehnten bis zur Revolution als Diskursfeld analysiert werden kann, will ich mich im Folgenden nähern; natürlich ist hier nicht mehr als eine Skizze möglich.
tern
III. Seitdem Henry VIII die Reformation, die zunächst weniger eine dogmatische Revolutionierung der Religion war, sondern vor allem auf die Abtrennung vom Papsttum zielte, unter Abstützung auf eine stark intensivierte parlamentarische Gesetzgebung durchgeführt hatte, war das Verhältnis von Krone und 18 Die Konzeption ideologischer Hegemonie wurde von .westlichen Marxisten' (dazu Anderson, Perry: Über den westlichen Marxismus, Frankfurt/M. 1978) wie Antonio Gramsci, Louis Althusser, Nicos Poulantzas und Stuart Hall ausgearbeitet: Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/M. 1980; ders.: Gedanken zur Kultur, Köln 1987; ders.: Philosophie der Praxis. Gefängnishefte 10 und 11, hrsg. v. Wolfgang F. Haug, Hamburg 1995; Kallscheuer, Otto: Antonio Gramscis intellektuelle und moralische Reform des Marxismus, in: Fetscher/Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch, Bd. 5, 1987, S. 588-600; Apitzsch, Ursula: Antonio Gramsci und die Diskussion um Multikulturalismus, in: Das Argument 34 (1992), S. 53-62; Bobbio, Noberto: Gramsci and the Concept of Civil Society, in: Keane, John (Hrsg.): Civil Society and the State. New European Perspectives, London/New York 1993, S. 73-100; Althusser, Louis: Marxismus und Ideologie, Berlin 1973; ders.: Für Marx, Frankfurt/M. 1974; ders.: Die Krise des Marxismus, Hamburg 1978; Poulantzas, Nicos u.a.: Die Poulantzas-Miliband-Kontroverse, Berlin 1976; ders.: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978; Haug, Wolfgang F.: Zwei Kapitel über ideologischen Klassenkampf, in: Das Argument 18 (1976), S. 905-935; Wood, Brennon: Stuart Hall's cultural studies and the problem of Hegemony, in: British Journal of Sociology 49 (1998), S. 399-414; Hall, Stuart: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, hrsg. v. Juha Koivisto/Andreas Merkens, Hamburg 2004.
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Parlament staatsrechtlich unklar insbesondere hinsichtlich der Kirche. hatte sich of the Church of England' erklären lassen, aber zum .Head Henry der dass unter das Parlament nur feststellte, was seit je gegolten Prämisse, habe: dass nämlich die Kirche unter dem persönlichen Supremat des Königs stand. Aber er müsste das Parlament, so stark war dessen Position als notwendig mitwirkendes Organ bei der Gesetzgebung, bei der gesetzlichen Neukonstitution der Kirche als englische Staatskirche einbeziehen. Bereits um 1470 hatte John Fortescue, dessen Texte im 16. und 17. Jahrhundert als autoritativ galten, die englische Monarchie als .Dominium politicum et regale' bezeichnet, die sich vom französischen reinen ,Domium regale' entscheidend durch die Gesetzgebung durch den ,King in Parliament' auszeichne.20 Und so -
19 Siehe für die englische Reformation: Collinson, Patrick: in: Scribner, Bob u.a. (Hrsg.): The Reformation in national context, Cambridge 1994, Text 5; ders.: The Religion of Protestants. The Church in English Society, 1559-1625, Oxford 1982; ders.: The Birthpangs of Protestant England. Religious and Cultural Change in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Basingstoke/New York 1988; ders.: English Reformations. Religion, Politics, and Society under the Tudors, Oxford 1993; Beiträge von Helen Parish und Margo Todd, in: Pettegree, Andrew (Hrsg.): The Reformation World, London/New York 2000; div. Texte in: Elton, Geoffrey Rudolph: Studies in Tudor and Stuart Politics and Government; relevante Partien in: ders.: England unter den Tudors, München 1983; ders.: Reform and Reformation. England 1509-1558, London etc. 1991; relevante Partien in: Gunn, Steven J.: Early Tudor Government, 1485-1558, New York 1995; Guy, John: Tudor England, Oxford 1988, Kap. 5-10; ders.: The Elizabethan establishment and the ecclesiastical polity, in ders. (Hrsg.): The reign of Elizabeth. Court and culture in the last decade, Cambridge 1995, Text 6; Trevor-Roper, Hugh: Religion, the Reformation, and Social Change, in: ders.: The Crisis of the Seventeenth Century, Text 1; McKenna, John W.: How God became an Englishman, in: Guth, Delloyd L/ders. (Hrsg.): Tudor Rule and Revolution, FS für Geoffrey Rudolph Elton, Cambridge (Mass.) 1982, S. 25^13; Loach, Jennifer: Parliament under the Tudors, Oxford 1991, S. 79-84, 101-107; Beiträge in: Todd, Margo (Hrsg.): Reformation to Revolution. Politics and Religion in Early Modern England, London/New York 1995; Beiträge in: Gordon, Bruce (Hrsg.): Protestant History and Identity in Sixteenth-Century Europe, 2 Bde., Aldershot 1996; Jones, Norman L.: Religion in Parliament, in: Dean, David M./ders. (Hrsg.): The Parliaments of Elizabethan England, Oxford 1990, Text 5; Beiträge von Patrick Collinson und Christopher Haigh, in: Haigh, Christopher (Hrsg.): The Reign of Elizabeth I, Basingstoke 1984; Hartley, Trevor E.: Elizabeth's Parliaments. Queen, Lords and Commons, 1559—1601, Manchester 1992, Kap. 5; Dean, David: Law-Making and Society in late Elizabethan England. The Parliament of England, 1584-1601, Cambridge 1996, Kap. 4; Ashton, Robert: Reformation and Revolution. 15581660, London 1985; Beiträge in: Tyacke, Nicholas (Hrsg.): England's Long Reformation, London 1998. 20 Fortescue, John: On the Laws and Governance of England, hrsg. v. Shelley Lockwood, Cambridge 1997; Shepard, Max Adams: The Political and Constitutional Theory of Sir John Fortescue, in: Essays in History und Political Theory, FS für Charles Howard Mcllwain, New York 1967, S. 289-319; Koenigsberger, Helmut G.: Dominium Regale or Dominium Politicum et Regale. Monarchies and Parliaments in Early Modern Europe, in: ders.: Politicians and Virtuosi. Essays in Early Modern History, London/Ronceverte 1986, Text 1; Burns, James H.: Fortescue and the Political Theory of ,Dominium', in: HJ 28, 1985, S. 777-797; Gross, Anthony: Unending Conflict: The Political Career of Sir John Fortescue, in: ders.: The Dissolution of the Lancastrian Kingship. Sir John Fortescue and the Crisis of Monarchy in Fifteenth-Century England, Stamford 1996, S. 70-90; Sandoz, Ellis: Introduction: Fortescue, Coke, and Anglo-American Constitutionalism, in: ders.
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entstand durch die Reformation die paradoxe Situation, dass die Kirche rechtlich auf Parlamentsgesetzen ruhte, gleichzeitig aber dem persönlichen Supremat des Königs unterworfen sein sollte. Edward VI, der mit 15 Jahren verstarb, war wohl nie in der Position, diesen Supremat tatsächlich auszuüben, Mary Tudor hat ihn aufgegeben, als sie die Kirche in den Schoß des Papsttums zurückführte, und Elizabeth hatte, nicht zuletzt wegen ihres Geschlechts, Schwierigkeiten, ihren Supremat durchzusetzen sie hat sich nur mehr als .Governor', nicht mehr als .Head' der Kirche bezeichnen lassen. Aber die Ambiguität blieb bestehen. Solange die Krone und die gesellschaftlichen Eliten mehr oder weniger geschlossen eine einheitliche Kirchenpolitik verfolgten, musste das nicht problematisch sein. Aber der Puritanismus, der sich seit etwa 1570 entwickelte, war nicht zu unterdrücken, so dass die Kirche, das Kirchenestablishment in die doppelte Frontstellung zwischen diesem und einem ebenso wenig zu eliminierenden Katholizismus geriet.21 Die Puri-
(Hrsg.): The Roots of Liberty, S. 1-21; siehe für Langfristdarstellungen Hinton, R. W. K.: English Constitutional Theories from Sir John Fortescue to Sir John Eliot, in: The English Historical Review (EHR) 75 (1960), S. 410-425; Hanson, Donald W.: From Kingdom to Commonwealth. The development of Civic Consciousness in English Political Thought, Cambridge (Mass.) 1970; fiir das Parlament als Organ der Gesetzgebung Goldsworthy, Jeffrey: The Sovereignty of Parliament. History and Philosophy, Oxford 1999; Elton, Geoffrey R.: Lex Terrae Victrix: The Triumph of Parliamentary Law in the Sixteenth Century, in: DeanlJones (Hrsg.): The Parliaments of Elizabethan England, Text 1. 21 Siehe Elton, Geoffrey R. (Hrsg.): The Tudor Constitution. Documents and Commentary, Cambridge 1960, Kap. 9; Frere, Walter HJDouglas, C. E. (Hrsg.): Puritan Manifestoes. A Study of the Origin of the Puritan Revolt, with a Reprint of the Admonition to the Parliament and kindred Documents, 1572, zuerst 1907, repr., London 1954; Auszug aus: Allen, William: A True, Sincere, and Modest Defence of English Catholics, 1584, in: Cressy, David/Ferrell, Lori Anne (Hrsg.): Religion and Society in Early Modern England: a Sourcebook, London/New York 1996, S. 110-113; Archbishop Bancroft's Letter Regarding Catholic Recusants, 1605, ebd., S. 132-135; Auszug aus: Bradshaw, William: English Puritanisme, containing The maine Opinions of the rigidest Sort of those that are called Puritanes in the Realme of England, 1605, ebd., S. 135-137; Bilson, Thomas: The true
Difference betweene Christian Subiection and Unchristian Rebellion: Wherein the Princes Lawfull Power to Commaund for Trueth, and Indeprivable Right to beare the Sword are defended against the Popes Censures and the Iesuits Sophisms, 1585, repr., Amsterdam/New York 1972; Powel, Gabriel (anon.): The Catholikes Supplication for Toleration of Catholike Religion, 1603, repr., Amsterdam/Norwood (N.J.) 1976; Todd, Margo: Christian Humanism and the Puritan Social Order, Cambridge 1987; Collinson, Patrick: Ecclesiastical vitriol: religious satire in the 1590s and the invention of puritanism, in: Guy (Hrsg.):
reign of Elizabeth, Text 7; Durston, Christopher/£a/ej, Jacqueline (Hrsg.): The Culof English Puritanism, 1560-1700, Basingstoke 1996; Frere, Walter H: The English Church in the Reigns of Elizabeth and James I (1558-1625), London 1924, ab Kap. 12; Lake, Peter: Anglicans and Puritans? Presbyterianism and English Conformist Thought from Whitgift to Hooker, London 1988; Burgess: Religious War and Constitutional Defence; Hill: Society and Puritanism in Pre-revolutionary England; ders.: William Perkins and the Poor (zuerst 1952), in: ders. : Puritanism and Revolution, S. 212-233; Duffy, Eamon: The Long Reformation: Catholicism, Protestantism and the multitude, in: Tyacke (Hrsg.): England's Long Reformation, Text 2; Lake, Peter/Questier, Michael: Prisons, priests and people, ebd., Text 8; Carlin, Norah: Toleration for Catholics in die Puritan The
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begrüßten die Gesetze gegen die Katholiken, leisteten aber starken Widerstand gegen Gesetze, die ihre eigene religiöse Bewegungsfreiheit beschnitten. Hatten sie zunächst gehofft, durch die Thronfolge James VI von Schottland als James I von England ihre Position verbessern zu können, weil die schottische ,Kirk' in der Tradition John Knox' presbyterianisch organisiert war und nur ein schwaches Episkopat besaß, wurden sie durch die .Hampton Court'-Konferenz als Reaktion auf ihre Massenpetition, die so genannte ,Millenary Petition', enttäuscht und mussten sehen, dass, im Gegenteil, James suchte, das schottische Kirchensystem dem hierarchischepiskopalen in England anzugleichen.22 Als Erzbischof William Laud im Jahre 1644, nach einigen Jahren Haft, angeklagt wird und man ihm seinen autoritären Episkopalismus zum Vorwurf macht, antwortet er: „If I said no Bishop no king, I had a very master for it, King James."23 Das ist wahr und doch eine Schutzbehauptung, denn zweifellos wurde die Kirchenpolitik durch Laud unter Charles I, der ihn 1633 zum Erzbischof ernannte, in autoritärer Richtung verschärft. Es gibt anhaltende Kontroversen über die Frage, ob Laud und die Gruppe um ihn als ,Arminianer' bezeichnet werden können, wie es ihre Gegner innerhalb und außerhalb der Kirche sahen, ob diesem Konflikt also eine dogmatisch-doktrinäre Differenz zugrunde lag. Die Evidenz dafür erscheint mir als schwach, so dass ich dazu neige, die Denunziation der angeblichen ,Ar-
tañer
Revolution, in: Grell, Ole Peter/Scribner, Bob (Hrsg.): Tolerance and Intolerance in the European Reformation, Cambridge 1996, Text 13. 22 Graham, Michael F.: Scotland, in: Pettegree (Hrsg.): The Reformation World, Text 23; Knox, John: On Rebellion, hrsg. v. Roger A. Mason, Cambridge 1994; Beiträge in: Mason, Roger A. (Hrsg.): John Knox and the British Reformations, Aldershot 1998, Text 7; Mullan, David G.: Episcopacy in Scotland: The History of an Idea, 1560-1638, Edinburgh 1986; Dawson, Jane: Anglo-Scottish protestant culture and integration in sixteenth-century Britain, in: Ellis, Steven GJBarber, Sarah (Hrsg.): Conquest and Union. Fashioning a British State, 1485-1725, London/New York 1995, Text 4; Wormald, Jenny: Ecclesiastical vitriol: the kirk, the puritans and the future king of England, in: Guy (Hrsg.): The Reign of Elizabeth, Text 8; Ranke, Leopold v.: Englische Geschichte, hrsg. v. Willy Andreas, Essen o.J., Buch 4, Kap. 1-2; Hill: Intellectual Origins, Kap. 16; Prothero, Sir George Walter (Hrsg.): Select Statutes and other Constitutional Documents illustrative of the Reigns of Elizabeth and James I, Oxford 1898, S. 420ff; Kenyon, John P. (Hrsg.): The Stuart Constitution, 1603-1688. Documents and Commentary, 2. Aufl., Cambridge 1986, Nrn. 39-41, Kommentar in der Einleitung, Kap. 4, Abschn. 1; CressylFerrell (Hrsg.): Religion and Society, S. 123-132, 168-172; Memorials of Affairs of State in the Reigns of Q. Elizabeth and K. James I, collected (chiefly) from the original Papers of [...] Sir Ralph Winwood, 3 Bde., London 1725, Bd. 2, Nrn. 15, 43; Sir Richard Baker: A Chronicle of the Kings of England, London, 1665 (zuerst 1643), S. 445; Frere: The English Church, Kap. 18; Gesamtdarstellungen: Lockyer, Roger: The Early Stuarts. Political History of England, 16031642, 2. Aufl., Harlow 1999, hier bes. Kap. 3; Morrill, John: The Stuarts (1603-1688), in: Guy, ¡ohn/ders.: The Tudors and the Stuarts, Oxford History of Britain, hrsg. v. Kenneth O. Morgan, Bd. 3, Oxford/New York 1992; Smith, David L.: The Double Crown. A Hisof the modern British Isles, 1603-1707, Oxford 2000, hier bes. Kap. 2, Abschn. 3. tory !3 The Manuscripts of the House of Lords, hrsg. v. Maurice F. Bond, Bd. 11 : Addenda 1514-1714, London 1962, Nr. 3641, hier S. 408.
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minianer' in der englischen Kirche als puritanische Propaganda anzusehen, durch die die Gegenseite als .Innovateure', als Apostaten vom calvinistischen Konsensus dargestellt werden konnte.24 Richtig ist, dass es eine Reihe von Tendenzen gab, den calvinistischen Konsensus aufzulockern, vor allem aber gab es die kirchenpolitische Tendenz, rigoroser gegen Dissidenten vorzugehen, als dies unter James der Fall gewesen war. Das trieb zunächst auch die Gemäßigten unter den englischen Puritanern in die Opposition, und führte im Versuch der Übertragung des englischen Kirchenmodells auf Schottland zur Rebellion der schottischen .Covenanter', zur militärischen Niederlage in dem extrem unpopulären Krieg gegen die Schotten, zur Beendigung der .personal rule', d.h. zur Einberufung des Parlaments nach elfjähriger Unterbrechung, und sodann zum politischen Zusammenbruch der Königsherrschaft in England. Auch wenn die Bezeichnung der Revolution als .puritan revolution' heute differenzierter gesehen wird, kann doch kein Zweifel sein, dass englische Puritaner, in den ersten Jahren im engen Zusammenwirken mit Glaubensbrüdern in Schottland, wesentliche ideologische Triebkraft der Revolution waren.25 Der Konflikt um die Kirche, der mindestens bis auf die Jahre 24
Geoffrey Elton hat 1990 die unkritische Übernahme der puritanischen Propaganda gegen angeblichen Arminianismus kritisiert „that mysterious entity which evades proper definition because it was really invented by Puritan controversialists of the seventeenth century and is too readily wheeled into the firing line by some modem historians", Studies, Bd. 4, Text 57, hier S. 167: Elton kritisiert u.a. Nicholas Tyacke, siehe dessen: Puritanism, -
Arminianism and Counter-Revolution, in: Todd (Hrsg.): Reformation to Revolution, S. 5370; Sharpe, Kevin: Archbishop Laud, ebd., S. 71—77, bestreitet, dass Laud ,Arminianer' war; siehe auch White, Peter: The Via Media in the Early Stuart Church, ebd., S. 78-94; Lake, Peter: Calvinism and the English Church. 1570-1635, ebd., S. 179-207, betont dagegen die doktrinären Differenzen; weiter kritisiert Elton: Hugh Trevor-Roper, siehe dessen: Laudianism and Political Power, in: ders.: Catholics, Anglicans and Puritans, Text 2; siehe auch den Auszug aus Prynne, William: Anti-Arminianism, 1630, in: Woodhouse, Arthur S. P. (Hrsg.): Puritanism and Liberty. Being the Army Debates (1647-1649) from the Clarke Manuscripts with Supplementary Documents, 3. Aufl., London/Melbourne 1986, S. 232f.; White, Peter: Predestination, policy and polemic. Conflict and consensus in the English Church from the Reformation to the Civil War, Cambridge 1992. 25 Siehe Laud, William: A Speech concerning Innovations in the Church, 1637, repr., Amsterdam/New York 1971; Kenyon (Hrsg.): Stuart Constitution, Nr. 50; siehe für eine parlamentarische Sichtweise: May, Thomas: The History of the Parliament of England, which began November 3, 1640, with a short and neccesary View of some precedent Years, Oxford 1854 (zuerst 1647), ab Kap. 2; für eine moderat royalistische Edward Hyde, First Earl of Clarendon: Selections from ,The History of the Rebellion' and ,The Life by Himself, hrsg. v. Gertrude Huehns, Oxford 1978, Abschn. 10-15; siehe dazu Christopher Hill: Lord Clarendon and the Puritan Revolution, in: ders.: Puritanism and Revolution, S. 197-211; eine interessante Tagebuchquelle ist: The Diary of Bulstrode Whitelocke. 1605-1675, hrsg. v. Ruth Spalding, Oxford 1990; Hutton, William H.: The English Church, from the Accession of Charles I to the Death of Anne (1625-1714), zuerst 1903, London 1934, Kap. 1-7; Anonymus (T. H.): The Beautie of the Remarkable Yeare of Grace, 1638. The Yeare of the Great Covenant of Scotland, Edinburgh 1638; TrevorRoper, Hugh: The Fast Sermons of the Long Parliament, in: ders.: The Crisis of the Seventeenth Century, Text 6; ders.: ScoÜand and the Puritan Revolution, ebd., Text 8; Mullan: Episcopacy in Scotland, Kap. 9, 10; Stevenson, David: The Early Covenanters and the
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1570 zurückging, brach hier auf. Dabei standen sich diskursiv gegenüber: ein hierarchisches Kirchenestablishment, das das von James in Reaktion auf George Buchanan und andere calvinistische Monarchomachen entwickelte ,Divine Right of Monarchy' propagierte, unter dessen Schutz es seine Macht ausübte26, und puritanische Strömungen, die die Kirche nach mehr oder weniger ausgeprägt demokratischen Modellen reorganisieren wollten. Später differenzierte sich dieses Lager in Presbyterianer, die, unterstützt von den schottischen Presbyterianern, eine straff organisierte Staatskirche unter klerikaler Führung anstrebten, ,Erastianer', die die Kirche der Politik unterstellen und mehr Toleranz gestatten wollten, und Kongregationalisten, die von der Selbstorganisation der Gemeinden ausgingen. Daneben breiteten sich in der Ordnungslosigkeit des Bürgerkrieges separatistische Sekten aus, die es als clandestine, verfolgte Gruppen seit der Zeit Elizabeth' gab. Bis etwa 1644
um
Federal Union of Britain, in: Mason, Roger A. (Hrsg.): Scotland and England. 1286-1815, Edinburgh 1987, Text 8; Brown, Keith M.: Scottish identity in the seventeenth century, in: Bradshaw, Brendan/Roberts, Peter (Hrsg.): British consciousness and identity. The making of Britain, 1533-1707, Cambridge 1998, Text 8; Lockyer: The Early Stuarts, S. 70-73, Kap. 10-13; Smith: Double Crown, Kap. 3-5; Scott, Jonathan: England's Troubles. Seventeenth-Century Political Instability in European Context, Cambridge 2000; siehe zu Charles I die Texte 3 u. 5, in: Sharpe: Politics and Ideas; Todd: Christian Humanism, Kap. 7; Reeve, John: Secret alliance and Protestant agitation in two kingdoms: the early Caroline background to the Irish rebellion of 1641, in: Gentles u.a. (Hrsg.): Soldiers, writers and statesmen, Text 1; Cressy, David: Conflict, Consensus and the Willingness to Wink: The Erosion of Community in Charles I's England, in: Huntington Library Quarterly 61 (2000), S. 131-149; Russell, Conrad: The Fall of the British Monarchies, 1637-1642, Oxford 1991; ders.: England in 1637, in: Todd (Hrsg.): Reformation to Revolution, S. 116-141; Pocock, John G. A.: The Atlantic Archipelago and the War of the Three Kingdoms, in: Bradshaw, Brendan/Mom//, John (Hrsg.): The British Problem, c. 1534-1707. State Formation in the Atlantic Archipelago, Basingstoke 1996, Text 7. 26 James VI and I: Political Writings, hrsg. v. Johann P. Sommerville, Cambridge 1994; Elton, Geoffrey R.: Studies, Bd. 2, Text 30; Mason, Roger A.: Rex Stoicus: George Buchanan, James VI and the Scottish Polity, in: Dwyer, John u.a. (Hrsg.): New Perspectives on the Politics and Culture of Early Modern Scotland, Edinburgh 1982, Text 1; Burns, J. H.: George Buchanan and the anti-monarchomachs, in: Phillipson/Skinner (Hrsg.): Political Discourse in Early Modern Britain, Text 1; Ottow, Raimund: Protestantische Widerstandstheorie in England und Schottland: Gottes Gebot und die Souveränität des Volkes, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 56 (2004), S. 193-221; Hill: Intellectual Origins, Kap. 16; Atwood Judson, Margaret: The Crisis of the Constitution. An essay in constitutional and political thought in England, 1603-1645 (zuerst 1949), New Brunswick/London 1988, Kap. 5; Plamenatz, John: Man and Society. A critical examination of some important social and political theories from Machiavelli to Marx, 2 Bde., London 1963, Kap. 5; Sommerville, Johann P.: Politics and Ideology, Kap. \;ders.: James I and the Divine Right of Kings: English Politics and Continental Theory, in: Levy Peck, Linda (Hrsg.): The Mental World of the Jacobean Court, Cambridge 1991, Text 4; Burgess, Glenn: The Divine Right of Kings Reconsidered, in: EHR 107, 1992, S. 837-861; ders.: Absolute Monarchy, Kap. 4; Russell, Conrad: Divine Rights in the Early Seventeenth Century, in: Morrill, John u.a. (Hrsg.): Public Duty and Private Conscience in SeventeenthCentury England. FS für Gerald E. Aylmer, Oxford 1993, Text 7.
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aber bildeten diese Strömungen eine gemeinsame puritanische Front gegen den Die Kirche war nicht nur ein eindrucksvoller Machtapparat, sondern auch und im vorliegenden Zusammenhang bedeutungsvoller die größte Propagandamaschinerie der Zeit mit Dependenzen in allen etwa 10 000 Kirchgemeinden in England und Wales (die nicht alle einen eigenen Pastor, aber mindestens einen Kurator und Hilfspersonal hatten).28 Aber dieser Apparat war nur begrenzt vom Zentrum her kontrollierbar: Puritaner bildeten eigene Zirkel, waren in einigen Städten dominant und behielten trotz der Säuberungen unter den Erzbischöfen von Canterbury (die gegenüber jenem von York den Primat hatten) John Whitgift, 1583-1604, Richard Bancroft, 1604-1610, und Laud George Abbott, 1611-1633, war toleranter, wurde aber nach der Thronfolge von Charles I an den Rand gedrängt einen gewissen Einfluss auf den Klerus. Dabei spielte das Patronatsrecht von Landeigentümern und Städten eine Rolle, deren Kandidaten zwar von der Kirche genehmigt werden mussten, die aber zweifellos auf die Besetzung von Pfarrstellen Einfluss nahmen. Weder in der Bevölkerung im Ganzen noch im Parlament bildeten die ausgesprochenen Puritaner jemals eine Mehrheit. Die schroffe Machtund Disziplinierungspolitik der Gruppe um Laud aber führte nicht nur zu Spaltungen in der Kirche bis in den Episkopat, sondern ermöglichte auch den Puritanern im Unterhaus den Aufbau einer Position potentieller Mehrheitsfähigkeit, während sie im Oberhaus nur über eine Minderheitsgruppe enthusiastischer Unterstützer verfügten. Durch die Entfernung der Bischöfe aus dem Oberhaus im Februar 1642, die durch taktische Fehler der Bischöfe mit bedingt war, verlor der König entscheidend Einfluss auf den Gang parlamentarischer Beratung und Beschlussfassung, die Aussicht auf eine baldige Revision der Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten, und sie zwang ihn dazu, den Bürgerkrieg zu eröffnen, wenn er sich nicht zum bloß symbolischen Herrscher erniedrigen lassen wollte. Staatstheoretisch brachen seine Gegner mit dem traditionellen ständischen Parlamentsmodell, in dem die .Lords spiritual' gemeinhin den ersten von drei Parlamentsständen gebildet hatten,
Episkopalismus.27
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27
Gardiner, Samuel Rawson (Hrsg.): The Constitutional Documents of the Puritan Revolution, 1628-1660, Oxford 1889, Nm. 49-51; Kenyon (Hrsg.): Stuart Constitution, Nr. 76; Anordnungen v. 9.6.1643, 19.7.1643, 16.2.1644, 16.4.1644, in: Firth, Charles H./Rait, Robert S. (Hrsg.): Acts and Ordinances of the Interregnum, 1642-1660, 3 Bde., 1911, repr., Abingdon 1982, Bd. 1; Jordan, Wilbur K.: The Development of Religious Toleration in England, Bd. 3: From the Convention of the Long Parliament to the Restoration, 16401660. The Revolutionary Experiments and Dominant Religious Thought, London 1938; Sirluck, Ernest: Einführung zu: Complete Prose Works of John Milton, New Haven/ London Bd. 2: 1643-1648, 1959; Holier, William: Commentary, in: ders. (Hrsg.): Tracts on Liberty in the Puritan Revolution, 1638-1647, 3 Bde., New York 1934, Bd. 1; Cowan, Edward J.: The Solemn League and Covenant, in: Mason (Hrsg.): Scotland and England, 9. Text 28
Haigh: English Reformations, S. 275.
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über denen die Krone stand und ersetzten es durch das Mischverfassungsmodell humanistisch-republikanischer Tradition, in dem die Krone (Monarchie) mit Oberhaus (Aristokratie) und Unterhaus (Demokratie) nurmehr auf gleicher Ebene stand, mit denen sie sich koordinieren' müsste. Dass der König in seiner Answer to the XIX Propositions of Parliament dieses Modell unter dem Einfluss moderater Berater akzeptierte, wurde für die staatstheoretische Diskussion bis zum Ende des Jahrhunderts bedeutsam.30 ,
IV. Zeitlich verzögert zur Entwicklung des Konflikts zwischen Puritanern und Kirchenestablishment verschärften sich in der Zeit ab ca. 1590 die Konflikte zwischen dem ,Common Law' und der Kirchenjurisdiktion, die eine lange Vorgeschichte hatten. Instruktiv ist bereits die Kontroverse zur Zeit der Reformation zwischen Thomas More, der als Lordkanzler zwischen 1529 und 1532 die Verfolgung der protestantischen Häresie verschärfte, und dem bedeutenden Common Lawyer' Christopher Saint German, der in einer Schrift von 1528 für die Subsumtion der Kirchengerichtsbarkeit unter das ,Common Law' plädierte und danach die Unrechtlichkeit der Verfahren gegen die ,Häretiker' kritisierte.31 Besonders der so genannte ,Oath ex officio', der vor ,
29
Siehe Kurt Kluxen:
8. Kap. 30
Englische Verfassungsgeschichte: Mittelalter, Darmstadt 1987,
hier
Die ,Answer' in: Wootton, David (Hrsg.): Divine Right and Democracy. An Anthology of Political Writing in Stuart England, Harmondsworth 1986; Kenyon (Hrsg.): Stuart Constitution, Nr. 9, 68; Malcolm (Hrsg.): Struggle for Sovereignty, Bd. 1; Nippel, Wilfried: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980; Comstock Weston, Corinne: English Constitutional Theory and the House of Lords. 1556-1832, London 1965, Kap. 1, 2; dies.IRenfrow Greenberg, Janelle: Subjects and Sovereigns. The Grand Controversy over Legal Sovereignty in Stuart England, Cambridge 1981, Kap. 4; Mendie, Michael: Dangerous Positions. Mixed Government, the Estates of the Realm and the Making of the Answer to the XIX Propositions, University of Alabama Press 1985. Zu den wichtigsten Beiträgen zu dieser Debatte zählen: Parker, Henry (anon.): Observations upon some of his Majesties late Answers and Expresses, 1642, repr. in: Haller (Hrsg.): Tracts on Liberty, Bd. 2, S. 167-213; ders. (anon): A Political Catechism, or Certain Questions concerning the Government of this Land, answered in his Majesties own words, taken out of His Answer to the Nineteen Propositions [...], with some brief Observations thereupon, 1643, in: Comstock Weston: English Constitutional Theory, siehe
oben, App.; Hunton, Philip:
A Treatise of Monarchy, 1643, in: Wootton (Hrsg.): Divine Right and Democracy, S. 175-216. Die wichtigsten Texte hier sind: Saint German's .Doctor and Student', hrsg. v. Theodore F. T. Plucknettßohn L. Barton, London 1974; More: The Apology of Sir Thomas More, in: The Complete Works of St. Thomas More, Bd. 9, hrsg. v. J. B. Trapp, New Haven/London 1979; Saint German: Treatise concernynge the division betwene the spirytualtie and temporaltie, ebd., App. A; ders.: A dialogue between Salem and Bizance, in: The Complete Works of St. Thomas More, Bd. 10, hrsg. v. John A. Guy u.a., New Haven/London 1987, App. B; More, Thomas: The Debellation of Salem and Bizance, ebd., dort auch die Einführung von John A. Guy: Christopher Saint German on Chancery and Statute, London 31
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Kirchengerichte
Geladene pauschal dazu verpflichtete, auf alle ihnen noch unbekannten Fragen wahrheitsgemäß zu antworten, so dass sie eventuell gezwungen waren, sich selbst anzuklagen, wurde bereits zur Zeit der Reformation und dann auch von den Puritanern des späten 16. und 17. Jahrhunderts und ihnen nahe stehenden Juristen angegriffen.32 1985, dort auch die Einführung; Saint German: An Answer to a Letter, London 1535, repr., Amsterdam/New York 1973; siehe zu Saint German und More: Chrimes, Stanley B.: English Constitutional Ideas in the Fifteenth Century, Cambridge 1936, repr., New York 1978, S. 203ff; Hanson, Donald W.: From Kingdom to Commonwealth. The development of Civic Consciousness in English Political Thought, Cambridge (Mass.) 1970, Kap. 8; Doe, Norman: Fundamental Authority in late medieval English Law, Cambridge 1990, pass.; Guy, John A.: Law, Equity, and Conscience in Henrician Juristic Thought, in: Reformation, Humanism, and Revolution. Papers presented at the Folger Institute Seminar .Political Thought in the Henrician Age, 1500-1550', hrsg. v. Gordon J. Schochet, Washington 1990, S. 1-15; ders.: The Public Career of Sir Thomas More, Brighton 1980; ders.: Thomas Cromwell and the intellectual origins of the Henrician revolution, in: ders. (Hrsg.): Tudor Monarchy, London etc. 1997, Text 8, S. 213-233; ders.: Thomas More and Christopher Saint German: The Battle of the Books, in: Fox, Alistair/cfers. (Hrsg.): Reassessing the Henrician Age, Humanism, Politics and Reform. 1500-1550, Oxford/New York 1986, Text 5, S. 95-120; Fox, Alistair: Facts and Fallacies: Interpreting English Humanism, ebd., Text 1, S. 9-33; ders.: Thomas More. History and Providence, New Haven/London 1983, Kap. 7; Burgess: The Politics of the Ancient Constitution, schlägt einen Bogen von Saint German zur frühen Stuart-Zeit, siehe bes. Kap. 2; Brooks, Christopher W.: The Place of ,Magna Carta' and the ,Ancient Constitution' in Sixteenth-Century English Legal Thought, in: Sandoz (Hrsg.): The Roots of Liberty, Text 2, S. 57-88, hier bes. S. 61f.; Tubbs: Common Law Mind, Kap. 4; Walters, Mark D.: St German on Reason and Parliamentary Sovereignty, in: Cambridge Law Journal 62 (2003), S. 335-370; siehe auch Ivés, Eric W.: The Common Lawyers of Pre-Reformation England. Thomas Kebell: A Case Study, Cambridge (UP) 1983; Gunn: Early Tudor Government, Kap. 2. 2 Siehe: The Commons' Supplication against the Ordinaries, 1532, in: Elton (Hrsg.): The Tudor Constitution, Nr. 170; siehe auch ders.: Studies, Bd. 2, Text 25; Morice, James: A briefe Treatise of Oathes, exacted by Ordinaries and Ecclesiastical Iudges, to answere generallie to all such Articles or Interrogatories, as pleaseth them to propound. And of their forced and constrained ,Oathes ex officio', wherein is proved the same are unlawfull, 1591, Neudruck 1600, o.O.; Proceedings in the Parliaments of Elizabeth I, hrsg. v. Trevor E. Hartley, 3 Bde., Leicester, Bd. 3, 1995, S. 33-49, 76-78; D 'Ewes, Sir Simonds: The Journals of all the Parliaments during the Reign of Queen Elizabeth, 1682, repr., Shannon 1973, S. 474-479; Cosin, Richard: Conspiracy for Pretended Reformation, 1591, dann in Paule, George: The Life of John Whitgift, Archbishop of Canterbury in the Times of Q. Elizabeth and K. James I, London 1699, S. 178; ders.: An Apologie for sundrie Proceedings by Jurisdiction ecclesiasticall, London 1593, Teil 3; Präzedenzfalle: Cawdrey's Case, in: Tanner, Joseph R. (Hrsg.): Tudor Constitutional Documents, A.D. 1485-1603, with historical commentary, Cambridge 1922, S. 372f; Elton (Hrsg.): The Tudor Constitution, Nrn. 104, 166; Dighton & Holts Case, in: Sir George Croke: The Second Part of the Reports of Sir George Croke, [...] of such select Cases as were adjudged [...] during the whole
Reign of the late King James, revised and published in English by Sir Harbottle Grimston, 3. Aufl., 1683 (zuerst 1659), S. 388; siehe auch: Of Oaths before an Ecclesiastical Judge ex Officio, in: The Reports of Edward Coke, newly revised by George Wilson, 7 Bde., Dublin 1793, hier Bd. 7, Teil 12; Edwards' Case, ebd., Teil 13; Jacob, Henry (anon.): An Humble Supplication for Toleration and Libertie, 1609, repr., Amsterdam/Norwood (NJ) 1975, S. 37; Greville-Lord Brooke, Robert: A Discourse Opening the Nature of that Episcopacie, which is Exercised in England, 1641, dann in: Haller (Hrsg.): Tracts on Liberty, Bd. 2, S. 35-163, hier S. 60; Kommentare von Frere: The English Church, Kap. 20; Thompson,
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langen Herrschaft Elizakonsolidieren beth' zu einem starken Machtapparat konnte, ruhte seine Jurisdiktion doch auf höchst unsicheren Fundamenten, denn die Reformation hatte das alte Kirchenrecht für ungültig erklärt, soweit es mit dem weltlichen Recht kollidierte, und die .Common Lawyer' nahmen, nicht unplausibel, für sich das Recht in Anspruch, das weltliche Recht und also die Abweichung der Kirchenjurisdiktion zu definieren. Damit aber wurden sie, im Gegensatz zu einer grundlegenden Rechtsnorm, gewissermaßen zu Richtern in eigener Sache, denn Prosperität und Status des ,Common Law' konnten von einer Beschneidung und Zurückdrängung der Kirchenjurisdiktion nur profitieren. Erzbischof Bancroft hat denn auch in einem berühmten Konflikt 1607 an James I als Schiedsrichter zwischen den kollidierenden Jurisdiktionen appelliert. Edward Coke, zu dieser Zeit Oberrichter des ,Court of Common Pleas' und ein führender ,Common Lawyer' der Zeit, berichtet darüber in einem posthum publizierten ,Law-Report'.33 Demnach vertrat Bancroft die Auffassung, der König könne jeden Streitfall an sich ziehen und selbst entscheiden, denn die Richter seien „but the delegates of the king", während Coke dagegen eine persönliche Mitwirkung des Königs an der Jurisdiktion, die formell Wenn das kirchliche Establishment sich unter der
Magna Carta. Its Role in the Making of the Constuitution, 1300-1629, Minneapolis 1948, S. 205-227, 256-267, siehe auch App. G; Gray, Charles M.: Prohibitions and the privilege against self-incrimination, in: Guth/McKenna (Hrsg.): Tudor Rule and Revolution, S. 345-67; Guy:- The Elizabethan establishment and the ecclesiastical polity; Ingram, Martin: Puritans and the Church Courts, 1560-1640, in: DurstoniEales (Hrsg.): The Culture of English Puritanism, Text 2; siehe zum Kirchenrecht in England: Baker, John H: An Introduction to English Legal History, 2. Aufl., London 1979, Kap. 8; Helmholz, Richard H.: Canon Law and English Common Law. Seiden Society Lecture, London 1983; ders.: Roman Canon Law in Reformation England, Cambridge 1990, hier bes. S. 104ff. 33 Siehe Coke: Prohibitions del Roy; Premuniré; Nicholas Fuller's Case; Lady Throgmorton's Case; Of Convocations; Sir William Chancey's Case; High Commission, in: The Reports of Edward Coke, Bd. 7, Teil 12; Porter & Rochester's Case; The Case ,De Modo Decimandi', ebd., Teil 13; .Prohibitions del Roy' auch in: Keir, Sir David L./Lawson, F. H.IBentley, David J.: Cases in Constitutional Law, 6. Aufl., Oxford 1979; Kenyon (Hrsg.): The Stuart Constitution, Nr. 28, siehe auch die Einleitung, Kap. 4, Abschn. 3; The Struggle for Sovereignty. Seventeenth-Century English Political Tracts, 2 Bde., hrsg. v. Joyce L. Malcolm, Indianapolis 1999, Bd. 1; siehe für eine etwas frühere Kirchensicht Cosin: An Apologie for sundrie Proceedings, Teil 1, Kap. 17, 18; Kommentare des Königs zu dieser Problematik in Reden von 1610 und 1616, in James VI and I: Political Writings, Thompson: Magna Carta, S. 256-267. Siehe zu Coke: Sabine, George H.: A History of Political Theory, 3. Aufl., New York etc. 1961, S. 451-454; Gough, John W.: Fundamental Law in English Constitutional History, 1955, repr., Littleton (Col.) 1985, Kap. 3; Hill: Intellectual Origins, Kap. 5, 9; Gray, Charles: Reason, Authority, and Imagination: The Jurisprudence of Sir Edward Coke, in: Zagorin, Perez (Hrsg.): Culture and Politics. From Puritanism to the Enlightenment, Berkeley etc. 1980, Text 2; Stoner, James R. (Jr.): Common Law and Liberal Theory. Coke, Hobbes, and the Origins of American Constitutionalism, Lawrence Kansas 1992, Teil 1; die Beiträge von Ellis Sandoz, Paul Christianson, John Phillip Reid und Corinne Comstock Weston, in: Sandoz (Hrsg.): The Roots of Liberty; Burgess: Absolute Monarchy, Kap. 6; eine unbrauchbare Hagiographie ist: Hostettler, John: Sir Edward Coke. A Force for Freedom, Chichester 1997. Faith:
etc.
Die
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in seinem Namen ausgeübt wurde, ausschloss, denn Recht „ought to be determined and adjudged in some court of justice according to the law and custom of England." Als der König einwandte, „that he thought the law was founded upon reason, and that he and others had reason, as well as the judges", antwortete Coke, „that true it was that God had endowed his Majesty with excellent science and great endowments of nature, but his Majesty was not learned in the laws of his realm of England, and causes which concern the life, or inheritance, or goods, or fortunes of his subjects are not to be decided by natural reason but by the artificial reason and judgement of law, which law is an act which requires long study and experience before a man can attain to the cognisance of it [...] With which the king was greatly offended, and said that then he should be under the law." Coke vertrat damit eine spezifische Variante von .Herrschaft des Rechts', die sich gewissermaßen in den Arcana einer Jurisprudenz verbirgt, die das Interpretationsmonopol für ein nicht systematisiertes, nicht kodifiziertes und gleichsam nur in der kollektiven Auslegung durch die Spitzen der Profession Kohärenz gewinnendes Recht beansprucht. Insofern sich beginnend im Spätmittelalter neben dem .Common Law' eine separate Billigkeits-(,Equity')-Rechtsprechung entwickelt hatte (.Court of Chancery' unter Leitung des Kanzlers bzw. des Großsiegelbewahrers; .Court of Requests' für Klagen minderen Streitwertes)34, und insofern es neben den Kirchengerichten noch andere Gerichte gab (vor allem den ,Court of the Admiralty' für Streitfälle, die in Übersee oder auf hoher See ihren Ursprung hatten), die römisches Recht anwandten35, und insofern die regionalen Prä-rogativgerichte sowie der als Gericht tagende Kronrat (,Court of Star Chamber') außerhalb der regulären ,Common Law'-
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Siehe Baker: An Introduction to English Legal History, Kap. 4; Doe: Fundamental Authority, Kap. 4, 6; Guy, John A.: The Development of Equitable Jurisdictions, 1450-1550, sowie: Wolsey, the Council and the Council Courts, in: ders.: Politics, Law and Counsel in Tudor and Early Stuart England, Aldershot etc. 2000, Texte 1, 4; Metzger, Franz: The last Phase of the medieval Chancery, in: Harding, Alan (Hrsg.): Law-making and Law-Makers in British History, London 1980, S. 79-89. 35 Siehe für römisches Recht in England und sein Verhältnis zum ,Common Law': Kelley, Donald R.: The Human Measure. Social Thought in the Western legal Tradition, Cambridge (Mass.)/London 1990, Kap. 10; ders.: History, English Law and the Renaissance, in: Past and Present (P&P) 65 (1974), S. 24-51; dagegen Kevin SAarpe/Christopher Brooks: History, English law and the Renaissance, in: Sharpe: Politics and Ideas, Text 6; Stein, Peter: The Character and Influence of the Roman Civil Law. Historical Essays, London/Ronceverte 1988, Texte 3, 11, 13-15; Levack, Brian P.: The Civil Lawyers in England, 1603-1641. A Political Study, Oxford 1973; Coing, Helmut: Das Schrifttum der englischen
Civilians und die kontinentale Rechtsliteratur in der Zeit zwischen 1550 und 1800, in: lus Commune, Bd. 5, hrsg. v. Helmut Coing, Frankfurt/M. 1975, S. 1-55; Coquillette, Daniel R.: The Civilian Writers of Doctors' Commons, London. Three Centuries of Juristic Innovation in Comparative, Commercial and International Law, Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History, Bd. 3, Berlin 1988.
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Gerichtsbarkeit standen scheint hier ein grundsätzliches Problem auf: Wer sollte diese Jurisdiktionen voneinander abgrenzen, die Abgrenzungen kontrollieren und Kollisionen schlichten? Coke hat, mit einem starken Machtinstinkt, diese Kompetenz für die Obergerichte des ,Common Law' beansprucht und ist in einem gleichfalls berühmten Konflikt, 1616, sogar so weit gegangen, den Kanzler, Thomas Egerton-Lord Ellesmere, mit Gefängnis zu bedrohen.37 Als die ,Chancery' ein Urteil der .King's Bench' revidierte und den Unterlegenen, der dieses Urteil ignorierte, inhaftierte, gelangte der Fall durch eine ,Habeas Corpus'-Klage wieder in die ,King's Bench', wo Coke ,
36
Baker: An Introduction to English Legal History, Kap. 7; Elton (Hrsg.): Tudor Constitution, Kap. 6; Guy, John A.: The Court of Star Chamber and its records to the reign of Elizabeth I, Public Record Office Handbooks, No. 21, London 1985; Barnes, Thomas G.: Mr Hudson's Star Chamber, in: Guth/McKenna (Hrsg.): Tudor Rule and Revolution, S. 285-308; Somerville, Robert: The Palatinate Courts in Lancashire, in: Harding (Hrsg.): Law-making and Law-Makers, S. 54-63; Roberts, Peter: The English Crown, the principality of Wales and the Council in the Marches, 1534-1641, in: BradshawlMorrill (Hrsg): The British Problem, Text 5; Baker, John H: The Oxford History of the Laws of England, Bd. 6: 1483-1558, Oxford 2003, Kap. 9-11. 37
Bryson,
William H.
(Hrsg.):
Cases
concerning Equity
and the Courts of Equity 1550-
1660, Seiden Society, 2 Bde., London 2001, Bd. 1, Nr. 174; Bd. 2, Nrn. 188, 192, 193, 206, 220, 221, 226, 230, 231, 233, 235, 237, 240, 241, 244. Siehe für Konflikte zwischen ,Common Law'-Gerichten und anderen weltlichen Gerichten: The Case of the Lords Presidents of Wales and York; Admiralty; Empringham's Case; Thomlinson's Case, in: The Reports of Edward Coke, Bd. 7, Teil 12; Heath vs. Rydley; Courtney vs. Glanvil; Penson vs. Cartwright; Violet vs. Blague, in: The Second Part of the Reports of Sir George Croke; Thomas Adams vs. Lord Warden of the Stanneries; Powel vs. Sheen; Seeles & others; John Parkers Case, in: Croke, George: The Third Part of the Reports of Sir George Croke, [...] of
adjudged [...] during the first sixteen Years of King Charles the published in English by Sir Harbottle Grimston, 3. Aufl., London 1683 (zuerst 1657); Bacon, Francis: The Arguments on the Jurisdiction of the Council of the Marches, 1608, The Works of Francis Bacon, hrsg. v. James Spedding u.a., 14 Bde., London 1857-1874, repr., Stuttgart-Bad Cannstatt, 1963ff., Bd. 7, S. 567-611; ders.: A View of the Differences in Question betwixt the King's Bench and the Council in the Marches, ca. 1606, ebd., Bd. 10, S. 368-382; Knafla, Louis A.: Law and Politics in Jacobean England. The Tracts of Lord Chancellor Ellesmere, Cambridge 1977; Kenyon (Hrsg.): Stuart such select Cases First, revised and
as were
Constitution, Nr. 31; Jones, W. J.: Ellesmere and Politics, 1603-1617, in: Reinmuth, Howard S. (Hrsg.): Early Stuart Studies. FS für David Harris Willson, Minneapolis 1970, S. 1163; weiterhin Thompson: Magna Carta, S. 134; Baker, John H.: The Common Lawyers and the Chancery: 1616, in: ders.: The Legal Profession and the Common Law. Historical Essays, London/Ronceverte 1986, Text 13; siehe zum englischen Rechtssystem und seinen Konflikten William Lombarde: Archaion, or A Discourse upon the High Courts of Justice in England, hrsg. v. Charles Howard McllwainlPauX L. Ward, Cambridge (Mass.) 1957, ein Text, der auf die Zeit um 1590 zurückgeht, aber erst 1635 gedruckt wurde; Crompton, Richard: L'Authoritie et Iusrisdiction des Courts de la Maiestie de la Roygne, London 1594; Ogilvie, Sir Charles: The King's Government and the Common Law, 1471-1641, Oxford 1958; Baker: An Introduction to English Legal History; ders.: Einführung zu: The Reports of Sir John Spelman, hrsg. v. John H. Baker, 2 Bde., London 1978, Bd. 2; ders.: English Law and the Renaissance, in: ders. : The Legal Profession, siehe oben, Text 23; ders.: Einführung zu: Reports from the lost Notebooks of Sir James Dyer, hrsg. v. John H. Baker, 2 Bde., London 1994, Bd. 1; Gray, Charles M.: Parliament, Liberty, and the Law, in: Hexter, Jack H. (Hrsg.): Parliament and Liberty, from the Reign of Elizabeth to the English Civil War, Stanford UP 1992, Text 5, S. 155-200.
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entschied, dass die ,Chancery' ein gültiges Urteil eines obersten .Common
Law'-Gerichts nicht überdeterminieren könne und genehmigte eine Anklage nach dem .Writ of Praemunire' gegen die .Chancery'. Dieses Rechtsinstruim Spätmittelalter als Waffe gegen Einmischungen der römischen Curie in englische Rechtsvorgänge entwickelt worden, es verbot die Berufung einer Streitpartei an ein ausländisches Gericht und belegte dieses Vergehen mit schweren Strafen.38 Seit der Reformation, die dieses Problem gelöst hatte, wurde es gelegentlich noch benutzt, um die englischen Kirchengerichte einzuschüchtern, aber diese Waffe gegen das Gericht des Kanzlers einzusetzen ist sachlich absurd und zeigt, mit welch harten Bandagen Coke den Machtanspruch des ,Common Law', alle übrige Jurisdiktion zu kontrollieren, durchsetzen wollte. In Reaktion darauf hielt der König eine Grundsatzrede vor der versammelten Richterschaft, in der er erklärte: „The Chancerie is independent of any other Court, and is onely under the King [...] I must confesse [...] it grieved me very much, that it should be said in Westminster Hall, that a Premuniré lay against the Court of the Chancery and Officers there: How can the King grant a Premuniré against himselfe? It was a foolish, inept, and presumptuous attempt [...]. And therefore I was greatly abused in that attempt [...]. And therefore sitting heere in a seat of Iudgement, I declare and command, that no man hereafter presume to sue a Premuniré against the Chancery."39 Coke wurde seines Amtes enthoben, aber damit begann seine späte parlamentarische Karriere als juristisches Orakel der parlamentarischen Opposition.40 1621 unterstützte er das .Impeachment' gegen seinen langjährigen Rivalen, Lordkanzler Francis Bacon.41 Das letzte .Impeachment' vor 1621 hatte es 1451 gegeben, es wurde nun zu einer scharfen Waffe der parlamentarischen Opposition. Die These oder, nach Pocock, .Sprache' der .Ancient Constitution' stellt eine bestimmte Auslegung des .Common Law' der Zeit unter politischen ment war
38
McKisack, May: The Fourteenth Century. 1307-1399, The Oxford History of England, Bd. 5, Oxford 1959, Kap. 10; Select Documents of English Constitutional History. 13071485, hrsg. v. Stanley B. C/iWmes/Alfred L. Brown, London 1961, Nm. 64, 71, 83, 139, 145. Interessant zur Vorgeschichte dieser Gesetze ist ein Fall in: Select Cases before the King's Council: 1243-1482, hrsg. v. Isaac S. Leadamß. F. Baldwin: Seiden Society, Cambridge (Mass.) 1918: The Bishop of Sabina vs. Bedewynde, 1307, siehe dort die Einfuhrung von Baldwin, S. lvi-lxv. 39 James VI and I: Political Writings, S. 214f. 40 Siehe White, Stephen D.: Sir Edward Coke and the Grievances of the Commonwealth, Manchester 1979. 41 A Collection of the Proceedings in the House of Commons against the Lord Verulam, Viscount St. Albans, Lord Chancellor of England, London 1621; Coquillette, Daniel R.: Francis Bacon, Edinburgh 1992, hier bes. S. 219ff.; Powell, Damián X.: Why was Sir Francis Bacon Impeached? The Common Lawyers and the Chancery Revisited: 1621, in: History 81 (1996), S. 511-526; siehe auch Chavanat, Ghislaine: Bacon, Juriste et l'Art du Gouvernement, in: Schnur, Roman (Hrsg.): Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986, S. 437-453.
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Gesichtspunkten dar, und das .Common Law' war, durch seine jahrhundertealte Tradition, durch die Etablierung der ,Inns of Chancery' und der .Inns of Court' als Ausbildungsstätten seit dem frühen 14. Jahrhundert und durch die Tatsache, dass generell mindestens einer der Söhne von Adel und .Gentry' zu einem der .Inns' geschickt wurde vielfach weniger mit der Absicht späterer professioneller Rechtspraxis, sondern um Rechtskenntnisse als Landbesitzer und ehrenamtlicher Administrator, vielleicht auch gesellschaftlichen Schliff -
und Kontakte zu erwerben -, selbst außerordentlich gut unter den Eliten des Landes verankert.42 Der Kampf um die Hegemonie politischer Deutung im Zuge der Zuspitzung des Konflikts zwischen Krone und Opposition43 musste sich daher auch als Kampf um das .Common Law' und seine Institutionen darstellen. Die professionellen .Common Lawyer' dürften nach den Geistlichen die größte Gruppe von Intellektuellen (definiert als jene, deren Tätigkeit auf Bildung und Geistesarbeit beruht) gewesen sein um 1600 ca. 2 00044 -, eine Gruppe zudem, die durch die .Inns' und durch das hierarchische Gerichtswesen als gut organisiert gelten kann, die über Zentren und Autoritäten verfügte: kontroverse Rechtsfragen wurden von den Richtern in ihrem Club, dem .Serjeants Inn', entschieden, und sie übten auch eine informelle Aufsicht über die Ausbildungs-.Inns' aus. Pocock hat in diesem Zusammenhang von einer .institutional language' gesprochen45, was darauf verweist, dass gesellschaftliche Ideologiebildung generell nicht unabhängig zu denken ist von Institutionen und sozialen Milieus, was die Ideologiebildung eventuell steuerbar und kontrollierbar macht. Aber die Anwälte waren Freiberufler und nicht vergleichbar Geistlichen einer unmittelbaren Autorität unterworfen; nur im Falle schwerer Vergehen konnte ihnen ihre Zulassung entzogen werden. Die Richter waren dem Einfluss der Krone direkter unterworfen, und es gab wohl die Tendenz, in ihren Patenten die Formel: quamdiu se bene gesserint, die eine Verfehlung als Grund für eine Entlassung unterstellte, durch die Formel: durante bene plácito Regis zu ersetzen, die eine Entlassung erleichterte.46 Nach Coke, unter James I, wurden zur Zeit Charles I drei weitere -
42
Siehe fiir die .Inns' und das Profil der ,Common Law'-Profession: Brand, Paul: The Making of the Common Law, London/Rio Grande 1992, Text 3; Richardson, Walter C: A History of the Inns of Court, with Special Reference to the Period of the Renaissance, Baton Rouge 1975; Baker: Introduction to English legal History, Kap. 10; ders.: Legal Profession, Texte 1, 4, 7; ders.: The Common Law Tradition. Lawyers, Books and the Law, London/Rio Grande 2000, S. 3-103; Simpson, Alfred W. B.: Legal Theory and Legal History. Essays on the Common Law, London/Ronceverte 1987, Texte 2, 3. 43 Atwood Judson, Margaret: The Crisis of the Constitution. An essay in constitutional and political thought in England, 1603-1645 (zuerst 1949), New Brunswick/London 1988; Schröder, Hans Christoph: Die Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert, Frankfurt/M.
1986. Levack: The Civil Lawyers, S. 3. 45 Pocock: Texts as Events, in: SharpelZwicker (Hrsg.): Politics of Discourse, S. 27. 46 Siehe: Grauntes, 5: Note from a Reading, Gray's Inn, in: The Reports of Sir John Spelman, Bd. 1; Memorandum, in: The Third Part of the Reports of Sir George Croke, S. 203; 44
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,Chief-Justices' abgesetzt. Sosehr
es
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ein traditionales Ethos richterlicher
Unabhängigkeit in England gab, wurde den Richtern doch die Verletzlichkeit ihrer Position demonstriert einerseits durch die Krone, andererseits durch den Protest der Opposition gegen Urteile zugunsten der Kronprärogative.47 Bis zur Revolution konnte sich die Krone im Großen und Ganzen auf ihre Richter in Westminster verlassen, aber es bildeten sich kritische Zirkel in der Profession, so dass das Parlament und Abgeordnete, die mit der Krone in Konflikt gerieten, wie die ,Five Knights', die die ,Ship Money'-Abgabe verweigerten, auf kompetente Juristen zurückgreifen konnten. -
V. Das
Konzept der ,Ancient Constitution' profitierte von und ist bis zu einem gewissen Grade das Produkt der antiquarischen' Bewegung seit der Mitte des 16. Jahrhunderts.48 Es gab in England eine mittelalterliche annalistischchronistische Tradition49, und es gab Ansätze zu humanistischer Historie
May: The History of the Parliament of England, S. 17. Erst 1701 setzte sich die erste Formel durch, siehe Allison, John W. F.: A Continental Distinction in the Common Law. A Historical and Comparative Perspective on English Public Law, Oxford 1996, S. 155. 47 Siehe Bond (Hrsg.): The Manuscripts of the House of Lords, Bd. 11, Nr. 3314; Prothero (Hrsg.): Select Statutes and other Constitutional Documents, sub: James I, Abschn. II, Nr. 7; Unparliamentary Taxation, Nr. 1; The King vs. Sir John Eliot, Denzell Hollis, and Benjamen Valentine; Revision im Parlament 1667, im Anhang; The Lord Sayes Case, in: The Third Part of the Reports of Sir George Croke; Kenyon (Hrsg.): The Stuart Constitution, Nrn. 17, 18, 35-37; Bate's Case 1606; Darnel's, or The Five Knights' Case, 1627; Rex v. Hampden (The Case of Shipmoney), 1637, in: Keir, Sir David L. u.a.: Cases in Constitutional Law, 6. Aufl., Oxford 1979; Henry Parker (anon.): The Case of Shipmony briefly discoursed, 1640, in: Malcolm (Hrsg.): The Struggle for Sovereignty, Bd. 1; Holmes, Clive: Parliament, Liberty, Taxation, and Property, in: Hexter (Hrsg.): Parliament and Liberty, Text 4; Asch, Ronald G.: Eigentum und Steuerwesen unter den frühen Stuarts von Bate's Case (1606) bis zum Case of Ship Money (1637/38), in: Lottes, Günther (Hrsg.): Der Eigentumsbegriff im englischen politischen Denken, Bochum 1995, S. 57-80; Fröhlich, Helgard: Parlament und .Property' in den Verfassungsvorstellungen am Beginn des 17. Jahrhunderts, ebd., S. 81-98; Guy, John: The Origins of the Petition of Right Reconsidered, in: ders.: Politics, Law, and Counsel, Text 15; Thompson: Magna Carta, S. 326ff.; Judson: The Crisis of the Constitution, Kap. 4; Cust, Richard: The Forced Loan and English Politics. 1626-1628, Oxford 1987, Kap. 1; Sommerville: Politics and Ideology, Kap. 5; Ball, J. N.: Sir John Eliot and Parliament, 1624-1629, in: Sharpe, Kevin (Hrsg.): Faction and Parliament. Essays on Early Stuart History, Oxford 1978, Text 6; Prest, Wilfried R. (Hrsg.): The Diary of Sir Richard Hutton, 1614-1639, with related texts, Seiden Society, London 1991. 48 Siehe Ferguson, Arthur B.: Clio Unbound. Perception of the social and cultural past in Renaissance England, Durham 1979. 49 An die z.B. Charles Wriothesley anknüpft: A Chronicle of England during the Reigns of the Tudors, from A.D. 1485 to 1559, hrsg. v. William Douglas Hamilton, Camden Society, 2
Bde., London 1875/77, repr., New York/London 1965.
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durch den Italiener Polydore Vergil und durch Thomas More -, die aber keine tiefen Wurzeln schlugen. Die antiquarische Bewegung grenzte sich gegen diese Traditionen ab und konzentrierte sich zunächst wenig ambitiös auf die Sammlung von englischen Altertumszeugnissen, die dann eventuell zu einer interpretativen Gesellschaftsgeschichte verdichtet wurden. Der Impuls von Erzbischof Matthew Parkers (1559-1575) antiquarischer Aktivität war wohl, der Zerstörung von Zeugnissen der englischen Kirchengeschichte durch die Auflösung der Klöster und einen unkontrollierten reformierten Ikonoklasmus Einhalt zu gebieten. Anregungen für die Erforschung der Rechtsgeschichte kamen aus der kontinentalen humanistischen Jurisprudenz, mos gallicus oder via moderna, die sich an der Historisierung (analog zur Historisierung der Bibel) des Codex Justinianus abarbeitete, also die verschiedenen historischen Schichten dieser Textsammlung: republikanisches Rom, Prinzipat, die Zeit Justinians und spätere feudalistische Hinzufügungen, zu unterscheiden suchte und sich dadurch von den italienischen Glossatoren und Kommentatoren absetzte, mos italicus bzw. via antiqua, die das römische Recht als ein kohärentes System zu behandeln trachtete.51 Diese transalpine Bewegung war durch das Problem motiviert, nicht-römische, germanische' und feudalistische Rechtstraditionen als genuines nationales bzw. Volksrecht zu identifizieren und vor diesem Hintergrund die Geltung des römischen Rechts für die zeitgenössischen Gesellschaften zu relativieren. Diese Fragestellung stellte sich für England einerseits als einfacher dar, insofern man davon ausging, dass das römische Recht zu keiner Zeit einen maßgebenden Einfluss auf das .Common Law' genommen habe, andererseits wurde sie schwieriger, weil die Zeugnisse englischen Rechts, zumal vor der normannischen Eroberung, wesentlich spärlicher waren als in jenen Ländern, die einen Kontinuitätszusammenhang mit dem römischen Recht aufwiesen oder jedenfalls behaupteten.52 Die als Autoritäten in Juristenkreisen aufbewahrten Ma-
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The ,Anglica Historia' of Polydore Vergil, a.d. 1485-1537, übers, u. hrsg. v. Denys Hay, London 1950; More, Sir Thomas: The History of King Richard III, The Complete Works of St. Thomas More, New Haven/London, Bd. 2, hrsg. v. Richard S. Sylvester, 1963. Siehe Kelley, Donald R.: History, Law and the Human Sciences. Medieval and Renaissance Perspectives, London 1984; ders.: The Human Measure; ders.: Law, in Burns/Goldie (Hrsg.): The Cambridge History of Political Thought, 1450-1700, Text 3; ders.: Civil Science in the Renaissance: the problem of interpretation, in: Pagden (Hrsg.): The Languages of Political Theory, S. 57-78; Stein, Peter: The Character and Influence of the Roman Civil Law; ders. : Römisches Recht und Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur, Frankfurt/M. 1996; Bretone, Mario: Geschichte des Römischen Rechts. Von den Anfangen bis zu Justinian, 2. Aufl., München 1998; Berman, Harold J.: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt/M. 1995; Lange, Hermann: Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 1: Die Glossatoren, München 1997; Muhlack, Ulrich: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991. 52 Siehe Baker: An Introduction to English Legal History, Kap. 2; Hogue, Arthur R.: Origins of the Common Law (1966), Indianapolis 1985; Hudson, John: The Formation of the
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57.
von: Glanvill (ca. 1190), Bracton (ca. 1250), Britton (ca. 1295), The Mirrour of Justices (ca. 1295), Fleta (ca. 1300) und des Modus tenendi Parliamentum (ca. 1330)53 wurden von William Lambarde, Edward Coke und anderen, unter Berufung auf Passagen in diesen Texten selbst, in die Zeit vor der normannischen Eroberung zurückprojeziert und so eine Rechtskontinuität von den Angelsachsen bis zur Gegenwart konstruiert, in Übereinstimmung mit dem aus humanistischen Quellen (Caesar, Tacitus) gespeisten Mythos einer germanischen Stammesdemokratie, die zur historischen Quelle des Parlaments, und hier besonders des Unterhauses erklärt wurde.54 Als der Unterhausabgeordnete Arthur Hall 1579 eine Polemik gegen diesen Mythos publizierte, entschied das Unterhaus 1581, ihn seines Sitzes zu entheben, weil er die Würde des Hauses verletzt habe.55 In der These der ,Ancient Constitution' konvergieren also die Neigung des ,Common Law' zu traditionalen
nuskripte
English Common Law. Law and Society in England from the Norman Conquest to Magna Carta, London/New York 1996; Turner, Ralph V.: Judges, Administrators and the Common Law in Angevin England, London/Rio Grande 1994; Brand: The Making of the Common Law; Plucknett, Theodore F. T.: Early English Legal Literature, Cambridge 1958; Kern, Fritz: Recht und Verfassung im Mittelalter (1919), Neuausgabe, Tübingen 1952; Wolf, Armin: Gesetzgebung in Europa, 1100-1500. Zur Entstehung der Territorialstaaten, 2. überarb. u. erw. Aufl., München 1996, I. Systematischer Teil, u. Abschn. 36: England. 53 Tractatus de Legibus et Consuetudinibus Regni Anglie qui Glanvilla vocatur / The Treatise on the Laws and Customs of the Realm of England commonly called Glanvill, übers, u. hrsg. v. G. D. G. Hall, London etc. 1965; Bracton, Henricus de: De Legibus et Consuetudinibus Angliae, übers, u. hrsg. v. Sir Travers Twiss, 6 Bde., London 1878-1884; Yale, D. E. C: ,Of No Mean Authority': Some Later Uses of Bracton, in: Arnold, Morris S. u.a. (Hrsg.): On the Laws and Customs of England. FS fur Samuel E. Thorne, Chapel Hill 1981, Text 14; Britton. The French Text, carefully revised with an English Translation, by Francis Morgan Nichols, 2 Bde., Oxford 1865; Home, Andrew (?): The Mirrour of Justices, 1903, repr., New York 1968; Anonymus: Fleta, Bd. 2 (Bd. 1 nicht erschienen), hrsg. v. H. G. Richardson/G. O. Sayles, London 1955; Clarke, Maude V.: Medieval Representation and Consent. A Study of Early Parliaments in England and Ireland, with special Reference to the Modus Tenendi Parliamentum, London etc. 1936; auch in: Pronay, Nicho\as/Taylor, John (Hrsg.): Parliamentary Texts of the Later Middle Ages, Oxford 1980. 54 Lambarde, William: Archaionomia, sive de priscis Anglorum legibus libri, Cambridge
1644, zirkuliert ab 1568 als Ms.; ders.: Archaion, zirkuliert ab ca. 1591; siehe für Coke die Vorworte zu seinen: Reports; Hartley (Hrsg.): Proceedings in the Parliaments of Elizabeth I, Bd. 3, S. 159f.; D'Ewes: The Journals of all the Parliaments during the Reign of Queen S. 465,515. Elizabeth, 55 Tanner (Hrsg.): Tudor Constitutional Documents, S. 584f, 592f.; Elton (Hrsg.): Tudor Constitution, Nrn. 131, 142; Hall, Arthur: A Letter sent by F.A. touching the proceedings in a private Quarrel and Unkindnesse betweene Arthur Hall and Melchisedech Mallerie, Gentlemen, to his very friende L.B. being in Italie. With an Admonition of the Father of F. A. to him being a Burgesse of the Parliament, for his better behaviour therein, London, 1579; Hartley (Hrsg.): Proceedings in the Parliaments of Elizabeth I, Bd. 1, 1981, S. 273, 326f, 329, 354f., 509; Elton: Studies, Bd. 3, Text 39; Ferguson: Clio Unbound, S. 301; Levy Peck, Linda: Peers, patronage and the politics of history, in: The reign of Elizabeth. Court and culture in the last decade, hrsg. v. John Guy, Cambridge 1995, Text 4.
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die antiquarischFormen der Legitimierung: Präzedenz und ,Custom' rechtshistorischen Bemühungen und das politische Interesse an der Ausarbeitung traditionaler Limitierungen der Krone und ihrer Prärogative. Die politische Dimension dieses Zusammenspiels wurde später noch deutlicher, so dass James I 1614 die 1586 gegründete .Antiquarian Society' unterdrückt, was allerdings die Zusammenarbeit von Historikern wie Robert Cotton und Juristen und Rechtshistorikern wie John Seiden in der Folgezeit nicht verhindert, die in der Phase der Zuspitzung der Konflikte der Opposition zugute kommt: Seiden war neben Coke einer der Architekten der .Petition of Right', 1628, und er gehörte zu den Anwälten der .Five Knights'.57 Zu den semantischen Bestandteilen der .Sprache' der .Ancient Constitution' gehörte die Rede von .fundamental Laws', aber die frühesten Verwendungen etwa bei dem Kleriker Richard Cosin, 1593, bei Francis Bacon, 1596, oder James VI, 1598 weisen keineswegs prononciert in die Richtung der Kritik und Limitierung der Krone und ihrer Prärogative.58 Wahrscheinlich handelt es sich um eine Übernahme dieser Begrifflichkeit aus dem Kontext des deutschen Reiches, wo die Komplexität der Verhältnisse ihre Stabilisierung durch Reichsgrundgesetze nahe legte, und aus Frankreich, wo etwa das so genannte .salische Gesetz' als .loi fondamentale' anerkannt war. Die hu,
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Ein exemplarischer Vertreter dieser Mentalität im 17. Jahrhundert ist Sir John Davies: Le Primer Report des Cases et Matters en Ley Résolues et Adiuges en les Courts del Roy en Ireland, 1615, in: Wootton (Hrsg.): Divine Right and Democracy. 57 Eine Sammlung von Vortragsmanuskripten von Treffen der .Antiquarian Society' ist Hearne, Thomas (Hrsg.): A Collection of curious Discourses, written by eminent Antiquaries upon several Heads in our English Antiquities, and now first published, Oxford 1720; Seiden, John: Titles of Honour, 2. Aufl., London 1631; ders.: Ad Fletam Dissertatio, 1647, übers, v. David Ogg, Cambridge 1925; The Table-Talk of John Seiden, zuerst 1689, dann 1847, repr., Freeport 1972; Christianson, Paul: Ancient Constitutions in the Age of Sir Edward Coke and John Seiden, in: Sandoz (Hrsg.): The Roots of Liberty, Text 3; Tuck, Richard: Natural Rights Theories. Their Origin and Development, Cambridge 1979, Kap. 4, 5; ders.: Grotius and Seiden, in: BurnslGoldie (Hrsg.): The Cambridge History of Political Thought, 1450-1700, Text 17; Cotton, Robert Bruce: The Danger wherein the Kingdome now standeth and the Remedie, o.O., 1628; Guy: The Origins of the Petition of Right Reconsidered; Hostettler: Sir Edward Coke, Kap. 6. 58 Cosin: Apologie for sundry Proceedings, Teil 3, S. 53; Bacon: Maxims of the Law, in: The Works of Francis Bacon, London 1857-1874, repr., 14 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt, Bd. 6, 1963, S. 314; James VI: The True Law of Free Monarchies, in: ders.: Political Writings, S. 64; siehe zum Mittelalter Doe: Fundamental Authority; dann Gough: Fundamental Law; Stourzh, Gerald: Grundrechte zwischen Common Law und Verfassung. Zur Entwicklung in England und den nordamerikanischen Kolonien im 17. Jahrhundert, in: Birtsch, Günter (Hrsg.): Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, Göttingen 1981, S. 59-74. Vgl. zu begriffsgeschichtlichen Hintergründen Tierney, Brian: Religion, law, and the growth of constitutional thought, 11501650, Cambridge 1983, Kap. 4; Mohnhaupt, Heinz: Verfassung (I). Konstitution, Status, Lex fundamental, in: Brunner, Otto u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 831-862.
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genottischen Monarchomachen, besonders Francois Hotman, hatten ihre Widerstandstheorien unter anderem auf ,Fundamentalgesetze' abgestützt im Falle Hotmans auch im Kontext des germanischen Mythos' von den freien (deren Namen er daraus ableitet) .Franken'.59 In England gewann die -
Idee der ,fundamental Laws', wie es scheint, erst 1610, im Kontext der Parlamentsdebatte über die Frage der Außenhandelsabgaben ^Impositions') durch die Krone eine kritische Dimension, etwa in der Rede des ,Common Lawyer' James Whitelocke.60 Aber später, ab 1642, beruft sich dann auch Charles I auf .fundamental Laws', so dass wir unter dieser rhetorischen Figur durchaus gegensätzliche Inhalte finden. Dass zur gleichen Zeit das Parlament seine ,Militia Ordinance', zweifellos eine revolutionäre Maßnahme, ebenfalls durch .fundamental Laws' legitimiert, ist schon fast komisch.61 Tatsächlich konnte es ,Fundamentalgesetze', die mehr waren als politisch-rechtliche Maximen oder Grundüberzeugungen und die aus sich heraus rechtlich verbindlich gewesen wären, nicht geben, sobald das Parlament (d.h.: ,King in Parliament') als souveräner Gesetzgeber galt, was spätestens seit dem 15. Jahrhundert der Fall war. Alle Versuche, deren es diverse gab, Parlamentsbeschlüsse gegen die Beschlüsse späterer Parlamente zu immunisieren, sie für ,ewig' zu erklären, scheiterten. Und das gilt auch für die ,Magna Carta', die am ehesten, von den Gesetzgebungen bis zum 17. Jahrhundert, in den Rang eines Grundgesetzes gelangt war, denn zweifellos war auch die ,Magna Carta' jedenfalls in Teilen ausser Kraft gesetzt, geändert oder uminterpretiert worden.62 Und die .Petition of Right', die Zeitgenossen als das neue Grund59
Hotman, Francois: La Gaule Françoise (Franco-gallia, 1573, frz. 1574), Paris 1991; Harro: Fundamental Law and the Constitution in sixteenth Century France, in: Schnur (Hrsg.): Die Rolle der Juristen, S. 327-356; Thompson, Martyn P.: The History of
Höpfl,
Fundamental Law in Political Thought from the French Wars of religion to the American Revolution, in: The American Historical Review 91 (1986), S. 1103-1128; den .Germanenmythos' diskutiert als .Rassismus' Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft 1976), Frankfurt/M. 1999. (Vorlesung 0 Siehe Prothero (Hrsg.): Select Statutes and other Constitutional Documents, sub: Unparliamentary Taxation, LB) und C); Kenyon (Hrsg.): Stuart Constitution, Nr. 20; zu Whitelocke Damián X. Powell: Sir James Whitelocke's Liber famelicus, 1570-1632: law and politics in early Stuart England, Bern etc. 2000; siehe dann J. N. Ball: Religion, Fundamental Law and Parliamentary Sovereignty in the English Parliament of 1629, in: Vierhaus, Rudolf (Hrsg.): Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977, S. 77-89. 61 May: The History of the Parliament of England, App., S. 435ff., 491; Gardiner (Hrsg.): The Constitutional Documents of the Puritan Revolution, Nr. 37. 62 Coke hielt .Magna Carta' für parlamentarisch nicht änderbar, siehe ders:. The Second Part of the Institutes of the Lawes of England, London 1642, Proemium: „The highest and most binding Laws are the Statutes which are established by Parliament, and by Authority of that highest Court it is enacted [...], That if any Statute be made contrary to the Great Charter, or the Charter of the Forest, that shall be holden for none." Siehe für die Wirkungsgeschichte Thompson: Magna Carta; Holt, James C: Magna Carta, 2. Aufl., Cambridge 1992; Guy, John: The .Imperial Crown' and the Liberty of the Subject: The English Constitution from Magna Carta to the Bill of Rights, in: Young Kunze, Bonne-
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gesetz der Freiheit gegolten haben mag,
war gerade deshalb nur eine .Petikeine oder weil Charles I diesem Dokument erst seine tion', ,Bill' .Statute', nachdem die Richter ihn von der rechtlichen UnverbindZustimmung gab, lichkeit einer .Petition' überzeugt hatten. Trotz dieser verfassungsrechtlichen Ambiguität, Zweifelhaftigkeit und Schwäche der Rede von der .Ancient Constitution' und den .fundamental Laws' ist zu konstatieren, dass in dieser Sprache, mehr als in jeder anderen, die Konflikte des 17. Jahrhunderts ausgetragen wurden, und sie blieb bis weit in das 18. Jahrhundert ein Grundidiom der englischen politischen Selbstverständigung. Es scheint so, als ob die Tatsache, dass die politisch-juridischen Eliten und maßgebende Verfassungsorgane über die Frage, was die .englische Verfassung' sei, auseinander fielen, diese Rhetorik, als Medium des Kampfes um die Deutungshoheit und letztlich als Suche nach einem neuen Konsens, gerade antrieb. Je schwächer also der Konsens, desto schriller die Berufung auf eine angebliche ,Ancient Constitution' -jedenfalls solange der Kampf der Worte noch nicht durch den mit Waffen überholt worden war. Temporär verliert dieser Diskurs im Verlaufe des Bürgerkrieges an Überzeugungskraft: der ,Leveller' William Walwyn nennt 1645 .Magna Carta' verächtlich ein .messe of pottage', und das Common Law', das schon lange kritisiert worden war wegen seiner Un Verständlichkeit und Umständlichkeit, wird in plebejischen Kreisen als Produkt des .Norman Conquest' denunziert.63 ,
VI. Den .Common Lawyern' stand die wesentlich kleinere Profession der Romrechtler in England gegenüber Brian Levack hat 200 aktive ,Civil Lawyer' in den Jahrzehnten vor dem Bürgerkrieg gezählt -, die aber verhältnismäßig noch besser organisiert waren als die Gemeinrechtler64: Sie hatten im .Doctors' Commons' in London und in den Lehrstühlen an den beiden Universitäten ihre organisatorischen und intellektuellen Zentren, außerdem standen sie zur großen Mehrheit in Kirchendiensten und konnten so die Organisation und Kommunikationswege der Kirche nutzen. Auf der anderen Seite scheinen die Einkommensdifferenzen innerhalb der Profession größer gewesen zu sein, was wesentlich damit zusammenhängt, dass die Romrechtler nur geringe Möglichkeiten hatten, freiberuflich als Anwälte zu agieren, und den wenigen -
lynv'Bräutigam, Dwight
D. (Hrsg.): Court, Country and Culture. FS für Perez Zagorin, Rochester/New York 1992, S. 65-87; Beiträge in: Sandoz (Hrsg.): Roots of Liberty. William Walwyn (?, anon.): Englands Lamentable Slaverie, in: Haller (Hrsg.): Tracts on Liberty, Bd. 3, S. 310-318, hier S. 314; Hill, Christopher: The Norman Yoke, in: ders.: Puritanism and Revolution, S. 58-125; ders.: Intellectual Origins, Kap. 17. 64 Levack: The Civil Lawyers, S. 3; siehe generell die Literatur in Note 35. 63
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lukrativen Positionen standen viele schlechtbezahlte gegenüber. Politisch ergab sich aus der Verquickung mit der Kirche und aus dem Gegensatz zum expansiven .Common Law' die Tendenz der Anlehnung an Kirche und Krone. Außerdem standen die .Civilians' seit langem unter dem Generalverdacht, gefährliche (für das ,Common Law') Doktrinen vom Kontinent zu importieren, und wurden, unter religiösen Gesichtspunkten, mit dem Recht des Papstes, für strenge Puritaner immer noch der ,Antichrist', identifiziert. Tatsächlich waren sie in einer besseren Position als die meisten Gemeinrechtler, neuere Rechtsentwicklungen des Kontinents zu rezipieren, die auch vom .Common Law' nicht gänzlich zu ignorieren waren. Die Thronfolge James' I müsste den .Civilians', mit Machiavelli zu sprechen, als ,Occasione' erscheinen nicht nur in dem allgemeinen Sinne, in dem jede Thronfolge eine Gelegenheit zur Neupositionierung darstellte, sondern in dem spezifischeren Sinne, dass sie sich vom Lieblingsprojekt des Königs, der Vereinigung von England und Schottland, eine Verbesserung ihrer Position erwarten konnten: wegen der stärker romrechtlichen Prägung des schottischen Rechts, und wegen der Möglichkeit, das römische Recht als theoretischen Rahmen für die Vereinigung der Rechtssysteme zu profilieren.65 Politisch ist unverkennbar, dass die Civilians' zu dieser Zeit zur Verbreitung und Adaption absolutistischer Konzeptionen in England beitrugen.66 Jean Bodin, dessen Six Livres de la Republique 1606 ins Englische übertragen wurden, hatte die Situation in England so interpretiert, dass das Parlament zwar „größtmögliche Freiheit hat", jedoch im Kern auf das „Mittel der Bittschrift und des Gesuchs" beschränkt sei. „Außerdem treten Parlamente in England (wie auch in Frankreich und Spanien) nur aufgrund königlicher Verordnung zusammen. Dies zeigt deutlich, dass die Ständeversammlungen und Parlamente über keine Macht verfügen, selbständig etwas zu beschließen, zu befehlen oder festzusetzen." Zwar hat das Parlament das Steuerbewilligungsrecht, an das der Fürst im Falle „zwingender Notwendigkeit" aber nicht gebunden sei. Was die Gesetzgebung betrifft, Bodins zentrales Merk-
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Die Schrift des Romrechtlers William Fulbecke: Direction, or Preparative to The Study of the Law, 1599, London 1829, repr., Aldershot 1987, befasst sich verhältnismäßig extensiv mit dem .Common Law' und in einem Appendix mit konzeptuellen Übereinstimmungen zwischen .Common Law' und .Civil Law', S. 195ff.; in seinem: The Interpreter or Booke containing the Signification of Words, von 1607, repr., Menston 1972, kündigt der Romrechtler John Cowell einen Traktat an, in dem gezeigt werde, dass .Common Law' und .Civil Law' „both be raised of one foundation, and differ more in language and termes than in substance, and therefore were they reduced to one method (as they easily might) to be attained (in a manner) with all one paines", Preface. 66 Levack, Brian P.: Law and Ideology: The Civil Law and Theories of Absolutism in Elizabethan and Jacobean England, in: Dubrow, Heather/Är/er, Richard (Hrsg.): The Historical Renaissance. New Essays on Tudor and Stuart Literature and Culture, Chicago/ London 1988, S. 220-241; Burgess: Politics of the Ancient Constitution, Kap. 5, Abschn. C; ders.: Absolute Monarchy, Kap. 3; Coquillette: The Civilian Writers, hat eine manifeste Tendenz, den politischen Absolutismus der .Civilians' kleinzuschreiben.
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mal von Souveränität, so sei es von großer Bedeutung für die Bindungskraft der Gesetze, wenn ihnen Volksvertretungen zugestimmt haben, aber das heißt nicht, „daß ein souveräner Fürst nicht allein Gesetze erlassen kann." Die Bindung des Königs an die bestehenden Gesetze im Rahmen des Krönungseides sei widersinnig, weil der Staat damit juristisch immobilisiert werde. Durch die Existenz von Ständevertretungen, so Bodins allgemeiner Schluss, wird „die Souveränität eines Herrschers weder verändert noch geschmälert."67 Diese Interpretation stand im klaren Widerspruch zum Verfassungsverständnis der englischen Eliten, das quasi-autoritativ durch den englischen Humanisten, Romjuristen (erster Inhaber des neuen Lehrstuhls für .Civil Law' in Cambridge ab 1540), Diplomat und Staatssekretär unter Edward VI und Elizabeth, Thomas Smith, definiert worden war: De República Anglorum, geschrieben ca. 1565, posthum 1583 publiziert.68 Demgegenüber machten sich im Zuge der Bodin-Rezeption auch in England absolutistische Tendenzen bemerkbar, etwa in Charles Merburys: A Briefe Discourse of Royall Monarchie von 1581.69 Der Romjurist John Hayward antwortete 1603 dem englischen Katholiken Robert Parsons, der die Thronfolge James' in Frage gestellt und eine katholische Widerstandstheorie formuliert hatte. Hier und in seiner Schrift über Supreme Power on Affaires of Religion, einige Jahre später, vertrat Hayward absolutistische Positionen und wurde schließlich 1617 mit einem Posten in der .Chancery' belohnt. Alberico Gentili, der seit 1584 den Lehrstuhl für römisches Recht in Oxford innehatte, publizierte 1605 im 67
Bodin, Jean: Über den Staat, Stuttgart 1976, Buch 1, Kap. 8, S. 30-33; Hinrichs, Ernst: Das Fürstenbild Jean Bodins und die Krise der französischen Renaissancemonarchie, in: ders.: Ancien Regime und Revolution. Studien zur Verfassungsgeschichte Frankreichs zwischen 1589 und 1789, Frankfurt/M. 1989, S. 9-29; Franklin, Julian H.: Jean Bodin and the Sixteenth-Century Revolution in the Methodology of Law and History, New York/London 1963; ders.: Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory, Cambridge 1973, ders.: Jean Bodin and the End of Medieval Constitutionalism, in: Denzer, Horst (Hrsg.): Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung in München, München 1973, S. 151-166; ders.: Sovereignty and the mixed constitution: Bodin and his critics, in: Burns/Goldie (Hrsg.): The Cambridge History of Political Thought, 1450-1700, Text 10; o.a. Texte von Donald R. Kelley. sowie 68 Smith: De República Anglorum, repr., Amsterdam/New York 1970; Strype, John (J. S.): The Life of the Learned Sir Thomas Smith, London 1698; Stein, Peter: Sir Thomas Smith. Renaissance Civilian, in: ders. : The Character and Influence of the Roman Civil Law, Text 13. 69 Merbury: A Briefe Discourse of Royall Monarchie, 1581, repr., Amsterdam 1972; Krautheims, Ulrike: Die Souveränitätskonzeption in den englischen Verfassungskonflikten des 17. Jahrhunderts. Eine Studie zur Rezeption der Lehre Bodins in England von der Regierungszeit Elisabeths I. bis zur Restauration der Stuartherrschaft unter Karl II., Frankfurt/M. 1977, ist sehr materialreich, aber weder konzeptuell noch gedanklich trennscharf organisiert, so dass, wenn Bodin angeblich in allem steckt, alle Katzen grau werden; Salmon, John H. M.: L'héritage de Bodin: la réception de ses idées politiques en Angleterre et en Allemagne au XVII siècle, in: Zarka, Yves Charles (Hrsg.): Jean Bodin Nature, histoire, droit et politique, Paris 1996, Text 9; ders.: The Legacy of Jean Bodin: Absolutism, Populism or Constitutionalism?, in: HPTh 17 (1996), S. 500-522. -
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seiner Regales Disputationes tres: De Potestate Regis Absoluta, eine explizit an Bodin anschließende Exposition von absolutistischen Positionen, die sich eindeutig der zweite Traktat behandelt die Frage der Vereinigung der Königreiche an James I richtete.70 Zum Skandal kam es dann wegen des ersten
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Rechtslexikons von John Cowell, Inhaber des Lehrstuhls für römisches Recht in Cambridge seit 1594: The Interpreter or Booke containing the Signification of Words, 1607, dessen Einträge sub ,King', parliament' und prerogative' das Unterhaus 1610 zu einem scharfen Protest veranlassten, dem James mit einem Verbot folgte allerdings mit der Wendung gegen die „unsatiable curiosity in many mens spirits, and such an itching in the tongues and pennes of most men, as nothing is left unsearched to the bottome, both in talking and writing", gegen jene, die „wade in all the deepest mysteries that belong to the persons or State of Kings or Princes, that are gods upon Earth", und gegen „men that [...] will freely wade by their writings in the deepest mysteries of Monarchie and politique government."71 Er verwahrt sich also gegen die öffentliche Debatte über seine Politik und Stellung, kaum gegen den Absolutismus Cowells. Zu diesem Zeitpunkt war das Projekt der Vereinigung der Königreiche bereits am Widerstand des englischen Parlaments gescheitert; von ihm blieb nur James' Selbsternennung zum ,King of Great Britain'.72 Und die Civilians', deren professioneller Status immer schwächer wurde, spielten danach keine bedeutende ideologische Rolle mehr.73 -
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Hayward: An Answer to a Conference, concerning Succession, 1603, repr., Amsterdam/Norwood (NJ) 1975; ders. (anon.): Supreme Power on Affaires of Religion, 1606, repr., Amsterdam/Norwood (NJ) 1979; Parsons, Robert (pseud. R. Doleman): A Conference About the Next Succession to the Crowne of Ingland, 1594, repr., Amsterdam/New York 1972; Gentilis, Alberici: Regales Discursus tres: I. De Potestate Regis Absoluta; II. De Unione Regnorum Britanniae; III. De Vi Civium in Regem Semper Injusta, Helmstedt 1669. 71 Cowell: Interpreter; Larkin, James V.IHughes, Paul L. (Hrsg.): Stuart Royal Proclamations, Bd. 1, Oxford 1973, Nr. 110; Kenyon (Hrsg.): Stuart Constitution, Nr. 42; Burgess: Politics of the Ancient Constitution, S. 150f; Levack: Law and Ideology, S. 230f; Sommerville: Politics and Ideology, S. 121-127. 72 Siehe für die ersten Parlamentssitzungen dieser Regierungszeit Conrad Russell: English Parliaments 1593-1606: One Epoch or Two?, in: Dean/Jones (Hrsg.): The Parliaments of Elizabethan England, Text 8; Hexter, Jack H: Parliament, Liberty, and Freedom of Elections, in: ders. (Hrsg.): Parliament and Liberty, Text 1; Munden, R. C: James I and ,the growth of mutual distrust': King, Commons, and Reform, 1603-1604, in: Sharpe (Hrsg.): Faction and Parliament, Text 2; zur ,Union' LarkinlHughes (Hrsg.): Stuart Royal Proclamations, Bd. 1, Nrn. 9, 20, 43; Memorials of Affairs of State [...] Sir Ralph Winwood, Bd. 2, Nrn. 21, 22; Russell, Conrad: The Anglo-Scottish Union: A Success?, in: Fletcher, Anthony/Roberts, Peter (Hrsg.): Religion, culture and society in early modern Britain, FS für Patrick Collinson, Cambridge 1994, Text 10; Wormald, Jenny: James VI, James I and the Identity of Britain, in: Bradshaw!Morrill (Hrsg.): The British Problem, Text 6; im Kontext John Morrill: The fashioning of Britain, in: Ellis/Barber (Hrsg.): Conquest and Text 1 ; Brown: Scottish identity in the seventeenth century. Union, 73 Ein Lamento über ihren schlechten Ruf ist William Clerk: An Epitome of Aspersions cast at Civilians, Dublin 1631, repr., Amsterdam/Norwood (N.J.) 1979.
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VII. Die Rolle des Humanismus in dieser Zeit ist am schwersten einzuschätzen. Im frühen 16. Jahrhundert gab es Ansätze von ,Bürgerhumanismus' bei Thomas More, Thomas Starkey, Richard Morison74 -, denen aber die Bildungsunterlage fehlte, um Wurzeln zu schlagen. Wenn wir die MachiavelliRezeption als Indikator für politischen Humanismus nehmen, dann zeigen sich vor 1580 nur individuelle Spuren davon, und als dann eine breitere Rezeption einsetzt, folgt ihr sogleich heftige Ablehnung.75 Zu dieser Zeit vollzog sich auf dem Kontinent die Transformation zu Staatsräson', .Taciteismus', .Neostoizismus' und Skeptizismus Benennungen für verschiedene Aspekte eines komplexen ideologischen Gesamtprozesses, der als Reaktion auf profunde Verunsicherungen zu verstehen ist: der Kosmologie durch Kopernikus, Galilei und andere, der Geographie und Ethnologie durch die europäische Welterschließung seit Columbus, über die das florierende Genre der Reiseberichte ein breiteres Publikum informierte, und, politisch von größter Bedeutung, durch das nachhaltige Zerbrechen der Kircheneinheit, die Religionskriege und die Zerfaserung (nicht der sich konsolidierenden Papstkirche, sondern) des Protestantismus.76 Skepsis ist hier weniger erkenntnisfheoretisch -
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More: Utopia, The Complete Works of St. Thomas More, Bd. 4, hrsg. v. Edward Surtz, S. J./J. H. Hexter, 1979; Starkey: A Dialogue between Pole and Lupset, Ms. ca. 1533, hrsg. v. Thomas F. Mayer, London 1989; zusätzliches Material in ders.: England in the Reign of King Henry the Eighth. Life and Letters and ,A Dialogue between Cardinal Pole and Lupset', hrsg. v. Sidney J. Herrtage, 1871/1878, repr., Millwood (New York) 1981; Elton: Studies, Bd. 2, Nr. 32; Mayer, Thomas F.: Nursery of resistance: Reginald Pole and his friends, in: Fideler, Paul A.lders. (Hrsg.): Political Thought and the Tudor Commenwealth. Deep structure, discourse and disguise, London/New York 1992, Text 2; ders.: Thomas Starkey and the Commonweal. Humanist politics and religion in the reign of Henry VIII, Cambridge etc. 1989; Nippel: Mischverfassungstheorie, S. 183-189; Morison, Richard: Humanist Scholarship and Public Order. Two Tracts against the Pilgrimage of Grace, hrsg. v. David Sandier Berkowitz, Cranbury (NJ) 1984; ders.: An Invective ayenste the great and detestable Vice, Treason, wherein the secrete Practises, and traiterous Workinges of theym, that suffrid of late are disclosed, 1539, repr., Amsterdam 1972. 75 A Machiavellian Treatise by Stephen Gardiner, übers, u. hrsg. v. Peter S. Donaldson, Cambridge 1975; Raab, Felix: The English Face of Machiavelli. A changing Interpretation. 1500-1700, London/Toronto 1964; Donaldson, Peter S.: Machiavelli and Mystery of State, Cambridge 1992, Texte 1-3; Kahn, Victoria: Machiavellian Rhetoric. From the CounterReformation to Milton, Princeton UP 1994, Teil 2; Rubinstein, Nicolai: The history of the word ,politicus' in early-modern Europe, in: Pagden (Hrsg.): Languages of Political Theory, S. 41-56, hier S. 53f.; Ottow, Raimund: Politikbegriffe der englischen Renaissance, in: Lietzmann, Hans UNitschke, Peter (Hrsg.): Klassische Politik. Politikverständnisse von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Opladen 2000, S. 83-99; Case, John: Sphaera Civitatis, hoc est, Reipublicae recte ac pii secundum Leges administrandae Ratio, Frankfurt/M. 1604, Praefatio u.pass.; Schmitt, Charles B.: John Case and Aristotelianism in Renaissance England, Kingston/Montreal 1983, Kap. 4, Abschn. 8. 76 Borkenau, Franz: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris 1934; kritisch dazu Grossmann, Henryk: Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanistischen Philosophie und die Ma-
Die
.Cambridge School' und die Interaktion politischer Diskurse
65
schließlich eröffnet die Optik dem menschlichen Sehen gerade erweiterte Gegenstandsbereiche, und Francis Bacons Novum Organon, als modernes empirisches Wissenschaftsprogramm, ist durchaus optimistisch hinsichtlich der stetigen Erweiterung der menschlichen Erkenntnis und Beherrschung der Natur77 -, sondern normativ: moralisch und religiös. Die französischen .Politiques', denen auch Bodin zuzurechnen ist, versuchten, die Religionsfrage durch die Entwicklung einer emphatischen Idee souveräner Politik zu neutralisieren.78 Neo-Stoizismus kann im Anschluss daran als Privatisierung von Wahrheitsansprüchen verstanden werden, korrespondierend
gemeint
-
nufaktur, in: Zeitschrift für Sozialforschung 4 (1935); Kelley, Donald R.: Murd'rous Machiavel in France: A Post Mortem, in: Political Science Quarterly 85 (1970), S. 545-559; Oestreich, Gerhard: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547-1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung, hrsg. v. Nicolette Mout, Göttingen 1989; die Einführung und die Texte 1 und 4, in John H. M. Salmon: Renaissance and Revolt. Essays in the intellectual and social history of early modern France, Cambridge 1987; Münkler, Herfried: Staatsraison und politische Klugheitslehre, in: Fetscher/ders. (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, Kap. 1; ders.: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1987; Tuck, Richard: Scepticism and toleration in the seventeenth century, in: Mendus, Susan (Hrsg.): Justifying Toleration. Conceptual and Historical Perspectives, Cambridge 1988, Text 1; ders.: Humanism and Political Thought, in: Goodman, Ainthony/MacKay, Angus (Hrsg.): The Impact of Humanism on Western Europe, London/New York 1990, Text 3; ders.: Philosophy and Government, 1572-1651, Cambridge 1993; Stolleis, Michael: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt/M. 1990; van Gelderen,
Martin: The Machiavellian Moment and the Dutch Revolt: the rise of Neostoicism and Dutch republicanism, in: Bock, Gisela u.a. (Hrsg.): Machiavelli and Republicanism, Cambridge 1990, Text 10; Toulmin, Stephen: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/M. 1994, Kap. 1-2; Viroli, Maurizio: From Politics to Reason of State. The acquisition and transformation of the language of politics, 1250-1600, Cambridge 1992; Donaldson, Peter S.: Machiavelli and the arcana imperil, in: ders.: Machiavelli and Mystery of State, Text 4; Nippel, Wilfried: Macht, Machtkontrolle und Machtentgrenzung. Zu einigen antiken Konzeptionen und ihrer Rezeption in der frühen Neuzeit, in: Gebhardt/Münkler (Hrsg.): Bürgerschaft und Herrschaft, S. 69ff.; Burke, Peter: Tacitism, scepticism, and reason of state, in: Burns/Goldie (Hrsg.): The Cambridge History of Political Thought, 1450-1700, Text 16; Bouwsma, William J.: The Waning of the Renaissance. 1550-1640, New Haven/London 2000; Compáralo, Vittor Ivo: From the Crisis of Civil Culture to the Neapolitan Republic of 1647: Republicanism in Italy between the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: van Gelderen, Martin/Skinner, Quentin (Hrsg.): Republicanism. A shared European Heritage, 2 Bde., Cambridge 2002, Bd. 1, Text 9. 77 Bacon, Francis: The Advancement of Learning, 1605, New York 2001; ders.: Das neue Organon (Novum Organon), 1620, hrsg. v. Manfred Buhr, 2. Aufl., Berlin 1982. 78 Bermbach, Udo: Widerstandsrecht, Souveränität, Kirche und Staat: Frankreich und Spanien im 16. Jahrhundert, in: FetscherlMünkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, Kap. 3; Sabine: A History of Political Theory, Kap. 20; Salmon, John H. M.: Bodin and the monarchomachs, in: ders.: Renaissance and Revolt, Text 5; Remer, Gary: Bodin's Pluralistic Theory of Toleration, in: Nederman, Cary J./Laursen, John Christian (Hrsg.): Difference and Dissent. Theories of Toleration in Medieval and Early Modern Europe, Lanham etc. 1996, Text 7; Engster, Dan: Jean Bodin, Scepticism and absolute Sovereignty, in: HPTh 17 (1996), S. 469-499; Benedict, Philip: ,Un roi, une loi, deux fois': parameters for the history of Catholic-Reformed co-existence in France, 1555-1685, in: Grell/Scribner (Hrsg.): Tolerance and Intolerance, Text 5.
66
Raimund Ottow
Gehorsamsbereitschaft gegenüber den existierenden Autoritäten. Und die Wende von Cicero als humanistische Leitfigur zu Tacitus, dessen Schriften in den 1590er Jahren ins Englische übertragen wurden, also die Wende vom Kampf um die Republik, um die Freiheit, zu ihrer nostalgischen Betrauerung, symbolisiert einen betont .realistischen' Politikstil, der mit einem post-bürgerhumanistisch interpretierten und entnormativierten Machiavelli kompatibel war: Politik, deren traditionale Substanz erodierte, wurde damit zur
zum
Denunziationsbegriff für Skrupellosigkeit, Unehrlichkeit, Doppelbödig-
keit, Hinterabsichten, Heuchelei, Schmeichelei, kurz: strategisches Denken und Handeln.80 In diesem Sinne gab es in England .Tacitismus', und es gab
.Tacitismus'81 in beidem spiegelt sich das Reflexivwerden von ihre Politik, Emanzipation aus traditionaler Normativistik. Walter Ralegh, der unter Elizabeth ein führender Höfling gewesen war, aber in den Intrigen der Thronfolge James I kaltgestellt, dann für Jahre inhaftiert wurde, berief sich in seiner vielgelesenen History of the World auf Tacitus' Satz: „Praestat (saith Tacitus [...]) sub malo principe esse, quam nullo". Und das schrieb er im Gefängnis, verurteilt aufgrund einer fabrizierten Anklage, ebenso aber einen Traktat, in dem er den König vor einem Konfrontationskurs mit dem Parlament warnt. Der führende politische .Tacitist' der Zeit ist Francis Bacon, der als Politiker loyal zur Krone steht, ja der in seinen Essays extensiv über die Bedingungen einer höfischen Karriere reflektiert hat, aber deshalb kein Absolutist ist.82 Jenseits der Betonung der Notwendigkeit politischer Ordnung ist dieser Späthumanismus nur bedingt als politischer Diskurs zu bezeichnen, Kritik
am
-
79
Der klassische Text ist Justus Lipsius: De Constantia/Von der Standhaftigkeit, 1584, Mainz 1998. 80 jlnstrumentelles' und .strategisches Handeln' sind Jürgen Habermas' Gegenbegriffe zu kommunikativem Handeln', siehe ders.: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., 3. Aufl., Frankfurt/M. 1985; ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983; ders.: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: ders.: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, Text 5; ders.: Überlegungen zur Kommunikationspathologie; Aspekte der Handlungsrationalität; zum Begriff des kommunikativen Handelns, alles in ders.: Vorstudien. Erläuterungen 81 Über einen von Lipsius beeinflussten niederländischen Kleriker in England mit absolutistischen Tendenzen schreibt Willem Nijenhuis: Adrianus Saravia (c. 1532-1613). Dutch Calvinist, first Reformed defender of the English episcopal Church order on the basis of the ius divinum, Leiden 1980; Tuck: Philosophy and Government, Kap. 3, 6; Smuts, Malcom: Court-centred Politics and the Uses of Roman Historians, c. 1590-1630, in: Sharpe, Kevin/ Lake, Peter (Hrsg.): Culture and Politics in Early Stuart England, Basingstoke/London 1994, Text 1; Shifflett, Andrew: Stoicism, Politics & Literature in the Age of Milton. War and Peace Reconciled, Cambridge 1998. 82 History of the World, in: Works of Sir Walter Ralegh, 8 Bde., Oxford 1829, Bd. 2, Buch 1, Kap. 9, Abschn. 2, S. 346; ders.: The Prerogative of Parliaments in England: proved in a Dialogue (pro and contra) betweene a Councellour of State, and a Iustice of Peace, ca. 1615 geschrieben, Erstausgabe posth., Middelburg 1628; Bacon, Francis: Essays, zuerst 1597, Ausgabe letzter Hand 1625, Ware 1997; Kempner, Nadja: Raleghs staatstheoretische Schriften. Die Einführung des Machiavellismus in England, 1928, repr., New York/London 1967; Hill: Intellectual Origins, Kap. 3,9.
Die
.Cambridge School' und die Interaktion politischer Diskurse
67
sondern eher als Politikstil, der keinen bestimmten Ort hat, denn seine Repräglaubten weder an ein ,göttliches Recht der Könige', noch an den Gott der Puritaner und seinen Bund mit England, nicht an die Mythen eines .Common Law', das angeblich aus den germanischen Wäldern stammt, und nicht an die Geltung eines Rechtskodex aus dem spätrömischen Byzanz. Die sentanten
Sprache
der Staatsräson, der .arcana
imperii',
der
.nécessitas', wurde seit
1600 gelegentlich, dann häufiger von der Krone benutzt, sie geht aber, nunmehr fokussiert auf das ,salus populi' als ,suprema lex', ab 1642 auch in den Wortschatz der Revolutionäre ein.83 Im ,Tacitismus' sind bürgerhumanistische Traditionen sowohl aufbewahrt, als auch verneint. Dass humanistisch gebildete Engländer mit dem Vokabular dieser Tradition umgehen, in vielfältigen Kontexten darauf reflektieren, beweist nicht, gegen Markku Peltonen, dass es zu dieser Zeit einen .republikanischen Diskurs' gegeben habe.84 Ben Jonson schreibt Dramen gegen Catilina, der die Republik angreift, und gegen Sejanus, der Kaiser Tiberius zu tyrannischer Politik rät, ebenso wie eine Komödie über italienische .Staatsräson', aber auch Maskenspiele für den Hof.85 Es liegt in dieser späthumanistischen Kultur eine politische Ambivalenz, die erst unter entsprechenden Beetwa
dingungen umschlägt:
in republikanische Programmatik, republikanisches Handeln nach Abschluss des Bürgerkrieges, als die konstruktive Aufgabe entsteht, eine Republik zu schaffen, die ursprünglich niemand gewollt hatte.86 83 Siehe Parker: Observations upon some of his Majesties late Answers and Expresses, Herle, Charles: A fuller Answer to a Treatise written by Doctor Ferne, entituled, The resolving of Conscience, in: Malcolm (Hrsg.): The Struggle for Sovereignty, Bd. 1; Anonymus: Touching the Fundamentall Lawes, or Politique Constitution of this Kingdome, 1643, ebd.; Judson: The Crisis of the Constitution, Kap. 10; dies.: Henry Parker and the Theory of Parliamentary Sovereignty, in: Essays in History and Political Theory, FS für Charles Howard Mcllwain, Text 5; Gough: Fundamental Law, Kap. 6; Mendie, Michael: Parliamentary sovereignty: a very English absolutism, in: PhillipsonlSkinner (Hrsg.): Political Discourse in Early Modern Britain, Text 5; Ottow, Raimund: Politische Gemeinwohl-Diskurse in Großbritannien: von den Rosenkriegen zum Bürgerkrieg, in: Münkler, Herfried/Bluhm, Harald (Hrsg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 184-187; Skinner, Quentin: Classical Liberty and the Coming of the English Civil War, in: van Gelderenlders. (Hrsg.): Republicanism,
Bd.2,Textl. 84
Peltonen: Classical Humanism and
Republicanism
in
English political thought,
1570—
1640, Cambridge 1995; ders.: Citizenship and Republicanism in Elizabethan England, in: van GelderenlSkinner: Republicanism, Bd. 1, Text 5. 85 Jonson: Sejanus, his Fall, in: Ben Jonson's Plays, 2 Bde., London/New York, Bd. 1, 1967; ders.: Catiline his Conspiracy, ebd., Bd. 2, 1970; ders.: Volpone, in: Ben Jonson's Play's and Masques, hrsg. v. Robert M. Adams, New York/London 1979; siehe auch Worden, Blair: Ben Jonson among the Historians, in: SharpelLake (Hrsg.): Culture and Politics, Text 3. Siehe für republikanische Kultur vor und während der Revolution David Norbrook: Writing the English Republic. Poetry, Rhetoric and Politics, 1627-1660, Cam2000. bridge 86
Barber, Sarah: Regicide and Republicanism. Politics and Ethics in the English Revolution, 1646-1659, Edinburgh 1998; Worden, Blair: Republicanism, Regicide and Republic: The English Experience, in: van GelderenlSkinner (Hrsg.): Republicanism, Bd. 1, Text 15.
68
Raimund Ottow
Hier entfaltet sich ein genuin republikanischer Diskurs, der oberflächlich betrachtet eine Revitalisierung bürgerhumanistischer Traditionen darstellt, in mancher Hinsicht aber durchaus neu ist und die republikanische Freiheitsidee
fortschreibt.87
VIII. .Divine Right of Monarchy' (Krone und Kirchenestablishment) und .Civil Law' auf der einen Seite, und Puritanismus und starke Strömungen im ,Common Law' auf der anderen bilden vor dem Bürgerkrieg strategische Bündnisse, während der Späthumanismus politisch ambivalent bleibt, und
Repräsentanten
der
antiquarischen Historiographie beginnen
schon
vor
der
Revolution damit, die naiven Mythen des .Common Law' über die Rechtsgeschichte zu kritisieren, so dass dieser Variante der .Ancient Constitution' im Verlauf der folgenden Jahrzehnte sukzessive
Legitimation entzogen wird.
87
Langfristanalysen von Zera S. Fink: The Classical Republicans. An Essay in the Recovery of a Pattern of Thought in Seventeenth Century England, Evanston 1945; Rahe, Paul A.: Republics, Ancient & Modern, 3 Bde., Chapel Hill/London 1994, Bd. 2; Skinner, Quentin: Liberty before Liberalism, Cambridge 1998; dann Christopher Hill: Milton and the English Revolution, zuerst 1977, London 1997; Cotton, James: The Harringtonian .Party' (1656-1660) and Harrington's Political Thought, in: HPTh 1 (1980), S. 51-67; Worden, Blair: Classical Republicanism and the Puritan Revolution, in: Lloyd-Jones, H. (Hrsg.): History and Imagination. FS für Hugh R. Trevor-Roper, London 1981, S. 182— 200; ders.: Milton's republicanism and the tyranny of heaven, in: Bock u.a. (Hrsg.): Machiavelli and Republicanism, Text 11; ders.: English republicanism, in: BurnslGoldie (Hrsg.): The Cambridge History of Political Thought, 1450-1700, Text 15; Beiträge von dems., in: Wootton, David (Hrsg.): Republicanism, Liberty, and Commercial Society.
1649—1776, Stanford 1994; ders.: John Milton and Oliver Cromwell, in: Gentles u.a. (Hrsg.): Soldiers, writers, and statesmen, Text 11; Dippel, Horst: Tugend und Interesse bei Harrington, in: GG 10 (1984), S. 534-545; Trevor-Roper, Hugh: Milton in Politics, in: ders.: Catholics, Anglicans, and Puritans, Text 5; Goldie, Mark: The civil religion of James Harrington, in: Pagden (Hrsg.): The Languages, S. 197-222; Scott, Jonathan: The rapture of motion: James Harrington's republicanism, in: PhillipsonlSkinner (Hrsg.): Political Discourse, Text 7; ders.: Classical Republicanism in Seventeenth-century England and the Netherlands, in: van GelderenlSkinner (Hrsg.): Republicanism, Bd. 1, Text 4; Gebhardt: Autorität und Macht in der .Politik' James Harringtons; Sullivan, Vickie: The Civic Humanist Portrait of Machiavelli's English Successors, in: HPTh 15 (1994), S. 73-96; Kukuda, Arihiro: Sovereignty and the Sword. Harrington, Hobbes, and Mixed Government in the English Civil Wars, Oxford 1997; Armitage, David u.a. (Hrsg.): Milton and Republicanism, Cambridge 1998; Burgess, Glenn: Repacifying the polity: the responses of Hobbes and Harrington to the ,crisis of the common law', in: Gentles u.a. (Hrsg.): Soldiers, writers and statesmen, Text 9; Davis, J. C: Equality in an unequal commonwealth: James Harrington's republicanism and the meaning of equality, ebd., Text 10; Riklin, Alois: Das Republikmodell von James Harrington, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 8 (1998), S. 93118; ders.: James Harrington Prophet der geschriebenen Verfassung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF, 48 (2000), S. 139-148; Barber, Sarah: A Revolutionary Rogue. Henry Marten and the English Republic, Stroud 2000. -
Die
,Cambridge School' und die Interaktion politischer Diskurse
69
knappe Diskursfeldbeschreibung ist natürlich eine analytischidealtypische Entzerrung, denn in Wirklichkeit operieren Diskurse in Kreuzungs-, Überlagerungs- und Mischungsverhältnissen. Denken wir uns z.B. Diese
einen fiktiven .Gentleman'
dem Londoner Umland: Sein Bruder mag der sich für Rechtsgeschichte interessiert; er selbst, der eventuell als Friedensrichter mit Proklamationen der Krone bekannt wird, die er eventuell in Administration umsetzen soll, besucht bei gelegentlichen Besuchen in der Hauptstadt eine Theaterauffiihrung von Jonson, liest Ralegh und Bacon, wird Sonntags vom lokalen Pastor mit einem Sermon über das göttliche Recht des Königs erbaut, das eine Zwangsanleihe der Krone legitimieren soll, während seine Frau einem puritanischen Zirkel angehört und deshalb vor ein Kirchengericht mit Civilians' zitiert wird, usw. Auf dieser mikrohistorischen Ebene, auf der sehr verschiedene Konstellationen existieren, entscheidet sich, wie gegensätzliche ideologische Kräfte sich in der Bildung von ideologischen Orientierungen auswirken. Diese Prozesse können nicht, oder nur sehr punktuell, genau rekonstruiert werden. Das Faktum des Verhaltens in Situationen konfligierender Loyalitäten gibt letztlich Auskunft darüber, welche ideologisch-normative Werthierarchie sich ausgebildet hat. Aber damit die politische Geschichtsschreibung diese Prozesse analysieren kann, muss die Historiographie politischen Denkens ihr ein möglichst adäquates Bild des politischen Diskursfeldes zur Verfügung stellen. Und Diskurse existieren und gewinnen Stabilität nicht in einem außerweltlichen Raum reinen Denkens, sondern in bestimmten Milieus und Institutionen. Insoweit ist Diskursfeldanalyse tatsächlich nicht nur idealtypische Analyse und Rekonstruktion also bloß ein geistiges Konstrukt im Kopf des Historikers -, sondern als realgeschichtliche politische Soziologie zu betreiben. Diese Zusammenhänge konnten hier nur angedeutet werden. aus
professioneller .Common Lawyer' sein,
-
Veröffentlichungen: Ottow, Raimwid/Münkler, Herfried: .Ancient Constitution'. Englische Verfassungsdiskurse des 17. Jahrhunderts, in: humboldt spectrum 7, H. 2 (2000), S. 46-50. Ders.: .Ancient Constitution' und .Mixed Monarchy'. Zur Diskussion um britische Verfassungsdiskurse der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Politik 48, H. 1 (2001), S. 72-104. Ders.: Politische Gemeinwohl-Diskurse in Großbritannien: von den Rosenkriegen zum Bürgerkrieg, in: Münkler, Herfried/Bluhm, Harald (Hrsg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 169—189. Ders.: Ein Modell politischer Diskursanalyse, in: Archives Européennes de Sociologie 42, H. 2 (2002), S. 243-271. Ders. : Die Gracchen und ihre Rezeption im politischen Denken der Frühen Neuzeit, in: Der Staat 42, H. 4 (2003), S. 557-581. Ders.: Protestantische Widerstandstheorie in England und Schottland: Gottes Gebot und die Souveränität des Volkes, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 56, H. 3 (2004), S. 193-221. Ders.: Politischer Patriarchalismus im 16./17. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Politik 52, H.2(2005),S. 190-207.
Kommunikation über Herrschaft: Obrigkeitskritik im 16. Jahrhundert Luise Schorn-Schütte I.
Einleitung
1. In den ersten drei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dominierten sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen die europäische Geschichtsschreibung. Mit national je unterschiedlicher Intensität rückten die noch bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts vorherrschenden politik- und ideengeschichtlichen Forschungen in den Hintergrund. Besonders ausgeprägt war diese Schwerpunktverlagerung in der doppelten deutschen Geschichtsschreibung. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Zum einen ging es um die Wiederaufnahme der im Nationalsozialismus abgebrochenen Forschungstraditionen, zum anderen um die Aufarbeitung sozialgeschichtlicher Ansätze, die sich in der Konfrontation mit der marxistischen Geschichtsschreibung als dringlich erwiesen. Diese Diskussionen prägten die vergangene DDR ebenso wie die alte Bundesrepublik.1 In etwas abgeschwächter Intensität waren solche Positionsbestimmungen nach 1945 auch für die gesamteuropäische Geschichtsschreibung Ton angebend. Das Ergebnis für Westeuropa (und dazu zählte auch die nordamerikanische Forschung) war eine Doppelung der Forschungsstrategien: neben jener dichten sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Forschung etablierte sich die traditionelle geistes- und ideengeschichtliche Forschung aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wieder, um sich in einer Theorie bezogenen Selbstreflexion neu zu orientierten und als New History of Ideas oder Neue Geistesgeschichte zu entfalten. Parallel dazu führte die Öffnung jener strikten Wirtschafts- und Sozialgeschichtsschreibung für mentalitätshistorische Ansätze zur Wiederentdeckung der in bestimmten Phasen der Forschung als 1 Die wechselseitige Fixierung der deutschen Historiographie in Ost und West verstärkte die Dominanz der sozialgeschichtlichen Forschung, so dass die Ausblendung anderer Aspekte historischer Realität hier vermutlich ausgeprägter funktionierte als im übrigen Europa. Wissenschaftliche Untersuchungen zur „Beziehungsgeschichte" der doppelten deutschen Geschichtswissenschaft existieren erst in Ansätzen siehe Martin Sabrow: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR, München 2001, S. 253-341; Annäherungen finden sich v.a. in den Teildisziplinen beispielsweise zur Reformationsgeschichtsschreibung in Ost und West, dazu Luise Schorn-Schütte: Die Reformation. Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung, 3. erg. Aufl., München 2003, S. 100-105; Marke, Olaf: Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung, München 2005, S. 88-91; LolzHeumann, Ute/'Ehrenpreis, Stefan: Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002, S. 10ff.u.ö.
Luise Schorn-Schütte
72
„Überbauphänomen" abgewerteten
Bereiche historischer Realität wie z.B. der Religion oder geistiger Bewegungen und Ideen.2 2. Das Charakteristische der derzeitigen europäischen Forschungslandschaft ist die Vielfalt der methodischen und inhaltlichen Forschungsstrategien einerseits, ihre Offenheit für grenzüberschreitende Differenzierungen andererseits. Diese Situation ist wie geschaffen für die Rezeption solcher Forschungswege, die in den vergangenen Jahrzehnten zu stark im Windschatten der dominanten Richtung gestanden haben. Dazu gehört die New History of Ideas/Neue Ideengeschichte, die die Verfahren der historischen Semantik, der historischen Anthropologie und der historisch arbeitenden politischen Theorieforschung mit den Erkenntnisstandards der Sozial- und den Traditionen der klassischen Ideengeschichtsschreibung zu verbinden sucht. Auch und gerade für die Geschichtsschreibung der europäischen Frühen Neuzeit liegt in diesem Zugang eine Chance, wird doch damit die Bedeutung der Religion als prägender Faktor wieder in das Zentrum des Interesses gerückt eine Rolle, die nicht nur als Sozialgeschichte der Religion, sondern darüber hinaus in deren enger Verbindung mit der Artikulation politischer Normen zu verstehen ist. Nicht zu Unrecht wurde mit Blick auf das 16./17. Jahrhundert von „politischer Theologie" gesprochen, wenn es um die Erforschung frühneuzeitlicher Weltdeutungsmuster und deren Bedeutung für die praktische Politik jener Jahrhunderte geht.3 Trotz verschiedener nationaler Ansätze kann von einem allseits akzeptierten Forschungsfeld allerdings noch nicht gesprochen werden. Zumindest in -
2
Dazu
knapp
mit weiterer Literatur Luise Schorn-Schütte: Neue
Geistesgeschichte,
in:
Eibach, Joachim/Lottes, Günther (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, S. 270-280 und grundlegend Günther Lottes: „The State of the Art." Stand und Perspektiven der „intellectual history", in: Kroll, Frank-Lothar (Hrsg.): Neue Wege der FS für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 27^15. Ideengeschichte. 3
Wolfgang Reinhard schlägt für die Erforschung dieser frühneuzeitspezifischen VerzahEtablierung einer politischen historischen Anthropologie vor, denn das politische Verhalten, die politisch-soziale Praxis der Europäer in der Frühen Neuzeit habe deren politische Kultur ausgemacht. Dieser Vorschlag ¡st für den hier und schon an anderer Stelle skizzierten Ansatz der Verfasserin, die erneuerte Ideengeschichtsschreibung für die Erforschung der Geschichte der Frühen Neuzeit fruchtbar zu machen, anschlussfähig. Vgl. Reinhard, Wolfgang: Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen historischen Anthropologie, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 27 (2001), S. 593-616 sowie Lusie Schorn-Schütte: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Aspekte der nung die
politischen
Kommunikation im Europa des 16./17. Jahrhunderts, München 2004 (Beiheft Historischen Zeitschrift [HZ] 39), S. 1-12. Der Begriff der „politischen Theologie" wird hier epochen-spezifisch verwendet zur Kennzeichnung „für das Ineinander von Religion und Politik, für die Theologisierung der Politik und Politisierung der Theologie", so Siegfried Wiedenhofer: Politische Theologie, Stuttgart 1976, S. 11. Das Auseinandertreten beider Bereiche ist erst ein Phänomen des 18. Jahrhunderts, die bekannte Charakterisierung durch Carl Schmitt, dass „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre [...] säkularisierte theologische Begriffe seien", erweist sich als Festlegung auf die Strukturen des 18. und deren Rezeption im 19./20. Jahrhundert. Siehe Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1979 (zuerst 1922), S. 49. zur
-
Kommunikation über Herrschaft
73
der deutschen Geschichtswissenschaft wird all das, was als intellectual history bezeichnet werden kann, noch immer mit dem Verdikt einer abgestandenen Ideengeschichtsschreibung belegt. Dass dies wenig weiterführend ist, liegt schon allein deshalb auf der Hand, weil der Anschluss an die angelsächsischen Forschungen zum methodischen und inhaltlichen Potential einer neuen Ideengeschichtsschreibung verpasst zu werden droht. Darüber hinaus aber begibt sich die Forschung zur Geschichte Alteuropas im 16. und 17. Jahrhundert eines zentralen Zugangs zum Verständnis theologiepolitischer Weltdeutungsmuster. Denn anders als dies die Forschung bislang betonte, waren die politiktheoretischen Diskussionen im Europa der Frühen Neuzeit keine „nationalen Sonderwege", sondern Teil einer europäischen Kommunikationsordnung, einer Ordnung politischer Sprachen, die in ihren aufeinander bezogenen Strukturen allerdings bislang kaum zur Kenntnis genommen wurden.4 Die Mehrzahl der Forschungen, die sich mit den zeitgenössischen Debatten um die Struktur des Zusammenhanges von Religion und Politik als Grundfrage politischer Legitimation in der Frühen Neuzeit befassten, ging von der modernisierungstheoretischen Annahme aus, wonach das Auseinandertreten beider Bereiche die Richtung der neuzeitlichen Entwicklung bestimmt habe. Dieser Blickwinkel aber erfasst nur einen Teil der frühneuzeitlichen politischen Debatten; ein anderer großer Bereich, der an der Verzahnung festhielt, und bei den Zeitgenossen als politica Christiana (christliche Herrschaftslehre) sehr präsent war, blieb weitgehend ohne Beachtung. Diese selektive Wahrnehmung ist vermeidbar, wenn im Sinne der New History of Ideas davon ausgegangen wird, dass politische Normen und Weltdeutungsmuster Teil einer auf die Überzeugung des Gegners oder Partners ausgerichteten komplexen Argumentationsstrategie sind.5 Traditionale ebenso wie solche Normen, die im Sinne des „Modernerwerdens" von sozialen Ordnungen wirken sollen, sind aufs Engste miteinander verbunden. Nur in der Beschreibung beider Seiten dieser „politischen Kommunikation" einer Zeit wird deren Wirklichkeit vollständiger greifbar.
4
Allerdings ist Bewegung nicht zuletzt innerhalb der jüngeren Generation der Frühneuzeithistoriker zu beobachten. In dem Ende 2004 erschienenen Band Meumann, MarcuslPröve, Ralf (Hrsg.): Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamischkommunikativen Prozesses, Münster 2004 haben die Herausgeber eine zwar scharfeüngige, aber anregend argumentierende Einleitung zu dem hier angesprochenen Problem verfasst; darin wird das Konzept erläutert, nicht mehr von Staatsbildung, sondern von „Herrschaft als dynamischem und kommunikativem Prozess" zu sprechen, mit dem „eine veränderte Auffassung von Herrschaftspraxis gemeint [ist], die nicht länger von bipolaren Beziehungen von Herrschenden und Beherrschten ausgeht, sondern diese durch ein multipolares Modell ablöst." (S. 45), der sich als gesamteuropäisches Phänomen darstellte. 5 Siehe dementsprechend Hampsher-Monk, Iain: Neuere angloamerikanische Ideengeschichte, in: LotteslEibach (Hrsg.): Kompass, S. 292-306 und Hartmut Rosa: Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie, in: PVS 35 (1994), S. 197-223, bes. S. 205f
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Was dieser methodische Ansatz für die Erforschung der Geschichte der Frühen Neuzeit bedeuten kann, versuche ich im Folgenden zu skizzieren. Zunächst ist die Begrifflichkeit zu präzisieren: was heißt politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit? (II) Anhand der Debatten um das Recht, eine unchristliche Obrigkeit zu kritisieren, ihr wenn nötig gar zu widerstehen, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in ganz Europa heftig geführt wurden, soll die Tragfähigkeit des Konzeptes der politischen Kommunikation erprobt werden (III). In einem Schlussteil werden die Ergebnisse thesenhaft gebündelt (IV).
II. Politische Kommunikation: eine Begriffsklärung
politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit? Oder forschungsstrategisch gefragt: wie lassen sich die Beziehungen zwischen institutionalisierten Ordnungen und den jeweiligen zeitgenössischen Werthaltungen und Normgefügen erforschen? Die Komplexität der Wechselwirkungen von Sprache (als Ausdruck von mentalen Haltungen und Normen) und politischer Realität ist in den Diskussionen seit dem linguistic turn sehr präsent; es fehlt allerdings das Instrumentarium, um diese Beziehung für einzelne Zeitphasen exakt zu bestimmen. Die Begriffsgeschichtsschreibung stellt sich als ergänzungsbedürftig dar, da sie zusammen mit der Festlegung der Begriffe auch den Blick der Historiker auf Was also ist
diese Ausschnitte vergangener Wirklichkeiten festlegt.6 Diesem Problem versucht das Konzept der political languages der Cambridge School (Quentin Skinner/John G. A. Pocock) zu entgehen, indem es die Erforschung politischer Sprachen in der zeitgenössischen Verwendung politischer Begrifflichkeiten als Gebrauch paralleler oder auch kontroverser Semantiken verankert.7 6
Zu diesem Problem gibt es inzwischen zahlreiche Abhandlungen vgl. sehr präzis Hampsher-Monk, Iain: Speech Acts, Languages or Conceptual History?, in: ders./Tilmans, Karin/van Vree, Frank (Hrsg.): History of Concepts: Comparative Perspectives, Amster-
dam 1998, S. 37-50. 7 Der Ansatz der Cambridge School ist wiederholt beschrieben worden, eine Sammlung wichtiger Texte auch der beiden „Gründerväter" findet sich in: Tully, James (Hrsg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and His Critics, Princeton 1988; zum Vergleich der Cambridge School und der Begriffsgeschichtsschreibung siehe Hampsher-Monk u.a. (Hrsg.), wie Anm. 6, sowie Bödeker, Hans Erich (Hrsg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002. Eine informative Darstellung des Konzeptes „politischer Sprachen" und der dazu vorgetragenen Rritikpunkte geben Hellmuth, Eckhart/von Ehrenstein, Christoph: Intellectual History made in Britain. Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: GG 27 (2001), S. 149-172. Eine Skizze zur Rezeption der neuen methodischen Ansätze in Italien findet sich bei Sandro Chignola: Begriffsgeschichte in Italy. On the logic of modern political concepts, in: History of Concepts Newsletter 3 (2000), S. 9-17. Aus politikwissenschaflicher Perspektive schreibt Olaf Asbach: Von der
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Für die Cambridges School ebenso wie für die Begriffsgeschichtsschreibung und den systemtheoretischen Ansatz Niklas Luhmanns ist der Begriff der Kommunikation zentral8, geht es doch allen Ansätzen um das Verhältnis von Sprache und vergangener Wirklichkeit, um die Beziehung zwischen Nomen und Phänomen. Während aber die begriffsgeschichtliche Forschung von einer Dichotomie zwischen materieller Welt und dem Begriff/Sprache von ihr ausgeht, betrachten die mit dem Instrumentarium der historischen Semantik arbeitenden Vertreter der Cambridge School die Vergangenheit als Einheit in der Kommunikation. Für den Historiker wird historische Realität auch mit Hilfe der Sprache konstituiert, sie ist nie lediglich Reflex der Wirklichkeit, vielmehr ist Sprache zugleich Handeln.9 Obgleich beide Ansätze Geschichte als Bedeutungsgeschichte von Schlüsselworten zu schreiben beabsichtigen, haben die Unterschiede bei der Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Sprache und Realität bemerkenswerte Konsequenzen.10 Die Begriffsgeschichte geht davon aus, dass sich der Wandel sozialer Wirklichkeiten im Wandel des Sprechens über diese wieder findet, sie konzentriert sich also auf Leitbegriffe, in denen sich aus der Perspektive des schreibenden Historikers jener Umbruch am deutlichsten widerspiegelt. Die Folge ist die Reduzierung der Kommunikationsmuster auf jene Schlüsselbegriffe, die das Moderner-Werden der Gesellschaften verdeutlichen. Die Traditionen aber, in denen bestimmte Sprachmuster stehen, ebenso wie die Begriffsentstehungsgeschichte und solche Leitbegriffe, die das beharrende Moment sozialen und politischen Wandels benennen, werden nicht immer ausreichend berücksichtigt; entsprechendes gilt für die nicht intendierten Folgen der Kommunikation." Der Ansatz der Cambridge School versucht solche Verengungen zu vermeiden, indem er Sprachintentionen ebenso strikt berücksichtigt wie die Tatsache, dass Begriffe in Traditionen stehen, die ihre je eigene Entstehungsgeschichte haben. Zudem geht es der Cambridge School ausdrücklich nicht um das „Moderner-Werden" historischer Gesellschaften. Vielmehr ist es ihr Anliegen, mit dem Begriff der kommunikativen Absicht deutlich zu machen, dass jeder noch so innovative Sprechakt nur vor dem Hintergrund konventioneller, in Traditionen eingebundener Kommunikationsformen identifiziert Geschichte politischer Ideen zur „History of Political Discourse"? Skinner, Pocock und die Cambridge School, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12 (2002), S. 637-667. 8 Vgl. Luhmann, Niklas: Was ist Kommunikation?, in: ders.: Aufsätze und Reden, Stuttgart S. 94-110. 2001, 9 Dies ist der Kernsatz fur Quentin Skinner vgl. dazu Schorn-Schütte, wie Anm. 2. 10 Die folgenden Ausführungen stützen sich wiederholt auf Schorn-Schütte: Einleitung, wie Anm. 2 sowie dies.: Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit: Obrigkeitskritik im Alten Reich, in: GG 2005 (im Druck). " Diese Kritik präzis benannt bei Eßer, Rainhart: Historische Semantik, in: Lottes/Eibach (Hrsg.): Kompass, S. 281-292.
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werden kann. Deshalb spielt die Kontextualisierung politischer Ideen eine sehr große Rolle. Kommunikation wird verstanden als die Verwendung „eines Musters (stabiler) Deutungen und Assoziationen als Scharnier zum Transfer hin zu einem ganz anderen Muster mit einer anderen Bedeutung."12 Da es sich dabei stets um die Kommunikation und die Intentionen politischer Akteure in historischen Gesellschaften handelt, wird das Ganze als „politische Kommunikation" bezeichnet. Die Kritik, die an der Cambridge School formuliert wird, ist keineswegs unerheblich, insbesondere der Einwand, dass den untersuchten Kommunikationsmustern eine zu große Kohärenz beigemessen werde, ist ernst zu nehmen.13 Berücksichtigt man die Einwände, so erleichtern sie das Arbeiten mit dem Konzept eher als dass sie es erschweren. Versteht man Kommunikation wie beschrieben, als Verwendung eines stabilen Deutungsmusters, um ein neues wiederum stabiles Muster der Deutung zu erschließen, so ist es für den Historiker unverzichtbar, die Kategorien zu benennen, mit deren Hilfe dieser Wandel gemessen wird. Sie können als Normgefüge und Werthaltungen bezeichnet werden, ohne sie ist Kommunikation im gemeinten Sinne nicht möglich. Wie aber ist ein solches Normgefüge erschließbar? Auch dieses ist stetem Wandel unterworfen oder, mit Luhmann gesprochen, auch Werte sind „kommunikative Artefakte."14 Aber sie existieren auch nicht ohne Bezug zur politischen Ordnung politische Kommunikation ist demnach zu bestimmen als „Wechselverhältais zwischen politischer Ordnung und den jeweiligen politischen Normen und Werten."15 Greifbar wird dies für den Historiker in der Untersuchung der politischen Semantiken einer Zeit, die sich in kleinen Ausschnitten als politische Sprache zusammen zu fügen scheint. Die so vorläufig festgelegte politische Kommunikation ist im Ergebnis offen; nicht immer nämlich ist das Ergebnis ein Konsens, auch die Zuspitzung des Problems ist möglich16; keineswegs ist sie immer „erfolgreich" und schließlich ist es ohne Belang, wie die Richtung des Wandels zu bewerten ist. Was als Erfolg charakterisiert werden könnte, ist erst Teil der Kommunikation über die Ordnung des Politischen. Immer aber ist sie an Institutionalisierungen gebunden, verstanden als Verstetigung und/oder Begrenzung von Prozessen der Verteilung von politischer Herrschaft.17 In jedem politischen Gemeinwesen gibt es deshalb Institutionen politischer Kommunikation, die -
12
13
Hampsher-Monk: Neuere angloamerikanische Ideengeschichte, S. 296. Siehe die Zusammenstellung der Kritik bei Hellmuth/von Ehrenstein: Intellectual
S. 161-170. ry, 1
Histo-
Luhmann: Was ist Kommunikation?, S. 106. So die Definition bei Herfried Münkler: Ideengeschichte (Politische Philosophie), in: Jarren, Otfried u.a. (Hrsg.): Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, Opladen 1998, S. 65. 16 Luhmann: Was ist Kommunikation?, S. 106. 17 Münkler: Ideengeschichte, S. 66 15
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getragen werden von sozialen Gruppen und/oder Individuen; für deren Funk-
tionieren
gibt
es
Regeln und Verfahrensweisen, sie sind der sprachlichen
Analyse zugänglich.18
III. Kommunikation über Herrschaft im 16. Jahrhundert: Gelehrte Juristen und Theologen als Politikberater In allen europäischen Regionen der Frühen Neuzeit gab es zwar vergleichbare, aber doch im Einzelnen voneinander abweichende Institutionen der politischen Kommunikation. Kann deshalb überhaupt von einer europäischen politischen Kommunikation gesprochen werden? Gab es eine inhaltlich vergleichbare Wechselwirkung zwischen Norm und Institution? Herrschaft in der frühen Neuzeit des 16./17. Jahrhunderts war begrenzte Herrschaft, also war sie verteilte Herrschaft, ihre Ausübung bedurfte des Konsenses.19 Die Kommunikation über diese Norm hatte unterschiedliche Erscheinungsformen, ebenso wie es unterschiedliche Formen der Konsensfindung bzw. des Austrags von Konflikten über sie gab. Das allgemein zur
Verfügung stehende politiktheoretische
Vokabular war die aristotelische Lehre von den Herrschaftsformen der Aristokratie, Monarchie und Demokratie. Debatten über die Vorzüge dieser Institutionalisierungen von Herrschaft gab es überall dort, wo die vorhanden Mechanismen in Zweifel gezogen wurden, und das war aufgrund der Verzahnung von dynastischen und religiösen Konflikten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in ganz Europa der Fall. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass trotz aller Unterschiede überregionale Gemeinsamkeiten in der Form politischer Kommunikation identifizierbar sind, wie sie sich u.a. in den Debatten um die Legitimität von Gegenwehr, Notwehr, Widerstandsrecht bis hin zum Recht zur Obrigkeitskritik (correctio
principis) zeigten. Entgegen der landläufigen Auffassung vom Obrigkeitsdominierten Gang der deutschen Geschichte galt das auch und gerade für das Alte Reich im 16. Jahrhundert; die Kontroversen scheinen sogar hier ihren Anfang genommen zu haben. In jüngeren Veröffentlichungen ist wiederholt auf die intensive Verzahnung z.B. der englischen und deutschen Debatten um die Legitimation 18
Mit der Konzentration auf sprachliche Kommunikation wird die Bedeutung der so ge„symbolischen Kommunikation" nicht verkannt, aber deren Absolutsetzung erscheint ebenso wenig angebracht. Siehe dazu ausführlicher Schorn-Schütte: Politische Kommunikation. 19 Auch die gegenwärtige Mediävistik betont die Existenz konsensgestützter Herrschaft vgl. Schneidmüller, Bernd: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Heinig, Paul-Joachim/Ja/ws, Sigrid/Sc/i/m'c/i, HansJoachim/Sc/nrágeí, Rainer CbristophlWefers, Sabine (Hrsg.): Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. FS für Peter Moraw, Berlin 2000, S. 53-87. nannten
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Ihren Anfang nahvon Herrschaft hingewiesen worden. im Konflikt zwischen Kaiser Karl und den V. jene protestantischen Reichständen, die sich seit dem Ende zwanziger Jahre im Vorfeld des Schmalkaldischen Bundes und im Umkreis der Interimskrise immer weiter verschärfte. Die seit den dreißiger Jahren europaweit geführte Debatte um die und
Begrenzung
men
Legitimität
von Notwehr und Gegenwehr knüpfte an spätmittelalterliche Traditionen an, worauf alle Beteiligten nachdrücklich immer wider verwiesen haben. Damit wird deutlich, dass die Zeitgenossen selbst diese Auseinandersetzungen als eine legitime Debatte um die Verteilung von Herrschaftsrechten betrachteten, die ganz und gar nichts Revolutionäres an sich hatte. Die verwendeten Begriffe, Deutungsmuster und theologisch-politischen Argumentationslinien sind deshalb auch mit dem dem Verfassungskampf des 19. Jahrhunderts entlehnten Begriffsfeld „Widerstand" nicht immer adäquat
erfasst.21 Die Gruppe der gelehrten protestantischen Theologen und Juristen, die auf Seiten der protestantischen Reichsstände die Diskussionen entscheidend mitprägten, bildete seit den frühen dreißiger Jahren eine geschlossene „Kommunikationsgemeinschaft". Die Aufgabe der Politikberatung, die sie seitdem im Alten Reich, wenige Jahre später auch in England, in Dänemark und Schweden und seit den fünfziger Jahren schließlich auch in Frankreich um nur einige Beispiele zu nennen wahrzunehmen hatte, wies ihr eine Deudie sie sich nicht allein durch gelehrte Studien angeeigzu, tungskompetenz net hatte, sondern auch durch die Beteiligung an einem gelehrten Diskurs, der aus jeweils aktuellem politischen Anlass in Gestalt von Predigten, Gutachten oder Drackschriftenliteratur in der politischen und gelehrten „Öffentlichkeit" geführt wurde.22 Schon deshalb kann diese Literatur großes Interesse bean-
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Siehe dazu Asch, Ronald G: Von der „monarchischen Republik" zum Gottesgnadentum? Monarchie und Theologie in England von Elisabeth I. bis zu Karl I., in: SchornSchütte (Hrsg.): Aspekte, S. 123-148 sowie ders.: Ein neues Interim? Die englische Kirche und die Via Media zwischen Genfund Rom um 1600, in: Schorn-Schütte, Luise (Hrsg.): Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt. Das Interim (1548/1550) im europäischen Kontext, Gütersloh 2005. 21 Daraufhat zutreffend hingewiesen Robert von Friedeburg: Widerstandsrecht im Europa der Neuzeit: Forschungsgegenstand und Forschungsperspektiven, in: ders. (Hrsg.): Widerstandsrecht in der Frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutschbritischen Vergleich, Berlin 2001, S. 11-60. 22 Es handelt sich dabei um einen Wissensbestand, der praktische Kenntnisse mit der Kenntnis von Verfahrensweisen und -ablaufen und mit der Kenntnis der normativen Grundlagen aktueller Positionen verbindet; dieser Wissensbegriff wird diskutiert und weiterentwickelt innerhalb der Arbeiten des KFK 435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel" an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfürt/Main. Siehe dazu auch Fried, ioharmeslSüßmann, Johannes: Revolutionen des Wissens eine Einführung, in: dies. (Hrsg.): Revolutionen des Wissens. Von der Steinzeit bis zur Moderne, München 2001, S. 7-20. Öffentlichkeit meint für die hier betrachteten Zeiträume einen Kreis von gelehrten Entscheidungsträgern bzw. Informanten oder Gelehrten, der sich untereinander
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sprachen, sie kann es aber auch deshalb, weil die Verfasser in engem sozialen und geistig-geistlichem Austausch gestanden haben und schließlich drittens in einer politischen Situation zu agieren hatten, in der die beanspruchte Legitimität des protestantischen Herrschaftsverständnisses gegen den Verdacht der Rebellion zu verteidigen war. Dies geschah frühneuzeitspezifisch durch die Berufung auf theologisch-politische Traditionen?* 1. Der
Textkorpus Luthers Reformbemühungen zielten auf eine Trennung von Kirche und Welt; das Ergebnis allerdings war eine, nunmehr konfessionell getrennte, Intensivierung der Verzahnung beider Bereiche. Die inhaltliche Füllung des neuen theologiepolitischen Feldes geschah nicht durch eine einmalige Handlung eines einzelnen Reformators. Vielmehr entfaltete sich unter Anknüpfung an die theologiepolitischen Normierungen, die von Luther ausgingen, seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts eine breite, sehr praktisch orientierte, häufig auch polemisch argumentierende Literatur, aus der sich so etwas wie
eine „politisch-soziale Ethik" des Protestantismus im Alten Reich konrurieren lässt. Betrachtet man die zahllosen Titel in den großen Bibliotheken des 16./17. Jahrhunderts, so werden bestimmte Gruppierungen erkennbar, deren inhaltliche Aufarbeitung aber noch weitgehend fehlt. Dazu gehören die verschiedenen Gattungen protestantischer Predigtliteratur, Schriften zum Amtsverständnis der Geistlichkeit, Gutachten, Anweisungsliteratur, Hausväterliteratur, Ständespiegel, Flugschriften z.B. im Umkreis des Interim u.a.m.24 Ein gewichtiges Thema, das in Schriften verschiedenster Gattung behandelt wurde, war die Ordnung zwischen den Ständen. Diese im weitesten kannte; dies ist keine Öffentlichkeit, wie sie für das ausgehende 18. Jahrhundert angenommen wird, derartiges existierte im 16717. Jahrhundert nicht. 23
Das gilt beispielhaft für den Begriff des bonum commune, dessen Verwendung im 16. Jahrhundert einen deutlichen Wandel erlebte vgl. dazu Simon, Thomas: Gemeinwohltopik in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Politiktheorie, in: Münkler, HerfriedlBluhm, Harald (Hrsg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 129-146. Ganz vergleichbar ist die Argumentation innerhalb der Notwehr-/Gegenwehrdebatte siehe dazu ausführlich unten 4.1. und die anregenden Ausführungen von Gabriele Haug-Moritz: Widerstand als „Gegenwehr". Die schmalkaldische Konzeption der „Gegenwehr" und der „gegenwehrliche" Krieg des Jahres 1542, in: Friedeburg. Widerstandsrecht, S. 141-161 sowie zur Kooperation beider Gruppen in der theologiepolitischen Debatte des frühen 16. Jahrhunderts Eberhard henmann: Widerstandsrecht und Verfassung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Neuhaus, He\mutlStollbergRilinger, Barbara (Hrsg.): Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. FS für Johannes Kunisch, Berlin 2002, S. 37-69. 24 Die Befassung mit der reichen Predigtliteratur hat in den letzten Jahren zugenommen vgl. u.a. Kaufmann, Thomas: Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Hztm. Mecklenburg, Gütersloh 1997; Nelson Burnett, Amy: Communicating the Reformation: Ministers and their Message in Basel 1529-1629, 2005 (im Druck). -
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Sinne als Lehre von den Drei Ständen keineswegs neue Thematik Vorläufer in der spätmittelalterlichen Diskussion sind wohlbekannt erlebte eine inhaltliche Erweiterung und damit eine neuerliche Bedeutung, die nicht zufällig war, sondern Teil der umfassenderen Diskussion um gerechte Herrschaft.25 Die inhaltlichen Ausweitungen bezogen sich einerseits auf die Stellung der neuen Sozialgruppe Geistlichkeit, machten deshalb das Verhältnis zwischen Kirche und Welt, politica und ecclesia, zum Thema. Sie bezogen sich andererseits auf die Ordnung des Hauses, d.h. auf die Aufgaben, die Hausvater und Hausmutter innerhalb des Standes der oeconomia wahrnehmen sollten. Aufgrund der Einbindung des geistlichen Amtes in die weltliche Ordnung war die oeconomia für den Protestantismus die einzig legitime Lebensordnung geworden; deren Strukturen mussten nicht zuletzt unter dem Aspekt des Vorbildcharakters für Herrschaft im allgemeinen neu durchdacht werden.26 -
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2. Die Autoren
Politische Kommunikation braucht feste Rahmenbedingungen; dazu gehören an erster Stelle individuelle und institutionalisierte Kommunikationswege und -modi. Für die hier betrachtete Personengrappe waren dies generationen- und berafsspezifisch einerseits verwandtschaftliche Netzwerke; andererseits Kontakte, die aus gemeinsamen Studienzeiten an Universitäten und/ oder akademischen Gymnasien stammten und/oder Kontakte, die aus gemeinsamer Amtstätigkeit herrührten. Die Autoren der hier untersuchten Texte gehören für den Zeitraum zwischen 1500 und 1610 fünf Generationen an.27 Dementsprechend unterschiedlich verlaufen die Lebenswege und Kommunikationsweisen dieser Gruppen. Die erste Generation setzte sich aus Juristen und Theologen gleichermaßen zusammen; Letztere waren mehrheitlich bis in die Mitte der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts katholische Kleriker gewesen. Mehrfach hatten sie wäh-
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25
Siehe dazu mit dem Nachweis weiterer Literatur Schorn-Schütte, Luise: Die DreiStände-Lehre im reformatorischen Umbruch, in: Moeller, Bernd (Hrsg.): Die Reformation als Umbruch, Gütersloh 1998, S. 435-461. 26 Ausführlich Schorn-Schütte, Luise: Evangelische Geistlichkeit in der Frühen Neuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft, Gütersloh 1996, S. 390-456. 27
Für die Sammlung der hier zugrunde gelegten 67 von insgesamt 200 Basistexten, von denen 15 auch inhaltlich intensiver ausgewertet wurden, wurden schematische „Generationen" angesetzt, denen die Einzelfälle zuzuordnen waren: I vor 1500: 3; II 1500-1524: 9; III 1525-1549: 17; IV 1550-1574: 14; V 1575-1599: 10; VI 1600-1624: 4; VII 1625-1650: 4. Die biographischen Informationen wurden auf der Grundlage vorhandener Lexika u.a. erhoben; sie sind Bestandteil einer umfassenden Datensammlung, die am Lehrstuhl Neuere allgemeine Geschichte der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfürt/Main als Ergebnis verschiedener Projektforschungen (u.a. auch eines, das im Schwerpunktprogramm der DFG „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskräfte der Neuzeit" bearbeitet wurde) geführt wird.
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rend der gleichen Zeitspanne an der gleichen Universität studiert, fast alle hatten in den frühen zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts ihr Studium (sei es in der theologischen, sei es in der juristischen Fakultät) in Wittenberg absolviert und dort in direktem Kontakt mit dem Kreis der Reformatoren um Martin Luther, Philipp Melanchthon, Justus Jonas, Georg Maior und Johannes Bugenhagen gestanden. Wie viele aus der ersten Generation der Reformatoren stammten auch diese Schriftsteller aus städtischen Ratsfamilien, waren also Angehörige der stadtbürgerlichen Führungsgruppen jener Zeit. Über ihre Ehefrauen wurden sie eingebunden in das mit dieser Generation entstehende Netz protestantischer stadtbürgerlicher Entscheidungsträger, die nicht zuletzt als geistlich-politische Berater von Stadträten und/oder Landesherren amtierten. Dieses Netz entfaltete und verdichtete sich in den beiden folgenden Generationen28 sichtlich. Das zeigt sich z.B. deutlich an der Differenzierung der bevorzugten Studienorte. Während auch die zweite Generation mehrheitlich einmal im Laufe des Studiums in Wittenberg anzutreffen ist, traten für die dritte Generation, diejenige also, die geboren wurde als sich die Reformation bereits etabliert hatte, Tübingen und Leipzig hinzu. Für die vierte und fünfte Generation wurden vermehrt die Universitäten bedeutsam, die für das heimische Territorium als Ausbildungsstätten dienten. Hier griff die gezielte Förderung des eigenen theologischen Nachwuchses mit Hilfe landesherrlicher Stipendienanstalten. Selbst wenn von einer Regionalisierung der Kommunikationswege und sozialen Bezüge für die hier betrachtete Gruppe deshalb nicht gesprochen werden kann, ist doch nunmehr die Herausbildung von verschiedenen, einander nicht immer tangierenden Kommunikationsnetzen zu beobachten, die sich aber erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts allmählich auf die Gruppe der gelehrten Theologen konzentrierten. Die biographischen Daten legen die Erklärung nahe, dass für die dritte und vierte Generation die im Zuge einer gemeinsamen Amtstätigkeit verdichteten Kommunikationswege stärkere Bedeutung erhielten. Wohl auch deshalb lassen sich generationenspezifische Prägungen der hier benennbaren dritten Generation (etwa seit den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts) identifizieren.
29
Für diese Generationen galt weiterhin, dass die Einbindung in das Kommunikationsnetz protestantischer.Entscheidungsträger und gelehrter Politikberater
häufig über die Eheschließung geschah. Nachdrücklich ist hervor zu dass sich die sozialen, beruflichen und politischen Kommunikationsheben, kreise nicht auf die Geistlichkeit reduzierten. Selbst wenn in der vierten und 28
Hier Gruppe II und III. 29Zur Bedeutung generationenspezifischer Faktoren für die historische Forschung siehe Grebner, GundulalSchulz, Andreas (Hrsg.): Generationenwechsel und historischer Wandel,
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(Beiheft 36 zur HZ).
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fünften Generation die Verfasser der untersuchten Texte mehrheitlich Theologen waren, so blieben sie über Elternhaus, Ehepartner und Berufe der Kinder bzw. Schwiegerkinder in der überwiegenden Zahl der Fälle in die Gruppe der stadtbürgerlichen Entscheidungsträger und/oder in diejenige des so genannten „Territorialbürgertums" eingebunden, eine Gruppe also, die in Diensten der hochadligen Landesherren als häufig juristisch gebildete Fachleute politische Entscheidungen vorbereiteten und umsetzten, ohne dass damit deren distanzlose Nähe zu den Herrschaftsträgern vorgegeben gewesen wäre.30 Diese soziale Nähe der theologisch gebildeten Autoren erklärt ihre große Vertrautheit mit den zeitgenössischen politischen Konflikten ebenso wie mit den juristisch-theologischen Debatten um die Legitimation von Herrschaft auch und gerade im Kleinen. -
3. Die Rahmenbedingungen und Adressaten
Die Bedingungen, unter denen die hier zugrunde gelegten Schriften entstanden sind, sind selbstverständlich nicht in toto vergleichbar. Aber es lassen sich generationenspezifische Konfliktkonstellationen identifizieren, die im Folgenden systematisiert werden. 1. Die Angehörigen der ersten und zweiten Generation sind durch die bewusste Erfahrung der Reformation und deren Resonanz bzw. durch die Konflikte um ihre Legitimität u.a. im Zusammenhang mit der Auseinandersetzungen um die Einführung des kaiserlichen Religionsgesetzes (Interim) 1548 geprägt. Mit Justus Menius (1499-1558) begegnen wir einem Vertreter der ersten Generation, die in unmittelbarem Kontakt mit Luther und Melanchthon den Gang der reformatorischen Bewegung in den Territorien maßgeblich prägte. Seine „Oeconomia"31 ist das erste protestantische Hausbuch, eine Anleitung zur vorbildlichen Eheführang und Leitung des „ganzen Hau-
Für die Gruppe der Hofprediger ausführlich Schorn-Schütte, Luise: Prediger an protestantischen Höfen der Frühneuzeit. Zur politischen und sozialen Stellung einer neuen bürgerlichen Führungsgruppe in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, in: Diederiks, Herman/Schilling, Heinz (Hrsg.): Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland, Köln/Wien 1985, S. 275-336. Neuere Blickrichtungen sind anregend charakterisiert bei Markus Friedrich: Zwischen .Späthumanismus' und .Standeskultur'. Neuere Forschungen zur intellektuellen und sozialen Situation von Gelehrten um 1600, in: Brendecke, Arndt/Burgdorf, Wolfgang (Hrsg.): Wege in die Frühe Neuzeit. Werkstattberichte, Neuwied 2001, S. 61-92. Zu verweisen ist auf die jüngste Debatte um die Charakterisierung dieser Gruppe als Intellektuelle; ob dieser Begriff tragfähig ist, wird
prüfen sein. Zum Konzept Jutta Held (Hrsg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, München 2002. 31 Menius, Justus: An die hochgeborne Fürstin / fraw Sibilla Hertzogin zu Sachsen / Oeconomia Christiana / das ist / von Christlicher haushaltung [...] Mit einer schönen Vorrede D. Martini Luther, Wittenberg 1529 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB) Sign.: Li 5530; VD 16: M 4542], zu
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ses" und damit Grundmuster für eine Gruppe protestantischer Gebrauchsliteratur, die bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts eine breite Rezeption erfuhr.32 Die Schrift des Menius war eingebunden in eine breite Debatte um die Grundlagen eines Gegenwehr-, Notwehr- oder Widerstandsrechtes, die im Umkreis der Schmalkaldischen Bündnispartner schon seit den späten zwanziger/frühen dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts durch hessische, sächsische und einige reichsstädtische gelehrte Juristen (u.a. Nürnberg) geführt worden war und sich angesichts der militärischen Zuspitzung auch unter den juristisch geschulten Politikberatern intensivierte.33 Ein stark rezipierter Text aus letzterem Umfeld war das kurz zuvor (1546) anonym publizierte Gutachten34 des Juristen Basilius Monner (-1500-1566), der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als Prinzenerzieher und politischer Berater am Hof des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich wirkte.35 Ohne sich in ihrer Argumentation zu entsprechen, denn beide setzten an verschiedenen Traditionsbeständen an, ergänzten sich juristisches und theologisches Schrifttum, eine wechselseitige Kommunikation über den Obrigkeitsbegriff blieb für die folgenden Jahre beherrschend.36 32
Zur Bedeutung der Hausväterliteratur fehlt eine neuere Untersuchung. Die Forschungen zu diesem Komplex sind seit dem 19. Jahrhundert intensiv geführt worden, die ältere Forschung zusammenfassend Michael Köhler: Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1973. Angesichts der zeitgenössischen Bindungen gewichtet die Forschung des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts deutlich anders, als Forschungsüberblick mit weiteren Literaturnachweisen siehe Schorn-Schütte, Luise/von Friedeburg, Robert: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Politik und Religion: Eigenlogik oder Verzahnung? Europa im 16. Jahrhundert, München 2005 (im Druck). 34 „Rechtliches Bedenken von der Defensión und Gegenwehr, ob es nemblich von göttlichem, weltlichem und natürlichem Rechten zugelassen sey, wider die Tyranney, und unrechten Gewalt der Obrigkeit sich zu widersetzen, und Gewalt mit Gewalt zu vertreiben", 1546 [HAB Sign.: A: 48.3 Pol. (5); VD 17: 14:004896X]. Monner publizierte unter den Pseudonymen Regius Selinus und Christoph Cunradt. 35 1554 wurde Monner zum ersten juristischen Professor an die neu gegründete Universität Jena berufen; während seiner Studienzeit in Wittenberg hatte er in engem Kontakt zu Melanchthon und Luther gestanden. Zum Biographischen und zum Kontext vgl. SchornSchütte, Luise: Politikberatung im 16. Jahrhundert. Zur Bedeutung von theologischer und juristischer Bildung für die Prozesse politischer Entscheidungsfindung im Protestantismus, in: Kohnle, Armin/'Engehausen, Frank (Hrsg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. FS für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2001, S. 49-66; zudem Kolb, Robert: The legal Case for Martyrdom. Basilius Monner on Johann Friedrich the Elder and the Smalcald War, in: Dingel, IrenelLeppin, Volker/Strohm, Christoph (Hrsg.): Reformation und Recht. FG für Gottfried Seebaß zum 65. Geburtstag, Gütersloh 2002, S. 145-160; Scattola, Merio: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des „ius naturae" im 16. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 59-61; Haug-Moritz, Gabriele: „Ob wie uns auch mit Gott / Recht und gutem Gewissen / wehren mögen / und Gewalt mit Gewalt vertreiben?" Zur Widerstandsdiskussion des schmalkaldischen Krieges 1546/47, in: Schorn-Schütte (Hrsg.): Herrschaftskrise. 36 Siehe entsprechend Eberhard lsenmann: Widerstandsrecht, S. 50: „Theologen definierten gestützt auf die Heilige Schrift [...] und setzten sich mit juristischen Argumenten auseinan33
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2. Das Erlebnis der protestantischen Niederlage im Schmalkaldischen und die Enttäuschung durch einen Kaiser, der zumindest aus protestantischer Sicht den Glauben der Untertanen nicht zu schützen bereit schien, sie durch das kaiserliche Religionsgesetz von 1548 schließlich sogar zur Aufgabe ihres Glaubens zu zwingen beabsichtigte37, wurde zum Anlass zahlreicher Gutachten und Predigten, die sich auf den Satz im Matthäusevangelium (22, 21) beriefen: „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist."38 Für die ersten drei Generationen der Theologen bot dieser Text ebenso wie die Aufforderung aus der Apostelgeschichte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg. 5, 29) den willkommenen Ansatz, um die Frage nach Inhalt und Umfang obrigkeitlicher Fürsorgepflicht zu erörtern. Die klare Positionierung mancher Prediger, die unter Berufung auf diese Bibelstellen dem amtierenden Kaiser offen Pflichtverletzung attestierten und den Hausvätern und anderen niederen Obrigkeiten deshalb ein Notwehr- und/oder Selbstverteidigungsrecht zuerkannten, ist bemerkenswert. Als charakteristischer Beleg aus der Fülle jener Schriften wird hier zum ersten auf das noch vor der Interimskrise formulierte Gutachten des Gothaer Superintendenten Friedrich Myconius (1490-1546) verwiesen.39 Zum zweiten ist zu nennen die 1546 zunächst anonym publizierte Schrift des Wittenberger Theologieprofessors und Melanchthon Vertrauten Georg Maior (15021574), die eine an Deutlichkeit kaum mehr zu überbietende Rechtfertigung der Gehorsamsverweigerung gegenüber einer Obrigkeit formuliert, die ihre Aufgabe des Schutzes der Guten und des Strafens der Bösen nicht wahrnimmt.40 In der krisenhaften Zuspitzung dieses Jahres, in Erwartung eines
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[...] während es auf der anderen Seite für die Juristen unabweisbar war, auf die Beweisführung der Theologen einzugehen." Zum Interim als Kristallisationskern politischer Kommunikation im Alten Reich und in Europa vgl. Schorn-Schütte: Einleitung, in: dies.: Herrschaftskrise; aus verfassungspolitischer Sicht Horst Rabe: Zur Entstehung des Augsburger Interims 1547/48, in: ARG 94 S. 6-104; aus theologiegeschichtlicher Perspektive Kaufmann: Universität. (2003), 8 Zur Auslegungstradition vgl. Hattenhauer, Hans: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, in: www.iguw.de (= Institut für Glaube und Wissenschaft) 2003. 39 Das Gutachten des Myconius wurde ediert durch Ernst Koch: „Wer es besser versteht, dem soll mein Geist gern unterworfen sein." Ein Gutachten von Friedrich Myconius zum der 37
Krieg des Schmalkaldischen Bundes gegen Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel im Jahre 1545, in: ZBKG 73 (2004), S. 3-19; dort auch biographische Informationen zu Myconius. 40 Maior, Georg: Ewiger: Göttlicher/Allmechtiger Maiestat Declaration /Wider Kaiser Carl/König zu Hispanien etc./Und Papst Paulum III., Wittenberg 1546 [HAB Sign.: F 1435, Heimst. 4° (20); VD 16: M 2035]. Zu Georg Maior vgl. Wengert, Timothy: G. Maior (1502-74). Defender of Wittenberg's faith and Melanchthonian exegete, in: Scheible, Heinz (Hrsg.), Melanchthon in seinen Schülern, Wiesbaden 1997, S. 129-156; zur Interpretation des Textes siehe Scattola: Naturrecht, S. 62-66 sowie Schorn-Schütte, Luise: Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die politica Christiana als Legitimitätsgrundlage,
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militärischen Vorgehens des Kaisers gegen die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes formulierte Maior Positionen, an die Menius und Melanchthon in dem dann weit verbreiteten Hausbuch 1547 angeknüpft haben. Zum dritten ist zu verweisen auf die 1551 unter dem Pseudonym Sigismund Cephalus in Gestalt eines Berichtes an einen Freund publizierte Schrift des Frankfurter Hauptpastors Hartmann Beyer (1516-1577), der gegen den hinhaltend taktierenden Rat seiner Stadt in enger Kooperation mit den übrigen Predigern der Stadt und deren Gemeinden die Annahme des kaiserlichen Religionsgesetzes verweigerte.41 Zum vierten schließlich ist zu nennen die Predigt des Pfarrers in Penig (Kurfürstentum Sachsen), Bartholomäus Wagner (11566), der 1553 mit der Auslegung von Mt 22,21 angesichts befürchteter Eingriffe nunmehr des Landesherrn in die kirchliche Lehrautonomie erneut in Erinnerung rief, dass niemand einer Obrigkeit gehorchen müsse, die ihrer Schutz- und Strafpflicht nicht genüge.42 3. Zahlreiche Theologen der zweiten Generation hatten sich bereits zu Beginn ihres Amtsweges im Konflikt um die Annahme des Interim exponiert; neben Beyer traf dies z.B. zu für Martin Chemnitz (1552-1586), den späteren Stadtsuperintendenten von Braunschweig.43 Seine Ablehnung des Interims zwang ihn 1548 zum Ausweichen nach Königsberg, 1554 wurde er zum Koadjutor nach Braunschweig berufen, in jene Stadt also, die die hansestädtische Opposition gegen das kaiserliche Religionsgesetz angeführt hatte. In seinem 1569 erschienenen Lehrbuch für angehende protestantische Geistliche im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel44 behandelte er die in seinem Verständnis zentrale Frage protestantischer Kirchenverfassung: Wie ist das Verhältnis zwischen den drei Ständen der Kirche? Weltliche Obrigkeit, geistliches Amt und Gemeinde zu charakterisieren?
in: dies. (Hrsg.): Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16./17. JahrhunMünchen 2004, S. 195-232, S. 210-211. derts, 41 Cephalus, Sigismund (Pseud. für Hartmann Beyer, den Nachweis führte Anja Moritz): Warer grundt unnd beweisung / das die unrecht handien / die iren Predigern verbieten / das antichristliche Babstumb mit seinen greweln zu straffen, Magdeburg 1551 [HAB Sign.: 172.2 Quod (6) MF; VD 16: C 1940]. Zu den Ereignissen um die Ablehnung des Interim
durch die Geistlichkeit in Frankfurt am Main siehe Hermann Dechent: Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation, Bd. 1, Frankfurt/M. 1913, S. 161ff. 42
Christliche Auslegung des schönen und herrlichen Spruches gebet dem Keiser / was des Keisers ist / und Gotte / was Gottes ist, Leipzig 1554 [HAB Sign.: 283.27 Theol. (11); VD 16: W 99]; zu den Einzelheiten Schorn-Schütte: Obrigkeitskritik, S. 216-218. 43 Zu Chemnitz vgl. Jünke, Wolfgang A. (Hrsg.): FS zum 400. Todestag „Der zweite Martin der lutherischen Kirche", Braunschweig 1986. 44 Chemnitz, Martin: Die fürnemsten Heuptstück der Christlichen Lehre. Wie darin die Pastores der Kirchen / im Fürstenthumb Braunschweig / etc. [...] also examiniret unndt befraget werden, Wolfenbüttel 1569 [HAB Sign.: 1119.1 Theol (1); VD 16: C 2176]; dazu
Wagner, Bartholomäus:
Christi /
ausführlich Schorn-Schütte: Geistlichkeit, S. 403—405.
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Luise Schorn-Schütte
Diese Frage bewegte die protestantische Geistlichkeit keineswegs allein, die Debatten wurden mitgetragen durch gelehrte Juristen einerseits, adlige Funktionsträger andererseits. Angesichts der politischen Brisanz dieser Diskussionen gibt es keine sehr dichte schriftliche Überlieferung, vereinzelte Hinweise aber sprechen für sich. 1550 z.B. überreichte Eberhard von der Thann (1495-1574), kurfürstlich sächsischer Rat schon seit den dreißiger Jahren des Jahrhunderts, dem neuen Kurfürsten Moritz eine Denkschrift mit dem Titel „Vom ampt der Obrickait gegenn den underthanen und der underthanenn gegen der Obrickait wie fernne mhan derselbigenn zu gehorsamen schuldig seye [...]".45 Der anonyme Verfasser der Schrift war niemand anders als der bereits bekannte Basilius Monner, der enge Kontakte zu den führenden Gnesiolutheranern hielt.46 Entsprechendes gilt für Eberhard von der Thann. Mit Justus Menius verband ihn seine enge Kooperation beim Aufbau der sächsischen Kirchenorganisation, seine Nähe zu den Gnesiolutheranern war den Zeitgenossen bekannt; Letzteres sah der kurfürstliche Hof allerdings mit Unbehagen.47 Schließlich galt von der Thann als ein Fürsprecher der Reichsritterschaft, jener adligen Gruppierung also, die sich angesichts reichspolitischer und reichsrechtlicher Wandlungen in ihrem Status erheblich bedroht sah.48 In die Debatte um Herrschaftskonzeptionen griffen weitere Theologen der zweiten, später der dritten Generation ein, die dazu das Instrument der Fürsten- und Regentenpredigt bzw. der Haustafel aufnahmen und weiterführten. Auf diese Weise entstand eine Vielzahl einander sehr verwandter Entwürfe für die Ordnung der societas Christiana, die sich entweder an die Obrigkeiten (status politicus) allein oder an den status oeconomicus und den status politicus gemeinsam richteten.49 In zeitlicher und inhaltlicher Nähe zu 45
Sächsisches Landeshauptarchiv Dresden, Geh. Rat Loc. 10039/2; das Manuskript wurde während der Archivrecherchen im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsproiektes „Interim und Obrigkeitskritik" ausfindig gemacht. 6 In Briefen an Joachim Mörlin und Erasmus Sarcerius beschrieb Matthias Flacius Illyricus Monner als „vir bonus, pius et zelum domini habens." 8.8.1557 CR 9, 234, Nr. 6414 und 236, Nr. 6315; siehe dazu Kolb: Case, S. 147 m. Anm. 14. 47 Die biographisch-politischen Hinweise folgen sämtlich der verdienstvollen Zusammenstellung bei Haug-Moritz, Gabriele: Der schmalkaldische Bund 1530-1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002, S. 655-656. 48 Dazu Press, Volker: Kaiser Karl V., König Ferdinand und die Entstehung der Reichsritterschaft, 2. Aufl., Wiesbaden 1980; Carl, Horst: Die Haltung des reichsunmittelbaren Adels zum Interim, in: Schorn-Schütte: Herrschaftskrise. Gespräche zu den Rechtfertigungsmustern der Notwehr/Gegenwehr und des Widerstandes gab es zwischen protestantischen Adligen und ihren geistlichen Beratern offensichtlich häufiger. Eines davon ¡st überliefert in Gestalt eines Briefes, den der Prediger Georg von Woltersdorf im Januar 1548 an Hans von Küstrin geschrieben hat. Siehe dazu Teil 4.1.2. bei Anm. 108. 49 Zu nennen sind hier u.a. Joachim Mörlin: Von dem Beruffder Prediger, Eisleben 1565 [HAB Sign.: K 311 Heimst. 4; VD 16: M 5888] sowie Tilemann Heshusius: Vom Amt und gewalt der Pfarrherren, Magdeburg 1561 [HAB Sign.: K311 Heimst. 4°; VD 16: H 3163] -
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z.B. 1566 der Pfarrer in der bairischen Grafschaft Rorer Thomas (1521-1582), der als Vertreter eines strikten LuOrtenburg, thertums im Streit um die konfessionelle Zugehörigkeit der Grafschaft einen Fürstenspiegel verfasste.50 Gegenüber dem Ortenburger Grafen Joachim leitet auch er aus dem alttestamentlichen Satz „Ich habe dich zum Wächter gesetzt über das Haus Israel" (Hes 3,17) eine Wächterrolle der Geistlichkeit gegenüber den beiden anderen Ständen ab, die er mit adels- bzw. ständefreundlichen Reflexionen über Ursprung und Umfang weltlicher Obrigkeit verband. Erneut zeigte sich hier jene politisch-soziale Koalition zwischen einer dem Gnesioluthertum zuneigenden protestantischen Geistlichkeit, Teilen des juristisch geschulten gelehrten Bürgertums und zahlreichen adligen Funktionsträgern, die als Charakteristikum der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der Forschung diskutiert und anerkannt ist.51 Eine Wiederaufnahme der spätmittelalterlichen Drei-Stände-Lehre erschien gerade deshalb einleuchtend, selbst wenn sie eine anschlussfähige Sozial- und Politiklehre keineswegs sogleich bot.52 So war z.B. die Zuordnung adliger Patronatsherren und/oder städtischer Obrigkeiten zum status oeconomicus ebenso gut möglich wie diejenige zum status politicus. Und gegenüber beiden beanspruchte die protestantische Geistlichkeit ein Strafamt, die immer wieder vorgetragene geistliche Adels- und Beamtenkritik hatte hier ihre Rechtfertigung. Ausdrücklich aber erfolgte sie nicht als Stände übergreifende Kritik; vielmehr ging es allen beteiligten Gruppen um das Prinzip der Bewahrung des ständischen Gleichgewichts. Jeder Stand sollte seine Funktion behalten, in der Sicherung des Gleichgewichts zwischen den Ständen sollte die politische Teilhabe des landsässigen Adels ebenso wie diejenige der Reichsritterschaft
Chemnitz
argumentierte
Diese Schriften ebenso wie diejenigen des Chemnitz waren Teil einer im niedersächsischen Reichskreis geführten Kontroverse um die Praxis öffentlicher Kanzelkritik durch die Geistlichkeit. Im 1562 veröffentlichten Lüneburger Mandat untersagten die im Reichskreis versammelten ständischen Obrigkeiten den Theologen das öffentliche Schelten. Die Geistlichkeit allerdings betrachtete das Mandat als Eingriff in das geistliche Amt und hielt sich nicht an das Verbot. Zu den Einzelheiten Schorn-Schütte: Geistlichkeit, S. 400-406. In diesem Zusammenhang wurde auch der Gemeindebegriff der lutherischen Geistlichkeit dieser Generation artikuliert, vgl. dazu die weiter ausgreifende Arbeit von Renate Dürr: Kirchenräume. Handlungsmuster von Pfarrern, Obrigkeiten und Gemeinden in Stadt und Kleinem Stift Hildesheim, 16.-18. Jahrhundert (ungedrucktes Habilitationsmanuskript) Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. 2003. 50 Zum zeitgenössischen und biographischen Hintergrund vgl. Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Der Prädikant Thomas Rorer. Ein Beitrag zu seiner Biographie und seinen Schriften, in: ZBKG 25 (1956), S. 152-165. Rorer stand in intensivem Briefwechsel mit dem Gnesiolutheraner Nikolasu Gallus, siehe ebd., S. 154. 51 Siehe zusammenfassend mit dem Nachweis weiterer Literatur Schorn-Schütte: GeistlichS. 407-410. keit, 52 Zur Bedeutung der Drei-Stände-Lehre seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts vgl. Schorn-Schütte: Drei-Stände-Lehre. -
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Luise Schorn-Schütte
aufrecht erhalten bleiben. In diesem Zusammenhang entfaltete die Betonung des Tugendadels gegenüber dem Geburtsadel, den die orthodox lutherische Geistlichkeit ebenso wie zahlreiche gelehrte Juristen und etliche Adlige selbst formulierten, ein eigenes Gewicht.54 Und auch innerhalb des städtischen Bürgertums haben solche Debatten über die Kriterien eines tugendhaften Lebens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle gespielt. Nicht mehr das weitabgewandte Leben der humanistischen Gelehrten galt als erstrebenswertes Ziel für die neue Gruppe gelehrter Funktionsträger, sondern die aktive Nutzung des gelehrten Wissens für die Belange der städtischen Gemeinschaft.55 Die kleine Schrift des thüringischen Pfarrers Marcus Wagner, die er 1581 unter dem Titel „Von des Adels Ankunft oder Spiegel" vorlegte, betonte die vom gnesiolutherischen Protestantismus formulierte Wertschätzung der traditionsreichen Funktion des Adels als Mittler zwischen Bürgern, Bauern und dem Kaiser, mit dessen Hilfe das politische Gleichgewicht im Reich gesichert werden könne. 4. Während sich noch die erste und zweite Generation der hier betrachteten Autoren im Kontext von Reformation und Interimsauseinandersetzung in reichsweiten Bezügen bewegte und sich immer auch als Generation der Traditionserneuerer verstand, begann mit der dritten und vierten Generation zum einen ein sozialer Verfestigungsprozess, innerhalb dessen die protestantische Geistlichkeit Teil einer gelehrten Funktionsträgerschaft in Territorien und Städten wurde. Zum andern verlagerten sich die Kontroversen von der Reichsebene auf diejenige der Territorien, dem sozialen, politischen und theologischen Ort der neuen Funktionselite. Und auf dieser Ebene trafen sich die sozialen Differenzierangsprozesse mit den Konflikten um den Charakter protestantischer Herrschaftsordnung, die sich immer wieder an den unterschiedlichen Vorstellungen vom Status der Stände im Verhältnis zur mo53
Siehe dazu in gleicher Bewertung Midelfort, H. C. Erik: Adeliges Landleben und die Legitimationskrise des Adels im 16. Jahrhundert, in: Schmidt, Georg (Hrsg.): Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, S. 245-264. 54
Zu dieser Diskussion siehe Schorn-Schütte: Geistlichkeit, S. 409-410, dort auch die weitere Literatur Die durch die Geistlichkeit vorgetragene Adelskritik (u.a. durch Nicolaus Selneccer und Cyriacus Spangenberg) zielte auf die Durchsetzung eines Adelsideals, das die Identität von Geburts- und Tugendadel behauptete. Die in der literaturwissenschaftlichen Forschung der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts behauptete „gesellschaftskritische Tendenz", die hinter jener Adelskritik gestanden habe, existierte nicht, vgl. Schorn-Schütte, ebd., S. 409, mit Anm. 119. Die Beteiligten hielten vielmehr am Gleichgewichtsmodell bzw. Konsensmodell fest; darin kann der Versuch gesehen werden, den sozialen Wandel unter Bezugnahme auf traditionale Ordnungsmuster zu verarbeiten. 55 Siehe dazu die glänzende Arbeit von Margit Kern: Tugend versus Gnade, Berlin 2002, die S. 348 ff. herausarbeitet, dass eine Ablösung vorreformatorischer durch nachreformatorische Tugenden tatsächlich stattfand (Justitia, Temperantia und Patientia standen nun im Zentrum), ohne dass sich die Darstellungsformen (wie z.B. die Bildprogramme der Kirchen) gewandelt hätten! Die These von der ungebrochenen Kontinuität vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit wird dadurch in ein verändertes Licht gerückt.
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narchischen Gewalt entzündeten. Da sich seit der dritten Generation der hier untersuchten Gruppe geistlicher Amtsträger das Amt des Hofpredigers zu einer intensiv genutzten Plattform für die zeitgenössische Debatte um die Praxis dieser Herrschaftsführang erwies57, wurden deren Predigten zum Medium der Reflexion über die Aufgaben und Grenzen des status politicus, der christlichen Obrigkeit. Wiederholt galt die Auslegung des 101. Psalms als Basistext solcher Predigten, ein Psalm, für den Luthers Erläuterung als
Regentenpsalm eine neue Auslegungstradition begründen half.58 Dem konkreten Anlass wurde in der Regel eine theologische Reflexion über die Eigenschaften christlicher Obrigkeit zugeordnet. Zugleich formulierte der Prediger die Legitimation für seine Kritik: die Geistlichkeit hatte das Wächter- und Mahneramt so zu üben, wie es bereits die Prediger des Alten Testamentes gegenüber ihren Königen wahrgenommen hatten. Die in den sechziger Jahren einsetzende Deutungstradition wurde differenzierend weitergeführt, es entwickelte sich eine eigene Gattung so genannter Regentenpredigten, Fürstenspiegel oder Regentenbäume.59 Ihr Adressat war die weltliche Obrigkeit, sei sie in Gestalt des Landesherren, der städtischen Ratsobrigkeit, der Landstände, der gelehrten Räte und/oder des Hofadels als Teil der Hofgesellschaft das Gegenüber. Die literarische Hofkritik schloss an diese theologisch fundierte Auseinandersetzung nahtlos an.60 Beispielhaft für diese Predigten sind der schon erwähnte Fürstenspiegel (1566) des Thomas Rorer, der Regentenspiegel des sächsischen Hofpredigers Nicolaus Selneccer (1563/64), die Predigt über den 101. Psalm durch den sächsischen Hofprediger Philipp Wagner (1570) und der Regentenspiegel des 56
Zu den entsprechenden Konflikten in Braunschweig-Wolfenbüttel vgl. Dreitzel, Horst: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat, Wiesbaden 1970 und Luise SchornSchütte: Lutherische Konfessionalisierung? Das Beispiel Braunschweig-Wolfenbüttel (1589-1613), in: Rublack, Hans-Christoph (Hrsg.): Konfessionalisierung im Luthertum, Gütersloh 1992, S. 163-198; zur vergleichbaren Situation in Kursachsen vgl. Sommer, Wolfgang: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis J. Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie, Göttingen 1988, S. 74-134. 57 Zum Hofpredigeramt vgl. Schorn-Schütte: Prediger. 58 Siehe dazu Basse, Michael: Ideale Herrschaft und politische Realität, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte (ZKG) 114 (2003), S. 45-71; Basse arbeitet die Einbindung Luthers in die mittelalterlichen Traditionen heraus, zeigt aber auch Anknüpfungspunkte für die nachfolgende Theologie auf; diese sind Gegenstand der hier vorliegenden Analyse. 59 Die Bedeutung der Fürstenspiegel wurde in den letzten Jahren von der historisch arbeitenden Politikwissenschaft herausgearbeitet, vgl. dazu u.a. Mühleisen, Hans-Otto/'Stammen, Theo (Hrsg.): Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1997 sowie dies. (Hrsg.): Politische Tugendlehre und Regierungskunst. Studien zum Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit, Tübingen 1990. 60 Siehe Kiesel, Helmuth: „Bei Hof, bei Höh". Untersuchungen zur literarischen Hofkritik, Tübingen 1979. Einen zusammenfassenden Überblick gibt zuletzt Albrecht P. Luttenberger: Miseria vitae aulicae. Zur Funktion hofkritischer Reflexion im Reich während der Frühen Neuzeit, in: Malettke, Klaus (Hrsg.): Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit, Münster 2001, S. 459-490.
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braunschweigischen Generalsuperintendenten Polycarp Leyser ( 1601 ).61
und sächsischen
Hofpredigers
Das Mahneramt wurde als Teil der Drei-Stände-Lehre gedeutet; mit deren Hilfe bot sich für die Geistlichkeit dieser dritten und vierten Generation schließlich auch die Möglichkeit, konkrete Entwürfe für die Ordnung der Gemeinden zu formulieren; damit knüpften zahlreiche Autoren an die Traditionen an, die mit der „Oeconomia" des Justus Menius in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts begründet worden waren.62 4. Die Argumentationsmuster
Kommunikation über die Ordnung der Herrschaft vollzog sich im Rahmen des tagespolitischen Geschehens, eine Systematisierang ist deshalb nicht immer einfach. Hinzu kommen die generationenspezifischen Differenzierungen; für die hier betrachtete Gruppe war das ein beachtenswerter Faktor.
Obrigkeitsbegriff und Herrschaftsbegrenzung Angesichts der reichspolitisch verhärteten Fronten der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts waren protestantische Theologen und Juristen gezwungen, sich „in einer bis dahin nicht gekannten umfassenden, detaillierten und zugleich grundsätzlichen Weise zum Verfassungsrecht des Reiches zu äußern."63 Dies aber geschah, und darauf hat die jüngere Forschung nachdrücklich hingewiesen, in den Bahnen der spätmittelalterlichen politisch-theologischen Kommunikation.64 Nicht die neuen theologischen Wahrheitsansprüche führten zu gänzlich neuen politischen Diskussionen über die Legitimität von Herrschaft und Widerstand; vielmehr ging es allen Beteiligten darum, die Dynamik der bis dahin nicht gekannten religionspolitischen Konflikte mit 4.1.
61
Rorarius, Thomas: Fürstenspiegel / Christliche und notwendige vermanung / An alle
Evangelische
Chur und Fürsten / Stedt und Stende der Augspurgischen Confesión / Was die fürnemlich in ihrem Regiment teglich betrachten [...], Schmalkalden 1566 [HAB Sign.: 132. 7 Pol. (1); VD 16: R 3043]; Wagner, Philipp: Der 101. Psalm: Vom Stande und Ampt der weltlichen Obrigkeit, auch ihrer Hofeleute und Diener, Dresden 1570 [HAB Sign.: C 137 a Heimst. 80 (1); VD 16: W 152]; Selneccer, Nicolaus: SPECVLVM CONIVGALE ET POLITICVM. Ehe vnd Regenten Spiegel [...], Eisleben 1600 [HAB Sign.: 352. 1 Theol. 4° (5); VD 16: S 5525] und Leyser, Polycarp: Regenten Spiegel, gepredigt aus dem CI. Psalm [...], Leipzig 1605 [HAB Sign.: A: 116 Pol. (2); VD 17: 23: 298054P]. Zur theologisch-politischen Bedeutung des Hofpredigeramtes siehe Sommer: Gottesfurcht, zu Leyser dort S. 104-134. 62 Ein prägnantes Beispiel ist die Haustafel des Leipziger Stadtsuperintendenten Heinrich Salmuth, die 1583 posthum erschienen war und zahlreiche weitere Auflagen erlebte: Heinrich Salmuth: Christliche und Nützliche Erklärung. Der Hausstaffel darinnen von den dreien Stenden [...] gehandel wird, Leipzig 1583 [HAB Sign.: Alv: Eh 140 (2); VD 16: S
1759].
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64
Widerstandsrecht, S. 50. Haug-Moritz: Widerstand, S. 148. Isenmann:
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Hilfe des vorhandenen traditionalen Rechtssystems zu integrieren. Dabei arbeiteten juristische und theologische Politikberater eng zusammen, der Rückgriff auf die jeweiligen Traditionsbestände wurde wechselseitig kommuniziert. In den dichten Debatten, die im Zusammenhang mit der Gründung des Schmalkaldischen Bundes seit 1530 geführt wurden, stand deshalb der beiderseitig definierte Begriff von weltlicher Obrigkeit, die Bestimmung der Aufgaben des Herrscheramtes, die Frage nach der jeweiligen Legitimation eines Widerstandsrechtes und schließlich die inhaltliche und formale Interpretation der Reichsverfassung zwischen Theologen und Juristen zur Diskussion.66 Seit der Jahrhundertmitte intensivierten sich die Diskussionen um die Rolle des geistlichen Amtes und um die Legitimität des Teilhabeanspraches, der auch mit der Drei-Stände-Lehre verbunden war. 1. Auch die beiden Gelehrten Justus Menius und Basilius Monner, die zur ersten Generation des hier betrachteten Personenkreises zählen, gehörten zum Kreis der Politikberater.67 Sie kritisierten den monarchisch zentrierten Herrschaftsanspruch des Kaisers, andere protestantische Politikberater, etwa der Nürnberger Stadtschreiber Lazarus Spengler, verteidigten ihn; beiden Positionen lag ein jeweils eigenes Verständnis der Reichsverfassung zugrunde.68 Die Position Luthers dazu ist gut erforscht69, sie war aber keineswegs die
So die Argumentation am Beispiel des Schwäbischen Bundes auch bei Horst Carl: Landfriedenseinigung und Ungehorsam der Schwäbische Bund in der Geschichte des vorreformatorischen Widerstandsrechts im Reich, in: Friedeburg (Hrsg.): Widerstands-
S. 85-112, hier S. 91. recht, 66 Siehe auch lsenmann: Widerstandsrecht, der S. 52-53 sowohl die Kooperation der Theologen und Juristen als auch die Breite der Kommunikation über legitime Obrigkeit hervorhebt. Die Debatten, die sich zwischen 1530 und 1555 im Alten Reichs stetig intensivierten, sind in der einschlägigen Forschung noch nicht zusammenhängend bearbeitet worden; so fehlen sie in dem gewichtigen Werk von Quentin Skinner. The Foundation of modern political thought, Cambridge 1975; auch im Standardwerk von Friedrich Hermann Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der Frühen Neuzeit, München 1966 wird diese Zeitspanne unzureichend behandelt. Wichtige Ansätze dagegen bei Friedeburg:
Widerstandsrecht. 67 Eine Zusammenstellung der seit 1530 publizierten Gutachten bei Heinz Scheible (Hrsg.): Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten, Gütersloh 1968; eine Bewertung der beratenden Tätigkeiten der Theologen in den Jahren nach Luthers Tod gibt Günther Wartenberg: Theologischer Ratschlag in Zeiten politischen Umbruchs. Die Wittenberger Theologen und ihre Landesherrn 1546/47, in: Doering-Manteuffel, Anselm/ Nowak, Kurt (Hrsg.): Religionspolitik in Deutschland von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Martin Greschat zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1999, S. 29-50. Siehe dazu ausführlich lsenmann: Widerstandsrecht, S. 52-57. Zu Spengler vgl. Hamm, Bernd: Die reformatorische Krise der sozialen Werte drei Lösungsperspektiven zwischen Wahrheitseifer und Toleranz in den Jahren 1525 bis 1530, in: Brady, Thomas A. (Hrsg.): Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, München 2001, S. 91-122. 69 Siehe grundlegend Günther, Wolfgang: Luthers Vorstellung von der Reichsverfassung, Münster 1976; Wolgast, Eike: Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände, Heidelberg 1977; Gänssler, Hans-Joachim: Evangelium und weltliches -
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dominante; innerhalb der Gruppe der Wittenberger Reformatoren gab durchaus differierende Ansätze. Als einer der ersten Gutachten für den sächsischen Kurfürsten (1523 und
es
hat in zwei
Theologen 1529) der Wittenberger Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen (1485-1558) seine eigenständige Position entwickelt, an die u.a. Menius anknüpfen konnte.70 Bugenhagen argumentierte mit einer schon in der spätmittelalterlichen Tradition gewichtigen Stelle des Alten Testamentes, dem ersten Buch Samuel.71 Selbstverständlich ist auch für Bugenhagen im Sinne des Briefes des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom (Rom. 13,1) alle Obrigkeit von Gott eingesetzt; aber diese Obrigkeit hat einen bestimmten Schutzauftrag: sie soll die Guten schützen und die Bösen strafen.72 Sobald sie diese Aufgabe nicht erfüllt, ist die Grenze für die Gehorsamspflicht ihr gegenüber erreicht. Als Beleg dafür verwies der Wittenberger Stadtpfarrer auf die alttestamentliche Figur des König Saul, der als von Gott erwählter Herrscher über besondere Gaben aber auch besondere Pflichten gegenüber seinem Volk verfügte. In dem Augenblick, in dem er diese Aufgaben vernachlässigt, wird der König zu einer gottlosen Obrigkeit, „er verliert seine Legitimation, er hört auf eine obrigkeitliche Gewalt zu sein."73 Anders als zu diesem Zeitpunkt Luther und auch noch Melanchthon74
Schwert. Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Anlaß von Luthers Scheidung zweier Reiche oder Regimenté, Wiesbaden 1983. Eine Untersuchung zu Bugenhagens Obrigkeitstheologie gibt es nicht, vgl. zur Einordnung seiner Gutachten in die zeitgenössischen Traditionen Diethelm Böttcher: Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechtes in der Reformationszeit (1529-1530), Berlin 1991, S. 23-25, sowie Schorn-Schütte: Politikberatung, S. 56-58 und Wartenberg: Ratschlag, S. 41-42; Skinners knapper Verweis auf Bugenhagens Gutachten ist nicht ausreichend, siehe Skinner: Foundation wie Anm. 66, S. 199. Zur Bedeutung der kirchenordnenden Tätigkeit des Bugenhagen für das geistliche Amtsverständnis der protestantischen Theologen siehe Luise Schorn-Schütte: „Papocaesarismus" der Theologen? Vom Amt des evangelischen Pfarrers in der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft bei Bugenhagen, in: ARG 79 (1988), S. 230-261. 71 In dem Gutachten für Kurfürst Johann bezieht sich Bugenhagen 1529 auf 1. Sam 15,23: Gewalt, die sich gegen Gott und Gottes Wort richtet, ist verworfen. Der Einsatz des Samuelbuches für die Charakterisierung eines gerechten Königs hat eine mittelalterliche Tradition, an sie konnte gerade in der Situation des Reiches der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts angeknüpft werden, weil mit dessen Hilfe die Frage nach dem Recht einer Herrschaftszentrierung beim Kaiser diskutierbar wurde. Siehe dazu mit der Diskussion der mittelalterlichen Traditionen Annette Weber-Möckl: Das Recht des Königs, der über euch herrschen soll. Studien zu 1 Sam 8,1 Iff in der Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin 1986, S. 94-96 u.ö. 72 In dem Gutachten von 1529 schreibt Bugenhagen: „Darumb sol er [der Kaiser] sich erkenen für eynen keyser, nicht eynen moerder, [...] eyneen herrn und vater und nicht eyneen tyrannen." Gutachten abgedruckt in: Scheible (Hrsg.): Widerstandsrecht, S. 26. 7 Böttcher: Ungehorsam, S. 23. In dem Gutachten des Bugenhagen 1529 heißt es: „Weil du nu des hern wort verworffen hast, hat er dich auch verworffen, das du nicht könig seyvgl. Scheible: Widerstandsrecht, S. 27. est."; 74 Zu Melanchtons Haltung und deren Differenzierung präzis Eike Wolgast: Melanchthon als politischet Berater, in: Sparn, Walter u.a. (Hrsg.): Melanchthon, Erlangen 1998, S. 179-208, zur Einräumung eines Widerstandsrechtes gegenüber dem Kaiser seit 1535 auch durch Melanchthon siehe S. 191-198. 70
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Bugenhagen damit bereits am Ende der zwanziger Jahre eine theologische Rechtfertigung in der zeitgenössischen Widerstandsdebatte. Und diese verband er mit der reichsrechtlichen Argumentation zumindest eines Teils der zeitgenössischen gelehrten Juristen. Indem er in seinem Gutachten von 1529 „Unterherrn" von „Oberherrn" unterschied und beiden aufgrund ihrer jeweiligen Schutzpflichten obrigkeitlichen Charakter zumaß75, hatte er sich der Deutungstradition einer großen Gruppe der Reichsjuristen angeschlossen, die die Reichsverfassung durch die Existenz zweier Obrigkeiten: Kaiser einerseits, Reichsstände andererseits, gekennzeichnet sah.76 Die damit verbundenen Konsequenzen für die Debatte um das Recht der „Gegenwehr" gegenüber dem Kaiser77 anerkannte Bugenhagen als Ergänzung seiner eigenständigen theologischen Interpretation. Für ihn waren beide Perspektiven nahtlos miteinander zu verbinden, was sich in den Debatten der nachfolgenden Jahre unter den beteiligten Gelehrten und Politikern nur allmählich durchzusetzen begann. Inhaltlich handelte es sich tatsächlich um zwei parallel verlaufende Deutungsmuster, die sich in der Kernaussage aufeinander zu bewegten, sich gerade nicht ausschlössen.78 2. Justus Menius hat in seiner viel gelesenen Schrift von 1547 hier anknüpfen können. Die Texte des Bugenhagen sind ihm bekannt gewesen,
eröffnete
75
„Wollen sie aber nicht uberherrn nach ordenlicher gewalt Gots, sondern [...] moerdere seyn, so folget nicht darauß, dass die frommen fursten [= gleich unterherren] yhrer ordentlichen gewalt, yhn von Gott befohlen, zu beschermen im rechten yhre untersaessen,
[...]
auch sollen abstehn." Gutachten des Bugenhagen für Kurfürst Johann von Sachsen 29.9.1529 in: Scheible (Hrsg.): Widerstandsrecht, S. 25-29, hier S. 28. Entsprechend bewertet auch Böttcher: Ungehorsam, S. 23-25, er verweist zu Recht auf eine vergleichbare Argumentation durch Bugenhagen bereits in seinem Gutachten für Kurfürst Friedrich von vom Februar 1523, abgedruckt bei Scheible (Hrsg.): Widerstandsrecht, S. 18. Sachsen 76 Siehe dazu Wolgast: Melanchthon, S. 188-203; jüngst weiter differenzierend lsenmann: S. 50-61. Widerstandsrecht, 77 Zum Begriff und seiner Bedeutung für die zeitgenössische politische Kommunikation siehe Haug-Moritz: Widerstand. Schon der Ausdruck verweist auf die mittelalterlichen Rechtstraditionen, an die in den Debatten angeknüpft wurde, ihm liegt einerseits ein reichsrechtlich argumentierendes Verständnis vom Verhältnis zwischen Kaiser und Reichsstänandererseits ein lehnsrechtliches Verständnis von Herrschaft im Reich zugrunde. den, 78 Skinner: Foundation, formulierte Bd. 2, S. 117-118; S. 127-134; S. 204-208 u.ö. die Unterscheidung zweier Linien in der politischen Sprache des Alten Reichs des 16. Jahrhunderts, die er als „konstitutionelles" und „privatrechtliches" Argumentationsmuster voneinander unterschied. Die Schlüssigkeit dieser Differenzierung ist zu prüfen. Siehe als
Kritik bereits Robert von Friedeburg: Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530 bis 1669, Berlin 1999, S. 56 mit Anm. 20 und dort den Verweis auf Böttcher: Ungehorsam. Überzeugend ist die Argumentation von Merio Scattola: Widerstandsrecht und Naturrecht im Umkreis von Philipp Melanchthon, in: Schorn-Schütte (Hrsg.): Herrschaftskrise. Er verweist dort auf die Doppelung der Argumentationslinien: Selbstverteidigung ist legitimiert durch das römische Recht (juristische Linie), es ist zudem gerechtfertigt durch das theologisch-philosophische Konstrukt des Naturrechtes; das nahm auch Melanchthon auf und entfaltete es weiter. Drittens schließlich wird beides verbunden mit dem spätmittelalterlichen Recht der Ge-
genwehr (juristische Argumentation).
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Luise Schorn-Schütte
beide hatten zusammen in Wittenberg studiert, Menius gehörte zum engsten Kreis um die Wittenberger Reformatoren. Aufgrund der Drackgeschichte dieser Schrift kann als sicher gelten, dass mit der Stimme des Menius zugleich die Position Philipp Melanchthons artikuliert wurde.79 Seit der akuten Gefahr des militärischen Vorgehens des Kaisers gegen die Schmalkaldischen Bündner hatte sich Melanchthons Haltung zur Begrenzung obrigkeitlicher Gewalt im Reich sichtbar verändert.80 Als Aufgabe weltlicher Obrigkeit definierte er nunmehr den Schutz beider Gesetzestafeln (custodia utriusque tabulae)81, eine Verletzung dieser Aufgabe begründete ein Widerstandsrecht selbst dann, wenn es, wie im Gutachten 1536 formuliert82, um den magistratus superior geht, der Konzilsbeschlüsse ausführt. Melanchthon berief sich bei dieser Argumentation, anders als noch 1530, ausdrücklich auf das Naturrecht, das Widerstandsrecht wurde als dessen Teil integriert.83 Zudem sicherte er seine Beweisführung mit Belegen aus dem alten Testament ab.84 Zu Recht hat Eike Wolgast daraufhingewiesen, dass mit dieser Position der Charakter der Reichsverfassung als Aristokratie, innerhalb derer mehrere Obrigkeiten miteinander existieren können, anerkannt wurde; dies kam der Sicht der zeitgenössischen hessischen und kursächsischen Juristen nahe und entsprach der Bewertung durch Bugenhagen. Damit endete die abwartende Haltung der Wittenberger Theologen; nicht mehr nur Bugenhagen allein, sondern alle Unterzeichner der Kollektivgutachten bekräftigten, dass in Not-
Siehe dazu den aufschlussreichen Beitrag von Luther D. Peterson: Justus Menius, Ph. Melanchthon and the 1547 Treatise „Von der Notwehr Unterricht", in: ARG 81 (1990), S. 138-157. Entsprechend Friedeburg: Widerstandsrecht, S. 62; dessen Einordnung der Schrift des Menius in die breitere politische Kommunikation ist zu ergänzen, denn es handelte sich nicht um eine Verschmelzung zweier Argumentationslinien, sondern um zwei parallel laufende Stränge des Redens über Politik, siehe dazu unten bei Anm. 113 die Bewertung durch Scattola, sowie ders.: Widerstandsrecht. Zur Schrift des Menius als Teil der Kommunikation über Theologie und Politik siehe auch Wartenberg: Ratschlag, S. 4243. 80 Siehe dazu Wolgast: Melanchthon, S. 190-206 und ders.: Theologie, S. 224-230. -Zum „frühen" Melanchthon sehr differenzierend Nicole Kuropka: Ph. Melanchthon: Wissenschaft und Gesellschaft. Ein Gelehrter im Dienst der Kiene (1526-1532), Tübingen 2002, bes. Kap. 5 u. 6. 81 CR (= Corpus reformatorum) Bd. 21, Sp. 553: „Magistratum custodem esse non solum secundae tabulae, sed etiam primae tabulae, quod attinet ad externam disciplinant." 82 CR Bd. 3, Sp. 126ff. Das Gutachten ist in Auszügen zu finden auch bei Scheible (Hrsg.): Widerstandsrecht, S. 89ff. Unterzeichnet war das Kollektivgutachten, das von Melanchthon formuliert worden war, von Luther, Jonas, Bugenhagen, Amsdorf, Cruciger und Melanchsiehe dazu ausführlich Wolgast: Theologie, S. 225-226. thon, 83 Auf den vormodernen Charakter des Naturrechtsbegriffs bei Melanchthon hat zutreffend verwiesen Scattola: Naturrecht, S. 50-55. Zu diesem natürlichen Recht gehört auch die Einpflanzung eines Rechts zur Selbstverteidigung des menschlichen Wesens gegen die Obrigkeit, ebd., S. 56. 84 Siehe dazu Wolgast: wie Anm. 92, S. 191.
Kommunikation über Herrschaft
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wehrlagen
weltliche Obrigkeiten Rechte und Pflichten wahrnehmen sollten, über deren Beachtung Theologen und Juristen zu wachen haben.85 Die Schrift des Menius zeigt, dass diese Haltung unter den Theologen der ersten Generation breit rezipiert wurde. Mit Bugenhagen und Melanchthon ging er von der göttlichen Einsetzung der Obrigkeit aus; er betonte den Ursprung weltlicher Obrigkeit im vierten Gebot und unterstrich die Parallelität von Elternamt und weltlicher Obrigkeit. Auch für Bugenhagen hatte diese Einbindung der Obrigkeit in die Schöpfungsordnung Bedeutung; für Menius aber war jene Anbindung die entscheidende Legitimation der Schutzpflichten christlicher weltlicher Obrigkeiten. Alle ihre Aufgaben leiteten sich aus dieser „patriarchalischen" Fürsorgepflicht her. Sobald die weltliche Obrigkeit aber solche Gesetze formulierte, die gegen das „göttliche Gesetz" und das ist das „natürliche Gesetz" verstießen (z.B. durch den Aufruf zur „Abgötterei") missachtete sie selbst das erste Gebot. Dann war es geradezu die Pflicht der Untertanen, der Obrigkeit nicht zu gehorchen.86 Auch Menius betonte die Existenz eines natürlichen Rechts, das es den Menschen ermöglicht, sich gegen ungerechte Grausamkeiten zu wehren. Dies war kein Aufruhr, sondern Wahrnehmung des Notwehrrechtes,87 was unter Umständen sogar geboten war, um der Schutzpflicht zu entsprechen. Weil es diese Pflicht für die Herrschaft gegenüber ihren Untertanen, für den Mann gegenüber seiner Frau, für den Vater gegenüber seinen Kindern gibt, hatten auch die Kurfürsten das Recht, sich gegen die atrox iniuria des Kaisers zu wehren, legitime Gegenwehr zu üben.88 Menius betonte damit einerseits das Recht der Gegenwehr und charakterisierte andererseits das Verhältnis zwischen Kaiser und Kurfürsten als eines der Über- und Unterordnung in Gestalt zweier Arten von Obrigkeiten. Damit beschrieb er wie Bugenhagen und Melanchthon die Reichsverfassung als eine Ordnung, in der magistratus superior und magistratus inferior einander zugeordnet sind; die Theologen bezeichneten dies als aristokratische Herrschaftsform.89 -
-
Wolgast: Melanchthon, S. 226. Dass damit allerdings ein theologiefreier Raum für die eingeräumt worden sei, ist eine These, die Wolgast nicht wirklich belegt; die folgenden Ausführungen deuten auf das Gegenteil hin. 86 Menius, Justus: Von der Notwehr vnterricht / Nützlich zu lesen, Wittenberg 1547, fol. C III r und C IV r [HAB Sign.: 312. 46 Theol (1); VD 16: M 4592]. Wie Bugenhagen und Politiker
Melanchthon dient ihm als biblischer Beleg Apg 5,29: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen." 87 Ebd., fol. b II r. 88 Ebd., fol. b r+v. 89 Ebd., fol. a IV r+v: „Wie aber / so gottesfiierchtige Fuersten rechte Lere Gott zu ehren pflantzen lassen / und der Kirchen trewlich herberge geben / und werden darob von irem Kaiser / dem sie unterthan sein / angefochten / ist in diesem fall auch die Gegenwehr recht." Und fol. b I r+v: „Dazu wil auch das Euangelium /das in weltlicher regierung einem jedem Stande erleubet sey / was im die gewoenlich / vernuenfftige Recht seiner Lande / zulassen."
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In den zahlreichen zeitgenössischen Predigten, Gutachten oder Flugschriften, die seit den dreißiger und vierziger Jahren auch von weniger exponierten protestantischen Pfarrern überliefert sind, dominierten diese Muster politischtheologischer Kommunikation;90 dafür stehen die Gutachten, Schriften und Predigten der Gothaer und Frankfurter Superintendenten bzw. des sächsischen Landpfarrers. Auch Friedrich Myconius kannte ein natürliches Selbstverteidigungsrecht, das der niederen gegenüber der höheren Obrigkeit zusteht; die Obrigkeit, die ihre Schutzaufgabe nicht erfüllt, ist keine mehr. Die Pflicht, ihr zu widerstehen entsteht dadurch, dass derjenige, der sich gegen eine solche, als tyrannisch charakterisierte Obrigkeit selbst verteidigt, die natürliche Ordnung wiederherstellt, also Recht schützt anstatt es zu verletzten. Wie Menius und Bugenhagen argumentiert Myconius mit dem Verweis auf die private Schutzpflicht des Vaters gegenüber seinen Kindern, konkret des Sohnes für seine Kinder gegen einen räuberischen Großvater.91 Und wie die anderen Theologen war auch Myconius davon überzeugt, dass der Kaiser keine unbegrenzte Gewalt hat, sondern durch die Kur- und anderen Fürsten des Reichs begrenzt wird.92 Auch der Frankfurter Superintendent Hartmann Beyer stellte die zentrale Aufgabe weltlicher Obrigkeit als Bestrafung der Übeltäter und den Schutz der Frommen in den Mittelpunkt. Derartiger Schutz äußerte sich in der Fürsorge für die wahre Lehre, in der Abwehr des Papsttums. Gemeinden und Prediger, die sich der Annahme des Interim widersetzten, waren also die eigentlichen Beschützer der societas Christiana; anstatt das Recht zu brechen, stellten sie es wieder her. Indem Beyer die Parallelität dreier Ordnungen 90
Häufig wurden diese Argumentationslinien noch ergänzt um variierte, eigenständige Begründungen wie die Annahme eines durch die Taufe gestifteten Bundes zwischen Gott und dem konkreten Amtsinhaber. Damit führte det Hofkaplan des Markgrafen Hans von Küstrin, Georg von Woltersdorf, in einem Schreiben vom 18.1.1548 eine weitere Begründung für ein Notwehrrecht ein, das niedere Obrigkeiten gegenüber dem unchristlichen Kaiser in Anspruch nehmen sollten. Das Manuskript diese Briefes in: Geh. Staatsarchiv PK I. HA Rep. 14, Nr. 1 Fasz. 3, fol. lOvs. 91 Die Aufgabe der Obrigkeit: „Do ein ider schuldig, sein untrthanen, gesind und kinder den Tirannen, wütrichen und bluthunden gar nicht für zuwerffen [...] so(n)dder wu sie können, yhnen die selsben heraus reissen." Ernst Koch: Geist; dies gilt auch für den Kaiser: „Dieses solt der Keisar thuen ex officio [...] Wu sie andes wollen von Godt geordnete
Gotter, richter vetter vnd obrikeiten heissen vund sein. Denn do stehet die schrifft Ro XVIII, Saget, Es sei also ein ordnu(n)g Gotes, die hierzu dienen sol [...], weil aber der Keisar und Konig verehret [...] das sie yhr ambt nicht mehr kenne(n) [...] Do ist ein ider Churfürst, Fürst vnd was vnterthanen hat, schuldig mit dem schwert, das yhm got vmbgegürtet hat." Ebd., S. 13-14. Dieses ist kein Ungehorsam, denn: „So ferrn sie Ein Ordnu(n)g Gottes ist Vnd yhr ambt führet", wer dies aber wie der Kaiser nicht tut, begibt sich außerhalb dieser Ordnung. „Vnndt gehöret hieher ein Ander Spruch [...]: Man muß Got mehr gehorsam sein den denn menschen." Ebd., S. 15 Das Beispiel des räuberischen Großvaters ebd., S. 15-16. 92 Ebd., S. 17: „Zcu dem Ist des Keisars gewalt yhm heiligen reich vber chur vund fürsten nicht also gar ohne zil, mas, form(m) [...] Es hat Keisarlich gewalt auch yhn der schrifft yhre mas, Das er Got las godt bleiben." Dies bezieht sich auf Mt 22,21. -
,
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97
beschrieb (geistliche Lehrer, Hausväter, weltliche Obrigkeit), beanspruchte und dies markiert eine Konfliktlinie, die seit dem Ende der fünfziger er Jahre eskalierte -, ein Wächteramt der Geistlichkeit gegenüber weltlicher Obrigkeit. Wie Menius betonte Beyer das Hausvateramt als Ursprung aller Herrschaft und unterstrich den Herrschaft begrenzenden Charakter der Drei-
ständeordnung.
Die Schutz- und Strafpflicht der Obrigkeit blieb der Kern der Argumentation bis in die Mitte der fünfziger Jahre hinein. Für Bartholomäus Wagner lag dieser Charakterisierung die Annahme zugrunde, dass es eine Wechselseitigkeit der Beziehungen zwischen weltlicher Obrigkeit und Untertanen gibt: übt die Obrigkeit jenen Schutz nicht aus, so „ist man ihr nicht schuldig gehorsam •
zu sein.
ii94
3. Obgleich Theologen und Juristen als Zeitgenossen die gleiche Frage nach den Ordnungsprinzipien von Herrschaft und deren Begrenzung stellten, gingen sie bei ihrer Beantwortung unterschiedliche Wege. Entscheidend dafür war die unterschiedliche Struktur der protestantisch-theologischen und der juristischen Wissensbestände.95 Zwar gingen beide Gruppen von der Existenz eines Naturrechtes aus; im juristischen Verständnis gab es deshalb ein natürliches Recht der Selbstverteidigung, was aus römisch-rechtlicher Tradition hergeleitet wurde. Demgegenüber gingen die Theologen von der natürlichen göttlichen Ordnung, der Schöpfungsordnung aus, innerhalb derer, wie skizziert, ein Notwehrrecht begründet ist. Einige der Teilnehmer dieser zeitgenössischen, politisch-theologischen Kommunikation, die Theologen waren, führten beide Legitimitätsstränge zusammen, zu ihnen gehörte Georg Maior. Zwar berief auch er sich nie auf das römische Recht oder die Digesten; aber er kannte ein natürlich begründetes Selbstverteidigungsrecht, das er mit den Theologen aus der „Idee der allgemeinen Ordnung" herleitete.96 Die Juristen rezipierten das theologische Verständnis des Naturrechts zu diesem Zeitpunkt nur spärlich; offensichtlich vollzogen sich die Verbindungen intensiver erst über die Rezeption der von theologischer Seite ernst genommenen Drei-Stände-Lehre.97 Charakteristisch ist die Begründung des Basilis Monner. Seine Schrift von 1546 ist in eben dem Kontext entstanden, der für Bugenhagen und Menius skizziert wurde. Der Jurist argumentierte auf 93 94
Cephalus, grundt wie Anm. 41, fol. G IV r. Wagner: Auslegung wie Anm. 42, fol. P I r, ausführlicher Schorn-Schütte: Obrigkeitskri-
S. 216-217. tik, 95
So auch die Argumentation bei Scattola: Naturrecht, S. 59f. mit Anm. 133. Ebd., S. 62. In Georg Maiors Schrift, Ewiger wie Anm. 40, fol. E2r-v heißt es: „Welche Oberkeit nu nach des natürlichen Rechtens Regel und Hecht regiret / und das gute fordert und schützet / das bös aber straffet und ihm stewret / ob es auch schon ein heidnisch Oberkeit were / deren sol man gehorsam sein / und nicht widerstreben / Es sey denn sach / das sie was gebiete wider unser Ordnung und Befehl / So sol man uns / als Gott und Schepffer aller Creatur / mehr denn Menschen gehorsam sein." (Zit. n. Scattola ebd.). 97 Siehe dazu unten 4.2. 96
Luise Schorn-Schütte
98
der Linie der kursächsischen Rechtsgutachten, die bereits in den dreißiger Jahren ein Notwehrrecht gegenüber dem kaiserlichen Oberherrn aus den wechselseitigen Bindungen des Lehnsrechts in Verbindung mit Argumenten des kanonischen und römischen Rechts begründet hatten.98 Wie der spätmittelalterliche Rechtsgelehrte Bartolus setzte auch Monner die Schutzpflicht des Vaters gegenüber seinem Sohn mit derjenigen des Lehnsherrn gegenüber dem Lehnsuntertan gleich. Damit verband er römisch-rechtliche mit reichsrechtlichen Argumenten, die von Skinner vorgeschlagene Differenzierung trifft für Monner nicht zu. Der Lehnsherr/Vater, der seine Pflicht als Obrigkeit nicht wahrnahm, nämlich Sünde und Bosheit öffentlich zu strafen und die gehorsamen Lehnsleute/Kinder zu schützen und zu schirmen, verwirkte sein obrigkeitliches Amt; und gegenüber einer Obrigkeit, die keine mehr ist, konnte es keine Gehorsamspflicht geben.99 Gleichberechtigt neben dieser Rechtsfigur stand das natürliche Recht jedes Menschen auf Notwehr gegenüber Mördern oder Räubern, die fremdes Gut und Eigentum antasten: „Derselbe wird nicht davor angesehen noch geachtet / als hette er ihn mit unrecht "10° Da die Normierungen des römischen Rechts ebenso wie die getötet. Reichsordnungen niemanden aus diesen Grundsätzen ausnahmen, galt dieser Rechtssatz auch für das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertan. Und das hieß: wenn die Obrigkeit selbst diese natürlichen Rechte der Untertanen missachtete, war sie wie eine Privatperson zu betrachten, gegen die der bedrohte Untertan im Rechtssinn keinen Widerstand leistete, sondern seine Angehörigen und sein Eigentum gegen unrechtmäßige Angriffe verteidig-
tem Angesicht
der akuten
politischen Konfliktlage
im Reich unterstrich
Monner mit dieser Beweisführung die Rechtmäßigkeit des Widerstandes der in mehreniederen gegen die höhere Obrigkeit für den Fall der
Tyrannei102;
98
Die Texte bei Scheible (Hrsg.): Widerstandsrecht, S. 63-66; zum Ganzen siehe Böttcher, 136-146 sowie Wolgast: Theologie, S. 165-168. Basilius Monner (Monner publizierte unter den Pseudonymen Regius Selinus und Christoph Cunradt, die Nachweise führte Anja Moritz), „Rechtliches Bedenken von der Defensión und Gegenwehr, ob es nemblich von göttlichem, weltlichem und natürlichem Rechten zugelassen sey, wider die Tyranney, und unrechten Gewalt der Obrigkeit sich zu widersetzen, und Gewalt mit Gewalt zu vertreiben", 1546 [HAB Sign.: 229.1 Quod (3)]., fol. 15. Monner wurde 1554 zum ersten juristischen Professor an die neu gegründete Universität Jena berufen; während seiner Studienzeit in Wittenberg hatte er in engem Kontakt zu Melanchthon und Luther gestanden. Zum Biographischen und zum Kontext vgl. SchornSchütte: Politikberatung; zudem Kolb, Robert: Case; Scattola: Naturrecht, S. 59-61; HaugMoritz: Gott. Es ist bemerkenswert und bestätigt die These von der Parallelität der Argumentationen bei manchen Juristen und Theologen, dass Monner und Bugenhagen auf verschiedenen Argumentationslinien (lehns- und römischrechtliche hier, alttestamentliche
Ungehorsam, S. 99
-
zu gleichen Ergebnissen kamen. dort) 100
Ebd., fol. 17. Ebd.; siehe das Zitat bei Scattola: Naturrecht, S. 60 mit Anm. 135. Sehr präzis hat Kolb: Case, S. 151 diese Sachlage charakterisiert: „These arguments [individuelles natürliches Recht der Notwehr; Recht zur Abwehr von Amtsmissbrauch; 101
102
Kommunikation über Herrschaft
99
aus den Jahren 1547 und 1556 untermauerte er seine Aufder Reichsverfassung als einer aristokratischen OrdCharakter fassung die Herrschaft se begrenzend sei. Das Recht, Widerstand zu leisten, nung, per beruht auf dem Naturrecht der Notwehr einerseits, der christlichen Verpflichtung jedes Amtsinhabers sein Amt nicht zu missbrauchen andererseits, dem Charakter der Reichsverfassung zum dritten: Certum est, magistratus etiam supremi potestatem in imperio Germánico non esse liberam, absolutam & infinitam: sed certis finibus & legibus adstrictam, limitatam & conclusam, secundam quas gubernare, & exquibus ius dicere débet, nee earum limites excederé: alioqui si sciens perpetuo contra faciat, non est magistratus, sed
ren
Schriften vom
„
tyrannus.
"103
Dieses Verständnis der Reichsverfassung war, wie erwähnt, sicherer Bestand der Argumentation zahlreicher anderer Juristen, die als Berater städtischer oder landesherrlicher Obrigkeiten nach dem Augsburger Reichstag von 1530 mit Gutachten und Stellungnahmen an die Öffentlichkeit getreten waren.104 Meinungsführer dieser Gruppe waren (neben den kursächsischen) die hessischen Juristen, die als Berater des Landgrafen Philipp die Reichsverfassung als reichsrechtlich verankerten Vertrag zwischen Kaiser und Reichsständen charakterisierten. Die Wahrkapitulation Karls V. galt als Herrschaftsvertrag, mit dessen Anerkennung sich der Kaiser eidlich verpflichtet hatte, die Stände bei ihrem alten Recht zu belassen, während sich die Stände umgekehrt im Huldigungseid verpflichtet hatten, dem Kaiser in „zimblichen pillichen sachen" Gehorsam zu leisten.105 Sobald der Kaiser diese Verpflichtung unterlief, waren sowohl das Vertragsverhältnis als auch der Gehorsamseid der Stände gegenstandslos. Während sich die sächsischen Juristen strikt auf die juristischen Argumente stützten, versuchten die hessischen und einige städtische Rechtsgelehrte, theologische und juristische Legitimationsmuster zusammen zu führen. So betonten die hessischen Juristen, dass das Gehorsamsgebot des Apostel Paulus im Brief an die Römer (Rom. 13,1) nur in seinem historischen Zusammenhang verständlich werde, eine wörtliche Übertragung des Bibeltextes
Pflicht, der höheren Obrigkeit zu widerstehen, sofern sie die Grenzen ihres Amtes überschreitet d. Verf.in] had been in the process of development within Hessian and Saxon circles since 1529 and Monner did no more than to aply them with special reference to the -
tradition." legal 10 Basilius Monner (Pseud. Chr. Thrasybulus), Pontificem Roman, cum suis coniuratis, esse manifestum hostem ciuium Dei, turn imperii: & ideo iure ei resistendum, Basel 1556, fol. 20-21. Siehe dazu Kolb, ebd., S. 154 mit Anm. 49 (das Zitat nach Kolb). 104 Siehe dazu als präzise und grundlegende Darstellung weiterhin Wolgast: Theologie, S. 163-175. Ferner lsenmann: Widerstandsrecht, S. 57-62, der sich in seiner anregenden leider aber nicht auf Wolgast bezieht. Interpretation 105 lsenmann:
Widerstandsrecht, S. 58.
100
Luise Schorn-Schütte
auf die aktuelle Situation nicht zulässig sei. Vor allem aber interpretierte der Münsteraner Syndikus Wick das Gehorsamsgebot aus Rom. 13,1 in enger Anlehnung an den Brief des Paulus an die Gemeinde zu Korinth (2. Kor 10):
die Obrigkeit hat die Aufgabe zu bessern und zu schützen; wer durch Widerstand gegen eine pflichtvergessene Obrigkeit diese Besserung erreicht, der hat das Recht auf seiner Seite.107 Schon 1530 also gab es erste, wenn auch spärliche Versuche, beide Linien zusammen zu führen. Den eigentlichen Durchbrach zur Verzahnung beider Bereiche der Legitimation politischen Handelns ermöglichte die Krisensituation seit 1547, Breitenwirkung erreichte die Kommunikation in der Interimskrise von 1548-1550. Angesichts aktueller politischer Herausforderungen fanden sich juristische und theologische Argumentationen zusammen, damit verstärkte sich deren praktische Wirkung. Gerade weil die theologischen und juristischen Wissensbestände parallel vorhanden waren, ist die Frage nach der Rezeption des einen durch den anderen falsch gestellt. Von einer strikten Trennung gelehrter juristischer und theologischer Bildung, Argumentation und Handlung sollte für die Jahrzehnte zwischen 1530 und 1550 nicht länger gesprochen werden.108 Stattdessen ist von einer gemeinsamen Sprache des Politischen aus zu gehen, die praktisch wirksam wurde; der italienische Rechtshistoriker Scattola hat dies präzis zusammen gefasst: „Die Idee der gerechten Gegenwehr wurde aus dem römischen Völkerrecht entliehen; die Idee der göttlichen Ordnung, die freilich von dem Apostel Paulus stammt, geht auf das Naturrecht stoischer Prägung zurück, das in die mittelalterliche Philosophie und Theologie eingegliedert und darin ausgebaut wurde. Insofern sind die Argumente zur Rechtfertigung des Widerstands kein Sonderprodukt einer speziellen individuellen Entwicklung, sondern Teil eines gemeinsamen Gedankenguts." Die parallelen Deutungsstrategien konnten von Theologen und Juristen in Ansprach genommen werden, weil „sie tief greifenden Strukturen des juristischen, politischen und theologischen Denkens entspra-
chen."109
4.2. Trägergruppen im Konflikt: Die Drei-Stände-Lehre Sehr rasch wurde deutlich, dass in den Debatten um das Notwehrrecht und zur Legitimität der Selbstverteidigung die Frage nach den Trägern solcher Handlungen von grundsätzlicher Bedeutung war. Deshalb ist die Beobachtung wichtig, dass die Drei-Stände-Lehre innerhalb dieser Kommunikation 106
Ebd.; Wolgast, wie Anm. 87, S. 169-170. Isenmann: Widerstandsrecht, S. 58, Anm. 66. Haug-Moritz: Gott, sieht in der Magdeburger Confessio von 1550 bestimmte juristische Argumentationslinien nicht fortgeführt und betont deshalb die Unterschiedlichkeit beider dem kann aufgrund der hier geführten Belege nicht gefolgt werden. Interpretationen; 109 Scattola: Widerstandsrecht. 107 108
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101
immer klarere Konturen gewann. Feststellbar war sie bereits in den Schriften des Johannes Bugenhagen, sie gewann Bedeutung im Hausbuch des Menius 1528, sie erhielt Gewicht in Melanchthons Schriften seit 1535, sie klingt an bei Myconius 1547 und in der Schrift des Hartmann Beyer 1548. Schließlich begegnet sie als Argumentationsmuster in den ganz konkreten Konflikten um das Interim, in der „Magdeburger Confessio" von 1550 und in den nachfolgenden Auseinandersetzungen um die Rolle der protestantischen Geistlichkeit. Dementsprechend prägte sie eine Vielzahl der Hausväterbücher, Landtags- bzw. Regentenpredigten, die zum Ende des 16. Jahrhunderts ein gewichtiges Medium politischer Kommunikation geworden waren.110 1. In seinem Gutachten von 1529 entwickelte Bugenhagen die Argumentationsfigur, die von allen anderen Gelehrten in den folgenden Jahrzehnten weiter verwendet wurde und den Obrigkeitsbegriff, die Notwehrdebatte und die Drei-Stände-Lehre aufeinander bezog: Obrigkeit hat Schutz- und Strafpflichten, das Recht, sich einer oberen Obrigkeit, die diese Pflicht verletzt, zu widersetzen, haben nicht irgendwelche Individuen, sondern die so genannten „Unterherren", Inhaber ständisch legitimierter Gewalt also. Diese charakterisierte Bugenhagen als weltliche und als geistliche Amtsträger und stellte sie damit einander gleich: Ebenso wie ein Unterherr den unchristlichen Oberherrn mit dem Schwert strafen darf und soll, hat dies die Geistlichkeit gegenüber einer solchen Obrigkeit zu tun. Allerdings haben beide unterschiedliche Waffen: „Ich hab Gots wort, der hat Gots schwerd, beydes wehret dem bösen nach gots befehle und ordenung. Während Bugenhagen in Anknüpfung an die mittelalterliche Tradition der „correctio principis" eine eigenständige Rolle für die geistlichen Amtsträger behauptete, formulierte fast zeitgleich Menius in seiner „Oeconomia" (1528) eine Dreiteilung der christlichen Ständeordnung und nahm damit die aristotelische Tradition der Gleichordnung von politischer und Hausstandsethik auf. Zunächst ging auch er von einer Teilung der Schöpfungsordnung aus: einem geistlichen steht ein leiblicher Teil gegenüber. Im geistlichen herrscht Gott allein, durch die Predigt des Wortes wird er von der Geistlichkeit unterstützt. Das weltliche, leibliche Reich besteht aus der oeconomia und der politia: Oeconomia / das ist haushaltung und Politia / das ist landregirung / inn der oeconomia odder haushaltung ist verfasset / wie ein jegliches haus Christlich und recht wol sol regieret werden /[...] denn daran ist kein zweiffei / aus der oeconomia oder haushaltung muß die politia odder landregirung als aus "'12 einem brunequell / entspringen und herkomen. Damit hatte Menius einerseits die Dreiteilung der Stände charakterisiert, sie andererseits in die Doppelung der Schöpfungsordnung eingebettet. Die Wurzel der Legitimität von "
„
110 111 1,2
Nachweise dazu bei Schorn-Schütte: Politikberatung, S. 49-66. Zit. n. ebd., S. 57 mit Anm. 36. Zit. n. ebd., S. 58 mit Anm. 39 und 40.
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Herrschaft ist der Dekalog, konkret das vierte Gebot; das gilt für alle drei „So sind sie Ordnungen oder Stände, dies ist die Ordnung der Schöpfung: "113 also der der eingewircket. auchynn schepffung naturen Diese Hausstandsethik verband Menius 1547 mit der Notwehrdebatte. Das geistliche Amt wird deutlicher beschrieben, es wird den beiden weltlichen
Ämtern, Ständen, Ordnungen gleichgestellt; alle Verwirklichung des Wortes Gottes in der Welt.
drei zusammen dienen der Und sind auch nicht mehr noch ander Stend oder orden / darein unser Herrgott dieses Menschen leben und wesen uff Erden gefasset hat / und die gantze Welt dadurch regiert / der diese drey / Nemlich / die Oeconomia oder Ehestand / Politia oder weltliche Oberkeit / und das geistliche Reich Gottes / welches ist Ecclesia die gemeine der Christgleubigen. "I14 Deshalb auch sind alle drei Stände aufgerufen, den Missbrauch, die Amtsverfehlung zu ahnden; insbesondere gilt dies für eine pflichtvergessene Obrigkeit, die ihrem Amt des Schutzes und der Strafe nicht nachkommt. Notwehr, Widerstand übt deshalb nicht jeder einzelne aus, sondern immer nur der legitimierte Amtsinhaber, das Haupt jedes der drei Stände: Und sind alle Menschen schuldig / rechte erkenntnis und anruffung zu bekennen / und ein jeder nach seinem Beruff/Abgötterey zu straffen. "I15 Mit dieser „Amtsbindung" erfüllte die Drei-Stände-Lehre eine strukturierende, das Notwehrrecht in die ständische Ordnung einbindende Funktion. Nicht eine aufrührerische Masse stand zu befürchten, wie es die Gegner des Notwehrrechtes eingewandt hatten und wie es als Vorwurf insbesondere von Seiten der Altgläubigen formuliert wurde; stattdessen handelte eine klar begrenzte, ständisch gebundene Gruppe. Dies hatte Melanchthon bereits 1535 umschrieben als er betonte, dass es nicht die Masse sei, die hier angesprochen "116 werde, sondern die „reliqua politia, cut Deum gladius dedit. 2. Diese ständisch ordnende Rolle erklärt, warum die Drei-Stände-Lehre eine so intensive Wiederbelebung in den beiden Jahrzehnten zwischen 1530 und 1550 erfahren hat; in der Forschung ist das bislang wenig rezipiert worden.117 Konsequenterweise erscheint die Lehre in dieser Funktion ausformuliert auch in der „Magdeburger Confessio".118 „
„
113 114
Zit.
n.
ebd., S. 59 mit Anm. 41.
Menius, Justus: Von der Notwehr vnterricht / Nützlich zu lesen, Wittenberg 1547, fol. C III r und C IV r [HAB Sign.: 312. 46 Theol (1)], fol. C4v-Dlr (Zit. n. Scattola: Widerwie Anm. 78, dort Anm. 59). standsrecht, 115 fol. C4r-Dlr (Zit. n. Scattola, ebd., Anm. 64). Ebd., 116 Philipp Melanchthon, Loci Communes, Wittenberg 1535 (Zit. n. Scattola, ebd., Anm. 48). Siehe dazu auch Peterson: Menius, S. 141 f. sowie Friedeburg: WiderstandsS. 62-63. recht, 117 Allerdings hat Friedeburg in seiner Untersuchung ebd., S. 51-70 eine sehr anregende,
weil unorthodoxe Interpretation vorgelegt, wonach einige der an der Diskussion beteiligten Theologen und Juristen dem „gemeinen Mann" eine Trägerfunktion von Notwehr zugewiesen haben, v.a. S. 60-61 mit Verweis auf den Münsteraner Stadtsyndikus Wick. Angesichts
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In den folgenden Jahrzehnten erhielt die Lehre von der Ordnung der Drei Stände eine weitere Funktion, die sich bei Bugenhagen 1529 bereits angedeutet hatte und in der Argumentation des Hartmann Beyer 1548 sehr deutlich ausgesprochen wurde: die Geistlichkeit beanspruchte als gleichrangige Ordnung ein Wächteramt gegenüber weltlicher Obrigkeit (politica) ebenso wie gegenüber dem Stand der Hausväter (oeconomia). Da sich mit dieser Argumentation die soziale Identität der neuen protestantischen Geistlichkeit in der ständischen Ordnung des 16./17. Jahrhunderts verband,119 war die DreiStände-Lehre aus der politischen Kommunikation bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts nicht mehr weg zu denken. Das Argument, jede Ordnung habe „nach ihrem Beraff' zu handeln, erhielt damit eine immer gewichtigere politische Funktion; weil dabei die Grenzen zwischen den Ständen/Ordnungen betont wurden, wuchs der Ansprach und die Konkurrenz zwischen diesen, das Konfliktpotential der folgenden Jahrzehnte zeichnete sich ab. Die Forschung kennt die zahllosen Auseinandersetzungen als Konflikt um die Grenze zwischen externum und internum, zwischen Kirche und Welt und damit als Streit um den Charakter weltlicher Obrigkeit, um Umfang und Rolle des status politicus innerhalb des corpus christianum.120 Dieses Problem war stets heikel, denn mit der Beschreibung der Aufgabe weltlicher Obrigkeit als Schutz- und Strafamt, als Wächter über beide Tafeln der Gebote Gottes, war schon bei den Theologen der zwanziger und dreißiger Jahre (u.a. Melanchthon) die Grenze undeutlich geblieben.121 Dies aber nicht in der Absicht, die Position des pius magistratus zu stärken, sondern mit dem Ziel, weltliche Obrigkeit an ihre Schutzaufgabe für die noch gefährdete Kirche zu binden. In dem Augenblick, in dem die Existenz der protestantischen Kirche im Kern nicht mehr bedroht war, führte diese Schutzzuweisung zur Stärkung des status politicus, womit das Gleichgewichtsmodell der Drei-StändeOrdnung nachhaltig gefährdet schien. In der Forschung wird diese Konstellation noch immer als Beginn unbegrenzter Herrschaft der weltlichen Obrigkeit, als Beginn eines „patriarchalischen Absolutismus" charakterisiert,122 der der ständisch bindenden Funktion der Drei-Stände-Lehre hat diese Interpretation aber nur noch geringe Plausibilität. 118 Die Bedeutung der „Magdeburger Confessio" ist in den letzten Jahren intensiv gewürdigt worden, sie wird hier nicht erneut charakterisiert. Siehe dazu mit weiteren Literaturhinweisen Schorn-Schütte: Obrigkeitskritik, S. 211-214 sowie Kaufmann: Universität. 119 Siehe zu diesem als „Sonderbewusstsein" identifizierten Identifikationsprozess ausführlich Schorn-Schütte: Geistlichkeit, S. 393-416. 120 Als Standardwerk für das späte 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts gilt noch immer Martin Heckel: Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, München 1968. 121 Melanchthon: Loci Communes, wie Anm. 116. Siehe dazu auch Peterson: Menius, S. 141f. sowie Friedeburg. Widerstandsrecht, S. 62-63. 122 Siehe dazu Schorn-Schütte: Obrigkeitskritik, S. 220 mit Anm. 88. Wenig differenziert z.B. auch Weber-Möckl: Recht, S. 116-119.
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für das Luthertum im Alten Reich charakteristisch gewesen sei. Die beteiligZeitgenossen allerdings argumentierten deutlich differenzierter. Unter Berufung auf das alttestamentliche Vorbild des Propheten Ezechiel charakterisierte 1566 Tomas Rorer in seinem Fürstenspiegel das Verhältnis zwischen geistlichem und weltlichem Amt: der Prediger leitet als treuer Wächter das Wort Gottes an die weltliche Obrigkeit weiter; nicht als „stummer Hund" soll er das Handeln der Obrigkeit erdulden, sondern diese mit Kritik und Mahnungen vom falschen politischen Tun abhalten. In dieser Zuordnung wird der Kern des Obrigkeitsverständnisses des Geistlichen greifbar: weltliche Obrigkeiten haben ihre Gewalt von Gott, sie sollen sie einerseits so handhaben, wie dies von getreuen Lehnsleuten erwartet werden kann; andererseits ist Herrschaftsübung an die Einhaltung göttlicher Gebote gebunden. Diese umfassen die externa, den Schutz der Kirche nach außen zum einen, den Gehorsam gegenüber dem Oberherrn, dem Kaiser zum anderen. Fürsorgepflichten für die interna, also geistliche und theologische Fragen schloss Rorer ausdrücklich aus.123 Der Theologe betonte die Wechselseitigkeit der Herrschaftsbeziehung speziell für das Verhältais zwischen Kaiser und Reichsfürsten, allgemein zwischen weltlicher Obrigkeit und Untertanen. Indem der Oberherr für den äußeren Schutz der Kirche sorgt, erweist er sich als pater patriae, als christliche Obrigkeit, die ihrer Schutzpflicht nachkommt. Tut sie dies aber nicht, so führt sie die Untertanen vom wahren Glauben weg und erfüllt ihre Schutzpflicht nicht mehr. Damit endet das durch den Treueid begründete Gehorsamsgebot für die Untertanen, die Obrigkeit wird zum Tyrannen.124 „Wir werden gelehret / dem gewalt / so von Gott ist / ehre zu beweisen / Aber doch solche / die dem Glauben nit zuwider ist. Sobald eine Obrigkeit anderes die Unterthanen wissen / das sie zu gehorsamen nicht verlangt da sollen "125 schuldig sind. Weltliche Obrigkeit, geistliches Amt und die Untertanen (Gemeinschaft der Hausväter) sind in eine ständische Ordnung einbezogen, die aufgrund ihrer wechselseitigen Funktionszuweisungen Schutz ermöglicht. Auch dreißig Jahre nach den Debatten der Theologen und Juristen im Vorfeld des Schmalkaldischen Krieges also hielt der kurpfälzische Geistliche an einem politischen und sozialen Ordnungsmodell fest, das Herrschaftsübung begrenzte, indem diese an Teilhabe und an Gesetze gebunden wurde. Deshalb war es konsequent, ein deutlich begrenztes Gehorsamsgebot für den Stand der Hausväter (oeconomia) zu betonen, und in Gestalt des Mahner- und Wächteramtes dem status ecclesiasticus das Recht der Obrigkeitskritik zuzuschreiben.
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"
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123
Rorarius: Fürstenspiegel, Vorrede fol. Ir; fol. H Ir; fol. H II r+v. Ebd., fol. G Vllr. 125 Ebd., fol. H VIr und fol. IIIr+v. 124
Kommunikation über Herrschaft
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Die Vorstellung von der Herrschaft begrenzenden Dreigliedrigkeit der christlichen Gemeinde blieb in der zeitgenössischen politischen Kommunikation mindestens bis zum Ende des Jahrhunderts dominant; neben den Theologen beteiligten sich städtische Amtsträger und gelehrte Juristen. Das Beispiel der Bürgerhauptleute der Stadt Braunschweig ist bekannt126, es lässt sich ergänzen mit dem Verweis auf die Diskussionen in der politisch sehr selbständigen Stadt Bremen. Im Rahmen verschiedener Konflikte um die Grenzen zwischen geistlichem und weltlichem Amt griffen mehrere juristisch gebildete Bürgermeister in den sechziger Jahren auf die Drei-StändeOrdnung zurück. „Es ist richtig", so argumentierte Bürgermeister D. v. Buren Anfang 1562 gegen seinen innerstädtischen Gegner, den Bürgermeister J. Esich, „die Obrigkeit ist Hüterin auch der ersten Gesetzestafel. Aber ihre Macht erstreckt sich keineswegs über die äußere Disziplin hinaus. Das Urteil aber über die Lehre steht jedenfalls der ganzen Kirche zu." Und in anderem Zusammenhang wiederholte er: Vnd offwoll J:E: W: alse de Ouericheit Custodes primae tabulae vnd syn, so höred doch dat ordell van der lehre der "127 In der tagesganzen Kercken tho deren de Ouericheit men ein deill ys. politischen Auseinandersetzung wurde die Lehre Interessen bezogen verwendet, das galt für Theologen und Juristen gleichermaßen; das Ordnungsmodell war Teil der politischen Sprache.128 Eben deshalb entzündete sich an ihm der Streit um die Grenze zwischen interna und externa immer intensiver. Nicht verschiedene Herrschaftsmodelle standen zur Diskussion, sondern die Grenzziehung zwischen den Ständen innerhalb des gemeinsam anerkannten Ständemodells. Insbesondere die städtische Geistlichkeit hatte offensichtlich eine gute Argumentationsbasis angesichts der Tatsache, dass das Drei-Stände-Modell einem aristokratischen Herrschaftsverständnis nahe stand.I29 In diesen Zusammenhang gehört denn auch das Prüfungskompendium des Martin Chemnitz von 1569, in dem er das Recht, die Pfarrer zu wählen (Vokationsrecht) zum Kernpunkt der Teilhabe aller Stände der christlichen Gemeinde machte. Dadurch, dass darin den angehenden Theologen die die„
126
Siehe ausführlich Schorn-Schütte: Geistlichkeit, S. 416-421. Zitate nach Chang Soo Park: Die Dreiständelehre als politische Sprache in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts am Beispiel des T. Heshusius (1527-1588), in: Bremisches Jahrbuch 83 (2004), S. 50-69, hier S. 60 und 61. Die Problemlage in Bremen ist dort sehr 127
gut aufgearbeitet.
Dies ist Heckel: Staat, korrigierend festzuhalten; Heckel spricht dort S. 140 davon, dass die Dreiständelehre „Schritt für Schritt in die juristische Literatur eingedrungen" sei und zwar erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Auch die Aussage, dass es erst seitdem eine Kooperation zwischen Theologen und Juristen gegeben habe, lässt sich angesichts der vorstehend nachgewiesenen Gemeinsamkeiten nicht länger aufrechterhalten. 129 Dazu ausführlich Schorn-Schütte, Luise: Obrigkeitskritik im Luthertum? Anlässe und Rechtfertigungsmuster im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert, in: Erbe, Michael u.a. (Hrsg.): Querdenken. FS für Hans R. Guggisberg, Mannheim 1995, S. 253-270.
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nende Funktion der Obrigkeit, ihre Rolle als Glied der Kirche eingeschärft wurde, wirkte das aristokratische Herrschaftsmodell der Drei-Stände-Lehre auf Generationen von Theologiestudenten nachhaltig. „Derhalben gehöret die Vocatio wie nicht den geistlichen allein, wie auch nicht der Obrigkeit allein, Also auch nicht den gemeinen Hauffen alleine, denn keins ohn das ander ist die gantze Kirche. Sondern die Vocatio ist vnd sol bleiben bey der gantzen
kirchen."130 Mit den
Regentenpredigten
der Hofprediger eröffnete sich ein neuer für den das Mahner- und Wächteramt eine gewichtige Kommunikationsraum, Rolle spielte. Selbst wenn dadurch das Gegenüber des status ecclesiasticus und des status politicus zu dominieren begann, so blieb die Verantwortung des Fürsten auf alle drei Stände und Ordnungen konzentriert. Dies war auch der Kern des Obrigkeitsverständnisses des sächsischen Hofpredigers Philipp Wagner, das er 1570 in der Auslegung des 101. Psalms formulierte.131 Das Verhältnis zwischen Gott und weltlicher Obrigkeit entspricht dem Verhältnis zwischen Lehnsherrn und Lehnsmann: letzterer verpflichtet sich, das Regiment in Ordnung zu halten, und das heißt weltliche Obrigkeit ist der Wächter der (dem göttlichen Willen entsprechenden) Gesetze. Eben deshalb ist sie gehalten, den eigenen Gesetzen ebenso zu gehorchen wie es von den Untertanen verlangt wird.132 Herrschaftsbindung durch Gesetze und Teilhaberechte diese Argumentation des Bugenhagen von 1529 galt auch fünfzig Jahre später uneingeschränkt. -
IV.
Ergebnisse
„Meistererzählung" deutscher Geschichte in Europa gehört die Sonderwegsthese, deren Beginn seit Max Weber und Ernst Troeltsch in der „Spiritualisierang der Religion und [...] [der] damit einhergehende[n] religiöse[n] Marginalisierung des Politischen" durch Luther gesehen wird. Damit habe der Weg von „Luthers reformatorischer Theologie zur Lehre von der StaatsZur
raison" 130
ter
geführt.133
Chemnitz: Heuptstück, B. B3v. 4r, siehe dazu Mager, Inge: „Ich habe Dich zum Wächgesetzt über das Haus Israel". Zum Amtsverständnis des Braunschweiger Stadtsuper-
intendenten und Wolfenbütteischen Kirchenrat Martin Chemnitz, in: Braunschweigisches Jahrbuch 69 (1988), S. 57-69, hier S. 61-62. 131 Wagner: Psalm. 132 Ebd. 133 Münkler, Herfried: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1987, S. 101-102. Ebenso korrekturbedürftig sind die Ausführungen von Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen, 2. Aufl., Hamburg 2002, der in Verkennung der herrschaftsbegründenden und damit -begrenzenden Funktion des vierten Gebots für die politisch-theologischen Diskussionen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts den Hausvater als autoritäres „Scharnier zwischen Familie und Staat"
107
Kommunikation über Herrschaft
Angesichts der politischen Kommunikation über Herrschaftsordnung und Verfassungsstrakruren, wie sie zwischen gelehrten protestantischen Theologen und Juristen, unter Beteiligung städtischer und adliger politischer Entscheidungsträger seit dem Ende der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts geführt wurde, erscheint diese Aussage dringend korrekturbedürftig. Die Untersuchung zeitgenössischer Begründungen zu Ursprung und Begrenzung von Herrschaft im theologisch-politischen „Gespräch" der gelehrten Theologen und Juristen (politische Sprachen) hat deutlich werden lassen, wie vielstimmig die Sprachen waren, wie gering die Eindeutigkeit über die Institutionalisierang von Herrschaft und Teilhabe. Stattdessen existierte Mehrstimmigkeit der Begriffe in den praktisch-politischen Auseinandersetzungen, ohne dass dies als Beliebigkeit bezeichnet werden müsste. Zwei Ergebnisse dieses Zugriffs, der den Blick für die politische Kommunikation auf einer mittleren Ebene des sprachlichen als politisch handelnden Austausches eröffnet, sollen festgehalten werden: 1. Das Sprechen von „dem" Politischen ist unangebracht. Gewiss war in der Frühen Neuzeit die Orientierung an der aristotelischen Politik wichtig, aber das für das 16. Jahrhundert so zentrale Spannungsverhältais zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft hatte in der Lehre des Aristoteles keine Entsprechung, so dass deren kurzschlüssige Übertragung auf die Frühe Neuzeit unzulässig reduziert.134 Das 16. und frühe 17. Jahrhundert hat einen eigenen Begriff des Politischen entfaltet, der in den ganz konkreten Gesprächen und Kontroversen über theologisch-politische Konflikte immer aufs Neue identifiziert werden konnte als politische Sprache. Wichtig für die Zeitgenossen war dabei die Anknüpfung an die Tradition, wonach politisches -
Handeln identisch zu sein hatte mit ethisch gutem Handeln, d.h. einem Handeln im Sinne der Schöpfungsordnung (politica Christiana, Drei-StändeLehre). Das galt in besonderem Maße für diejenigen, die Herrschaft ausübten, weshalb der Diskurs über Widerstand, Notwehr, Gegenwehr und Kritik an der Obrigkeit von so zentraler Bedeutung war.135 Orientierung an der Tradition bildete eine zentrale, Legitimität schaffende Kategorie für das 16. und 17. Jahrhundert, Innovation geschah durch deren Wiederbegründung. 2. Herrschaftsbegrenzung war Teil dieser Traditionsmuster des ethisch guten Handelns. Sie geschah durch Herrschaftsverteilung, dementsprechend war die Kommunikation auf Formen der Teilung (Drei-Stände) und deren Kon-
(S. 156) charakterisiert. Dem Hausvater wuchs das zeigte das Beispiel des Menius gerade keine „neuartige Machtfülle zu", ebd., S. 151. 134
der
„Oeconomia"
-
Siehe dazu Blänkner, Reinhard: Überlegungen zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Theorie politischer Institutionen, in: Göhler (Hrsg.): wie Anm. 17, S. 85-122, hier S. 89. 135 Siehe dazu sehr einleuchtend Nitschke, Peter: Politia, Politica und la République. Der Politikbegriff der Prämoderne, in: Lietzmann, Hans ¡Jders. (Hrsg.): Klassische Politik. Politikverständnisse von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Opladen 2000, S. 147-160. -
108
Luise Schorn-Schütte
(Gegenwehr, Kritik) konzentriert. Entscheidend ist, dass sich diese politische Sprache in verwandten Formen in ganz Europa wiederfand, sei es in zeitlicher Parallele, sei es in knapp versetzter Abfolge. Dass das vierte Gebot als Legitimitätsgrundlage für Herrschaft und zugleich deren Begrenzung galt, war Teil eines gesamteuropäischen Wissensbestandes, der sich in seiner argumentativen Struktur gerade nicht nach Konfessionen unterschied. Vielmehr handelte es sich dabei um einen theologisch und juristisch kommunizierbaren Grundbestand politischer Legitimität, der sich nicht in Rezeptionsringen ausbreitete, sondern in allen europäischen Regionen als
trolle
aktivierbare Kenntnis konnte.
aus
Veröffentlichungen
dem
aus
Frühen Neuzeit":
der Zeit
vor
der Reformation vorausgesetzt werden
Projekt „Deutungsmuster
sozialer Wirklichkeit in der
Schorn-Schütte, Luise (Hrsg.): Alteuropa oder Frühe Moderne? Deutungsversuche der
Frühen Neuzeit aus dem Krisenbewusstsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechtsund Geschichtswissenschaft (= Beiheft 23 zur ZHF), Berlin 1999. Dies. (Hrsg.): Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16./17. Jahrhunderts (= Beihefte zur HZ Bd. 38), München 2004. Dies. (Hrsg.): Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 203), Gütersloh 2005. Dies.: New History of Ideas / Neue Geistesgeschichte, in: Lottes, Günther/Eibach, Joachim (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft, München 2002, S. 270-280. Dies.: Ideengeschichte, in: Jordan, Stefan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft, München 2002, S. 174-178. Dies.: Politische Theologie Respublica Verständnis Konsensgestützte Herrschaft. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 167 17. Jahrhunderts, München 2004, S. 1-12. Dies.: Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die politica Christiana als Legitimitätsgrundlage, in: dies. (Hrsg.): Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16./ 17. Jahrhunderts, München 2004, S. 195-232. Dies.: Wozu noch Geschichtswissenschaften? Überlegungen zu einem Thema des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in: Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker? (= Universitätsreden), Heidelberg 2004, S. 9-20. Dies.: Staatsformen in der Frühen Neuzeit, in: Jesse, Eckhard (Hrsg.): Staatsformen von der Antike bis in die Gegenwart, München 2004, S. 123-152. Dies.: Beanspruchte Freiheit. Die politica Christiana, in: Schmidt, G. (Hrsg.): Freiheitsvorstellungen in der deutschen Geschichte, 2005 (im Druck). Dies.: Religion und Politik im 16. Jahrhundert: das Interim (1548) im europäischen Kontext. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt. Das Interim (1548/50) im europäischen Kontext (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 203), Gütersloh 2005. Dies.: Geistliche Amtsträger und regionale Identität im 16. Jahrhundert ein Widerspruch?, in: Dinget, Irene/'Wartenberg, Günther (Hrsg.): Kirche und Regionalbewusstsein in der Frühen Neuzeit, Leipzig 2005 (im Druck). -
-
-
.weltliche hendel werden geistlich."1 Zur política christiana des 16. Jahrhunderts „..
Matthias
Weiß
I. Johannes Ferrarius gilt gewöhnlich als „getreulicher Aristoteliker"2 und somit als Garant des Fortlebens aristotelischer Politiktraditionen im 16. Jahrhundert. Ferrarius selbst meinte in einen publizistischen Freiraum vorgestoßen zu sein, denn „von sollichem [gemeinen Nutzen]" sei „nit viel von den Gelarten bey unseren Tagen geschrieben" worden.3 Insofern zeigt das kurze Titelzitat, dass Ferrarius ebenso als Teil einer Tradition beschrieben werden kann, die dem Politischen eben nicht jenen aristotelischen Freiraum einräumte, sondern vielmehr die christliche Religion als unabdingbare Voraussetzung politischer Ordnungsfindung ansah. Denn, schreibt Ferrarius, „willstu Gottes forcht hindan setzen, so ist das widerspill", „also lernen wir das wort inn der kirchen daheym und in der gemein", denn daraus entspringt „das rechtgeschaffen gedeyen, das wir den gemeynen nutz heyssen."4 Diese ideengeschichtliche Tradition einer frühneuzeitlichen, christlichen Politik ist begrifflich als politico christiana gedeutet worden.5 Mit 1
Ferrarius, Johannes: Von dem Gemeinen nutze, Marburg 1533, Aiii
v. Die folgenden in den größeren Deutungszusammenhang, den Luise SchornSchütte in diesem Band und anderswo schildert. Sie sind ein Teilergebnis des Projektes „Deutungsmuster der sozialen Wirklichkeit: aie política christiana", welches innerhalb des DFG Schwerpunktprogramms „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskräfte der Neuzeit" von 1998 bis 2002 gefordert wurde. Vgl. Schorn-Schütte, Luise: Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die política christiana als Legitimitätsgrundlage, in: dies. (Hrsg.): Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, München S. 195-232. 2004, 2 Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: 1600-1800, München 1988, S. 87; Simon, Thomas: „Gute Policey". Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 2004, S. 105ff; Eckert, Brita: Der Gedanke des gemeinen Nutzen in der lutherischen Staatslehre des 16. und 17. Diss. Frankfurt/M. 1976, S. 10-78. Jahrhunderts, 3 Ferrarius: Von dem gemeinen nutze, Vorrede, zit. n. Eckert: Gedanke des gemeinen S. 76. Nutzen, 4 Ferrarius: Von dem gemeinen nutze, xl v und Aiiii r. 5 Dreitzel, Horst: Der Aristotelismus in der politischen Philosophie Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: Kessler, Eckhard u.a. (Hrsg.): Aristotelismus und Renaissance, Wiesbaden 1988 S. 163-192; Weber, Wolfgang: Staatsräson und Christliche Politik: Johann Elias Keßlers Reine und Unverfälschte Staats-Regul (1678), in: Baldini, Enzo A. (Hrsg.): Aristotelismo politico e ragion di stato, Florenz 1995, S. 157-180; Dreitzel, Horst: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft,'2 Bde., Köln/Weimar/Wien 1991; Schorn-Schütte: Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht.
Ausführungen gehören
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Matthias Weiß
der Annahme einer christlichen Politiklehre wird versucht, eine Argumentationskonvention zu beschreiben, welche mit Beginn des 16. Jahrhunderts unter den Bedingungen neuer institutioneller Konfessionsrahmen das, was als neu zu verhandelnder politischer Freiraum angesehen wurde, mit alten und neuen Autoritäten besetzte. Von der Konstituierung des Gemeinwesens und der Exekution von Herrschaft im 16. und 17. Jahrhundert wird dabei angenommen, sie seien wesentlich durch die Transzendenzvorstellungen des Christentums geprägt und auf eine untrennbare Verschränkung religiösen und politischen Handelns und Denkens ausgerichtet. Damit wird ein zeitgenössisches Konzept der Legitimation politischen Handelns aufgezeigt, eine politische Sprache6, welche den Zeitgenossen einerseits zur Rationalisierung ihres eigenen Verhaltens diente und ihnen als Leitmotiv und Ratgeber bei der Formulierung möglichst erfolgreicher politischer Handlungsstrategien zur Seite stand.7 Die política christiana umfasst all jene Anstrengungen des 16. und 17. Jahrhunderts, die darauf abzielten, politische Ordnungsprinzipien aus der Bibel zu entwickeln.8 Ihre meist lutherischen Autoren sahen in der göttlichen Offenbarung eine sehr viel wertvollere Regelquelle menschlichen Zusammenlebens als in den Werken der tradierten Philosophie. Eine wesentliche, ideengeschichtliche Vorbedingung ihrer Existenz ist die Gleichsetzung von Vernunft und Offenbarung, von göttlichem und natürlichem Recht.9
II.
Grundanliegen der Autoren der política christiana ist ein zutiefst augustinisches, hatte doch dieser bereits in seiner Auseinandersetzung mit Cicero bemerkt, dass es in der Welt keine wirkliche Glückseligkeit geben könne, da der Mensch an sich sündig sei und ausschließlich durch die Gnade Gottes gerecht werden könne. Das oberste Gut, dessen Erreichen die gemeinDas
6
Skinner, Quentin: Visions of Politics, Bd. 1: Regarding Method, Cambridge 2002; Hampsher-Monk, Iain: Neuere angloamerikanische Ideengeschichte, in: Lottes, Günther/ Eibach, Joachim (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 293-317; Asbach, Olaf: Von der Geschichte politischer Ideen zur „History of Political Discourse"? Skinner, Pocock und die Cambridge School, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12 (2002), S. 637-667; Llanque, Marcus: Alte und neue Wege der Ideengeschichte, in: Neue Politische Literatur (NPL) 49 (2004), S. 34-51. Skinner, Quentin: Liberty before Liberalism, Cambridge 1998, S. 105. 8
Dreitzel: Aristotelismus, S. 177ff; Weber: Staatsräson und Christliche Politik, S. 159; Dreitzel: Monarchiebegriffe, S. 484. 9 Melanchthon: Commentarii in aliquot políticos libros Aristotelis, in: CR XVI, S. 417— 452, S. 424; Witte, John: Law and Protestantism. The Legal Teachings of the Lutheran Reformation, Cambridge 2002, S. 122ff; Deflers, Isabelle: Melanchthon und die Rezeption des römischen Rechts in Sachsen und im Alten Reich, in: Schmidt-Recla, Adrian u.a (Hrsg.): Sachsen im Spiegel des Rechts, Köln u.a. 2001, S. 185-203.
111
„...weltliche hendel werden geistlich."
schaftliche Existenz des Menschen legitimiert, ist in Augustins Verständnis diese „wahre Gerechtigkeit", die erst im Jenseits erfüllt werden kann.10 Das tradierte, aristotelische Telos der politischen Gemeinschaft, das bene beatque vivere, musste demzufolge mit der christlichen Heilsbestimmung des Einzel-
in Übereinstimmung gebracht werden", so dass an Stelle der aristotelischen Zielkoordinaten guten Lebens und irdischer Glückseligkeit, das ewige Leben und die himmlische Seligkeit treten konnten.12 In der Folge hatte Thomas von Aquin mit dieser Absicht in seiner an Einfluss gewinnenden Hierarchienlehre dem bonum commune13 eine ,nur' vermittelnde Funktion zugestanden und damit die Kongruenz von Gemeinwohl und Wohl des Einzelnen aufgehoben, indem er dem natürlichen finis der Gemeinschaft, dem guten, tugendhaften Leben, einen ultimas Jinis, das ewige Leben, überordnete.14 Er formulierte in seinem Fürstenspiegel: „Der letzte Zweck der Gemeinschaft ist also nicht, tugendgemäß zu leben, sondern durch tugendgemäßes Leben zur Anschauung Gottes zu gelangen."15 Ein Herrschaftsverband, ausschließlich aus „guten Bürgern" im aristotelischen Sinne bestehend, erfüllt für Thomas nicht seinen Zweck, den Bürger zum „guten Menschen" zu machen.16 Auch für den sicher einflussreichsten Schüler des Aquinaten, Aegidius Romanus, zielt das von Gott gegebene, natürliche, menschliche Streben über das bonum commune hinaus und wird auf den Stifter zurückgelenkt. Allerdings ist nach Aegidius' Ansicht dem bonum commune bereits der Verweis auf das wahre und höchste Gut, auf Gott, eigen, und entsprechend wird von ihm erneut das bonum der einzelnen Glieder dem Wohl des Gemeinwesens untergeordnet.17 „Gott selbst ist das Allgemeingut",18 stellt er fest.
nen
10 Sellin, Volker: Politik, in: Brunner, Otto u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 789-874, S. 801 mit Verweis auf Augustin: De civitate Dei 19, 23 und 19, 27. 11 Sellin: Politik, S. 804. 12 Maier, Hans: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München 1986, S. 167. 13 In Weiterführung vgl. Simon, Thomas: Gemeinwohltopik in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Politiktheorie, in: Münkler, Hei-fried/Bluhm, Harald (Hrsg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 129-146. 14 Berges, Wilhelm: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Leipzig 1938, S. 204ff; Sellin: Politik, S. 803f. 15 Thomas von Aquin: De regimine principum, I, 14, zit. n. Berges: Fürstenspiegel, S. 206. Die deterministische Sichtweise Augustins ist damit in gewisser Weise relativiert, da trotz der Legitimation der Gemeinschaft durch Gott erst die willentliche Entscheidung zum tugendgemäßen Leben, natürlich wiederum bedingt durch die Stiftung Gottes, diese Versichern kann. bindung 16 Sellin: Politik, S. 804.; für den frühneuzeitlichen Aristotelismus Dreitzel: Aristotelismus, S. 171. 17 Stürner, Wolfgang: Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken, Sigmaringen 1987, S. 193ff 18
Romanus, Aegidius: De regimine principum, I, 3, 3, zit.
S.215.
n.
Berges: Fürstenspiegel,
112
Matthias Weiß
Für die praktische Philosophie rückte somit eine christlich verstandene Ethik ins Zentrum des Interesses, die auch im weltlichen Bereic'" ein vor allem gottgefälliges Leben, nicht „bloßes Glücksstreben", einforderte.19 Das
Hauptaugenmerk lag dabei auf dem Fürsten, der, angehalten zu christlicher Tugend, die Glieder der Gemeinschaft zu ewiger Glückseligkeit führen konnte. Die Lehre der praktischen Politik entwickelte sich so mehr und mehr zu einem Kompendium fürstlicher Handlungsmaximen, die mit ihrem Primat der Ethik einen wesentlichen Impuls für die Tradition der Fürstenspiegelliteratur setzten.20 Neben der eudämonistischen Philosophie des Aristoteles, von dessen „eigentlicher Meynung", im Diktum Seckendorffs, „die Gelehrten nicht einig
[sind]",21 daher besser: neben den verschiedenen christlichen, scholastischen Varianten des Aristotelismus, ist damit bereits eine zweite, ideengeschichtliche Tradition benannt, auf die sich die política christiana stützte: die Fürs-
tenspiegel.
Die von der Herrscherethik dominierten politischen Ideen der Fürstenspiegel waren nach der Wiederentdeckung des Aristoteles und der damit verbundenen Hinwendung zu institutionellen Problemstellungen in der Lage, die persönlichen Treuebindungen, auf denen das Gemeinwesen ruhte, sowohl unter moral-theologischen, als auch institutionellen Fragestellungen zu beleuchten.22 Trotz gelegentlicher Abgrenzungsversuche kann die Literaturgattung Fürstenspiegel einen recht disparaten Kanon von Schriften umfassen. Für die Zeitgenossen gehören dazu Erziehungstraktate, Regentenlehren und predigten ebenso wie politische Testamente und allgemeine Obrigkeitslehren.23 So kann beispielsweise Martin Lipenius in seiner 1682 erschienenen und nach „Materie" geordneten „Bibliotheca Realis Philosophica" unter dem Stichwort „Princeps"24 so unterschiedliche Autoren wie Thomas Sigfrid, Johann Schuwardt und Thomas Birck,25 ebenso Johannes Oldendorp, Mel-
-
19
Von Seckendorff, Veit Ludwig: Christen-Stat, Leipzig 1685, S. 28ff. Sellin: Politik, S. 805; de Wall, Heinrich: Die Staatslehre Johann Friedrich Horns, Aalen 1992, S. 26; Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988, S. 113. Reichspublizistik 21 Von Seckendorff. Christen-Stat, Additiones, S. 6. 22 UM, Karl: Engelbert von Admont. Ein Gelehrter im Spannungsfeld von Aristotelismus und christlicher Überlieferung, Wien 2000, S. 59ff. 23 Anders Singer, Bruno: Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, München 1981, S. 16ff.; mit deutlicher Kritik und weiterer Eingrenzung der Literaturgattung: Anton, Hans Hubert: Petrarca und die Tradition der Herrscherund Fürstenspiegel, in: Giebmeyer, Ange\a/Schnabel-Schüle, Helga (Hrsg.): „Das Wichist der Mensch", FS für Klaus Gerteis, Mainz 2000, S. 229-251. tigste 2 Lipenius, Martin: M. Matini Lipenii Bibliotheca Realis Philosophica, Frankfurt/M. 1682, S. 121 Iff. Lipenius nennt gelegentlich nur Titel, keine Autoren. 25 Sigfrid, Thomas, Aulicus Praeceptor: Wie man der Könige, Fürsten, Graffen, deren vom Adel, und furnemmer Leut Kinder [...] unterweisen soll, Erfurt 1594; Schramm, Johann: 20
„...weltliche hendel werden geistlich."
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Osse,26 Machiavelli, und selbst die deutschen Übertragungen Bovereinen. Die innere Differenzierung der Gattung Fürstenspiegel erim 16. und beginnenden 17. Jahrhundert anhand der Funktion des Adressaten oder der Position politischer Macht. Er erweist sich zunehmend als Regentenspiegel, oder Regentenpredigt, die sich an Fürsten, städtische Obrigkeiten, Adel, Räte, Beamte und auch die Stände28 wenden konnte. So ist z.B. der Fürstenspiegel des oberpfälzischen Pfarrers Thomas Rorers „an alle [...] Chur und Fürsten, Stedt und Stende" gerichtet und behandelt, was diese „furnemlich in ihrem Regiment teglich betrachten und volbringen sollen."29 Vorrangig theologisch argumentierend, suchten die Fürstenspiegel des 16. Jahrhunderts ihre Adressaten in den Kontext der eigenen Religion einzubinden und ihnen das Musterbild eines christlichen Regenten vor Augen zu chior
von
dins27 folgte
halten.30 Als hauptsächliche Argumentationsfiguren diente den Autoren der politico christiana das Ordnungsmodell der Drei-Stände-Lehre im Zusammenhang mit Luthers nahe an Augustins Original vorgenommenen Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment.31 Die mittelalterliche, funktionale Dreiteilung der Gesellschaft wurde durch die Reformation in einer Art wieder belebt, die nicht auf einen gesellschaftlichen Umbruch, als vielmehr auf die Wiederherstellung einer einmal als gut befundenen Ordnung abzielte.32 Deren Kern ist das gleichberechtigte Nebeneinander von status politicus, status -
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Politia Histórica, Eisleben 1606; Schuwardt, Johann: Regententaffell, Leipzig 1583; Birck, Thomas: Regenten Spiegel, Frankfurt 1607. 26 Oldendorp, Johannes: Von Rathschlägen, wie man gute Policey und Ordnung in Stedten und Landen erhalten möge, Rostock 1597 (erste Ausg. 1533); von Osse, Melchior: Prudentia regnativa, Das ist: Ein nützliches Bedencken, ein Regiment, so wol in Kriegs als Friedens Zeiten, recht zu bestellen, zu verbessern und zu erhalten, Frankfurt 1607 (urspr. 1556, weitere Ausgabe Wolfenbüttel 1622). 27 Bodin, Jean: Respublica: Das ist: Gruendtliche und rechte Underweysung..., Mömpelgard 1592, (übers. Johann Oswaldt); unter verändertem Titel Jean Bodin: Von Gemeinem der Welt, Frankfurt 1611. Regiment 28 Dreitzel: Monarchiebegriffe, S. 468. 29 Rorer, Thomas: Fürsten Spiegel, Schmalkalden 1566, Titelblatt; Friedrich W. Katzenbach: Der Prädikant Thomas Rorer. Ein Beitrag zu seiner Biographie und seinen Schriften, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte (ZBKG) 25 (1956), S. 152-165; Simon: Gute Policey", S. 106f. 30 Stolleis: Geschichte, S. 342f. 31
Bornkamm, Heinrich: Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang seiner Gütersloh 1958, S. 16; Lau, Franz: Luthers Lehre von den beiden Reichen, Berlin 1952, S. 27; Gänssler, Hans-Joachim: Evangelium und weltliches Schwert, Wiesbaden 1983, S. 105ff; Junghans, Helmar: Das mittelalterliche Vorbild für Luthers Lehre von den beiden Reichen, in: Vierhundertfünfzig Jahre lutherische Reformation 1517-1967. FS für Franz Lau, Göttingen 1967, S. 135-153. 32 Maurer, Wilhelm: Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund, München 1970; Schorn-Schütte, Luise: Die Drei-Stände-Lehre im reformatorischen Umbruch, in: Moeller, Bemd (Hrsg.): Die Reformation als Umbruch, Gütersloh 1998, S. 435^461, S. 459.
Theologie,
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ecclesiasticus und status oeconomicus, oder, wie Luther im dritten Teil seiner Schrift „Vom Abendmahl Christi" 1528 ausführt, „[...] die heiligen orden und rechte stiffte von Gott eingesetzt sind diese drey: Das priester ampt, Der Ehestand, Die weltliche öberkeit."34 Die wechselseitige Fürsorge der drei Stände war Teil der Schöpfungsordnung, hatte jedoch ein vordringliches Ziel: den Erhalt des corpus christianum als der christlichen Gemeinschaft.35 Das bedeutete, dass die aus der Drei-Stände-Lehre gewonnene Herrschaftsordnung Weisungsbefugnis für alle Lebensbereiche beanspruchte. Das Wahrnehmen der zugeordneten Aufgaben ist dabei „den drei ordines nur durch die Tätigkeit des jeweils anderen möglich".36 Luthers Unterscheidung zweier Regimenté, weltliches und geistliches, scheint gegen das Eindringen religiös motivierter Herrschaftsvorstellungen in den weltlichen Bereich zu sprechen, hatte er doch bei der Formulierung dieser Teilung dem stets durch Zerstörung durch den Teufel bedrohten regnum mundi, dem Reich des sündigen Menschen, eine mit allumfassenden Kompetenzen ausgestattete weltliche Obrigkeit vorangestellt. Die Legitimität der Gewaltausübung hängt für Luther dabei eher von der Effektivität ab, mit der weltliche Obrigkeit ihr Amt erfüllt als von der Art und Weise ihres Machterwerbs.37 Die Konsequenz dieser Auffassung ist ein durchaus obrigkeitsstärkendes Gemeinschaftsmodell, dessen vorrangige Aufgabe der Schutz der weltlichen Institution „Kirche" ist. Sie trägt als ecclesia in mundo das geistliche Regiment in das weltliche trägt,38 unter ihrem Dach finden die ordinierten drei Stände wieder zusammen. Eben diese Verschränkung führte im zeitgenössischen Verständnis zur Untrennbarkeit von Religion und Politik, denn geistliche Aufgaben wirken in der Welt, und „weltliche hendel werden geistlich, als dem wort des Herrn gemeß",39 wie es der an der Universität Marburg lehrende Jurist Johannes Ferrarius 1533 formulierte. Dass dieses Modell dabei erheblichen Spannungen ausgesetzt war, allerdings eine ebenso erstaunliche Flexibilität besitzt, ist ersichtlich. Denn die Gewichtung der einzelnen Machtpole „Kirche" und „weltliche Obrigkeit" ist 33
Schorn-Schütte, Luise: Obrigkeitskritik im Luthertum? Anlässe und Rechtfertigungsausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert, in: Erbe, Michael u.a. (Hrsg.): Querdenken. FS für Hans Rudolf Guggisberg, Mannheim 1995, S. 253-270, S. 257. 34 Schwarz, Reinhard: Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der in: Lutherjahrbuch 45 (1978), S. 15-34, Zitat S. 17. Ethik, 35 Schorn-Schütte: Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht, S. 214ff.; Mau, Rudolf: „Der christliche Fürst", in: Luther 63 (1992), S. 122-137, S. 123. 36 Oexle, Otto Gerhard: Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens, in: Graus, Frantiäek (Hrsg.): Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, Sigmaringen 1987, S. 65-117, muster im
hierS. lOlf. 37
Schorn-Schütte, Luise: Religion und Politik bei Luther und im Luthertum, in: Walther, (Hrsg.): Religion und Politik vom 16.-20. Jahrhundert, Baden-Baden 2004, S. 87-103. 38 Schorn-Schütte, Luise: Luther und die Politik, in: Lutherjahrbuch 2005 (im Druck). 35 Ferrarius: Von dem Gemeinen nutze, Marburg 1533, AIII v. H.
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kontextbezogen zwischen Lehrautorität und Schutz verhandelbar, wird allerdings entsprechend den Zielkoordinaten der Gemeinschaft von der Deutungshoheit der Geistlichkeit bestimmt. Dies jedoch nur solange, wie der Kirchenraum beide Regimenté, geistliches und weltliches, in sich aufnehmen konnte,
den Konsens der gesamten christlichen Gemeinde herzustellen. Der Prediger Johannes Gigas schreibt 1568, aus Gottes Wort sei deutlich zu ersehen, „das drey alte Goettliche orden oder stende sind, nemlich der Ehestand, das Geistliche unnd Weltliche Regiment. Diese drey stende sind über sechssthalb tausent jar blieben wider alles aller Tyrannen und Ketzer wueten und tuernemen, und werden bleiben bis an Juengsten Tag, da man nicht mehr freyen, studiren, leren und wehren wird."40 Die Position der Stände zueinander wird durch das dem mittelalterlichen
um
Lehnrecht entnommenen Prinzips einer gegenseitigen Verpflichtung geregelt, so dass noch 1605 der sächsische Jurist Johann Georg Arnold bemerkt, dass alle guten Regimenté aus dem „geistl: weltl: unnd Haußstande" bestehen und „[...] allezeit die niedrigen Stände den höhern, mit allem wz sie haben unnd vermögen, unterthenig und zudienen geflissen, und hiergegen die höhern den niedrigen ihre krafft und wirckung mitzutheilen willig sein sollen. Dann in dieser reciproca obligatione, huldung und gegenhuldung, bestehet daz Ambt aller getrewen Obrigkeit und Untterthanen."41 Die Unterteilung der Gemeinschaft in Herrschende und Beherrschte hatte ihre institutionelle Absicherung in der bereits erwähnten gegenseitigen Fürsorgepflicht. Die Legitimation der Herrschaft erfolgte im Luthertum dabei in Analogie zum Modell des patriarchalischen Hausvaters.42 So soll die Obrigkeit sich „trewlich, wie ein Vater seine Kinder meinen, und für Wolfart und Gedeyen seiner Unterthanen Väterlich sorgen, Zucht und Ehre pflanttzen, ehrliche Handtierung, gleich, und recht handhaben, die Leute bei irer Nahrung erhalten und die Frommen schützen".43 Der Maßstab erfolgreichen Regierens bleibt zu jeder Zeit die Gottesfürchtigkeit der Obrigkeit: „ein Christliche Oberkeit, welche in warer forcht erkennt, daß sie von dem lieben Gott, (Dan. 2 zu diesem ampt beruften, lernet
Gigas, Johannes: Von Weldtlicher Oberkeit und Unterthanen, Frankfurt/Oder 1568, S. 4. Von Kemnitz, Johann Georg Arnold: Brunnquell Der Politischen Weißheit, Dresden 1605, Cap. XII. Damit wird allerdings auch deutlich, dass das Verpflichtungsmodell nicht den Charakter einer Vertragskonstruktion haben kann, da die Konstitutionsbedingung eines Vertrags, ein vorvertraglicher Zustand, durch die göttliche Ordination der Stände, gleich der des Hausvaters, aufgehoben ist. Ich danke Martin van Gelderen für diesen Hinweis und 41
Johannes Süßmann für Diskussionen nicht nur zu diesem Thema. 42 Dreitzel: Monarchiebegriffe, S. 488f.; Münch, Paul: Die .Obrigkeit im Vaterstand' Zu Definition und Kritik des ,Landesvaters' während der Frühen Neuzeit, in: Daphnis 11 S. 15-40. (1982), 3 Selneccer, Nicolaus: Speculum Ciniugale et Politicum, Ehe und Regentenspiegel, Eißlebenl600, S. 119v. -
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und ehret daß Göttliche wort, ist ein Vater des Vaterlandes, [ist] seiner underthonen nutzen und frommen befüderen."44 An eben diese Vorgabe christlichen Regierens wird die obrigkeitsstärkende Tendenz der política christiana zurückgebunden. Dies geschieht durch zwei tradierte Ideenkomplexe: das Recht der Obrigkeitskritik und das Widerstandsrecht. Das spätmittelalterliche Recht der correctio principis45 zeigt sich in den Texten des 16. Jahrhunderts als Recht der Geistlichkeit, die Obrigkeit zu tugendgemäßer, gottesfürchtiger Amtsführung anzuhalten, sie zu kritisieren und ebenso zu strafen. Dies führt im Laufe des Jahrhunderts zu dem oft geäußerten Vorwurf, dass die Geistlichkeit, „den einen fuß auf der Cantzel, den andern auff d' Cantzley habe."46 Mit Hilfe der Drei-Stände-Lehre wurde dieses Recht der Obrigkeitskritik in gewisser Hinsicht radikalisiert. Bekanntestes und nachhaltigstes Ergebnis dieser Entwicklung ist das 1550 erschienene Bekenntnis der Pfarrherrn zu Magdeburg,47 das in einem „ideengeschichtlichen Kabinettstück" reichsrechtlich legitimiertes Notwehrrecht, ständisches Widerstandsrecht, Einführung mittlerer Magistrate in die Diskussion, patriarchalische Regentenpflichten, Zwei-Regimente- und Drei-StändeLehre miteinander verbinden konnte.48 Als Zeuge dieser Entwicklung lässt sich ein Traktat anführen, das, publiziert am Beginn des 17. Jahrhunderts, die Argumentationsfiguren der vorangegangenen Jahre aufnimmt und in gewisser Weise vereinigt. Die Abhandlung mit dem Titel Ob und wie weit denen Ständen eines Keyserthumbs oder Königreichs zugelassen [...], [...] sich wider ihre Obrigkeit zu defendiren erschien zum ersten Mal 1619 unter der Verfasserschaft eines Janus Rothger. Es lassen sich noch weitere Ausgaben aus den Jahren 1620, 1632 und 1633 nachweisen, die beiden letzteren weichen leicht in der Schreibweise von der Version aus 1619 und 1620 ab. Es ist kein Druckort oder Drucker vermerkt, der Autor bleibt außer der Namensangabe Janus Rothger in der Erstveröffentlichung anonym, er nennt sich selbst nur einen „fürtrefflichen, hochberühmten Theologen deutschen Landes".49 Jedoch findet sich dieser Text ebenso in 44
Platzius, Conrad Wolfgang: Oberkeits Ampt Schenckung, Tübingen 1577, S. B v. Schreiner, Klaus: „Correctio principis". Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis spätmittelalterlicher Herrscherkritik, in: Graus (Hrsg.): Mentalitäten im Mittelalter,
45
S. 203-256.
46
Polycarp Leyser: Regentenspiegel, Dresden 1605, Vorrede BVI. Bekentnis Unterricht und vermanung, der Pfarrhern und Prediger, der Christlichen Kirzu Magdeburg, Magdeburg 1550. chen 48 Grundlegend Allen, John W.: A History of Political Thought in the Sixteenth Century, London 1960, S. 103ff.; jetzt ausführlich Thomas Kaufmann: Das Ende der Reformation: Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei" (1548-1551/1552), Tübingen 2003. 49 Gründliche Resolution der überaus schweren und hochwichtigen Frage: Ob und wie weit denen Ständen eines Keyserthumbs oder Königreichs als umittelbarer Obrigkeit, Göttlichen und Weltlichen Rechten nach zugelassen, sich und ihre Unterthanen in Religions Bedräng47
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der zwischen 1615 und 1623 erschienenen und vom Jenenser Juristen Dominicus Arumaeus herausgegeben Sammlung staatsrechtlich relevanter Texte in De jure publico unter Angabe eines Autorennamens: Johann Gerhard, „Meister und Musterdogmatiker der lutherischen Orthodoxie" (ADB).50 Gerhard unterscheidet eingangs grundlegend zwischen den absolute subditi, oder Privatpersonen, und dem inferior magistratus, den mittleren Obrigkeiten eines Königreiches oder Territoriums. Letztere erlangen einen Teil der Herrschaft, so wird weiter ausgeführt, durch die Wahlkapitulation des Herrschers und durch die Wahrnehmung der Fundamentalgesetze. Bereits auf der zweiten Seite der Abhandlung eher ungewöhnlich angesichts lutherischer Ausführlichkeit werden der Herrscher und die mittleren Magistrate durch einen gegenseitigen Eid aufeinander verpflichtet. Damit gebührt theoretisch nur den mittleren Magistraten das Recht, gegen unrechtmäßige Herrschaft vorzugehen. Manche Autoren, fährt Gerhard fort, sprechen davon, selbst den Privatpersonen eines Reiches zu gestatten „sich mit gewehrter Hand zu widersetzen". Das jedoch hätten unter anderem die Autoren Barclay und Arnisaeus eindeutig widerlegt, denn „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott, wer sich der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich damit Gottes Ordnung." Andere Autoren jedoch, so schreibt er weiter, „haben es milder und genawer spannen wollen und geben für, daß die Unterthanen, welche sind mere subditi, ihrer Obrigkeit [...] in solchem Fall widerstreben mögen, wenn die Obrigkeit ganz generieret und zu einem Tyrannen wird".51 Gerhard greift hier einen seit den Auseinandersetzungen der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts gängigen Topos der Widerstandsdiskussion auf. Zum einen die Unterscheidung der Untertanen in mittlere und untere Magistrate und zum anderen die damit verbundene, heikle Frage des Widerstandsrechts von Privatpersonen, die in der Terminologie des christlichen Hausvaters behandelt wurde.52 Während in diesem Abschnitt die Haltung Gerhards zu dieser Frage noch nicht deutlich wird er stellt lediglich zwei Positionen gegeneinander, wenn auch in einer recht spezifischen Lesart von Barclay und Arnisaeus greift er wenig später eben dieses Argumentationsmuster wieder auf und führt aus: „So nun ein Haußvatter vergönnet, ja obliget, sich mit gewehrter Hand zu beschützen, wie sollte nicht den Ständen eines Reichs vergönnet seyn, ja -
-
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Obrigkeit oder furgesetzt Haupt armata manu zu defendiren, s. 1. Titelblatt. 1633, 50 Gerhard, Johann: Ob alle und jede Unterthanen in einer jedwedem Policey irer von Gott nüssen wider ihre höchste
vorgesetzten Obrigkeit ohne unterscheidt also zum Gehorsam obligiret, in: Arumaeus, D.: De Jure Publico, Bd. 4, Jena 1623, S. 86ff 51 Gerhard: Ob und wie weit denen Ständen, S. 5. 52
Van Gelderen, Martin: ,so meerly humane'. Theories of resistance in Early Modern Europe, in: Tully, iames/Brett, Annabel (Hrsg.): Rethinking the Foundations, Cambridge (im Druck).
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sich gegen die unrechte Gewalt mit Wehr und Waffen zu verthädigen".53 Die Frage ist damit gegen ein privatrechtliches Widerstandsrecht entschieden. Erstaunlicherweise stellt sich Gerhard die Grundfrage nach der Rechtmäßigkeit von Widerstand überhaupt nicht. Widerstand ist legitim, selbst mit „Wehr und Waffen".54 Die Legitimation erfolgt wiederum durch die Verpflichtung der Stände aufeinander. Johann Gerhard kann damit in eine späte Phase der política christiana eingeordnet werden, deren Autoren mit einem ungleich erweiterten begrifflichen Instrumentarium als noch ihre Vorgänger argumentieren konnten. auch
obligen,
III. Die
christiana des 16. Jahrhunderts kann in drei Phasen eingeteilt Anstrengungen der ersten beiden Etappen zielten auf eine ReSakralisierung der Obrigkeit, eine unauflösliche Verzahnung von Religiösem und Politischem, die in der dritten Phase relativiert wurde. Bei den christlichen Autoren war es naturgemäß vor allem die Konfessionsfrage, die sie aktiv in die Debatte eingreifen ließ. Als Argumentationsfiguren diente ihnen eine revitalisierte Drei-Stände-Lehre im Zusammenhang mit Luthers Unterscheidung geistlichen und weltlichen Regiments. Allerdings hat eben diese Trennung der Regimenté die zweite und dritte Generation der lutherischen Theologen vor einige Probleme gestellt, waren doch vordergründig weltliche Belange von geistlichen getrennt und damit unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen zugeordnet. Die Trennungslinie von geistlichem und weltlichem Regiment geht in dieser ersten Phase lutherischer Ordnungsvorstellungen mitten durch den Stand der höchsten Obrigkeit. Da die Person des Herrschers durch die göttliche Einsetzung das Amt oder wie einige Theologen sagten, den Beruf der „Obrigkeit" innehatte, konnte nur über die grundsätzlich sündige Person des Herrschers eine Einflussnahme auf das Amt versucht werden. Das Amt der Obrigkeit entzog sich aber prinzipiell der Beeinflussung durch die Geistlichkeit. Die umfangreichen Tugendkataloge der zu neuer Blüte aufsteigenden Fürstenspiegel mögen hier nur als Beleg angeführt sein. Jedoch ergibt sich in der Diskussion der Jahre nach dem Augsburger Religionsfrieden eine Akzentverschiebung. Zunehmend auffällig ist in dieser zweiten Phase die Betonung der Ordination des Amtes Obrigkeit, die Person
política
werden: Die
53
Gerhard: Ob und wie weit denen Ständen, S. 17. Ein Vermittlungspunkt ist sicher der populäre, in mehreren Auflagen erschiene Fürstenspiegel des Dresdner Hofpredigers Philipp Wagner: Der Hundert und erste Psalm: Vom Stande und Ampt der Weltlichen Obrigkeit, Dresden 1570, besonders Svi v ff.; ebenso Johann Fleck: Idea Christianae Reipublicae, Frankfurt 1602. 54
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wird austauschbar, oder wie Thomas Rorer gegen Ende seines Fürstenspiegels bereits 1566 formulierte: „In solchen und in anderen Fällen (wenn die Obrigkeit tyrannisch handelt), schreitet die weltliche Oberkeit aus irem ampt, [...] die Unterthanen sind ihr zu gehorsamen nicht schuldig".55 So kann Nikolaus Seinecker in seiner Auslegung des 101. Psalms schließlich eine graduelle Überfuhrung obrigkeitlicher Aufgaben und Pflichten in ein christlich definiertes Reich vornehmen.56 Die Obrigkeit wird nicht mehr nur an subjektiven Tugenden, sondern zudem an der objektiven Tugendhaftigkeit ihres Amtes entsprechend dem christlichen Aufgaben- und Pflichtkatalog gemessen. Das weltliche Regiment wird Teil des geistlichen und ist einzig durch dieses und in diesem legitimierbar. Andreas Osiander formuliert in seiner Abhandlung Von weltlicher Obrigkeit: „Denn dieweil (er) [Gott] in allen seinen wercken gerecht ist und an der Ungerechtigkeit kein gefallen hat, kann ich nicht gedencken, das es einer gerechtigkeit wolt gebüren, [einem tirannen] so viel gewalts zu geben [...]." Osiander definiert Obrigkeit in einem funktionalen Sinnzusammenhang, „des regenten Person [...] ist aber keins wegs die Obrigkeit selbs, sondern er hat nur die Obrigkeit, die er von Gott empfangen hat."57 Die Gerechtigkeit der Werke wiederum, und damit ebenso die Ungerechtigkeit, ist nach Ansicht des Juristen Justin Gobier für den Menschen erkennbar; diese Fähigkeit "kompt aus dem licht und erkantniß der natur, so Gott dem menschen von anfang eingebildet unnd eingepflantzt hat."58 Die Vernunft ist nicht in der Lage, gute Gesetze zu schaffen, dies geschieht allein durch Gottes Wirkung und Gnade. Vernunft kann gute Gesetze lediglich erkennen. Diese haben für Untertanen wie für Obrigkeiten
verpflichtenden Charakter.59
Eine dritte Phase der lutherischen Ordnungsvorstellung stattet die Obrigkeit erneut mit umfangreicheren Befugnissen innerhalb eines weltlichen Bereiches aus, der durch die Trennung des Amtes Obrigkeit in innerkirchliche und außerkirchliche Angelegenheiten konstituiert wird. Als Beispiel mögen die Ratspredigten des Erfurters Silberschlagk60 und des Augsburger Predigers
Rorer: Fürsten Spiegel, Jii r. Seinecker, Nicolaus: Der gantze Psalter Davids ausgelegt, Leipzig 1571. Dazu Sommer, Wolfgang: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, Göttingen 1988, S. 74-104. 57 Osiander, Andreas: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr gehorsam schuldig sey, o.O. 1551,Biiir. 58 Gobier, Justin: Der Rechten Spiegel, Auß den beschribenen Geystlichen, Weltlichen, und andern gebreuchlichen Rechten, Frankfurt 1550, S. XIII. Natürlichem, 59 Wagner. Der Hundert und erste Psalm, Bvi v, Aviü v, Dii v. 60 Silberschlagk, Georgius: Rathspredigt aus l.Timoth.2. Von den Stand und Ampt beydes einer Christlichen, löblichen Obrigkeit auch Gottfürchtiger frommer Unterthanen, Jena 1629. 56
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Albrecht61 dienen,
die beide entgegen den lutherischen Autoren der zweiten Phase ausdrücklich die göttliche Ordination der Person Obrigkeit anfuhren. Deutlich wird diese Argumentation ebenso im erwähnten Traktat Johann Gerhards, das in dieser Hinsicht sicher einen Höhepunkt darstellt. Auch der inferior magistratus ist Obrigkeit und nach Rom. 13 von Gott eingesetzt; als solch ordinierter Stand wird aus ihm der summus magistratus konstituiert. Das allerdings geschieht durch Wahl: „ein solch Königreich, welches auff gewisse Pacta und Privilegia gewiedmet, darauff auch reciproce Eyd geleistet worden, und solcher Gestalt die Macht und Gewalt des erwehlten Oberhauptes
[entstanden]".62
Noch immer findet sich hier eine theokratische Vorstellung, die das Amt der Obrigkeit in den Schoß der Konfessionsgemeinde holt, ist doch vorrangige Aufgabe der Obrigkeit die Förderung und Erhaltung der wahren Religion. Gleichzeitig erfolgt jedoch eine institutionelle Absicherung der Gewalten durch die Wahlmöglichkeit des Oberhauptes, der den Ständen durch Eid und Kapitulation bestimmte Rechte zugesteht. „Das Recht des Königs, der über euch herrschen soll",63 findet seine Beschränkung in der Entscheidungsbefugnis der mittleren Magistrate z.B. zum Widerstandsfall. Die Legitimation für dieses Vorgehen erfolgt durch das innerkirchliche Drei-Stände-Modell der Lutheraner, das in die Welt wirken soll und wirkt. Bei Gerhard erfolgt sie zugleich durch den Rückgriff auf die Unterscheidung von personaler und realer Majestät, die in der zeitgenössischen Auseinandersetzung präsent ist, seit sie von Herrmann Kirchner am Ende des 16. Jahrhunderts als Antwort auf Bodin formuliert wurde ein entscheidender Vermittlungspunkt zwischen Fürsten- und Volkssouveränität.64 Die erste Phase der política christiana wird von Theologen und Juristen bestimmt, die sich als erste zum Luthertum bekannt haben und somit als „erste Generation"65 von Lutheranern bezeichnet werden können. Die in den untersuchten Schriften nachweisbare inhaltliche Neuakzentuierung, der Übergang in eine zweite Phase also, kann zeitlich etwa mit den Auseinandersetzungen um das Interim in der Mitte des 16. Jahrhunderts angesetzt werden.66 Der Übergang in die dritte Phase, der mit einer Ausweitung obrigkeit-
61
Albrecht, Bernhard, Paxillus Heliakim, Das ist: Regenten Nagel. Vom Ampt der Christlichen Obrigkeit und der Unterthanen Pflicht, Augsburg 1622. Gerhard: Ob und wie weit denen Ständen, S. 7. 63 Weber-Möckl, Annette: „Das Recht des Königs, der über euch herrschen soll". Studien zu 1 Sam 8, 1 Iff. in der Literatur der frühen Neuzeit, Berlin 1986. 64 Hoke, Rudolf: Die Reichsstaatslehre des Johannes Limnaeus, Aalen 1968, S. 94ff. 65 Schulz, Andreas/Grebner, Gundula (Hrsg.): Generationswechsel und historischer Wandel, München 2003; aus soziologischer Sicht grundlegend Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928), S. 157-185, S. 309-330. 66 Vgl. Schorn-Schütte, Luise (Hrsg.): Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 203), Gütersloh 2005. 62
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licher Machtbefugnisse und der erneuten Gleichsetzung von Person und Amt einhergeht, steht in engem Zusammenhang mit dem Aufblühen der akademischen Disziplin der Politik in der Folge von Bodin und Lipsius,67 dem die gesamte Geisteslandschaft ergreifenden Helmstedter Streit,68 der Neurezeption des Aristoteles,69 der am Horizont aufscheinenden Naturrechtsdebatte70 und mit der durch Gerhard autoritativ ins Luthertum implementierten Trennung in einen kirchlichen interna und externa Bereich.71 Der Gesamtdeutung der Gemeinschaft in einem Reich folgt in der dritten Phase, mit Einsatz des 17. Jahrhunderts, eine erneute deutliche Trennung des weltlichen und geistlichen Bereiches, die durch Rekurs auf Luther und Aristoteles legitimiert werden kann. Die mit dem Helmstedter Streit wiedererweckte Philosophie, die der Vernunft die Erkennbarkeit der weltlichen Sphäre unterstellt, verleiht die notwendige ideengeschichtliche Legitimation für diesen Phasensprung und verbindet gleichsam die Abschottung des Hoheitsgebietes genuin geistlicher Deutung mit der Einforderung christlicher Tugenden der weltlichen Herrschaft im geistlichen Bereich. Dieser allerdings will noch immer in die Welt wirken. Mit dieser Trennung endet, so ist meine These, die Wirkmächtigkeit der política christiana als zeitgenössisches Deutungsmuster der gesamten Ge-
meinschaft.72 67
Weber, Wolfgang: Prudentia gubematoria, Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen
Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992. politischen 8
Schlee, Ernst: Der Streit des Daniel Hoffmann über das Verhältnis der Philosophie zur Theologie, Marburg 1862; Mager, Inge: Lutherische Theologie und aristotelische Philosophie an der Universität Helmstedt im 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte (JGNKG) 73 (1975), S. 83-98; Dreitzel, Horst: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Política" des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636), Wiesbaden 1970, S. 74ff; jetzt grundlegend Markus Friedrich: Die Grenzen der Vernunft: Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600, Göttingen 2004. 69 Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus; Sparn, Walter: Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1976; Petersen, Peter: Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, S. 195f. 70 Scattola, Merio: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, Tübingen 1999; Härtung, Gerald:
Die Naturrechtsdebatte, München 1999. 71 Erstmals durch David Paraeus, vgl. Hecke!, Johannes: Cura religionis, lus in sacra, lus circa sacra, in: FS für Ulrich Stutz zum 70. Geburtstag, dargebracht von seinen Schülern, Freunden und Verehrern, Stuttgart 1938, 2. Aufl. Amsterdam 1969, S. 224-298, S. 277f.; auch Martin Hecke!: Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, München 1968, S. 136ff; Die Verhandlung dieser beider Bereiche, externa und interna, ist konstitutiv für die Auseinandersetzungen zwischen Geistlichkeit und Obrigkeit im Verlauf des 17. Jahrhunderts, siehe Sommer, Wolfgang: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, S. 255ff; Schorn-Schütte, Luise: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit, Gütersloh 1996, S. 434ff. 72 Diese These hoffe ich ausführlicher in meiner Dissertationsschrift zu belegen: Weiß, Matthias: Die política christiana. Grundzüge einer christlichen Staatslehre im Alten Reich, Frankfurt/M. 2006.
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IV. Das 16. Jahrhundert ist somit Zeuge der Genese der política christiana mit all ihren Vorbedingungen. Jedoch haben die innerhalb der política christiana ungelöste Spannung zwischen göttlicher Ordination und menschlicher Gestaltungskraft, die „Sprachlosigkeit"73 angesichts der Herausforderungen durch die Souveränitätslehre Bodins und die Vertragskonstruktionen der calvinistischen Monarchomachen und die nicht auf den zwischenstaatlichen Bereich anwendbare Lehre ihrer Autoren wesentlich zu ihrem Bedeutungsverlust im Hinblick auf die Ideengeschichte beigetragen. Mit dem Beginn des 17. Jahrhundert steht den Zeitgenossen ein sehr viel umfangreicheres Instrumentarium der Sinnstiftung im gemeinschaftlichen Bereich zur Verfügung, innerhalb dessen die politico christiana gewissermaßen als „christlichnormativer Überbau" von Regulierungsverfahren im weltlichen Bereich angewandt werden kann.74 So kann bereits am Anfang des 18. Jahrhunderts der Rostocker Philosoph und Theologe Carl Arnd mit deutlichem Blick auf Seckendorff75 in seiner annotierten Bibliographie die Autoren der política christiana beschreiben als solche, die die Politik nicht aus der Staatsräsonlehre, sondern aus christlichen Prinzipien herleiten, wohl aber beide Konzepte miteinander zu verbinden wissen.76 Damit ist nicht gemeint, dass „politische Theologen" oder „theologisierte Politik" aufhören zu existieren,77 jedoch werden deren Ideen und Werke unter den veränderten Bedingungen ab der Wende zum 17. Jahrhundert formuliert und unterliegen damit den Konstitutionsbedingungen eines ebenso veränderten ideengeschichtlichen Kontextes. Dies gilt für so unterschiedliche Konzepte wie das Seckendorffs, der Staatsräsondebatte mit christlicher Politik vereinen kann und ebenso einen „gescheiterten Versuch"78 zur Harmonisierung 73
Quaritsch, Helmut: Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986, S. 66ff, auch wenn Quaritsch verkennt, dass es sich bei der Schrift seines Hauptzeugen Johann Sommer: Von dem Recht und der Gewalt der Hohen Obrigkeit über die Unterthanen und von dem Ampt der Unterthanen gegen die Obrigkeit, Magdeburg 1615 um die erste deutsche Übersetzung eben jenen Traktates von Theodor Beza handelt, welches er an selber Stelle ausführlich behandelt. Ebenso unerkannt durch Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 219; einzig Winfried Schulze: Eine deutsche Übersetzung von Bezas „De iure magistratuum in aus dem Jahre 1615, in: ARG 70 (1979), S. 302-307. subditos" 74 Vgl. Nitschke, Peter: Zwischen Innovation und Tradition: der politische Aristotelismus in deutschen politischen Philosophie der Prämoderne, in: ZfP 42 (1995), S. 27-40. der 75 Christen-Stat und ders.: Teutscher Fürsten Stat, Hanau 1656. Seckendorff: 76 Arnd, Carl: Bibliotheca politico-heraldica, hoc est Recensus Scriptorum ad Politicam atque heraldicam, Rostock Leipzig 1705, S. 103; ebenso Burkhard Gotthelf Struve: Bibliotheca Philosophicae Struvianae, Göttingen 1740, S. 172. 77 Schorn-Schütte: Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Vgl. 78 Grünert, Frank: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 2000, S. 29ff.
„...weltliche hendel werden geistlich."
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Naturrecht und lutherischer Politiklehre vorlegt. Es gilt ebenso für Masius und Becmann, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unverhohlen absolutistisch argumentieren.80 Vermittlungspunkte dieser Entwicklung in Bezug auf die beiden konkurrierenden Philosophien Ramismus und Aristotelismus und ihrer jeweiligen Methoden sind sicher die Werke des Johannes Althusius und Henning Arnisaeus. Diese Deutung der política christiana ist anders akzentuiert als zum Beispiel die Wolfgang Sommers, der die christliche Staatslehre erst mit Beginn des 17. Jahrhunderts einsetzen lassen möchte und die „wechselseitige politische Funktion der Frömmigkeit im Sinne Johann Arndts als eigentliche Konzeption einer política christiana" bezeichnet.81 Abzugrenzen aber ist dieses Konzept der „Política aus der Bibel"82 ebenso von Vorstellungen einer säkularisierten Form des Gemeinwesens. Die política christiana kennt die aristotelische Unterscheidung von civitas und respublica, in der die respublica die Form der civitas darstellt und auf deren Konsens entsteht83 nicht, in diesem Sinne gibt es keinen Bürger. Aristotelisch gewendet sind respublica und civitas für die Autoren der política christiana identisch.84 Weltliches und geistliches Regiment sind gleichermaßen Teil der christlichen Ordnung. Die Form des Gemeinwesens ist nicht wählbar, die limitierte Monarchie ist die ordinierte und aus der Bibel einzig legitimierbare Ordnung der Gemeinschaft. Der Konsens der Stände erwählt nur das Oberhaupt, nicht die Form der Regierung. Ebenfalls angesprochen ist damit die von
79
Von Seckendorff, Veit Ludwig: Entwurff oder Versuch, von dem allgemeinen oder natürlichen Recht, nach Anleitung Hugo Grotii, und anderer dergleichen Autoren, in: ders.: Teutsche Reden, Leipzig 1986; vgl. auch den gewaltigen Versuch Jacob Martinis: Vernunfftspiegel, Wittenberg 1618. 80 Zu dieser wichtigen Auseinandersetzung vgl. Grunert, Frank: Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus, in: Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Christian Thomasius (16551728), Tübingen 1997, S. 51-77; ders.: „Händel mit Hector Gottfried Masio". Zur Pragmatik des Streits in den Kontroversen mit dem Kopenhagener Hofprediger, in: Goldenbaum, Ursula (Hrsg.): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklä1687-1796, Berlin 2004, S. 121-174. rung 81 Sommer, Wolfgang: Obrigkeitskritik und die politische Funktion der Frömmigkeit im deutschen Luthertum des konfessionellen Zeitalters, in: von Friedeburg, Robert (Hrsg.): Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit, Berlin 2001, S. 245-263, S. 258. 82 Maier. Staats- und Verwaltungslehre, S. 133 in Bezug auf Theodor Reinkingk: Biblische Policey, Frankfurt/M. 1653. 83 Dreitzel, Horst: Grundrechtskonzeptionen in der protestantischen Rechts- und Staatslehre im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Birtsch, Günter (Hrsg.): Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, S. 180-214, S. 200f. 84 So bereits Luther, vgl. Grünberger, Hans: Wege zum Nächsten. Luthers Vorstellungen vom Gemeinen Nutzen, in: Münkler/Bluhm (Hrsg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn, S. 147— 168, hier S. 159; zur synonymen Verwendung der Begriffe vor Arnisaeus kurz Martin van Gelderen: Der moderne Staat und seine Alternativen: Althusius, Arnisaeus und Grotius, in: Bonfatti, Emilio u.a. (Hrsg.): Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Polica methodice digesta des Johannes Althusius, Wiesbaden 2002, S. 113-132, S. 121.
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Matthias Weiß
Souveränitätsfrage, die für die política christiana zugunsten der christlichen Ordnung des Gemeinwesens beantwortet werden muss. Nicht Kaiser, Stände oder Volk, sondern die Ordnung des Gemeinwesens an sich ist souverän ihre unberührte Stabilität Garant andauernden, friedlichen gottesfürchtigen Zusammenlebens ist.85 Die política christiana darf somit als eine jener Diskontinuitäten unseres intellektuellen Erbes gelten, deren Aufspüren sich die neue Geistesgeschichte
insofern, als
nur
und
zur
85
Aufgabe gemacht hat.86
Vgl. Selinus, Reginus (= Basilius Monner): Rechtliches Bedencken von der Defensión Gegenwehr, s. 1. 1632 (Org. 1547), der dem Kaiser im Reich keine Vormachtsatellund zubilligt und die Legitimation des Notwehrrechts auf das Gemeinwesen an sich bezieht, vgl. von Friedeburg: Widerstandsrecht, Berlin 1999, S. 68ff. ^Skinner: Liberty, S. 111.
und
Wie lässt sich Gemeinsinn institutionalisieren? Politisch-theoretische Positionen des Common Sense Diskurses von John Locke zu Edmund Burke Theo Stammen/Susanne Schuster Das britische Denken steht im 18. Jahrhundert im Zeichen der Idee des comsense, sei es in der Ästhetik, der Erkenntnistheorie oder der politischen Philosophie.1 Angesichts dieser auffälligen Dominanz stellt sich die Frage, wie sich dieses Phänomen zur zeitgleichen Entwicklung des Parlamentarismus verhält. Am Schnittpunkt von politischer Ideengeschichte und historischer Parlamentarismusforschung erbringt die Rekonstruktion parlamentarischer Quellen und die Analyse bedeutender zeitgenössischer Theoretiker Einblicke in die Interdependenz von politischer Institutionengenese und theoretischer Reflexion. Weil es sich dabei um eine typische „Selbstaufstufung" des politischen Diskurses handelt, bei der Theorie Praxis reflektierend analysiert, legitimiert und kritisiert, sollen in den folgenden Ausführungen vor allem die relevanten theoretischen Positionen entwickelt werden. Abschließend werden einige Spuren des Diskurses in der politischen Praxis rekonstruiert. Sie bieten in der Regel einen beschreibenden Einblick in die realen gesellschaftlichen Prozesse im Kontext der common sense Problematik und zugleich über den legitimatorisch-reflexiven Rückbezug auf den Topos des gesunden Menschenverstandes einen praktischen Beitrag zu dessen systematische Klärung. Die Ausgangsüberlegung stellt die These dar, dass die vielgestaltige Idee eines common sense sich im England des 18. Jahrhunderts ausfaltet und zugleich prägende Wirkung auf den sich zunehmend stabilisierenden britischen Parlamentarismus hat. Es handelt sich dabei um ein notwendig unscharfes Hintergrundwissen, das immer wieder anders aktualisiert werden muss, Entwicklungen unterliegt und sich doch zugleich in Akten diskursiver Selbstversicherung als eine Art von „überlappendem Konsens" zwischen politischer Philosophie, Öffentlichkeit und Parlament (als werdender Institution) herausbildet.2 Der vorliegende Artikel versuchte nun dieses Phänomen mittels der Untersuchung bedeutender Theoretiker der Zeit zu erfassen und deren direkten oder indirekten Einfluss auf die Institutionalisierung parlamentarischer Ordnung zu verfolgen. Dabei gilt es die Ausgangsthese zu überprüfen, dass mon
'
„[...] the Victorians spoke of it (1714-1783) as the age of reason or the age of common [...]" (Horn: English Historical Documents, S. 3). 2 Vgl. für die Quelle der hier stark modifizierten aber von der Intuition her nahen Übernahme des Begriffs vom „überlappenden Konsens", Rawls, John: Politischer Liberalismus (1993), Frankfurt/M. 1998, S. 219ff. sense
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Theo Stammen/Susanne Schuster
der englische Parlamentarismus als Projekt verstanden werden kann, der die Idee des common sense in prozedurale und institutionelle Strukturen übersetzt bzw. als Leitidee in Anspruch nimmt. Die Untersuchung, die den Zeitraum von der Glorious Revolution (1688) bis zur Wahlrechtsreform von 1832 umspannt, zeigt einen common-sense-Begrifî, der Veränderungen unterworfen ist. Gleichwohl verkörpert er im alltäglichen, theoretischen, ästhetischen und parlamentarischen Diskurs eine Verständigungsbasis, die auf Grund ihrer Bedeutung und Signalwirkung immer wieder eingesetzt wird. Es existiert ein Feld des politischen Diskurses, das von dem Bereich der Theorie, der Alltagswelt und von der gelebten Politik gebildet und inspiriert wird. Im Folgenden soll dieser Zusammenhang transparent werden.
Ideen-Diskurse
einschlägigen Theorien formulieren in je eigener Form einen Begriff des sense, kritisieren von ihm aus den gesellschaftlichen Alltag und die praktische Politik, bzw. fordern in seinem Namen bestimmte institutionelle Arrangements. Daher handelt es sich bei den vorgetragenen Argumentationen Die
common
fast nie nur um ein reines Denkkonstrukt, sondern meist um Gedanken, die im common sense auf etwas bereits fraglos Vorhandenes zugreifen, es dabei in ihrem Sinne näher bestimmen und für bestimmte politische Optionen nutzbar machen, indem sie es neu akzentuieren. Das sich wandelnde Konzept des common sense war auch deshalb so erfolgreich, weil es allgemein akzeptiert, verbreitet und zugleich auch subjektiv konnotierbar war. Einige der behandelten Autoren waren selbst aktiv politisch tätig oder versuchten mehr oder weniger bewusst mit ihren Texten Einfluss auf die Öffentlichkeit zu nehmen. Dieses Phänomen ist ein zusätzliches Indiz dafür, dass Autoren wie Locke, Shaftesbury, Bolingbroke, Hume und Burke ihren common sense Begriff auf die politische Praxis und ihre institutionelle Gestalt abgehoben haben. Es geht in den hier dargestellten Ansätzen nie um blosse Theorie des common sense, sondern um Überlegungen, die von den Verfassern aus einer Tradition im Lichte konkreter politischer Fragen herausgefiltert wurden.
Bürgerlicher common sense: Law of Opinion or Reputation Locke formuliert und verteidigt in seinen Schriften den, wie Walter Euchner es nennt, „bürgerlichen common sense" (Euchner: John Locke, S. 10). Er ist die Stimme eines sich emanzipierenden Bürgertums, das seine Freiheits- und Eigentumsrechte gegen die Staatsgewalt verteidigt und politische Mitwirkung verlangt. Das Einzelwesen Mensch soll, so die aufklärerische Vorstellung
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Locke, die eingefahrenen Vorstellungen verlassen und „[...] judgest for self, thy [...]" (Locke: An Essay concerning Human Understanding, S. 7). Doch das Problem, das Locke auch für seine eigenen Schriften dabei deutlich sieht, ist die Beharrlichkeit der Tradition und der Denkgewohnheiten. „New Opinions are always suspected, and usually opposed, without any other Reason, but because they are not already common." (Locke: An Essay, S. 4). von
Locke unterscheidet verschiedene Gesetze, die in einer politischen Ordnung die Handlungen der Menschen bestimmen, wenn sie ein gewisses Maß an Rechtschaffenheit im Leben erreichen wollen: „1. The Divine Law. 2. The Civil Law. 3. The Law of Opinion or Reputation, if I so may call it. By the Relation they bear to the first of these, Men judge whether their Actions are Sins, or Duties; by the second, whether they be criminal, or Innocent; and by the third, whether they be Vertues or Vices" (Locke: An Essay, S. 353). Mit dem dritten Gesetz dem „Law of Opinion or Reputation", das er später auch als „Law of Fashion, or private Censure"3 bezeichnet, geht er von einer ursprünglichen gesellschaftlichen Verbindung der Bürger aus, die weit grundlegender ist als etwa die formale politische Partizipation durch Wahlen. Es existiert eine unausgesprochene gemeinsame Basis, die politisch wirkt, ohne sich laut politisch zu artikulieren. Damit bündeln sich viele private Einzelinteressen zu einem public interest" und bilden einen „common point of view", der durchaus politisch wirkt obwohl er eine symbolische Form darstellt. Die Handlungen der Menschen unterliegen einem dreifachen Korrektiv, wenn sie die Rechtschaffenheit oder Tugend erstreben. Gott, der die Sünder bestraft und die guten Christen mit einem ewigen Leben belohnt, der strafende Staat und die von der Gemeinschaft geteilten Wertmaßstäbe, also das was üblich und anständig ist (common sense), bilden einen Handlungsrahmen für das Einzelwesen. Damit verlässt die menschliche Tugend in einer ganz bestimmten Form den privaten Raum und gewinnt öffentliche Bedeutung. Es wird zur Angelegenheit der Gemeinschaft und des Gemeinsinnes, was „Vertues or Vices" sind. Die moralische Haltung des Einzelnen, die in der Anonymität entstand, gewinnt im Zusammenspiel mit eben diesen Haltungen der Mitmenschen gesellschaftliches Gewicht.4 Man kann durchaus mit Jürgen Habermas argumentieren, dass die „Law of Opinion f...] keineswegs als Gesetz der öffentlichen Meinung verstanden (wird); [...] sie gewinnt vielmehr 3
Dort ist die Rede von einem „Law of God", einem „Law of politic Societies" und eben dem „Law of Fashion, or private Censure" (vgl. Locke: An Essay, Book II, Chap. XXVIII, 8 13, S. 357). Die Gesellschaft löst den Einzelnen in seiner Trägerschaft der geheimen Moral ab. „Die Bürger ordnen sich nicht mehr nur der Staatsgewalt unter, sondern sie bilden zusammen eine society, die ihre eigenen moralischen Gesetze entwickelt, die neben die Gesetze des Staates treten. Damit rückt die bürgerliche Moral ihrem Wesen nach zwar stillschweigend und geheim in den Raum der Öffentlichkeit, [...]." Koselleck: Kritik und Krise, S.43. -
-
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Theo Stammen/Susanne Schuster
ihre Verbindlichkeit durch ein stillschweigendes Einverständnis."5 (HaberStrukturwandel, S. 114). Dieses bildet den Rahmen für die alltäglichen Überlegungen und Handlungen. Es existiert also schon bei Locke der Verweis auf eine unausgesprochene Übereinkunft, die aber den genaueren Inhalt oder Gehalt des common sense eigentümlich unscharf fasst. Das was Vertue oder Vice ist „[...] by a secret and tacit consent establishes it self in the several Societies, Tribes, and Clubs of Men in the World: whereby several actions find Credit or Disgrace amongst them, according to the Judgement, Maxims, or Fashions ofthat place." (Locke: An Essay, S. 353) Dadurch entsteht ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen dem beanspruchten unausgesprochenen Übereinkommen in verschiedenen Gesellschaften und dem gleichzeitigen Appell an das Individuum, selbst frei und unvoreingenommen zu urteilen. Die meisten Menschen leben denn auch mit geborgten Meinungen und Anschauungen (borrowed principles), die sie in blindem Vertrauen (take them upon trust) übernommen haben. Die Auflösung dieses Widerspruches zwischen einem unausgesprochenen und gemeinschaftstragenden Konsens einerseits und einer notwendigen Selbstversicherung des Individuums liegt bei Locke offensichtlich in einer durchgängigen Prozeduralisierung des common sense. Wie auf der Ebene der politischen Institutionen so gilt auch auf der erkenntnistheoretischen Ebene, dass jedes Vertrauen, jeder „trust" und jede Gefolgschaft in politischen Herrschaftsbeziehungen im Bereich der moralischen Anschauungen und im Hinblick auf sonstige Formen der Erkenntnis prinzipiell revidierbar sein muss. Das Vertrauen in die allgemeine Vernünftigkeit der akzeptierten Moralvorstellungen6 ist wie das Vertrauen in Politische Führung einer Überprüfung im Lichte der natürlichen Vernunft und damit der Erfahrung unterworfen. Der Mensch steht zwischen den Tieren und den körperlosen Geistern. Er ist ausgestattet mit „the common light of reason" und hat damit mehr Wissen als die niedrigeren Kreaturen, aber weniger als es vielleicht reinen Geistwesen zugänglich ist. Für die Orientierung in seiner Lebenswelt aber hat er „Light enough". Für Lockes Fassung der Common-Sense-Vorstellung bedeutet dies, dass er letztlich in einer (bei allen riesigen Unterschieden zwischen den Menschen) gleichen natürlichen Sinnes- und Verstandesausstattung der Individuen wurzelt. Alle Menschen haben die Möglichkeit zur Beobachtung und mas:
5
In seiner Schrift: Can the Law of Nature be known from the General Consent of Men?
No, führt Locke die Existenz zweier Konsense aus. Einen „[...] positive consent [...] that arises from contract" (S. 161) und einen „[...] general consent in matters of morals. For if what is rightful and lawful were to be determined by men's way of living, moral rectitude and integrity [...]." (S. 165) 6 So geht Locke davon aus, dass jede praktische Regel begründet werden muss. Die Prozeduralität des „begründeten" common sense ist selbst ein Argument des gesunden Menschenverstandes. Wer sich der Begründung entzieht „[...] would be thought void of common sense, [...]." (Locke: An Essay, Book I, Chap. Ill, § 4, S. 68).
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Experiment; sie haben die Fähigkeit „[...] to examine things as realy [...]." (Locke: An Essay, S. 162). Common sense basiert damit auf they gemeinsamer Welterfahrung, wird von ihr getragen, hilft sie interpretieren und ist doch zugleich immer aufklärbar. zum
are
Locke formuliert mehrfach die Einsicht, dass der Einzelne in bestimmte Einstellungen hineinsozialisiert wird „[...] by assistance from the outward Senses and the help of some previous Cultivation [...]." (Locke: An Essay, Fußnote S. 354ff). Das erzeugt ein gesellschaftliches Umfeld, das durch gängige Vorstellungen und Ideale, den „Familiars" wie Locke sie nennt (vgl. Locke: An Essay, S. 357), gekennzeichnet ist. Diese Haltungen unterscheiden sich laut Locke entsprechend der verschiedenen Länder, Erziehung und Temperamente (Locke: An Essay, S. 81).7 Er sieht deutlich, dass ein bestimmtes zivilisatorisches Niveau erreicht sein muss, damit die angenommenen Sitten und kursierenden Überzeugungen möglichst vernünftig und zugleich immer weiter aufklärbar sind. Betrachtet man Lockes Schriften zur Erziehung unter dem Aspekt des common sense, dann wird deutlich, dass die planmäßige erzieherische Aktivität mehrere Funktionen gleichzeitig zu erfüllen hat. Sie bereitet in jedem Fall die erzogene Person auf politische Aufgaben vor. Das tut sie aber, indem sie sie zu einem erfahrungsoffenen Wesen heranzubilden versucht, das zugleich in der Lage ist, die prozedurale Dimension einer gemeinsamen und damit zugleich kooperativen und konfliktreichen Suche nach der Lösung von Problemen personal zu gestalten und auszuhalten. Im Alltag und im Parlament, das ja auch als der „best Gentlemans Club" bezeichnet wurde, braucht der common sense Anwälte und seine prozedurale Gestalt eine personale Veran-
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kerung.
In den Two Treatises hält Locke die Thesen seines Gegners Robert Filmer gegen die Position eines aufgeklärten common sense. Er kritisiert sie von einer allgemeinen praktischen Vernunft aus, die wiederum deutlich darauf abhebt, dass das, was allgemeine Gewohnheit ist, nicht notwendig auch einer vernünftigen Überprüfung standhält. Polemisch beschreibt er sein Unterfangen als den Versuch, die Äußerungen Filmers „[...] intelligible, and consistent with himself or common sense" zu machen. Filmer hatte in seiner wichtigsten Schrift der Patriarcha (a Defence of the natural Power of Kings against the unnatural Liberty of the People) die Leitideologie der Royalisten und Tories zusammengefasst. Die von ihm herausgestellten gesellschaftsbildenden und -formenden Ideen von der Vererbung des monarchischen Amtes, einer unveränderbaren Macht des Königs und seiner fast schrankenlosen Prärogative war mit den Überlegungen des aufgeklärten Bürgertums inkom7
Ein wichtiges Argument, das Shaftesbury benutzt, um die Schwierigkeit eines allgemeingültigen common sense nachzuweisen.
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patibel. Lockes Strategie einer doppelten Bezugnahme auf die eingespielten Regeln einer Gemeinschaft und ihrer gleichzeitigen Überprüfung im Lichte der natürlichen Vernunft zeigt sich auch hier, wenn er sich grundlegend mit
der Frage des Erbrechtes auseinandersetzt. Er erweitert Filmers Überlegungen zur Rechtmässigkeit der Erbmonarchie und stellt die Frage nach der allgemeinen Berechtigung von Erbschaften: „[...] why does it not return again to the common stock of Mankind? 'Twill perhaps be answered, that common consent hath disposed of it, to the Children. Common Practice, we see indeed does so dispose of it but we cannot say, that it is the common consent of Mankind; for that hath never been asked, nor actually given: and if common tacit Consent hath establish'd it, it would make but a positive and not Natural Right of Children to Inherit the Goods of their Parents: But where the Practice is Universal, 'tis reasonable to think the Cause is Natural." (Locke: Two Treatises, S. 206). Allerdings gibt es „The Law of right Reason, that a Child is born a Subject of no Country or Government" (Locke: Two Treatises, S. 347). Das zeigt die Argumentationsstruktur, die Locke im Essay und in den zwei Abhandlungen immer wieder aufgreift: Die bestätigte Praxis der Gesellschaft bildet einen akzeptierten Handlungsrahmen. Ein stillschweigender Konsens ist zwar ein Indiz für die Vernünftigkeit einer Institution, er muss aber zu einem expliziten Konsens werden, wenn die jeweilige Regelung problematisch geworden ist. Dann bildet sich nach einer Überprüfung durch die natürliche Vernunft Zustimmung auf einem höheren Niveau her-
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aus.
Die wesentlichen Argumente von Lockes Theorie der repräsentativen Regierung folgen ebenfalls diesem Muster. Locke kreierte bekanntlich ein neues gesellschaftliches Paradigma. Leitbild ist ihm dabei der arbeitende und sich nach oben kämpfende Bürger, der durch seine Arbeit und sein Engagement Besitz schaffen kann. „Thus Labour, [...] gave a Right of Property." (Locke: Two Treatises, S. 299). An den Besitz ist für Locke die Möglichkeit politischer Mitbestimmung für volljährige Männer gekoppelt. Nur um seinen Besitz und sich selbst zu schützen wird von den Menschen ein Staat gebildet.8 Und weil jeder Mensch von Natur aus frei ist, muss er dazu seine Zustimmung geben. „[...] a sufficient Declaration of a Mans Consent, to make him subject to the Laws of any Government. [...] And to this I say, that every man, that hath any Possession, or Enjoyment, of any part of the Dominions of
Government, doth thereby give his tacit Consent, and is as far forth obliged to Obedience to the Laws of that Government, during such Enjoyment, as any one under it [...]" (Locke: Two Treatises, S. 348). Mit dieser any
unausgesprochenen Zustimmung 8
unterwirft
er
sich den
Bedingungen
dieses
Gemeint ist damit natürlich das „property", das aus dem ursprünglichen Eigentum der Person an sich selbst hervorgeht und Freiheit, Unversehrtheit und materiellen Besitz umschliesst.
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Landes und dieser Gemeinschaft. Seine Zugehörigkeit basiert auf „[...] his actually entering into it by positive Engagement, and express Promise and Compact." (Locke: Two Treatises, S. 349). Im Gegenzug dazu beruht die Macht des Herrschers auf der Zustimmung der Mitglieder „And this Power has its Original only from Compact and Agreement, and the mutual Consent of those who make up the Community." (Locke: Two Treatises, S. 382).
Sense of Publick Weal and of the Common Interest Im Gegensatz zu Locke haben wir in der Person Shaftesburys einen Autor, der als Abgeordneter im Parlament tätig war und sich in seiner Schrift Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour dezidiert mit dem Begriff des common sense auseinandersetzt. Shaftesbury entfaltet seine Überlegungen zum common sense vom Naturzustand aus. Für ihn sind Tugenden wie Treue, Redlichkeit und Gerechtigkeit schon im Naturzustand vorhanden und Grundvoraussetzung einer jeden bürgerlichen Vereinigung. „[...] in the state of nature must make all other acts of humanity as much our real duty and natural part. Thus, faith, justice, honesty and virtue must have been as early as the state of nature or they could never have been at all." (Shaftesbury: Sensus communis, S. 51). Er hält die Tugend und die Redlichkeit für unabänderliche ewige Prinzipien. „[...] any fashion, law, custom or religion which may be ill and vicious itself but can never alter the eternal measures and immutable independent nature of worth and virtue." (Shaftesbury: An Inquiry, S. 175) Shaftesburys „moralischer Sinn,, kommt von Gott und ist jedem Menschen angeboren. Erkenntnistheoretisch weicht er damit eindeutig von seinem Lehrer Locke ab. Er hält den Menschen nicht für eine „tabula rasa", sondern geht von „innate ideas" wie eben dem „moral sense" aus.9 Dieser moralische Sinn ist ein inneres Auge, das mit seinem Blick das Gute vom Bösen trennt: „[...] an inward eye distinguishes and sees the fair and shapely, the amiable and admirable, apart from the deformed, the foul, the odious or the despicable." (Klein: Shaftesbury, the Moralist, S. 326). 9
In einem Brief vom 3. Juni 1709 an Michael Ainsworth äußert er sich genau zu diesem Problem. „T'was Mr. Locke that struck at all fundamentals, threw all order and virtue out of the world, and made the very ideas of these (which are the same as those of God) unnatural, and without foundation in our minds. Innate is a Word he poorly plays upon; the right word, though less used is connatural. [...] The question is not about the time the ideas entered, or the moment that one body came out of the other, but whether the constitution of man be such that, being adult and grown up, at such or such a time, sooner or later (no matter when), the idea and sense of order, administration, and a God, will not infallibly, inevitably, necessarily spring up in him [...]. Thus virtue, according to Mr. Locke, has no other measure, law, or rule, than fashion and custom; morality, justice, equity, depend only on law and will, and God indeed is a perfect free agent in his sense." (Shaftesbury: The Life, S. 403f.).
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In seiner Verlängerung führt diese Überlegung auch zu einem ästhetischen Sinn von Moral, der davon ausgeht, dass das, was schön ist, auch moralisch ist. Diese automatische und natürliche Wahrnehmung von sinnlich Erfahrbarem kann mit den „perceptions" von Locke verglichen werden (Vgl. Göbel: Shaftesbury-Mythos, S. 109). Da es sich aber im Unterschied zu diesen um den Eindruck des moralisch Richtigen handelt, die dann die Handlung des Einzelwesens leitet, kann sie verdeckt werden. Ist dies der Fall, so entstehen zwei „Selbst", ein gewöhnliches Selbst und ein besseres Selbst, das erst nach einer Selbstprüfung erscheint (Vgl. Baum: Selbstgefühl, S. 400). „[...] when I find in any one a concern for somewhat more in nature than what is merely called oneself, or has immediate relation to it, [...]." (Shaftesbury: The Life, S. 292). Dieses bessere Selbst kann durch gesellschaftliche Entwicklungen sei es durch Mode, Gesetz, Gewohnheit oder Religion verschüttet und deformiert werden. Sein wahrer Kern bleibt jedoch erhalten und kann nach intensiver Selbstprüfung freigesetzt werden (Vgl. Klein: Shaftesbury, An Inquiry, S. 175). Es ist das Selbstinteresse des Einzelwesens, das eine zu starke Deformation des Individuellen und damit des politischen Systems verhindert. Die Individuen haben ein persönliches Interesse am allgemeinen Wohl, weil das allgemeine Wohl direkt mit dem eigenen Wohl zusammenhängt. Unter dieser Voraussetzung muss der Eigennutz auf lange Sicht immer das Glück der Gemeinschaft befördern (Vgl. Shaftesbury, An Inquiry, S. 230). Shaftesbury hofft darauf, dass das Glück der Allgemeinheit durch den common sense befördert wird. Er definiert ihn als „[...] Sense of Publick Weal, and of the Common Interest; Love ofthe Community or Society, Natural Affection, Humanity, Obligingness, or that sort of Civility which rises from a just Sense of the common Rights of Mankind, and the natural Equality there is amongst those of the same Species." (Shaftesbury: I, 3, S. 70). Shaftesbury bezeichnet das Gefühl für das allgemeine Wohl als den Sensus communis. Mit seiner Definition von common sense betont Shaftesbury zugleich die soziale und damit die gesellschaftliche Dimension des Begriffes. Nicht die Lebensklugheit oder das hilfreiche Alltagswissen der Normalbürger, sondern die soziale Verantwortung für das Gemeinwesen steht bei seiner Bestimmung im Vordergrund. Mensch sein bedeutet für ihn auch zugleich eine Verpflichtung zum sozialen Handeln. „A Publick Spirit can come only from a social Feeling or Sense of Partnership with Human Kind. Now there are none so far from being Partners in this Sense, or Sharers in this common Affection, as they who scarcely know an Equal, nor consider themselves as subject to any Law of Fellowship or community. And thus Morality and good Government go together. There is no real Love of Virtue, without the Knowledge of Pub-
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lick Good. And where Absolute Power is, there is no Publick." (Benda: Shaftesbury, Sensus communis I, 3, S. 72). Die Verbundenheit mit den Menschen, ein Gefühl der Gleichheit und eine moralische Grundeinstellung befördern den common sense und das politische Leben. Laut Shaftesbury sind die Briten allerdings nicht mit den Einwohnern anderer Länder zu vergleichen. Sie haben von ihren Vorfahren den richtigen Sinn für ein passendes politisches System vermittelt bekommen. Auf Grund dieser „natürlichen" Ausstattung sind sie in der Lage immer klarer zu verstehen, was ein politischer common sense ist. „We have the Notion of a Publick, and a constitution; how a Legislative, and how an Executive is model'd. We understand Weight and Measure in this kind, and can reason justly on the Ballance of Power and Property. The Maxims we draw from hence, are as evident as those in Mathematicks. Our increasing Knowledge shews us every day, more and more, what common sense is in Politicks: And this must of necessity lead us to understand a like Sense in Morals; which is the Foundation." (Benda: Shaftesbury, I, 3, S. 75f). Shaftesbury hält die Menschen speziell die Engländer für lernfähig. Sie sind dazu in der Lage, ihr verdecktes Wissen vom Guten, Wahren und Schönen wieder zu reaktivieren, um den wahren politischen common sense zu erlangen. Ursprünglich hat der Grundtrieb der Geselligkeit, das „herding Principle" (Vgl. Benda: Shaftesbury, I, 3, S. 79), die Menschen zueinander geführt. Diese Idee bildet die Grundlage der Gemeinschaft. „No visible Band is form'd; no strict Alliance: but the Conjunction is made with different Persons, Orders and Ranks of Men; not sensibly, but in Idea: according to that general View or Notion of a State or Commonwealth." (Benda: Shaftesbury, I, 3, S. 80). Shaftesbury geht also von einem politischen und sehr individuellen Begriff des common sense aus, der allerdings zugleich ein sozial verantwortlicher „Sense of Right and Wrong" ist, den jedes Individuum von Anfang an in sich hat und der durch die Erfahrung bereichert wird. „Experience and our catechism teach us all!" (Rand: The Life, S. 404) Das spiegelt sich auch in der Ästhetik wieder, denn was schön ist, ist auch gut und tugendhaft. Dieser Sinn lässt sich durch Erziehung und Philosophie erhalten und vertiefen: „While philosophy is taken, as in its prime sense it ought, for mastership in life and manners, it is like to make no ill figure in the world, whatever impertinencies may reign or however extravagant the times may prove." (Shaftesbury: -
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Miscellany III, S. 406).
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Universal practice of mankind
[...] serve to convince us
Bolingbroke haben wir einen Theoretiker der Zeit, der literarische und politische Brillanz vereinigte. Auf Grund der äußeren Umstände war es ihm jedoch, wie Shaftesbury, nicht lange vergönnt, im Parlament aktiv politisch zu agieren. Common sense und Common Honesty sind für ihn die Wahrer dessen, was richtig ist, auch wenn sie sich kurzfristig nicht immer durchsetzen können. Sie sind Platzhalter für eine politische Position und bedeutungsgleich mit dem „public spirit" oder wie er ihn auch im Kontext seiner Parteienlehre nennt mit dem „true old English spirit". Im Gegensatz zum Parteigeist: „It is a spirit, which springs from information and conviction, that has diffused itself not only to all orders of men, as you observed, but to men of all denominations. Even they who act again it, encourage it [...]. What is it then? It is, I think, a revival of the true old English spirit, which prevailed in the days of our fathers, and which must always be national." (Bolingbroke: History of England, S. 277). Der wahre nationale Geist Englands steht also über den Parteien und bewahrt die traditionelle Sicht der Dinge. Wenn man so will, ist der common sense die praktische und urteilsbezogene Form, die der public spirit annimmt. Beide können verdeckt werden, aber nicht ganz verloren gehen. Diese geistige Tradition des richtigen praktischen Handelns muss wiederbelebt werden, um die Nation zu retten. Common sense definiert Bolingbroke als: „[...] the universal practice of mankind [...] serve to convince us." (Bolingbroke: Of human knowledge, S. 411). Unterstützt wird dieser Sinn laut Bolingbroke von einem: „[...] moral sense, that is an instinct by which they distinguish what is morally good from what is morally evil, and perceive an agreeable or disagreeable intellectual sensation accordingly, without the trouble of observation and reflection." (Bolingbroke: Fragments or Minutes, S. 86). Für Bolingbroke ist das menschliche Wesen also ein stark instinktgeleitetes Individuum, das sich in der Handlung gefühlsmäßig für das Richtige entscheiden soll. Ähnlich wie bei Lockes Erkenntnistheorie kommen die ersten Eindrücke von außen und werden (im Gegensatz zu Lockes Vorstellungen) mit den von Gott gegebenen Vorlieben kombiniert. „Thus we know that the first ideas, with which the Mit Lord
mind is furnished, are received from without, and are caused by such sensations, as the presence of external objects excites in us, according to laws of and action, which the Creator has established." (Bolingbroke: Of human knowledge, S. 362). Das Gefühl bestimmt jedoch in seinen Augen nicht nur die Entscheidungen des Einzelwesens, sondern auch die der Gemeinschaft. „Societies were begun by instinct, and improved by experience." (Bolingbroke: Fragments or Minutes, S. 105). Die Einzelwesen wie auch politische Gemeinschaften werden also wesentlich durch emotionale Komponenten bestimmt. Diese werden jedoch durch Erfahrungswerte modifiziert
passion
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und verbessert. Der Grund für die gefühlsmäßige Grundausstattung liegt auch in der körperlichen Sensibilität begründet, weil das Ursache-Wirkung-Prinzip mit dem Einfluss des Körpers auf den Verstand beginnt, der zeitlich schneller verläuft als der Einfluss des Verstandes auf den Körper. „[...] that there is a mutual influence of body an mind which shews itself first, and of mind on body which appears a little later. With this knowledge men of common sense have contended themselves in all ages; whilst philosophers, those men of uncommon sense, have filled their own heads and the heads of all who have hearkended to them, in every age, with fantastical ideas and notions, [...]." (Bolingbroke: Of Human knowledge, S. 537). Für ihn ist es bewiesen, dass jeder dieselbe intuitive Reaktion auf bestimmte Ereignisse haben muss. (Vgl. Bolingbroke: Of Human knowledge, S. 538). Das menschliche Wissen ist ein Ergebnis aus der körperlich dominierten Existenz des Menschen (Vgl. Bolingbroke: Of Human knowledge, S. 518) und das wiederum muss letztendlich zu einem gemeinsamen common sense führen. Mit dieser Begründung versucht Bolingbroke seine politische Argumentation zu untermauern und als richtig auszuweisen. Die immer wiederkehrende Rhetorik des common sense bei Bolingbroke dient daher der Stützung seiner politischen Ansprüche. Diese reichen außerordentlich weit. Der Autor behauptet schließlich nicht mehr und nicht weniger als selbst einer der wenigen Anwälte des durch die Entwicklung verdrängten Geistes der Nation zu sein. Das kann er beanspruchen, weil er einen privilegierten Zugang zum common sense beansprucht, den der politische Gegner eben nicht hat. „[...] that is common sense, is the sole judge; [...]" (Bolingbroke: Of Human Knowledge, S. 521). Das heißt aber, dass derjenige, der sich auf den Standpunkt des common sense begibt, selbst der berufene Richter über den Zustand der nationalen Politik ist. Liest man dies mit Bolingbrokes starker Betonung der Tradition zusammen, so wird man sagen können, dass im common sense historische Erfahrung und moralischemotionale Urteilskraft zusammenlaufen. Wie wir sehen konnten bringt Bolingbroke den Begriff des common sense häufig zum Einsatz, um ein vorrationales Wissen als Leitwissen zu kennzeichnen. Die damalige Entwicklung lässt sich von diesem Standpunkt aus als Fehlentwicklung brandmarken: „[...] we shall easily conceive how the conduct of mankind has become in these cases, and almost in all others, repugnant to nature, reason, and their own common sense." (Bolingbroke: Fragments or Minutes, S. 137). Bolingbroke versucht die Geschichte Englands als Verlust des common sense, als Verlust der Tugend und einer Zunahme der Korruption darzustellen, um seinen politischen Gegner Walpole zu diffamieren.
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Common
sense
of interest
geht von einem „general sense of common interest „aus, „which all the members of the society express to one another, and which induces them to regulate their conduct by certain rules" (ATH, S. 315) Seine Überlegungen sind sehr stark von für die Gesellschaft vorteilhaften Nützlichkeitsvorstellungen geprägt. Dieser Sinn „of common interest", der zur Errichtung einer sicheren Gemeinschaft führen soll, beruht auf dem gegenseitigen Engagement aller Beteiligten, welches wiederum vor allem dem Schutz des Eigentums dient. „I observe, that it will be for my interest to leave another in the possession of his goods, provide he will act in the same manner with regard to me. He is sensible of a like interest in the regulation of his conduct. When this common sense of interest is mutually express'd, and is known to both, it produces a suitable resolution and behaviour." (ATH, S. 315) Dieser common sense of interest soll die Gesellschaft befrieden und ihren Besitz schützen. Er beruht immer auf der gegenseitigen Abhängigkeit und führt zu einem partnerschaftlichen Miteinander, das für alle Beteiligten von Nutzen ist. Auslösendes Moment ist allerdings die Selbstliebe oder der Egoismus des Menschen, denn „every man loves himself better than any other person." (Hume: Political Essays, S. 196) Es handelt sich deshalb um die stillschweigenden Nützlichkeitsabwägungen zweier oder mehrerer „im gleichen Boot,,. Das ist auch die von ihm benutzte Metapher zur bildhaften Umschreibung seiner common sense Vorstellungen. „Two men, who pull the oars of a boat, do it by an agreement or convention, tho' they have never given a promise to each other." (ATH, S. 315) Unausgesprochen kann so die Einhaltung notwendiger Regeln in diesem Bild und in Humes Vorstellungen funktionieren. Allerdings ist hier Reziprozität auf niedrigster Stufe dann doch die Voraussetzung des kooperativen Handelns (Vgl. Gräfrath: Moral Sense, S. 67). Die Konvention und die langfristige Erfahrung bestätigen immer wieder die Richtigkeit des Verhaltens und der bestehenden Ordnungsgefüge. Hume schliesst, dass, auch wenn nötigenfalls Modifikationen des bisher Üblichen durchgeführt werden müssen, nicht jede beliebige „Volksmenge" zur institutionellen Totalrevision berechtigt ist.10 Das gilt bei Hume insbesondere für das politische System. „The general consent surely, during so long a time, must be sufficient to render a constitution legal and valid [...]. But the people must not pretend, because they can, by their consent, lay the foundations of government, that therefore they are to be permitted, at their pleasure, to overthrow and subvert them." (Hume: Political Essays, S. 210) Der Ursprung
David Hume sense
10
Common sense, dass bestätigt auch immer wieder die Literatur, ist ein nicht unbedingt rationales Phänomen, „common sense, grounded in certain nonrational features of human nature, appears to compensate for the failure of reason at the critical junctures." (Whelan: Order and Artifice, S. 17).
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jeglichen politischen Systems beruht laut Hume also zwar auf einem Konsens aller Beteiligten, der durchaus revidierbar ist und dessen Grundlage eine Art Vertrag darstellt, der den Zeitgenossen jedoch nicht mehr bekannt ist. „But the contract, on which government is founded, is said to be the original contract; and consequently may be supposed too old to fall under the knowledge of the present generation." (Hume: Political Essays, S. 189). Es ist allerdings ein Vertrag, den man „vergessen,, hat und dessen weitere Geltung nicht auf einem imaginären Text, sondern auf der praktischen Einübung und vernünftigen Alltagspraxis beruht: mithin auf Geltung durch Faktizität. Bei den Überlegungen Humes zur politischen Ordnungsgebung darf man nicht übersehen, was für einen Stellenwert die Freiheit darin einnimmt. Ohne sie wäre politisches, kommerzielles und intellektuelles Leben nur schwer möglich und sehr unbeweglich. (Vgl. Hume: Political Essays, S. 54, S. 61, S. 63) „ENGLISH act of parliament, were almost the only written rules, which regulated property and punishment, for some ages, in that famous republic. They were, however, sufficient, together with the forms of a free government, to secure the lives and properties of the citizens; to exempt one man from the dominion of another; and to protect every one against the violence or tyranny of his fellow-citizens. In such a situation the sciences may rise their heads and flourish." (Hume: Political Essays, S. 63). Die Freiheit ermöglicht jedoch nicht nur ein „freies politisches System" und die Verfolgung von Forschungsinteressen, sondern auch die ungestörte Ausübung der kulturellen Fähigkeiten und Neigungen. Auch bei Hume berühren wir im Bereich der Ästhetik die häufig diskutierte Frage des Common-Sense-Diskurses, wie etwas zu einer allgemein gültigen Norm und damit zu einem Bezugspunkt für die Entscheidung des Einzelwesens werden kann. Er verweist auch in diesem Kontext wieder auf bereits existierende Prinzipien, die dem Mensch die Richtung weisen: „The question, therefore, concerning the rise and progress of the arts and sciences, is not altogether a question concerning the taste, genius, and spirit of a few, but concerning those of a whole people; and may, therefore, be accounted for, in some mesure, by general causes and principles." (Hume: Political Essays,
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Für ein geregeltes und für die Beteiligten positives politisches System ist der „tacit consent" nötig, der der Regierung den nötigen Rückhalt gibt. „[...] by living under the dominion of a prince, which one might leave, every individual has given a tacit consent to his authority, and promised him obedience." (Hume: Political Essays, S. 193) Dieser „tacit" oder „general consent" (Vgl. Hume: Political Essays, S. 210) stellt die Basis der Regierung dar. Wobei auch dabei wieder das Nützlichkeitsdenken aller Beteiligten entscheidend ist. Denn die Regierung hilft der Gesellschaft zu überleben und verlangt dafür eine gewisse Treue und Unterstützung, wohl wissend, dass die Untertanen
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auch Widerstand üben können. Auch in Humes Charakterisierung der prinzlichen Machtfülle (die enorm ist, obwohl sie nur durch die Geburt legitimiert wurde, vgl. Hume: Political Essays, S. 194) zeigt sich erneut die Notwendigkeit eines Mächtegleichgewichts zwischen Herrschern und Beherrschten. Dabei dient der common sense und der gewohnte Zustand als Richtschnur der Gemeinschaft. „In civilized monarchy, the prince alone is unrestrained in the exercise of his authority, and possesses alone a power, which is not bounded by any thing but custom, example, and the sense of his own interest." (Hume: Political Essays, S. 69) Der common sense stellt in Humes politischen Vorstellungen die Basis der „balance of power" dar. „In short, the maxim of preserving the balance of power is founded so much an common sense and obvious reasoning, that it is impossible it could altogether have escaped antiquity, where we find, in other partikulars, so many marks of deep penetration and discernment." (Hume: Political Essays, S. 157f). Es handelt sich in Humes Augen also um eine Gradwanderung aller Beteiligten, denn der common sense bietet durchaus die nötige Stabilität für das System, kann aber auch eine nachteilige Situation für die Beherrschten zu lange aufrecht erhalten. Inhaltlich bedeutet das Mächtegleichgewicht die Aufteilung der Macht zwischen Exekutive (konstitutionelle Monarchie) und Legislative des Parlamentes. Wobei die aktuelle Situation von Hume als Übermacht des Parlamentes und als Schwäche des Königs gekennzeichnet wird „[...] the executive power in every government is altogether subordinate to the legislative; [...]." (Hume: Political Essays, S. 25). Bei Hume ist das Verhältais zum Begriff des common sense, wie sich auch in diesem Kontext zeigt, gespalten. Er schätzt am common sense das Moment der Erfahrung und der Rückbesinnung auf erprobte Werte und Vorstellungen, die durchaus auch als Korrektiv und Orientierungshilfe in unsicheren Situationen dienen können. Andererseits erkennt er aber den Beharrungscharakter und die geringe gesellschaftliche Mobilität, die ebenfalls mit dem common sense verbunden sind und die oftmals auch unmenschliche Verhältnisse zu konservieren und verlängern halfen. Hilfestellung in schwierigen Fragen kann der common sense laut Hume jedoch durchaus auch der philosophischen Zunft bieten. „But a philosopher, who purposes only to represent the common sense of mankind in more beautiful and more engaging colours, if by accident he falls into error, goes no farther; but renewing his appeal to common sense, and the natural sentiments of the mind, returns into the right path, and secures himself from any dangerous illusions. (AEH, S. 88) Die Vergangenheit und ihr Erfahrungsschatz werden hier also durchaus als Medium der Problembewältigung gesehen. Allerdings geht Hume in seiner „History" von dynamischen und statischen Momenten aus. So gab es Phasen, in denen die Menschen von ausgezeichneten Neuerungen überfordert waren und lieber am altbekannten festhielten,
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und Phasen, in denen man sich zum Nachteil der Bevölkerung zu schnell vom Tradierten entfernte (Vgl. History, 2, S. 331). Prinzipiell sieht Hume die Geschichte als positiven Prozess, in dem die Aufklärung zu sich kommt. „Aus einem mittelalterlichen Zustand von Despotie und Anarchie entwickelten sich schließlich westliche Kultur und Zivilisation." (Streminger: Der natürliche Lauf, S. 50) Im Laufe der Geschichte kommt es also in seiner Darstellung zur Wandlung des Leitmotivs common sense, es kommt zur Veränderung der Sitten und Gebräuche: „altering the customs". (Vgl. History, 5, S. 126) Die historische Entwicklung zeigt in Bezug auf den common sense immer wieder Veränderungen. Resümierend kann man davon sprechen, dass die Herrschenden sich und ihr Volk mit den Vorstellungen weiterentwickeln sollten. Sinnvolle Veränderungen ohne die Zustimmung der Bevölkerung sind durchaus denkbar, wenn auch vielleicht nicht durchsetzbar. Doch die jeweiligen Regierenden sollten sich nicht zu weit von den „maners of the age" (Vgl. History 2, S. 173 und 331) oder dem common sense der Menschen entfernen, da die Tradition durchaus das durch Erfahrung bewährte zu erhalten weiß.
Common sense der praktischen Politikerfahrung: general sense of the community Wenn Burke seine politische Vorstellungen darlegt, geht er immer wieder einem gewachsenen „general sense of the community" (Burke: Letter, to the Sheriffs of Bristol, S. 167) aus. Häufig taucht dieser Begriff in Variationen auf. So spricht er in einer Erklärung „To the Chairman of the Buckinghamshire Meeting-12 April 1780" vom „real sense of the people" oder vom „true sense of the people" (The Correspondence of Edmund Burke, IV, S. 228). Im Februar des gleichen Jahres redet er in Bezug auf ökonomische Reformen von der Aufgabe dem Sinn der Menschen (sense of the people) folgen zu müssen und ihn gleichzeitig neu zu prägen. „The truth is, I met it on the way, while I was persuing their interest according to my own ideas." (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. Ill, S. 493) Dieser „general sense of the people" oder „of the community" ist so etwas wie die „general opinion" der Untertanen und ist die Grundlage des Regierens und der Gesetzgebung. „In effect, to follow, not to force the publick inclination; to give a direction, a form, a technical dress and a specifick sanction, to the general sense of the community, is the true end of legislature." (Burke: Letter to the Sheriffs of Bristol, S. 167). Es herrscht also in der Bevölkerung seiner Ansicht nach eine Einstellung und Haltung zu bestimmten Dingen, die es für den politisch Aktiven zu erkennen und zu steuern gilt, wohlwissend dass bestimmte Vorstellungen nicht überformbar sind. Burke sieht sich selbst als von
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politischen Agenten, der von sich behauptet: „I have common sense." (The Correspondence of Edmund Burke, Bd. IV, S. 331). Er hält sich für fähig, die Vorstellungen der Bevölkerung nachvollziehen zu können und sie damit auch als Mittler und Verantwortlicher durchschauen, darlegen und zum Positiven
beeinflussen zu können. „I am therefore satisfied to act as a fair mediator between government and the people" (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. Ill, S. 493). Die „Senses" ganz allgemein sind für Burke der Ursprung der menschlichen Ideen und stellen das Vermittlungsmedium zwischen dem Menschen und seiner Umwelt dar (Vgl. The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. I, S. 186 und 198). Durch die Wahrnehmung wird die Welt erfahrbar und zwar für alle gleich erfahrbar. Deshalb bildet sie den Ursprung eines allgemeinen common sense, der in den Subjekten nach seiner Meinung nicht oder nur geringfügig voneinander abweicht. „We do and we must suppose, that as the conformation of their organs are nearly, or altogether the same in all men, so the manner of perceiving external objects is in all men the same, or with little difference." (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. I, S. 198). Diese Übereinstimmung der „Senses", der sinnlichen Wahrnehmung, geht für Burke sehr weit. So glaubt er an die gleiche menschliche Erfahrung von hell und dunkel, bitter und süß, plaisure and pain (Vgl. The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. I, S. 200f). Desgleichen kann er von der Vorstellung ausgehen, dass die kreative Kraft des Menschen sich in den Grenzen der Disposition bewegt, die sie von den Sinnen erhalten hat. Diese wird von der Erfahrung und Betrachtung genährt (Vgl. The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. I, S. 202). Wenn wir nun in der Bewertung einer Sache unsicher sind, können wir uns Rückhalt bei einer menschlichen Grundposition suchen, dem, wie Burke es nennt, „common measure". „If we differ in opinion about two quantities, we can have recourse to a common measure, which may decide the question with the utmost exactness; and this I take it is what gives mathematical knowledge a greater certainty than any other." (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. I, S. 205). Burke geht also von einer Grunddisposition der Menschen aus. Diese mag je nach Tradition, Gewohnheit und Erfahrung variieren, sie tut dies aber nie zu sehr, denn eine gemeinsame sensitive Wahrnehmung eint und verbindet die Gattung Mensch und führt zu ähnlichen Handlungsschemata. „It is by imitation far more than by precept that we learn every thing; [...]. This forms our manners, our opinions, our lives." (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. I, S. 224) Allerdings glaubt Burke auch, dass die Gesellschaft sich transformieren muss, um den Anforderungen, die immer wieder an sie und den Einzelnen herangetragen werden, gerecht zu werden. Deshalb gibt es bei ihm ein innovatives Element, das verhindert, dass die Menschen in ihrem tierhaften Urzu-
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stand verharren. Dieser „sense of ambition", der dem Menschen von Gott eingepflanzt wurde, befördert die Weiterentwicklung von Mensch und Gesellschaft (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. I, S. 225). Burkes politische Vorstellungen bewegen sich bekanntlich ebenfalls in den Bahnen seines „organic thinking".11 So gibt es für ihn zwei Eckpfeiler für die positive Entfaltung einer Gesellschaft. Das eine ist die „prescription", die eine alte gewachsene Autorität kennzeichnet und deren etablierte Praxis eine unhinterfragbare Autorität darstellt. „[...] our Constitution is a prescriptive Constitution; it is a Constitution, whose sole authority is, that is has existed time out of mind." (Burke: Reform of Representation, S. 273). Geltung erhalten politische Institutionen also durch die Zeit ihrer Wirkung. Ihr Ansehen und ihre Macht verdanken sie den vorzeitlichen Ursprüngen ihrer Entstehung und der Dauer ihrer Existenz und Wirkung. „Your King, Your Lords, Your Judges, your Juries, grand and little, all are prescriptive [...]. Prescription is the most solid of all titles [...]. They harmonize with each other and give mutual aid to one another" (Burke: Reform of Representation, S. 273). Der andere Eckpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft ist für den Theoretiker einer gewachsenen, organischen Gesellschaft die „presumption,,. Darunter versteht er die Neigung der Menschen, einen bekannten Zustand aufrechtzuerhalten. „It is a presumption in favour of any settled scheme of government against any untried project, that a nation has long existed and flourished under it [...]. Because a nation is not an idea only of local extend, and individual momentary agitation, but it is an idea of continuity, which extends in time as well as in numbers, and in space" (Burke: Reform of Representation, S. 274). Diese im Jahre 1782 formulierten Thesen zeigen Burkes Überzeugung vom Beharrungsvermögen politischer Institutionen und ihrer Begründung. Was ist, ist für ihn aus bestimmten logischen Gründen so geworden und damit ausgetestet und gut. Der Hintergrund aller Theorie der Politik ist also die Frage, ob die bestehende Praxis der menschlichen Natur und der geleisteten gesellschaftlichen Überformung entspricht. „Expedience is that, which is good for the community, and good for every individual in it." (Burke: Reform of Representation, S. 276) Abweichungen von diesem Zustand sind möglich aber nur sehr behutsam und allmählich. „The individual is foolish. The multitude, for the moment, is foolish, when they act without deliberation; but the species is wise, and when time is given to it as a species it almost always acts right." (Burke: Reform of Representation, S. 274). Das heißt, es gibt in der Gesellschaft einen diskursiv gewachsenen politischen Zustand, der dem common sense der Gattung ent" Chapman spricht in diesem Zusammenhang von einer „philosophy of organic process" (Chapman: Edmund Burke, S. 7) Diese Vorstellung Burkes vom organischen und gewachsenen Charakter aller menschlichen Ordnung steht, wie wir noch sehen werden, in engem Zusammenhang mit seinem Common-Sense-Begriff.
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spricht und nicht hinterfragt wird, der jedoch auch nicht für alle Zeiten statisch und unveränderbar ist. Aus dieser organisch gewachsenen Struktur kann etwas Neues erwachsen, jedoch nicht abrupt sondern entlang der als positiv erfahrenen Routen. Grundlage der politischen Gesellschaft ist für Burke ein Vertrag. Allerdings kein gewöhnlicher Vertrag sondern „[...] a partnership in all science; a partnership in all art; a partnership in every virtue, and in all perfection. As the ends of such a partnership cannot be obtained in many generations, it becomes a partnership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born." (Burke: Reflections on the Revolution in France, S. 96) Dieser ursprüngliche Verfassungskontrakt bildet die Basis der gesellschaftlichen Kontinuität. Er stellt einen Generationenvertrag durch die Geschichte dar. (Vgl. Zimmer: Edmund Burke, S. 85) Dieser Vertrag in Form der Verfassung funktioniert nur so gut, weil er nach den Mustern der Natur geschaffen wurde. (Vgl. Burke: Reflections on the Revolution in France, S. 33) Damit entspricht die geschichtliche Vernunft laut Zimmer „dem common sense der praktischen Politikerfahrung" (Vgl. Zimmer: Edmund Burke, S. 85). Politische Institutionen ruhen letztlich auf der alltäglichen Erfahrung des Individuums auf, entsprechen dieser und werden in Maßen mit dieser modifiziert. Damit hält der common sense der politischen Alltagserfahrung das System zusammen und dient seiner Rechtfertigung. Der Ursprung dieses Vertragsabschlusses liegt vor Menschengedenken zurück und verleiht der jeweiligen Regierung eine religiöse Basis und Rechtfertigung. „[...] that Government is of divine institution and sacred authority" (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. Ill, S. 208). Auch hier betont Burke wieder die organisch gewachsene Struktur des Systems, die einen common sense bildet, der die Grundlage zukünftigen Handelns darstellt. Diesem Sinn entsprechend muss gehandelt werden. „To govern according to the Sense and agreeably to the interests of the People is a great and glorious Object of Government." (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. Ill, S. 590) Bevölkerung und politisch Handelnde bilden also eine Einheit, die beide in Form eines Trusts verbunden sind (The Writings and Speeches of Edmund Burke, VI. Ill, S. 208). Damit müssen die Repräsentanten den Interessen ihrer Clienten dienen, und es soll zu einer wechselseitigen Beeinflussung und Befruchtung kommen. (Vgl. Conniff: The Useful Cobbler, S. 144) „If it be true in any degree, that the Governors form the people, I am certain, it is as true, that the people in their Turn impart their Character to their Rulers." (The Correspondence of Edmund Burke, Bd. Ill, S. 396) Mit welcher Argumentation gelingt es nun Burke, einen Bruch in der Kontinuität der Geschichte Englands, wie ihn die Glorious Revolution auslöste, einzupassen? Hier ist er offensichtlich gezwungen, einen evolutionären
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Sprung in seinem eher organologischen Geschichtsbild zuzulassen, wenn die Freiheit, ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste politische Ideal Burkes, bedroht ist. „The revolution is a departure from the ancient course of the descent of this Monarchy. The People at that time reenter'd into their original rights; and it was not because a positive Law authorized what was then done, but because the freedom and safety of the Subject, the origin and cause of all Laws, required a proceding paramount and superior to them. At that ever memorable and instructive period, the Letter of the Law was superseded in favour of the substance of Liberty. To the free choice therefore of the People, without either King or Parliament, we owe that happy establishment out of which both King and Parliament were regenerated." (The Writings and Spee-
ches of Edmund Burke, Bd. Ill, S. 273) Das Unterhaus, in dem er politisch geraume Zeit wirkte, stellte für ihn das Sprachrohr der Bevölkerung dar und sollte deren Vorstellungen entsprechen. Aus dieser Überzeugung entspringt die Fiktion einer prinzipiellen Konvergenz der Artikulation, die jedoch ebenfalls ein dynamisches Moment enthält: „In legal construction, the sense of the people of England is to be collected from the House of Commons; and, [...] it is highly dangerous to suppose that the house speaks any thing contrary to the sense of the people [...]." (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. IX, S. 329f.) Bezogen auf das konkrete institutionelle Arrangement gehen seine politischen Vorstellungen von einer gemischten Verfassung aus, in der die Macht zwischen Krone, Oberhaus und Unterhaus aufgeteilt wird. „The Lords and the Commons together represent the sense of the whole people to the Crown, and to the world. (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. IX, S. 330). Grundlage dieser Struktur ist die Verfassung, die den ideellen und konkreten Orientierungsrahmen bietet. „It is the genuine produce of the ancient rustic, manly, homebred sense of this country." (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. II, S. 147). Der König stellt den Fokus des Systems dar. Er sollte auf mehreren Ebenen von den Vertretern des House of Lords in Verbindung mit der Verwaltung und von den Vertretern der Bevölkerung, dem House of Commons kontrolliert werden (Vgl. Conniff: Edmund Burke, S. 14). Jede Handlung des Königs, seiner Minister und der Abgeordneten muss nachvollziehbar sein und sich dem Judgment and good sense of the people of England" unterwerfen (Burke: The Present Discontents, S. 147). Das politische System ruht in der „balanced constitution" des Landes, die sich auf einem unausgesprochenen common sense begründet und eine durchaus machtvolle Institution darstellt. „The power of the house of commons, direct or indirect, is indeed great; and long may it be able to preserve its greatness, and the spirit belonging to true greatness, at the full [...]." (Burke: Reflections on the Revolution, S. 45) Neben dem Ausgleich der Macht dient diese Einrichtung dem Erhalt eines der wichtigsten politischen Ideale
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Burkes, der Freiheit. „Parliament is a security provided for the protection of Freedom and not a subtil fiction contrived to amuse the ings and Speeches of Edmund Burke, Bd. Ill, S. 274)
People." (The
Writ-
Neben dem Unterhaus als bedeutendster politischer Institution repräsentiert für Burke die Aristokratie die Werte des Gemeinwesens (Vgl. Zimmer: Edmund Burke, S. 67). Aus diesem Grunde stellt sie für ihn die Schicht dar, die die gesellschaftliche und institutionelle Kontinuität wahrt, indem sie ihre Werte von Generation zu Generation weitergibt. Die Adeligen verkörpern ganz gegen die gängige Erwartung einen „gemeinen Menschenverstand" in ihrer gewachsenen Geschichte, den common sense und sind die Bewahrer der Freiheit. Es mag zwar einzelne Aristokraten geben, die ihre Privilegien nutzen, ohne sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein und die nicht den „public spirit" weiterentwickeln. Prinzipiell aber gilt, dass sie nach Burkes Vorstellungen den Generationenvertrag leben und das Wissen über das angemessene Leben und die Aufgaben der politischen Institutionen habitualisieren und weitergegeben. Innovationen, die aus der Bevölkerung gefordert oder aus der politischen Elite vorgeschlagen werden, sollen in seinen Augen einem fast zirkulären Ablösungsmechanismus dem Medium des common sense unterworfen werden, dessen Endpunkt nur um weniges von den ursprünglichen Vorstellungen entfernt ist. Burkes politisches Ziel waren milde Veränderungen um den status quo zu erhalten: „preservation through conciliation" (The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. Ill, S. 47). Deshalb war er so entsetzt über die Französische Revolution, die Strukturen und Hierarchien zerschlug und Traditionen für immer zerstörte. Für ihn gehört die Ungleichheit unter den Menschen zur menschlichen Gesellschaft. Er glaubt, dass einige zum Führen und die Vielen zur Akzeptanz dieser Hierarchie geboren wurden. „[...] the happiness that is to be found by virtue in all conditions; in which consists the true moral equality of mankind, [...] that real inequality, which it never can remove" (Reflections on the Revolution, -
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S.37).
Burke stilisiert sich in politischen Auseinandersetzungen um prinzipielle Fragen gerne zu einem, der einen privilegierten Zugang zur gewachsenen praktischen Vernunft der Engländer beanspruchen darf. „It is the genuine produce of the ancient rustic, manly, homebred sense of this country -[...] I
put my foot in the tracks of our forefathers, where I
can neither wander nor The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. II, S. 147) Er stellt sich dann als Sprachrohr der Geschichte und ihres Sinnes dar, weil er als richtiger Interpret den Spuren der Urgroßväter folgt: „What the law has said, I say." (Burke: The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. II, S. 147) So gelingt es ihm taktisch geschickt in seinen Reden die Begriffe common sense und sense zu instrumentalisieren, um seinen Argumenten mehr Gewicht historisches Gewicht zu verleihen.
stumble."
(Burke:
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Politische
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Spiegelungen der theoretischen Überlegungen; der „Overlapping Konsensus"
Die Bandbreite der theoretischen Begriffsbestimmungen von common sense erstreckt sich über ein relativ kleines Sprectrum. Die vageste Umschreibung findet sich bei Locke mit seinem „Law of opinion or reputation", die konkreteste bei Shaftesbury mit seinem „sense of public weal and of the common interest." Bei den späteren Autoren scheint es klar zu sein, dass es einen gemeinsamen Sinn gibt, der der Gemeinschaft dient. Alle Theoretiker gehen in Aristotelischer Manier von der Suche nach dem allgemeinen Glück aus. Das Wohl der Gemeinschaft ist das Ziel der Politik. Auf dem Weg zum gemeinsamen Wohl wird Politik angeleitet von den Erfahrungen der Menschen, die sich im common sense manifestieren und von Gefühlen für das Richtige gestützt werden. Dabei ist der gemeinsame Sinn beides: er ist die Ablagerung der gemachten Erfahrung als eine gesellschaftlich verfügbare Sinnwelt und er ist die Kompetenz zur Aktualisierung genau dieses Wissens im Horizont anstehender Probleme. Bei Hume und bei Locke findet sich der Begriff des „tacit consent" im Zusammenhang mit dem common sense. Beide Autoren sind eher liberal-progressiv, während Shaftesbury, Bolingbroke und Burke eher traditionalistisch argumentieren. Für sie ist die Dominanz der Vergangenheit entscheidender als die Ungewissheit einer nicht über Erfahrung abgesicherten Zukunft. Es existiert in allen Fällen eine (bei Locke und Hume schweigend unausgesprochene) Basis, die das Alltagsleben und das politische Geschäft ermöglicht. Massive Unterschiede deuten sich an, wenn es um die Aktualisierungen der jeweiligen Ordnung und deren Reichweite geht. Mindestens genauso unscharf wird mit dem Mythos common sense im Parlament umgegangen. Er wird manchmal wörtlich in Debatten benutzt, häufig wird jedoch mit seinem vagen Sinn argumentiert und das, was er meinen könnte, damit stark politisiert. Der Begriff ist nicht frei von ihm eingeschriebenen ideologischen Positionen und Interessen und dient nicht selten als rhetorisches Stilmittel, um Gegner zu diffamieren. Zwischen der theoretischen Annäherung an den common sense und der praktischen Verwendung des Begriffes im Parlament existiert wie die folgenden Beispiele immer wieder anschaulich demonstrieren ein durchaus reflexives Wechselverhältnis. Die Schlagkraft des Konzeptes und seine institutionelle Wirkung basiert dabei zweifellos auf einem „overlapping consensus". Unscharf, aber hinreichend eindeutig ermöglicht der commons sense trotz ideologischer Aufladungen eine allgemeine Verständigung über gesellschaftliche Grundwerte, mögen die Argumente auch häufig strategisch in die Diskussion eingebracht werden. Oft dient die Rückbesinnung auf den common sense als Rückhalt in Übergangs- und Krisensituationen, die eine Beeinträchtigung der öffentlichen -
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Meinung heilen und an eine vorgängige Verständigungsbasis appellieren will. Das soll abschließend zumindest in Skizzen thematisiert werden. Gerade kulturelle Phänomene wie die heimlichen Eheschliessungen oder die Diskussion über die Naturalisation der Juden führte zu Argumentationen im Namen des common sense. „[...] for I think nothing can be more inconsistent with common sense than to say, that the supreme legislature of a society cannot put contracts of marriage, as well as every other contract, under what regulations they think most conducive to the goog ofthat society." (Vgl. ebd., Bd. XV, S. 6) „Any Jew of common sense will be frightened from coming or continuing to reside in this kingdom, by the clamour that has been raised among the very lowest of our people, [...]." (Vgl. ebd., Bd. XV, S. 95) Aber auch in der religiösen Debatte die ihren Ausdruck in dem von allen Amtsinhabern zu leistenden .Abjuration Oath' fand kommt der Begriff vor. „I do plainly and sincerely acknowledge and swear according to these express Words by me spoken and according to the plain and common Sense and Understanding of the same words [...]." (The Law and Working, Bd. I, S. 98) Lord Grenville betont im Jahre 1795 das: „This system was founded on common sense, and experience came in aid of common sense" (The Parliament History, Bd. XXXI, S. 1443). Was den politisch-institutionellen Diskurs betrifft, so scheint es gerade in Zeiten politischer Verunsicherung und paradigmatischer Veränderungen besonders angebracht gewesen zu sein, sich auf den common sense als einigendes Element zu berufen. Exemplarisch lässt sich eine solche institutionenbezogene Antizipation von praktischem Konsens unter den Bedingungen offensichtlichen Dissenses an Wendepunkten der institutionellen Genese zeigen, wie etwa bei Verfassungskonflikten und den großen Wahlrechtsauseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts. Einen weiteren exemplarischen Hinweis auf die Bedeutung des common sense im Parlament bringt der Gebrauch dieses Schlüsselbegriffes im Jahre 1770. Wenn sich Lord Chatham in einer Parlamentsdebatte, in der es um die Frage der Gültigkeit bzw. Ungültigkeit eines Wählervotums ging,12 im Haus of Lords auf den common sense beruft, dann zeigt das, wie wichtig dieser Begriff gerade im politischen Diskurs war und welche Signalwirkung er für das formvollendete Vorgehen im Unterhaus hatte. „My lords; there is one plain maxim, to which I have invariably adhered through life: that in every question,
in which my
liberty
or
my property
were
concerned, I should
con-
12 Chatham ein bedeutender Debattenredner bezog massiv für John Wilkes Stellung und forderte die Umsetzung der Entscheidung des Wahlvolkes im Parlament. Er konnte allerdings bei der Mehrheit des Unterhauses keinen Stimmungsumschwung erreichen. Wilkes wurde der durch Wahl gewonnene Parlamentssitz aberkannt und statt seiner erhielt der trotz mehrmaligem eindeutigen Wählervotum unterlegene Mr. Luttrell das Mandat zuerkannt. -
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suit and be determined by the dictates of common sense. I confess, my lords, that I am apt to distrust the refinement of learning, because I have seen the ablest and the most learned men equally liable to deceive themselves, and to mislead others. The condition of human nature would be lamentable indeed, if nothin less than the greatest learning and talents, which fall to the share of so small a number of men, were sufficient to direct our judgment and our conduct. But providence has taken better care of our happiness, and given us, in the simplicity of common sense, a rule for our direction, by which we shall never be misled. I confess my lords, I had no other guide in drawing up the Amendment, [...]." (The Parliamentary History of England, Bd. XVI, S. 656). Common sense wird hierbei zu einem Schlüsselbegriff der Opposition,13 der bestimmte Leitideen des Parlamentarismus verkörperte und gleichzeitig innerparlamentarisch eine Konzeption von gesundem Menschenverstand einführte, die sich letztlich Locke verdankt. Der bekannte Redner, der sich gerne als ein Politiker stilisierte, dessen Leben den „dictates of common sense" unterworfen war, plädiert für eine Entscheidung auf der Basis einer alltäglichen praktischen Vernunft, die sich nicht durch die verwirrenden Argumente der Gelehrten (Lockes „bookish men") irre machen lässt. Im Anschluss an diese „Horned Cattle Session" folgte eine erbitterte Diskussion der Parlamentarier über den Einfluss der Wähler auf politische Entscheidungen durch Petitionen, die letztendlich die zentralen Argumente für die Wahlrechtsreform 1832 bereits antizipiert. Gerade im Rahmen der Debatte um die Wahlrechtsreform ist sehr häufig vom Geist des Hauses, vom „good sense" vom „public spirit" und natürlich vom common sense die Rede. Lord John Russell, der am 1. März 1831 den ,Ministerial Plan of Parliamentary Reform' darlegt, spricht von der Notwendigkeit, dass der „popular spirit" der Verfassung mit der Zunahme des Wissens und der Intelligenz angereichert werden muss. „To establish the Constitution on a firm basis, [...] to form a body, who representing the people, springing from the people, and 13
Bereits ein Jahr früher hatte sich Grenville, am dritten Februar 1769, in der Diskussion die Ausschließung des vom Volk gewählten Wilkes von seinem Amt auf das Schlüsselwort common sense berufen. Er rekurriert in der Verteidigung Wilkes auf den Signalbegriff common sense, wenn er sagt: „Upon this complicated charge, the House is now called upon to give a judgement for or against the question. It is a well known and undeniable rule in this House, founded in common sense, that whenever a question, even of the most trivial nature, is complicated, and contains different branches, every individual member has an indubitable right to have the question separated, that he may not be obliged to approve or disapprove in the lump, but that every part of the proposition should stand or fall abstractedly upon ist own merits." (The Parliamentary History, Bd. XVI, S. 551). Der common sense bietet also im parlamentarischen Alltag einen Bezugsrahmen der dem einzelnen als Richtschnur bei schwierigen politischen Entscheidungen dienen kann. Im Kontext der Wilkes' Debatte wurde auf den Verlust des „good sense" (ebd., S. 590) hingewiesen, ebenso auf die Tradition, denn „custom is the law of parliament (ebd., S. 590). Im Annual Register for 1769 steht außerdem, dass das Parlament in der Diskussion über Wilkes: „must totally forget the common sense" (ebd., S. 592). um
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sympathising
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with the people, can fairly call on the people to support the future burthens of the country, and to struggle with the future difficulties which it may have to encounter [...]." (Hansards Parliamentary Debates, Third Series; Bd. II, S. 1089) Sir Robert Harry betont, dass die Verfassung wie ein gewachsener Baum erscheint. (Vgl. ebd., S. 1097) Burke, der sich als Sprachrohr des common sense inszenierte, ist eher ein Gegner der Reform und wird auch entsprechend von Sir J. Sebright in dessen Diskussionsbeitrag eingebaut und zitiert. „These new interests must be let into a share of representation", dann fährt er mit seiner eigenen Vorstellung einer passenden Verfassung fort: „The present system, I have already said, admits all classes, Jets in all interests, and invites all talents. Under that system men of abilities are introduced to the House, without the necessity of mob patronage, or the profession of mob oratory. It is only under a system like the present, that men, unconnected by birth or by residence with counties or large towns, can ever hope to enter this House [...]." (Ebd., Bd. II, S. 1110) Sir Charles Witherell schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er betont „His hon. Friends had shewn that it had not much common sense to recommend it; and it was directly contrary to the law of the land." (Ebd., Bd. II, S. 124) Zu diesem Zeitpunkt wird in den Debatten auch häufig auf die Notwendigkeit der Einbindung der öffentlichen Meinung rekurriert um die Entscheidungsfindung zu vereinfachen und um eine angebliche Unterstützung für die eigenen Vorstellungen nachzuweisen. „In this situation the minister had watched the progress of public opinion, and found it decidely averse to the proposal." (Vgl. ebd., Bd. X, S. 94) In einem anderen Kontext zeigt sich Mr. Hay, ein Anhänger Walpoles verärgert über die Freiheit der Presse die instrumentalisiert wird, um bestimmte, ihm nicht genehme Interessen zu verfolgen. „Sir, there is not a shopkeeper, nay not a porter in the streets who does not understand these arguments, who does not think himself qualified to be a minister of state, and that he has as good a title to judge of the measures of the government, as any gentleman in this House, or all the gentlemen taken together. Any man who flatters the vanity of a mob, will always have the mob on his side." (Vgl. ebd., Bd. X, S. 378) Die Hypothetische Verbindung zum Volk wird in den Debatten häufig hergestellt um die eigenen Argumente zu untermauern. (Vgl. ebd., Bd. X, S. 866) Man war sich jedoch durchaus über die Käuflichkeit, Instrumentalisierbarkeit und Unwissenheit der Masse im Klaren. Deshalb werden in den Diskussionen dem politischen Gegner oft die Verführung des Volkes und das Abweichen vom richtigen Sinn und den wahren Interessen vorgeworfen. (Vgl. Bd. XIII, S. 1357) Eine wichtige Debatte über die Besteuerung Amerikas benutzte Chatham im Jahre 1775, um sich als Anhänger Lockes darzustellen, wenn er in einer flammenden Rede gegen die Besteuerung darauf verweist, dass „Property is private, individual, absolute." Er beruft sich auf den „Whiggish spirit", wenn
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betont „[...] that no subject of England shall be taxed but by his own consent." (The Parliamentary History of England, Bd. XVIII, S. 153f.) Pitt bemüht hier zwar den common sense nicht explizit als Argumentationstopos, er spricht aber von einem „Common Cause" der Whigs, der die uneingeschränkte Verfügungsmacht über den eigenen Besitz impliziert. Gemeint ist damit eine Berufung auf einen vorgängigen Konsens. Dieser kann in der täglichen Praxis verortet und im parlamentarischen Diskurs immer wieder aufgerufen und als Entscheidungsgrundlage beansprucht werden. Ein wichtiges Moment in der Diskussion über den common sense ist die Französische Revolution. Gerade Burke wurde im Rahmen seiner häufig vorgetragenen Gründe gegen die Französische Revolution oft angegriffen und karikiert. In diesem Kontext wurde der Begriff des common sense auch von der Seite der Anhänger der Revolution in Anspruch genommen. Mr. Windham verteidigt das Vorgehen der Revolutionäre gegen Räuber, Mörder und Verbrecher gegen die menschliche Natur. „To say that such a war was er
not just, was an
outrage against
common
sense."
(The Parliamentary History
of England, Bd. XXXII, S. 298) Mr. Erskine hingegen beruft sich auf Burke, um die positive Situation in England zu unterstreichen. „[...] will see by this, that the word equality is not a word of new coinage, and introduced into the dictionary only three years ago, but a word of long and ancient usage, and stamped with the sanction of such an authority as that of Mr. Burke." (The Parliamentary History of England, Bd. XXXII, S. 319) Was den politisch-praktischen und den philosophisch-literarischen Diskurs über den common sense und die repräsentative Verfassung betrifft, so lässt sich immer wieder ein instrumenteller Umgang mit dem Begriff und dem Gedankengebäude common sense feststellen. Man kann sich Clifford Geertz anschließen der „den common sense als einen relativ geordneten Gesamtkomplex bewußten Denkens behandelt" (Dichte Beschreibung, S. 263), was gerne geleugnet wird obwohl es sich in seinem Kontext sehr wohl um gedanklich reflektierte Erfahrung handelt. Es lassen sich zumindest zwei zentrale Diskursstränge isolieren, in denen sich die Auseinandersetzung um die jeweilige Ordnungsform massiv zuspitzt und die sich zumindest teilweise mit historischen Phasen identifizieren lassen. Als erster Diskursstrang wäre eine eher „konservative" Inanspruchnahme und Ausdifferenzierung von common serae-Argumenten zu nennen. Besonders während der Amtszeit Robert Walpoles als „Premier", der mit Unterbrechung von 1715 bis 1742 im Amt war, griff die Opposition immer wieder Korruption in der Form der Bestechung von Abgeordneten (Ämterpatronage) und Wählern (treatment) an. Sie wehrte sich gegen die Etablierung der parlamentarischen Regierungsform, indem sie sich auf den Begriffsrahmen des common sense berief. Dieser wird hier mehr und mehr zu einem Leittopos
Theo Stammen/Susanne Schuster
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parlamentarischer Vorstellungen im Medium oppositioneller Diskurse und regierungsfreundlicher Entgegnungen. Der zweite wichtige Diskursstrang umfasst nochmals in sich stark differenziert eher progressive Positionen. Historisch verankert ist dieser Diskursstrang in den Ereignissen um die Wahlrechtsdebatten des 18. Jahrhunderts, die Unabhängigkeit Amerikas (1775-1783 Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg) und Auseinandersetzungen in der Folge der Französischen -
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Revolution. In diesem sich formierenden Diskurs wird erneut von den mit der Exekutive unzufriedene Gruppierung auf den common sense abgehoben und die Kritik der verfassungspolitischen Entwicklung über diese Berufung abgestützt.
Schlussbemerkung Das Bedürfnis nach Konsens, nach sozialer Harmonie war im England des 18. Jahrhunderts sehr stark. Diese Suche nach einigenden Ideen hatte sicher viele Gründe doch entscheidende Auslöser waren laut Ford die „importierten Könige" und die Aufspaltung der politisch Aktiven in Whigs und Tories. (Vgl. Ford, S. 9f.) Wie eingangs vermutet erweist sich der Topos des common sense in Krisenzeiten und Phasen struktureller Transformation als ein stabilisierendes intellektuelles Konzept, weil es für verschiedene politische Optionen anschlussfähig und zugleich im Sinn eines eben doch bloß überlappenden und nicht deckungsgleichen Konsenses differenziert konnotierbar ist. Mag es auch manchmal nur die appellative Anrufung eines diffusen Gemeinsamen sein, die ihn so prominent werden lässt, man wird aus systematischer Perspektive sagen können, dass es genau diese Struktur ist, die das Konzept so hervorragend für den Diskurs im legitimatorischen Feld des Parlamentarismus fruchtbar macht. Es ist sicher nicht zuletzt der Begriff eines gemeinsamen und allgemeinen common sence, der evolutionäre Entwicklungen begünstigt hat, eben weil er sich hervorragend für einen in politischen Grundfragen relevanten diffusen Konsens eignet.
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Kommentar ChristofDipper Das 1996
schaftliche
begonnene Schwerpunktprogramm der DFG „Ideen als gesellGestaltungskraft im Europa der Neuzeit" wurde initiiert, um der
,Neuen Geistesgeschichte'1 in der Bundesrepublik vollends zum Durchbruch verhelfen und insbesondere die Geschichtswissenschaft, die dabei den größten Nachholbedarf hatte, international anschlussfähig zu machen. Für die Bedeutung dieses Vorhabens spricht, dass es ein seltener, wenn nicht singuzu
Vorgang fand.2
alsbald
lärer
Eingang in ein wissenschaftliches Nachschlagewerk -
-
Worum es nach Meinung der Auslober gehen sollte, sei kurz rekapituliert: Mit Peter Burke zu sprechen, gegen eine Sozialgeschichte ohne Denken, aber auch gegen eine Geistesgeschichte ohne Gesellschaft.3 Ob Ideen als Denkstile, als Wissensordnung oder als Kommunikationsprozesse verstanden werden: Sie sollten jedenfalls als „Weichensteller"4 gelten und folglich wäre ihre Relevanz für menschliches Handeln zu prüfen. Der im Grundlagen- und Ausschreibungstext immer wieder betonte Gesichtspunkt der Wirkungsmächtigkeit von Ideen und der Hinweis, dass diese sich dafür mit Interessen verbünden müssen, war natürlich im Hinblick auf die überlebte Art und Weise geschrieben, wie in Deutschland jahrzehntelang Geistesgeschichte betrieben worden war: als Gipfelwanderung ,großer' Ideen, Kopfgeburten ,großer' Geister und mit der Welt der .Realien' nur in lockerem Zusammenhang;5 Friedrich Meinecke stand zuletzt für diese Tradition, die freilich auch einmal die Weltgeltung deutscher Geschichtsschreibung ausgemacht hatte. An diese Ausgangsbedingungen wird hier erinnert, weil sie für die Auswahl der Antragsteller maßgeblich waren und einen Maßstab für die Ergebso jedenfalls das Selbstverständnis dieses nisse ihrer Arbeiten liefern Kommentars. Die Forschungsarbeiten zu Politik-Diskursen des 16. bis 18. Jahrhunderts, die in dieser Sektion zusammengefasst sind, spannen mit England und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zwei sehr verschiedene Erschei-
1 Die Terminologie ist uneinheitlich, der wichtigste Alternativbegriff lautet nicht von ungefähr Neue Kulturgeschichte; deren inzwischen sehr gewachsenes Selbstvertrauen lässt
sich am zunehmenden Verzicht auf das Etikett ,neu' ablesen. 2 Hübinger, Gangolf: Geistesgeschichte, in: Jordan, Stefan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 101-104, hier S. 103. 3 Burke, Peter: Eleganz und Haltung. Die Vielfalt der Kulturgeschichte, Berlin 1998. Ders., What is Cultural history?, Cambridge 2004. 4 So vor ziemlich genau hundert Jahren: Weber, Max: Die protestantische Ethik und der „Geist" des Kapitalismus, Tübingen 1904/05, 2. Aufl. 1920. In der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft genießt diese Methode als Dogmengeschichte immer noch erhebliches Renommee.
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Christof Dipper
nungsformen
frühneuzeitlicher Staatlichkeit zusammen, jedenfalls was ihre Institutionen und die davon abgeleiteten politischen Handlungsspielräume der politischen Eliten betrifft. Nähere Ausführungen hierzu erübrigen sich. Immerhin haben wir es aber auch mit zwei Systemen zu tun, in denen der Absolutheitsanspruch6 der Monarchen immer wieder mit Erfolg abgewehrt worden ist. Weniger groß sind auch die Unterschiede im Hinblick auf die religiösen Konflikte und Verwerfungen. Sie haben, in unterschiedlicher Form zwar, zu dauerhaftem konfessionellem Nebeneinander geführt, das im damaligen Europa nur noch in der Eidgenossenschaft und den Vereinigten Niederlanden zu besichtigen war. Insofern ist es nicht unberechtigt, die PolitikDiskurse in diesen beiden Staaten miteinander zu vergleichen. Luise SchornSchütte betont ausdrücklich, dass es in dieser Hinsicht keine nationalen Sonderwege gegeben habe und dass eine entsprechend angelegte Forschung überfällig sei. Zusammengespannt sind freilich auch zwei Wissenschaften, die bei aller Nähe verschiedenen Entwicklungslogiken gehorchen und Fachinteressen
verpflichtet sind. Kulturgeschichte
Aber gerade der übergreifende Anspruch der modernen erlaubt wieder einen Dialog zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft, den es im Zeichen klassischer Ideengeschichte bereits einmal gab, der aber durch die unterschiedliche Entwicklung der beiden Fächer seit den 1960er Jahren so gut wie abgebrochen war. Der Prozess der Widerannäherung hat allerdings zur Folge, dass in den methodologischen Einleitungen der vorstehenden Beiträge nicht nur immer wieder dasselbe gesagt wird, sondern auch von den einen Erkenntnisse als neu verkündet werden, die den anderen als so selbstverständlich gelten, dass sie sie keiner Erwähnung für wert befinden. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass der Dialog die Fachgrenzen noch nicht überwunden hat. Rekapitulieren wir also in aller gebotenen Kürze die Ergebnisse der vier vorstehenden Beiträge. Raimund Ottows Beitrag rekonstruiert einen von Diskursen gesteuerten politischen Wettbewerb, indem er fragt, wie diese sich in England zwischen 1550 und 1650 zueinander verhalten haben. Er sieht dabei drei strategische Bündnisse am Werk, die das Land in je verschiedene Richtung lenken wollten, zwei Verlierer und einen Sieger. Die Verlierer sind jedenfalls à la longue auf der einen Seite die Vertreter von Krone und Kirchenestablishment, deren Denken um das „Divine Right of Monarchy" kreist, für das sie sich politisch auf den Gedanken der Staatsräson und rechtlich auf das als „Civil Law" bezeichnete Kirchenrecht stützen, und auf der anderen die Minderheit der Späthumanisten, denen es wenig hilft, dass ihre -
6
-
Mit aller Vorsicht sei dieser Begriff gebraucht, der in den letzten zehn Jahren zunehmender und berechtigter Kritik ausgesetzt ist und derzufolge von Absolutismus allenfalls noch in Kleinterritorien mit ihren für den Fürsten überschau- und daher auch kontrollierbaren Verhältnissen gesprochen werden kann.
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Kommentar
präzisen historischen Forschungen Mythen untergraben. Die Sieger nämlich benötigen diese Mythen,7 um ihr Konzept einer durch das „Common Law" beschränkten Monarchie zu formulieren ein diskursives Geflecht, das noch weitere Gesichtspunkte aufnahm und ab 1640 zunehmend den dann für beinahe zwei Jahrhunderte maßgeblichen Begriff der „Ancient Constitution" prägte. Da Ottow wie alle orthodoxen Diskurstheoretiker die Sachgeschichte' nicht in einem Spannungsfeld zu seinen Diskursen sieht, stellt sich für ihn die Frage gar nicht, ob die Revolution ein Sieg der Worte oder der .Sachen' -
,
Derlei Gedanken verraten nicht Ketzerei, sondern überholte Wissensformen, die sich mit der Zeit selbst erledigen.
war.
Fragen nach der Sachgeschichte' geht auch Luise Schorn-Schütte, anders als sonst, in ihrem Beitrag aus dem Weg. Ihre Diskursanalyse rekonstruiert Obrigkeitskritik, die von unvermuteter Seite kommt: von lutherisch inspirierten Juristen und Theologen. Die Entdeckung einer mit Politikberatung befassten „Kommunikationsgemeinschaft" in den protestantisch gewordenen Territorien des Alten Reichs, der sie das den Quellen entnommene Etikett der „política Christiana" verleiht, lässt sie fordern, die seit Troeltsch und Weber unablässig wiederholte Sonderwegsthese einer im Luthertum von Anbeginn an anzutreffenden Trennung von Politik und Religion aufzugeben. Man habe es hier mit einem eigenen Begriff des Politischen zu tun, mit einer „politischen Theologie" avant la lettre, deren Bedeutung für die praktische Politik gar ,
nicht überschätzt werden könne: ihr sei es ausschließlich um Herrschaftsbegrenzung und Widerstand gegangen. Der Überblicks- und Bilanzcharakter ihres Beitrags bringt es mit sich, dass den diskursiven Strategien vergleichsweise wenig Platz eingeräumt wird zugunsten allgemeiner Informationen über die fünf Generationen kritisch-besorgter Gelehrter zwischen 1500 und 1610: generationsspezifische Merkmale; Quellen, Rahmenbedingungen und Adressaten.
Schorn-Schüttes Schüler Matthias Weiß ersetzt das Fünf-Generationen- durch ein Drei-Phasen-Modell des von Diskursen gesteuerten Konflikts um die Auslegung der christlichen Ethik im Hinblick auf die politische Ordnung. Auch ihm fällt die Ambivalenz der „política Christiana" auf, die die Herrschaft des von Gott eingesetzten Fürsten für unantastbar erklärte und eben deswegen die Theologen ermächtigte, den Fürsten zu erziehen und zu beraten. Der lutherische Vertrauensvorschuss für die Obrigkeit, der die ersten beiden Phasen bestimmte allerdings nicht ohne dabei gelegentlich daran zu erinnern, dass es ein Widerstandsrecht gebe, falls der Fürst gegen Gottes -
7
Ich habe große Zweifel, ob man als orthodoxer Anhänger der Cambridge School mit ihrem Ziel einer verstehenden Theorie der Kommunikation einen Wertbegriff wie „Mythos" verwenden darf.
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Christof Dipper
Gebot verstoße -, machte in der dritten einer Tendenz zur erneuten Trennung der weltlichen von der geistlichen Sphäre Platz. Ursache seien sich als überlegen abzeichnende Diskurse gewesen: die neue akademische Disziplin der .Politik' und die Heraufkunft der nachscholastischen Naturrechtslehre. Theo Stammen schließlich geht der Funktion des „common sense"-Diskurses in England zwischen 1688 und 1832 nach. Genauer gesagt: Er möchte prüfen, inwieweit man davon sprechen kann, dass dieser Diskurs den Parlamentarismus gesteuert habe. Die fünf bekanntesten Theoretiker Locke, Shaftesbury, Bolingbroke, Hume und Burke, von denen einige auch politische Praktiker waren, sollen ihm die Antwort liefern. „Common sense", so Stammen, war ein nicht eng definierter, also inhaltlich in gewissem Sinne ausdeutbarer, aber in jedem Falle positiv besetzter Wertbegriff, der in Krisenzeiten und Umbruchphasen Orientierung bot und Stabilisierung versprach. Niemand habe sich erlauben können, ihn zu ignorieren oder gar gegen ihn zu verstoßen. Deswegen könne man den englischen Parlamentarismus in jener Zeit auch als Projekt zur Umsetzung der Idee des „common sense" verstehen. Mit Hans-Christoph Schröder könnte man dies auch als „Verfassungsadoration" bezeichnen,8 jene politisch dominante Haltung zwischen „Glorious Revolution" und Reformkrise, die von selbstreferenzieller Geschichtspolitik „Whig interpretation of history" nicht frei war. Man könnte andererseits aber auch auf Thomas Paine hinweisen, der Anfang 1776 auf der anderen Seite des Atlantiks ein Buch herausbrachte, das er, der Engländer, zweifellos nicht ohne Absicht „Common Sense" nannte und in dem er den englischen Parlamentarismus seiner Zeit als unvereinbar mit den „Rights of an Englishman" bezeichnete. Sein Buch überzeugte die Kolonisten, den entscheidenden Schritt sofort zu tun: die Lossagung vom Mutterland.
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Paines „common sense"-Verständnis kann man Gestaltungskraft wohl kaum absprechen. Selten hat ein Pamphlet in kurzer Zeit so viel, ja geradezu Weltwirkung erreicht. Wie die von Stammen herangezogenen Autoren auf prozedurale und institutionelle Strukturen eingewirkt haben, wird in seinem Beitrag nicht gesagt. Vielleicht ist das der Kürze geschuldet, vielleicht sollte dieser „common sense"-Diskurs aber auch gerade Änderungen vermeiden helfen. Was die Gestaltungskraft von Ideen betrifft, von der dieses Schwerpunktprogramm handeln sollte, so tappt der Leser bei allen vier Beiträgen im Dunkeln. Das rührt daher, dass die Autoren sich für die Diskurstheorie entschieden haben. Von dieser existieren bekanntlich teils mehr, teils weniger 8
Schröder, Hans-Christoph: „Ancient Constitution". Vom Nutzen und Nachteil der ungeschriebenen Verfassung Englands, in: Vorländer, Hans (Hrsg.): Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 137-212, hier S. 153.
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Kommentar
orthodoxe Varianten, und mit Ausnahme von Stammen rechnen sich alle anderen ohne Frage zur ersteren. Im Ergebnis unterscheidet sich Stammen allerdings, wie berichtet, nicht von ihnen: Es werden keine Geschichten geliefert, in denen von Ideen gesellschaftliche (oder auch politische) Gestaltungskräfte ausgegangen sind aber nicht weil es diese nicht gab, sondern weil dies für die reine Lehre der Diskurstheorie irrelevant ist. Ihr zufolge gibt -
.Sachen', nur diskursive (und symbolische) Handlungen. Gegen diesen wissenschaftlichen Ansatz lassen sich sehr plausible Einwände vorbringen, die hier nicht noch einmal wiederholt zu werden brauchen.9 Inwieweit freilich mit solchen Einwänden Proselyten gemacht werden können, ist mindestens zweifelhaft, da gerade die Diskurstheorie vielfach wie es
keine
ein aus
Glaubenssystem vorgetragen wird. Nur ein Einwand sei gestattet, weil er meiner Sicht den Selbstwiderspruch dieser Theorie, jedenfalls in ihrer
orthodoxen
Version, sichtbar macht. Wenn nämlich Schorn-Schütte die Beg-
wegen ihrer Unterscheidung zwischen Wort und Sache als einen wissenschaftlichen Irrtum bezeichnet, so wäre zu fragen, wie so ein Werturteil von einer Theorie formuliert werden kann, die sich ausdrücklich nicht als solche bezeichnet, sondern als ,Sprache'. Theorien können natürlich wahr oder falsch sein, aber Sprachen? Mir scheint, hier liegt eine Aussage vor, die im Horizont des eigenen Ansatzes unmöglich, bzw. in der Sprache dieser Sprache' nicht sagbar ist. Die Beschränkung auf das Thema Kommunikation bzw. der Verzicht auf die Wirkungsgeschichte bringt den Nachteil mit sich, dass der Leser nicht erfahrt, wie relevant alle diese hier geschilderten Diskurse tatsächlich waren. Für die „common sense"-Debatte wurde dies schon bemerkt. Es gilt aber auch für Ottows Beitrag, in dem es den Anschein hat, als sei das .Gespräch' der drei untersuchten Diskurse folgenlos für England geblieben. Oder kapituliert er vor der Komplexität des wahren Lebens? Denn ganz am Ende sagt Ottow, wie die Menschen tatsächlich gedacht haben, erschließe sich nicht aus der unentwirrbaren Mischung unterschiedlicher (Sprach-), sondern am ehesten aus ihren realen Handlungen, dem Verhalten. Und der revisionistische Gestus in Schorn-Schüttes und Weiß' Beitrag wirkte überzeugender, wenn die Strategien der Herrschaftsbegrenzung im Zeichen der „política Christiana" nicht nur als Bestandteil der Kommunikation lutherischer Gelehrter vorgeführt würden. Wer die Forschung kritisiert, dass sie dem Luthertum durchweg obrigkeitsstaatliches Denken attestiert, und nun Autoren präsentiert, die davon reden, notfalls auch biblisch gesprochen „dem Rad in die Speichen
riffsgeschichte
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9
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Etwas grobschlächtig und daher nicht einmal die eigenen Anhänger überzeugend Evans, Richard J.: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/M./New York 1998. Lesenswerte Beiträge von Thomas Mergel, Lutz Raphael und Ernst Hanisch in: Hardtwig, Wolfgang/Wehler, Hans-Ulrich (Hrsg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996.
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Christof Dipper
fallen" zu müssen, der sollte auch lutherisch geprägte Staatswesen nennen, in denen diese Strategien tatsächlich verfangen haben. So bleibt als Ertrag dieser beiden Beiträge, dass sie eine bisher verkannte, wenn nicht unbekannte Spielart der politischen Theorie zu Tage fördern. Die „política Christiana" sperrte sich gegen den Trend zur Trennung des Politischen von der Religion. Ob sie damit die religiösen Konflikte im Reich verschärft hat, muss an dieser Stelle offen bleiben. Für England ist dagegen klar, dass trotz der Reformation kein religiös geprägter Diskurs in das Streitgespräch der Parteien eingebrochen ist.10 Offenbar bestand hierfür kein Bedarf, denn die hergebrachten diskursiven Elemente boten ausreichend Material im säkularen Konflikt zwischen Krone und Parlament. Mit dem Sieg des letzteren 1688 verlagerten sich die Anforderungen an die politische Theorie auf andere Felder. Parallel zur Entwicklung des Parlamentarismus entwickelte sich die Idee des „common sense". Sein Vorteil war, dass er keiner bestimmten Partei zugehörte. Auf ihn beriefen sich stattdessen vorzugsweise jene, die mit der Exekutive unzufrieden waren, aber es blieb immer ein Terminus im Dienste des Konsenses. Vergleichbares wird damals nicht man in der deutschen politischen Kultur schwerlich finden und später erst recht nicht. -
10
Ob dies auch für die radikalen Entwürfe der Levellers und Diggers gilt, sei dahingestellt. Sie bleiben bei Ottow außer Betracht. Zu denken wäre auch an die nach Amerika ausgewanderten Puritaner, namentlich diejenigen, die die Theokratie von Massachusetts gründeten.
IL Theorien in Recht, Politik und
Gesellschaft
Zur Ideengeschichte des Völkerrechts 1870-1939 Michael Stolleis
folgende knappe Bericht über ein im Wesentlichen abgeschlossenes Projekt wird sich zunächst dem allgemeinen ideengeschichtlichen Hintergrund und der Entwicklung des Völkerrechts vor und nach dem Ersten Weltkrieg zuwenden (I). Anschließend wird über das Projekt und seine Ergebnisse berichtet (II). Der
I.
Spricht man über „Geschichte des Völkerrechts", dann versteht man darunter in Deutschland und speziell an den Juristischen Fakultäten die Geschichte der allgemeinen und besonderen Regeln des Internationalen Rechts von der Antike bis zur Gegenwart.1 Von allgemeinen Regeln spricht man dann, wenn es sich um solche geschriebenen oder ungeschriebenen (gewohnheitsrechtlichen) Rechtsregeln zwischen Staaten handelt, die seit langem anerkannt sind und zum Bestand des Weltvölkerrechts gezählt werden. Solche Regeln gibt es seit der Antike. Insbesondere aber in der Neuzeit, vor allem seit Hugo Grotius Werk De jure belli ac pads (1625), wurden solche Regeln von der Doktrin entwickelt, von der communio doctorum akzeptiert und in Völkergewohnheitsrecht transformiert. Heute sagt das Grundgesetz, dass jene „allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes" seien. „Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes" (Art. 25 GG). Unter besonderen Regeln des Völkerrechts versteht man das zwischen den
Staaten vereinbarte Völkerrecht, also im Wesentlichen das Recht der zwischenstaatlichen Verträge. Diese Regeln haben keine allgemeine Geltung, sie sind Teil der Verträge und von deren Geltung abhängig. Die allgemeinen Regeln des frühneuzeitlichen Völkerrechts des 17. und 18. Jahrhunderts stammten aus dem sogenannten Naturrecht, also aus dem antiken und kirchlich-scholastischen Normbestand, soweit er sich dazu eignete, das zwischen Völkern und ihren Regenten umstrittene „Gute" und „Gerechte" oder rechtlich „Zulässige" zu bestimmen. An den Universitäten und Ritterakademien wurde „Natur- und Völkerrecht" gelesen, zunächst lange ' Nussbaum, Arthur: Geschichte des Völkerrechts, München/Berlin 1960; Ziegler, KarlHeinz: Völkerrechtsgeschichte, München 1994; Grewe, Wilhelm G.: The Epochs of International Law, Berlin/New York 2000.
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Grundlage von Grotius, dann im 18. Jahrhundert nach Emer de Vattel, Burlamaqui, Barbeyrac, Glafey, Heineccius, Johann Jakob Moser, Johann Jakob Schmauß, Achenwall-Pütter und vielen anderen.2 Insgesamt Zeit auf der
handelte es sich um ein Fach für künftige Regenten, Diplomaten und Geheime Räte. Man erfuhr dort das Nötige über die Prinzipien der Souveränität der Staaten, über ihre Rangverhältnisse, das Gesandtschaftswesen, Zeremonialrecht, Landerwerb und Landverlust, über Friedens- und Kriegsvölkerrecht (ius ad bellum, ius in bello) usw. Es war, wie sich Carl Schmitt ausgedrückt Sein Zweck war es, die hat, das „Völkerrecht des Jus Publicum absolutistisch regierten Staaten in geregelten Beziehungen zu halten, den jederzeit möglichen Rückfall in den gefürchteten Naturzustand zu verhindern, den Krieg zu „hegen" und die zwischenstaatlichen Reibungsverluste möglichst zu minimieren. Diese so genannte klassische Epoche des alteuropäischen Völkerrechts ging jedoch mit der Französischen Revolution zu Ende.4 Nun waren die Kriege von Kabinetts- zu Volkskriegen geworden. Ganze Völker wurden zu den Waffen gerufen (levée en masse, allgemeine Wehrpflicht). Die ehemals so betonten Grenzen zwischen Militär und Zivilbevölkerung verwischten sich zunehmend. Erstmals gab es die so genannte Guerilla (in Spanien gegen Napoleon). Stufenweise veränderte sich das Kriegsvölkerrecht. Aber auch das Friedensvölkerrecht verschob sich seit dem Wiener Kongress. Nicht mehr absolutistische Monarchien sondern Völker standen sich nun gegenüber. Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts, die überall sich regenden nationalen Freiheitsbewegungen und die diaphan werdenden Staatsgrenzen veränderten die Szenerie. Das auf das Naturrecht gegründete Völkerrecht hatte seinen Zenit längst überschritten. Seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts argumentierte man kaum noch naturrechtlich. Das bedeutete, dass sich jetzt erstmals Stimmen erhoben, die ein Völkerrecht prinzipiell leugneten. Für sie war der „Staat", gar der „sittliche Staat" der Gipfel menschlicher Entwicklung. Externen Bindungen konnte dieser Staat nicht unterworfen sein. Hegel war hier einer der wichtigen StichwortDie nach Hegels Tod sich bildende Gruppe der hegelschen Rechten erkannte nur den Staat an. Alles Völkerrecht, wenn es ein solches überhaupt geben sollte, hing vom Staatswillen ab. Konsequent zu Ende gedacht führte
Europaeum".3
geber.5 2
Conrads, Norbert: Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1982; Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1600-1800, München 1988 m. w. Nachw. 3 Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde, Köln 1950. 4 Grewe, Wilhelm G.: Was ist „klassisches", was ist „modernes" Völkerrecht, in: Böhm, Atexandei/Lüderssen, Klaus/Zieg/er, Karl-Heinz (Hrsg.): Idee und Realität des Rechts in der Entwicklung internationaler Beziehungen, Baden-Baden 1983, S. 111-131. 5 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821,
§§331-340.
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dies zur Leugnung des Völkerrechts mit dem Argument, ein Recht müsse, um als solches zu gelten, auch zwangsweise durchgesetzt werden können. Hieran fehle es bekanntlich beim Völkerrecht, weil es keinen über den Staaten stehenden Zwangsapparat gebe.6 Die hegelsche Linke (A. Ruge, B. Bauer), soweit sie sich überhaupt zum Völkerrecht äußerte, betrachtete die Staaten entweder als Instrumente der Bourgeoisie und sprach von Klassenkämpfen oder sie erwartete ein Völkerrecht erst in einer utopischen Zukunft.7 Bei den das Völkerrecht pflegenden Juristen, von Johann Ludwig Klüber, dem wichtigsten Autor nach 1814, über den Göttinger Georg Friedrich von Martens, den Begründer des berühmten Recueil Martens, einer Sammlung völkerrechtlicher Dokumente, bis zu Karl von Kaltenborn und Ferdinand von Martitz in der Mitte des Jahrhunderts zeigt sich eine gewisse Ratlosigkeit und inhaltliche Leere, besonders nach 1849. Was sollten sie auch völkerrechtlich lehren? Der Nationalstaat war gescheitert, der deutsche Bund war wiederbelebt worden. Eine tragende theoretische Idee wie die des Naturrechts gab es nicht mehr. Das Sammeln völkerrechtlicher Dokumente befriedigte kaum. Es war die Epoche des völkerrechtlichen Positivismus.8 Aber die Lage ändert sich rasch. Es vermehren sich im Zuge der Internationalisierung des Warenaustauschs und des Verkehrs die internationalen Verträge (Télégraphie, Post, aber auch Fischerei). Die Epoche der Revolutionen fordert das Völkerrecht permanent heraus, etwa in der Frage der internationalen Anerkennung revolutionärer Regierungen, in der Frage der Neutralität, des Asylrechts usw. Erstmals gibt es Forderungen nach Anerkennung von Volksgruppenrechten und nach Autonomie. Die europäischen Mächte greifen imperialistisch in den Nahen Osten und nach dem Fernen Osten aus. Das europäische Völkerrecht wird Weltvölkerrecht. England dominiert auf dem Gebiet des Seerechts und formt es um. Es entsteht das humanitäre Kriegsvölkerrecht (Genfer Abkommen zum Schutz der Kriegsopfer, 1849, Rotes Kreuz, 1863, Verbote bestimmter Waffenarten), eine Bewegung, die schließlich auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 zu einem gewissen Abschluss gebracht wird.9 An diesen historischen Kontext war skizzenhaft zu erinnern, weil er die Folie bildet für die vielfältigen ideengeschichtlichen Bewegungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es ist eine Zeit der Neuorientierung, des 6
LUderssen, Klaus: Genesis und Geltung im Völkerrecht am Beispiel der Theorie des Hegelianers Adolf Lasson, in: ders. u.a.: Idee und Realität, S. 133-151. 7 Löwith, Karl (Hrsg.): Die Hegelsche Linke, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962; Lubbe, Hermann (Hrsg.): Die Hegelsche Rechte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962. 8 Eine knappe Einführung in das europäische Völkerrecht des 19. Jahrhunderts bei Koskenniemi, Martti: The gentle Civilizer of Nations, Cambridge 2001, S. 19ff. 9 Neuere Darstellungen in der vom Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Prof. R. Bernhardt) herausgegebenen Encyclopedia of International Law. -
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Suchens und des internationalen Austauschs. Man findet nebeneinander: Die aus dem Geist des deutschen Idealismus geborene Idee des sittlichen Staates als Endpunkt menschlicher Entwicklung, verbunden mit der Leugnung des Völkerrechts (Adolf Lasson), „Völkerrecht ist juristisch Recht nur, wenn und soweit es Staatsrecht ist", sagte etwa Philipp Zorn, der das Deutsche Reich auf den Haager Konferenzen vertrat. Ähnlich betont aber auch der englische Rechtstheoretiker John Austin den Befehlscharakter des Rechts und kann deshalb das Völkerrecht nur als staatlichen Normbefehl anerkennen; im Übrigen gehöre es in die Ethik. Weiter gibt es die Idee eines universellen, Staats- und Völkerrecht einschließenden Rechts aus dem Geist des katholischen Kirchenrechts und des Neo-Thomismus, der während des ganzen 19. Jahrhunderts, speziell aber seit dem Vaticanum I Geltung beanspruchte. Daneben entsteht der ebenso universell angelegte internationale Pazifismus, der ein verweltlichtes humanitäres Naturrecht anstrebt, Friedenskonferenzen anregt, die Kodifikation eines Welt-Völkerrechts vorschlägt.10 Schließlich gibt es die Mehrzahl der pragmatischen Völkerrechtsjuristen, die einem dualistischen Modell anhängen, also dem geschlossenen und durchsetzbaren Staatsrecht auf der einen, dem universellen, aber sanktionslosen Völkerrecht auf der anderen Seite.11 In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kommt eine weitere monistische Völkerrechtstheorie hinzu, diesmal nicht aus dem Geist des idealistischen Pazifismus, sondern aus einer neukantianisch fundierten Wissenschaftstheorie. Es ist die Konzeption einer alle Rechtsnormen umfassenden Rechtslehre der Wiener Schule (Kelsen, Merkl, Verdross).12 Bemerkenswert dabei ist, dass der eigentliche Völkerrechtler dieser Gruppe, Alfred Verdross, sich in den dreißiger Jahren wieder dem thomistischen Naturrecht und der spätscholastischen Naturrechtsschule von Salamanca zuwendet und dort die eigentliche Fundamentierung des Völkerrechts sucht.13 Die hier für Deutschland bezeichneten Tendenzen spiegeln die internationale Ideengeschichte des Völkerrechts nur unvollkommen. Das liegt daran, dass Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert keine wirklich bedeutende Rolle im Völkerrecht spielt. Zwar wird seine Rechtswissenschaft, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie bis 1933 international beachtet. Das Völker10
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staaten als Rechtsbuch dargestellt, Nördlingen 1868. 11 Triepel, Heinrich: Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899. 12 Bernstorff, Jochen von: Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001 ; zur Wiener Schule Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1914-1945, München 1999, S. 163ff. 13 Verdross, Alfred: Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, Tübingen 1923; ders.: Völkerrecht, Berlin 1937 (fortgeführt Wien 1950, 1955, 1959, 1964, unter Mitarbeit von S. Verosta, K. Zemanek.
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recht spielt dabei aber eher eine Nebenrolle.14 Das lässt sich relativ einfach erklären: Vor 1914 ringt das Reich als newcomer um Anerkennung, vor allem mit England, nach 1919 ist es im „Kampf gegen Versailles" in Verteidigungsstellung. Immerhin: In Deutschland selbst dominiert zunächst J. C. Bluntschli. Daneben gibt es eine ganze Reihe positivistischer Lehrbücher (Gareis, K.: Institutionen des Völkerrechts, 1888; Heilborn, P.: Das System des Völkerrechts, 1896; v. Ullmann, E.: Völkerrecht, 1898; v. Holtzendorff, F.: Handbuch des Völkerrechts, 1885; Geffcken, H.: Das Gesamtinteresse als Grundlage des Staats- und Völkerrechts, 1908; v. Liszt, F.: Völkerrecht, 1898ff; Zorn, Ph.: Grundzüge des Völkerrechts, 1901-1903). Daneben ist auffällig, dass gerade aus dem deutsch-russischen Überschneidungsgebiet auffällig viele Völkerrechtler kommen (A. v. Bulmerincq, F. v. Martens, K. Bergbohm, A. v. Freytagh-Loringhoven). Europäisch führend mehr durch Praxis als durch Theorie ist England (Manning, W. O.: Commentaries of the Law of Nations, 1839; Poison, A.: Principles of Law of Nations, 1848; Phillimore, Sir Robert: Commentaries upon International Law, Bd. 1-3, 1854/1861; Twiss, Sir Travers: The Law of Nations, the rights and duties of nations in time of peace and of war, 2 Bde, 1861/1863). Im französischen, belgischen und französisch-schweizerischen Völkerrecht koexistieren ein nationaler Grundzug mit wissenschaftlichem Positivismus und einer stark auf die realen Funktionen und Institutionen abgestellten Sicht (P. Pradier-Fodéré, A. Sorel, A. Rivier, L. Duguit, G. Scelle). Die italienische Völkerrechtsdoktrin steht im idealistischen und nationalistischen Grundton der deutschen am nächsten (St. Mancini, A. Pierantoni, P. Fiore, D. Anzilotti). Mit dem Ersten Weltkrieg veränderten sich der politische Kontext und die intellektuelle Befindlichkeit fundamental. Die alte eurozentrische Staatengemeinschaft mit einem unbezweifelten ius ad bellum gab es nicht mehr. Nun entstand mit dem Völkerbund eine Weltrechtsgemeinschaft, Einzelne und Gruppen wurden schrittweise als Subjekte des Völkerrechts anerkannt, erstmals versuchte man Regierende als Kriegsverbrecher anzuklagen, die Ächtung des Krieges bereitete sich vor, die Kolonialreiche begannen sich aufzulösen. In der Wiener Schule entstand, wie erwähnt, eine wissenschaftstheoretisch angeleitete universelle Völkerrechtslehre. In den Nachfolgestaaten des untergegangenen osmanischen und des habsburgischen Reichs diskutierte man Volksgruppen- und Minderheitenrechte. Gleichzeitig begannen geopolitische Überlegungen, die sich bald mit rassistischen Ideen amalgamierten, den völ-
14
Koskenniemi: The gentle Civilizer, S. 98ff.
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kerrechtlichen Ideenhaushalt zu beeinflussen (G. Ratzenhofer, L. Gumplowicz, R. Kjellen, K. Haushofer). In Deutschland beherrschte der „Kampf gegen Versailles" die Szene.15
II. Wie relativ unbekannt die europäische Szenerie der Ideengeschichte des Völkerrechts von der Gründerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg bis vor kurzem war, lässt sich allein daran ablesen, dass wir derzeit nur über ein für Studenten geeignetes Kurzlehrbuch der Geschichte des Völkerrechts verfügen.16 Es basiert in seiner Anlage auf den 1944 geschriebenen und erst Jahrzehnte später veröffentlichten Epochen der Völkerrechtsgeschichte von Wilhelm G. Grewe.17 Beide Bücher geben der eigentlichen Wissenschaftsgeschichte relativ wenig Raum. Erst das brillante Buch von Martii Koskenniemi The gentle civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870-1960[g hat hier einen prinzipiellen Wandel geschaffen. Zum ersten Mal werden nun die englische, die französische und die deutsche Völkerrechtslehre in der Perspektive der modernen „intellectual history" durchleuchtet und verglichen. Koskenniemi arbeitet heraus, wie um 1870 eine neue liberale Gründergeneration des europäischen Völkerrechts antrat, wie sie sich dann einerseits dem Imperialismus um 1900 akkomodierte, sich aber ihm andererseits als Friedensbewegung widersetzte. Er zeigt weiter, wie sich französische, englische und deutsche Völkerrechtswissenschaft mit den genannten Veränderungen auseinandersetzten, wie insbesondere der große österreichisch-englische Völkerrechtler Hersch Lauterpacht das kontinentale Erbe auf die anglo-amerikanische Rechtswelt umsetzte. Am Ende behandelt er die nationalsozialistische Völkerrechtslehre, vor allem Carl Schmitt und seinen amerikanischen Antipoden, den deutschen Emigranten Hans Morgenthau. Koskenniemis Buch ist auf Englisch erschienen, sein Autor ist Finne. Das Buch ist hier auf große Aufmerksamkeit gestoßen. Aber das verbessert eigentlich nicht die Lage der Völkerrechtsgeschichte in Deutschland selbst. Das Fach ist praktisch nicht existent. Es gibt in Deutschland, in dem sehr viele Europa- und Völkerrechtler tätig sind, kaum Spezialisten der Völkerrechtsgeschichte. Derzeit nennt man vor allem zwei Emeriti, Karl-Heinz 15 16
Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 86ff.
Ziegler: Völkerrechtsgeschichte. Grewe, Wilhelm G.: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, 2. Aufl. 1988; engl. 2000 siehe Anm. 1. 18 Koskenniemi: The gentle Civilizer. Hierzu meine Besprechung in: Nordic Journal of
17
International Law 73 (2004), S. 265-267.
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Hamburg und Heinhard Steiger in Gießen. Die ältere ehemals tätige Generation (E. Kaufmann, W. G. Grewe, U. Scheuner, W. Preiser) gibt es nicht mehr. In dieser Situation war das von der DFG unterstützte Projekt zur Ideengeschichte des Völkerrechts der Versuch eines Neuanfangs. Es bereitete dabei anfangs etwas Mühe, den Historikern zu erklären, dass hier „Ideengeschichte" weder im Sinne der alten Meineckeschen Ideengeschichte (Gipfelwanderung) noch als Rechtsgeschichte des Völkerrechts verstanden wurde. Vielmehr war beabsichtigt, die völkerrechtliche Doktrin jener Zeit aus der Perspektive der „intellectual history" als Interaktion zwischen theoretischer Reflexion und politischer Lage zu verstehen. Die Trennung zwischen den sog. Fakten und den Ideen sollte verschwinden. Das ideelle Begreifen der Realität ist zugleich gestaltende Weltdeutung. Wird eine neue Weltsicht mehrheitlich durchgesetzt, dann kommt dies der Erschaffung einer neuen Welt gleich. Wird die Deutung geschichtsmächtig, hat sie die Welt verändert. Da die Welt eine im Kleid der Sprache wandelnde Kopfgeburt ist, sind Veränderungen des kollektiven Sprachgebrauchs Veränderungen der Welt.19 Insofern ist, pragmatisch gesprochen, die Entgegensetzung von Realität
Ziegler
in intensiver
und Sprache, Idee und Wirklichkeit wissenschaftstheoretisch eher hinderlich, weil irreführend. Was wir anzuregen versuchten, war eine Integration von intellectual history mit den politischen Kontexten der Völkerrechtsgeschichte. Ob dies immer gelungen ist, sei dahingestellt und der Beurteilung anderer überlassen. Für die Arbeitsgruppe des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt hatte die DFG seinerzeit drei Doktorandenstellen bewilligt. Da sich ein Referent des Instituts, Dr. Ingo Hueck, mit der Aufgabe identifizierte und daraus einen Nucleus schuf, konnten andere Doktoranden gewonnen und begeistert werden. Am Ende waren es dreizehn junge Leute, die ihre Arbeiten über die Wissenschaftsgeschichte des Völkerrechts (also Ideengeschichte im präzisierten Sinn) schrieben. Eine Publikationsreihe wurde gegründet; erschienen sind bisher Arbeiten über Franz von Liszt, über die Völkerrechtstheorie von Hans Kelsen, über den Völkerrechtler Georg Schwarzenberger (ausgezeichnet mit dem Award der amerikanischen Völkerrechtsvereinigung), über den deutsch-amerikanischen Dialog zwischen Johann Caspar Bluntschli und Francis Lieber (1861-1881) sowie über Karl Strupp (1886-1940).20 Ein weiterer Band behandelt den europäisch-asia19
Stolleis, Michael: Rechtsgeschichte als Kunstprodukt. Zur Entbehrlichkeit von „Begriff und „Tatsache", Baden-Baden 1997. 20 Herrmann, Florian: Das Standardwerk. Franz von Liszt und das Völkerrecht, BadenBaden 2001; Bernstorff, Jochen von: Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001; Steinte, Stephanie:
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Völkerrechtsdialog.21
Demnächst zu erwarten sind Bände über den Briand-Kellog-Pakt, über den Völkerrechtler Erich Kaufmann und über die Völkerrechtsdoktrin des Nationalsozialismus. Andere Arbeiten aus der Gruppe, so über die Völkerrechtler v. Martitz, Bergbohm und Schücking, sind in Kiel, Mannheim und Saarbrücken erschienen. Eine unmittelbare Folge dieser Aktivitäten ist auch die Tatsache, dass die vor ein paar Jahren in Kanada von dem Völkerrechtshistoriker MacDonald gegründete Review zur History of International Law ihren Sitz in die MaxPlanck-Institute für Völkerrecht in Heidelberg und für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt verlegt hat und von dort aus redigiert werden wird.22 Alles in allem darf man also feststellen, dass das von der DFG in Form von drei Doktorandenstellen gelegte Samenkorn reichlicher Früchte getragen hat als es anfangs zu erwarten war. Das lag nicht nur am glücklichen Zeitpunkt und am Enthusiasmus der Beteiligten, sondern hat vielleicht auch etwas tiefere Gründe, die langsam wachsende Einsicht der Völkerrechtler nämlich, dass ein Völkerrecht, betrieben ohne wissenschaftstheoretisch-philosophische und vor allem ohne historische Fundamentierung, nur ein flüchtiger und von raschem Wechsel der Normen bedrohter Gegenstand ist. Was das Völkerrecht in seiner langen Geschichte auszeichnete, war seine besondere Nähe zur Rechts- und Staatsphilosophie einerseits, zu den Mächten der Politik andererseits. Seine oft beklagte Durchsetzungsschwäche war seine philosophische Stärke, mit der sich ein einmal formulierter Gedanke langsam in das politische Denken festsetzte und endlich die Realität umgestaltete. In der Verflechtung mit der ,.Macht" konnte das Völkerrecht zur ideologisierten Lieferantin rechtlicher Argumente absinken, aber auch viel von jenem Realismus gewinnen, der dem Recht seine zentrale Position bei der Absicherung des Friedens zuweist. Die aktuelle Bedeutung der Geschichte des Völkerrechts ist hoch; denn wenn auch normativ aus der Geschichte keine zwingenden Schlüsse gezogen werden können, so verfügen wir doch in den politischen-juristischen Wissenschaften über kein anderes Erfahrungswissen als das aus der Geschichte gewonnene. Auch die Diskussion über „richtige" oder „falsche" Schlüsse aus tischen
Völkerrecht und Machtpolitik. Georg Schwarzenberger (1908-1991), Baden-Baden 2002; Roben, Betsy: Johann Caspar Bluntschli, Francis Lieber und das moderne Völkerrecht 1861-1881, Baden-Baden 2003; Link, Sandra: Ein Realist mit Idealen Der Völkerrechtler Karl Strupp (1886-1940), Baden-Baden 2003; Steck, Peter K.: Zwischen Volk und Staat. -
Völkerrechtssubjekt in der deutschen Völkerrechtslehre (1933-1941), Baden-Baden 2003; Röscher, Bernhard: Der Briand-Kellog-Pakt von 1928. Der „Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik" im völkerrechtlichen Denken der Zwischenkriegszeit, BadenBaden 2004. 21 Stolleis, Mich&eAlYanagihara, Masaharu (Hrsg.): East Asian and European Perspectives on International Law, Baden-Baden 2004. 22 Herausgeber sind Peter Haggenmacher, Michael Stolleis, Rüdiger Wolfrum. Die Redaktion obliegt P. Macalister-Smith. Das
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der Geschichte kann sich, wenn sie den Rahmen logischen Schließens einhält, nur wieder historischer Argumente bedienen. Insofern wird in der gegenwärtigen, nach dem Ende des „Kalten Krieges" zu beobachtenden Neuorientierung des Völkerrechts mit Selbstverständlichkeit historisch argumentiert. So geht es um die Fragen, ob der Anschlag vom 11. September 2001 eine „Kriegserklärung" war, ob der Staat, von dessen Gebiet die Terroristen aus operieren, als ,.Kriegsgegner" fungiert, ob gefangene Terroristen „Kriegsgefangene" sind, ob schließlich in dem Krieg von Staaten gegen terroristische „Netzwerke" noch die alten Regeln des Völkerrechts gelten können. Dabei zeigt sich, dass die für das Völkerrecht der frühen Neuzeit als sicher geltenden Annahmen, kriegführend oder friedenschließend seien es stets territorial gebundene Staaten, seien es See- oder Landmächte, heute nicht mehr gelten.23 Inzwischen ist die Rede von „Atopie",24 von der Ortlosigkeit des Staates, der im Wirbel der Globalisierung und der elektronischen Revolution das Staatsgebiet als eines seiner konstitutiven Elemente (Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt) zu verlieren scheint. Auch der „Terrorismus" ist keine traditionelle kriegführende Macht, die ein „Gebiet" erobern will. Die Anschläge richten sich vielmehr auf Kommunikationsknoten, Versorgungseinrichtungen, Polizeistationen oder Botschaften, empfindliche Punkte wie Tourismus oder symbolische Gebäude (World Trade Center, Pentagon, Weißes Haus). Gleichzeitig kam das nach dem Nürnberger Prozess von 1947 auf der Stelle tretende Völkerstrafrecht seit den Tribunalen zum ehemaligen Jugoslawien und zu Ruanda wieder in Gang, um 1998 in einem Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof zu münden.25 In diesem Kontext müssen die hergebrachten Begriffe, die einmal eine leidlich verlässliche Weltdeutung zu garantieren schienen, verworfen oder neu gefasst werden. Die darin steckende denkerische Arbeit leistet die notwendige Abstoßung vom älteren Material, und sie kann nur gelingen, wenn die Zeitbedingtheit jenes älteren Materials benannt und damit sprachlich gebannt wird. Insofern ist historische Reflexion notwendige Voraussetzung einer jeden Erneuerung und Fortschreibung des Völkerrechts.
Schmitt, Carl: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, neue, durchges. Aufl., Stuttgart 1954. 24 Willke, Helmut: Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2001. 25
König, Kai-Michael: Die völkerrechtliche Legitimation der Strafgewalt internationaler Straf-justiz, Baden-Baden 2003. Zum „Vorläufer" von Nürnberg siehe Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003.
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Zusammenfassung Der Bericht bestimmt zunächst, was unter den „allgemeinen Regeln" des Völkerrechts zu verstehen ist, wie dieser Normbestand im 16.-18. Jahrhundert fixiert und im Rahmen des „ius publicum europaeum" genutzt wurde. Seit der Französischen Revolution veränderten sich Kriegs- und Friedensvölkerrecht fundamental: Die Naturrechts idee brach zusammen, Staatsphilosophie und Nationalismus führten zur Leugnung des Völkerrechts. Gleichzeitig vermehrten sich die völkerrechtlichen Verträge auf allen Gebieten und wurden vom völkerrechtlichen Positivismus gesammelt und verarbeitet. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geben der europäische Imperialismus und die internationale Friedensbewegung dem Völkerrecht neue Impulse. Die Friedenskongresse in Den Haag bringen noch vor 1914 die normative Ernte ein. Nach 1918 entfaltet sich eine reiche europäische Diskussion über die Grundlagen des Völkerrechts, über die Aufgaben des Völkerbunds und die Ächtung des Krieges. In Deutschland werden völker-rechtliche Institute gegründet, sei es zur Wiedergewinnung des internationalen Anschlusses, sei es zur
Bekämpfung von „Versailles".
Das Projekt zur Ideengeschichte des Völkerrechts 1870-1939 setzte hier ein und versuchte durch ein Dutzend Einzelstudien die wissenschaftsgeschichtliche Landschaft zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu rekonstruieren in der Hoffnung, dass der Forschungsimpuls sich weiter entfalten möge. -
Veröffentlichungen aus dem Projekt „Deutsche Völkerrechtswissenschaft": Hueck, Ingo: Peace, security and international organisations: The German international
lawyers and the Hague Conferences, in: Lesaffer, Randall (Hrsg.): Peace Treaties and International Law in European History. From the Middle Ages to World War One, Cambride 2004, S. 254-269. Ders.: Die deutsche Völkerrechtswissenschaft im Nationalsozialismus, in: Kaufmann, Doris (Hrsg.): Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, Bd. 2, S. 490-527. Ders.: Die Gründung völkerrechtlicher Zeitschriften im internationalen Vergleich, in: Stolleis, Michael (Hrsg.), Juristische Zeitschriften. Die neuen Medien des 18.-20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1999, S. 379-420. Ders.: Pragmatism, Positivism and Hegelianism in the Nienteenth Century: August Wilhelm Heffter's Notion of Public International Law, in: Stolleis, MichaeVYanagihara Masaharu (Hrsg.): East Asian and European Perspectives on International Law, Baden-Baden 2004, S. 41-55. Ders.: „Spheres of Influence" and „Völkisch" Legal Thought: Reinhard Höhn's Notion of Europe, in: Joerges, Christim/Ghaleigh, Navraj Singh (Hrsg.): The Darker Legacy of Law in Europe: The Shadow of National Socialism and Facism over Europe and Its Legal Tradition, Oxford 2003, S. 71-85.
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Herrmann, Florian: Das Standardwerk. Franz von Liszt und das Völkerrecht, Baden-Baden 2001 (Studien zur Geschichte des Völkerrechts, hrsg. v. Michael Stolleis, Bd. 1).
Bernstorff, Jochen von:
Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001 (Studien, Bd. 2).
Steinte, Stephanie: Völkerrecht und Machtpolitik. Georg Schwarzenberger (1908-1991), Baden-Baden 2002
(Studien, Bd. 3).
Roben, Betsy: Johann
Caspar Bluntschli, Francis Lieber und das moderne Völkerrecht 1861-1881, Baden-Baden 2003 (Studien, Bd. 4).
Link, Sandra: Ein Realist mit Idealen Baden-Baden 2003 (Studien, Bd. 5).
Der Völkerrechtler Karl
Strupp (1886-1940),
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Steck, Peter K.: Zwischen Volk und Staat. Das Völkerrechtssubjekt in der deutschen Völkerrechtslehre (1933-1941), Baden-Baden 2003 (Studien, Bd. 6).
Stolleis, MichaeVYanaginara, Masaham (Hrsg.): East Asian and European Perspectives on International Law, Baden-Baden 2004 (Studien, Bd. 7). Röscher, Bernhard: Der Briand-Kellog Pakt
von 1928. Der „Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik" im völkerrechtlichen Denken der Zwischenkriegszeit, BadenBaden 2004 (Studien, Bd. 8).
Die Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende Thorsten Lange Zur
Fragestellung
der Wirkung einer Idee die Rede ist, dann kann es darum gehen, aufzuzeigen, dass die Idee rezipiert worden ist. Es kann aber auch darum gehen, zu fragen, inwieweit die Idee eine handlungsleitende Funktion gehabt hat oder immer noch hat. Die Untersuchungen über die Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende unternehmen Schritte in beide Richtungen. Sie fokussieren primär auf die Diffusion, die Verbreitung der politischen Idee des Neoliberalismus, die in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts philosophisch als Neue Vertragstheorie in Erscheinung tritt. Darüber hinaus verknüpfen sie die Rezeption dieser Idee mit bestimmten gesellschaftlichpolitischen Veränderungen, die sich Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre in weiten Teilen der damaligen westlichen Welt und gerade auch in den beiden für die Projektarbeit ausgewählten Ländern, dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland und der Bundesrepublik Deutschland, vollzogen haben. Hier steht die sogenannte Neoliberale Wende in Form der einschneidenden Regierungswechsel, die mit der Wahl Margaret Thatchers am 3. Mai 1979 und Helmut Kohls am 6. März 1983 einhergingen, zur Debatte. Von einigem Interesse ist dabei, eine Korrelation zwischen politischer Idee und politischem Handeln andeuten zu können, wodurch sich die Relevanz politischer Philosophie und Theorie untermauern ließe. Der Gang der Untersuchung sieht dementsprechend vor, dass eine synoptische Darstellung des neoliberalen Paradigmas der Nachzeichnung seiner Diffusion in den ausgesuchten geographischen und zeitlichen Räumen vorangeht. Gerade die Abfolge der Geschehnisse bildet dann die Grundlage für die Interpretation der Wenn
von
Ergebnisse.
Die Neue
Vertragstheorie und das Neoliberale Paradigma
Die Denkschule der Neuen Vertragstheorie in ihrer hier interessierenden tendenziell libertären Form wird in der Wissenschaft im Wesentlichen durch den Philosophen Robert Nozick und den Ökonomen James Buchanan vertre-
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Thorsten Lange
Dire Schriften bilden gleichsam den vorläufigen Abschluss der Entwicklung der neoliberalen Philosophie, so wie sie sich bis Anfang/Mitte der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts herausgeschält hat. Nozick und Buchanan stehen mit Anarchy, State and Utopia (1974) und The Limits of Liberty (1975) in der Tradition freiheitsorientierten individualistischen Denkens, das sich in der Zeit nach der Weltwirtschaftskrise bis auf die Werke von Friedrich von Hayek zurückverfolgen lässt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hält von Hayek primär gegenüber totalitären, letztlich aber auch gegenüber keynesianischen Vorstellungen an klassisch liberalen Prinzipien fest und begründet sie zugleich neu. In The Road to Serfdom bezweifelt er 1944 im Londoner Exil die Erfolgschancen der damals unter britischen Intellektuellen populären Idee einer zentralen Wirtschaftsplanung. Diese, davon war er überzeugt, würde den in sie gesetzten Erwartungen aufgrund eines elementaren Missverständnisses nicht gerecht werden können. Jede zentrale Planungsinstanz benötigt für ihre Arbeit uneingeschränkten Zugang zu allen Daten, die den Wirtschaftsprozess bestimmen. Genau die hierfür unabdingbare Bündelung des relevanten Wissens an einer festen Schnittstelle aber ist nicht möglich, weil dieses Wissen in der Gesellschaft breit gestreut und von seinem Wesen her nicht zentral erfassbar ist.1 Sinn und Zweck jedweder Volkswirtschaft ist es, die Knappheit der Güter zu vermindern. Hayek2 geht von einem strikt individualistischen Ansatz aus, demzufolge allein das Individuum weiß, welche Güter in welcher Beschaffenheit und Menge seine persönlichen Bedürfnisse befriedigen. Die Präferenzen des einzelnen müssen aber keineswegs stabil sein. Sie können sich im Gegenteil jederzeit im Zuge der Interaktion mit anderen ändern. Im Regelfall kristallisieren sie sich erst im Verlauf der Teilnahme an einem Interaktionsgeschehen, das Ökonomen Marktgeschehen nennen, heraus. Dabei ermittelt jeder Marktteilnehmer, welche Möglichkeiten er aufgrund seines beschränkten Budgets ausschlagen muss, wenn er sich für eine bestimmte entscheidet. Dies regelt gleichermaßen sein Verhalten als Anbieter wie auch als Nachfrager auf dem Markt. Der Marktprozess stellt dementsprechend eine Wechselbeziehung dar, die Raum für Rückkopplungen eröffnet. Die verschiedenen Teilnehmer gehen mit ihren Ausgangspräferenzen in den Prozess hinein, verändern diese aber gegebenenfalls in Abhängigkeit von der genauen Konstellation, in der sie sich wieder finden. ten.
1
Vgl. Hayek, Friedrich A. von: Road to Serfdom, London 1944, S. 43-55. Die folgenden Gedanken finden sich am stringentesten zusammengefasst in Hayek, Friedrich A. von: „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren", in: Walter Eucken Institut (Hrsg.): Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze von Friedrich A. von Hayek, Tübingen 1969, S. 251-261. 2
Die Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende
175
Kein Individuum wäre also in der Lage, einem zentralen Wirtschaftsplaner im Vorhinein eine verbindliche Auskunft über seine Präferenzen zu geben. Alles, was sich auf empirischer Grundlage in Erfahrung bringen ließe, wären folglich statistisch ausgewertete Häufigkeitsverteilungen für die zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannten Präferenzen. Doch abgesehen davon, dass derartige Häufigkeitsverteilungen einen sehr statischen Charakter hätten, würden sie keine Aussagen über die genaue Struktur der Grundgesamtheit und über die Beziehungen zwischen deren einzelnen Elementen zulassen. In den aggregierten Daten ginge das Individuum zwangsläufig verloren. Jeder Versuch einer zentralen Wirtschaftsplanung scheitert damit an einem unüberwindbaren Komplexitätsproblem und gerät geradezu zur Denkunmöglichkeit, weil das für ihn unerlässliche Wissen nicht zentralisierbar ist. Im Umkehrschluss heißt dies, dass es keinen effizienteren und effektiveren Mechanismus für den Wirtschaftsprozess gibt als den Markt. Hier schaffen Preissignale den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage, und führen die Produktionsfaktoren in einer Vielzahl dezentraler Transaktionen ihren jeweils lohnendsten Verwendungen zu. Wie bei allen Liberalen gibt es auch bei Hayek keinen Mastermind, der, einem platonischen Philosophen gleich, genau sagen könnte, welchen Endzustand es zu verwirklichen gilt, damit das gute Leben möglich wird. Liberales Denken hat derartige ontologische Vorstellungen zu allen Zeiten entschieden abgelehnt. Sie widersprechen zutiefst der These von der menschlichen Freiheit, die nur dann Sinn macht, wenn die Handlungen des Individuums nicht an einem objektiven Maßstab gemessen werden können, sondern allein am Grad der Erreichung selbstgesteckter Ziele. Freiheit konkretisiert sich im Wege des vernünftigen Umgangs mit der Gegenwart in Anbetracht einer Zukunft, über die man nur sehr wenig weiß. Das „gute" Leben, verstanden als Verwirklichung eigener Präferenzen, kann dementsprechend nur evolutionär durch eine Abfolge aufeinander aufbauender kooperativer Entscheidungen und Handlungen erreicht werden. Der individuellen Freiheit zur Bildung spontaner Ordnungen durch konkretes Handeln von Individuen auf dem Markt kommt ihre zentrale Bedeutung im Denken Hayeks also deshalb zu, weil sie die Voraussetzung für den Fortschritt schlechthin ist, im wirtschaftlichen Bereich für die Reduzierung der Knappheit der Güter. Freiheit mobilisiert das in der Gesellschaft breit gestreute Wissen und führt es seiner optimalen Verwendung zu, weil sie dem einzelnen hierfür einen Anreiz bietet, wenn er das Produkt seines Wissens und seiner Tätigkeiten für sich beanspruchen kann. Freiheit bedeutet Selbstbestimmung auch und gerade über den Einsatz der eigenen Ressourcen, und ist damit seit den Tagen eines John Locke untrennbar mit der Garantie des Eigentums verknüpft.
Thorsten Lange
176
Der hier anklingende Gedanke, dass verschiedene Facetten der Freiheit in einer unauflöslichen Beziehung zueinander stehen, wird von Milton Friedman vertieft und insbesondere auf das Verhältnis von politischer und wirtschaftlicher Freiheit bezogen. In seinen Reflektionen über Capitalism and Freedom stellt Friedman 19623 die These auf, dass die Freiheit, Vereinbarungen in allen wirtschaftlichen Fragen zu treffen, ein wesentlicher Bestandteil der Freiheit in einem umfassenderen Sinne ist. Dabei sichert die wirtschaftliche Freiheit gerade auch die politische Freiheit, weil das in der Wirtschaft geltende Prinzip des Wettbewerbs einen klaren Trennstrich zwischen den Sphären der Wirtschaft und der Politik zieht. Der ökonomische Prozess verläuft so ohne Störungen von Seiten der Politik, die Politik ist der Notwendigkeit enthoben, Forderungen nachzugeben, die sie nicht erfüllen kann. Politische und wirtschaftliche Macht begrenzen sich infolgedessen gegenseitig, wenn sie sich nicht gar gegenseitig neutralisieren, wodurch dem Individuum Spielräume der Selbstverwirklichung eröffnet werden, die es nutzen kann, ohne eine Bevormundung von welcher Seite auch immer fürchten
zu
müssen.
Damit stellt sich die Frage nach der Rolle des Staates in einer freien Gesellschaft. Da der Staat nach liberaler Lesart als Institution durch kollektives Handeln entsteht, findet er seine Daseinsberechtigung auch allein in der Lösung solcher Probleme, die des kollektiven Handelns im Anschluss an eine vorausgegangene kollektive Entscheidung bedürfen. Von zentraler Bedeutung ist hier die Garantie der rechtlichen Regeln der abstrakten Ordnung, wie Hayek sie nennt, die sich eine Gesellschaft in freier Selbstbestimmung und in einem fairen Verfahren gegeben hat. Der Staat wacht gleichsam über die Einhaltung der Spielregeln, ohne die individuelle Freiheit und individuelles Eigentum sehr schnell ihren Wert einbüßen würden. Daneben bilden Geldwesen und Geldpolitik einen Kernbereich staatlichen Handelns. Sie sind eng verknüpft mit der Garantie des Eigentums und der Funktionsfähigkeit des Marktmechanismus'. Geld dient gleichermaßen als Wertaufbewahrungs- wie auch als Tauschmittel. Von seiner Stabilität hängt die Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft ab. In strikter Abgrenzung zur keynesianischen Theorie spricht sich Friedman etwa in The Role ofMonetary Policy 19684 für eine Verstetigung der Geldpolitik aus, um inflationäre Tendenzen zu beherrschen. Die Kontrolle der Geldmenge im Sinne der Quantitätstheorie ist der Weg zum Ziel der Geldwertstabilität, Inflation ein rein monetäres Phänomen. Friedman befürwortet eine starre Regelbindung bei der -
3
Zum Folgenden vgl. Friedman, Milton: Capitalism and Freedom, Chicago 1962, S. 7ff, S. 22-36. 4 Zum Folgenden vgl. Friedman, Milton: The Role of Monetary Policy, in: American Economic Review 58 (1968), S. 11-17, ebenso ders.: The Optimum Quantity of Money and other Essays, London 1969, S. 39-48.
Die
Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende
177
Formulierung des Geldmengenziels,
damit durch ein den Wirtschaftssubjekgemachtes Wachstum der Geldmenge Inflationsbefürchtungen entgegengetreten wird. Die verhängnisvolle Dynamik einer Lohn-Preis-Spirale und konjunkturelle Ausschläge durch zu niedrige oder auch zu hohe Zinsen infolge einer Über- respektive Unterversorgung der Volkswirtschaft mit Geld werden so gleichermaßen unterbunden. Die verstetigte Geldpolitik kann ihre volle Wirkung allerdings nur dann entfalten, wenn die Wirtschaftspolitik insgesamt verstetigt wird und der Versuch einer antizyklischen Global Steuerung unterbleibt. Die von der keynesianischen Schule empfohlene Ausweitung der Staatsausgaben in einer Rezessionsphase wird aufgrund von unvermeidbaren Wirkungsverzögerungen im Gefolge wirtschaftspolitischer Entscheidungen und Planungen in aller Regel erst dann greifen, wenn die konjunkturelle Lage bereits wieder eine Wendung genommen hat und eigentlich die Rückführung der Defizite erforderlich wäre. Gleiches wie für die Fiskal- gilt auch für die Geldpolitik, der im keynesianischen Konzept primär die Aufgabe zukommt, Überhitzungserscheinungen in einer Boomphase entgegen zu wirken. Wie Friedman zusammen mit Anna Schwartz schon 1963 für die Vereinigten Staaten zeigen konnte, haben kontraktive Maßnahmen der Geldpolitik dort über einen Zeitraum von rund einhundert Jahren hinweg einer Wirkungsverzögerung zwischen sechs und 29 Monaten unterlegen.5 Aus der Antizyklik ist so eine Prozyklik geworden, die sich aufgrund des bereits von Hayek herausgestellten begrenzten menschlichen Wissens (vgl. o.) auch nicht durch Regelbindungen für die Zukunft vermeiden lässt. Der Versuch, eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik zur Realisierung des primären Ziels der Vollbeschäftigung aller Produktionsfaktoren zu betreiben, muss damit zwangsläufig scheitern. Vollbeschäftigung wird allein durch grundsätzlich flexible Löhne, die sich kostenniveauneutral an der Produktivität orientieren, gewährleistet. Denn sofern es keine Lohnrigidität gibt, besteht für Unternehmen in Abschwungphasen keine Notwendigkeit, Arbeitskräfte zu entlassen, weil auf Nachfragerückgänge mit Preissenkungen reagiert und das Produktionspotential sehr schnell wieder ausgelastet werden kann. Da das marktwirtschaftliche System so zur Stabilität neigt, ist eine aktive Kontrapolitik also nicht allein bedenklich, sondern auch noch völlig entbehrlich. Sie bindet lediglich finanzielle Mittel, die besser vom einzelnen selber zur Befriedigung seiner Bedürfnisse eingesetzt werden können als von einer Institution, die dem staatlichen Planer, vor dem Hayek so eindringlich warnt (vgl. o.), doch bedenklich nahe kommt. In einem engen Zusammenhang mit der Diskussion um die staatliche Konjunkturpolitik steht jene um die sogenannten öffentlichen Güter. Öffentliche ten jeweils jährlich im Voraus bekannt
5
Vgl. Friedman, Milton/Schwartz, Anna J. (Hrsg.): A Monetary History of the United States, 1867-1960, Princeton 1963, S. 676-700; ebenso Friedman: Optimum Quantity of Money, S. 242-256.
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bereitgestellt.6
Die hierGüter werden nach Olson durch kollektives Handeln für notwendigen Entscheidungen unterliegen anderen Maßstäben als die Entscheidungen, die in den freiwilligen Abschluss von individuellen Tauschverträgen münden. Wie James Buchanan in The Limits of Liberty 19757 hervorhebt, weicht die Logik öffentlichen Handelns selbst dann von der Logik privaten Handelns auf dem Markt ab, wenn sämtliche Projekte zur Herstellung öffentlicher Güter ausnahmslos einem strengen Kosten-Nutzen-Kriterium unterworfen werden. Sie verursachen bei allen Individuen, die sich in den gefällten Beschlüssen nicht oder nur unzureichend wieder finden, zwangsläufig einen Opportunitätsverlust. Eine ganze Reihe von Personen trägt anteilig die Kosten für die Herstellung der in Rede stehenden öffentlichen Güter mit, während der Nutzen, den sie aus ihnen zu ziehen vermag, geringer ist als der Nutzen anderer Handlungsalternativen. Die einzige Möglichkeit, sich in der Folge schadlos zu halten, besteht für die Betroffenen darin, ihrerseits ein Projekt durchzusetzen, von dem sie überproportional profitieren. Dadurch wird freilich wiederum anderen ein Nachteil aufgebürdet. Bestehen zudem Gelegenheiten zum „logrolling", dem Stimmentausch, wenn sich verschiedene Projekte nicht gegenseitig ausschließen, werden nicht allein Mehrheiten, sondern darüber hinaus sogar aktive Minderheiten Wege finden, ihre Partikularinteressen zu befriedigen. Die eine Gruppe stimmt dann für die Vorhaben der anderen und umgekehrt. Die Einhaltung des Kosten-Nutzen-Kriteriums auf der Projektebene bietet allerdings noch keine Gewähr dafür, dass der Nutzen aus der Gesamtheit aller Projekte deren Kosten übersteigt. Während bei den ersten Unternehmungen die Kosten der Mittelbeschaffung noch vernachlässigbar gering ausfallen, werden sie im Laufe der Zeit erheblich zunehmen, weil die Bereitstellung immer größerer finanzieller Ressourcen eine stetig wachsende staatliche Bürokratie erfordert. Mit Größe und Komplexität einer Institution steigt aber zugleich deren interner Koordinierungsbedarf. Die Institution verliert infolgedessen an Effizienz. Die Aufwendungen für die öffentlichen Güter werden im Zuge der Zeit immer mehr Bürger unerträglichen Belastungen etwa in Form exzessiver Steuerforderungen von Seiten des Fiskus aussetzen. Allein dies wird Rückwirkungen auf die Bereitschaft jedes einzelnen haben, Anstrengungen zum Gewinn persönlichen und damit besteuerbaren Einkommens zu unternehmen. Da die Aufteilung der Kosten freilich genauso der Manipulation unterliegt wie die Bestimmung des öffentlichen Leistungsumfangs, werden mit großer -
-
6
Vgl. Olson, Mancur: The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups, Cambridge Mass. 1965, S. 5-8. 7 Zum Folgenden vgl. Buchanan, James M.: The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago 1975, S. 135-151, S. 212-234.
Die
Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende
179
Wahrscheinlichkeit Beschlüsse gefasst, welche einem Teil der Bürger Vergünstigungen zu Lasten eines anderen Teils einräumen. Der Mechanismus des „Kuhhandels" wird auch hier wirken und zu einer unüberschaubaren Anzahl von Ausnahmetatbeständen in Form direkter und indirekter Finanzhilfen respektive Subventionen führen. Die Aktivitäten des Wohlfahrtsstaats, mit deren Hilfe Politiker nicht selten versuchen, ihre Wiederwahl zu sichern, bringen ein schier grenzenloses Wachstum der
mit sich. Immer neue Projekte werden. zu Da finanziert die in einem gegebenen Zeitraum verlangen danach, Mittel erwirtschafteten jedoch nicht grenzenlos sind, bedeutet ein zunehmender Ressourcenverbrauch durch den Fiskus verminderte Möglichkeiten für private Entscheidungen des Bürgers. Der einzelne verliert zusehends die Kontrolle über seine ureigenen Angelegenheiten, er sieht seine Möglichkeiten, entsprechend eigener Präferenzen zu handeln, eingeschränkt, und erleidet immer mehr Opportunitätsverluste. Enttäuschung und Entfremdung gegenüber dem Staat müssen sich zwangsläufig einstellen. Sie werden notwendigerweise umso größer sein, je größer der Anteil des öffentlichen Sektors an der Volkswirtschaft ausfallt. Die kritische Distanz der liberalen und libertären politischen Philosophie zu allen Formen wohlfahrtsstaatlicher Aktivitäten im Sinne eines ,3ig Government", also einer aktiven Rolle des Staates in Fragen der Gestaltung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens, resultiert allerdings nicht allein aus demokratietheoretischen Überlegungen, sondern fußt auch auf moralphilosophischen Positionen, die aus einem individualistischen Menschenbild abgeleitet werden. Unter Bezugnahme auf John Locke hat hier Robert Nozick in Anarchy, State, and Utopia 19748 eine Reihe zentraler Thesen entwickelt und zu dem zusammengeführt, was er als Anspruchstheorie der Gerechtigkeit bezeichnet. Nozick zufolge spiegelt jede Güterverteilung in einer Gesellschaft das Resultat langfristig gewachsener Vorgänge wider und hat so lange als gerecht zu gelten, wie sie zustande gekommen ist, ohne in die naturgegebene Rechtsposition auch nur eines einzigen Menschen eingegriffen zu haben. Eine von der Prämisse freier und gleicher Individuen ausgehende Gerechtigkeitstheorie kann folglich allein historischer Natur sein, weil sie den Eigentumserwerb unter dem Aspekt individueller Aneignungen herrenloser Güter und solcher interpersonaler Tauschaktionen sieht, welche alle Beteiligten freiwillig und aus eigenem Antrieb vornehmen. Dementsprechend ist der Erwerb von Besitztümern dann gerecht, wenn er auf den beiden Grundsätzen gerechter An-
8
Staatsaufgaben und -ausgaben
Zum Folgenden vgl. Nozick, Robert: S. 144-170, S. 240-251.
Anarchy, State, and Utopia,
New York 1974,
180
Thorsten Lange
eignung und gerechter Übertragung beruht, so dass das Individuum einen Anspruch auf das Erworbene geltend machen kann. Ausgehend vom methodologischen Individualismus misst die Anspruchs-
theorie Nozicks den Gerechtigkeitsgedanken anhand einer historisch orientierten Längsschnittanalyse. Sie knüpft damit an einschlägige Betrachtungen Hayeks zur kommutativen Gerechtigkeit9 an, und setzt sich wie diese entschieden von den querschnittorientierten Betrachtungen der Wohlfahrtstheoretiker ab, die die festzustellende Vermögensdisposition zu einem gegebenen Zeitpunkt anhand eines von außen eingeführten Kriteriums ohne Rücksicht auf vorangegangene Vorgänge beurteilen. Die vorhandene Lage wird von ihnen einfach am Maßstab einer gleichen oder gering streuenden Verteilung gemessen, das Problem, ob verschieden große Anteile am Sozialprodukt Ausdruck verschieden großer Verdienste sein könnten, wird ausgeklammert. Ohnehin krankt eine querschnittorientierte Verteilungstheorie an dem ihr eigenen statischen Denkansatz. Selbst wenn die Eigentumsverhältnisse zu einem gegebenen Zeitpunkt einmal ihren Kriterien entsprächen, würden sie auf die Dauer wieder durch freiwillige Tauschhandlungen der Menschen verändert. Sollen dann die ursprünglichen Eigentumsverhältnisse wieder hergestellt werden, führt kein Weg an einer Politik permanenter Umverteilung vorbei. Umverteilung aber bedeutet für einzelne oder Gruppen von Individuen eine Wegnahme wohlerworbener Besitztümer. Sie verletzt individuelle Rechte und gehört deshalb zu jenen Handlungen, die kein legitimer Staat vornehmen darf. Dieses Verbot gilt uneingeschränkt für alle Formen der Umverteilung, gerade auch für diejenige der Besteuerung, da die Besteuerung etwa von Erwerbseinkommen substanziell keine andere Qualität hat als die Verurteilung zu Zwangsarbeit. Entzieht man einer Person den Ertrag einer bestimmten Anzahl von Arbeitsstunden, so ist das gleichbedeutend damit, sie für eine bestimmte Zeit zur unentgeltlichen Arbeit für andere zu verpflichten. Was für Erwerbseinkommen und die Verfügungsgewalt über die Zeit, die zu seiner Erzielung nötig ist, gilt, gilt auch für alle anderen Einkunftsarten und die Ressourcen, welcher es zu ihrer Gewinnung bedarf. So wie es unstatthaft ist, einem Menschen einen Teil seiner Zeit wegzunehmen, weil er diese lieber produktiv als freizeitorientiert gestalten möchte, ist es genauso unstatthaft, ihm einen Teil seiner materiellen Güter zu entziehen, die ihm vielleicht im Gegensatz zu manch anderem sein persönliches Lebensglück verheißen. Die von der Wohlfahrtstheorie propagierte Verteilungsstruktur begründet in den Augen Nozicks ein partielles Eigentum von Menschen an Menschen, weil sie bestimmte Bevölkerungsschichten autorisiert, teilweise über das Produkt der Anstrengungen anderer zu verfügen. Der liberale Grundsatz, dass 9
Vgl. Hayek, Friedrich A. von: The Constitution of Liberty, Chicago 1960, S.
105-124.
Die Bedeutung der Neuen
Vertragstheorie für die Neoliberale Wende
181
an seiner eigenen Person habe, wird so negiert. Auseinem Staat, der die Verpflichtung zur Finanzierung von wanderung sozialer Sicherheit institutionalisiert hat, scheint für den einzelnen Systemen die einzig verbleibende Möglichkeit zu sein, das Recht an sich selber vollständig zurück zu gewinnen. Wenn aber im Sinne Lockes die Option zur Auswanderung bestehen bleibt, weil sie die Voraussetzung dafür darstellt, die Ansiedlung auf dem Territorium eines Staates als implizite Zustimmung zu dessen Existenz zu werten, dann drängt sich die Frage auf, ob nicht das weniger einschneidende Mittel des Austritts aus den eingerichteten Zwangssystemen erst recht statthaft sein muss. Nimmt man die Idee des Individuums ernst, dann bilden grundsätzlich allein freiwillige Übereinkünfte vielleicht die einzig legitime Grundlage für aus Gründen der Hilfsbereitschaft heraus Opfer von einem Teil der Gesellschaft zugunsten eines anderen. Wie gerade der Bezug auf klassische Denkfiguren verdeutlicht, ist die neoliberale Philosophie, die ihren Ausdruck in der Neuen Vertragstheorie findet, das Produkt der Verknüpfung einer nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion mit originär liberalen politischen Orientierungen. Dire zentrale These lautet, dass das Prinzip der individuellen Freiheit eine Verminderung des Einflussbereichs des Staates voraussetzt. Die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführte Rolle des Staates bei der Daseinsvorsorge wird von ihr in Frage gestellt und zugunsten des privaten Marktes zurückgedrängt. Dies impliziert die angedeutete Wendung gegen die keynesianische Ökonomie und ein Eintreten für Angebotspolitik und Monetarismus. Dies impliziert auch eine klare Parteinahme für die ab Mitte der siebziger Jahre zunehmend in den Mittelpunkt demokratietheoretischer Überlegungen rückende These von der Unregierbarkeit des
der Mensch
Eigentum
aus
-
-
Staates.
Die Wirkung der Theorie: Theoretische Grundlagen, Untersuchungsdesign und -méthode Auf dem Feld der empirischen Wirkungsforschung kommt der Diffusionsforschung eine tragende Rolle zu. Diese beschäftigt sich mit der Verbreitung von Neuerungen, die schließlich gesellschaftlichen Wandel herbeiführen. In seinen grundlegenden Betrachtungen definiert Rogers Diffusion als „[...] the process by which an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system".10 Die Neuerungen respektive Innovationen, die der Diffusionsprozess zum Gegenstand hat, können vielfältiger Natur sein. Sie können sich auch und 10
Rogers, Everett M.: Diffusion of Innovations, 3. Aufl., New York 1983, S.
5.
Thorsten Lange
182
auf den Bereich der Ideen beziehen, und solche neuen Ideen umfasgegenüber herkömmlichen Deutungsmustern für ein PToblemfeld bieten, wobei die dem Neuen zugeschriebene Überlegenheit häufig noch mehr zählt als tatsächlich realisierte Fortschritte, die zum Zeitpunkt der ersten Einführung der Innovation normalerweise noch gar nicht nachweisbar sind. Der eigentliche Diffusionsprozess lässt sich als ein Kommunikationsprozess auffassen, dessen Elemente in Anlehnung an Rogers und Shoemaker in einS-M-C-R-E- Kommunikationsmodell11 eingeordnet werden können: Hierbei bezeichnen S „Source" die Quelle, M „Message" die Aussage, C „Channel" das Medium bzw. die Medien der Kommunikation, R Receiver" den Empfänger und E ,J2ffects" die Wirkungen einer Innovation. Eine Neuerung geht von einzelnen Urhebern aus, der Nutzen und der relative Vorteil, welchen sie bietet, werden den Mitgliedern eines sozialen Systems als den eigentlichen Empfängern der Informationsbotschaften durch Kommunikationsmedien nahe gebracht, damit jener Entscheidungsprozess in die Wege geleitet werden kann, an dessen Ende als Wirkung die Annahme oder Zurückweisung der Innovation steht. Anknüpfend an dieses Kommunikationsmodell ergibt sich folgende Einordnung der zur Diskussion stehenden Idee in ein diffusionstheoretisches Modell:
gerade
sen, die einen relativen Vorteil
-
-
-
-
-
S „Source"
(Quelle):
-
M
„Message" (Aussage): -
Die als Innovation verstandene Idee der Neuen Vertragstheorie, die in ihrer hier zu diskutieren den Form das neoliberale Paradigma abrundet, ist im Rahmen einer einschlägigen Tradition von Wissenschaftlern aus den Vereinigten Staaten von Amerika, den Vertretern der libertären modernen Politischen Philosophie Robert Nozick und James Buchanan, ausgegangen. Der zentrale Inhalt der neoliberalen politischen Philosophie besteht in ihrem aus einer Analyse von Politik und Wirtschaft abgeleiteten Erklärungsansatz zur Legitimation des liberal demokratischen Staates respektive politischen Systems -
11 Nach Rogers, Everett MfShoemaker, F. Floyd (Hrsg.): Communication of Innovations: A Cross-Cultural Approach, 2. Aufl., New York 1971, S. 20; Ein anderes Diffusionsmodell stellen Katz, Levin und Hamilton vor, vgl. Katz, Elihu/Levin, Martin LJHamilton, Herbert (Hrsg.): Traditions of Research on the Diffusion of Innovation, in: American Sociological Review 28 (1963), S. 237. Die Unterschiede sind für das Forschungsprojekt jedoch ohne Belang, weil sie keinen Einfluss auf die hier in den Mittelpunkt gerückte Problemstellung haben.
Die
Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende
C „Channel" (Medium): -
183
auf der Basis des methodologischen Individualismus. Die neuen Ideen des neoliberalen Paradigmas wurden in Form wissenschaftlicher Publikationen der Fachwelt vorgestellt. Sie haben im Anschluss daran durch die Medien ihren Weg in die politisch interessierte Öffentlichkeit genommen.
R -
E -
„Receiver" (Empfänger): Die für die Frage der Wirkungsmächtigkeit der
„Effects" (Wirkungen):
Idee interessierenden Adressaten sind die am politischen Willensbildungsprozess im weiteren Sinne beteiligten Bürgerinnen und Bürger. Die Frage der Wirkung der neoliberalen Philosophie steht im Zentrum des Projektinteresses. Als Wirkung wird primär die Adoption des neoliberalen Paradigmas durch die beschriebene Öffentlichkeit aufgefasst. Es geht also zuallererst darum, aufzuzeigen, dass diese Idee überhaupt eine gesellschaftlich-politische Verbreitung gefunden hat. Erst in zweiter Linie steht die Idee selber als eine der möglichen Ursachen für einen Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre eingetretenen sozialen Wandel, die sogenannte Neoliberale Wende, im Brennpunkt des Interesses.
Die Wirkungen der Idee werden in zwei exemplarisch ausgewählten Ländern, dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland sowie der Bundesrepublik Deutschland, untersucht. Die Länderauswahl berücksichtigt einmal dasjenige europäische Land, welches auf die längste liberale Tradition zurückzublicken vermag und mit Locke und Hobbes die klassischen Vorbilder für die beiden libertären Theoretiker Nozick und Buchanan gestellt hat sowie zum anderen ein geistesgeschichtlich wenigstens teilweise anders geprägtes Land, welches dessen ungeachtet der westlichen Kulturtradition zugehörig ist. Das eingesetzte Untersuchungsdesign12 sieht eine Abfolge von sechs Messzeitpunkten vor, die über einen Zeitraum von rund 14 Jahren hinweg 12 Das Untersuchungsdesign nimmt Anleihen bei der Ex Post Facto Forschung, vgl. hierzu Cook, Thomas DJCampbell, Donald T. (Hrsg.): Quasi-Experimentation. Design and Analysis Issues for Field Settings, Boston 1979, S. 207-232; Kerlinger, Fred N.: Grundlagen der Sozialwissenschaften. Aus dem Amerikanischen übertragen von W. Conrad und P. Strittmatter, Bd. 2, Basel 1979, S. 580-581. -
184
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verteilt sind und schwerpunktmäßig das Jahrzehnt nach der bis dahin abschließenden Formulierung der neoliberalen Philosophie abdecken. Die verschiedenen Messzeitpunkte 1 bis 6 liegen dabei so, dass Zeitpunkt 1 im Rahmen von sechs Monaten des Jahres 1970 angesiedelt ist. Zeitpunkt 2 umspannt im Jahr 1973, kurz vor den Veröffentlichungen von Anarchy, State, and Utopia und 77ie Limits of Liberty, ebenfalls sechs Monate. Diese beiden Zeitpunkte bilden Auftakt und Bezugspunkt der Diffusionsbetrachtung, weil sie in die Spätphase der Debatte um Fiskalismus und Monetarismus in den Wirtschaftswissenschaften fallen, als das in Konkurrenz zum neoliberalen stehende keynesianische Paradigma in der öffentlichen Wahrnehmung noch nahezu unangefochten war. Zugleich liegen sie vor der ersten Ölkrise, deren einschneidende wirtschaftliche Auswirkungen die Öffentlichkeit im weiteren Zeitverlauf für politisch-ökonomische Innovationen sensibilisierten. Die späteren Zeitpunkte 3 bis 6 sind im Abstand von mehreren Jahren angesetzt, weil davon auszugehen ist, dass solch komplexe Innovationen wie politischökonomische Ideen einer längeren Wirkungsverzögerung unterliegen. Im Zuge der politischen Umschwünge im Vereinigten Königreich 1979 und in der Bundesrepublik Deutschland 1983 bildet ein Zeitraum von jeweils sechs Monaten vor und nach den Parlamentswahlen einen geeigneten Einschnitt, weil so am besten eine Beziehung zwischen den Ideen und den politischen Veränderungen aufgezeigt werden kann, bilden Wahlen auf gesamtstaatlicher Ebene doch die Kristallisationspunkte schlechthin für Neuorientierungen im Umfeld demokratischer politischer Systeme. Zeitpunkt 3 liegt dementsprechend in den Jahren 1978/79, Zeitpunkt 4 im Jahr 1979. Zeitpunkt 5 beginnt im Herbst 1982, Zeitpunkt 6 schließlich umfasst die sechs Monate nach der Bestätigung der sogenannten „Wende" in der Bundesrepublik Deutschland im Frühjahr und Sommer 1983. Die Untersuchungsanordnung weist damit folgende Gestalt auf:
Ogbl 0dl
Ogb/dl 6: X: R:
-
0gb2 0d2
X X
0gb3
R
0gb4 0gb5 0d4
0d3
0d5
R
0gb6 0d6
Messzeitpunkte (gb Großbritannien/d Deutschland) Veröffentlichungen Nozicks und Buchanans/Erste Ölkrise -
-
Regierungswechsel
Zur diffusionstheoretischen Untersuchung des neoliberalen Paradigmas kommt die Methode der Inhaltsanalyse zum Einsatz. Sie ermöglicht insbesondere dort, wo große Mengen von Aufzeichnungen auf das Vorhandensein
Die
bzw. die
Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende
ganz bestimmter inhaltlicher Bestandteile hin befragt gezielt aus Untersuchungs-, Analyse- sowie Kodiereinheiten
Ausprägung
werden, Daten zu
185
gewinnen.13
Untersuchungseinheiten sind hierbei führende überregionale Tageszeitungen im Vereinigten Königreich und in der Bundesrepublik Deutschland, die das sogenannte publizistische Spektrum abbilden. Auf den britischen Inseln
sind dies der Guardian, die Financial Times, die Times und der Daily Telegraph. Für die Bundesrepublik einschlägig sind die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Welt. Als Analyseeinheiten dienen einzelne Beiträge in den Politikteilen, die sich mit innen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Fragestellungen beschäftigen. Die zentralen Kodiereinheiten schließlich finden sich in Darstellungen des neoliberalen Paradigmas sowie Stellungnahmen und Bewertungen bezüglich seiner Elemente und Forderungen. Dabei ist zu beachten, dass das Paradigma in den wenigsten Fällen abstrakt und theoretisch diskutiert wird. Tageszeitungen enthalten normalerweise konkrete Aussagen, die sich auf einzelne Ereignisse und Themen beziehen, welche für die Öffentlichkeit einen Nachrichten- respektive Neuigkeitswert haben. Diese werden auf eine Art und Weise transportiert, die Rückschlüsse auf den ideellen oder ideologischen Hintergrund der jeweils handelnden Personen zulässt. Die Kategorien der Inhaltsanalyse umfassen dementsprechend eine Reihe aus der systematischen Darstellung der Autoren von Hayek bis Nozick (vgl. o.) abgeleiteter sowie mit diesen konkurrierender einzelner Aussagen zu neun ausgesuchten Politikfeldern, so dass das Spannungsfeld zwischen liberalen und nicht liberalen Thesen abgebildet wird. Unter die Politikfelder fallen hierbei der Gegenstandsbereich staatlicher Tätigkeit (1), die Fragen von Wohlfahrtsstaatlichkeit (2), Staatsausgaben (3) und Staatsverschuldung (4) genauso wie die Problemfelder Inflation (5), Lohn- (6) und Steuerpolitik (7) sowie schließlich die Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit (8), von Wirtschaftspolitik und vom Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft (9). Anhand des letztgenannten Punkts lässt sich der genaue Aufbau des inhaltlichen Kategorienschemas beispielhaft illustrieren, da die Aussagen zu allen genannten Politikfeldern nach demselben Schema angeordnet sind:
13 Vgl. Rucht, Dieter/Hocke, Peter/Oremus, Dieter: „Quantitative Inhaltsanalyse", in: von Alemann, Ulrich (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Methoden, Opladen 1995, S. 264,
S. 267.
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Wirtschaftspolitik/Verhältnis von Staat und Wirtschaft Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft Staatliche Wirtschaftsförderung
Antizyklische Konjunkturpolitik (Globalsteuerung) Investitionslenkung Staatliche Arbeitsmarktpolitik/Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
Unternehmenssubventionen Subventionen zum Erhalt von Arbeitsplätzen Subventionen und Wettbewerb Betriebliche Mitbestimmung Rolle/Einfluss der Gewerkschaften
Vorrang des privaten Marktes
Privatisierung Privatisierung öffentlicher Unternehmen Förderung von Unternehmensgründungen Unternehmergeist Selbständige als Eckpfeiler einer freien Gesellschaft Unternehmerpersönlichkeit als gesellschaftliches Leitbild
Werden die unter dem „Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft" angesiedelten Items positiv bewertet, so handelt es sich um eine dem neoliberalen Paradigma kritisch bis ablehnend gegenüberstehende Aussage, distanziert sich der jeweilige Sprecher hingegen von ihnen, legt er eine liberale Geisteshaltung an den Tag. Umgekehrtes gilt für die unter „Vorrang des privaten Marktes" notierenden Items. Die Methode der Inhaltsanalyse, die im Sinne Frühs als „[...] empirische Methode zur systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von eigentlich primär erweitert. Element wird hier ein um orientiert ist, qualitatives quantitativ Auch wenn die in den Tageszeitungen vorgefundenen Formulierungen für die Kodierung ausschlaggebend sind, müssen doch synonym gebrauchte Begriffe einheitlichen Kategorien zugeordnet werden.15 Damit aber ist die Grenze zur
Mitteilungen"14
14
Früh, Werner: Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis, 3. Aufl., München 1991, S. 24. Vgl. hierzu Diekmann, Andreas: Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Hamburg 1995, S. 510/511, Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 1983, S. 22-32; Zur Differenzierung zwischen 15
quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse siehe z.B. Diekmann: Empirische Sozialforschung, S. 510-516; Herkner, Werner: „Inhaltsanalyse", in: van Koolwijk, JürgentWickenMayser, Maria (Hrsg.): Techniken der empirischen Sozialforschung, Bd. 3, München 1974, S. 158-160, Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse, S. 14-17.
Die Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende
187
qualitativen Analyse überschritten, weil der Kontext der jeweiligen Aussagen Berücksichtigung findet.16 Wie die Untersuchung von Positionen zu Politikfeldern als Indikatoren für die Wirkungsmächtigkeit einer politischen Idee deutlich macht, beruht das methodische Vorgehen auf einer aus der Agenda-Setting-Forschung17 entlehnten Hypothese. Ist es möglich, konstitutive Gedankengänge der interessierenden Idee bzw. Äußerungen, die auf solche rückführbar sind, in den Veröffentlichungen der Printmedien nachzuweisen, dann kann angenommen werden, dass sie in Denken und Handeln der in einem weiten Sinne an den politischen EntScheidungsprozessen Beteiligten Eingang gefunden und somit Wirkung entfaltet haben. Die in der Agenda-Setting-Forschung geführte Kontroverse darüber, ob die Medien- die Publikumsagenda bestimmt oder umgekehrt die Medien lediglich reflektieren, was das Publikum schon beschäftigt,18 kann hierbei dahingestellt bleiben, weil es lediglich darum geht, zu zeigen, dass die in Frage stehende Idee Verbreitung gefunden hat. Dafür aber ist die Feststellung einer öffentlichen Diskussion ihrer zentralen Thesen an sich ausreichend.
Skizze zentraler Ergebnisse
vorliegenden Ergebnisse beruhen auf einer Fallzahl, die für sich in Anspruch zu nehmen vermag, repräsentativ zu sein. Insgesamt sind 9 632 Artikel aus den publizistischen Spektren der beiden Länder inhaltsanalytisch
Die
behandelt worden, davon 3 072 aus den deutschen und 6 560 aus den britischen Qualitätstageszeitungen. Die Unterschiede in den Fallzahlen beruhen auf Unterschieden im jeweiligen Umfang der Berichterstattung. Ein kurzer Überblick über eine Auswahl der auf ihrer Basis ermittelten Daten ergibt bereits ein recht bezeichnendes Bild: Im Vereinigten Königreich überwiegen von Anfang an die Artikel mit liberaler Tendenz. Sie erreichen im gewichteten Mittel der Jahre 1970 und 1973 einen Anteil von 43,3 Prozent gegenüber nur 43,1 Prozent von Artikeln mit einer das liberale Gedankengut kritisch bis ablehnend beurteilenden Tendenz. Diese Quote steigt in den Jahren 1978 und 1979 auf 48,2 zu 37,5 Prozent an, pendelt sich bis zum Abschluss des Untersuchungszeitraums 1982 16 Das Vorgehen folgt hierbei Diekmann: Empirische Sozialforschung, S. 515 sowie Früh, Werner: „Analyse sprachlicher Daten", in: Hoffmeyer-Zlolnik, Jürgen H. P. (Hrsg.): Analyse verbaler Daten, Opladen 1992, S. 66/67. 17 Vgl. hierzu Shaw, Donald LJMcCombs, Maxwell E. (Hrsg.): The Emergence of American Political Issues: The Agenda-Setting Function of the Press, St. Paul 1977, S. 11, 26. 18 Die Diskussion wird bei Ehlers nachgezeichnet, vgl. Ehlers, Renate: Themenstrukturierung durch Massenmedien. Zum Stand der empirischen Agenda-Setting-Forschung, in: Publizistik 28 (1983), S. 169-170.
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Thorsten Lange
und 1983 jedoch wieder auf die Größenordnung von 43,2 zu 41,6 Prozent ein. Über 14 Jahre hinweg zeigt sich somit eine vergleichsweise geringe Bewegung, die um die Unterhauswahlen vom 3. Mai 1979 herum einen Gipfel ausbildet, der anschließend allerdings nicht gehalten oder gar überboten werden kann.
(vgl. Abb. 2) Demgegenüber legt die Bundesrepublik Deutschland einen eindeutig diffusionstypischen Verlauf an den Tag. Für die zweiten Halbjahre 1970 und 1973 überwiegen bei der Medienberichterstattung Artikel, die dem neoliberalen Paradigma entgegengesetzte Tendenzen aufweisen. Sie erreichen jeweils
Anteile von 41,8 bzw. 41,0 Prozent, denen Anteile von 39,6 bzw. 38,8 Prozent der Artikel gegenüber stehen, die dem neoliberalen Gedankengut eher zuneigen. Bis ins Frühjahr 1979 hinein gibt es nur wenig Bewegung. Erst im folgenden Untersuchungszeitraum kehren sich die Verhältnisse mit 42,0 zu 37,3 Prozent zugunsten liberaler Tendenzen um. Danach sind kontinuierliche Zuwächse zu verzeichnen. In der Periode Anfang September 1982 bis Anfang März 1983 steigt der Anteil der Artikel mit einer das neoliberale Paradigma befürwortenden Tendenz auf 44,4 Prozent, im Halbjahr nach den Bundestagswahlen vom 6. März 1983 kulminiert er mit 49,3 Prozent, während nun lediglich noch 32,8 Prozent der Artikel neoliberales Gedankengut in Frage stellen, (vgl. Abb. 1) Die Analyse im Detail unterstreicht diesen Eindruck, was sich anhand des oben schon näher aufgeschlüsselten Politikfelds der Wirtschaftspolitik respektive des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft (vgl. o.), das den vom Umfang der Berichterstattung her größten Einzelpunkt darstellt, zeigen lässt. Betrachtet man hier die Bundesrepublik Deutschland etwas genauer, so kann man feststellen, dass die Anzahl der Aussagen, die das Theorem einer monetaristisch orientierten Angebotspolitik entsprechend dem „Vorrang des privaten Marktes" im liberalen Sinne bejaht, in den Jahren 1970 und 1973 im Mittel nur 27,5 Prozent der Anzahl jener Aussagen erreicht, welche eine keynesianische Konjunkturpolitik nach der Maxime vom .J'rimat der Politik gegenüber der Wirtschaft" befürwortet. In der Periode von November 1978 bis Mai 1979 sind es bereits 37 Prozent. Das folgende Halbjahr setzt mit 73 Prozent zu einer Art Quantensprung an, bevor 1982/83 und im weiteren Verlauf des Jahres 1983 mit 76 respektive 84 Prozent die höchsten Werte gemessen werden. Noch dramatischer fällt der Umschwung aus, wenn man nur die meinungsbetonten Stilformen Kommentare, Reportagen, Interviews, Diskussionen und Foren berücksichtigt. Dann belaufen sich die Werte auf 40 Prozent für den Durchschnitt der beiden Jahre 1970 und 1973, auf 60 Prozent für 1978/79, auf 117 Prozent für 1979 und schließlich auf ein Mittel von 150 Prozent für 1982/83 und 1983. Die Meinungsmacher scheinen der Entwicklung in ande-
Die
Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende
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Teilen der politisch relevanten Öffentlichkeit stets voraus gewesen zu sein, und im Laufe der Zeit immer entschiedener neoliberale Thesen reflektiert, wenn nicht gar gefördert zu haben. Bereits diese wenigen ausgewählten Ergebnisse lassen ein gespaltenes Bild bei der Nachzeichnung der Diffusion des neoliberalen Paradigmas erkennen. Es liegen klare Anzeichen für wesentliche Unterschiede zwischen den Entwicklungen im Vereinigten Königreich und in der Bundesrepublik Deutschland vor. Lediglich für die Bundesrepublik Deutschland kann von einer Diffusion der neoliberalen Idee gesprochen werden, zeigt sich hier doch einmal die zunehmende Rezeption der Idee, zum anderen aber gerade auch deren zunehmend positive Bewertung. Im Vereinigten Königreich hingegen scheint es eher so etwas wie eine Konjunktur liberalen Denkens im Zuge des „Winter of Discontent" 1978/79 gegeben zu haben. Insofern geht auch hier dem einschneidenden Regierungswechsel, um den herum die einzelnen Untersuchungszeiträume gruppiert sind, eine messbare Hinwendung zu einer kurze Zeit später zum Regierungsprogramm erhobenen politischen Idee voraus. In den Jahren danach aber pendeln sich die Dinge wieder auf das ein, was man vielleicht eine Art Normalmaß der politischen Orientierung nennen könnte. Zu beachten ist hierbei allerdings, dass dieses Normalmaß, gemessen am Stand der frühen 70er Jahre, über dem zu jener Zeit für die Bundesrepublik zu beobachtenden Ausgangsniveau liberaler Orientierungen liegt. Die liberale Idee ist eine ursprünglich angelsächsische. Sie hat für Großbritannien im ausgehenden 20. Jahrhundert daher nicht jenen Neuheitswert, den sie für die traditionell korporatistisch geprägte Bundesrepublik hat. Die Öl- und Wirtschaftskrise von 1973/74 macht daher keine Neuorientierung erforderlich, sondern lediglich die Rückbesinnung auf bereits weit verbreitete Werte, die zuvor während einer gewissen Zeit in den Hintergrund getreten waren. In Deutschland war eine solche Hinwendung zum Bekannten ungleich schwerer, befand man sich doch in einem Zustand tiefer geistiger Verunsicherung. Und an welche altbewährten Gedanken hätte man wieder anknüp-
ren
fen können, waren die einzig nennenswerten deutschen Beiträge zur politischen Philosophie doch auf den Feldern des durch den Nationalsozialismus tatsächlich oder auch nur vermeintlich diskreditierten korporatistischetatistischen Konservativismus hegelianischer Provenienz einerseits und den durch die Vorgänge in der damaligen DDR kaum über bestimmte Zirkel hinaus Attraktivität ausstrahlenden marxistischen Materialismus andererseits zu finden? Die stärkere Annäherung an die zwanzig Jahre lang als Erfolgsmodell gefeierte Erhardtsche Marktwirtschaft war damit naheliegend. Deren Grundlagen aber bilden liberale und neoliberale Theoreme, die in der zweiten Hälfte der sechziger und der ersten Hälfte der siebziger Jahre vorübergehend von keynesianischen überlagert worden waren.
Thorsten Lange
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Deutsche Frankfurter
Zeitungen
Rundschau, Süddeutsche Zettung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Weft
Abb. 1 : Anlall der Artikel mit pro-neol ¡berat«» Tendenz nach n - 3.072
Untersuchungsieiträiir
Britische Zeitungen
Guardian, Financial Times, Times, Daily Telegraph
Abb. 2: Anteil der Artikel mit pro-fieolib« rater Tandem nach n«
6.560
Untersuchungszeiträirmen
Die
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Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende
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Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen Lutz Danneberg [...] I see the main purpose of historical studies in the unfolding of the stupendous wealth of phenomena which are connected with any phase of human history and thus to counteract the natural tendency toward oversimplification and philosophical constructions which are the faithful companions of ignorance} I. Eine ideologisch verfahrende Wissenschafts- und Denkgeschichtsschreibung orientiert sich an einem in bestimmter Weise ausgezeichneten Zustand (in vorliegenden Fall unserer Untersuchungen ist es der der .Säkularisierung') er kann dabei in der Gegenwart, in der Zukunft, aber auch in der Vergangenheit liegen. Sie stiftet auf diese Weise Zusammenhang und Kontinuität im Rahmen einer Entwicklung, indem in ihr frühere Zustände als relevant ausgezeichnet und sie in ihrem wesentlichen Gehalt, befreit von zahlreichen anderen Eigenschaften, verstanden oder rekonstruiert werden. Versteht man das unter ideologischer Geschichtsschreibung, so stellt sie eine vollkommen legitime Perspektive dar, wenn sie das telos preisgibt. Zumeist jedoch geschieht das nicht mehr noch, sie wird oftmals noch durch die mehr oder weniger vehemente Abweisung teleologischer Geschichtsschreibung überdeckt. Und wie nicht wenige der sich in dieser Hinsicht exponierenden Versuche zeigen, handelt es sich dabei um eine bloß verbale Distanznahme, mittels der das Autostereotyp der eigenen Praxis geschönt wird. Gleichwohl bietet eine solche Konzeption auch dann Probleme, wenn sie sich nicht verschleiert, sondern sich offenbart. Im Wesentlichen sind es meines Erachtens drei Probleme. Das erste ist das der Auszeichnung eines bestimmten orientierenden Zustandes.2 Nicht selten verbindet sich mit einer solchen Auszeichnung und nicht zuletzt im Blick auf eine Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinn, etwa die der Naturwissenschaften, der Eindruck, diese Perspektive prämiere -
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1
Neugebauer, Otto: The Exact Sciences in Antiquity, Copenhagen (1951) 1957, S. 208. Zu im Weiteren nicht oder nur am Rande angesprochenen Problemen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung Lutz Danneberg und Jörg Schönen: Belehrt und verführt durch Wissenschaftsgeschichte, in: Boden, YeXxalDainat, Holger (Hrsg.): Atta Troll tanzt noch, Berlin 1997, S. 13-57, ferner Danneberg, LutzlHöppner, Wotfgang/Klausnitzer, Ralf: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten 2
wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion, Berlin 2005, S.
Iff.
194
Lutz Danneberg
nicht allein kontinuierliche oder sogar kumulative Abfolgen, sondern diese seien alternativlos (gleichsam notwendig). Die (Ideologische) Darstellung unterstütze eine solche Auffassung, indem ihre Rekonso das Bedenken struktionen bei bestimmten Entwicklungsgängen retrospektive Geschlossenheit und damit einen alternativlosen Verlaufscharakter suggeriere, während bei jeder isoliert betrachteten epistemischen Situation prospektive Offenheit von Denkentwicklungen bestehe. Es kommt zu einer Asymmetrie der prospektiv gegebenen und der retrospektiv rekonstruierten epistemischen Situation. Während für diese Situation die Nichtprognostizierbarkeit des (konkreten) Gehalts der weiteren Entwicklung sowohl in der Wahrnehmung der Akteure wie auch methodologisch charakteristisch ist, verdeckt ihre Rekonstruktion genau diesen Charakter: Das Wissen um die Fortsetzung lässt die Elemente einer bestimmten epistemischen Situation erkennen, die sich dann so formen lassen, als würden sie die späteren Denkresultate nezessieren und das ist mehr als die Rekonstruktion einer Denkentwicklung als .rational'. Die wissenschaftstheoretische Grundlage für den prospektiv (relativ) offenen Charakter epistemischer Situationen liegt in zwei grundsätzlich unterschiedenen Arten von Unbestimmtheiten in regulierten Satz-HandlungsAbfolgen bei der (wissenschaftlichen) Verhandlung wie bei der Erzeugung von Wissensansprüchen. Eine gegebene Menge (empirisch) relevanter Informationen, die durch entsprechende Sätze repräsentiert wird, vermag nicht nur eine bestimmte, in einer historischen Satzmenge tatsächlich auftauchende Theorie (bzw. Satz) auszuzeichnen, also entsprechende Wahl-Handlungen zu rechtfertigen, sondern immer mehrere mögliche, dabei nicht unbedingt auch logisch äquivalente Theorien. Sie können in der untersuchten historisch gegebenen Satzmenge vorkommen oder auch nicht, mithin nicht als eine (bereits) existierende alternative Theorie. Diese Unbestimmtheit ist mithin die Unterdeterminiertheit aufgrund empirischer Äquivalenz radikalisiert noch im Fall von Welt-Theorien, systems of the world, bei denen selbst die Vorstellung des Vorliegens aller vergangener, gegenwärtiger oder zukünftiger .Erfahrungen' als Informationen eine solche Unbestimmtheit nicht zu beseitigen vermag. Das ist die erste Unbestimmtheit, die eine epistemische Situation grundsätzlich als prospektiv offen erscheinen lässt. Eine zu einer vorliegenden Theorie gegenteilige (empirische) Information erlaubt verschiedene Möglichkeiten der Revision der an einer gegebenen epistemischen Situation beteiligten Wissensansprüche. Das ist die zweite Unbestimmtheit, die nicht ausschließt, dass sich der zur Prüfung und Beurteilung anstehende Wissensanspruch immerfort bewahren lässt. Diese zweite Art der Unbestimmtheit ist die Unterdeterminiertheit aufgrund der in einer der jeweiligen epistemischen Situation gegebenen Nichtisolierbarkeit des Prüfgegenstandes bei der Erörterung, also Bewahrung oder Zurückweisung, von Wissensansprüchen.
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Epistemische Situationen
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gegebene Satz-Abfolge in einer untersuchten historischen Satzmenge bezogen auf eine epistemische Situation bedeutet das, dass es zu ihr immer alternative Sequenzen gibt und das in zweifacher Hinsicht: Nicht nur der Eingang von bestimmten Sätzen in eine gegebene historische Sequenz ist logisch unbestimmt (und in dieser Hinsicht willkürlich), sondern auch ihre Fortsetzung. Macht man nun bestimmte Entkontextualisierungen für die wissenschaftstheoretischen Überlegungen wieder rückgängig, indem man die historische Abfolge einer Satzmenge in ihren Handlungskontext einbettet, so bedeutet das, dass die ÇWahl-)Handlungen, die zu der historischen Satzmenge geführt haben, sowohl in der einen als auch in der anderen Hinsicht unterbestimmt sind. Welche Regulierungen für den Handlungszusammenhang von Wissenschaft (implizit oder explizit) auch immer in Geltung sein mögen, sie gelten hinsichtlich des wissenschaftlichen Handelns in zweifacher Hinsicht als unzureichend: In einigen wissenschaftlichen Situationen fehlt die Angabe passender Handlungen, und nicht in jeder Situation erlauben die bereitgestellten Identifikatoren, zwischen vorgesehenen Handlungsmöglichkeiten zu entscheiden. Methodologische Regeln oder Kriterien lassen sich dann als Versuche auffassen, solche wahrgenommenen Unbestimmtheiten von (Wahl-) Handlungen (Präferenzen) in bestimmten epistemischen Situationen zu verringern, also die lokale Rationalität in wissenserzeugenden Situationen zu Für die
vergrößern.3
Die Möglichkeit retrospektiver Geschlossenheit bei prospektiver Offenheit jeder epistemischen Situation bildet die Grundlage oder ist doch zumindest Sowohl die methodologischen Regeln und Wissenschaftsnormen (immer bezogen auf eine raum-zeitlich eingegrenzte Gemeinschaft von Wissenschafts-Akteuren) als auch die Reichweite ihrer Geltung und die Staffelung ihrer normierenden Kraft besitzen unterschiedliche Grade der Visibilüät in der jeweiligen epistemischen Situation. Insbesondere heißt das, dass in den historisch markierten Satzmengen keine expliziten Aussagen über solche Regeln und Normen selbst vorhanden sein müssen, sie gleichwohl präsent sind, indem sie handlungssteuernd, vor allem handlungseinschränkend wirken. In jedem Fall heißt das, dass der Gehalt der Normen oder Regeln ebenso wie ihre normierende Reichweite und ihre Kraft sich zum Teil allein im Verhalten der Akteure in nicht artikulierter Weise ausdrückt. Wenn auch nicht für alle, so doch für eine Vielzahl dieser Regeln (Normen) gilt, dass sie stillschweigend befolgt werden bei der Produktion von Satzmengen, in denen sich die Verhandlungen über Wissensansprüche niederschlagen, sie also, zumindest bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, nur Teil eines tacit knowledge sind. Ein vergleichsweise guter Indikator ist Verhaltenskonformität, auch wenn Konformität für die Geltung von Normen weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung darstellt; Verhaltensabweichungen bieten mithin bessere Situationen, in der solche Regeln und Nonnen, kurz das jeweilige wissenschaftliche Ethos, mehr oder weniger situativ explizite Formulierung finden und vor allem Handlungskonsequenzen nach sich ziehen können (Sanktionen). Die Sanktionsbereitschaft unterscheidet die Wissenschafts-Normen schließlich von den Autostereotypen, die Wissenschaftler von ihrem eigenen Tun entwerfen. Dieser implizite Charakter der relevanten Normen gehört nun mit zu den Ursachen für ein auffallendes Phänomen: Trotz der logischen Unbestimmtheiten der Satzfolgen erscheint im Autostereotyp der in Handlungsgemeinschaften verbundenen Akteure das Aufstellen von Wissensansprüchen sowie ihre Evaluation (retrospektiv wie prospektiv) oftmals als ein geschlossener Vorgang.
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Lutz Danneberg
ein wesentliches Motiv für eine Denkgeschichtsschreibung. Als
teleologisch verfahrende Wissenschafts- und wirkungsvolle Bestätigung für eine solche Konzeptionalisierung kognitiver Prozesse konnte gelten, dass selbst den beteiligten Akteuren trotz prospektiver Offenheit ihre (wissenschaftlichen) Handlungsprozesse aus der Retrospektive der erreichten Resultate als geerscheinen.4 Der Kern der prospektiven Offenheit liegt in der Nichtprognostizierbarkeit des (konkreten) Gehalts der Entwicklung von Wissensansprüchen in epistemischen Situationen. Auch wenn dieses Prognose-Argument erst in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts Einsatz gefunden hat für eine bestimmte Sicht der Wissenschaftsentwicklung5 und zur Kritik umfassender gesellschaftlicher Prognostizierbarkeit ausgeweitet wurde, ist es als solches gleichwohl lange zuvor bekannt gewesen: „Nun ist aber dieses Ergebnis, nämlich das Neue, ganz unabhängig schlossen
dem Willen des betreffenden, er kann es nicht voraussehen, denn was er voraussieht, kann nur ein bekanntes sein."6 Leibniz' letzter Satz in einem seiner letzten Werke, der freilich unvollendeten Apokatastasis-Schrift lautet: „Et quaevis mens horizontem praesentis suae circa scientias capacitatis habte, von
nullum futurae" jeder Geist beherrsche hinsichtlich der Wissenschaften seine gegenwärtige, nicht aber seine zukünftige -
4
nur
Fassungskraft.7
So lässt sich die Form der Feldgleichungen in der Allgemeinen Relativitätstheorie im nachhinein bis auf zwei Konstanten bestimmen, indem man als Anforderung annimmt oder unterstellt, die relativistischen Gleichungen sollten in einen nichtrelativistischen Grenzfall übergehen. Vgl. z.B. Misner, Charles W. u.a.: Gravitation, San Francisco 1973, S. 416433. Einstein selbst hat das so ähnlich gesehen, vgl. ders. und Leopold Infeld: Die Evolution der Physik [The Evolution of Physics, 1938], Wien/Hamburg 1950, S. 213: „Es hat sich als recht einfach erwiesen, die klassische Mechanik [...] abzuändern [...]. Die alte Mechanik gilt eben nur für kleine Geschwindigkeiten und bildet einen Grenzfall der neuen." Zu Einsteins Sicht auch Martin J. Klein: Einstein on Scientific Revolutions, in: Vistas in Astronomy 17 (1975), S. 113-121; zum Problem ferner Erhard Scheibe: The Physicists' Conception of Progress, in: Studies in the History and Philosophy of Science 19 (1988), S. 141-159. Von den zahlreichen Rekonstruktionen und Untersuchungen zum komplexen Hintergrund dieser Theoriebildung seien nur genannt Jürgen Renn: The Third Way to General Relativity: Einstein and Mach in Context, s.l., s.a. [ca. 1993] (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Preprint 9), Don Howard: Einstein and Eindeutigkeit: A Neglected Theme in the Philosophical Background to General Relativity, in: Eisenstaedt, lean/Knox, A. J. (Hrsg.): Studies in the History of General Relativity, Boston 1992, 154-243. S. 5 Vgl. Danneberg, Lutz: Methodologien. Struktur, Aufbau und Evaluation, Berlin 1989, S. 119ff; sowie Rosenberg, Alex: Scientific Innovation and the Limits of Social Scientific in: Synthese 97 (1993), S. 161-182. Prediction, 6 Capitaine, Emil: Das Wesen des Erfindens. Eine Erklärung der schöpferischen Geistesthätigkeit an Beispielen planmässiger Aufstellung und Lösung erfinderischer Aufgaben, Leipzig 1895, S. 14. Vgl. Ettlinger, Max: Leibniz als Geschichtsphilosoph. Mit Beigabe eines bisher unveröffentlichten Leibnizfragments über die .Wiederherstellung aller Dinge', München 1921; Schmitz, Hans Georg: Übersetzung und Kommentierung des Apokatstasis-Fragments von Leibniz, Phil. Diss. Frankfurt/M. 1963 ; Leibniz, Gottfried Wilhelm: De l'horizon de la
Epistemische Situationen
197
Fast ebenso alt ist eine andere Beobachtung, aus der man schließen konnte, dass die epistemischen Situationen hinsichtlich des Grades ihrer Offenheit beschränkt sind: Es ist die Wahrnehmung zeitgleicher, aber voneinander
unabhängiger Mehrfachbildungen
von neuen
Wissensansprüchen.8 Zugleich
Wahrnehmung eines der zentralen Motive für die Herausbildung der Wissenschaftssoziologie geworden9: Zum einen ließ sich aus dem Vorfinden von .Mehrfachentdeckungen' auf den nicht-singulären Charakter der in bestimmten epistemischen Situationen eingelagerten Wissensproduktion schließen, so dass jenseits ihres Ursprungs in individuellen kreativen Leistungen ein Argument für die Vergleichbarkeit als Voraussetzung für eine soziologische Untersuchung gegeben zu sein schien; zum andern entzündeten sich hieran verstärkt Fragen nach der sozialen Anerkennung und Gratifikation als Ergebnis spezifisch ausgeprägter Normen wissenschaftlichen Handelns. Die .Mehrfachentdeckungen' (neben den Streitigkeiten zur Priorität von Wissensansprüchen) hat dann so entschieden wohl erst Robert K. Merton als Normalzustand von Wissenschaft, also von in bestimmter Weise strukturierten epistemischen Situationen, exponiert und als Hinweis auf die Geltung bestimmter sozialer Normen im Wissenschaftsbetrieb gesehen. Wie dem auch sei: Die methodologische Maxime für die Rekonstruktion von Denkgeschichten sollte sich weder an der retrospektiven Geschlossenheit noch an der prospektiven Offenheit epistemischer Situationen orientieren. Worin man auch immer die Ursachen für diese .Lücken', welche die beiden Unterbestimmtheiten reißen, sehen mochte im 19. Jahrhundert häufen sich nicht allein die Berichte von Entdeckungen, die durch Zufall zustande gekommen sein sollen (Serendipidität) und die daher nicht durch ein rational prozedurales Verfahren erzeugt wurden10 Geschichten, die oftmals der Überprüfung nicht standhalten, die aber unabhängig davon in Erinnerung ist diese
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doctrine humaine (1693). (La Restitution universelle) (1715). Texts inédites, traduits et annotés par Michel Fichant, Paris 1991. 8 Vgl. Danneberg: Methodologien, S. 123ff, sowie Lamb, David/Easton, Susan M.: Multiple Discovery: The Pattern of Scientific Progress, Trowbridge 1984. Vgl. Danneberg, Lutz: Einführende Überlegungen zu normativen Aspekten in der Wissenschaftsforschung zur Literaturwissenschaft, in: Schönen, Jörg (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, Stuttgart/Weimar 2000, S. 447-471, insb. S. 454ff. 10 Immer wieder angeführte Beispiele für Zufallsentdeckungen sind H. W. Herschels: Entdeckung des Planeten Uranus 1781, die der Röntgenstrahlen 1895 oder die der Radioaktivität durch Becquerel. Zu unterscheiden ist, worauf die Beurteilung als zufällig (als .glückliche Entdeckung') beruht: Zunächst kann es die Relation zwischen dem Wissenschaftler und einem (für ihn) neuen Wissensanspruch sein (dann kommt infrage so etwas wie .unerwartet', ,unvorausgesehen', .unbeabsichtigt'), dann kann es sich auf die Relation zwischen einem vorherigen Wissen (das unabhängig von seiner individuellen Verfügbarkeit bestimmt ist) und einem neuen Wissensanspruch bezogen sein. Beides ist theoretisch getrennt: Wenn man zwischen beiden Relationen unterscheidet, dann müssen sie nicht zusammenfallen; etwas kann nach dem einen zufällig sein, was es nach dem anderen nicht ist. Und offenbar lassen sich dann unterschiedliche Grade und auch verschiedene Formen der Zufälligkeit unterscheiden.
198
Lutz Danneberg
bringen, dass in der Retrospektive Momente der Offenheit der epistemischen Situation noch zu bewahren sind." Wichtiger noch ist die Deutung, die solche ,Lücken' als besonders kreative Vorgänge erfahren, und die Rolle, die der Intuition, der Einbildungskraft oder der schöpferischen Phantasie beim Entstehen wissenschaftlicher Erkenntnisansprüche zugebilligt werden. Zu den im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum aufsehenerregendsten Auseinandersetzungen gehört die Kritik Justus von Liebigs an bestimmten wissenschaftstheoretischen Vorstellungen, nicht zuletzt an Bacons Verfahren
der Induktion. Hierbei haben zwar sehr verschiedene Motive der Wissenschaftskonkurrenz eine Rolle gespielt, und sicherlich ist nach der BaconIdolatrie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ihm danach, nicht zuletzt im deutschen Sprachraum, unablässig Ungerechtigkeit widerfahren durch die massiv gestörte Wahrnehmung der Komplexität seines Philosophierens. Doch um die Mitte der noch laufenden Auseinandersetzung bringt Wilhelm Dilthey das, was hier daran interessiert, auf den Punkt: „Das Vorurteil des Denkens als eines rein logischen Vorgangs. Seit Aristoteles bis heute wird nur in den Operationen des Verstandes der Grund aller Wissenschaft gesucht. Dies ist falsch. Schon Liebig macht darauf aufmerksam, daß der Experimentator durch einen Zug schöpferischer Phantasie müsse geleitet werden, analog dem Tun des Künstlers."12 Doch auch das, ,die Phantasie', ,das Schöpferische' oder dergleichen mehr, ist durchweg nicht mehr als der Name für eine black box, die es auf Grund der nur retrospektiven Geschlossenheit geben muss und die zu erklären ist, ohne die vorgängige Offenheit auszumerzen. Solche Konzepte sind zumeist eben nicht mehr als die Worthülsen, welche die Offenheit in Erinnerung halten sollen, aber die in der Regel nur geringe, darüber hinausgehende erhellende Kraft für die Vorgänge der Denkgeschichte besitzen. Das zweite Problem ist ebenfalls das einer Asymmetrie, und zwar einer Asymmetrie der Erklärung. Das historische Material erfahrt in einer solchen ideologischen Darstellung eine Dreiteilung: in Episoden, die mit der (teleo11 Diese Auffassung ist am Beginn des 20. Jhs. überaus verbreitet, findet sich aber auch schon früher, vgl. Danneberg: Methodologien, S. 67ff. Nur zwei dort nicht zu findende Beispiele: Der namhafte Altphilologe Ludwig Traube vermutet, vgl. ders.: Vorlesungen und Abhandlungen. 1 : Zur Paläographie und Handschriftenkunde, hrsg. v. Paul Lehmann,
München 1909, S. 13: „Mehr als wir ahnen sind es zufällige Ereignisse, die den Werdegang der Wissenschaften bedingen." Trotz der seit seiner frühen Dissertatio de arte combinatoria von 1666 fortwährenden Bemühungen um eine ars inveniendi, kennt auch Leibniz Erfindungen, die durch Zufall zustande gekommen seien; aus denen man für eine ars inveniendi denn auch nichts lernen könne, vgl. ders.: Historia et origo calculi differentialis [1714], in: ders.: Mathematische Schriften, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Bd. V, Berlin/Halle 1858 (ND 1971), S. 392-410, hier S. 392. 12 Dilthey, Wilhelm: Frühe Vorlesungen zur Logik und zum System der philosophischen Wissenschaften, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. XX, hrsg. v. Hans-Ulrich Lessing/ Fridtjof Rodi, Göttingen 1990, S. 1-126, hier S. 98.
Epistemische Situationen
199
logischen) Ausrichtung konform sind, und in solche, die es nicht sind, aber zum Gegenstand gehören und solche, bei denen weder das eine noch das andere gilt. Der Unterschied findet seinen Ausdruck in einer Erklärungsasymmetrie: (a) für die konformen und die nicht-konformen werden zwei
unterschiedliche Arten der Erklärung angenommen, (b) die eine der beiden Erklärungsarten genießt Priorität gegenüber der anderen, die damit als eine Residualerklärung aufgefasst wird; (c) jede der konformen wie der nichtkonformen Episoden lässt sich nur nach der einen oder anderen Weise erklären. Die einer solchen Asymmetrie zugrunde liegende (implizite) Vorstellung ist, dass das, was sich in Richtung des telos bewegt in einer epistemischen Situation bereits dadurch seine Erklärung findet. Das Nichtkonforme wird dann als Abweichung gegenüber einer erwarteten Normalität aufgefasst und erfordert so eine exogene Erklärung. Das Erklärungsideal ist, wenn man so will, das eines methodologischen Kollektivismus; um seine Störung zu erklären, wird ein methodologischer Individualismus in Anspruch genommen. Im Gegensatz hierzu steht die Forderung, konforme wie nicht-konforme Episoden in gleicher Weise zu erklären oder zu beschreiben. Im Rahmen einer teleologisch verfahrenden Wissenschafts- und Denkgeschichtsschreibung wird zumindest implizit nicht allein zwischen konform und nicht-konform, sondern auch zwischen relevant und irrelevant getrennt. Es ist freilich immer erforderlich, in irgendeiner Weise eine Ausgrenzung zu vollziehen, indem man etwas (vorläufig und implizit) als irrelevant erklärt. Nicht selten werden die Alternativen zu einer Ideologischen Perspektive in der Weise konzipiert, in dem statt dessen das, was (bislang) als irrelevant erscheint, als .Übersehenes', .als Ränder' o.dgl. Auszeichnung erfahrt oder gar zum Standard erhoben wird. Das bislang Visible wird invisibilisiert und nicht selten dabei unter freilich immer versteckter Ideologischer Perspektivierung. Der einzige Vorteil dieser Perspektivierung ist, dass sie sich im Unterschied zu den abgelehnten weniger leicht durchschauen lässt. Die Überzeugungen, die in dieser epistemischen Situation eingehen, erlangen Vertrautheit angesichts marginalisierter, weil vermeintlich widerlegter Alternativen, die aus Wissensrepertoire potentieller Alternativen verschwinden. Wie lässt sich aber das Ziel mit seinem Gegenwartsbezug für die Vergangenheit als wirksam konstruieren? Das geschieht über die Annahme von .Faktoren' (oder dergleichen), die mehr oder weniger gleichmäßig im zeitlichen Ablauf als wirksam angenommen werden. Im engeren Rahmen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Vorstellungen von wissenschaftlicher Rationalität prominent. Sie bilden die Grundlage für Erklärungen eines aus Erzeugungsprozessen und
Präferenzhandlungen zusammengesetzten Entwicklungsprozesses. Damit kommt das dritte Problem in den Blick; denn solchen Erklärungen lässt sich entgegenhalten, dass sie die so rekonstruierten Entwicklungen nicht auf die
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Lutz
Danneberg
besonderen historischen Kontexte beziehen, sondern auf einen ihnen jeweils zukünftigen Fluchtpunkt. Hierdurch erscheint die Wissenschafts- oder Denkgeschichte auf etwas ausgerichtet zu sein, das keine der Generierungen und Präferierungen .tatsächlich' bestimmt hat. Aus dieser Sicht handelt es um die Inthronisierung eines Beobachters, der durch sein Wissen ex post in die Lage versetzt wird, die untersuchten Abläufe besser zu verstehen, als es die Akteure vermochten oder es ihnen zuschreibbar erscheint. Doch angesichts dieses Problems verliert sich die Entgegensetzung von ,teleologischem' und ,nicht-teleologischem' Zugriff auf die Denkgeschichte. An ihre Stelle tritt die Frage nach der Art und Weise der kognitiven Asymmetrie, mit der sich die Betrachter selbst ausstatten.13 Hierzu nur zwei Beobachtungen: erstens, diese Frage erlaubt keine dichotomische Einteilung der möglichen Antworten, denn sie bewegen sich auf einer Skala mit einem Grenzwert, der sich nicht verwirklichen lässt. Aus dem trivialen Umstand, dass es immer unsere Konzeptionalisierungen der Vergangenheit und diese immer gegenwärtig sind, also die Ausstattungen einer bestimmten Beobachterrolle selber keinen Ort in der Vergangenheit hat, ist es zweitens ein Fehlschluss, auf die Zulässigkeit oder Berechtigung jeglicher Form des denkoder wissenschaftshistoriographischen Präsentismus zu schließen.14
II. Das
Programm, .Säkularisierung' als einen der Aspekte von Bildungs- und Veränderungsprozesse von Wissensansprüchen in sich verändernden epistemischen Situationen zu beschreiben (und zu erklären),15 orientiert sich im
13
Vgl. Danneberg, Lutz: Besserverstehen. Zur Analyse und Entstehung einer hermeneutischen Maxime, in: Jannidis, Fotis u.a. (Hrsg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der literarischer Texte, Berlin/New York 2003, S. 644-711. Bedeutung 14 Vgl. den umfangreichen Forschungsüberblick von Carlos Spoerhase: Zwischen den Zeiten: Anachronismus und Präsentismus in der Methodologie der historischen Wissenschaften, in: Scientia Poética 8 (2004), S. 169-250, sowie die anschließende Forschungsdiskussion S. 241-312, ferner ders.: Über die Gleichgültigkeit der Gegenwart. Das Verfügbarkeitsprinzip in der Methodologie der Wissenschaftsgeschichte, in: Danneberg, Lutz u.a. (Hrsg.): Stil, Schule, S. 87-108. Vgl. Pott, Sandra: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 1 : Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2002; Danneberg, LutzlPott, Sandra/Schönen, löTg/Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800, Berlin/New York 2002, sowie Danneberg, Lutz: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im liber naturalis und supernaturalis, Berlin/New York 2003.
Epistemische Situationen
201
Wesentlichen an den folgenden methodologischen Vorannahmen, die hier nur in aller Kürze angesprochen werden können:
(A) Kontinuierung Die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität einer Entwicklung lässt sich
nicht allein durch eine bestimmte Reihung historischer Zustände beantworten. Sie muss erzeugt werden, und bei diesem Erzeugen gibt es eine methodologische Asymmetrie: das einzige Instrument, Diskontinuitäten zu entdecken, ist die (heuristische) Maxime der Kontinuität als die Orientierung an einer (diachron) dichten Geschichte. Ob sich eher das Bild von Kontinuität oder Diskontinuität ergibt, ist von der Dichte des berücksichtigten historischen Materials abhängig. Die Idee ist oft ausgedrückt worden. Ein Beispiel bietet Ernst Cassirer. Man könne niemals „den Finger auf die Stelle legen, an der das Alte vergeht, um einem anderen, völlig Neuen Platz zu machen". Zum „Geschichtsschreiber des Geistes" heißt es bei ihm dann weiter: „An Stelle des einfachen quantitativen Wachstums scheint plötzlich ein qualitativer .Umschlag' zu treten; statt einer Evolution erleben wir eine plötzliche Revolution. Eine solche Revolution ist es, aus der das Ideal der exakten Naturwissenschaften erwachsen ist. Aber diese Bezeichnung ist trügerisch und kann zu irrigen Erwartungen führen, wenn sie in ihrem gewöhnlichen Wortsinne verstanden wird. Ohne einen ,Sprung' des Denkens, ohne eine entscheidend neue Tat der Erkenntnis konnte freilich dieses Ideal nicht erfasst werden. Aber wenn wir in ideeller Hinsicht dieses Neue anzuerkennen haben, so bedeutet dies nicht, dass wir auch in geschichtlicher Hinsicht die Brücken abbrechen können und dürfen. Historisch gesehen kann es für uns niemals ein schlechthin Unvermitteltes geben."16 In ihrem Kontext stellen sich Cassirers Ausführungen zwar als eine partielle retractado seiner früheren (in diesem Bereich) vertretenen Auffassungen dar. Hier geht es allein um den Punkt, dass es die einzige Vorab-Maxime in dem Sinn ist, dass die entgegensetzte Vorab-Orientierung auf Diskontinuität keine zielführende Option methodologischer Selbstbindung darstellt. Zu betonen ist das nicht zuletzt angesichts solcher Vorab-Prämierungen von Diskontinuität, die ihren Meister nicht selten in Michel Foucault finden, der denn auch als Begründung nicht mehr als das für ihn offenbar unhintergehbare Begehren nach dem Diskontinuierlichen bietet. Es geht nicht um die Rede im Rahmen einer Konzeption der .Diskontinuitäten'; es geht allein darum, wie sich diese .Diskontinuitäten' identifizieren lassen.17 16 Cassirer, Ernst: Mathematische Mystik und mathematische Naturwissenschaft. Betrachtungen zur Entstehung der exakten Wissenschaft, in: Lychnos (1940), S. 248-265, hier
S. 249. 17 Man
tung
zu
vergleiche das mit den rhetorischen Fragen, die sich Foucault stellt in der Einleiders.: Archäologie des Wissens [L'archéologie du savoir, 1969], Frankfurt/M.
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Ohne die methodologische Vorab-Maxime der Kontinuität drohen sich die Diskontinuitäten allein aus dem mangelnden Wissens zu erzeugen, und es ist schon bemerkenswert, auf wie geringen Textcorpora Foucault in Die Ordnung der Dinge oder Archäologie des Wissens oftmals seine übergreifenden keine seiner Grenzziehungen dürfte denn auch dem Entwürfe errichtet Druck intensivere Quellenkenntnis standhalten. Zugleich nährt das den Verdacht, dass es sich bei den von Foucault verwendeten Quellenkenntnissen um ein längst in die epistemische Situation eingespeistes und entproblematisiertes Wissen handelt, das er dann gleichsam aus zweiter Hand und unbelastet mit weiträumigen Deutungen versieht.18 von der Sprödigkeit der Quellen -
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(1973) 1981, S. 1-30, z.B. S. 18, wo es nach der Feststellung, dass der „Begriff der Diskontinuität [...] paradox" sei, heißt: „Schließlich ist er [seil, der Begriff der Diskontinuität] vielleicht nicht einfach ein im Diskurs des Historikers gegenwärtiger Begriff, sondern wird von diesem insgeheim unterstellt: von wo aus könnte er in der Tat sprechen, wenn nicht ausgehend von jenem Bruch, den ihm die Geschichte und seine eigene Geschichte als Gegenstand anbietet? Einer der wesentlichsten Züge der neueren Geschichte ist ohne Zweifel diese Deplazierung des Diskontinuierlichen: sein Übergang vom Hindernis zur Vertrautheit; seine Integration in den Diskurs des Historikers dort, wo er nicht mehr die Rolle einer äußerlichen Fatalität spielt, die man verringern muß, sondern die eines operationalen Begriffs, den man benutzt; und daher rührt die Umkehrung der Zeichen, dank derer er nicht mehr das Negativ der historischen Lektüre (ihre Kehrseite, ihr Scheitern, die Grenze ihrer Macht) ist, sondern das positive Element, das ihren Gegenstand determiniert und ihre Analyse gewichtet." Es mag beim .Sprechen' des .Historikers' sich so verhalten, wie Foucault setzt; für das historische Erkennen bleibt der schlichte Wille zur Diskontinuität, die keine Chance zur Einsicht in Kontinuität hat. Ferner ebd., S. 236-252, z.B. S. 243: „Für die Ideengeschichte ist der Unterschied, so wie er erscheint, ein Irrtum oder eine Falle; anstatt sich von ihm zum Stehen bringen zu lassen, muß die Spitzfindigkeit der Analyse versuchen, ihn aufzulösen: unterhalb seiner einen kleineren Unterschied zu entdecken und unter diesem einen noch eingeschränkteren, und dies unendlich weiter bis zur idealen Grenze, die die Nicht-Unterschiedlichkeit der vollkommenen Kontinuität wäre. Dagegen nimmt die Archäologie zum Gegenstand ihrer Beschreibung, was man gewöhnlich für ein Hindernis hält: ihr Vorhaben ist nicht, die Unterschiede zu überwinden, sondern sie zu analysieren, zu sagen, worin sie genau bestehen, und sie zu unterscheiden." Geradezu naiv mutet diese Argumentation an, die etwas als unbezweifelt nimmt und dann das gefällige Spiel des Heterostereotyps entfaltet: Der andere will etwas nicht Wahrhaben, und man konfrontiert das mit dem wohlfeilen Autostereotyp, dass man selbst nur vorhandene Unterschiede bewahren wolle es ist immer die gleiche Melodie: Das „Hindernis" der abgelehnten Ansicht erfahrt seine Auszeichnung als das zu bewahrende Positivum der eigenen -
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Auffassung. 18 Nach Huppen, George: Divinatio et Eruditio: Thoughts on Foucault, in: History and Theory 13 (1974), S. 191-207, das schon recht misstrauisch hätte machen können (so etwa S. 197, Anm. 17), sind dem nur gelegentlich Hinweise gefolgt etwas bei Stephan Otto: Das
Wissen des Ähnlichen: Michel Foucault und die Renaissance, Frankfurt/M. 1992 oder Tamara Alberlini: Der Mikrokosmos-Topos als Denkfigur der Analogie in der Renaissance aufgezeigt an der Philosophie Charles de Bovelles', in: Gloy, KarenlBachmann, Manuel (Hrsg.): Das Analogiedenken. Vorstöße in ein neues Gebiet der Rationalitätstheorie, Freiburg/München 2000, S. 184-212; Kühlmann, Wilhelm: Begriffshermetik und Dingsignatu-
Grundzüge und Probleme der naturkundlichen Hermeneutik im Umkreis des frühneuzeitlichen Paracelsismus, in: Schönert/Vollhardt (Hrsg.): Geschichte; Copenhaver, Brian P.: Did Science Have a Renaissance?, in: Isis 83 (1992), S. 387-407, der mit Recht bemerkt (S. 404): „What he [seil. Foucault] means by resemblance is a beautiful, intricate,
ren
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Epistemische Situationen
Erzeugen lässt sich solche Weiträumigkeit allerdings im Rahmen sehr unterschiedlicher (philosophischer) Vorannahmen: Immer gehört dazu die Distanz zum historischen Material, dessen man freilich aufgrund der Vorannahmen wie der philosophischen Einsicht in nur sehr eingeschränkter Weise bedarf. So handelt es sich bei Gadamers zentrale Vorstellung, dass sich in der Geschichte des Verstehens immer wieder das Problem der applicatio zeige, um eine aus dem Geist der philosophischen Hermeneutik erzeugte Annahme. Seine Informationen bezieht Gadamer neben seinen vermeintlichen Einsichten in die Sache zur Geschichte der Auslegungslehren wohl wesentlich aus Sekundär- oder Tertiärinformationen und er dürfte wohl keinen der Texte zur hermenéutica sacra oder zur ars concionandi, die im universe of discourse seiner generalisierenden Behauptungen eingeschlossen sind, zur Kenntnis genommen haben. Es kann keine Rede davon sein, dass der eigentliche Sinn, der sensus proprius, als applicatio aufgefasst wurde und das nicht einmal in den Predigtlehren. Dem Selbstverständnis zufolge soll es sich immer um die wahre Bedeutung handeln, von der die (etwa) moralische Applikation, der sensus alienas extraneus, seinen Ausgang nimmt. So unterscheidet der in der Zeit berühmte Bibelphilologe Salomon Glassius klar genug zwei Arten und Weisen: zum einen die Untersuchung des wahren und eigentlichen Sinns der Heiligen Schrift, zum anderen die enarratio, die sich dabei dem Ziel des Heils (der Adressaten) anpasst, wenn man so will die applicatio, technisch die accommodatio: .interpretationis Scripturae voce duo vel continentur vel denotantur: unum est veri & genuini sensus investigado: alterum: ejusdem plana & perspicua enarratio, addita ejusdem ad usum salutatem -
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and orderly structure of ideas
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thinly based in the text that he cites. I know of no renaissance
Paracelsus, Croll, and others who propagated the doctruine of signawhose views on magic were guided by the delicate, expensive ship that sails so tures graceful through Foucault's second chapter [seines Werks Les mots et les choses]. In fact, I
authority
not even
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know of no early modern writer who was ebvven aware as such of the elaborate construct that Foucault describes, though ist ingredients were common knoweldge. [...] But to be fair to the past, it must be said that what he wrote about magic was more like architecture than archaeology, more beautiful than true. His account of renaissance magic is hard to falsify because it so elegantly transcdends the texts whose epistemic basis he wants to uncover." Sowie S. 407: „With apologies to General Bosquet and the heroes of the Light Brigade, I can only conclude by saying of Foucault's account of magic: C'est mangifique, mais ce
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n'est pas l'histoire [...] ni l'archéologie." Im Blick auf ein anderes Beispiel habe ich eine Wette für eine Vermutung angeboten, bei der bislang niemand den Wetteinsatz eingefordert und auch keine große Gefahr besteht, dass dies geschieht: nämlich für die Behauptung, dass Foucault einen Text, auf den er sich explizit als .Quelle' bezieht, nicht vor sich gehabt und vermutlich niemals gelesen hat. Es geht dabei um seine im Kontext nicht unwichtige Behauptung, in einem einzigen Text des Kirchenvaters Hieronymus fanden sich bestimmte hermeneutische Regeln aufgeführt; wer eine Kiste Brunello di Montalcino gewinnen möchte, lese nach bei Danneberg, LutzJVollhardt, Friedrich: Sinn und Unsinn literaturwissenschaftlicher Innovation. Mit Beispielen aus der neueren Forschung zu G. E. Lessing und zur „Empfindsamkeit", in: Aufklärung 13 (2001), S. 33-69, hier S. 46. -
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accommodatione." In der Sprache Luthers mitunter als factum, als applicatio oder ususfacti. Das, was allein strittig war, sind die Mittel der Erzeugung dieses zweiten Sinns und seine Grenzen, also die Verfahren der Verknüpfung des sensus proprius mit etwas, das zur Bildung eines sensus alienus extraneus, zur applicatio führt. Daran hat sich mitnichten etwas Wesentliches im Zuge der Reformation oder danach geändert. Die interpretado, die den wahren Sinn der Heiligen Schrift ermitteln soll, ist denn auch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in keiner hermenéutica und in keiner ars praedicandi als applicatio aufgefasst worden, wie es die Rückprojektion vermeintlich philosophischer Einsichten im Rahmen der philosophischen Hermeneutik immer insinuiert. Die applicatio wird in der klassischen Hermeneutik immer als etwas aufgefasst, zu dem es einen sensus proprius, den sensus (scripturae) verus gibt und immer orientiert ist die applicatio an der interpretado (scripturae) recta. Die Wahrheit der Interpretation (formalis ventas sermonis) ist dem Selbstverständnis nach gerade keine Anpassung, keine accommodatio, sondern stellt vielmehr die Voraussetzung für jede zulässige applicatio dar. Daher ist die applicatio auch anders als Gadamer anzunehmen scheint keine Entdeckung des Pietismus.20 Da er mit keinem der einschlägigen Texte vertraut ist, missversteht Gadamer auch so zentrale Ausdrücke wie subtilitas intelligendi und subtilitas explicandi, wenn -
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das erste als .Verstehen' und das zweite als .Auslegen' deutet. Beispielhaft und wirkungsmächtig ist im 18. und 19. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen subtilitas intelligendi und subtilitas explicandi in Johann August Ernestis Institutio interpretis: „Interpretado igitur omnis duabus rebus continetur: sententiarum (idearum) verbis subiectarum intellectu, earumque idónea explicatione. Vnde in bono interprete esse débet subtilitas intelligendi, et subtilitas explicandi." Das, was bei Ernesti gemeint ist, geht zurück auf die Unterscheidung in Augustins De doctrina Christiana: Während sich die ersten drei Bücher auf das intelligere beziehen, zielt das vierte auf das proferre. In diesem Sinn sind die ersten drei Bücher dem modus inveniendi, das vierte dem modus proferendi gewidmet. Der Aufbau von Hermeneutiken zerfallt in den Auslegungslehren des 18. Jahrhunderts durchgängig in zwei Teile: in den, der die Bedeutungsermittlung, und in den, der die Bedeutungsm¡ríe¡7wng behandelt. Um es er
19 So z.B. Glassius, Philologia Sacra [...1623] Adiecta svb finem hvivs operis est eivsdem B. Glassii Lógica Sacra, provt eandem ex MST0 [...1705] Edidit Johannes Gothofredvs Olearivs [...] Editio Novissima [...] Accedit Praefatio Jo. Francisci Bvddei. Lipsiae 1743, lib. II, pars II, Sp. 494. 20 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen (1960), 4. Aufl. 1975 (= unveränderter Nachdr. der 3., erw. Aufl.), S. 291. 21 Ernesti, Institvtio Interpretis Novi Testamenti [1761]. Edito Tertia. Lipsiae 1775, Prolegomena, § 4, S. 4.
Epistemische Situationen
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ganz deutlich zu sagen: Der allgemeine Teil der Hermeneutik behandelt die „Erfindung des Sinnes (welches heißt subtilitas intelligendi)" und den „Vortrag desselben (welches heißt subtilitas explicandi)".22 In dem weitaus kleineren letzten Teil werden Fragen der Übersetzung, der Paraphrase, von „Scholien und Commentarien" behandelt.23 Nicht anders sieht es in den anderen Auslegungslehren aus. So findet sich diese Unterteilung auch in Carl August Gottlieb Keil Auslegungslehre, die zu den einflussreichsten der Darstellungen der interpretado grammatico-historica gehört. Auch sie ist in zwei Teilen konzipiert, von denen der erste der Ermittlung des Sinns, der zweite wesentlich kürzere von der „Bdehrung anderer über den richtig erkannten Sinn" handelt.24 Erst vor diesem Hintergrund lässt sich beispielsweise ermessen, wenn Schleiermacher darauf insistiert allerdings nicht als erster -, dass die Hermeneutik allein die subtilitas intelligendi umfassen sollte und sie die Darstellungsformen des ermittelten Sinns gerade nicht zu ihrem Gegenstand nehmen solle.25 Gadamers Ausführungen zur „inneren Einheit von intelligere und explicare" in der Romantik" sind angesichts dieses Missverstehens der subtilitates schlichtweg sinnlos26 und seine Darbietungen gleichen immer wieder eher der Tätigkeit der Spinne, die ihren Faden allein aus sich selbst -
spinnt.
Zudem bringt Gadamer den Ausdruck subtilitas, dessen Verwendung auf eine eingeführte philosophische Tradition zurückverweist,27 im Rahmen
So z.B. Bauer,
Georg Lorenz: Entwurf einer Hermeneutik des Alten und Neuen TestaVorlesungen, Leipzig 1799, Vorerinnerungen, § 9, S. 10. Vgl. ebd., Erster Theil, Zweyte Abtheilung, S. 135-154. 24 Vgl. Keil, Carl August Gottlieb: Lehrbuch der Hermeneutik des Neuen Testaments nach den Grundsätzen der grammatisch-historischen Interpretation, Leipzig 1810; zu Keil herments. Zu 23
meneutischen Ansichten auch Danneberg: Schleiermachers Hermeneutik im historischen Kontext mit einem Blick auf ihre Rezeption, in: Burdorf, Dieter/Schmucker, Reinold (Hrsg.): Dialogische Wissenschaft: Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn 1998, S. 81-105. 25 Vgl. Danneberg, Lutz: Schleiermacher und das Ende des Akkommodationsgedankens in der hermenéutica sacra des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Barth, Ulrich/Osthövener, ClausDieter (Hrsg.): 200 Jahre Reden über die Religion, Berlin/New York 2000, S. 194-246, insb. S. 195ff. 26 Vgl. Gadamer: Wahrheit, S. 291: „Auslegung ist nicht ein zum Verstehen nachträglich und gelegentlich hinzukommender Akt, sondern Verstehen ist immer Auslegung. Und Auslegung ist daher die explizite Form des Verstehens. Mit dieser Einsicht hängt zusammen, daß die auslegende Sprache und Begrifflichkeit ebenfalls als ein inneres Strukturmoment des Verstehens erkannt wird und damit überhaupt das Problem der Sprache aus seiner okkasionellen Randposition ins Zentrum der Philosophie rückt." 27 Christian Wolff übersetzt subtilitas mit „genaue Einsicht", vgl. z.B. Carl Günther Ludovici: Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie, zum gebrauche seiner Zuhörer [...]. Anderer Theil, Leipzig 1737, S. 263. Von daher dürfte es denn auch Ernesti, der als Philosoph von der Schule Wolffs beeinflusst ist, entlehnt haben. -
Lutz Danneberg
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seiner Methodenphobie noch zum Sprechen : „Alle drei heißeii bezeichnenderweise" freilich nur für den, der sich durch keine Kenntnis der Geschichte der Hermeneutik den Blick trüben lässt ,„subtilitas', d.h. sie sind nicht so sehr als Methoden verstanden, über die man verfügt, wie als ein Können, das besondere Feinheit des Geistes verlangt."29 Nicht nur verkennt Gadamer die Ausführungen zur subtilitas intelligendi, die sich in den Lehrbüchern in der Tat als Methoden oder Regeln verstanden haben, und überschätzt aufgrund unzulänglicher Beschäftigung mit den Quellen das, was in diesem Fall mit der Wahl einer bestimmten Terminologie zum Ausdruck kommt; denn es gibt eine Reihe weiterer, wenn man so will konkurrierdner Termini in der Geschichte der Hermeneutik, die bereits zuvor ein ,Vermögen', ein ,Können' beim hermeneutischen Verstehen zum Ausdruck bringen. In der Regel mögen elegante und blenderische Formulierungen vieles an mangelnder Kenntnis mildern oder verdecken. Doch gibt es immer auch solche Glücksfalle, die einen Blick durch den schönen Schein erlauben. In der dritten, veränderten Auflage von Wahrheit und Methode findet sich eine Veränderung, die just die subtilitas intelltigendi, explicandi und applicandi betrifft für die sich Gadamer auf ,J. J. Rambach" beruft.30 Hierzu nun findet sich die folgende denk- und merkwürdige Anmerkung: „Rambachs Institutiones hermeneuticaesacrae [sie!] (1723) sind mir durch die Zusammenfassung -
-
von
Morus
bekannt, dort heißt es: Solemus
autem
intelligendi explicandique
subtilitatem (solidatem vulgo vowerk: Allgemeine Auslegungslehre 1967)."31 So steht es im Original!32 Unklar ist, woher Gadamer seine Informationen 28
Vgl. Danneberg, Lutz: Philosophische und methodische Hermeneutik [1995], in: Kanitscheider, Bernulf/Weiz, Josef (Hrsg.): Hermeneutik und Naturalismus, Tübingen 1998,
S. 194-214. 29 Gadamer: ebd., S. 291. 30 In der dritten Auflage findet sich die folgende Anmerkung beim Lob Rambachs für seine (vermeintliche) Hinzunahme subtilitas applicandi ersatzlos gestrichen: „Rambachs Institutiones hermeneuticae sacrae (1723) stehen stark unter Oetingers Einfluß." Vermutlich soll das die Spur zu einer Erklärung für das allein aus Gadamers Unkenntnis erzeugte Artefakt insinuieren. Verzweifelt fragt man sich, wie eine solche Behauptung zustande kommen konnte: Es scheint hanebüchener Unsinn. Die Anmerkung fährt fort: „Vgl. die Heidelberger Dissertation von P. Herbers (1952)." Nach meiner Erinnerung findet sich in der Dissertation von Paul R. Hebers nichts, was das stützen könnte. Aber muss man es wirklich noch sagen: Bei dem 1688 geborenen Rambach findet sich in seiner 1623 erschienenen Hermeneutik, die zur Lektüre für jeden gehört, der irgendeine Aussage über die hermenutica sacra des 18. Jhs. wagen will, auf 822 Seiten keine einzige Erwähnung des 1602 geborenen
Oetinger. 31
Gadamer: ebd.. An früherer Stelle verweist Gadamer mit Seitenangabe auf Rambachs was demnach wohl auch nicht auf Primärlektüre zurückgehen dürfte. 32 In der vorausgegangenen Ausgabe heißt es an dieser Stelle: „Solemus autem intelligendi explicandique subtilitatem (soliditatem vulgo vocant) tribuere ei, qui cum causis et accurate (genau und gründlich) intelligi atque explicat (Morus 8): [...]." Keine Rede von Rambach! Daran schließt sich eine kritische und ebenfalls unterdrückte Bemerkung unter Beschwörung des „Methodenideals der Aufklärung", die offenbar mit dem konfligiert, was im Haupttext (auch schon in der zweiten Auflage) Positives steht, das Gadamer der Wahl des
Institutiones,
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hat; denn vermutlich dürfte er auch keinen intensiveren Blick in den „Morus" geworfen haben, denn dann wäre er nicht auf Rambach, sondern auf Ernesti
gestoßen.33 Der Ausdruck subtilitas findet sich in diesem Zusammenhang
weit ich sehe überhaupt nicht bei Rambach, obwohl auch er in seinen Institvtiones Hermenevticae Sacrae die Zweiteilung in Sinnermittlung und
-
so
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Sinnvermittlung kennt.34 1981 wurde der lange bekannte Fund des Ausdrucks hermenéutica im Titel eines 1654 erschienen Werks zur sakralen Auslegungslehre zum Anlass so ausgreifender wie haltloser Spekulationen. Sie verdanken sich allein mangelhafter philosophiehistorischer Kenntnisse, die erkennen lassen, dass der Blick kaum länger auf einem der zeitgenössischen hermeneutischen Werke geruht hat: Zudem scheint man zu meinen, dass die Verwendung von Ausdrücken an so exponierter Stelle wie im Titel eines Werks von der Kenntnisnahme des
Inhalts zahlreicher thematisch verbundener Texte, die im Titel einen anderen Ausdruck wählen, befreit. Kaum nachvollziehbar ist die dahinter zu vermutende Ansicht, dass eine in dieser Weise exponierte Verwendung eines Ausdrucks in irgendeiner Weise etwas über das Entstehen, die Akzeptanz oder die Relevanz von Konzeptionen verrät.35 Ähnliche quellenferne verallgemeinernde Aussagen lassen sich bei der beim Entdecken des hermeneutischen Zirkels in der klassischen Hermeneutik allenthalben feststellen, und die ver-
Ausdruck subtilitas attestieren zu können meint: „hier wird die humanistische subtilitas vom Methodenideal der Aufklärung her mißverstanden." 33 Vgl. Morus, Samuel Friedrich Nathanael: Svper hermenevtica Novi Testamenti acroases academicae. Editioni aptavit praefatione et additamentis instrvxit Henr. Carol. Abr. Eichstädt. Vol. I. Lipsiae 1797, Bd. I., Prolegomena, § 5ff, S. lOff. Morus Werk ist, allerdings mit gewichtigen theoretischen Abweichungen, nach dem Interpres seines Lehrers Ernesti -
gearbeitet. Vgl. Rambach, Johann Jacob: Institvtiones Hermenevticae Sacrae, variis observationibvs copiosissimisqve exemplis Biblicis illvstratae [1723]. Editio qvarta denvo recognita. Cum
praefatione Ioannis Francisci Bvddei. Ienae 1732, wo allein der letzte Teil der Sinnvermittlung unter der Überschrift „De sensus inuenti legitima tractatione" (S. 727-822) gewidmet
ist und der in drei thematische Bereiche zerfallt: „de sensus inuenti cum aliis communicatisensus demonstratione" swoie „de sensus adplicatione porismatica & practica" dieser letzte Teil enthält die im herkömmlichen Sinn verstandene applicatio. 35 So Marquard, Odo: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist [1981], in: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart (1981) 1987, S. 117-146. Offenkundig haben alle die, die sich mit der .Bürgerkriegsthese' von Marquard angefreundet haben, keine Quellenprüfung vollzogen. Allein der Umstand, dass es sich um das Werk eines in der Zeit gefürchteten Kontroverstheologen handelt, hätte bereits mißtrauisch müssen. Zudem ist der Hinweis auf Dannhauers Hermeneutik bereits in älteren Überblicksdarstellungen zu finden, und so dürfte es denn auch zu diesem .Beleg' gekommen sein. Ein Versuch, dem Neologismus hermenéutica nachzugehen, findet sich bei Danneberg, Lutz: Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert, in: Schröder, Jan (Hrsg.): Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, Stuttgart 2001, S. 75-131.
one", „de
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meintliche Kontinuierung dieses Zirkels in den nachklassischen Erörterungen der Hermeneutik dürfte in der Tat eine Diskontinuität darstellen.36 Unabhängig von den Beispielen, die nur austauschbare Illustrationen sind, scheint es nicht selten so zu sein, dass die mit leichter Hand erzeugten, hoch aggregierenden und damit großen Aufschluss versprechenden Konzepte einen arbeitsteiligen Prozess voraussetzen, durch den der so behandelte Gegenstand erst den Druck solcher Aggregierung aushält: In einem ersten Schritt werden die Quellen zur Kenntnis genommen, in bestimmter Weise behandelt, aufgearbeitet und in den wissenschaftlichen Verwertungszusammenhang eingespeist. Diese Aufbereitung erfolgt immer unter bestimmter Perspektivierung, befreit von Nebensächlichkeiten. Aus diesen trivialen Umständen allein genommen lassen sich freilich noch keine aufregenden Schlüsse auf epistemische Eigenschaften dieses Vorgangs ziehen. In dieser Wissenszirkulation nun können diese Informationen dann eine Art Eigenleben führen, indem sie weiter verarbeitet werden, geformt und in dieser Weise die Informationen aus ihren ursprünglichen (textuellen) Kontexten entbunden werden. Zur Folge kann das haben, dass sie sukzessive immer weniger ,widerständig' gegenüber den verallgemeinernden Zugriffen erscheinen, denen diese Informationen dann ausgesetzt werden. Die Entstehungsbedingungen vergessend, spricht man über die ,Quellen', ohne dabei den selbst vollzogenen Transformationsprozess einzubeziehen (vom Reflektieren ganz zu schweigen). Das ist dann der ,Gegenstandsbereich', auf den sich die mehr oder weniger verallgemeinernden Aussagen beziehen. Erst das Scheitern des Versuchs, die methodologische Vorannahme der Kontinuität am historischen Material zu bestätigen, lässt sich als gewichtiger Hinweis deuten, dass man es mit einer Art von Diskontinuität zu tun hat. Unsinnig erscheint der umgekehrte Weg allein schon deshalb, weil er zu leicht ist die Feststellung von Diskontinuität wird zum Produkt individueller Unkenntnis: Die Größe der Kluft, die Entwicklungen voneinander trennt, erscheint als umgekehrt proportional zu den historischen Kenntnissen. Zwei Formen der Dichte unterscheiden, die sich mit zwei Vermutungen einhergehen: Umso größer die diachrone Dichte ist, desto größer erscheint die Aussicht, Kontinuität zu finden. Umso größer die synchrone Dichte ist, desto größer erscheint die Aussicht, mehr Diskontinuität zu erkennen. Hinzu kommt als wichtige Stütze einer solchen methodologischen Orientierung, -
dass hohe nachbarschaftliche Ähnlichkeit in einer diachron dichten Abfolge große Unähnlichkeit über größere Zeiträume hinweg nicht ausschließt.37
36
Vgl. Danneberg, Lutz: Die Historiographie des hermeneutischen Zirkels: Fake und fiction eines Behauptungsdiskurses, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 3 (1995), S. 611624. 37
Vgl. Danneberg, Lutz: Einführende Überlegungen, S. 469/470.
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(B) Kontextualisierung Unterschieden wird zwischen individuellen Motiv- und
Zidkomplexen eines Denkgeschichte in einer erzeugenden und präferierenden Situation und den, wenn auch raum-zeitlich eingeschränkten, übergreifenden Handelns in der
Elementen solcher Situationen. Diese Aspekte werden zusammengefasst als epistemische Situationen, in denen die Auseinandersetzungen um Wissensansprüche erfolgen, die zwar immer als überaus komplex, die sich aber für bestimmte Zeiträume übersichtlich strukturiert lassen, auch wenn die einzelnen Strukturelemente in unterschiedlichen Relationen zu einander stehen können. Das, was bei der (vorübergehenden) Akzeptanz eines Wissensanspruchs stattfindet, ist dann eine Art Überlegungsgleichgewicht in einer ge-
gebenen epistemischen
Situation. Die Beschreibung von Säkularisierungsprozessen bezeiht sich dann allein auf ein spezifisches Relationenbündel in vorliegenden epistemischen Situationen. Im Fall der Säkularisierung sind das diejenigen, die direkt theologische Wissensansprüche mit anderen Wissensansprüchen verknüpfen. Für die Erklärung und Beschreibung von Prozessen der Säkularisierung ausschlaggebend sind dann genau die Veränderungen bei den jeweiligen Relationsbündeln. Theologische Wissensansprüche (im engeren Sinn und vereinfacht) sind solche, die sich nach Ansicht der Akteure aus der Heiligen Schrift (in bestimmter Weise) gewinnen lassen; sie sind für diese Akteure in einer epistemischen Situation dann grundlegend, wenn sie einen positiven epistemischen Status besitzen. Eine Voraussetzung für das Vorliegen von Säkularisierung (als Prozesskategorie) wäre in diesem Fall, dass in einer epistemischen Situation e-St theologische Wissensansprüche W711 nicht grundlegend für die Begründung oder Akzeptanz eines Wissensanspruchs W sind und dass es zu e-St eine Situation e-St.x gibt, in der für denselben Wissensanspruch W auf Wn faktisch zurückgegriffen wird oder (schwächer) die epistemische Situation eS,.x einen solchen Rückgriff erlaubt sowie dass x zeitlich klein ist, also die beiden Situationen eng benachbart sind. Säkularisierung als Prozesskategorie bezieht sich mithin allein auf Wissensansprüche, bei deren Begründung oder Akzeptanz die Heilige Schrift eine wesentliche Rolle spielt, und auf benachbarte epistemische Situation, bei denen sich an einer solchen Begründung etwas in der Hinsicht etwas verändert, dass die theologischen Wissensansprüche eine geringere oder keine Rolle spielen. Säkularisierung bezieht sich demnach nicht auf Wissensansprüche als solche, sondern auf Wissensansprüche im Zusammenhang mit den Begründungen, die sie in einer bestimmten epistemischen Situation erhalten. Voraussetzung ist ohne hierauf an dieser Stelle näher eingehen zu können die Zurückweisung sehr starker holistischer Auffassungen, nach denen Wissensansprüche und ihre Begründungen sich nicht mehr unterscheiden lassen. -
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(C) Motor von Prozessen der Säkularisierung (C() Grundkonflikte Darunter lassen sich Problemstellungen verstehen, die entsprechend der Vor-
also im wesentlichen der Anforderungen an eine gelungene Problemlösung immer nur suboptimal lösbar gewesen sind (und es auch möglicherweise tatsächlich sind) und die damit (bei unveränderten Voraussetzungen) nicht ,zur Ruhe' kommen (und bei veränderten Voraussetzungen auch nicht, aber zum Beispiel beispielsweise nicht mehr als relevante Probleme oder überhaupt nicht mehr als Probleme gelten). Bei dem Relationsbündel, dessen Veränderungen zur Erklärung von Säkularisierungen dienen, sind es genau zwei Grundkonflikte: (Ci.i) Tendenzielle Insuffizienz: Im Hinblick auf die Erzeugung eines in einer bestimmten epistemischen Situation für relevant erachteten Wissens erweist sich die Heilige Schrift immer als insuffizient (das heißt nicht, dass das für jede Situation gilt also, dass es nicht bestimmte epistemischen Situationen geben kann, in denen sich die entsprechenden Anforderungen an eine gelungene Problemlösung erfüllen lassen); (C1.2) Inhomogenität: Es gibt in der Heiligen Schrift niedergelegte Wissensansprüche, deren Status sich nicht nur aufgrund ihrer Herkunft aus dieser Quelle begründen lässt und für die es mithin eine zweifache Begründungsmöglichkeit gibt (auch wenn diese Abundanz der Beweismittel nach der jeweiligen epistemischen Situation gewichtet sein mag). Das heißt: In der Heiligen Schrift gibt es niedergelegte Wissensansprüche, die sich auch auf der Grundlage ausschließlich bibelfremder Quellen gewinnen und begründen lassen. Es kommt so zu einer zweifachen Begründung ein und desselben Wissensanspruchs, die beide zwar nicht dasselbe leisten mögen (wenn der Heiligen Schrift die Priorität in Bezug auf den erreichbaren Gewissheitsgrad zukommt), die beide gleichwohl hinreichend für die menschliche Akzeptanz des betreffenden Wissens sind. Das erweist sich als ein anhaltendes Problem zum einen, diese Abundanz der Beweismittel zu erklären, mithin eine Erklärung dafür zu finden, weshalb sich der Gehalt der Heilige Schrift nicht auf die Offenbarungswahrheiten beschränkt; zum anderen bedeutet es immer die Möglichkeit des Konfliktes mit den aus anderen Quellen sei es die ratio, die sensus oder die auctoritas humana geschöpften, sich dabei zugleich wandelbaren Wissensansprüchen.
aussetzungen
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(D) Über die unterschiedlichen epistemischen Situationen hinausgreifende
Züge eines Prozesses der Säkularisierung In der Regel sind es nichtintendierte säkularisierende Wirkungen, die sich in
bestimmten epistemische Situationen vorbereiten. Es sind zumindest zwei, die aus der Inhomogenität als Doppelbegründbarkeit von Wissensansprüchen (also C1.2) resultieren:
Epistemische Situationen
211
(T>x) die Versuche mittels eines Konzepts der Akkommodation den Konflikt zwischen intra- und extrabiblischen Wissensansprüchen zugunsten der letzteren zu schlichten, ohne dass die Heilige Schrift Einbußen an ihrer Autorität und Dignität erleidet also allgemein gesagt: die Versuche, die Autorität zu schmälern, ohne damit die gesamte Autorität zu zerstören38; -
(D2) der methodologische Atheismus (Etiamsi-daremus-non-esse-DeumKonstruktionen) im Rahmen der kontrafaktischen hypothetischen Ausklammerung der Heiligen Schrift als Quelle (sine scripturae auctoritate) und als methodologische Konzentration auf die Zweitursachen, die aus einer über-
greifenden Begründungsnot resultiert.
III. Der methodologische Atheismus stellt freilich nur eine der recht verschiedenen kontrafaktischen Imaginationen dar. Den Ausdruck .Imagination' nehme ich im weiteren als verständlich und konzentriere mich auf seine Spezifizierung als kontrafaktisch im Mittelalter werden einige der Imaginationen, die sich als kontrafaktische ansprechen lassen, auch unter dem Ausdruck quaestiones secundum imagnationem verhandelt.39 Es scheint nicht unwichtig, dass einigermaßen genau angegeben wird, was unter kontrafaktischen Imaginationen zu verstehen ist. Denn zum Problem werden solche Imaginationen nicht allein angesichts ihrer Bestimmung, sondern vornehmlich dann, wenn man sich die Kontexte ihrer Verwendung ansieht und die Frage stellt, was ihre Verwendung in solchen Kontexten eigentlich soll, und man zugleich feststellt, dass Verwendungen kontrafaktischer Imaginationen alles andere als selten sind. Auf den ersten Blick sind sie wegen des Kontextes ihrer Verwendung rätselhaft. Dieser Kontext bietet sichere Signale, dass er als argumentativ zu verstehen ist; in ihm also ein Wahrheitsanspruch verfolgt wird. Er mithin nicht als ein fiktional intendierter Kontext anzusehen ist, in dem ein -
38
Vgl. auch Danneberg: Schleiermacher und das Ende des Akkommodationsgedankens in der hermenéutica sacra (Anm. 25). 39 Zum Vorgehen im 14. Jahrhundert secundum imaginationem die Hinweise bei John E. Murdoch: The Development of a Critical Temper: New Approaches and Modes of Analysis in Fourteenth-Century Philosophy, Science, and Theology, in: Wenzel, Siegfried (Hrsg.): Medieval and Renaissance Studies, Chapel Hill 1978, S. 51-79, u.a. S. 53: „Philosophers and theologians repeatedly remind us of the fact that they are reasoning secundum imaginationem and appealing to God's absolute power. And they frequently, and appropriately, connect these two factors: God furnishes them a warrant to argue and to make their points imaginative as they wished." Auch ders. : Philosophy and the Enterprise of Science in the Later Middle Ages, in: Elkana, Yehuda (Hrsg.): The Interaction Between Science and Philosophy, London 1974, S. 51-74, insb. S. 64-70; ders./Sylla, Edith: The Science of Motion, in: Lindberg, David (Hrsg.), Science in the Middle Ages, Wisconsin 1978, S. 206-264, insb. S. 246/247.
Lutz Danneberg
212
für die Rede suspendiert ist, und zwar in bestimmter Hinsicht, denn auch in fiktionaler Rede lassen sich Wahrheiten vermitteln.
Wahrheitsanspruch
Wichtiger als die vorläufigen Überlegungen und Beobachtungen auf unsicherem Terrain scheint mir, überhaupt auf einen Bereich von Argumentationen hinzuweisen, dem bislang Philosophie- wie Wissenschaftsgeschichte nur am Rande Aufmerksamkeit geschenkt haben, und wenn überhaupt immer nur dann wenn, punktuell angesichts bestimmter Verwendungsweisen Zwar lassen sich diese historischen Forals etwa
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.Gedankenexperimente'.40
40
Hierzu gibt es in den letzten zwanzig Jahren eine reichhaltige Forschung zum Verständnis dieses Argumentationstyps, allerdings nicht selten orientiert an Beispielen des 20. Jhs. und vor allem am naturwissenschaftlichen Bereich, aber auch zur (analytischen) Philosophie; vgl. u.a. die Beiträge in: Horowitz, Tamaia/Massey, Gerald J. (Hrsg.): Thought Experiments in Science and Philosophy, Pittsburgh 1991, sowie in Hull, David u.a. (Hrsg.): PSA 1992, Bd. 2, East Lansing 1993, ferner Terence Horgan: Counterfactuals and Newcomb's Problem [1981], in: Campbell, Richmond/SoWen, Lanning (Hrsg.): Paradoxes of Rationality and Cooperation, Vancouver 1985, S. 159-182; Rehder, W.: Versuche zu einer Theorie von Gedankenexperimenten, in: Grazer Philosophische Studien 11 (1980), S. 105— 123; Bruge, Tyler: Two Thought Experiments Reviewed, in: Notre Dame Journal of Symbolic Logic 23 (1982), S. 284-292; Cole, David: Thought and Thought Experiments, in: Philosophical Studies 45 (1984), S. 432-444; Dancy, Jonathan: The Role of Imaginary Cases in Ethics, in: Pacific Philosophical Quarterly 66 (1985), S. 141-153; McMullin, Ernan: Galilean Idealization, in: Studies in the History and Philosophy of Science 16 (1985), S. 247-273; Myers, C. Mason: Analytical Thought Experiments, in: Metaphilosophy 17 (1986), S. 109-118; Wilkes, Kathleen V.: Real People: Personal Identity Without Thought Experiments, Oxford 1989; Hull, David: A Function for Actual Examples in Philosophy of Science, in: Ruse, Michael (Hrsg.): What Philosophy of Biology Is, Dordecht 1989, S. 313-324; Collier, J.: Could I Conceive Being a Brain in a Vat?, in: Australasian Journal of Philosophy 68 (1990), S. 413-149; Gooding, David: Experiment and the Making of Meaning, Dordrecht 1990, Brown, James Robert: The Laboratory of the Mind: Thought Experiments in the Natural Sciences, London 1991; auch ders.: Thought Experiments Since the Scientific Revolution, in: International Studies in the Philosophy of Science 1 (1986), S. 1-15; Prudovsky, Gad: The Confirmation of the Superposition Principle. On the Role of a Constructive Thought Experiment in Galileo's Discorsi, in: Studies in History and Philosophy of Science 20 (1989), S. 453^*68; Gomila, Antoni: What Is a Thought Experiment?, in: Metaphilosophy 22 (1991), S. 84-92; Jackson, M. W.: The Gedankenexperiment Method of Ethics, in: The Journal of Value Inquiry 26 (1992), S. 525-535; Sorensen, Roy A.: Thought Experiments, Oxford 1992; ders.: Thought Experiments and the Epistemology of Laws, in: Canadian Journal of Philosophy 22 (1992), S. 15-44; Kolak, Daniel: Metaphysics and Metapsychology of Personal Identity: Why Thought Experiments Matter in Deciding Who We Are, in: American Philosophical Quarterly 30 (1993), S. 29-50; Brookes, D. H. M.: The Method of Thought Experiment, in: Metaphilosophy 25 (1994), S. 71-83; Häggqvist, Sören: Thought Experiments in Philosophy, Stockholm 1996; Bunzl, Martin: The Logic of Thought Experiment, in: Synthese 106 (1996), S. 227-240; Norton, John D.: Are Thought Experiments Just What You Thought?, in: Canadian Journal of Philosophy 26 (1996), S. 333-366; McAllister:, James W.: The Evidential Significance of Thought Experiment in Science, in: Studies in History and Philosophy of Science 27 (1996), S. 233-250; sowie ders.: Das virtuelle Labor: Gedankenexperimente in der Mechanik des siebzehnten Jahrhunderts, in: Schramm, Helmar u.a. (Hrsg.): Kunstkammer Laboratorium Bühne, Berlin/New York 2003, S. 35-55; auch Gendler, Tamar Szabó: Galileo and the Indispensability of Scientific Thought Experiment, in: British Journal for the Philosophy of Science 49 (1998), S. 397-424 sowie Ead.: Thought Experiment. On the Powers and Limits of Imaginary Cases, New York 2000; -
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Epistemische Situationen
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gedankenexperimentellen Argumentierens näher charakterisieren, doch sind sie dann mit dem kontrafaktischen Imaginieren nur verschwistert. Die Beschäftigung mit kontrafaktischen Imaginationen und ihren Funktionen zielt letztlich auf ein besseres Verständnis von Aspekten der Wissensentwicklung der Geschichte von Philosophie und Wissenschaft.
men
Es sind mithin nicht beliebige Imaginationen, um die es geht, sondern solche, die als besonders abweichend erscheinen. Will man verschiedene Arten von Imaginationen unterscheiden, so braucht man einen relationalen Bezugspunkt. Angesichts der in dem Projekt Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit verfolgten Fragestellung gibt es hierfür nur einen Bezugspunkt: Es ist das zeit-, orts- und personenbezogene Anerkennen von Wissen(sansprüchen). Der relationale Bezugspunkt ist somit veränderlich, und bereits daraus folgt, dass etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt als
kontrafaktische Imagination angesehen wird, bei verändertem Wissen diesen Charakter verlieren kann. Es sind allerdings noch zwei Unklarheiten zu verringern: beim Ausdruck Wissen und bei dem, was als ein geteiltes Wissen
gilt. Aufgrund der angenommenen Veränderlichkeit bezeichnet in der Rekonstruktionssprache Wissen immer Wissensanspruch, und als Wissensanspruch zu einer bestimmten Zeit sollen solche kognitiven Einheiten aufgefasst werden, über die man sich in der Zeit streiten konnte oder auch gestritten hat und das schließt immer Stimmen ein, die bestimmte Wissensansprüche durch Ausgrenzung zu entproblematisieren suchten. Beim Streit um die Erdbewegungen handelt es sich dann ebenso um den Streit um W/sseniansprüchen wie bei dem um die Bedeutung der Einsetzungsworte beim Abendmahl oder bei dem zur biblischen Chronologie. Wenn ein Wissensanspruch strittig ist und nach der hier gewählten Rekonstruktionssprache handelt es sich dann überhaupt erst um einen solchen -, dann setzt das immer andere Wissensansprüche voraus, die man in der Zeit nicht für falsch hält. In der Sprache der Akteure gibt es also Wissensansprüche, die sie als Wissen ansehen. Damit
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bin ich bereits bei der zweiten geteilte Wissen bezieht.
zu
mindernden Unklarheit, der sich auf das
Mayer, Verena: Was zeigen Gedankenexperimente?, in: Philosophisches Jahrbuch 106 (1999), S. 357-378; Bishop, Michael: Why Thought Experiments Are Not Arguments, in: Philosophy of Science 66 (1999), S. 534-541; Bokulich, Alisa: Rethinking Thought Experiments, in: Perspectives on Science 9 (2001), S. 285-307; Palmieri, Paolo: Mental Models in Galileo' Early Mathematization of Nature, in: Studies in History and Philosophy
of Science 34 (2003), S. 229-264; vorangegangen ist Thomas S. Kuhn: Eine Funktion für das Gedankenexperiment [A Function for Thought Experiment, 1964], in: ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt/M. (1977) 1978, S. 327-356, der ihr Auftreten insbesondere in wissenschaftlichen Krisensituationen deutet; früher noch Karl R. Popper. Über den Gebrauch und Mißbrauch von Gedankenexperimenten, besonders in der Quantentheorie [1959], in: ders.: Logik der Forschung, 6. verbess. Aufl., Tübingen 1976, S. 397^*11.
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214
es sich dabei um epistemische Einstellungen gegenüber kognitiven Einheiten, also in der gewählten Rekonstruktionssprache: gegenüber Wissensansprüchen. Diese epistemischen Einstellungen lassen sich klassifizieren, und dabei lässt sich weitgehend auf die von den Akteuren verwendeten Konzepte zurückgreifen. Zwar unterliegen auch sie einem histo-
Im Wesentlichen handelt
rischen Wandel, doch sind sie zumindest in dem hier interessierenden Zeitraum in den oberen Rängen der Hierarchie vergleichsweise stabil. An der Spitze der Hierarchie steht ein Wissen, von dem man annimmt, das der Mensch naturhaft schon in seinem Besitz sei, es ist, wenn man so will, das dem Verstand naturhaft vertraute, seinsmäßig bekannte Wissen so die ersten unbeweisbaren Prinzipien der Beweise wie etwa: .was ist, kann nicht zugleich nicht sein' oder ,das Ganze ist größer als seine Teile'. Dieses Wisals certitudo mathematica oder metaphysen gilt als unbezweifelbar gewiss sica (Wcma); darunter rangiert das Wissen, das zwar als weniger gewiß, aber als sicher wahr gilt bezeichnet als certitudo physicalis (Wcp); darunter findet sich das Wissen, bei dem eine für das Handeln ausreichende Gewißheit gesehen wurde bezeichnet als certitudo moralis (Wcmo); darauf folgen die Wissensprüche, die wahrscheinlicher (probabilior) als konkurrierende sind (Wpp); schließlich solche Wissensansprüche, die im Unterschied zu nichtwahrscheinlichen nur als wahrscheinlich gelten (Wp). Es lassen sich nun grob die folgenden Zuordnungen hinsichtlich des Konflikts mit den unterschiedenen Stufen der Gewissheitshierarchie vornehmen: -
-
-
-
Wenn mit
Wcma in Konflikt, dann handelt
es
sich
um
unsinnige Imaginatio-
nen.
Wenn mit Wcp in Konflikt, dann handelt es sich um kontrafaktische Imaginationen. Wenn mit Wcmo in Konflikt, dann handelt es sich um hypothetische Imaginationen. Wenn mit Wpp in Konflikt, dann handelt es sich um alternative Hypothesen.
Imaginationen sind mithin kontrafaktisch und nicht etwa hypothetisch -, wenn sie mit Wissensansprüchen im Modus der certitudo physicalis konfligieren. Es handelt sich bei dem, was kontrafaktischen Imaginationen ihren Charakter verleiht, zudem um Wissensansprüche, die selbst nicht wahr-
scheinlich sind und daher auch in Konflikt stehen mit solchen, die mit als Wcmo °der Wpp epistemisch beurteilt werden. Während kontrafaktisch das Produkt des Imaginierens charakterisiert, braucht das Imaginieren als Vorgang keiner zusätzlichen Bestimmung. Bei ihm können Abstraktionen ebenso wie Metaphern eine Rolle spielen, ohne dass kontrafaktische Imaginationen selbst Abstraktionen oder Metaphern sind.
Epistemische Situationen
215
Eine Besonderheit kommt für das christliche Verständnis hinzu. Für einen Christen, so sehr er auch die certitudo metaphysica und physicalis anerkennen mag, geschieht das mit einem Vorbehalt: Es handelt sich nur um eine menschliche Gewissheit, die gegenüber der certitudo divina immer nur second best ist; ja mehr noch, es gibt Wissensansprüche, die nach christlicher Vorstellung wahr sind, aber sowohl einem Wissen mit certitudo metaphysica wie physicalis widerstreiten können. Sie gelten dann als supra rationem oder supra naturam, mitunter sogar als contra rationem oder naturam. Nun besagt das, anders als man vielleicht vermuten könnte, nicht viel über das Phänomen der kontrafaktischen Imaginationen. Dass es der certitudo metaphysica widersprechende kontrafaktische Imaginationen wohl nicht oder nur selten gab, dürfte etwas damit zu tun haben, dass das, was der certitudo metaphysica widerspricht, in der Regel als nicht vorstellbar oder als nicht imaginierbar oder als nicht denkbar galt. Wenn die Imaginationen auf Wissensansprüche beruhten, die aus menschlichen und göttlichen Gewissheiten zusammengesetzt sind, dann konnte es hingegen zu kontrafaktischen Imaginationen kommen. Ihren kontrafaktischen Charakter gewinnen sie dann gerade über Exklusion hierzu gehören auch die Beispiele, die auf der Annahme beruhen, es gäbe keinen (christlichen) Gott, also der methodologische Atheismus. Kontrafaktische Imaginationen im Bereich der Glaubenslehre sind zum einen allein angesichts des Weltwissens (zu einer bestimmten Zeit) kontrafaktisch, aber angesichts des Übernatürlichen sind sie es nicht; sie gehören dann zu den Geheimnissen des Glaubens; zum anderen sind es Imaginationen, die bestimmte Konsequenzen der betreffenden theologischen Lehrstücke illustrieren, nach denen etwas zwar möglich, aber nicht realisiert ist. Genau die letzte Verwendungsweise kontrafaktischer Imaginationen gilt im 15. und 16. Jahrhundert als das sprichwörtlich ,Scholastische' und damit das Ablehnungswürdige in der christlichen Theologie des Mittelalters. Die Schriften von Protestanten, aber auch die von mehr oder weniger humanistisch geprägten Katholiken (etwa den Anhängern des Erasmus) sind voll von Invektiven gegen solche Argumentationen secundum imaginationem. Sie erscheinen den Gelehrten mittlerweile nicht nur als sinnlos, sondern als gotteslästerlich: etwa die Imgination, dass sich Jesus Christus auch als Maultier hätte inkarnieren können. Das gehört zu den Imaginationen, die dem 16. Jahrhundert zum Greul werden und die sich um die Überlegungen zur göttlichen potentia ab-
soluta und zur göttlichen Freiheit ranken: Gott hätte sich danach in jedem Ding, auch in einem Maultier oder in einem Stein offenbaren können,41 auch 41
Vgl. hierzu Thomas von Aquin: Scriptum super libros Sententiarum [...1252-56], in: Opera Omnia, Vol. IX. Paris 1873, III, Dist II, q. 1, art 1 (S. 29); sowie ders.: Summa Theologica [...1266-73]. Editio [...] Josepho Pecci [...]. Editio Tertia. Roma 1925, III, q IV, a 1 (S. 42/43), allerdings ohne die Erwähnung des Maultiers; das findet sich erst bei
ders.:
späteren scholastischen Theoretikern.
216
Lutz Danneberg
wenn es seiner potentia ordinata nicht angemessen sei, es ihr nicht gezieme, eine creatura irrationalis zu wählen.42 Das, was in der christlichen Glaubenslehre der certitudo metaphysica widerspricht, gilt als Glaubensmysterium und nicht als kontrafaktische Imawas in ihr der certitudo physicalis widerstreitet, gilt ebenfalls nicht als kontrafaktische Imagination, sondern als Wunder, vorausgesetzt freilich, die Abweichung von der Natur wird nicht als durch das Handeln eines bösartigen Dämon herbeigeführt. Umso abweichender sich ein Wunder darstellt, desto mehr zeugt es von der Macht, die zum Abweichen vom cursus naturae oder vitae erforderlich ist und desto sicherer lässt sich auf die Gegenwart göttlichen Wirkens schließen. Grundsätzlich Neues zu schaffen, bleibt der Allmacht Gottes vorbehalten. Die Frage, inwieweit der menschlichen Imagination die Möglichkeit zugesprochen wird, sich ein solches Neualso etwas, das nicht allein auf eine mehr oder es vorstellen zu können überraschende Kombination und Verknüpfung bestehender Elemente weniger zurückzuführen ist, wird in dem hauptsächlich interessierenden Zeitraum weithin verneint,43 und das scheint denn auch eine Grenze für die kontrafaktische Imagination in argumentierenden Kontexten zu sein.44
gination; das,
-
Zu den Theologen heisst es beispielsweise in seiner Stultitiae laus im Anschluss an eine genüsslich vorgetragene Liste der besonders ergiebigen Imaginationen, die den menschlich-göttlichen Charakter Jesu Christi betreffen, bei Erasmus, ??sive laus stultitiae [1515]. ders.: Ausgewählte Schriften. 2. Bd. Deutsche Übersetzung von Alfred Hartmann [...]. Eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin Schmidt-Dengler, Darmstadt (1975) 1995, S. 1-211, hier § 53, S. 133: „Solche Haarspaltereien [leptolesc.ai] kennen sie Tausende, ja, noch viel heiklere [multo subtiliores]. Da reden sie über Instantien, Formalitäten, Quidditäten, Ecceitäten, also von Dingen, die kein Mensch jemals zu Gesicht bekommt, er müßte denn ein Lynkeus sein, der durch das dickste Dunkel hindurch das Nichts sähe. [...] Noch spitzer spitzen diese Spitzfindigkeiten die Schulen der Scholastiker [...]. Ihre Systeme strotzen von Gelehrsamkeit und sind gespickt mit Diffikultäten; selbst die Apostel brauchten einen neuen Geist, hätten sie über derlei Dinge mit diesem neuen Theologengeschlecht zu streiten. Paulus war Manns genug, für seinen Glauben zu zeugen, aber wenn er sagt: .Glaube ist zuversichtliche Erwartung von Dingen, die man erhofft, Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht', so ist das keine magistrale Definition, und hat er auch die Liebe aufs herrlichste bestätigt, so fehlte es ihm doch an der nötigen Dialektik, um ihren Begriff nach Umfang oder Inhalt genügend zu bestimmen" [ita parum dialectice veldividit, vel finit]. 43 So etwa von Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen [1757], Hamburg 1989, S. 49: „Man muß aber bemerken, daß die Einbildungskraft nicht etwa fähig ist, etwas vollständig Neues hervorzubringen; sie kann fangen hat."
nur
die
Anordnung derjenigen Ideen verändern, die sie von den Sinnen emp-
Vgl. dagegen die Unterscheidung von „productiver" und „reproductiver Einbildungskraft" bei Fichte: Ueber die Unterscheidung des Geistes und der Buchstaben in der Philosophie [1794], in: ders.: Gesamtausgabe, II, 3. 1971, S. 316/317: „Geist überhaupt ist das, was man sonst auch productive Einbildungskraft nennt. Reproductive Einbildungskraft erneuert, was schon im empirischen Bewußtseyn war, nicht gerade in der Verbindung, wie es da war; sie mag auch aus Verbindung verschiedener Ganze ein neues Ganzes zusammensetzen, dennoch bleibt sie, wenn die Sache der Strenge nach genommen wird, lediglich reproductiv. Die productive Einbildungskraft erneuert nicht; sie ist, wenigstens für das empirische Bewußtseyn, völlige Schöpferin, und Schöpferin aus Nichts. ich weiß -
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Ein letztes Problem bleibt noch bei den kontrafaktischen Imaginationen, das freilich das Unternehmen vorab zum Scheitern zu verurteilen droht. Vorausgesetzt ist der Bestimmung zufolge, dass eine Imagination dann kontrafaktisch ist, wenn sie mit einem als gewiss angenommenen Wissen konfligiert; wie aber lässt sich das personen- und zeitbezogen einigermaßen zuverlässig feststellen? Doch gerade dieses Problem besteht bei kontrafaktischen Imaginationen nicht (zumindest nicht sehr oft) und nicht nur auf den ersten Blick werden sie dadurch so rätselhaft; denn diejenigen, die sie entwickeln und vortragen, lassen durchweg keinen Zweifel daran, dass sie um den kontrafaktischen Charakter ihrer Darbietungen wissen und dass ein solches Wissen auch dem Adressaten nicht verborgen zu bleiben braucht.45 Die kontrafaktische Imagination selbst bedarf nicht der Tarnung, so subversiv das in ihren Rahmen entfaltete Denken und wie unausgesprochen seine Konsequenzen auch sein mochten. Die Täuschungsabsicht kann freilich dadurch gegeben sein, dass man die allgemein geteilte epistemische Einstellung gegenüber bestimmten Wissensansprüchen gerade nicht teilt, so dass die Imagination nur für den intendierten Leser, nicht aber für denjenigen, der sie vorträgt, kontrafaktisch ist. Dann freilich handelt es sich nach meinem Verständnis nicht mehr um eine kontrafaktische Imagination, allenfalls um eine sehr spezielle Variante; denn diese Art der .Täuschung' geht auf eine immer gegenwärtige Maxime des effektiven Argumentierens zurück. Es handelt sich um die Maxime, dass es in der Regel zweckmäßig sei, allein von den geteilten Überzeugungen der Adressaten auszugehen, wenn man für einen von ihnen bislang nicht geteilten Wissensanspruch argumentie-
M.H., daß ich hier von der Meinung selbst der neuen Philosophie abgehe [...]. Die productive Einbildungskraft sage ich erschafft den Stoff der Vorstellung, sie ist die einzige Bildnerin deßen, was in unserm empirischen Bewußtseyn vorkommt, sie ist die Schöpferin dieses Bewußtseyns selbst. Aber die Einbildungskraft, auch in dieser ihrer productiven Macht, ist doch selbst kein Ding an sich, sondern ein Vermögen des einzigen uns unmittelbar gegebenen Dings an sich, des Ich." 44 Aber nicht nur in solchen Kontexten; die Grenze markiert bereits das, was als .monströs' in einem technischen Sinn des Ausdrucks aufgefasst wird, vgl. Danneberg, Lutz: Die Anatomie, Kap. II, S. 23-67. 45 Hier können allerdings durchaus Probleme entstehen. So kann ein vorgetragener Wissensanspruch in einer Zeit und eingebunden in eine epistemischen Situation als so abwegig wahrgenommen werden, dass man meint, seinen epistemischen Status nicht eies
anzeigen zu müssen. Da die epistemische Situation samt ihrer Bestandteil selbst zur Aufgabe der historischen Rekonstruktion gehört, steht das in solchen Situationen angegens
Wissen, an dem man seinen offensichtlich kontrafaktischen Charakter erkennt, mitunter nicht in hinreichendem Ausmaß oder nicht hinlänglich zweifelfrei zur Verfügung; zu einem Beispiel, bei dem aus der (sehr plausiblen) Annahme der Rechtgläubigkeit der kontrafaktische Charakter bestimmter Erörterungen zwar folgt, aber just an bestimmten Stellen der Autor die bei ihm üblichen Versicherung eigener Rechtgläubigkeit nicht gibt, Anneliese Maier: Ein unbeachteter ,Averroist' des 14. Jahrhunderts: Walter Burley [1955], in: dies.: Ausgehendes Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Geistesgeschichte des 14. Jahrhunderts, Roma 1964, S. 101-121.
nommene
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will. In zwei Varianten realisiert sich diese Maxime: als reductio und als dissimulatio. Die reductio liegt dann vor, wenn es sich um die hypothetische (vorläufige) Ausklammerung eigener Überzeugungen bei der Argumentation handelt, um dissimulatio handelt es sich dann, wenn es das kontrafaktische Annehmen eines Konsenses mit denjenigen ist, die man zu überzeugen gedenkt. Der Unterschied beider Varianten ist grundlegend: Bei der reductio klammert man etwas hypothetisch aus, was man selbst teilt, aber der andere nicht. Bei der dissimulatio nimmt man etwas hypothetisch an, was man nicht teilt, aber der andere. Der Unterschied liegt im Ziel der Argumentation: Jemanden unter Verzicht auf bestimmte Beweismittel von der Wahrheit eines Wissensanspruchs zu überzeugen und damit zur Zustimmung zu veranlassen oder ihn (zunächst) unter Annahme bestimmter Beweismittel zur Zustimmung zu einem Wissensanspruch zu veranlassen. Der Wissensanspruch, zu dem man ihn veranlasst, ist zwar im zweiten Fall auch wahr, aber die Gründe, die ihn zur Zustimmung veranlassen sollen, sind es nicht. In diesem Fall erzeugt man Zustimmung mit falschen Argumenten, in jenem mittels einer suboptimalen Argumentation. Die dissimulatio lässt sich dann zwar als kontrafaktisch auffassen, aber dieses Kontrafaktische deckt sich gerade nicht mit dem, was der Adressat als kontrafaktisch annimmt. Zu unterscheiden ist das von Vermutungen, dass der Ort für die Theorie des kontrafaktischen Argumentierens sich eventuell in den Untersuchungen zu den obligationes für die Disputation oder anderen Formen der Auseinandersetzung um Wissensansprüche findet. Die Theorie der obligationes, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Bildung von Sophismata, wird dann als Anleitung, als Metamethodologie zu (kontrafaktischen) Gedankenexperimenten aufgefasst, also allgemein von Argumentationen oder Darstellungen, die secundum imaginationem per impossibile verfahren. Wie erhellend diese konzeptionelle Zuordnung der Theorie der kontrafaktischen Imaginationen angesichts ihrer ausgeprägten Vielfalt auch sein mag, das Moment bleibt, das solche Imaginationen ebenso erklärungsbedürftig wie hinsichtlich ihrer Durchsichtigkeit so schwierig erscheinen lässt: Diese Gebilde finden Verwendung in textuellen Kontexten, die sich als argumentativ präsentieren, ren
46
Vgl. Yrjönsuuri,
Mikko:
Obligations
as
Thought Experiments,
in:
Angelelli, Igna-
cio/Cerezo, Maria (Hrsg.): Studies on the History of Logic, Berlin/New York 1996, S. 7996; Spade, Paul: Three Theories of Obligationes: Burley, Kilvington and Swyneshed on Counterfactual Reasoning, in: History and Philosophy of Logic 3 (1982), S. 1-32; King, Peter: Medieval Thought-Experiments: The Metamethodology of Medieval Science, in: Horowitz!Massey (Hrsg.): Thought Experiments, S. 43-64, hier S. 53/54: „The general conclusion I want to draw should be apparent: the literature on obligations express the medieaval theory of thought-experiments including various forms of reasoning which at first glance appear to have little to do with one another." Einen Überblick zu den obligationes, wenn auch nicht vor diesem Hintergrund, bieten Paul V. SpadefEleonore A. Stump: Obligations, in: Kretzmann, Normann u.a. (Hrsg.): Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, S. 315-341.
Epistemische Situationen
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die vor allem frei von Fiktionalitätssignalen sind und die wohl auch weder als fiktional intendiert noch von den (zeitgenössischen) Rezipienten als fiktionale aufgefasst werden. Allerdings gehört auch der Ausdruck .fiktional' zur Rekonstruktionssprache; denn zum Teil sind solche kontrafaktischen Imaginationen als resfictae bezeichnet worden, und zwar sowohl in fiktionalen als auch in nichtfiktionalen Kontexten. Die Frage nun ist, worin liegt der Sinn, die Funktion, der Zweck eines solchen Imaginierens in nichtfiktionalen Kontexten.
Frage ist, dass Wissensansprüche, auch wenn man sie für falsch hält, kognitive Zwecke erfüllen können: Denn aus einem falschen Wissensanspruch folgen in der Regel auch solche, die man für wahr hält und in logisch trivialer Weise ist das immer der Fall. Doch sollte es mehr sein, was von der kognitiven Funktion bei einem so aufwendigen und so offenkundig falschen Unternehmen, als das sich kontrafaktische Imaginationen darbieten, eben mehr als das triviale Folgern von wahren Wissensanzu erwarten ist bekannt aus falschen, was zum Beispiel keine Begründungsfunktion sprüchen für Wissensansprüche zu erfüllen vermag. Ja, man könnte sogar vermuten, dass proportional zur Selbstverständlichkeit der Falschheit einer kontrafaktischen Imagination die Bedeutung ihrer kognitiven Funktion wachsen müsste. Wenn man mitunter von the paradox of thought experiment spricht, dann scheint das bei kontrafaktischen Imaginationen noch berechtigter zu sein. Keine
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Denn sie sind nicht nur falsch, sondern so offensichtlich falsch, dass sie sich auch nicht mittels Gradationen anhand einer zumindest intuitiv nachvollziehbaren Skala von mehr oder weniger falsch, von mehr oder weniger angemessen oder irgendeiner anderen Güteeigenschaft diskriminieren zu lassen scheinen. Insonderheit stellt sich das Problem der Beliebigkeit derartiger Imaginationen, die mit Ausnahme der sinnwidrigen Imaginationen unbegrenzt zu sein scheinen und das, so ließe sich vermuten, spricht nicht für irgendeinen kognitiven Nutzen; von den Möglichkeiten ihrer kritischen Erörterung ganz zu schweigen. Das, was dann nur bleibt, ist im wesentlich die reductio ad absurdum, also das Aufzeigen einer Konsequenz eines Wissensanspruchs mittels kontrafaktischen Imaginierens, die falsch ist; oder es bleibt genau die Abgrenzung zu den sinnwidrigen Imaginationen. Diese kontrafaktischen Imaginationen erhalten eine spezifische kognitive Funktion, indem sie mit dem Konzept der Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit verbunden werden, wie es oftmals unausgesprochen, mitunter ausgesprochen geschieht. Das, was denkbar oder vorstellbar ist, ist nicht gebunden an das, was als wahr gilt. Doch erst dann, wenn diese Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit, die durch kontrafaktisches Imaginieren sich prüfen lässt, als ein Kriterium oder Indikator für epistemische Eigenschaften gelten kann, ist eine entsprechende kognitive Funktion für diese -
Lutz Danneberg
220
Imaginationen mittels Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit gegeben.47 Doch darin liegt auch ein Problem des historischen Wandels. Die Regeln der Verknüpfung wären dann: Wenn vorstellbar, dann auch möglich und vice versa; wenn nicht vorstellbar, dann auch nicht möglich und vice versa. Schon für einige scholastische Theologen und Philosophen, aber auch für Descartes, war die zweite Verknüpfung nicht zulässig, nämlich -
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dass etwas, das nicht vorstellbar (für den Menschen) ist, auch (für Gott) unmöglich sei. Man kann sich zwar die Falschheit bestimmter mathematischer oder logischer Wahrheiten nicht ,vorstellen', wie Descartes betont, aber das schließe nicht aus, dass Gott sie hätte falsch machen können, auch wenn es strittig ist, was Descartes mit dieser Imagination genau zu zeigen versucht.48 Anders als beispielsweise David Hume teilt man mittlerweile nicht mehr die Sicherheit, dass sich von Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit im allgemeinen auf bestimmte epistemische Merkmale von Wissensansprüchen schließen lasse oder dass sie gar als Kriterien funktionieren zum Sortieren von Wahrheit49 so wie es in den Logiken des 17. und 18. Jahrhunderts nicht unüblich gewesen ist, die certitudo metaphysica (etwa als logische Wahrheit) als höchste Gewissheit als das zu bestimmen, dessen Gegenteil nicht gedacht werden könne. Doch der Eindruck täuscht: Es gibt in der Regel weitere Konstellationen für kontrafaktische Imaginationen, in der sie nicht als willkürlich erscheinen -
47
Das ist in der Zeit wesentlich komplexer und komplizierter, als es sich hier darstellen lässt. Nur ein Beispiel: Man konnte in der Heiligen Schrift einen Satz lesen, den man (1) .versteht', obwohl er ein Glaubensmysterium beinhaltet, das man sich nicht (2) .vorstellen' konnte und dem man allein mittels kunstgemäßer (artificaliá) Argumente nicht (3) .zustimmen' konnte. Zwischen (1) auf der einen und (2) sowie (3) auf der anderen Seite dürfte immer unterschieden worden sein, auch wenn das zwischen (2) und (3) nicht einfach und klar ist. 48 Aus der Fülle der Literatur Frankfun, Harry: Descartes on the Creation of the Eternal Truths, in: Philosophical Reviw 86 (1977), S. 36-57, und den zahlreichen Auseinandersetzungen mit diesem Aufsatz in der Folgezeit, darunter La Croix, Richard R.: Descartes on God's Ability to Do the Logically Impossible, in: Canadian Journal of Philosophy 14 (1984), S. 455-475; Broughton, Janet: Skepticism and the Cartesian Circle, in: ebd., 14 (1984), S. 593-615; Curley, Edwin M.: Descartes and the Creation of the Eternal Truth, in: ebd., 93 (1984), S. 569-597; Olson, Mark A.: Descrates' First Meditation: Mathematics and the Laws of Logic, in: Journal of the History of Philosophy 26 (1988), S. 407-438; Imlay, Robert A.: Skeptizismus und die ewigen Wahrheiten bei Descartes, in: Studia Leibnitiana 23 (1991), S. 185-194; Barnes, J.: Le Dieu de Descartes et les vérités éternelles, in: Studia philosophica 55 (1996), S. 163-192, ferner Gregory Brown/Vera Entia: The Nature of Mathematical Objects in Descartes [1980], in: Moyal, Georges J. (Hrsg.): René DesLondon 1991, Bd. Ill, S. 84-102. cartes, 49 Aus der einschlägigen Literatur, die das in der einen oder anderen Hinsicht erörtert, u.a. Yablo, Stephen: Is Conceivability a Guide to Possibility?, in: Philosophy and Phenomenological Research 53 (1993), S. 1-42; Menzies, Peter: Possibility and Conceivability: A Response-dependent Account of Their Connections, in: European Review of Philosophy 3 (1998), S. 255-277; Fuhrmann, André: Das Mögliche und das Vorstellbare, in: Logos N.F. 7 (2001), S. 343-360.
Epistemische Situationen
221
und die so die Vermutung bekräftigen, dass sie durchweg kognitive Aufgaben erfüllen. Zwar gibt es für das vielgliedrige Phänomen der kontrafaktischen Imaginationen keine kognitiven Standardfunktionen, die sie gleichsam per se erfüllen. Doch das, was sie zu leisten vermögen, beschränkt sich nicht auf die redudio ad absurdum oder auf imaginative argumenta probantia oder illustrantia für das Denkbaren und Vorstellbaren. In welcher Gestalt die von ihnen erbrachten Leistungen in Erscheinung treten, hängt von der epistemischen Situation ihrer Verwendung ab. Allein auf sie bezogen setzen sich solche Imaginationen nicht mehr dem Verdacht der Willkürlichkeit aus und in ihnen erzeugen sich sogar Gütekriterien, die kontrafaktische Imaginationen als mehr oder weniger angemessen in bestimmten epistemischen Situationen anzusehen erlauben. Wichtig ist dabei, dass sich diese Situationen hinsichtlich ihres Wandels als elastischer darstellen, als man oftmals einzuräumen bereit ist, wenn man nach Diskontinuitäten, Sprüngen oder Brüchen fahndet. Kontrafaktische Imaginationen können hinsichtlich ihres Auftretens und ihrer Beliebtheit sowie im Blick auf die von ihnen erwarteten Leistungen unbeschadet größere Veränderungen der epistemischen Situation, in der sie eingeführt werden, überstehen, auch wenn die Wahrnehmung und Entfaltung ihrer kognitiven Meriten kein Leben jenseits solcher Situationen hat. Zwar können sie sich in ihnen auch zu unsinnigen Imaginationen verwandeln, doch vor allem können sie ihren kontrafaktischen Charakter verlieren.
Säkularisierung Prozessbegriff für die Wissenschaftsund Literaturgeschichte -
Sandra Pott Vom Ende des dunklen Zeitalters, der Scholastik, des Aristotelismus, des davon erzählen traditionelle WissenGalenismus und anderer -ismen schaftsgeschichten, wenn sie auf die Frühneuzeit blicken. Nach dem Fall von Konstantinopel (1453), so scheint es, befreite das Weltwissen der Antike den europäischen Geist: durch die Wiederentdeckung verschollen geglaubter Papyri und durch Übersetzungen der Alten ins Lateinische. ,Ad fontes V.Zu den Quellen' dieser Schlachtruf leitete den Humanismus ein. Die .scientific revolution', der Kampf gegen die theologische Autorität zugunsten von Experiment und Empirie, folgte in traditionellen Darstellung zur Wissenschaftsgeschichte unmittelbar darauf. Danach markierte das Bücherjahr 1543 einen Höhepunkt der AuseinanderIn De humani corporis fabrisetzung von Theologie und caZÜber den Bau des menschlichen Körpers begründete Andreas Vesalius die Anatomie neu, und Nikolaus Kopernikus veröffentlichte seine Erkenntnisse über die Umläufe der Himmelskörper in De revolutionibus orbium coelestium. Im Jahr 1616 aber sah sich Galileo Galilei durch die Inquisition genötigt, der kopernikanischen Theorie, dass die Erde sich um die Sonne drehe, abzuschwören ein Umstand, der die Dogmengläubigkeit und Weltferne der katholischen Kirche nur ein weiteres Mal belegte. Die .scientific revolution' jedenfalls ließ sich davon nicht beeindrucken. Spätestens in der Aufklärung war es geschafft: Francis Bacon, René Descartes und Isaac Newton etablierten die wissenschaftliche Methode; Naturforschung emanzipierte sich von der Theologie und gewann den Streit der Fakultäten. Säkularisierung im Beschreibungsmuster von Krieg und Kampf, als Fortsetzung von Wissenschaft mit anderen Mitteln? Im Ergebnis solcher Darstellungen steht eine weltliche Wissenschaft, die allenfalls ethisch und juristisch gezähmt wird. Traditionelle Wissenschaftsgeschichte geht von diesem Ergebnis aus: Sie konstruiert sich ihren Gegenstand rückwirkend, füllt die Lücken in der Ereigniskette, indem sie eine Erfolgsgeschichte für die Durch-
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Naturforschung:1
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Nachstehender Beitrag enthält die Ergebnisse des Projektes „Verweltlichung der Wissenschaft(en). Bedingungen, Muster der Argumentation und typisierte Phasen wissenschaft-
licher Säkularisierung", das von Friedrich Vollhardt und Lutz Danneberg in Zusammenarbeit mit Jörg Schönert geleitet wurde; die Verfasserin dieses Beitrags wirkte als daran mit. Mitarbeiterin ' Kritisch dazu Danneberg, Lutz: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers, Berlin/New York 2003 (Säkularisierung in den Wissenschaften, Bd. 3).
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Sandra Pott
setzung .moderner Wissenschaft' entwirft. Für diese Entwürfe lässt sich eine relativ große kognitive Asymmetrie feststellen. Gemeint ist eine .Schieflage' zwischen der historischen Wirklichkeit und einer Geschichtsschreibung, die versucht, diese Wirklichkeit einlinig als einen stetigen (oder: Ideologischen) Prozess mit bestimmtem Ziel (mit einem Telos) darzustellen. In einem ersten Schaubild (Anhang) versuche ich, diese Vorstellung vom Prozess der Säkularisierung auszudrücken. Dieses ideologische' Wissenschaftsmodell aber ist Geschichte. Die letzten Jahrzehnte nämlich wandten sich dem Gegenteil zu. Sie bemühten sich um eine ,reiche' Historiographie, um die kognitive Asymmetrie von Wirklichkeit und Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu verringern. Es ging um die Außenseiter im akademischen Geschäft, um Magie, Hermetik und um die nicht-beabsichtigten Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse.2 Kurz: Man favorisierte ein komplexes Forschungsprogramm, das nicht nur entdecken sollte, was die traditionelle Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte der Wissenschaften beiseite ließ, sondern auch beanspruchte, empirisch, quellennah, nicht-teleologisch und historisch angemessen vorzugehen. Historische Prozesse bekamen diese Bemühungen um eine kognitiv symmetrische Wissenschaftsgeschichtsschreibung allerdings kaum in den Blick. Man widmete sich der Geschichte vom Einzelfall. Beide Varianten der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, die traditionelle und .bellezistisch' argumentierende sowie die gegenwärtige .ganzheitliche', habe ich vereinfacht dargestellt, um das Problem zu veranschaulichen, das unser Projekt theoretisch und historisch bewegte. Es setzte bei genau jenen Schwierigkeiten an, welche die gegenwärtige Wissenschaftsgeschichtsschreibung mit der Darstellung von Prozessen hat, und es zielte auf eine erneuerte Ideen- oder Geistesgeschichte oder eine (modern gesprochen) kontextreiche, dichte Intellectual History. Zu diesem Zweck galt es, die traditionelle und prozessbezogene Wissenschaftsgeschichte wiederzuentdecken, ohne hinter die historischen Erkenntnisse und die methodischen Errungenschaften der gegenwärtigen Wissenschaftsgeschichte zurückzufallen.
2
Bauer, Barbara: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften und ihre Vermittlung in den Medien und Künsten. Ein Forschungsbericht, in: Wolfenbütteler BarockNachrichten 26/1 (1999), S. 3-35; siehe auch aus den aktuellen Publikationen zum Thema: Daston, Lorraine: Early Modern History Meets the History of the Scientific Revolution. Thoughts towards a Rapprochement, in: Puff, Helmut/Wild, Christopher (Hrsg.): Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, S. 37-53; Detel, Wolfgang/Zi'rre/, Claus (Hrsg.): Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit/Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe, Berlin 2002 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 2); Schramm, YieXmarlSchwarte, Ludger/Lazardzig, Jan (Hrsg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2003 (Theatrum Scientiarum 1).
Säkularisierung
225
I. Theoretische und konzeptionelle Grundlegung Im Vordergrund unseres Projektes stand deshalb ein heuristisches Problem: Wie lassen sich Prozesse im allgemeinen und der Prozess der Säkularisierung im besonderen beschreiben, ohne wie die traditionelle Wissenschaftsgeschichte zu reduktiv zu werden? Unsere Vorüberlegung war schlicht: Verabschiedete man sich von dem Anspruch, geschichtliche Vorgänge mit Konzepten wie .Säkularisierung' zu erklären, dann musste es möglich sein, Prozessbegriffe für die historisch angemessene Darstellung zu nutzen. Zu diesem Zweck unterschieden wir zwischen einer makrologischen Prozesskategorie und einer mikrologischen Interpretationskategorie Säkularisierung'. Die makrologische Kategorie vernachlässigten wir mit dem Verweis auf die gängige Einsicht, dass Wissenschaft heute säkularisiert ist und dass sich dieser Zustand in irgendeiner Weise entwickelt haben muss. Uns interessierte Säkularisierung als Interpretationskategorie, als Beschreibungsbegriff für mikrologische Prozesse für solche Prozesse, die in bestimmten epistemischen Situationen ablaufen. Ein zweites Schaubild (Anhang) soll helfen, die Veränderung von Wissensansprüchen in solchen Situationen zu beschreiben. Schaubild drei versucht, diese einzelnen Situationen miteinander zu verbinden, ohne jedoch eine kontinuierliche Entwicklung von einer Situation zur anderen zu vermuten. Von einer solchen Kontinuität geht erst Schaubild vier aus. Es fügt die einzelnen epistemischen Situationen zu einem makrologischen Prozess von Säkularisierung zusammen. Zu diesem Zweck füllt es jene Lücken zwischen den einzelnen epistemischen Situationen, die sich auch durch massive historiographische Anstrengung nicht schließen lassen, d.h. es setzt durchaus spekulativ auf eine relative kognitive Asymmetrie: auf eine langsame, aber stetige Säkularisierung der Wissenschaften mit unterschiedlicher Geltung und Verbreitung. In unseren Untersuchungen verharrten wir (weitgehend) auf dem Niveau von Schaubild drei, um unsere Interpretationen nicht jenseits des historisch Belegbaren weitertreiben zu müssen. Zum Zweck der historischen Ermittlung solcher Mikroprozesse von Säkularisierung verstehen wir unter dem Begriff mit Hartmut Lehmann in einem engen Sinne die, Abkehr von christlichen Glaubensinhalten und Glaubenspraktiken", die mehr oder minder biblisch -
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3
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Wir gehen davon aus, dass .Säkularisierung' kein zeitgenössischer Begriff der Frühneuzeit ist. Der zeitgenössische Terminus .Saecularisatio' meint anderes, nämlich die Verweltlichung von Kirchengütern; dazu Heckel, Martin: Korollarien zur Säkularisierung. Vorgetragen am 22. November 1980, Heidelberg 1981; siehe auch zur Begriffsgeschichte Zabel, Hermann: „Säkularisation, Säkularisierung", in: Brunner, Otto u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 789-829.
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Sandra Pott
verbürgt sind,
in einem weiten Sinne die
II.
Typologie
des Religiösen im bis hin zum Absterben
„Verwandlung
gesellschaftlichen Modernisierung [...], von organisierter Religiosität überhaupt".4
Prozeß der
Systematischer Ertrag: Phänomenen der Säkularisierung
von
Mit Blick auf die Wissensgebiete der Medizinethik, der Anatomie, der Anthropologie, der Apologetik, der Rechts- und Moralphilosophie, der Philosophie und der Literatur gelang es uns, Mikroprozesse von Säkularisierung typologisch zu fassen und historischen Zusammenhängen zuzuordnen:5
(1) der additive Typus: An nicht-säkularisierte Aspekte werden Problemstel-
lungen/Fragen, Begründungstheorien, Denkmuster, Argumentationsstile, Akzeptanzkriterien und/oder an nicht-säkularisiertes (Kontext-) Wissen wird Wissen angeschlossen, das durch Verfahren gewonnen ist, die in ex post-Sicht typisch für säkularisierte Konstellationen sind (an A wird B angeschlossen) [Beispiel: S. Pott über Friedrich Hoffmann in Bd. 1]. Antworten,
(2) der transformative Typus: Die Substanz von Problemstellungen/Fragen, Begründungstheorie, des (Kontext-)Wissens, eines Denkmusters, eines
der
Argumentationsstils, eines Akzeptanzkriteriums und/oder einer Antwort wird verändert (aus A wird AI) [Beispiele: S. Pott über Albrecht von Haller in Bd. 1, Joachim Jacob über das Verhältnis von Religion und Literatur in Bd. 2, L. Danneberg über Anatomie und Hermeneutik in Bd. 3]. (3) der evolutionäre Typus: Die Substanz von Problemstellungen/Fragen, Begründungstheorie, des (Kontext-)Wissens, eines Denkmusters, eines
der
Argumentationsstils, eines Akzeptanzkriteriums und/oder einer Antwort wird so sehr verändert, dass sie nicht mehr erkennbar ist und möglicherweise
ausdrücklich verabschiedet wird (aus A wird B) [Beispiele: S. Pott über Albrecht von Haller in Bd. 1, Joachim Jacob über das Verhältnis von Religion und Literatur in Bd. 2, S. Pott über den kosmologischen Gottesbeweis in Bd. 2, L. Danneberg über Anatomie und Hermeneutik in Bd. 3]. -
4
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Lehmann, Hartmut: Protestantisches Christentum im Prozess der Säkularisierung, Göt-
2001, S. 8f. tingen 5 Zusammengefasst
von Jörg Schönen und Sandra Pott: Einleitung, in: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur, Berlin/New York 2002, S. 1-9.
227
Säkularisierung
(4) der revolutionäre Typus: Problemstellungen/Fragen, die Begründungstheorie, das (Kontext-)Wissen, ein Denkmuster, ein Argumentationsstil, ein
Akzeptanzkriterium und/oder eine Antwort werden durch eine/einen anderen ersetzt (an die Stelle von A tritt B) [Beispiele: Simone de Angelis über die Seelenlehre des Rudolph Goclenius in Bd. 2, Martin Mulsow über die Seelenlehre Urban Gottfried Buchers in Bd. 2, S. Pott über den Gottesbeweis in Bd. 2].
kosmologischen
Unser Verfahren will ich an einem historischen Beispiel aus dem Zwischenfeld von Literatur und Medizin erläutern: an einem Ausschnitt aus Ludwig Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter. Arnim veröffentlichte den ersten Teil des Texts im Jahr 1817; der zweite Teil blieb Fragment.6 Durch beide Teile aber zieht sich eine medizinische Episode, die von einer berühmtberüchtigten Figur handelt: von Dr. Johann Georg Faust (geb. in Knittlingen/Kundling in Schwaben 1480, gest. etwa 1540), dem Schwarzkünstler, dessen Geschichte nicht zuletzt Folge der kollektiven Phantasie des Reformationszeitalters ist. Seit 1507 tauchte Faust als Zauberkünstler und Horoskopsteller auf verschiedenen deutschen Marktflecken auf auch, wie es Arnims Geschichte will, im schwäbischen Waiblingen. Berthold, Bürgermeister in Waiblingen, kränkelt und kommt seinen Geschäften nur mit Mühe nach. Weil kein Medikament helfen will, willigt er ein, sich von Faust, einem Quacksalber behandeln zu lassen. In eigentümlich orientalischer Tracht betritt der umstrittene Doktor die biedere Stube des Bürgermeisters, spricht den Kranken auf Lateinisch an, berechnet mit Hilfe eines „kleinen Turmfs] mit künstlichen Scheiben, Zifferblättern und schnurrenden Rädern" seinen Geburtstag, misst den Puls und diagnostiziert, dass der Patient ohne „Transfusion des Blutes nicht vierzehn Tage leben" könnte.7 Gesagt, getan: Berthold wird geheilt. Faust triumphiert und lässt den eigenen Gelüsten im Schweinestall von Waiblingen freien Lauf zum Entsetzen der Einwohner. Mit den Worten unseres Projektes stellt sich die Geschichte wie folgt dar: Faust und sein Gefährte Mephistopheles verkörpern einen revolutionären Typus von Säkularisierung und Wissenschaft.8 Faust will die ganze Heilkunde neu, nämlich säkular begründet haben.9 Schon deshalb lästert der Wunder-
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6
Von Arnim, Achim: Die Kronenwächter, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1989 (von Arnim, Achim: Werke 2; Bibliothek der deutschen Klassiker 49). Ebd., S. 113. 8 Maler Sixt rät: „Domine [...], in den Flaschen, Kruken und Schachteln steckt eure ganze Krankheit, mein Paracelsus und mein Doktor Faust aus Kindlingen, der jetzt hier ist, haben die ganze Heilkunde transfiguriert, sie ätzen, brennen, wo die andern leise überstrichen, sie schmeißen den Pinsel gegen das Bild, wo keiner fertig malen konnte und siehe, immer treffen sie damit den rechten Fleck [...]." (Ebd., S. 11 lf). 9 Ebd., S. 112. 7
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heiler Gott, leugnet, dass die Welt von Gott geschaffen sei und redet einer säkularisierten Schöpfungslehre das Wort: „Da seid Dir [die Bürger Waiblingens] weit zurück, wenn Ihr Gott als den Schöpfer der Welt anbetet, die Welt ist dem viel zu klug, sie hat sich selbst am besten zu machen gewußt [...]."" Dieser Revolutionär von Wissenschaft und Denken trifft auf ein Gemeinwesen, in dem der christliche Glaube ungebrochen waltet. Bertholds Pflegemutter Hildegard steht beispielhaft dafür; sie bewillkommnet den Dr. „als wärs ein Engel",1 küßt ihm die reich beringte Hand wie diejenige des Papstes,13 [...] und lässt für die Genesung des Sohnes eine „ewige Lampe vor dem Mariengebilde am vordem Hausgiebel mit frommen Dankgebeten anzünden."14 Als sich herausstellt, dass der Wundermann eigentümliche Praktiken mit Tieren pflegt, verteufelt sie ihn.15 Hildegard sakralisiert das Weltliche, Revolutionäre zunächst und wendet sich schließlich gegen jede Säkularisierung. Anders Berthold. Er verkörpert den transformativen Typus von Säkularisierung. Denn seine Genesung kommentiert er mit den Worten: „[...] geben wir Gott die Ehre, aber wir sind Faust großen Dank Hier werden und A Dank als Leiter verändert: aus (,Gott Begründung Argument gebührt und Lenker der Welt') wird AI (,Gott gebührt Dank aber die Welt regelt sich selbst'). Die Kronenwächter nehmen also gleich drei Modelle auf, um Phänomenen des Religiösen und Irreligiösen zu schildern: das revolutionäre, das transformative und eines, das der Säkularisierung überhaupt widerspricht. Ein Round zeigt, wie man des frühen 19. Jahrhunderts blickt zurück auf das 16. christliche Deutungen von Wissensansprüchen und Wissenspraktiken auf dem Gebiet der Medizin entfallen durch die Geheimwissenschaften und die Quacksalberei, die jeder ernsthafte Arzt des Zeitalters so energisch bekämpfte. Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass die Berthold-Figur derjenigen des ,mittleren Charakters' gleichkommt, der dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als idealer Leser galt: Mit Bertholds Position konnte er sich identifizieren eine gewisse ironische Distanz zur erzählten Geschichte vorausge-
schuldig!"16 -
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setzt.
luEbd., S.
120.
S. 482. "Ebd., 12
Ebd., S. 113. Ebd., S. 115. 14 Ebd., S. 120. 13
Schneider Fingerling meint, so ein Wundermann sei mit dem Teufel im Bund; er könne Leuten Köpfe abschlagen und wieder annähen (Ebd., S. 115). Bertholds Mutter vermerkt gleich, sie habe „kein Zutrauen zu dem grimmigen Doktor; er hatte so etwas Entsetzliches als wäre er der Teufel, der die Seele zum Lohn nimmt, [...]." (Ebd., S. 119) [...], 16 Ebd., S. 119.
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Säkularisierung
Beides sowohl das Überlagern der Typen von Säkularisierung als auch die tendenzielle Begeisterung für weltliche Wissensansprüche sind der Literatur der Klassik und Romantik überhaupt gemein. Ihre Themen aber entstammen weitgehend und am Beispiel der Kronenwächter ist es besonders augenfällig den Wissensgebieten der Frühneuzeit. Um diese soll es im Folgenden gehen, denn sie standen im Mittelpunkt unseres Projektes. -
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III. Historische Erträge
Wissensgebiete ausgewählt, welche schon zuvor im Zentrum jener Forschung standen, die sich mit Fragen der Säkularisierung befasste: erstens die Apologetik, zweitens die Hermeneutik in ihrem Verhältnis zur Anatomie und drittens die Medizin in ihrem Verhältnis zu Theologie, Moralphilosophie und schöner Literatur. (a) Apologetik In seinem Beitrag „zur fehlenden Negativbilanz in der apologetischen LiteraWir haben drei
Neuzeit" beschreibt Friedrich Vollhardt einen erstaunlichen Anders als erwartet weist die apologetische Literatur des ZeitUmstand:17 raums keine Spuren eines Emanzipationskampfes der Naturforschung unter den Auspizien der Säkularisierung auf. Fallstudien belegen vielmehr die christlich-apologetischen Motivationen und Interessen einzelner Naturforscher und Theologen. Nach wie vor und gestützt durch die Physikotheologie kann Naturforschung als Gottesdienst begriffen werden. Die große Zahl physikotheologischer Texte legt die Frage nahe, warum es nach wie vor nötig schien, Gott aus der Natur und im Sinne einer ,theologia naturalis' zu beweisen. In seiner Astrotheologie (1765) gibt William Derham die Antwort: Es geht um die Widerlegung der Glaubenskritiker, der Deisten, Skeptizisten und vieler anderer mehr. Die nicht-intendierten und religionskritischen Folgen der Naturforschung aber kommen den Apologeten nur selten in den Blick. Friedrich Vollhardt spricht dafür von einer „großen zeitlichen Verzögerung", mit der das „Kontur der Frühen
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Vollhardt, Friedrich: „Verweltlichung" der Wissenschaft(en)? Zur fehlenden Negativbiapologetischen Literatur der Frühen Neuzeit, in: Danneberg, Lutz/Pott, Sandva/Schönert, Jörg/Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, Berlin/New York 2002 (Bd. 2), S. 67-93, vor allem S. 76f.; lanz in der
siehe auch ders.: Christliche und profane Anthropologie im 18. Jahrhundert. Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang von Siegmund Jacob Baumgarten, in: Zelle, Carsten (Hrsg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anthropologie der Aufklärung, Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 19), S. 6890.
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kurrenzverhältnis" von Naturforschung und Theologie reflektiert wurde. Selbst Herders Lehrer, Theodor Christoph Lilienthal, dokumentiert in seinem Kompendium Die gute Sache der in der heiligen Schrift alten und neuen Testaments enthaltenen Göttlichen Offenbarung, wider die Feinde derselben erwiesen und gerettet noch Gegensätzliches: Teilband V informiert über die
Uebereinstimmung der heiligen Schrift mit den Wahrheiten der Meßkunst und Naturlehre (1754); im Blick auf die Visions- und Wunderberichte des Alten und Neuen Testaments zielt Lilienthal auf die „Minimierung des Wunderbaren".19 Erst im Ausgang des 18. Jahrhunderts geht die Selbstverständlichkeit verloren, mit der Lilienthal noch die Harmonisierbarkeit von Natur-
forschung und .Heiliger Schrift' vertrat. (b) Anatomie und Hermeneutik Die Frage nach der Harmonisierbarkeit des Buches der Heiligen Schrift mit dem Buch der Natur nimmt auch Lutz Danneberg für seine Monographie in den Blick. Dir Titel lautet Die Anatomie des Text-Körpers und NaturKörpers; sie handelt demzufolge über zweierlei: erstens über die Anatomie, welche vor allem im Buch der Natur lesen will, und zweitens über die Hermeneutik, die sich ebenfalls dem Buch der Natur, vor allem aber dem Buch der Heiligen Schrift widmet. Mit der Frage nach einer Säkularisierung ist die Studie in doppelter Hinsicht verbunden: Zum einen geht es um den jeweiligen Umgang mit .Autorität', zum anderen um einen Analogieschluss, nämlich um die Selbstbeschreibung als praktische Disziplin, wie sie die Anatomie kennzeichnete und auf die Theologie übertragen wurde. Vor diesem Hintergrund zeigt Lutz Danneberg, wie umsichtig Andreas Vesal anders als es das Gros der Wissenschaftsgeschichte vermuten ließ die Autorität Galens behandelt. Vesal versucht gerade nicht, die galenische Anatomie zugunsten einer neuen und weltlichen Anatomie jenseits der etablierten Säftelehre zu stürzen. Vielmehr bemüht er sich um eine Wiederbelebung der galenischen und der vorgalenischen Anatomie. Anders als Galen stehen Vesal nämlich nicht nur Tierkadaver, sondern auch menschliche Leichname für seine anatomischen Studien zur Verfügung. Bestärkt durch die methodischen und .materiellen' Errungenschaften Galens, aber auch durch die Erkenntnisse des Nikolaus Copernikus und des Logikers Petrus Ramus erneuert sich die Auffassung vom Lesen in .beiden -
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Büchern', dem Buch der Heiligen Schrift und dem Buch der Natur. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen dabei zwei Denkmuster, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind: Das Denkmuster der Ganzheit kennzeichnet die Auffassung vom menschlichen Körper ebenso wie von der 18 19
Vollhardt:
„Verweltlichung" in den Wissenschaft(en)?, S. 81.
Ebd., S. 84.
Säkularisierung
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Bibel. Alle Teile gehören danach notwendig zum jeweiligen Ganzen. Das zweite Denkmuster meint eine Methode, nämlich das Zerlegen, das der Anatomie entstammt oder ihr zumindest abgeschaut ist. Ziel des Zerlegens ist es, die Zusammengehörigkeit von Teil und Ganzem allererst zu belegen zugunsten des eingespielten christlichen Weltbildes, in dem beide Bücher im Sinne Gottes und im Sinne eines freizulegenden Göttlichen vereint sind. Im 17. Jahrhundert treten Text-Körper und Natur-Körper gleichwohl auseinander. In bestimmten epistemischen Situationen entstehen unterschiedliche und in aller Regel nicht-intendierte Muster von Säkularisierung. Solche Beschreibungen von Säkularisierung sollten mit Lutz Danneberg nur unter der Bedingung erlaubt sein, dass sich die jeweilige Beschreibung auf ein einziges Relationenbündel in der betreffenden epistemischen Situation bezieht, und zwar auf das Bündel, welches theologische (im Sinne von .biblisch verbürgten') Wissensansprüche mit nicht-theologischen Wissensan-
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sprüchen verknüpft.20
(c) Medizin, Medizinethik und schöne Literatur Wie im 17. und 18. Jahrhundert theologische, nicht-theologische und antitheologische Wissensansprüche miteinander konkurrieren, zeige ich im ersten Band von Säkularisierung in den Wissenschaften am Beispiel von 60 lateinischen und deutschen Traktaten. Diese Traktate thematisieren den Geltungsanspruch von Medizin, indem sie die eigene Disziplin gegen ein vereinfachtes Verständnis von Theologie abgrenzen. Nicht nur im Fall des Hallenser Anatomen Friedrich Hoffmann (1660-1742) erscheint ,die Medizin' als ,der Theologie' überlegen. Medizin präsentiert sich als Disziplin, die den physischen und mentalen Wohlstand des Menschen nach dem Sündenfall herbeiführt und auf Dauer gewährleistet. Dabei hilft der humanistische Topos vom .einfachen Christentum', medizinisches Wissen und medizinische Verfahren zu begründen. Säkularisierung durch Christianisierung und Entkonfessionalisierung so heißt die Formel zumeist und bis weit in das 18. Jahrhundert hinein.21 Im Blick auf die Quellentexte löse ich den makrologischen Prozessbegriff der Säkularisierung -
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Dazu Danneberg, Lutz: Säkularisierung, epistemische Situation und Autorität, in: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Antheismus (Bd. 2), S. 19-66, bes. S. 45^17. 21 Zu Konfessionalisierung und Entkonfessionalisierung siehe auch Pott, Sandra: „Critica perennis". Zur Gattungsspezifik gelehrter Kommunikation im Umfeld der „Bibliothèque Germanique", in: Zedelmaier, Helmut/A/uAso»», Martin (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), S. 249—273; dies.: „Le Bayle de l'Allemagne". Christian Thomasius und der europäische Refuge. Konfessionstoleranz in der wechselseitigen Rezeption für ein kritisches Bewahren der Tradition(en), in: Beetz, Manfted/Jaumann, Herbert (Hrsg.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext, Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 20), S. 131-158.
Sandra Pott
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deshalb in Differentiale auf und verweise auf zweierlei: erstens darauf, dass sich selbst eine sich als weltliche verstehende Medizin nicht von christlichen Auffassungen lossagen will. Als Gegner dient vielmehr eine erstarrte und dem ,wahren Christentum' nicht gerecht werdende orthodoxe Theologie, etwa der Hallenser Pietismus im Umfeld Hoffmanns. Mediziner wie Hoffmann zielen also zweitens durchaus auf eine Emanzipation ihres Faches von der Vorherrschaft der Theologie, und zwar indem sie christliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster gegen dieselbe ins Feld führen. Doch handelt es sich in diesen Fällen nicht um eine Tendenz, die alle medizinischen Schulen und Richtungen prägt. Im Gegenteil: Bereits Hoffmanns Hallenser Kollege Georg Ernst Stahl (1659-1734) und sein Schüler Michael Alberti (1682-1757) plädieren für eine vergleichbare Übereinstimmung von Pietismus und Medizin, wie Friedrich Vollhardt sie im Blick auf die apologetische Literatur beschreibt. Während demnach vor allem die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts durch konkurrierende Wahrnehmungen und Deutungen des Verhältnisses von Medizin und Theologie geprägt ist, kennt die zweite Hälfte Argumentationen und Darstellungen, die tatsächlich als Säkularisierung aufgefaßt werden können: der „methodologische Atheismus" des Berner bzw. Göttinger Mediziniers Albrecht von Haller, die journalistische' Kritik am kosmologischen Gottesbeweis (etwa in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, 1765-1796),22 Jean Pauls Experimental-Zynimus und Johann Wolfgang von Goethes pantheistische Ethik, die auch auf die zeitgenössische Medizin Anwendung fand all diese Beispiele belegen ein gemeinsames Interesse an einem weltlichen Wissen, das sich nicht nur von ,der Theologie', sondern auch von einem kirchlich verankerten Christentum verabschiedet hat. -
IV. Zur Rezeption unserer Ergebnisse in Rezensionen Dieser differenzierende Umgang mit dem Begriff der Säkularisierung und seinem Gebrauch für die historische Untersuchung sagte den Rezensenten unserer Bände einerseits zu, andererseits rief er altbekannte Schwierigkeiten hervor: Beispielsweise vertritt der Literaturwissenschaftler Dietmar Till in seiner Rezension für H-Soz-u-Kult (2003) die Auffassung, dass wir zwar ein sehr ausgereiftes Modell für die Beschreibung von Prozessen der Säkularisierung vorgelegt hätten,23 denn es bezöge sogar rückläufige Tendenzen mit ein. 22
Dies gilt vor allem für die Schriften von Johann Heinrich Schütte, Johann Daniel Denso und Christian Tobias Ephraim Reinhard, vgl. Pott, Sandra: Säkularisierung des Telos. Der kosmologische Gottesbeweis in periodischen Schriften des 18. Jahrhunderts, in: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, S. 274-302. 23 Till, Dietmar: Sammelrez. S. Pott: Medizin und schöne Literatur, in: H-Soz-u-Kult (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/), 26.03.2003.
Säkularisierung
233
Gelegentlich
hätten wir aber entschlossener für unseren Begriff eintreten sollen. Ob das heißen sollte: .Mehr kognitive Asymmetrie wagen'? Dietmar Till jedenfalls sieht die Diskussion über die wissenschaftliche Kategorie der Säkularisierung durch unser Projekt zwar wiederbelebt, aber noch nicht gerettet.
Der Philosoph Andreas Urs Sommer hingegen äußert sich im Philosophischen Jahrbuch (2003) begeistert über unsere mikrologische Beschreibung von Säkularisierung und betrachtet die Kategorie als wissenschaftlich rehabiliert. Er schlägt sogar vor, neben unseren vier Typen der Säkularisierung einen ,subtraktiven Typus' einzuführen:24 Danach folgt aus einem säkularisierten Phänomen A gerade kein Säkularisat B, sondern nur noch ein Phänomen Nicht-A. A verschwindet also einfach, ohne das etwas an seine Stelle tritt. Als Beispiel nennt Andreas Urs Sommer das Verschwinden religiöser Praktiken in der Neuzeit. Im Blick auf vergleichbare Phänomene hebt Burkhard Dohm in seiner Rezension für die Zeitschrift literaturkritik.de (2004) die Bedeutung des Begriffs der Säkularisierung vor allem für die germanistische Literaturwissenschaft hervor.25 Zugleich benennt er das „Unbehagen", das nicht nur den Germanisten im Umgang mit diesem so problematischen Begriff befallt. Für die künftige Erforschung von Phänomenen der Säkularisierung fordert er deshalb einen „grundlegend modifizierten definitorischen und methodoloDie Beiträge des Projektes versteht er nicht nur als „wichgischen solchen Debatte, sondern schätzt vor allem das „durch zu einer tige Impulse" aktuelle theoretische Konzepte profilierte [...], flexibel einsetzbare [...] Arbeitsinstrumentarium", das sie bereitstellen wollen.27 Diese vielschichtige Rezeption bestätigt uns in der Annahme, dass wir wenn nicht die ,goldene Mitte' von kognitiver Symmetrie und Asymmetrie dann aber einen Weg gefunden haben, den belasteten Begriff der Säkularisierung etwas zu entlasten und ihn für die historische Untersuchung zurückzugewinnen. Darüber hinaus zeigt die Kritik, dass die Kategorie Säkularisierung vor allem für eine erneuerte und traditionsbewusste Geistesgeschichte unverzichtbar ist selbst nachdem Hans Blumenberg sie als Theologumenon entlarvte und ihren Gebrauch für Phänomene der Neuzeit für illegitim erklär-
Zugriff'.26
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te.
Sommer, Andreas Urs: [Rez.] Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, in: Philosophisches Jahrbuch 110/2 (2003), S. 382-385, hier S. 383. Dohm, Burkhard: Entchristianisierung und Rechristianisierung des Wissens. Zur „Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit", in: www.literaturkritik.de
25
1. Jan. 2004). (Nr. 26 Ebd.
234
Sandra Pott
V. Desiderate Deshalb wollen wir im Rückblick sowohl auf das eigene Projekt als auch auf die Kritik einige Desiderate für eine künftige Forschung über Phänomene der
Säkularisierung erörtern:28
(a) Weiterführende Quellenstudien. Im Ergebnis
unseres Projektes stehen die oben referierten Ergebnisse zu den Wissensgebieten der Apologetik, der Hermeneutik und der Medizin, sondern auch Beiträge von Fachkollegen, die im Zusammenhang mit einem Rundgespräch zum Thema eingeworben werden konnten.29 Sie widmen sich der Ausdifferenzierung der Seelenlehre im 16., 17. und 18. Jahrhundert (Simone de Angelis, Gideon Stiening, Martin Mulsow), der Rechtsstellung des Atheisten (Dieter Hüning) ebenso wie der Poetik der Aufklärung (Joachim Jacob). Sowohl die eigenen Studien als auch diese Beiträge zeigten, wie zentral die Änderung einzelner Redeweisen für die Frage nach einer Säkularisierung ist. Künftige Studien sollten darauf besondere Aufmerksamkeit verwenden. Sie könnten beispielsweise die Entwicklung einzelner Denkmuster (Materialität der Seele, Rechtfertigung medizinischer Sektionen, Erweis der Wahrheit der Heiligen Schrift usf.) in epistemischen Situationen untersuchen, die der Säkularisierung verdächtig sind. Dabei bliebe besonders auf die Identifikation des säkularisierten Phänomens A zu achten. Denn will man von einer Säkularisierung und einem Säkularisat B sprechen, dann ist nach der nicht-säkularisierten Vorgeschichte zu fragen und zu prüfen, wie eng und notwendig sich die Beziehungen von A und B erweisen. (b) Blinde Flecken. Einige Quellenbereiche blendeten unsere Untersuchungen ganz aus. Gemeint sind beispielsweise Texte, die Auskunft über das Verhältnis von Geschlecht und Säkularisierung geben.30 Auch die Reformationsgeschichte kam zu kurz, und die Physikotheologie bliebe als Beispiel und Gegenbeispiel für Prozesse der Säkularisierung umfassend zu würdigen. Uns geriet sie zum integralen Bestandteil der Studien, weil ihre Begründungsmuster etwa in der Apologetik bis in das ausgehende 18. Jahrhundert intakt blieben; diese „longue durée" gilt es noch herauszuarbeiten.
nicht
28
nur
Die Forschung findet ihre Fortsetzung mit dem Projekt „Figuren des Sakralen in der Dialektik der Säkularisierung" am Berliner Zentrum für Literaturforschung (Projektleiterin: Sigrid Weigel; Mitarbeiter: Ernst Müller, Martin Treml, Daniel Weidner) und dem Projekt „Religiöse und säkulare Repräsentation im frühneuzeitlichen Europa" (HumboldtUniversität zu Berlin, Projektleiter: Heinz Schilling; Mitarbeiter: Vera Isaiasz, Matthias Pohlig, assoziiert: Stefan Ehrenpreis, Ute Lotz-Heumann) im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 640 „Repräsentation sozialer Ordnungen im Wandel". 29 Sie sind in unserem Sammelband „Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus" zusammengebunden. 30 Kritisch angemerkt von Dohm: EntChristianisierung.
Säkularisierung
235
(c) .Arbeit am Begriff. All dies ist nur vor dem Hintergrund einer stetigen ,Arbeit am Begriff der Säkularisierung möglich. Diese Arbeit sollte doppelt
angelegt werden: Erstens sollte sie die Verwendung von Begriffen, Denkund Argumentationsmustern in jenen historischen Konstellationen betreffen, die in der Geschichts- und Literaturwissenschaft, in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte unter dem Vorzeichen einer Säkularisierung (der Wissenschaften) beschrieben wurden. Zweitens sollte diese Arbeit im Sinne der Fragestellung des Schwerpunktprogramms die soziale Gestaltungskraft der ,Idee Säkularisierung' selbst in den Blick nehmen.31 Nicht ohne Grund führte das ausgehende 19. Jahrhundert die Idee Säkularisierung ein. Geleitet von wissenschaftlichem und wirtschaftlichem Zukunftsoptimismus sowie weltlich orientierter Jurisprudenz interpretierte man die Frühneuzeit als Vorgeschichte eines faktischen oder erwünschten status Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kommt der Idee der Säkularisierung deshalb eine eigene soziale Gestaltungskraft zu für das Verständnis der jeweiligen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihr ergeht es damit ähnlich wie anderen Ideen von kurzen oder langen gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen: den Ideen der Sozialdisziplinierung, der Konfessionalisierung, der Pluralisierung und der Globalisierung beispielsweise, die von der gegenwärtigen Frühneuzeit-Historiographie in den Mittelpunkt der Forschungs- und Lehrtätigkeit gerückt werden.33 Für diese Begriffe gilt gleichermaßen, dass sie in der Frühneuzeit selbst nicht vorkommen, sondern nachträglich auf sie angewandt werden. Ziel solcher Anwendungen ist es, im Blick auf einzelne (epistemische) Geschichte verstehbar zu machen Situationen oder im Blick auf eine „longue durée" von Phänomenen der Sä-
-
quo.32
-
-
kularisierung. Gleich ob
Säkularisierung, Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung, Pluralisierung oder Globalisierung der Geschichtsschreibung bleibt nichts anderes übrig, als mit historischen Lücken zu arbeiten, um kohärente Wahrnehmungen und Darstellungen historischer Ereignisse, Denk- und Deutungsmuster überhaupt erst zu ermöglichen. Nicht selten wird es dabei erscheinen, als vertraue der Interpretierende auf eine Art Weltgeist, der sich unter Umständen auch gegen den Willen der Beteiligten, also contra intentionem und bloß im Sinne des Prozessbegriffes verwirklichte.34 Die Hauptaufgabe historischer Forschung besteht darin, diesen Weltgeist durch die Unter-
31
Anregend dazu der Beitrag von Daniel Weidner: Zar Rhetorik der Säkularisierung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78/1 (2004), S. 95-132. 32 Hinweise dazu in Monod, Jean-Claude: La querelle de la sécularisation de Hegel à BluParis 2002 (Problèmes et controverses). menberg, 33 Dazu die Beiträge in Völker-Rasor, Anette (Hrsg.): Frühe Neuzeit. Mit einem Geleitwort v. Winfried Schulze, München 2000, S. 293-314. 34 Für diesen Einwand danke ich Barbara Mahlmann-Bauer (Bern).
236
Sandra Pott
des historischen Details zurückzudrängen, ohne die historische Phantasie für strukturelle Ähnlichkeiten und Zusammenhänge aufzugeben, auf die der Begriff der Säkularisierung auch jenseits der mikrologisch orientierten Fallstudie zutreffen könnte.
suchung
Anhang Schaubild 1. Modell für einen Prozess der .Säkularisierung' mit metrie am Beispiel der .scientific revolution':
großer kognitiver Asym-
-
weltlich
Evolutionstheorie
Methode Wiss. i
(Bacbn, Descartes, Newton)
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» i » »
1700
1800
1900
i / ; i
/
Inquisition: Galilei schwört Kopernikus ab
christlich
Schaubild 2. Modell für einen Prozess der Säkularisierung (im engen Sinne) mit dem Ziel der größtmöglichen Verringerung kognitiver Asymmetrie; [dazu der Beitrag von Lutz Danneberg in Bd. 2]:
weltlicher Wissensan-
spruch
Wissensanspruch W
epistemische Situation 1 christlicher Wissensan-
spruch
Wissensanspruch W
epistemische ..• '' Situation 2
237
Säkularisierung Schaubild 3. Additives Modell für Prozesse
kognitiver Asymmetrie:
von
Säkularisierung
mit
möglichst geringer
weltlicher
Wissens-
anspruch
15Ö0
1600
1700
1800
1900
christlicher Wissens-
anspruch
Schaubild 4. Kombination der Modelle aus den Schaubildern 1 und 3 relative kognitive Asymmetrie: langsame, aber stetige Säkularisierungen der Wissenschaften mit unterschiedlicher Geltung, Verbreitung, Durchsetzungskraft. Im Ergebnis steht ein weltliches Wissenschaftsmodell, das nurmehr ethisch und gesetzlich begrenzt wird. -
weltlicher Wissens-
anspruch 1700 christlicher Wissens-
anspruch
1800
1900
238
Sandra Pott
Veröffentlichungen aus dem Projekt „Verweltlichung der Wissenschaft(en)": Ergebnisse des Projektes finden sich in drei Büchern dokumentiert, die unter dem gemeinsamen Obertitel „Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit" im Walter de Gruyter-Verlag erschienen sind: Die
Pott, Sandra: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur, Berlin/New York 2002 (Bd. 1).
Danneberg, Lutz/Pofi, Sandra/Sc/iönerr, iöcg/Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, Berlin/New York 2002 (Bd. 2) Danneberg, Lutz: 2003 (Bd. 3).
Die Anatomie des
Text-Körpers
und
Darüber hinaus entstammen dem Projekt nachstehende
Natur-Körpers,
Berlin/New York
Beiträge:
Danneberg, Lutz: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Schönen, Jörg/Zeuch, Ulrike
(Hrsg.): Mimesis Repräsentation Imagination, Berlin/New York 2004, S. 241-282. Ders.: Kontroverstheologie, Schriftauslegung und Logik als ,donum Dei': Bartholomaeus Keckermann und die Hermeneutik auf dem Weg in die Logik, in: Garber, Klaus (Hrsg.): Westpreußen in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2005 (im Druck). -
-
Pott, Sandra: „Critica perennis". Zur Gattungsspezifik gelehrter Kommunikation im Umfeld der „Bibliothèque Germanique", in: Zedelmaier, HelmutJMulsow, Martin (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), S. 249-273. Dies.: „Le Bayle de
l'Allemagne". Christian Thomasius und der europäische Refuge. Konfessionstoleranz in der wechselseitigen Rezeption für ein kritisches Bewahren der Tradition(en), in: Beetz, Manfred/Jaumann, Herbert (Hrsg.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext, Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 20), S. 131-158. Vollhardt, Friedrich: Chrisüiche und profane Anthropologie im 18. Jahrhundert. Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang von Siegmund Jacob Baumgarten, in: Zelle, Carsten (Hrsg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anthropologie der Aufklärung, Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 19), S. 68-
90.
„The Last Real Discussion of Fundamentals": Zum Problem hybrider Sprachen im politischen Diskurs in Großbritannien um 1800 Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
„This was perhaps the last real discussion of fundamentals of politics in this country. Great issues were worthily debated. [...] Issues as great have been
raised in our day, but it cannot be pretended that they have evoked a political discussion on the intellectual level of that inspired by the French Revolution."1 Mit diesen Sätzen beschreibt Alfred Cobban die politischen Kontroversen, wie sie in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in England stattfanden. Obwohl sie Cobban vor mehr als vierzig Jahre geschrieben hat, werden sie bis in die Gegenwart hinein regelmäßig zitiert. Zwar ist gelegentlich darüber räsoniert worden, ob dieses Urteil in seiner Pauschalität richtig ist, niemand hat jedoch in Frage gestellt, dass die politische Gesellschaft Englands im Angesicht der Französischen Revolution von einem gewaltigen Reflexionsschub erfasst wurde. Denn die revolutionären Ereignisse jenseits des Kanals wurden keineswegs als bloß innerfranzösische Angelegenheit wahrgenommen, vielmehr wirkten sie wie eine Art Kommentar zur Situation im eigenen Land, insbesondere zur eigenen Verfassung mitsamt ihrer Geschichte.2 Auf einen Schlag war ein neuer politischer (und gesellschaftlicher) Horizont eröffnet worden, der zur Stellungnahme herausforderte. Die Entmachtung und spätere Hinrichtung Ludwigs XVI., die Politisierung der Massen, die radikale Sprache der Revolutionäre und nicht zuletzt die Verfassungsstiftung aus dem Nichts heraus hinterließen tiefe Schleifspuren im politischen Bewusstsein englischer Zeitgenossen. Gleichgültig ob man von den Ereignissen in Frankreich begeistert war, sich darüber irritiert oder entsetzt zeigte, die Koordinaten des politischen Bewusstseins wollten neu bestimmt werden. Welche Fliehkräfte diese Auseinandersetzung um die Französische Revolution entfaltete, wurde nicht zuletzt auf der parlamentarischen Bühne in Westminster deutlich. Die Haltung der Parlamentarier gegenüber den Ereignissen im revolutionären Frankreich wirkte wie ein politischer Lackmustest, der alte Allianzen zerstörte und neue schuf. Durch die Ereignisse im revolu1
Cobban, Alfred Bert Carter: Introduction, in: ders. (Hrsg.): The Debate on the French Revolution, 2. Aufl., London 1960, S. 1-32, hier S. 31. 2 Siehe dazu u.a. Brewer, John: „This Monstrous Tragi-Comic Scene": British Reaction to the French Revolution, in: Bindman, David (Hrsg.): The Shadow of the Guillotine: Britain and the French Revolution, London 1989, S. 11-25.
240
Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
tionären Frankreich
geriet nun nicht nur die parlamentarische Szene in Bewegung, gleiches galt für die Verhältnisse außerhalb des Parlamentes. Hier formierten sich neben Gesellschaften, die von der älteren Reformbewegung beeinflusst waren, seit Beginn der neunziger Jahre radikaler ausgerichtete, deren Mitglieder häufig als .Jakobiner" bezeichnet werden. Und schließlich gab es mit dem auf breiten Zuspruch stoßenden Loyalismus ein gänzlich neues Phänomen: eine außerparlamentarische Bewegung von „Rechts". An ihrer Spitze stand John Reeves, der im November 1792 die „Association for Preserving Liberty and Property" gegründet hatte. Diese Neukonfiguration des politischen Feldes schlug auf den politischen Diskurs durch.3 Dieser politische Diskurs ist von Historikern, die sich mit der englischen Geschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts beschäftigen, häufig mit dem Begriff der „Debate on France" belegt worden. Gegenüber dieser Terminologie hat sich unterdessen Skepsis geltend gemacht, und dies mit gutem Grund.4 Denn der Begriff „debate" suggeriert, dass die öffentliche Auseinandersetzung der Logik von Rede und Gegenrede folgte und dass sich in dieser öffentlichen Auseinandersetzung Opponenten mit klar konturierten, wohlreflektierten Positionen gegenüberstanden. Im Falle der Kontroverse zwischen Burke und Paine mag dies zugetroffen haben. Daraus aber zu schließen, dass der Diskurs, wie er sich nach 1789 entfaltete, generell im Banne fester Prinzipien, kohärenter politischer bzw. gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe oder subtiler Theorien gestanden habe, wäre verfehlt. Vielmehr gehörte zu den charakteristischen Merkmalen dieses Diskurses das Erratische, das Kurzatmige, die rhetorische Floskel, die spontane sprachliche Aktion. Dieser Sachverhalt soll mit Hilfe der einschlägigen Literatur und unter Rekurs auf einige Beispiele zunächst in knapper Form dargestellt werden (I). In einem zweiten Schritt wird dann darüber nachgedacht, welche allgemeinen Konsequenzen sich aus diesem Sachverhalt für die Geschichtsschreibung politischer Ideen ergeben (II).
3 Aus der Fülle der Literatur seien hier lediglich genannt: Butler, Marilyn (Hrsg.): Burke, Paine, Godwin, and the Revolution Controversy, Cambridge 1984; Blakemore, Steven: Burke and the Fall of Language: The French Revolution as Linguistic Event, Hannover 1988; Claeys, Gregory: The French Revolution Debate and British Political Thought, in: History of Political Thought (HPTH) 11 (1996), S. 59-80; Boulton, James T.: The Language of Politics in the Age of Wilkes and Burke, London 1963; jüngst vor allem auch: Barrell, John: Imagining the King's Death: Figurative Treason, Fantasies of Regicide,
1793-1796, Oxford 2000.
4
Siehe dazu vor allem die Überlegungen von Mark Philp: Introduction, in: ders. (Hrsg.): The French Revolution and British Popular Politics, Cambridge 1991, S. 1-17, hier S. 13ff.
„The Last Real Discussion of Fundamentals"
241
I. Der politische Diskurs, wie er sich in England nach 1789 entfaltet, ist für Historiker politischer Ideen ein zutiefst irritierender und kontroverser Gegenstand. Dies gilt gerade auch in Hinsicht auf die politischen Manifestationen von Reformbewegung und Radikalismus. So ist u.a. darüber spekuliert worden, ob und inwieweit Autoren dieser Provenienz die überkommenen sprachlichen Konventionen des 18. Jahrhunderts hinter sich gelassen und zu einem neuen sprachlichen Repertoire gefunden haben. John Pocock hat in dieser Frage eine eher skeptische Position eingenommen und gemeint, dass das Potential „aufgeklärten" Lagers, auf sprachliches Neuland vorzustoßen, begrenzt geblieben sei. Folglich hätten, so Pocock, ältere Traditionen in die Sprache von Reformbewegung und Radikalismus hineingeragt; insbesondere habe die coimiry-Ideologie ihre Wirkkraft als oppositionelles Idiom gewahrt.5 Dieser Sicht der Dinge ist vor allem von Mark Philp widersprochen worden.6 Philp hat nicht bezweifelt, das der civic humanism Schleifspuren im Geisteshaushalt des ausgehenden 18. Jahrhunderts hinterlassen hat. Aber er hat die grundsätzliche Frage gestellt, ob es überhaupt Sinn macht, in der Textlandschaft, wie sie Reformer und Radikale in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts kreierten, nach einem dominanten Idiom Ausschau zu halten. Denn damit wird dieser Textlandschaft ein Maß an Kohärenz zugesprochen, die diese einfach nicht gehabt hat. Die Stimmen, die im „aufgeklärten" Lager laut wurden, waren, so kann man argumentieren, einfach zu vielgestaltig, um ein zentrales Leitmotiv ausmachen zu können. Man hat in diesem Zusammenhang denn auch treffend von der .fragmented ideology of reform" gesprochen.7 Dass dieser „ideology of reform" solch ein diffuser Charakter eigentümlich war, hatte verschiedenen Ursachen. Zum einen standen im reformorientierten und radikalen Lager schlichtweg unterschiedliche politische Ordnungsentwürfe nebeneinander.8 So gab es Autoren, die weiterhin 5
Pocock, John Greville Agard: The Varieties of Whiggism from Exclusion to Reform: A History of Ideology and Discourse, in: ders.: Virtue, Commerce, and History: Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge 1985,
S. 215-310, hier S. 279-310, 274ff. 6 Philp, Mark: The Fragmented Ideology of Reform, in: ders. (Hrsg.): French Revolution and British Popular Politics, S. 50-77, insbes. S. 54ff. 7 Ebd. 8 Zum Geisteshaushalt des Radikalismus und der Reformbewegung siehe u.a. Harry Thomas Dickinson: Liberty and Property: Political Ideology in Eighteenth-Century Britain, London 1977, S. 237-269; Lottes, Günther: Politische Aufklärung und plebejisches Publikum: Zur Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahrhundert, München 1979; Goodwin, Albert: The Friends of Liberty: The English Democratic Movement in the Age of the French Revolution, London 1979; Claeys, Gregory: Thomas Paine: Social and Political Thought, Boston 1989; Philp, Mark: Paine, Oxford 1989; Dinwiddy, John: Conceptions of Revolution in the English Radicalism of the 1790s, in: Hellmuth, Eckhart (Hrsg.): The Transformation of Political Culture: England and Germany in the
242
Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
die Rhetorik von den traditionellen englischen Freiheiten kultivierten; für andere wurde das universalistisch angelegte Freiheitskonzept der französischen Revolutionäre zur Quelle der Inspiration. Hinzu kam, dass Ironie und Satire viele Texte durchzogen und die Konturen politischer Programmatik verwischten.9 Vor allem aber ist ins Kalkül zu ziehen, dass die Dynamik des Diskurses Zeitgenossen zwang, sich ständig neu zu positionieren. Dabei bedienten sich Reformer und Radikale eines breiten und keineswegs kohärenten sprachlichen Repertoires. Treffend ist daher bemerkt worden: „The historical evidence shows that most late eighteenth century writers drew freely on a wide range of intellectual traditions and mobilised rhetoric from a variety of
political languages."10
Welche Form diese Art von Eklektizismus annehmen konnte, mag das Beispiel von Thomas Spence erhellen." Spence, der als Anwalt (Befürworter) einer radikalen Agrarreform notorische Berühmtheit erlangt hatte und der den Ausbruch der Französischen Revolution begeistert begrüßte, spielte als Mitglied der London Corresponding Society eine wichtige Rolle im .jakobinischen" Milieu der Metropole. Wie andere Zeitgenossen, die sich in diesem Milieu bewegten, war Spence davon überzeugt, dass man mit dem gedruckten Wort die Welt verändern könne.12 Das gedruckte Wort stellte für ihn eine Art Gegengewalt zu dem in oligarchischen Strukturen verharrenden politischen und gesellschaftlichen System dar. Folglich engagierte er sich als Buchhändler, Verleger und Autor.13 Prominenz erlangte Spence vor allem durch die Veröffentlichung des ultraradikalen Journals Pig's Meat, or Lessons for the Swinish Multitude, das zwischen 1793 und 1795 erschien und das auf eine Leserschaft jenseits der politischen Elite zielte.14 Zum einen enthielt Pig's Meat Beiträge, die Spence selbst verfasst hatte und die häufig satirischer Natur waren. Darüber hinaus druckte er in seinem Journal „Klassiker" der politischen Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts in Auszügen ab. Olivia Smith hat denn auch Pig's Meat treffend als „creative anthology of texts concerning liberty, oppression, taxation, revolution, reform, and the luxury of
Eighteenth Century, Oxford 1990, S. 535-560; Jones, Christopher Literature and Ideas in the 1790s, London 1993. Sensibility: 9 Late
Bertram: Radical
Siehe dazu vor allem Wood, Marcus: Radical Satire and Print Culture, 1790-1822, Oxford 1994. 10 Philp, Mark: English Republicanism in the 1790s, in: Journal of Political Philosophy 6 H 998), S. 235-262, hier S. 249. 1 Zu Spence siehe jüngst Fruchtman, Jack: Two Doubting Thomases: The British Progressive Enlightenment and the French Revolution, in: Davis, Michael T. (Hrsg.): Radicalism and Revolution in Britain, 1775-1848: Essays in Honour of Malcolm I. Thomis, Basingstoke 2000, S. 30-40 (mit weiterführender Literatur). 12 Hierzu vor allem Keen, Paul: The Crisis of Literature in the 1790s: Print Culture and the Public Sphere, Cambridge 1999, insbes. S. 28ff. 13 Zu Spence siehe Wood, Marcus: Thomas Spence and Modes of Subversion, in: Enlightenment and Dissent 10 (1991), S. 51-77. 14 Spence, Thomas: Pig's Meat, or Lessons for the Swinish Multitude, London 1793-1795.
The Last Real Discussion of Fundamentals"
243
bezeichnet.15
Das Ensemble von Texten, das Spence in Pig's Meat außerordentlich bunt, sie stammten von Autoren unterschiedlichster Provenienz. Den Kernbestand bildeten dabei die Heroen des
rulers"
versammelte,
war
sogenannten Whig-Kanons. Dazu zählten Milton, Locke, Harrington, Sidney, Trenchard und Gordon. Hinzu kamen mit Joseph Priestley und Richard Price die führenden Vertreter des Rational Dissent, also des politisch höchst aktiven religiösen Nonkonformismus. Und natürlich durften die Vertreter des zeitgenössischen Radikalismus nicht fehlen. Unter anderem nahm Spence Texte von William Godwin und Joel Barlow in seine Anthologie auf. Selbst Tory-Autoren wie Jonathan Swift fanden darin ihren Platz. Spence griff aber nun nicht nur auf englische Autoren zurück, er öffnete sich auch dem politischen Schrifttum des Kontinents. So enthielt Pig's Meat eine Passage aus Pufendorfs Naturrecht. Mehr noch: Spence zitierte intensiv die großen Namen der französischen Aufklärung; dazu zählten Voltaire, Rousseau und D'Alembert. Diese Textsammlung, wie sie Spence in Pig's Meat präsentierte, entzieht sich in ihrer Vielfalt der Logik einer Ideengeschichte, die darauf aus ist, die dominanten Idiome in den Sprachlandschaften der Vergangenheit zu identifizieren. Einzig ihr kritischer Impuls, der sich gegen die Mißstände in Politik und Gesellschaft richtete, hielt sie zusammen. Man könnte nun argumentieren, dass der ausgeprägte Eklektizismus, wie wir ihn bei Spence antreffen, typisch für jemanden war, der nicht der politischen Elite angehörte und der folglich die Konventionen des politischen Diskurses ignorierte. Dieser Eklektizismus wäre dann gleichsam Ausdruck politischer Halbbildung, oder um es anders zu formulieren: Pig 's Meat wäre das Produkt eines politischen Parvenüs. Das Interessante ist nun aber, dass sich auch Figuren des „liberalen" Establishments ähnlich hybrider argumentativer Strategien bedienten. Dies war etwa der Fall bei Thomas Erskine, der dem schottischen Hochadel entstammte, Mitglied des Parlamentes war und der im ausgehenden 18. Jahrhundert bei Reformern und Radikalen Kultstatus Seine Reputation hatte er sich vor allem als eloquenter Anwalt in einer Reihe von spektakulären politischen Prozessen erworben, in denen es um die Presse- und Meinungsfreiheit ging. Im Dezember 1792 verteidigte er Thomas Paine, der wegen der Veröffentlichung des zweiten Teils der Rights of Man eines „seditious libel" bezichtigt worden war.17 Da Paine sich nach Frankreich abgesetzt hatte, fand der Prozess in Abwesenheit des Beklagten statt. Erskine hielt in diesem Prozeß ein mehrstündiges Plädoyer, das von vornherein auf Wirkung jenseits des eigentlichen Prozeßgeschehens angelegt
genoß.16
15
Smith, Olivia: The Politics of Language, 1791-1819, Oxford 1984. Zu Erskine siehe jüngst Patterson, Annabel M.: Nobody's Perfect: A New VvTiig Interof History, New Haven, Conn. 2002, S. 201-237 (mit weiterführender Literatur). pretation 7 Zu dem Prozess gegen Paine siehe u.a. Keane, John: Tom Paine: A Political Life, London 1995, S. 345ff. 16
244
Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
war.18 Es glich eher einem politischen Pamphlet als einem juristischen Text und gelangte denn auch rasch in die zeitgenössische Presse.19 In diesem Plädoyer hielt sich Erskine nicht mit den Quisquilien des Law of Libel auf, vielmehr wandte er sich der Frage zu, inwieweit es legitim war, die bestehende Verfassungsordnung im öffentlichen Diskurs fundamental zu kritisieren. Denn genau dies hatte Paine getan, was ihm von Seiten der Anklage den Vorwurf einbrachte, er habe auf die Unterminierung und letztlich den Umsturz der Verfassung hingearbeitet. In seiner Rechtfertigung der Paineschen Fundamentalkritik griff Erskine auf die großen Namen politischer Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts zurück. Das Spektrum der Autoren, die er zitierte, war bemerkenswert. Es reichte von Locke über Harrington bis hin zu Montesquieu. Für Erskine hatten nun drei Autoren, die er als „classics in our
language"20
bezeichnete, besonderes Gewicht. Dies waren der schottische Aufklärer David Hume, der Republikaner John Milton und erstaunlicher-
also mit einem Refepolitische Traditionen in sich verrenzsystem, das extrem offen war einte, die gemeinhin als im Widerspruch zueinander stehend angesehen werden. Die drei Autoren, die er zu seinen Kronzeugen machte, hatten nur eines gemeinsam: Sie taugten als Vehikel, um im Legitimität des freien öffentlichen Räsonnements sinnfällig zu machen. Erskine benutzte also das überkommene Repertoire politischer Texte mit bemerkenswerter Flexibilität. Solche Flexibilität findet sich nun nicht nur bei reformorientierten und radikalen Autoren, sie ist auch bei Anhängern des Loyalismus anzutreffen. Auch hier wurde ein breites Spektrum von politischen, religiösen und moralischen Normen und argumentativen Strategien bemüht, um sich im Diskurs der 90er Jahre zu Dies bedeutete u.a. auch, dass loyalistische Autoren Positionen ihrer politischen Gegner adaptierten. Auf den ersten
weise der
Erz-Tory Samuel Johnson. Erskine operierte und das
behaupten.21
18 Erskine, Thomas: Mr. Erskine's Speech for the Defendant, in: ders.: The Speeches of the Hon. Thomas Erskine (now Lord Erskine), when at the Bar on Subjects Connected with the Liberty of the Press, and against Constructive Treasons; Collected by James Ridgway, Bd. 2, London 1810, S. 87-182. 19 1792/93 erschienen in der Presse etwa 20 Berichte über diesen Prozess, die das Plädoyer von Erskine enthielten. 20 Erskine: Mr. Erskine's Speech, S. 142ff. 21 Zum Loyalismus siehe u.a. Robert R. Dozier: For King, Country and Constitution: The English Loyalists and the French Revolution, Lexington, Ky. 1983; Dickinson, Harry Thomas: Popular Conservatism and Militant Loyalism, 1789-1815, in: ders. (Hrsg.): Britain and the French Revolution, 1789-1815, Basingstoke 1989, S. 103-125; ders.: Popular Loyalism in Britain in the 1790s, in: Hellmuth (Hrsg.): Transformation of Political Culture, S. 503-533; Eastwood, David: Patriotism and the English in the 1790s, in: Philp (Hrsg.): French Revolution and British Popular Politics, S. 146-168; Weinzierl, Michael: Freiheit, Eigentum und keine Gleichheit: Die Transformation der englischen politischen Kultur und die Anfange des modernen Konservatismus 1791-1812, Wien 1993; Philp, Mark: Vulgar Conservatism, 1792-1799, in: English Historical Review 110 (1993), S. 4269.
„The Last Real Discussion of Fundamentals"
245
Blick mag dieser Sachverhalt erstaunen; im Lichte der jüngeren Forschung ist er aber keineswegs so befremdlich, wie es zunächst scheint. Denn gegenwärtig zeigt sich zunehmend Skepsis gegenüber der Vorstellung von festgefügten, politisch und ideologisch klar konturierten Lagern im späten 18. Jahrhundert; und es wächst die Bereitschaft, stärker die Inkohärenz politischer Einstellungen und die Transformationsprozesse im geistigen Haushalt einer Gesellschaft in Rechnung zu stellen. So wie unser Verständnis vom Ursprung des Radikalismus der sechziger und siebziger Jahre durch ein neues Bild des Toryismus vor 1760, das dessen oppositionelles Potential neu bewertet, erweitert worden ist,23 scheinen unorthodoxe Überlegungen auch bei der Analyse des Loyalismus des späten 18. Jahrhunderts geboten. Konkret bedeutet dies: Historiker haben Zusammenhänge zwischen Radikalismus und Loyalismus ins Kalkül zu ziehen. Zunehmend wird etwa deutlich, dass es zu einem Austausch des Personals kam: „[We] find radicals becoming loyalists [...] and then radicals again [...], or loyalists becoming radicals".24 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass es zu einer Art von crossdressing auf dem Gebiet des Geistigen kam. Man schlüpfte gleichsam in das sprachliche Gewand der anderen Seite, die jeweiligen politischen Identitäten verloren ihre Eindeutigkeit. Eines der eindrucksvollsten Beispiele für diesen Sachverhalt findet sich in der loyalistischen Propaganda, die 1795/96 den Aufsehen erregenden Prozess gegen John Reeves, der führenden Figur des Loyalismus, begleitete. Reeves wurde wegen eines Pressevergehens der Prozess gemacht.25 Dieser Prozess wies erstaunliche Parallelen zu dem oben erwähnten gegen Thomas Paine auf. Den Anlass bildete seine Schrift Thoughts on the English Government.26 In dieser Schrift hatte Reeves in reichlich bizarrer Weise die Monarchie als Zentrum der englischen Verfassungsordnung definierte; Parlament und Justiz galten ihm lediglich als derivative Gewalten.27 Bei aller Metaphorik, in die Reeves seine Argumentation kleidete, blieb unübersehbar, dass er sich gegen die herkömmliche Vorstellung von der Machtbalance im Rahmen einer gemischten Verfassung aussprach. Damit verließ Reeves zweifellos den ver22
Siehe dazu die Hinweise bei Eckhart Hellmuth: Kommunikation, Radikalismus, Loyalismus und ideologischer Pluralismus: „Popular Politics" in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung 4 (1989), S. 79-103, hier S. 93, S. 103. Siehe hierzu vor allem Colley, Linda: English Radicalism before Wilkes, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th ser., 31 (1981), S. 1-19; dies.: In Defiance of The Tory Party 1714-1760, Cambridge 1982. Oligarchy: 24 Conservatism, S. 68. Philp: Vulgar 25 Siehe dazu Beedell, Ann V.: John Reeves's Prosecution for a Seditious Libel, 17951796: A Study in Political Cynicism, in: Historical Journal (HJ) 36 (1993), S. 799-824; und Eastwood, David: John Reeves and the Contested Idea of the Constitution, in: British Journal of Eighteenth-Century Studies 16 (1993), S. 197-212. 26 Reeves, John: Thoughts on the English Government, London 1795. 27 Siehe dazu ebd., S. 12f.
246
Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
fassungspolitischen Konsensus; und bei der Prominenz des Autors war es nahezu zwangsläufig, dass die Thoughts on the English Government zum
Stein des Anstoßes werden mussten. Reeves, der in den vorangegangenen Jahren auf skrupellose Weise radikale Autoren bezichtigt hatte, sie arbeiteten auf den Umsturz der eingelebten englischen Verfassungsordnung hin, musste sich nun selbst mangelnde Verfassungstreue vorhalten lassen. Die Angelegenheit wurde vor das Parlament gezogen. Ohne nennenswerten Widerstand und mit Billigung aller parlamentarischen Gruppierungen einschließlich der Tories verabschiedete das Parlament am 14. Dezember 1795 eine Petition, mit der die strafrechtliche Verfolgung von Reeves wegen eines „seditious libel" eingeleitet wurde. Reeves wurde in dem folgenden Verfahren freigesprochen; dies ist in diesem Zusammenhang weniger interessant. Wichtiger ist die loyalistische Propaganda, die dem Prozess voranging. Um Reeves' Verfassungskritik zu rechtfertigen, bedienten sich loyalistische Autoren eines bemerkenswerten argumentativen Repertoires. Denn loyalistische Autoren wie George Chalmers28 und Joseph Cawthorne29 suchten nicht nur den Nachweis zu führen, dass Reeves' Vorstellungen verfassungskonform waren, sie hoben nicht nur seine Verdienste im Kampf gegen den Radikalismus hervor, vielmehr gingen sie über solch eher pragmatische Argumentation hinaus und öffneten sich grundsätzlichen Überlegungen zum Problem der Presse- und Meinungsfreiheit. Und dabei kam es zu einer Art von Konvergenz zwischen radikaler und loyalistischer Ideologie: „The world turned upside down." So feierte ein Autor wie George Chalmers30 die Pressefreiheit auf eine Weise, die jedem reformerisch oder radikal gesonnenen Autor zur Ehre gereicht hätte. Die Abschaffung der Vorzensur zu Ende des 17. Jahrhunderts deutete er als Anbruch einer neuen Ära. Und mit fundamentalrechtlichem Pathos erklärte er „every man, every woman, and every child, has an indubitable right to think, write, and print Aus dieser fundamentalrechtlichen Position flössen kritische Impulse, die für einen loyalistischen Autor in der Tat erstaunlich waren: Blackstone, favorisierter Verfassungsinterpret des politischen Establishments, verfiel dem Verdikt; ihm wurde vollkommen zutreffend vorgehalten, dass seine „klassische" Definition von Pressefreiheit32 dieses Recht lediglich in strafrechtlichen Kategorien beschrieben, nicht
freely."31
28
Zu Chalmers siehe jetzt: Du Toit, Alexander: Chalmers, George, in: Oxford Dictionary of National Biography (Seite datiert: 2004; letzter Abruf: 23.03.2005). URL: 29 Zu Cawthorne siehe die knappen Angaben bei Barreit: Imagining the King's Death, S. 245. 30 Chalmers, George: A Vindication of the Privilege of the People, in Respect to the Constitutional Right of Free Discussion, London 17%. 31 Ebd., S. 22. 32 Siehe dazu ebd., S. 278f.
„The Last Real Discussion of Fundamentals"
247
präpositive Qualität gewürdigt habe. Selbst die ,3hT bzw. .JJeclaration of Rights" blieb von Kritik nicht verschont. So beklagte Chalmers, dass in diesem für die englische Verfassungsentwicklung zentralen Dokument die Pressefreiheit nicht verankert worden sei,34 eine Auffassung, aber dessen
die er übrigens mit dem nonkonformistischen Geistlichen Joseph Towers, einem der führenden Pamphletisten des „aufgeklärten Lagers" teilte.35 Allerdings gab es Berührungspunkte zwischen Radikalismus und Loyalismus, die noch weit bemerkenswerter waren. Loyalistische Autoren verwiesen auf prominente Libel-Verfahren, die als Marksteine bei der Verankerung des Prinzips der Pressefreiheit galten und die zum ideologischen Erbe reformerischer und radikaler Zirkel gehörten. Man nutzte sie als Präzedenzfalle, um das gegen Reeves eingeleitete Verfahren obsolet zu machen. Dazu zählte u.a. der 1789 gegen den Londoner Buchhändler John Stockdale geführte Prozess, in dem Thomas Erskine die Verteidigung übernommen hatte. George Chalmers beschrieb ihn eingehend in seinen Vindications. Dabei zitierte er u.a. aus Erskines Verteidigungsrede für Stockdale, widmete sie aber so um, dass sie nun als Plädoyer zugunsten von Reeves erschien.36 Damit schlüpfte Thomas Erskine, eine der Kultfiguren des „liberalen" Lagers, gleichsam in die Rolle des Anwalts des Erzreaktionärs John Reeves.37 In ihrem Bemühen, Reeves von dem Odium der „Verfassungsfeindlichkeit" nun zu befreien, griffen loyalistische Autoren auf eine Gedankenkreise zurück, die zum Kernbestand des argumentativen Repertoires von Radikalen und Aufklärern gehörte und die im Umfeld des oben erwähnten Prozesses gegen Paine von seinen Anhängern vehement vertreten worden war.38 Es war dies die Idee vom historischen Charakter und der Wandelbarkeit der englischen Verfassung. Jetzt wanderte sie, wie das Beispiel von Joseph Cawthorne belegt, in den Geisteshaushalt der Loyalisten hinüber. Axiomatische Geltung 33
Vgl. ebd., S. 21. ebd., S. 21. Vgl. 35 Vgl. Towers, Joseph: 34
An Oration Delivered at the London Tavern, on the Fourth of November, 1788, on Occasion of the Commemoration of the Revolution, London 1788, S. 19-21 u. S. 24-25. 36 Siehe Chalmers: Vindication, S. 47-48. Zum Originalfall s. den Prozessbericht in: Erskine, Thomas: The Speeches of the Hon. Thomas Erskine, Bd. 2, London 1810, S. 205-
288. 37
Natürlich
berief, hoffte
dies ein
war
er
doppelbödiges
Verfahren. Indem sich Chalmers auf Erskine
auch, dass radikal bzw. reformerisch gesonnene Milieu bloßstellen
zu
zeigen, daß Radikale und Reformer für sich weitgehende Presse- und Meinungsfreiheit einklagten, ihren politischen Gegnern aber dasselbe Recht im Zweifelsfall verweigerten. 38 Siehe dazu Hellmuth, Eckhart: Criticising the Constitution: Or, How to Talk about the Liberty of the Press in the 1790s, in: Baker, UweJHibbard, Julie A. (Hrsg.): Sites of Discourse, Public and Private Spheres. Legal culture: Papers from a Conference Held at the Technical University of Dresden, December 2001, Amsterdam 2002, S. 199-210, hier: können. Er wollte
200ff.
248
Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
hatte dabei für Cawthorne die Einsicht, dass Verfassungen prinzipiell keine statischen Größen waren, dass sie vielmehr im Laufe der Zeit Wandlungspro-
durchliefen. Sie galten ihm als Schöpfungen fehlbaren menschlichen Geistes. Und es stand für ihn außer Zweifel, dass selbst die englische Konstitution, auch wenn sie anderen Verfassungen überlegen war, ihre Defekte hatte.39 „It is therefore", folgerte er, „the most preposterous in the English to account it Treason to dispute the eternity and immutability of their Constitution."40 Verfassungen waren nach seiner Auffassung von ihrer ganzen Natur her nicht auf Dauer angelegt, vielmehr bedurften sie der sukzessiven Vervollkommnung.41 Und weiter: „As Nations grow enlightened by experience and reflection they will adapt their Constitutions and their Laws to the wisdom of the age in which they live."42 Klarheit über die jeweils der historischen Situation angemessene Verfassung war letztlich nur im allgemeinen öffentlichen Diskurs zu gewinnen: ,,[T]he proof of utility and expediency is left to the conviction and the judgement of the public."43 Cawthorne plädierte für solch einen allgemeinen öffentlichen Diskurs im vollen Bewusstsein der Pluralität der Auffassungen: „Upon this subject (reforming the constitution), so important to a free Nation, the sentiments of a Free and enlightened people will be as different as their complexions."44 Diese Überlegungen mündeten in ein emphatisches Bekenntnis zum freien Räsonnement über Politik und Verfassung: englishmen have an inherent and constitutional right (that is, a natural right secured to them by the nature of their government) to speak of the principles and effects of a Government entirely monarchical, or an absolute monarchy of the nature and tendency of Aristocracy; and of the principles and effects of Democracy; either separately, or as they are connected with a monarchical system, commonly called a mixed government, or a limited monarchy. In treating of these subjects, which so intimately concern all civilized human nature, the contemplation would be useless to civilization were they not to give an opinion, and leave mankind to consider which system is best adopted to the genius and policy of their representatives states; namely a government entirely monarchical; a limited monarchy; or a republican govzesse
ernment."45
Positionen, wie sie von Chalmers und Cawthorne eingenommen wurden, weisen also deutliche Affinitäten zu Gedankenkreisen auf, wie sie von radi39
Siehe Cawthorne, Joseph: A Letter to the King, in Justification of a Pamphlet, entitled, „Thoughts on the English Government": With an Appendix in Answer to Mr. Fox's Declaration of the Whig-Club, London 1796, S. 17. 40
Ebd., S. 18*-19*. Vgl. dazu ebd., S. 45^*6 und S. 14-15. Ebd., S. 46. 43 Ebd., S. 13. 44 Ebd., S. 84. 45 Ebd., S. 13-14. 41
42
„The Last Real Discussion of Fundamentals" kaier Seite
249
worden waren. Offensichtlich reichte das Redes flexionspotential Loyalismus über die demagogischen Stellungnahmen der Jahre 1792/93 hinaus. Damit werden Zweifel daran geweckt, inwieweit es in dem hier diskutierten Zusammenhang sinnvoll ist, mit dichotomen Schemata wie „links" und „rechts", „progressiv" und „traditional" zu operieren. Ganz in diesem Sinne hat Mark Philp denn auch formuliert: „The greater complexity we recognize in the ideological terrain of the period, and the more sophisticated our account of the motives behind people's expression of commitment, the more porous and problematic become the ideological categories of radical and conservative."46 Und an anderer Stelle heißt es treffend: „In a great deal of material of the 1790s, we are dealing less with a clear-cut ideological division with well worked-out opposing principles and more with experimentation [...]. Such rhetorical experimentation often leads people to innovate in their commitments and break new ideological ground. Instead of reading these texts, utterances and symbolic statements for the deeper, principled meaning behind them, we should recognize that it is often in their superficial diversity, idiosyncrasy and imprudence that their force lies."47 Die Frage ist nun natürlich, ob das, was hier in knapper Form über den Diskurs in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts gesagt worden ist, verallgemeinert werden kann. Um es anders zu formulieren: War der diffuse Charakter des Diskurses im Zeitalter der Französischen Revolution das Produkt einer politischen Ausnahmesituation? Oder gab es ähnliche Phänome auch jenseits dieses Zeitrahmens? Vieles spricht dafür, dass letzteres der Fall war. So ist etwa in Hinsicht auf die Diskurse der 1760er und 1770er Jahre formuliert worden: „.Commonwealth' or .Country' may be found side by side with religious thought-patterns, rights-based rhetoric (with various recourse to statute law, common law, ancient privileges, or natural law), and, of course, appeals to the experience and evidence of the past. Furthermore, these already diverse modes of arguing frequently merged into each other. Given the plurality of political language, it is not surprising that different arguments were used to support the same objectives, and conversely, that one and the same intellectual tradition was sometimes used for differing political purposes. Contemporary political discourse was not always sophisticated and logically consistent."48 Und für das 19. Jahrhundert liegt ein ähnlicher Befund vor. Auch hier tragen die Diskursbeiträge von Einzelnen oder Gruppen häufig hybride Züge und vermischen sich konträre Ideen wie Öl und Wasser. So verzahnen Utilitaristen Gedankenkreise der moderat gestimmten schotti46 47
48
durchgebildet
Philp: Vulgar Conservatism, S. 68. Philp: Fragmented Ideology of Reform, S. 72.
Hellmuth, Eckhart: „The Palladium of all other English Liberties": Reflections on the in England during the 1760s and 1770s, in: Hellmuth (Hrsg.): Transformation of Political Culture, S. 467-501, hier S. 471.
Liberty of the Press
250
Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
sehen Aufklärung mit Argumentationsmustern der radikalen Variante der französischen Aufklärung (Helvétius).49 Ein Anti-Utilitarist wie Samuel Taylor Coleridge wiederum bringt in seinem Werk Elemente einer whiggistischen Moralphilosophie mit Axiomen einer konservativ grundierten Politiktheorie in einen Denkzusammenhang.50 Tories schaffen den Spagat zwischen einer evangelikalen Theologie und den „liberalen" Theorien von Adam Smith und Thomas Robert Malthus.51 Die Liste solcher Beispiele ließe sich beliebig vermehren. Sie lassen Ideenhistoriker, die sich an den großen Ismen (Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus) orientieren, wie Wünschelrutengänger erscheinen, die durch die Sprachlandschaften der Vergangenheit ziehen und hoffen, dass ihre Ruten ausschlagen.
II. Die Einsicht, dass der politische Diskurs im späteren 18. Jahrhundert und dann im 19. Jahrhundert über weite Strecken höchst diffus war, hat nun ohne Frage Implikationen für das methodische Instrumentarium, dessen sich Ideenhistoriker bedienen. Deutlich wird dies etwa bei John Morrow und Mark Francis, die sich beide intensiv mit der politischen Theorie des 19. Jahrhunderts beschäftigten. Morrow und Francis bezweifeln, ob es bei dem diffusen Charakter der von ihnen untersuchten Textlandschaften überhaupt Sinn macht, mit diskursanalytischen Verfahren zu operieren. In diesem Sinne formulieren sie: ,,[W]e cannot find convincing evidence in the nineteenth century to support the application of discourse analysis to the political thought of the period. Nineteenth-century political thinkers [...] were not constructing a discourse, or even a variety of discourses. [...] [T]hey rarely speak to one another, and when they do so, they are not speaking from the same script, nor even from one of a few possible scripts."52 Die Skepsis ge49
Rosen, Frederick: Classical Utilitarianism from Hume to Mill, London 2003, insbes. S. 82-130. Zu Bentham knapp auch: Stuart C. Brown: Bentham, Jeremy, in: Dictionary of Eighteenth-Century British Philosophers, hrsg. v. John W. Yolton u.a. (Bristol 1999), S. 77-81. 50 Pocock: Varieties of Whiggism, S. 291-292; Francis, MaxXdMorrow, John: A History of English Political Thought in the Nineteenth Century, London 1994, S. 4 und S. 123-138, hierbes. S. 126, S. 129-130, S. 133. 51 Hilton, Boyd: The Age of Atonement: The Influence of Evangelicalism on Social and Economic Thought, 1795-1865, Oxford 1988, S. 218-236. Zur schnellen Orientierung auch: Jones, H. Stuart: Victorian Political Thought, Basingstoke 2000, S. 17-20. 52 Francis/Morrow: English Political Thought in the Nineteenth Century, S. 3-4. In eine ähnliche Richtung zielen die zurückhaltenderen Äußerungen von Stefan Co//i'ni/Donald Winchüohn W. Burrow: That Noble Science of Politics: A Study in Nineteenth-Century Intellectual History, 2. Aufl., Cambridge 1987, S. 14-21; und Collini: General Introduction, in: Collini, Stefan/Whatmore, Richard/Kotmg, Brian (Hrsg.): Economy, Polity, and Society: British Intellectual History, 1750-1950, Cambridge 2000, S. 1-21, hier S. 14-15.
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251
genüber diskursanalytischen Verfahren, wie sie sich hier bei Morrow und Francis geltend macht, hat nicht etwa, wie man vermuten könnte, das Foucaultsche Projekt zum Hintergrund; vielmehr zielt ihre Kritik auf John Pocock und seine Schule.53 Dies ist nicht ohne Ironie, denn Morrow und Francis selbst entstammen eben diesem akademischen Milieu. Zu den Grundaxiomen Pococks wie er sie zuerst Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts formuliert hat zählt die Annahme, dass in fortgeschrittenen Gesellschaften eine Reihe von „Sprachen" zirkulieren, mit denen die politischen Akteure miteinander kommunizieren. In den Worten Pococks: ,Any stable and articulate society possesses concepts with which to discuss its political affairs, and associates these to form groups or languages."54 Die Teilnehmer am politischen Diskurs, so Pocock, sind prinzipiell in das Gehäuse dieser „Sprachen" gebannt, d.h. sie müssen sich eines bestimmten Vokabulars nach bestimmten Regeln bedienen, um Akzeptanz zu finden; gleichzeitig verfügen sie aber über die Fähigkeit, diese „Sprachen" kreativ fortzuentwickeln: .for anything to be said or written or printed, there must be a language to say it in; the language determines what can be said in it, but is capable of being modified by what is said in it".55 Pocock hat nun gemeint, dass unter dieser Perspektive auch die hochkomplexen Diskurse, wie sie sich nach 1750 entfalten, analysiert werden können.56 Dabei hat er es nicht bei -
-
Mark Bevir betont ebenfalls: „We cannot look upon the theorists of the nineteenth century as constructing one or more languages through their engagement with one another. They resemble a procession of demagogues, each with their own message, and each taking their turn on a platform from which they address a general audience." Mark Bevir: English Political Thought in the Nineteenth Century, in: HPTh 17 (1996), S. 114-127, hier S. 115. 53 Die Methodik der Cambridge School wird inzwischen auch in einer Reihe deutschsprachiger Aufsätze dargestellt: Dazu zählen Lottes, Günther: „The State of the Art": Stand und Perspektiven der „Intellectual History", in: Kroll, Frank-Lothar (Hrsg.): Neue Wege der Ideengeschichte: FS für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 27-45; Eckhart Hellmuth/vo/i Ehrenstein, Christoph: Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 27 (2001), S. 149-72; Hampsher-Monk, Iain: Neuere angloamerikanische Ideengeschichte, in: Eibach, Joachim/Lottes, Günther (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft: Ein Handbuch, 2002, S. 293-306. Göttingen 54 Pocock: The History of Political Thought: A Methodological Enquiry, in: Laslett, Peter/ Runciman, Walter Garrison (Hrsg.): Philosophy, Politics and Society, 2nd ser. (1962), 5. Aufl., Oxford 1972, S. 183-202, Zitat S. 195. 55 Pocock: The Concept of a Language and the métier d'historien: Some Considerations on Practice, in: Pagden, Anthony (Hrsg.): The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge 1987, S. 19-38, hier S. 20. 56 So äußerte Pocock etwa in einem Interview 1983: „I don't think the nineteenth century would give any trouble at all because in most western societies there were still clerisies and groups of literati with a definite function after all, there still are, but their relation with the rest of society has changed." Pocock: „Interview" mit Stan Anson, Mark Duckworth und David Goodman, in: Melbourne Historical Journal 15 (1983), S. 5-16, hier S. 14. Ahnlich zuversichtlich äußern sich: Schochet, Gordon J.: Why Should History Matter? Political Theory and the History of Discourse, in: Pocock (Hrsg.): The Varieties of British Political Thought, 1500-1800 (Cambridge 1993), S. 321-357, hier S. 331; Kelly, Duncan -
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programmatischen Erklärungen belassen, vielmehr hat er mit seiner Darstellung der „Varieties of Whiggism" sein Projekt der Identifizierung und Rekonstruktion von Sprachen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vorangetrieben.57 Auf diese Weise reklamiert Pocock für sein methodisches Verfahren
Geltung.58
nahezu universelle Diese Haltung ist bei Historikern, die sich intensiv mit dem Geisteshaushalt des späteren 18. und 19. Jahrhunderts 1750 beschäftigen, auf beträchtliche Reserve gestoßen. Man meint, dass ein methodisches Verfahren, das ursprünglich anhand der relativ klar strukturierten Sprachlandschaften der Frühmoderne entwickelt worden ist, nicht auf die schillernden, sich der Logik kohärenter Sprachtraditionen entziehenden Diskurse der Folgezeit applizierbar ist. Pocock hat sich nun in jüngerer Zeit von seinem ursprünglich Projekt der Identifizierung und Rekonstruktion von „Sprachen" entfernt und ein gewaltiges Werk in Angriff genommen, das er explizit als „counterpiece" zu seinen bisherigen Arbeiten bezeichnet und dessen Gegenstand interessanterweise im ausgehenden 18. Jahrhunderts angesiedelt ist.59 Die Rede ist hier von seinem bislang noch nicht abgeschlossenen opus magnum Barbarism and Religion, von dem gegenwärtig drei Bände vorliegen. Im Mittelpunkt dieses Unternehmens steht Edward Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire, das zwischen 1776 und 1788 erschien. Dieser historische Text stieß am Vorabend der Französischen Revolution auf bemerkenswerte Resonanz, nicht zuletzt, weil für Zeitgenossen ein historischer Text immer auch ein politischer Text war. Und wie andere politische Texte dieser Zeit nahm Gibbons History of the Decline and Fall of the Britih Empire höchst unterschiedliche, teilweise widersprüchliche geistige Traditionen in sich auf. So steht bei Gibbon das klassisch-republikanische Vokabular von Tugend und Korruption neben der dieses Vokabular konterkarierenden Sprache der politeness und des J.: Divided by a Common Language?, in: History of European Ideas 30 (2004), S. 241252, hier S. 251-252. 57 Pocock: The Varieties of Whiggism from Exclusion to Reform: A History of Ideology and Discourse, in: ders.: Virtue, Commerce, and History: Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge 1985, S. 215-310. 58 Dabei hat Pocock freilich immer wieder betont, dass der Diskurs durch eine Pluralität von Sprachen geprägt ist und eine politische Sprache nicht mit einem wissenschaftlichen Paradigma gleichzusetzen sei. Den Begriff des Paradigma führte Pocock ein in: Languages and their Implications: The Transformation of the Study of Political Thought, in: ders.: Politics, Language and Time: Essays on Political Thought and History, New York 1971, S. 3-41, hier S. 13-18. Seine Abwendung von dem Begriff begründet er in: Pocock: The Reconstruction of Discourse: Towards the Historiography of Political Thought, in: MLN 96 (1981), S. 959-980, hier S. 969-970; und Pocock: The Concept of a Language and the métier d'historien: Some Considerations on Practice, in: Pagden, Anthony (Hrsg.): The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge 1987, S. 19-38, hier S. 21. Vgl. Philp: English Republicanism, S. 236. 59 Pocock: Barbarism and Religion, bislang 3 Bde., Cambridge 1999-2003, Bd. 1: The Enlightenments of Edward Gibbon, 1737-1764 (1999), S. 2.
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Und das Spektrum der Autoren, auf die sich Gibbon einlässt, kann vielgestaltiger nicht sein. Es reicht von den großen Namen der französischen Aufklärung (Montesquieu, Voltaire) über die führenden italienischen Historiker des 18. Jahrhunderts (Pietro Giannone) bis hin zu Schlüsselfiguren der schottischen Aufklärung (David Hume, William Robertson).60 Interessant ist nun, dass sich Pocock bei der Analyse von Gibbons Decline and Fall, nicht mehr daran macht, verschiedene „Sprachen" in diesem gewaltigen, in sich so heterogenen Textkorpus zu identifizieren. Dies bedeutet auch, dass die Rekonstruktion des linguistischen Kontextes nicht mehr jene prominente Rolle spielt, wie dies bei älteren Arbeiten der Cambridge School der Fall war. Stattdessen entwirft Pocock mit bemerkenswerter Freiheit einen im weitesten Sinn geistesgeschichtlichen Kontext, der es ihm erlauben soll, zu bestimmen, wo Gibbon die eingelebten historiographischen Konventionen verläßt und warum er dies tut. In diesem Kontext tauchen etwa theologische Dogmen auf, Konzepte von Gelehrsamkeit oder die Modi der Narration, denen die Historiographen des 18. Jahrhunderts folgen. Hinzu kommen Ideen, die nur im unmittelbaren Umfeld von Gibbon zirkulierten. Selbst Texte, die weder Gibbon noch das Publikum des 18. Jahrhunderts je zu sehen bekamen, finden ihre Berücksichtigung. Idealiter würde solch ein Kontext, wie Pocock ihn anvisiert, alle geistesgeschichtlichen Sachverhalte umfassen, die zur Entschlüsselung des Gibbonschen Werkes beitragen könnten. Pocock ist sich jedoch darüber im Klaren, dass dies unmöglich ist und dass jeder KontextRekonstruktion ein hohes Maß an Subjektivität eigentümlich ist. Nicht zuletzt aus diesem Grunde spricht er weniger von ,Context" als von „frameworks of interpretation we (= historians) are setting up".61 Pocock ist also ganz offensichtlich einen weiten Weg gegangen, der ihn von einem relativ rigiden Verfahren zur Rekonstruktion von „Sprachen" zu einer offenen, wenigen methodischen Zwängen unterliegenden „intellectual history" geführt hat. Möglicherweise hat ihn dabei auch die Begegnung mit der Komplexität des Geisteshaushaltes des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie sie bei Gibbon manifest wird, animiert, diesen Weg zu gehen. Man kann nun darüber spekulieren, ob Pococks größere methodische Offenheit, wie sie in Barbarism and Religion deutlich wird, auch Reaktion auf die Kritik ist, die an den von ihm in früheren Werken praktizierten Verfahren geübt worden ist. Denn etliche Ideenhistoriker haben sich daran gerieben, dass Pocock bei seiner Analyse der language games des 17. und 18. Jahrhunderts in einseitiger Weise den linguistischen Kontext präferierte.62 So hat etwa Mark Bevir als einer der schärfsten Kritiker Pococks formuliert: commerce.
60
Gibbon, Edward: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (17761788), hrsg. v. David Womersley, 3 Bde., London 1994. 1 Pocock: Barbarism and Religion, Bd. 1, S. 261. 6 Zu dieser Kontroverse Hellmuth/Ehrenstein: Intellectual
History, S. 161-172.
254
Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
„Linguistic contexts have no greater claim on the historian than do other possible sources of evidence, such as other texts by the author, or the biography of the author, or the social and political context of the text in question."63
Solch ein Satz erweckt den Eindruck, dass es sich bei Bevir um den Anhänger des Kontextualismus in seiner gleichsam flexiblen Variante handelt. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Zwar bestreitet Bevir nicht, dass sich Autoren von ihrem geistigen, politischen und sozialen Umfeld inspirieren lassen bzw. aber sie sind nicht Gefangene dieses Kontextes, auch nicht darauf des sprachlichen. Anders als etwa Pocock vertritt Bevir die Auffassung, dass jeder Autor in schöpferischer Weise Neues kreieren kann,65 folglich entzieht sich seine Produktion einer Analyse, die mit fixen Verfahren operiert: ,,[P]eople possess a linguistic faculty enabling them to generate novel sentences conveying novel meanings in a way we cannot reduce to fixed procedures."66 Hieraus zieht Bevir dann den Schluss, dass sich der Historiker mit großer methodischer Freiheit seinem Gegenstand nähern kann. „[HJistorians always come to understand a work by a creative process in which success can be a result of insight, intuition, or good luck."67 Das Erstaunliche ist nun, dass die methodische Alternative, die Bevir bietet, im Kern eine 'textimmanente' Hermeneutik alten Stils ist.68 Nach seiner Auffassung haben Ideenhistoriker die Aufgabe, die Intentionen eines Autors aus den „ideas" und „beliefs" (geistigen Dispositionen), die ein Autor zum Ausdruck bringt, zu erschließen: ,JTistorians of ideas study meanings, [...] understood as individual viewpoints, not semantic or linguistic meanings. The[se] meanings [...] are products of the creative activity of individuals, not linguistic contexts or social
reagieren,64
63
Bevir: The Errors of Linguistic Contextualism, in: History and Theory (H&T) 31 (1992), S. 276-298, hier S. 294. Seine Kritik an der kontextualistischen Methodik der Cambridge School formulierte Bevir später insbesondere in: The Logic of the History of Ideas, Cambridge 1999. Siehe ferner ders.: Mind and Method in the History of Ideas, in: H&T 36 (1997), S. 167-189; sowie ders.: The Role of Contexts in Understanding and Explanation, in: Bödeker, Hans-Erich (Hrsg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002, S. 159-208. 64 Bevir: Errors of Linguistic Contextualism, S. 294. Vgl. Bevir: Logic of the History of Ideas, S. 33. 65 Bevir: Logic of the History of Ideas, S. 33. Es ist mit gutem Grund angemerkt worden, dass Bevirs methodische Vorstellungen über weite Strecken denen Quentins Skinners und seiner Schüler gleichen, die ebenfalls an der Suche nach auktorialen Intentionen und der Kreativität des individuellen Autors festhalten: Melissa Lane: Why History of Ideas at all?, in: History of European Ideas 28 (2002), S. 33—41, hier S. 33, S. 37. Zu Skinners Intentionalität: Skinner: Motives, Intentions, and the Interpretation of Texts, in: New Literary History 3 (1972), S. 393-408; und die revidierte Fassung dieses Aufsatzes: Skinner. Motives, Intentions, and Interpretation, in: ders.: Visions of Politics, Bd. 1: Regarding Method, Cambridge 2002, S. 90-102, bes. S. 99. 66 Bevir. Logic of the History of Ideas, S. 87. 67 Ebd., S. 87. 68 So auch: Palonen, Kari: Logic or Rhetoric in the History of Political Thought?: Comments on Mark Bevir, in: Rethinking History 4 (2000), S. 301-310, hier S. 304.
255
„The Last Real Discussion of Fundamentals"
conventions." Um den Sinn eines Textes angemessen zu erschließen, muss nach Bevir ein Historiker zudem davon ausgehen, dass Autoren grundsätzlich „sincere, conscious, and rational beliefs" vertreten und kohärent argumentieren.70 Die für den linguistic turn grundlegende Vorstellung, dass jede Welterkenntnis sprachlich vermittelt ist (und damit auch den Regeln der Sprache unterliegt), lehnt Bevir, wie viele Ideenhistoriker mit Befremden festgestellt haben, ab.71 Bevirs Ziel, auktoriale Intentionen zu erschließen, wirken im Zeitalter des Poststrukturalismus fast naiv.72 Und ebenso irritierend ist seine Prämisse, Autoren würden in der Regel rational argumentieren. Diese Prämisse mag vielleicht bei der Analyse von Texten greifen, die in „wissenschaftlichen" oder „hochkulturellen" Milieus verortet sind; wo der Ideenhistoriker aber mit der Sprachpraxis unterbürgerlichen Schichten oder der religiösen Welt konfrontiert wird, ist dies sicherlich nicht der Fall.73 Unabhängig aber von der Problematik dieser allgemeinen Annahmen lassen sich Bevirs Überlegungen kaum in ein forschungspraktisches Konzept umsetzen, zumindest nicht bei hochkomplexen und gleichzeitig diffusen Textlandschaften wie denen des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Denn es ist schlichtweg unmöglich, bei den zahlreichen Pamphleten, Traktaten, Journalen, die heute für viele Ideenhistoriker das empirische Fundament ihrer Arbeit bilden, die Intention des jeweiligen Autors herauszuarbeiten. Pocock und Bevir vertreten ohne Frage zwei höchst unterschiedliche methodische Konzepte. Aber eines haben sie gemeinsam: Sie gehen auf je unterschiedliche Weise davon aus, dass sich der Diskurs auf der Basis verhältnismäßig kohärenter, auf Dauer gestellter ,.Einheiten" konstituiert. Bei Pocock sind dies jedenfalls in seinen Arbeiten vor Barbarism and Religion die „languages", bei Bevir die „ideas" und „beliefs". In den hochkomplexen und gleichzeitig diffusen Textlandschaften des späten 18. und 19. Jahrhunderts -
69
Logic of the History of Ideas, S. 142. Ebd., u.a. S. 221, 264, 265. Bevir begründet die Priorität ous", und „the rational" in extenso ebd., S. 142-173. 70
-
Bevir:
von
„sincerity", „the
consci-
71
Kritische Reaktionen auf Bevirs Logic sind gebündelt erschienen in: Rethinking History (2000), S. 295-372, sowie der History of European Ideas 28 (2002), S. 1-117. Zu den zentralen Beiträgen zählen: Palonen, Kari: Logic or Rhetoric in the History of Political Thought?: Comments on Mark Bevir, in: Rethinking History 4 (2000), S. 301-310; Stuurman, Siep: On Intellectual Innovation and the Methodology of the History of Ideas, ebd., S. 311-319; Stern, Robert: History, Meaning, and Interpretation: A Critical Response to Bevir, in: History of European Ideas 28 (2002), S. 1-12; Burns, Robert M.: Language, Tradition, and the Self in the Generation of Meaning, ebd., S. 51-75. 72 Diesen Kritikpunkt erörtern umfassend auch Alun Munslow: Objectivity and the Writing of History, in: History of European Ideas 28 (2002), S. 43-50; und Vivienne Brown: On some Problems with Weak Intentionalism for Intellectual History, in: H&T 41 (2002), 4
S. 198-208. Siehe auch die Antwort auf Brown: Bevir: How to be an Intentionalist, ebd., S. 209-217. 73 Zu diesem Kritikpunkt Stuurman: Intellectual Innovation and Methodology, bes. S. 311—
312.
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Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
sind diese „Einheiten" aber offensichtlich nur noch schwer auszumachen. Es stellt sich daher die Frage, ob nicht mit einem anderen methodischen Zugriff diesem Problem begegnet werden kann, einem methodischen Zugriff, der dem hybriden Charakter der Texte dieser Zeit und der permanenten Neukonfiguration der Diskurse in verstärktem Maße Rechnung trägt. Hier haben möglicherweise zwei Autoren ein Angebot zu machen, die bislang bei Ideenhistorikern kaum Aufmerksamkeit gefunden haben. Es handelt dabei um Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die u.a. auf Überlegungen von Gramsci, Foucault und Lacan zurückgreifen.74 Laclau und Mouffe gehen von der konventionellen Vorstellung aus, dass Identitäten (auch politische) im Diskurs entstehen. Grundsätzlich steht für die Bildung von Identitäten das gesamte -
Spektrum sprachlicher Möglichkeiten zur Verfügung.75 Gleichzeitig unterliegt die Bildung von Identitäten aber den Regeln jeder sprachlichen Äußerung. So wie Signifikanten ihre Bedeutung nur durch Abgrenzung von ande-
Signifikanten erhalten, konstitutieren sich Identitäten durch Exklusion. Die zur Identitätsstiftung ausgewählten Signifikanten hingegen durchlaufen einen Prozess der Verdichtung.76 Die so hergestellte Identität ist jedoch bloß temporär und im hohen Maße instabil. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Verdichtung zu einer gewissen Nivellierung der Signifikanten führt. In Hinsicht auf den politischen Diskurs heißt dies: Die einzelnen politischen Posiren
74
Das diskurstheoretische Schlüsselwerk von Laclau/Mouffe ist: Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus (1985), Wien 1991. Ausführlich erörtert wird ihre Theorie von Jacob Torfing: New Theories of Discourse: Laclau, Mouffe and Zizek, Oxford 1999. Zur Einführung siehe: Stäheli, Urs: Die politische Theorie der Hegemonie: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, in: Brodocz, AndrélSchaal, Gary S. (Hrsg.): Politische Theorien der Gegenwart, Bd. 2, Opladen 2001, S. 194-223; sehr knapp hingegen: Martin, James: The Political Logic of Discourse: A NeoGramscian View, in: History of European Ideas 28 (2002), S. 21-31; Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/M. 2003, S. 46-50. 75 Im Unterschied zu Pocock gehen Laclau und Mouffe also nicht von der Vorstellung aus, dass Autoren „Gefangene" einer oder mehrerer präetablierter Sprachtraditionen sind. Autoren betrachten sie zudem nicht als wählende und modifizierende Mitgestalter einer Sprache (wie Pocock), sondern in Anlehnung an Lacan als Unentschiedene, die die Identifikation mit einem Diskurs suchen, aber nie vollständig realisieren können. Siehe Laclau/ Zac, Lilian: Minding the Gap: The Subject of Politics, in: ders. (Hrsg.): The Making of Political Identities, London 1994, S. 11-41, hier S. 31-37. Teilweise lehnen sie sich ferner an Foucault an und fassen die Autoren gewissermaßen als „Sprachrohre" eines Diskurses auf, die die vom Diskurs zur Verfügung gestellten „Subjektpositionen" ausfüllen: Laclau/Mouffe: Hegemonie, S. 159-160, S. 167-176. Laclau und Mouffe unterscheiden sich von anderen Diskurstheoretikern nicht zuletzt darin, dass sie auch soziale Handlungen als Teil der „Identitäten" bzw. Diskurse begreifen: Hegemonie, S. 158-159. 76 Das heißt: Signifikanten innerhalb einer Identität werden in „Äquivalenzenketten" zusammengefasst und privilegierten Signifikanten zugeordnet: Auf die Politik übertragen kann man sich dies beispielsweise so vorstellen: Der „Krone" werden z.B. bedeutungsverschiedene Attribute wie „national" und „bürgerlich" etc. zugeordnet. Die Bedeutungsdifferenzen zwischen den Attributen verschleifen dadurch allerdings: Laclau/Mouffe: Hegemonie, S. 183-186.
„The Last Real Discussion of Fundamentals"
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tionen, die ein Identitätsprojekt ausmachen, verlieren an Schärfe. Ein weiterer Grund ist, dass die Abgrenzung vom .Außen' nie vollständig gelingt.78 Dies aber stößt immer wieder den Prozess der Differenzbildung zum .Außen'
und der Äquivalenzbildung im .Innern' an.79 In letzter Konsequenz handelt es sich um eine Art Kettenreaktion, bei der es zu einer ununterbrochenen Abfolge von Ent- und Neukonturierungen der Identitäten kommt. Vor dem Hintergrund solcher Einsichten, wie sie bei Laclau und Mouffe zu finden sind, stellt sich die Frage, ob einige Diskurse und Texte nicht auf eine neue Art „gelesen" werden können. Dies gilt etwa für einen „Klassiker" des späten 18. Jahrhundert, nämlich Burkes Reflections on the Revolution in France (1790). Dieser Text hat aufgrund seines hybriden Charakters Ideenhistorikern beträchtliches Kopfzerbrechen bereitet. Denn hier stehen ähnlich wie bei vielen anderen Texten dieser Zeit verschiedene Traditionen nebeneinander (u.a. common law, die Theorie der ancient constitution und die PhiEinige Ideenhistoriker haben diesen losophie der schottischen Sachverhalt damit zu erklären versucht, dass Burke ein möglichst großes Publikum ansprechen wollte.81 Dies ist eine problematische Erklärung, weil dieser Text zunächst fast ausschließlich auf Unverständnis stieß. Pocock hat
Aufklärung).80
77
LaclaulMouffe:
Hegemonie,
S. 185, formulieren dies
so:
,,[I]n einem Verhältnis totaler
[ist] [...] die différentielle Positivität all ihrer Begriffe aufgelöst." Äquivalenz 78
LaclaulMouffe: Hegemonie, S. 162: ,,[E]s [gibt] keine gesellschaftliche Identität, die völlig geschützt ist vor einem diskursiven Äußeren, das sie umformt und verhindert, daß sie völlig genäht wird. [...] [E]s [gibt] keine Identität [...], die vollkommen konstitutiert werden kann." Differenzbildung und Äquivalenzbildung subvertieren einander zudem permanent. Und da „Negativität [durch Äquivalenzbildung] und Objektivität [durch Differenzbildung] nur durch ihre wechselseitige Subversion existieren," folgern LaclaulMouffe, dass „sich weder der Zustand totaler Äquivalenz noch jener totaler differenzieller Objektivität je ganz erreichen [läßt]." ebd., S. 185. 79 Eine temporäre .Schließung' des Diskurses ist nach Laclau/Mouffe nur auf imaginäre Weise, durch sog. ,leere Signifikanten', möglich: Diese repräsentieren als scheinbar umfassende Begriffe die Gesamtheit der .Identität', haben gleichzeitig aber eine kaum noch bestimmbare Bedeutung (z.B. „Freiheit" oder „Vaterland"). Hierzu eingehend: Laclau: Why do Empty Signifiers Matter to Politics?, in: Weeks, Jeffrey (Hrsg.): The Lesser Evil and the Greater Good: The Theory and Politics of Social Diversity, London 1994, S. 167-
178. Die Sprache der ancient constitution identifizierte Pocock: Burke and the Ancient Constitution: A Problem in the History of Ideas, in: HJ 3 (1960), S. 125-143 (Wiederabdruck in Pocock: Politics, Language, and Time, New York 1971, S. 202-232). Pocock sah Burke später auch durch die schottische Aufklärung beeinflusst: Pocock: The Political Economy of Burke's Analysis of the French Revolution, in: HJ 25 (1982), S. 331-349 (Wiederabdruck in Pocock: Virtue, Commerce, and History: Essays in Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge 1985, S. 193-212). Zu weiteren von Burke verwendeten Idiomen, u.a. dem common law und dem Naturrecht: Hampsher-Monk, Iain: The Political Philosophy of Edmund Burke, London 1987, S. 32-43. Einen fundierten Überblick über verschiedene Deutungsversuche in der Forschung bietet auch Frederick P. Lock: Burke's Reflections on the Revolution in France, London 1985, hier bes. S. 90-97, S. 181-185. 81 Lock: Burke's Reflections, S. 90. Vgl. Hampsher-Monk, Iain: Rhetoric and Opinion in the Politics of Edmund Burke, in: HPTh 9 (1988), S. 455^184, Zitat S. 463. 80
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Eckhart Hellmuth/Martin Schmidt
in der ihm eigenen Manier verschiedene Sprachen in den Reflections identifiziert, ohne jedoch eine plausible Erklärung für den Sachverhalt zu geben, dass Burke unterschiedliche politische Idiome verwendete. Statt dessen formuliert er: „[I] will not be much concerned to inquire into the relations between the two traditions [of ancient constitution and Scottish philosophy], or the possible consistencies and inconsistencies in Burke's text or thoughtf.] [...] It seems more important to establish that Burke can be read in both of these contexts than to inquire whether he can be read in both of them simulWenn man nun den Gedanken der Differenzbildung im Sinne von Laclau/Mouffe aufgreift, bietet sich eine andere Deutungsmöglichkeit an. Konfrontiert mit dem französischen Republikanismus und seinen Anhängern in England, brach die Identität des Whiggismus teilweise zusammen, wodurch der Prozess der Differenzbildung neu angestoßen wurde. Auch Burke sah sich gezwungen, seine Identität als Whig zu reformulieren. Dazu revidierte er die traditionellen Ideen des Whiggismus, grenzte zahlreiche Konzepte aus, die dem „commerce" oder dem „empire of reason" entstammten und arrangierte die verbliebenen Elemente im Einklang mit der Sprache des common law. Die Art und Weise, wie Burke diese Neukonfiguration der Whiggismus vornahm, löste bei Zeitgenossen zunächst Kopfschütteln aus. ,4s this the language of a rational man?" fragte etwa Thomas Paine seine Leser, als er auf Burkes Reflections antwortete.83 Aber wenige Jahre später war dieser Text zum Kern einer neuen Identität geworden.
taneously".82
82
Pocock: Burke's Analysis of the French Revolution, S. 331. Pocock deutet dann freilich doch an, dass Burke auf die Sprache des common law zurückgriff, um das Geschichtsverständnis der schottischen Moralphilosophie zu revidieren: Burke betrachtete commerce nicht mehr als den Motor sozialen Fortschritts, sondern sah Traditionsbewusstsein als das Rückgrat der polite society: Pocock: Burke's Analysis of the French Revolution, S. 347; und ders.: Varieties of Whiggism, S. 281. Darin zeigt sich erneut, dass Pocock Burkes Denken aus der Logik beider Sprachen heraus erklären möchte, ohne die Situation des Diskurses zu analysieren. 83 Paine, Thomas: Rights of Man (1791-1792), in: ders.: Political Writings, hrsg. v. Bruce Kuklick, Cambridge 2000, S. 57-263, hier S. 70.
Geltung und Wirksamkeit
Ideen im Kontext. Ein Kommentar -
Heinz-Elmar Tenorth Dire erstaunliche Leistungsfähigkeit und das reiche innovative Potential hat die neue Ideengeschichte vor allem in der Analyse politischer Diskurse der Frühen Neuzeit demonstriert; die Beiträge unserer zweiten Themengruppe und primär das macht sie vergleichbar weiten nicht nur den Zeitrahmen aus bis zur Gegenwart, sie beziehen auch andere Ideen, Diskurse und Kontexte mit ein: Das Völkerrecht, aktuelle politische Theorie und die Wissenschafts und Literaturgeschichte, bevor dann doch wieder ein Beitrag zur englischen politischen Diskussion den Themenblock abschließt, freilich jetzt auch in explizit théorie- und methodenkritischer Wendung. Angesichts der thematischen Heterogenität konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die Frage, mit welchem Ertrag diese Ausweitung des historischen und thematischen Interesses verbunden ist und ob es überzeugend gelingt, dabei auch die zentralen Fragen des Schwerpunktprogramms zur Geltung zu bringen. Der Kommentar ist deshalb primär geleitet von einem methodischen Blick, er argumentiert in intentione obliqua, orientiert an der Frage, was denn hier als „Idee" gilt und wie sich das Problem der Wirksamkeit der Ideen bearbeiten lässt. Zum Glück eröffnen die Texte, implizit oder explizit, auch für diese Perspektive eines Beobachters Argumentationschancen; zum einen, weil sie das Thema des Schwerpunktprogramms in genügender Differenz entfalten und schon damit zum Vergleich herausfordern und zur Diskussion einladen, zum anderen dadurch, dass sie methodische und methodologische Fragen selbst zum Thema machen. In Michael Stolleis' Bericht zur Ideengeschichte des Völkerrechts sind es die „allgemeinen und besonderen Regeln des Internationalen Rechts", also die Normenbestände des Völkerrechts, die als Ideen aufgefasst und in ihrer historischen Gestalt, in der semantischen und theoretischen Transformation sowie in der gesellschaftlichen Bedeutung analysiert werden. Über ihre rechtliche Geltung kann zumindest aktuell auch keine Unklarheit entstehen: die „allgemeinen Regeln", wie Stolleis Art. 25 des Grundgesetzes zitiert, „gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes"; die „besonderen Regeln" wiederum gewinnen ihre Kraft aus der Geltung zwischenstaatlicher Verträge, in denen sie das Völkerrecht konstituieren. Das ist eine für den Juristen hinreichende Erklärung der Geltung, Stolleis und die Mitarbeiter des Projekts, über das er berichtet, sind deshalb auch historiographisch zuerst an der Genese der Geltung
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Heinz-Elmar Tenorth
und an der Variation des Ideenbestandes interessiert: Aus den seit der Antike existierenden Regeln werden dabei in der Kommunikation der Experten, der communio doctorum, seit Hugo Grotius' De jure belli ac pacis (1625) die allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Geltung durch gelehrte Kommunikation ist das eine, ihre Nutzung durch .künftige Regenten, Diplomaten und Geheime Räte" der andere Mechanismus, aus dem sich Wirksamkeit aufbaut. Dieses frühe, auf das Naturrecht gegründet Völkerrecht verliert allerdings seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert an Bedeutung, mit Beginn des 19. wird das Völkerrecht sogar in seiner Sinnhaftigkeit, Hegel arbeitet dem vor, eine Zeit lang zugunsten einer starken Theorie des Staates explizit geleugnet. Man sieht dann nationale Differenzen im Bestand und in der Anerkennung der Theorien des Völkerrechts, auch, dass in diesen Analysen weder die Geltung oder die fehlende Anerkennung der Theorien im jeweiligen Land noch die internationalen Differenzen ignoriert werden, so wenig wie die historisch neu entwickelten geltungsverbürgenden Instanzen: Stolleis verweist explizit auf den Völkerbund als eine „Weltrechtsgemeinschaft" oder auf die sich z.Zt. entwickelnde internationale Strafjustiz. Aber in der Erklärung dominieren keineswegs solche institutionenzentrierten Perspektiven. Für die Historiographie ist die Situation in Deutschland ein eigenes Problem. Stolleis geht von dem ernüchternden Befund aus, dass „die Lage der Völkerrechtsgeschichte in Deutschland" selbst höchst problematisch ist, „das Fach ist praktisch nicht existent", die Projekte im Schwerpunktprogramm haben diese spezifische Historiographie selbst neu geschaffen, und zwar als „intellectual history". Hier, in der methodischen Orientierung, und bei dem Versuch, „die vielfältigen ideengeschichtlichen Bewegungen" seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen, ergeben sich die auch für Nicht-Juristen oder -Völkerrechtler interessanten Anschlussfragen: Wie gelingen Diffusion und Transformation der Ideen? Gibt es nur Zirkulation innerhalb der juristischen Experten und politischen Eliten? Wie wird die Begrenzung und Zuordnung von Elementen des Völkerrechts durchgesetzt? Reicht die Annahme der Wirkung nationaler Kulturen und professionseigener Sozialisation, etwa in spezifischen Wissenschaftstheorien wie dem Neukantianismus in Deutschland? Und vor allem, wie konstruieren die beobachtenden Historiker des Völkerrechts selbst ihre Geschichten, nur im Sprung von Theorie zu Theorie oder von Nation zu Nation? „Intellectual history", das ist die Selbstbeschreibung und sie ruht auf einer provokanten Generalthese über Konstitution und Wirkung von Ideen. Gemeint ist eine Analyse, die ihr Thema, d.h. die Ideen des Völkerrechts, „als Interaktion zwischen theoretischer Reflexion und politischer Lage zu verstehen" sucht und von da aus die Wirkung erklärt: „Die Trennung zwischen den sog. Fakten und den Ideen sollte verschwinden. Das ideelle Begreifen der Realität ist zugleich gestaltende Weltdeutung. Wird eine neue Weltsicht -
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Geltung und Wirksamkeit
Ideen im Kontext. Ein Kommentar
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mehrheitlich durchgesetzt, dann kommt dies der Erschaffung einer neuen Welt gleich. Wird die Deutung geschichtsmächtig, hat sie die Welt verändert." Das kommt dem Sozialwissenschaftler vertraut vor, wie die Erinnerung an das Thomas-Theorem, wenngleich Stolleis die definierende Perspektive auf die Welt wissenschaftstheoretisch radikalisiert: „Da die Welt eine im Kleid der Sprache wandelnde Kopfgeburt ist, sind Veränderungen des kollektiven Sprachgebrauchs Veränderungen der Welt. Insofern ist, pragmatisch gesprochen, die Entgegensetzung von Realität und Sprache, Idee und Wirklichkeit wissenschaftstheoretisch eher hinderlich, weil irreführend." Dennoch bleibt die Eindeutigkeit, mit der der Historiograph des Völkerrechts seinen „Regeln" Wirksamkeit zuschreibt, bereits im Lichte des Beitrags von Thorsten Lange immer noch erstaunlich; denn die Bedeutung der Vertragstheorie, die hier als „Idee" analysiert wird, für die „neoliberale Wende" in Politik und politischer Kommunikation kann offenbar erst in einer methodisch ambitionierten und theoretisch angeleiteten empirischen Analyse nachgewiesen werden. Lange bedient sich dafür der quantifizierenden Inhaltsanalyse, spricht zwar auch von Wirkungen, aber, methodisch behutsamer und unter Vermeidung von starken Kausalitätssuggestionen, genauer von der „Korrelation zwischen politischer Idee und politischem Handeln" und verspricht allein, die ,J3iffusion" der Idee nachzuzeichnen. Auch hier ist es Kommunikation „among the members of a social system", die der Idee ihre soziale Geltung verschafft: „als Wirkung wird primär die Adoption des neoliberalen Paradigmas durch die beschriebene Öffentlichkeit aufgefasst." Lange untersucht sein Thema an publizistischen Quellen in exemplarisch ausgewählten und für Länder, die in der politischen Kultur und Tradition denkbar verschieden sind: Großbritannien und Nordirland einerseits, die Bundesrepublik Deutschland andererseits, und zwar für die Zeit seit 1970 und bis zum Endzeitpunkt 1983, in den sechs Messzeitpunkten durch politische Zäsuren ebenso markiert wie durch die Publikation zentraler Texte der neoliberalen Vertragstheorie (ausgehend von Robert Nozick und James Buchanan, deren Quellen bis zu Friedrich A. von Hayek zurückverfolgt wer-
den).
Die Ergebnisse spiegeln die unterschiedliche Aufmerksamkeit für die Doktrinen der neoliberalen Theorie in England und Deutschland in der Ausgangslage. Lange zeigt das nach 1970 von niedrigem Niveau aus stark anwachsende Interesse für Theoreme dieser Art in Deutschland, bis sich hier 1983 die höchsten Werte zeigen, vor allem in denjenigen publizistischen Stilformen, die meinungsbetont argumentieren. Es ist der „Neuigkeitswert" der angesprochenen neoliberalen Theorie, der nach Lange für die Sichtbarkeit und Anerkennung gesorgt hat. Ob sich diese Wirkung aber nicht nur präzise hat messen, sondern tatsächlich auch der spezifischen Theoriemenge von Nozick und Buchanan hat zurechnen lassen, das gehört zu den interessanten
Heinz-Elmar Tenorth
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Ist es tatsächlich möglich, in einem Prozess wachsender Aufmerksamkeit für liberale Ideen eindeutig auf bestimmt liberale Theoretiker zuzurechnen und ist es zugleich anders als ex post auch klärbar, wie différente Kontexte ökonomische Krisen, fluktuierende politische Mehrhei-
Anschlussfragen:
ten, institutionelle Traditionen, politische Kulturen die Aufmerksamkeit für eine Idee reguliert haben? Lange zeigt den Historikern der Ideen, welche Möglichkeiten die sozialwissenschaftliche Methodik bietet, solche Fragen nachprüfbar anzugehen; er wird selbst aber nicht überrascht sein, dass der Historiker seine eigenen Themen wiedererkennt und eine Fülle an Fragen aufwirft, die auch ein methodisch eindeutiges und transparent operationalisiertes Forschungsdesign offen lässt. Dabei wäre es allerdings falsch, wollte der Historiker aus der leicht verfügbaren Fülle an Fragen, die er nicht beantwortet sieht, einen Vorsprung für seine eigene Methodik begründen; er wird vielmehr, will er selbst die Wirksamkeit von Ideen begründet behaupten, mit ebensolcher Präzision und Klarheit argumentieren müssen. Sandra Pott und Lutz Danneberg belegen in ihren beiden Beträgen vor dem Hintergrund der gemeinsamen Projektarbeit, jetzt für die Wissenschaftsgeschichte, welches Maß an bereits begrifflicher Unterscheidungsfähigkeit ihre Transman nicht unterbieten darf, wenn man die Karriere von Ideen formation, ihre Geltung, ihre Wirkung untersuchen will. „Säkularisierung" heißt die Idee, die sie als ,J?rozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte" untersuchen, nicht in der Absicht, ein fest gefügtes Urteil, das der Begriff anscheinend eindeutig transportiert, nur noch einmal zu bestätigen, sondern in dem Versuch, die umweghafte Geschichte der Durchsetzung des Neuen nicht zu verfehlen, die aus der scheinbar eindeutigen Entgegensetzung von „dunklem Zeitalter" vor und lichter Helle nach und durch die Säkularisierung gegeben zu sein scheint. Das Ergebnis ihrer Arbeit belohnt diesen neuen Blick: Säkularisierung wird in kritischer Abgrenzung gegen eine Standardgeschichtsschreibung zur Dynamik von Wissen in der frühen Moderne nicht als „makrologische Prozesskategorie", sondern als „mikrologische Interpretationskategorie" genutzt, um die „Asymmetrie von Wirklichkeit (des Wissens) und Wissenschaftsgeschichtsschreibung" sichtbar zu machen. Den mikrologischen Interessen und den fast schon ethnographischen Ansprüchen, eine „dichte Geschichte" zu schreiben, entspricht es, dass konsequent die „epistemischen Situationen" (Danneberg) in ihrer spezifischen Form von „Offenheit" die Orte der Konstitution von Wissen und Wissensansprüchen darstellen, die in der je spezifischen Reihung zugleich die Ordnung des Prozesses erzeugen, in denen sich die Fragen nach der Wirksamkeit der Idee und der Geltung des Wissens aufklären lassen. Bei so distanziert ansetzenden Erkenntnisbemühungen überrascht es weder, dass die Autoren den konstruktivistischen Zugriff der eigenen Arbeit betonen, noch, dass sie neben der historischen auch eine Cognitive Asymmetrie" einräumen, die zwischen -
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Ideen im Kontext. Ein Kommentar
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dem historischen Prozess oder Akteur und dem nachgehend-analysierenden Beobachter unaufhebbar bestehe. Das Ergebnis, erarbeitet an Wissensbeständen der theologischen Apologetik, an Hermeneutik und Anatomie und an Medizin und Literatur, ist zugleich faszinierend und zur Skepsis gegenüber großen Erklärungen mahnend: Man lernt, dass es Typen der Säkularisierung gibt, nicht etwa nur eine einzige Normalform; man lernt weiter, dass sich diese Typen der Säkularisierung überlagern, nicht etwa nur in der Literatur, sondern auch in der Wissenschaft. Dabei führen die Erklärungen mit ihrem subtilen und argumentativ fein ausdifferenzierenden Begriffsapparat nicht nur zur Singularität historischer Prozesse, sondern auch zu systematisierenden Ansprüchen, die mit dieser Analyse von ,3ildungs- und Veränderungsprozessen von Wissensansprüchen in sich verändernden epistemischen Situationen" verfolgt werden. Die Grundthese gegen eine „Ideologische" Analyse der Wissensdynamik ist, erwartbar, evolutionär („prospektive Offenheit" vs. „retrospektive Geschlossenheit"), aber die Erklärungen setzen historiographisch an, orientiert an der Aufgabe, die Formen von „Kontinuierung" zu zeigen, unter dem Anspruch der „Kontextualisierung" die „epistemischen Situationen" als relevante Welten des Wissens und der Argumentation zu analysieren, um den jeweiligen „Motor" von Innovation, vor allem die „kontrafaktische Imagination", ebenso in ihrer Bedeutung zu entdecken wie situationsübergreifende Züge der Säkularisierung. Im Beitrag von Eckhart Hellmuth und Martin Schmidt wird schließlich eine Implikation problematisiert, die theoretisch wie methodisch das ganze Unternehmen einer neuen Ideengeschichte durchzieht, dass sich nämlich in der Rekonstruktion der Ideen und in der Frage nach ihrer Wirksamkeit die Objekte der Untersuchung als „konsistente" Systeme auffassen lassen, konsistent auch insofern, als Formen der Argumentation sich eindeutig sozialen Substraten zurechnen lassen, z.B. politischen Lagern, wie sie zwischen „links" und „rechts", „konservativ" oder „radikal" konstruiert werden können. Die Autoren zeigen demgegenüber, dass die historischen Ideenkomplexe sich bereits für die politische Debatte in England im ausgehenden 18. Jahrhundert als „flexible, offene und inkohärente Theorieinhalte", ja als „hybride" Semantiken darstellen. Ideen wie Argumentationsformen werden zu taktisch wie strategisch nutzbaren Vehikeln der Auseinandersetzung im politischen Kampf. Erklärbar werden solche Nutzungsformen deshalb auch weniger aus der Tradition der Ideen selber oder aus der vermeintlich eindeutigen Zuordnung zu politischen Lagern, sondern eher aus „Situationen" und „Milieus", in denen sie je konkret ihre Brauchbarkeit beweisen müssen. Das führt zu einer Historisierung der ideengeschichtlichen Analyse, z.B. in biographischer und sozialhistorischer Detailforschung, die nicht mehr die großen
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Heinz-Elmar Tenorth
ideengeschichtlichen Programme und Ordnungsformen bestätigt, sondern den Wert des Archivs und die intensive Arbeit an einzelnen Quellen. Die Wirksamkeit wird dabei auch nicht in der Textrelation demonstriert und erklärt, sondern über „soziale Netzwerke" oder „publizistische Kampagnen", die als .konzipiert und gesteuert" aufgefasst werden. Trägergruppen von Texten und Muster wie soziale Relationen der Kommunikation werden dabei zentral, die theoretische Prämisse erinnert an Stolleis' Hinweise auf die „Interaktion zwischen theoretischer Reflexion und politischer Lage"; aber der methodische Anspruch wird primär dadurch fruchtbar, dass auch Hellmuth und Schmidt eher "mikrologisch" argumentieren als in der Referenz auf so große soziale Substrate wie Nationen oder Kulturen oder auch nur auf scheinbar fest gefügte soziale und ideologische Lager und Milieus. Bedeutsam werden die konkreten Praktiken, die Identität stiften, und zu diesen Praktiken gehört es offenbar, nicht nur die Konstruktion, Tradierung und Diffusion von Ideen zu kontrollieren, sondern auch die Ideen selbst noch als eine Variable zu nehmen, die sich den eigenen identitätspolitischen Ansprüchen und politischen Situationen fügen muss auch gegen die scheinbare Eindeutigkeit und Standortgebundenheit, die den Ideen vermeintlich zukommt. Die Ideengeschichte zeigt deshalb für die Ideenpolitik früh eine Typik, die in der Regel erst der Moderne zugeschrieben wird, derart, dass Ideen als „theoretische Versatzstücke" gelten, die ihre reflexive Eindeutigkeit und politische Bestimmtheit erst in der Auseinandersetzung je situativ gewinnen. Ansonsten existieren sie offenbar als frei flottierende Masse, aus der man sich nahezu beliebig bedienen kann. Die methodische Konsequenz dieser Art der Verflüssigung der Ideen und der Öffnung der Verweisungskontexte, in denen sie stehen, kann man durchaus als Gewinn verbuchen. Es ist die Öffnung der Theorien und Referenzen, von denen die Ideengeschichte beherrscht war, zugunsten einer Vielfalt von Annahmen über die Struktur der Objekte, denen sich die Ideengeschichte widmet. Die Objekte, von denen wir als „Ideen" sprechen, gewinnen ihre Distinktheit dann erst in einem mehrstufigen Prozess der Konstruktion, Analyse und Zuschreibung: durch den historischen Akteur, der sie in seine historische „Situation" und sein „Milieu", aber auch in sein politisches Problem und seine Konflikte einordnet, und durch den rekonstruierenden Historiker, der als fungible Masse zu sehen lehrt, was als „Idee im politischen Kontext" -
in der Eindeutigkeit der Zurechnung auf politische Lager häufig zu eindeutig codiert wird. „Kontextualisierung" als generelle methodische Maxime wird mit einem solchen Zugriff nicht dementiert, sondern bestärkt. Aber man lernt auch, dass erst der Historiker, der seinen Kontext sucht und experimentell in der Analyse erprobt, aus einer historisch offenen Menge an je verfügbaren semantischen Versatzstücken die „Ideen" macht, die dann die Wirklichkeit beherrschen.
III.
Nation und Politik seit dem 19. Jahrhundert
Auf dem Weg zu einer „Kulturgeschichte der Ideen"? Deutung der Einigungskriege und bürgerlicher Militarismus im Deutschen Kaiserreich Frank Becker Im konkreten Forschungsprozess gibt es selten einen vorgefertigten Theorierahmen. Wenn es ihn gäbe, wäre die Kritik schnell mit dem Vorwurf des Deduktionismus bei der Hand. Umgekehrt lassen sich aber praktisch erprobte Vorgehensweisen schlecht nachträglich verallgemeinern: Was in dem einen Fall gilt, muss noch lange nicht grundsätzlich so sein. Folglich sind historische Untersuchungen zumeist von einem Wechselspiel aus theoretischmethodischer Reflexion und empirischer Erprobung gekennzeichnet. Im günstigsten Fall erhellen sich Theorie und Forschungspraxis wechselseitig: Am Ende des Arbeitsprozesses steht dann die Entscheidung für eine Theorie und Methode, die den sachbezogenen Fragestellungen am besten gerecht geworden ist, und eine hiervon angeleitete Untersuchung, die den entsprechenden Vorannahmen zusätzliche Plausibilität verleiht. Damit wird eine Verallgemeinerbarkeit der theoretisch-methodischen Prämissen zwar nicht erwiesen, aber es wird zumindest nahe gelegt, dass sie vergleichbare Untersuchungsgegenstände ebenfalls sinnvoll aufzuschließen vermögen. Ein solcher Arbeitsprozess mit seinen vielen Irrwegen und Abwegen ist darstellungstechnisch kaum zu vermitteln. Bei begrenztem Druckraum gibt es keine andere Möglichkeit, als theoretisch-methodische Reflexion und konkrete Sachanalyse fein säuberlich nebeneinander zu stellen also zunächst die erstgenannten Probleme zu diskutieren und dann zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung überzuleiten. Das wirkt recht schematisch und auch wieder deduktiv, da die Theorie vorgeschaltet erscheint -, aber der Leser weiß ja, dass es sich um eine künstliche Trennung handelt, die nur der Übersichtlichkeit und der Komprimiertheit der Darstellung geschuldet ist.1 Wer sich mit „Ideen als gesellschaftlicher Wirkungskraft" im Fluchtpunkt einer „neuen .Geistesgeschichte'" befassen will, kann im Prinzip an drei Forschungsstränge anknüpfen, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten -
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Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Projekt „Bilder von Krieg und Nation. Darstellung und Deutung der Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands", das von 1997-1999 unter Leitung von Hans-Ulrich Thamer am Historischen Seminar der Universität Münster durchgeführt wurde. Der Verfasser dieses Beitrags erhielt für die Ergebnisse, die bei der Bearbeitung des Projekts erzielt wurden, den Nachwuchsforschungspreis der Universität Münster. Außerdem konnte er das Projekt im Rahmen der Ausstellung „Vergangenes bewahren, Zukunft sichern Building upon Heritage" präsentieren, die von der Universität Münster im Juni 1998 in der Landesvertretung von Nordrhein-Westfalen bei der Europäischen Union in Brüssel durchgeführt wurde. -
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in der Geschichtswissenschaft etabliert haben: Die französische Mentalitätengeschichte (ergänzt durch die Historische Diskursanalyse), die angelsächsische „intellectual history", einen Ansatz, der sich vor allem mit der so genannten Cambridge School verbindet, und die (auch) in Deutschland verbreitete Sozialgeschichte der Ideen, der sich noch die Historische Semantik verschwistert hat.2 Alle drei Ansätze haben wichtige theoretische Grundlagen für die ideengeschichtliche Forschung geschaffen, all drei haben Werkzeuge für die konkrete Forschungspraxis bereitgestellt, alle drei wichtige Standardwerke geliefert aber, und das ist ebenso festzuhalten: Alle drei sind auch von massiver Kritik nicht verschont geblieben. So hat die französische Mentalitätengeschichte sich vor allem dadurch große Verdienste erworben, dass sie das Feld der Ideen- und Bewusstseinsgeschichte für quantitative Methoden geöffnet hat; damit hat sie die Monopolstellung hermeneutischer Zugriffe auf diesem Feld gebrochen.3 An die Stelle der Interpretation trat die statistische Erfassung serieller Quellen. Gegen diese Vorgehensweise wurde aber der Einwand geltend gemacht, dass die Quantifizierung den unterschiedlichen Stellenwert der historischen Dokumente zu sehr nivelliere; zum Beispiel könne die Äußerung einer Person A für ihre Rezipienten eine ganz andere Autorität als die Äußerung von Person B besessen haben, und es gehe nicht an, sie eins zu eins miteinander zu verrechnen. In die Frontstellung gegen die Hermeneutik rückte im Übrigen auch die Historische Diskursanalyse ein; auch sie wollte nicht interpretatorisch ^inter' die Texte schauen, sondern diese wörtlich lesen als Bestandteile von sprachlichen Formationen, die gleichzeitig Wissen speichern und Praxis anleiten, also an Institutionen gebunden sind, wodurch sie den Handlungs- und Wahrnehmungshorizont historischer Akteure abstecken.4 Oft führte diese Ausgangsposition zu einem Sprachfundamentalismus, der aus der Beobachtung, dass jede menschliche Praxis durch Zeichensysteme, mithin Sprachen, organisiert ist, in der Sprachanalyse den Schlüssel zum Verständnis aller -
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Zu dieser Einteilung auch: Lottes, Günther: „The State of the Art". Stand und Perspektider „intellectual history", in: Kroll, Frank-Lothar (Hrsg.): Neue Wege der Ideengeschichte. FS für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn u.a. 1996, S. 27-46, hier S. 28. Knappe Darstellungen des Ansatzes bieten: Schulze, Hagen: Mentalitätsgeschichte Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 36 (1985), H. 4, S. 247-270; Seilin, Volker: Mentalitäten in der Sozialgeschichte, in: ders./Schieder, Wolfgang (Hrsg.): Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 3, Göttingen 1987, S. 101-121. Beispielhafte Studien vorgelegt hat Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit [1960], München 1975; ders.: Geschichte des Todes [1978], München 1980; in der deutschen Geschichtswissenschaft:: Schlögl, Rudolf: Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt Köln, Aachen, Münster 1700-1840, München 1995, sowie Peter Dinzelbacher: Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung, Paderborn u.a. 1996. 4 Die Grundgedanken stellt vor: Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 2001. ven
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Wirklichkeitsbereiche in Händen zu halten glaubte; wobei dieses OrganisiertSein durch Sprache oft einfach vorausgesetzt, aber nicht mehr empirisch nachgewiesen wurde, so dass die konkrete Handlungsebene mit all ihren Kontexten mehr und mehr aus dem Blick zu geraten drohte. Im Zeichen der Postmoderne schien diese Ablösung der Zeichen von ihren Entstehungskon-
sogar der angemessene Reflex letztlich konstruktivistischer Grundannahmen zu sein. Die Kritik bemängelte an solchen Arbeiten, dass sie abgehoben seien, dass sie die sprachgebundenen Ideen nicht mehr angemessen in die Realgeschichte einbetteten. Als wichtige methodische Neuerung des diskursanalytischen Ansatzes, insbesondere in derjenigen Ausprägung, die er durch Michel Foucault erhalten hat, ist aber noch die Infragestellung der Kategorien des Autors und des Werkes zu nennen. Beide Kategorien hatten in der hermeneutischen Tradition einen zentralen Stellenwert. Texte wurden auf die geistige Disposition ihres Autors zurückgelesen, und sie durften nur als Ganzes interpretiert werden, weil sich die Bedeutung jedes einzelnen Textelements nur über den Zusammenhang des ganzen Textes konstituierte. Für Foucault, der die Eigendynamik sprachlicher Prozesse betont, war der Autor hingegen primär nur noch der Vollstrecker bestimmter diskursiver Figurationen, und Texte entstanden in seinen Augen durch die Montage von Diskursen und Diskurselementen, die sehr wohl auch isoliert betrachtet und analysiert werden können.5 Der Rekurs auf die Sprache ist auch für die Cambridge School, den wichtigsten Ideengeber für die angelsächsische intellectual history, von fundamentaler Bedeutung gewesen. Ideen treten im Medium der Sprache in Erscheinung, und deshalb sind Sprachanalysen der Schlüssel zum Verständnis ihrer Entstehung, Bedeutung und Wirkung. Wie diese Sprachanalysen beschaffen sein müssen, ist allerdings strittig. Die beiden wichtigsten Vertreter der Cambridge School haben hier unterschiedliche Optionen gewählt, die sich an den bedeutendsten Strängen innerhalb der sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Diskussion orientierten: Quentin Skinner schloss an die Sprechakt-Theorie an,6 John G. A. Pocock an den Strukturatexten
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Zur Diskussion von Methodenfragen siehe vor allem: Foucault, Michel: Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt/M. 1981; ders.: Was ist ein Autor? [1969], in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, S. 7-31; ders.: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France 2. Dezember 1970, Frankfurt/M. u.a. 1977. Die Anwendbarkeit der Denkfiguren Foucaults in der historischen Forschung wird problematisiert von den Sammelbänden von Goldstein, Jan (Hrsg.): Foucault and the Writing of History, Oxford 1995; Uoyd, WloyalThacker, Andrew (Hrsg.): The Impact of Michel Foucault on the Social Sciences and Humanities, Basingstoke 1996, sowie neuerdings von Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/M. 2003. 6 Grundlegende theoretisch-methodische Reflexionen bieten Quentin Skinner: Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: History and Theory (H&T) 8 (1969), S. 3-53; ders.: Language and Political Change, in: Ball, Terence u.a. (Hrsg.): Political Innovation and Conceptual Change, Oxford 1989, S. 6-23; ders.: Liberty before Liberalism, Cam-
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lismus.7 Das bedeutete, dass Skinner die Ideenproduktion vor allem in Handlungskontexte einbettete sie befindet sich in einem komplizierten Wechselspiel mit Traditionen, Gegenpositionen, zeitgenössischen Deutungskämpfen und Polemiken. Skinner hat in seinem Hobbes-Buch exemplarisch vorgeführt, wie sich durch diese strikte Kontextualisierung das Werk eines Meisterdenkers, dessen Konzepten zuvor gern eine überhistorische Klassizität zugesprochen wurde, in ein Sammelsurium von Vorstößen und Reaktionen, Problemstellungen und Problemlösungen in einem zeitgenössischen Diskussionszusammenhang auflöst.8 Pocock hingegen lehnte sich an Ferdinand de Saussures Unterscheidung zwischen „langue" und „parole" an; wie Sprache generell zum einen als Zeichensystem extrasubjektiv existiere, andererseits von sprechenden Subjekten immer wieder angeeignet, gleichsam vollzogen werde, gelte auch für weltanschauliche Konzepte, dass sie parallel zu ihrer konkreten Verwendung eine diskursive Existenz unabhängig von jeder Aktualisierung besäßen. Pococks Forschungsinteresse richtete sich folglich auf diskursive Formationen, die eine hohe Beharrungskraft im Zeitverlauf hatten, -
die in unterschiedlichen historischen Situationen von unterschiedlichen Akteuren immer wieder aufs Neue verwendet wurden. Die diskursive Mächtigkeit dieser Konzepte konnte so groß sein, dass sie auch vermeintlich tiefe Gräben zwischen politischen Parteien und gesellschaftlichen Lagern ohne weiteres überwanden.9 Die Nähe zum Diskursbegriff Foucaults ist hier evident. Die Kritik hat gegen die Cambridge School vor allem eingewendet, dass sie in zu einseitiger Form die sprachlichen Kontexte der Ideenproduktion in den Mittelpunkt rücke; die politisch-sozialen und ökonomischen Kontexte, die mindestens ebenso wichtig seien, gerieten dadurch zu stark aus dem Blick. Bei Pocock kam noch der Einwand hinzu, dass die Annahme von lange währenden und Lager überschreitenden diskursiven Formationen dazu verführe, Unterschiede und Widersprüche zu unterschlagen; der Historiker,
bridge 1998, bes. S. lOlff., sowie mehrere Aufsätze Skinners, die abgedruckt sind in James Tully (Hrsg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Cambridge 1988. 7 Hier zentral: Pocock, John G. A.: Languages and Their Implications: The Transformation of the Study of Political Thought, in: ders.: Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History, London 1972, S. 3-41; ders.: The Reconstruction Of Discourse: Towards a Historiography of Political Thought, in: Modern Language Notes 96 (1981), S. 959-980; ders.: The Concept of a Language and the métier d'historien: Some Considerations on Practice, in: Pagden, Anthony (Hrsg.): The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge 1987, S. 19-38; ders.: Texts as Events: Reflections on The History of Political Thought, in: Sharpe, Kevin u.a. (Hrsg.): Politics of Discourse. The Literature and History of Seventeenth-Century England, Berkeley 1987, S. 21-34; ders.: Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption, Frankfurt/M. 1993.
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Skinner, Quentin: Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, Cambridge 1996.
Exemplarisch demonstriert hat Pocock diesen Effekt in seiner Studie: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975.
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vorgehe, gerate in die Gefahr, künstlich eine Kohärenz in der Wirklichkeit nicht gegeben habe sein Tun habe manchmal mehr mit einer Konstruktion als mit einer Rekonstruktion zu tun.10 In den letzten Jahren haben Historiker, die der Cambridge School nahe stehen, noch eine wichtige Ergänzung des methodischen Arsenals vorgenommen: die Einbeziehung von Bildquellen.11 Ideen haben sich nicht nur in der natürlichen Sprache materialisiert, so die Annahme, sondern auch in jenen Zeichensprachen, die von visuellen Medien verwendet werden. Der Ideenhistoriker muss auch die Bilder berücksichtigen, wenn er Weltanschauung und Deutungshorizont vergangener Gesellschaften vollständig erfassen will. Damit weitet sich der Untersuchungsgegenstand der Ideengeschichte verstärkt zu den ästhetischen Formen aus. Hier ergeben sich neue methodische Herausforderungen. Kevin Sharpe, der mit mehreren Studien zum britischen Hof in der Stuartzeit hervorgetreten ist, hat neben der Malerei und Graphik auch das höfische Theater und die Lyrik untersucht. In all diesen Medien wurden das Selbstverständnis des Königs und seines Herrschaftsapparates thematisiert, wurden Modelle für die Organisation des höfischen Lebens und für die politische Ordnung insgesamt dargeboten.12 Die (zumindest vermeintliche) Vernachlässigung von sozialökonomischen Kontexten und politischen Machtlagen durch die Cambridge School lenkt den Blick auf die Diskussion in den deutschen Geschichts- und Sozialwissenschaften. Was hier als Sozialgeschichte der Ideen firmierte, orientierte sich allerdings im Wesentlichen an französischen und angelsächsischen Vorbildern; origineller war der Ansatz der Historischen Semantik, der über die Rekonstruktion des Bedeutungsgehalts bzw. Bedeutungswandels von Zentralbegriffen der politisch-sozialen Sprache dem Weltverständnis von histoder in dieser Weise
herzustellen, die
es
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Diese Kritikpunkte werden referiert von Eckhart Hellmuth und Christoph von Ehrenstein: Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 27 (2001), H. 1, Themenschwerpunkt: Neue Ideengeschichte, S. 149-172, hier S. 161-164. Die Innovation besteht hier selbstverständlich in der Integration der Bildanalysen in den spezifischen theoretisch-methodischen Rahmen der Cambridge School, nicht in der Tatsache, dass Bilder überhaupt als Quellen genutzt werden über die lange Tradition dieses Zugriffs informiert die Studie von Francis Haskell: Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit, München 1995; einen Überblick über die ikonographischen Ansätze und Arbeiten der letzten Jahre geben Bernd Roeck: Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder, in: GG 29 (2003), H. 2, S. 294-315 und Peter Burke: Bilder als historische Quellen, Berlin 2003, S. 10—13 und 195-217. Augenzeugenschaft. 1 Exemplarisch sind folgende Veröffentlichungen zu nennen: Sharpe, Kevin: Criticism and Compliment. The Politics of Literature in the England of Charles I, Cambridge 1987; ders.: Stuart Monarchy and Political Culture, in: Morrill, John (Hrsg.): The Oxford Illustrated History of Tudor & Stuart Britain, Oxford 1996, S. 239-257; ders.: The Royal Image: an Afterword, in: Corns, Thomas N. (Hrsg.): The Royal Image. Representations of Charles I., Cambridge 1999, S. 288-309; ders.: „So Hard a Text"? Images of Charles I, 1612-1700, in: The Historical Journal (HJ) 43, 2 (2000), S. 383-405. -
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rischen Akteuren auf die Spur kommen wollte. Kritiker machten geltend, dass dabei nicht sorgfaltig genug zwischen Gebrauchs- und Metabegriffen unterschieden wurde14; außerdem beschränkten sich die Analysen auf diachrone Schnitte, die die bedeutungskonstitutive Einbettung der Begriffe in Felder von anderen semantischen Einheiten auf der synchronen Ebene nicht in den Blick bekamen. Solche Mängel auszugleichen versuchte die Politische Kulturforschung, die sich seit den 1980er Jahren zunächst in der Politik-, dann auch in der Geschichtswissenschaft zu einem viel beachteten Paradigma entwickelte.15 Die konsequente Inbezugsetzung des Kulturellen, also der Weltbilder und Lebensstile, zur Politik sorgte gleichsam automatisch dafür, dass die synchrone Ebene, die Ebene der Konkurrenz, der Konflikte und der Machtkämpfe ausreichend gewürdigt wurde. Die ständigen Kämpfe um Deutungsmacht in Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit wurden einer eigenständigen Analyseebene zugeordnet, der Sphäre der Deutungskultur, während das unreflektierte Umsetzen von Weltbildern und Lebensstilen in der konkreten Alltagspraxis mit dem Begriff der Sozialkultur belegt wurde. Zur Deutungskultur gehören im Prinzip alle öffentlichen Manifestationen von wie auch immer beschaffenen Sinnangeboten. Die Politische Kulturforschung integriert die Geschichte der politischen Theorie und der politischen Programmatik, aber auch der Populärphilosophie und der Kunst, der Denkmalsarchitektur und der elektronischen Massenmedien. In der Regel sind die Sinnangebote nicht an ein bestimmtes Medium gebunden, sondern werden in sehr unterschiedlicher Gestalt verbreitet. In der Forschung hat es sich deshalb eingebürgert, von Deutungsmustern zu sprechen, von rekurrenten Interpretationsschemata also, die aus zahlreichen kommunikativen Kontexten zu extrahieren sind. Damit rückt der Ansatz der Politischen Kulturforschung wieder in die Nähe der diskursiven Formationen bei Pocock mit dem Unterschied allerdings, dass die Politische Kulturforschung die politisch-sozialen Träger bestimmter Deu-
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Grundlegend sind: Koselleck, Reinhart: Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: Schieder, Wolfgang/SeMi'/t, Volker (Hrsg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 1, Göttingen 1986, S. 89109; Busse, Dietrich: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987. Einen modifizierten Neuansatz bietet Rolf Reichardt: Historische Semantik zwischen lexicométrie und New Cultural History, in: ders. (Hrsg.): Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte, Berlin 1998, S. 7-28, eine Erweiterung zur Analyse von Publizistik zweiten Ranges und zur international vergleichenden Perspektive Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001. 14 Lottes: „The State of the Art", S. 33. 15 Programmatisch sind die Aufsätze von Karl Rohe: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der Politische Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift (HZ) 250 (1990), H. 2, S. 321-346; ders.: Politische Kultur: Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: von Beyme, Klaus/Niedermayer, Otto (Hrsg.): Politische Kultur in Ostund Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1-21.
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tungsprojekte schärfer fassen will. Diesen Anspruch betont sie schon auf der begrifflichen Ebene, wenn sie alle Termini aus dem Wortfeld der Wirklichkeitsdeutung mit machtpolitischen Vokabeln verknüpft: also von Deutungsstrategien, Deutungshegemonie, Deutungsmacht, Definitionsmacht, Begriffspolitik etc. spricht. Diese Vorgehensweise setzt sich freilich dem Vorwurf aus, die gesell-
schaftliche Deutungsarbeit allzu kurzschlüssig mit bestimmten Interessenlagen zu identifizieren. Dadurch wird ein Rückfall auf ideologiekritische Positionen nahe gelegt. Ideen sind aber nicht nur ein Reflex vorgängiger Interessen, sondern selbst eine wirklichkeitskonstituierende Kraft. Diesem Doppelcharakter müsste ein geeigneter theoretisch-methodischer Ansatz gerecht werden er müsste die Ideen einerseits an die Gesellschaft zurückbinden, andererseits aber auch ihre relative Autonomie zu würdigen wissen. Auch das Wechselspiel von Problemdruck und Problemlösung, das die Cambridge School zwischen Ideenproduktion und Gesellschaftsentwicklung am Werk sah, spricht die Initiative, den Anschub gleichsam, zu einseitig der Gesellschaft zu. Immerhin wird aber schon eine dynamische Interaktion zwischen den Problemen, die in der Gesellschaft sichtbar werden, und den Vorschlägen zu ihrer Bewältigung unterstellt. Noch einen Schritt weiter geht die Systemtheorie Niklas Luhmanns. In seinen Ausführungen zur Ideenevolution und zum Semantikbegriff weist Luhmann jede Reduktion der Ideen auf eine nur-reaktive oder nurinstrumentelle Funktion zurück.1 Stattdessen entwickelt er ein Modell für das Wechselspiel von Ideen- und Sozialevolution, das sich strukturell an die biologische Evolutionstheorie anlehnt.17 Wie eine biologische Spezies ihrer natürlichen Umwelt, steht die Semantik ihrer sozialen Umwelt, d.h. der gesellschaftlichen Realität gegenüber. Die Veränderungen in der Semantik erfolgen spontan und eigendynamisch wie die Mutationen bei der biologischen Fortpflanzung -, sehen sich aber anschließend dem Selektionsdruck ihrer Umwelt ausgesetzt, der darüber entscheidet, welche Veränderung sich behauptet und welche sogleich wieder verschwindet. Die Gesellschaft kann also Veränderungen im Bereich der Semantik nicht unmittelbar auslösen oder determinieren, aber sie kann über den Erfolg oder Misserfolg von Semantiken entscheiden, die zunächst selbsttätig entstanden sind. Für die neuen Ideen bedeutet dies konkret, dass sie sehr schnell in die Gesellschaft hinein zu wirken beginnen, wenn sie mit bestehenden Denkschemata und Interessenlagen -
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16 Luhmann, Niklas: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1980, S. 9-71; ders.: Ideengeschichten in soziologischer Perspektive, in: Matthes, Joachim (Hrsg.): Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen 1980, Frankfurt/M. u.a. 1981, S. 49-61. 17 Ausführlich hierzu auch Becker, FranklReinhardt-Becker, Elke: Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2001, S. 146-161.
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vermittelbar sind; ihre weitere Wirkmächtigkeit hängt dann davon ab, inwiefern sich die entsprechenden Denkschemata und Interessenlagen zu behaupten vermögen. Ist eine Vermittelbarkeit in solcher Weise nicht gegeben, folgt daraus aber keineswegs automatisch, dass die semantische Variation zum Untergang verurteilt ist. Sie kann auch vorübergehend in den Hintergrund treten, gleichsam auf Eis gelegt werden, bis sich gesellschaftliche Konstellationen ergeben, die eine größere Nachfrage nach ihr erzeugen. Zwischen Ideengut und Gesellschaft wird ein komplexes Wechselspiel beschreibbar, das von einer einseitigen Präferenz für idealistische oder materialistische Grundannahmen ebenso weit entfernt ist wie von der Unterstellung banaler Ursache- Wirkungs- Verhältnisse. '8 Dieser Überblick über die ideengeschichtliche Theorie- und Methodendiskussion der letzten Jahrzehnte hat deutlich machen sollen, dass ein anerkannter Königsweg zur Erforschung mentaler Phänomene nach wie vor nicht existiert. Fast scheint es so, als erkaufte jeder Ansatz seine besonderen Stärken auch mit besonderen Schwächen: Wer einen bestimmten Phänomenbereich sehr intensiv fokussiert, vernachlässigt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit andere Aspekte. Wenig hilfreich ist es folglich, sich zu einem bestimmten Ansatz zu .bekennen' die Lücken, die dabei zwangsläufig in Kauf genommen werden, hat die Kritik schon deutlich genug benannt. Stattdessen sollen-Elementen der verschiedenen Schulen miteinander kombiniert werden, und zwar in der Weise, dass die Stärken zur Geltung gebracht werden und die Schwächen möglichst wenig zum Tragen kommen. Natürlich wäre es viel zu hoch gegriffen, den Anspruch zu erheben, eine Theoriesynthese oder, anders formuliert, eine neue Großtheorie entwickeln zu können, die alle Probleme der Ideengeschichte mit einem Schlag löst. Davon ist die Forschung noch weit entfernt. Es soll aber zumindest der Versuch gemacht werden, die Forschungen und Diskussionen zur Ideengeschichte daraufhin zu durchleuchten, was sich als brauchbar und überzeugend auf der einen, irreführend und verkürzend auf der anderen Seite herausgestellt hat. So lassen sich bei der Mentalitätengeschichte als Stärke der Zugriff auf die intellektuellen Dispositionen ganzer Bevölkerungsgruppen, als Schwachpunkte manche nicht gerechtfertigte und viele Unterschiede im Status der Quellen zudeckende Techniken der Quantifizierung nennen; bei der Diskursanalyse als Stärke die Abkehr vom -
ganzen Text und
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der
Problem die übertriebene 18
zwanghaften Individualisierung von Aussagen, als Vernachlässigung von sozialen Trägergruppen und
Die Denkkategorien und Begriffe Luhmanns wurden für das Gesamt-Untersuchungsdesign des Forschungsprojekts nicht explizit genutzt, aber einer kleineren Nebenstudie zugrunde gelegt: Becker, Frank: Kriegserfahrung in der Ära der Einigungskriege aus systemtheoretischer Perspektive, in: Buschmann, Nikolaus/Ca/7, Horst (Hrsg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 147-172.
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realgeschichtlichen Anbindungen; bei der Cambridge School als Erkenntnisgewinn speziell bei Pocock die Würdigung der lager- und parteiüber-
diskursiven Formationen, als Gefahr die konstruktive realiter sehr zerklüfteten Deutungslandschaften; bei der Harmonisierung von Politischen Kulturforschung als hilfreich die Herausarbeitung der permanenten Deutungskämpfe auf der synchronen Achse, als gefährlich die Tendenz zur ideologiekritischen Verkürzung. Damit sind nur einige zentrale Aspekte benannt. Letztlich wurde das Untersuchungsdesign, wie eingangs gesagt, vor allem auch auf die Anforderungen abgestimmt, die der Gegenstand der Anaschreitenden Kraft
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von
lyse stellte.
Gegenstand überzuleiten, soll zunächst ein bestimmter Sozialtypus vorgestellt werden ein Sozialtypus, der bis heute als charakteUm
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ristisch für das Deutsche Kaiserreich gilt. Gemeint ist der Reserveleutnant. Er verkörpert die vermeintliche Militärfrömmigkeit bürgerlicher Männer, denen die Uniform als Symbol gesellschaftlicher Arriviertheit ebenso viel bedeutete wie der Doktortitel. Literarische Darstellungen wie Heinrich Manns „Untertan" oder Carl Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick" haben dieses Bild noch zusätzlich verfestigt, ein Bild, an dem sich auch die Forschung lange Zeit orientierte. Dabei ging sie freilich viel zu stark vom äußerlich sichtbaren Verhalten aus gerade dort, wo sie den bürgerlichen Militarismus im Kaiserreich einseitig mit dem Habitus des Untertanen in Verbindung brachte. Das Militärische reduziert sich nicht auf ein Schema von Befehl und Gehorsam, wer eine Uniform anzieht, legt noch lange nicht jeden Anspruch auf politische Mitsprache ab. Um den wirklichen Motiven für die positive Einstellung der bürgerlichen Schichten zu Militär und Reichsnation auf die Spur zu kommen, ist eine Rekonstruktion der Begriffe, Bilder und Vorstellungen nötig, die den Denkhorizont der Zeitgenossen prägten. Nicht die klassische Gesellschaftsgeschichte, sondern die Ideengeschichte ist der Schlüssel für ein besseres Verständnis des bürgerlichen Militarismus im Kaiserreich.19 Wie in einem Brennspiegel bündeln sich bürgerliche Vorstellungen von Krieg und Nation in der Darstellung, Deutung und Erinnerung der Einigungskriege, besonders des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. Auf beiden Ebenen, in der zeitgenössischen Darstellung und in der erinnernden Aufbereitung, wurden die unterschiedlichsten Medien eingesetzt.20 Zeitungen -
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Ergebnisse des Projekts sind zu großen Teilen in die Habilitationsschrift des Verfaseingeflossen, die seit 2001 als Buch vorliegt: Becker, Frank: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864—1913, Die
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München. Indem diese .Innenansicht' des
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Krieges behandelt wird, erfolgt auch ein Brückenschlag .modernen Militärgeschichte', die seit einigen Jahren verstärkt die Alltags- und die .Erlebensperspektive' des Krieges untersucht. Hierzu Kühne, Thomas/Z/c/nan/j, Benjamin
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(Hrsg.): Was ist Militärgeschichte?, Paderborn u.a. 2000. Gebündelt werden die dort entwickelten Vorgehensweisen seit 1999 durch den Tübinger Sonderforschungsbereich
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und Zeitschriften stehen neben Reden und Traktaten, kriegsgeschichtliche Darstellungen aus der Feder von Universitätsdozenten, Journalisten und Studienräten neben Briefen, Tagebüchern und Memoiren.21 Hinzu kommen Gemälde und Panoramen, Graphiken und Zeitschriftenillustrationen neben der Textwelt hat sich eine komplexe Bildwelt des Krieges entfaltet. Auch diese Bildwelt ist für eine Ideengeschichte des Krieges relevant, auch Bilder deuten den Krieg nicht begrifflich-diskursiv, sondern modellhaftanschaulich, indem sie ihn in einer bestimmten Weise zeigen, indem sie charakteristische Szenen modellieren.22 Gewiss hat diese Ausdrucksform ihre Eigenlogiken, die nicht unterschlagen werden dürfen. Dennoch kristallisiert sich eine regelrechte „Bildsprache" heraus, die auf visuellen Zeichen basiert, die im Prinzip ähnliche Bedeutungen tragen, wie sie auch von Wörtern und Begriffen transportiert werden. Text- und Bildwelt stellen also keine kategorial geschiedenen Sphären dar, sondern zwei Bereiche einer prinzipiell ungetrennten Darstellungs- und Deutungswelt. Diese Verbindung wird zum Beispiel daran deutlich, dass Texte und Bilder oft dieselben Motive verwenden: Bestimmte Schlüsselszenen aus dem Feldzugsleben der Soldaten wie Abschied, brieflicher Austausch mit der Familie oder Heimkehr nach Hause werden von der Graphik in derselben Weise gezeichnet, wie von der Erinnerungsliteratur beschrieben. Die kriegserzählenden Texte erzeugen im Be-
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„Kriegserfahrungen Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit". Als erste Studien, die in diesem Kontext entstanden sind, liegen mittlerweile vor Anne Lipp: Meinungslenkung im Krieg. Soldatische Kriegserfahrungen und ihre Deutung 1914-1918, Göttingen 2003, sowie Nikolaus Buschmann: Einkreisung und Waffenbruderschaft. Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850-1871, Göttingen 2003. 21 Die Selbstzeugnisse der Kriegsteilnehmer von 1870/71 haben das Interesse der Forschung schon mehrfach auf sich gezogen. Siehe Thomas Rohkrämer: Der Militarismus der „kleinen Leute". Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, München 1990; Kühlich, Frank: Die deutschen Soldaten im Krieg von 1870/71. Eine Darstellung der Situation und der Erfahrungen der deutschen Soldaten im Deutsch-Französischen Krieg, Frankfurt/M. u.a. 1995; Steinbach, Matthias: Abgrund Metz. Kriegserfahrung, Belagerungsalltag und nationale Erziehung im Schatten einer Festung 1870/71, München 2002; Rak, Christian: Krieg, Nation und Konfession. Die Erfahrung des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, Paderborn u.a. 2004. 22 Die visuelle Darstellung des Krieges wird behandelt von Peter Paret: Imagined Battles. Reflections of War in European Art, Chapel Hill, N.C./London 1997; Hans-Ulrich Thamer: „Freiheit oder Tod". Zur Heroisierung und Ästhetisierung von Krieg und Gewalt in der Ikonographie der Französischen Revolution, in: Kunisch, Johannes/MUnkler, Herfried (Hrsg.): Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 75-91; Rogg, Matthias: Landsknechte und Reisläufer: Bilder vom Soldaten. Ein Stand in der Kunst des 16. Jahrhunderts, Paderborn u.a. 2002; Burke: Augenzeugenschaft, S. 165172; Arbeitskreis Historische Bildforschung (Hrsg.): Der Krieg im Bild Bilder vom Krieg: Hamburger Beiträge zur Historischen Bildforschung, Frankfurt/M. 2003. -
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wusstsein des Lesers mentale Bilder, die sich von den gemalten oder gezeichneten Bildern in vielen Fällen kaum unterscheiden. Aus diesen Überlegungen folgt bereits, dass es bei der Analyse der Bilder ebenso wie bei derjenigen der Texte nicht um die isolierte Interpretation einzelner Exponate geht. So wie in der Textwelt die wiederkehrenden, die stereotypen, die fast omnipräsenten Ideen und Vorstellungen aufzufinden sind, wird auch bei den Bildern eine optische Signatur herausgearbeitet, ein bestimmtes Ensemble von Bildelementen, das von sehr vielen Künstlern eingesetzt wurde und damit offenkundig für den visuellen Wahrnehmungshorizont der Zeitgenossen von großer Bedeutung war.24 Dabei kann die Zusammenführung von verschiedenen Quellengruppen aus Text- und Bildwelt selbstverständlich nicht einfach praktiziert werden, ohne dass gleichzeitig die Berechtigung dieses Tuns reflektiert würde: Die Berücksichtigung des gesamten Deutungskosmos der Einigungskriege darf nicht blind machen für Abweichungen und Fraktionierungen. Bei den Bildmedien lässt sich etwa eine gewisse Sonderrolle der Malerei feststellen, die aufgrund ihrer starken institutionellen Anbindung an die Residenzen der Einzelstaaten noch stärker vornationalen Deutungsmustern verpflichtet war, als dies für Medien galt, die von vornherein auf eine nationale Öffentlichkeit zielten. Außerdem sprach die Malerei mit Aristokratie und Bürgertum zwei verschiedene Publikumsgruppen gleichzeitig an. Weder die eine noch die andere Besonderheit führte aber dazu, dass die Deutungsangebote der Gemälde aus der sonstigen Ideenlandschaft gänzlich herausfielen. Das Spannungsverhältnis von regionaler und nationaler Loyalität25 wurde im Hinblick auf 1870/71 in der Regel so aufgelöst, dass die Leistung des Einzelstaates als wichtiger Beitrag zur nationalen Kraftentfaltung gefeiert wurde. Auf ihr sozial heterogenes Publikum nahmen die Künstler Rücksicht, indem sie auf ihren Bildern das feudale sehr
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Speziell zur Malerei und Graphik der Einigungskriege Frank Becker: Bilder von Krieg und Nation. Der Frankreichfeldzug von 1870/71 in der deutschen Graphik und Malerei, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 5 (1999), S. 133-166. Ergänzend zur Fotografie ders.: Die Anfänge der deutschen Kriegsfotografie in der Ära der Reichseinigungskriege (1864-1871), in: Eisermann, Thilo u.a. (Hrsg.): Propaganda. Von der Macht des Wortes zur Macht der Bilder, Hamburg 1998, S. 69-102; ders.: Die „Heldengalerie" der einfachen Soldaten. Lichtbilder in den deutschen Einigungskriegen, in: Holzer, Anton Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003, S. 39-56. (Hrsg.): 4 Durch diese vergleichende Einbeziehung großer Mengen von Bildern kommen auch Wanderungs- und Austauschprozesse von Bildelementen in den Blick, die bei der isolierten Betrachtung einzelner Exponate zwangsläufig unberücksichtigt bleiben. In Anlehnung an den literaturwissenschaftlichen Begriff der „Intertextualität" werden die Kommunikationsprozesse zwischen den Bildern neuerdings mit dem Terminus der „Interpikturalität" belegt. Siehe hierzu den Sammelband von Valeska von /tosen/Klaus Krüger/Rudolf Preimesberger (Hrsg.): Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, München u.a. 2003. 25 Grundsätzlich zu diesem Problem neuerdings Abigail Green: Fatherlands. State-Building and Nationhood in Nineteenth-Century Germany, Cambridge 2001.
278
Frank Becker
geschickt mit dem nationalen Pathos verquickten. Und die Referenz an das Führungspersonal, das wird später noch deutlich werden, fügte sich unter bestimmten Voraussetzungen sehr wohl auch in das bürgerliche Kriegsbild
ein. Nicht nur bei den Medien, die den Deutungskosmos in Szene setzten, auch bei den sozialen Gruppen, die ihn erzeugt und getragen haben, drängt sich die Frage nach der Notwendigkeit von Differenzierungen auf. Bürgerliche Vorstellungen von den Einigungskriegen sind Vorstellungen von nord- und süddeutschen, linksliberalen oder nationalliberalen, evangelischen und katholischen Bürgern gewesen ganz zu schweigen davon, dass sie 1870, 1890 oder am Vorabend des Ersten Weltkriegs artikuliert wurden. Gerade die Konflikte, die sich in Deutschland noch um die Kriege von 1864 und 1866 rankten, scheinen auf eine ausgesprochen zerklüftete Deutungslandschaft hinzuweisen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Nach 1870/71 wurden auch die beiden anderen militärischen Auseinandersetzungen in eine Vorgeschichte des deutsch-französischen Krieges eingeschmolzen, in eine Trias der jetzt so genannten Einigungskriege, in der sie ihre spezifischen Konturen verloren. Insofern haben wir es seit 1870 mit einer weitgehend homogenen Deutungswelt zu tun. Das Bild des deutsch-französischen Krieges, das kontemporär geschaffen worden war, verfestigte sich in der erinnernden Rückschau und wurde bis zum Ende des Kaiserreichs tradiert, ohne dass die sozialen oder politischen Verschiebungen dieser Jahrzehnte daran rütteln konnten. Auch die politischen und konfessionellen Lager sowie die verschiedenen Regionen befanden sich seit 1870 weitgehend im Konsens nur eine Minderheit von Demokraten und entschiedenen Partikularisten protestierte gegen den Frankreichfeldzug, und jene Katholiken, die im Zeichen des Kulturkampfs gegen manches nationale Symbol, so auch gegen den Sedantag Front machten, taten dies nur mit Rückzug und Verweigerung, nicht aber mit der offensiven Präsentation einer eigenen Deutung der Einigungskriege.26 Gerade die Katholiken aus dem gebildeten Bürgertum standen dabei häufig sogar eher auf der Seite ihrer evangelischen Standesgenossen, als dass sie sich in das Schlepptau des eigenen Klerus nehmen ließen, der dem Nationalismus oft skeptisch begegnete. Vieles spricht dafür, dass der Kriegsmythos in den bürgerlichen Schichten insgesamt eher verbindend gewirkt und dadurch tatsächlich seinen -
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Speziell zum Sedantag auch Frank Becker: Umkämpfte Erinnerung? Sedantage in Münster und Minden (1870-1895), in: Westfälische Forschungen 51 (2001), Themenheft „Erinnerungskultur in Westfalen: Die Weitergabe der Vergangenheit", hrsg. v. Clemens Wischermann, S. 211-233; ders.: 2. September 1870/18. Januar 1871: Selbstbestätigung einer labilen Nation?, in: Conze, EckartlNicklas, Thomas (Hrsg.): Tage deutscher Geschichte. Von der Reformation bis zur Wiedervereinigung, Stuttgart 2004, S. 156-176.
Auf dem Weg zu einer
Anspruch
erfüllt hat,
beizutragen.27
zu
der
„Kulturgeschichte der Ideen"?
Entstehung
einer
gemeinsamen
279
Nationalkultur
Das Bild der Einigungskriege, das in der bürgerlichen Öffentlichkeit entworfen und in erinnernder Aufbereitung tradiert wurde, ist also weitgehend homogen gewesen. Wie hat es den Krieg gezeichnet, wie hat es Armee und Nation interpretiert? Grundsätzlich gilt, dass uns in der Medienwelt der Kriegsjahre und des Kaiserreichs ein Szenario begegnet, das von den Kriegsbeschreibungen, die Politik- und Sozialgeschichte liefern, entschieden abweicht. Während die Politikgeschichte lehrt, dass alle drei Konflikte, auch der Krieg von 1870/71, im Kabinett vorbereitet und beschlossen worden sind, ohne dass bürgerliche Parteien oder bürgerliche Politiker nennenswerten Anteil daran hatten, während die Sozialgeschichte betont, dass im höheren Offizierkorps der preußisch-deutschen Heere kaum Bürgerliche vertreten waren, während also der bürgerliche Anteil am Geschehen de facto sehr gering zu veranschlagen ist, begegnet uns in der Deutungswelt ein ganz anderes Bild: Hier trägt insbesondere der Frankreichfeldzug, der die nationale Einigung letztlich herbeiführte, einen ausgesprochen bürgerlichen Stempel. Fast hat es den Anschein, als hätten die bürgerlichen Schichten ihren geringen faktischen Beitrag durch eine Deutungsoffensive zu kompensieren versucht. Die Definitionsmacht der bürgerlichen Presse ersetzte, was an politischsozialem Einfluss fehlte. Die nationale Einigung, die 1870/71 erreicht wurde, erscheint damit maßgeblich als Verdienst des Bürgertums. Bürgerliche Tugenden wie patriotische Gesinnung, Selbständigkeit des Handelns durch Aufgeklärtheit und Bildung, ja sogar Arbeitsfleiß und Sittenstrenge garantierten die Schlagkraft des Heeres. Wer aber einen hohen Anteil am Sieg hatte, so lautete die Gleichung, konnte auch einen gewichtigen Anteil am Produkt des Sieges, dem neuen Nationalstaat, für sich beanspruchen. Ohnehin war der Weg zur deutschen Nation in der Deutungswelt viel kürzer, als er uns von heutigen Historikern geschildert wird, die nach 1871 noch einen komplizierten Prozess der inneren Nationsbildung am Werke sehen. In den Kriegsdarstellungen nahm schon die aus Kontingenten der verschiedenen Einzelstaaten gebildete Armee die Nation vorweg; das gemeinsam auf den Schlachtfeldern vergossene Blut war der Kitt der Einheit. Die zentrale Rolle von Krieg und Kriegserfahrung bei der Konstituierung von Nationalidentität lässt sich am
27
Zum Problem von Kriegsdeutung und Konfession ausführlicher Frank Becker: Konfessionelle Nationsbilder im Deutschen Kaiserreich, in: Haupt, Utira-GerhatdlLangewiesche, Dieter (Hrsg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt/M. u.a. 2001, S. 389-418, bes. S. 392-402; ders.: Protestantische Euphorien: 1870/71, 1914 und 1933, in: Gailus, Manfred!Lehmann, Hartmut (Hrsg.): Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870-1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbilds, Göttingen 2005 [im Druck].
280
Frank Becker
deutsch-französischen
Krieg beispielhaft studieren. Der Krieg ist der Ausnahmezustand, implizierten viele Darstellungen, in dem sich das Wesen der Nation offenbart. Die Eigenschaften, die den Soldaten und der Armee zugesprochen werden, sind auch die Eigenschaften der Nation, und es kann nicht überraschen, dass die bürgerliche Öffentlichkeit versucht, diese Eigenschaf-
in ihrem Sinne festzulegen.29 Die Unterscheidung zwischen einer Real- und einer Wahrnehmungsgeschiente der Einigungskriege stellt auch andere Einschätzungen in Frage, die uns lange Zeit suggeriert worden sind. So wurde die Akzeptanz der preußischen, später deutschen Wehrverfassung durch die bürgerlichen Parteien zu einer schlichten Verbeugung vor dem Erfolg erklärt: Nachdem diese Heeresorganisation, die aus den Roonschen Reformen hervorging, in den frühen 1860er Jahren von den Liberalen erbittert bekämpft worden war, mussten dieselben Kritiker nach drei erfolgreichen Kriegen einsehen, dass eine Linientruppe ohne größeren Einfluss der bürgerlichen Landwehren doch das schlagkräftigste Instrument in einem modernen Krieg war.30 Die Armee, die von Bismarck eingesetzt wurde, sei in den wesentlichen Zügen ein traditionelles Königsheer gewesen. Indem die bürgerlichen Parteien dieses Heer akzeptierten, gaben sie ihre eigenen wehrpolitischen Ideale weitgehend preis.31 Und indem sich der bürgerliche Militarismus des Kaiserreichs auf eben jene traditionelle Armee bezog, markierte er eine konservative Wende, einen Ein-stellungswandel im deutschen Bürgertum, der sich mit der Unterordnung unter die alten Obrigkeiten und ihre Machtinstrumente verband. Die Welt der Militärs war eine Welt, deren Normen von der Aristokratie, der alten Kriegerkaste geschaffen worden waren, und wenn Bürgerliche diese Welt betraten, gaben sie ihre eigene kulturelle Identität auf, um sich parvenuhaft den Verhaltensweisen einer bewunderten Oberschicht anzupassen. Alle ten
28
Allgemein zu diesem Wechselspiel Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 26-31. 29 Dass Nationalidentitäten nicht per se gegeben, sondern das Ergebnis von Konstruktionsprozessen sind, ist in der Forschung mittlerweile Konsens. Bahnbrechend für diese Auffassung waren die Arbeiten von Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. u.a. 1988; Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne, Berlin 1991; Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M. u.a. 1991. Eine kritische Diskussion des Konzepts neuerdings bei Dieter Langewiesche: Was heißt .Erfindung der Nation'? Nationalgeschichte als Artefakt oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: HZ 277 (2003), H. 3, S. 593-617. 30 Zu Legende und Realität der Umstrukturierung der Armee neuerdings Dierk Walter: Preußische Heeresreformen 1807-1870. Militärische Innovation und der Mythos der „Roonschen Reform", Paderborn u.a. 2003. 1 Diese Ideale hat zuletzt rekonstruiert (gebündelt in den Diskussionen und Maßnahmen der Revolution von 1848/49) Ralf Pröve: Stadtgemeindlicher Republikanismus und die .Macht des Volkes'. Civile Ordnungsformationen und kommunale Leitbilder politischer Partizipation in den deutschen Staaten vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. -
Auf dem Weg
zu
281
einer „Kulturgeschichte der Ideen"?
Theorien, die den bürgerlichen Militarismus des Kaiserreichs mit einer Untertanengesinnung identifizieren, gehen letztlich davon aus, dass die Armee
in ihrem Kern konservativ-obrigkeitlich ausgerichtet war, und dass ein Bekenntnis zur Armee insofern mit Notwendigkeit den Verzicht auf Emanzipation und Mitwirkung ausdrückte.32 Die Einstellung zur Armee hing aber tatsächlich stärker von dem Bild ab, das sich die Zeitgenossen von ihr machten, als von jener realen Gestalt, die uns heute die Militärhistoriker schildern. Welche Eigenschaften schrieben die Bildungsbürger des Kaiserreichs der Armee zu, womit identifizierten sie sich also, wenn sie sich mit der Armee identifizierten? Diese Anknüpfungspunkte werden nur in der Deutungswelt von Krieg und Militär sichtbar, und die Wahrnehmung und Interpretation der Einigungskriege ist ein wichtiger Bestandteil dieser Deutungswelt gewesen. Bei ihrer Analyse zeigt sich, dass der Statusverlust der Landwehren spätestens seit 1866 keineswegs mehr mit einer Entbürgerlichung des Heeres gleichgesetzt wurde. Stattdessen wurde ein neues Identifikationsobjekt für die bürgerlichen Schichten aufgebaut: die allgemeine Wehrpflicht, die nun in ähnlicher Weise wie zuvor die Landwehren die Verbindung von Armee und Nation verkörperte. Über die Wehrpflicht waren die Streitkräfte an die Gesellschaft zurückgebunden, über die Wehrpflicht floss auch der Patriotismus der Bevölkerung in die militärischen Anstrengungen ein. Trotzdem unterschied sich die Teilhabe der Nation an den Streitkräften nun ganz wesentlich von solchen Formen der Partizipation, die der militante Nationalismus seit der Französischen Revolution gefordert hatte33: Es kam auch im Juli 1870, als bei der Konfrontation mit dem .Erbfeind" Frankreich eine große nationale Empörung über die vermeintliche Beleidigung des Preußenkönigs in Bad Ems inszeniert wurde, keineswegs zu einer levée en masse, zur Selbstbewaffnung einer aufgewiegelten Nation, die sich gegen einen feindlichen Übergriff zur Wehr setzt, sondern die Militärverwaltungen der Einzelstaaten setzten mit kühler Präzision eine reguläre Mobilmachung in Gang. Dieser fundamentale Unterschied wurde von der bürgerlichen Öffentlichkeit aber nun gerade goutiert. Am Kommentar zur Mobilmachung lässt sich bereits ablesen, was zur grundsätzlichen Linie der 32
Solche
Einschätzungen
bei Hans-Ulrich Wehler: Wie
„bürgerlich"
war
das Deutsche
Kaiserreich?, in: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 266; lngenlath, Markus: Mentale Aufrüstung. Militarisierungstenden-
in Frankreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M. u.a. 1998, bes. S. 319-327; Doderer, Hans: Die vormilitärische Erziehung der deutschen Jugend in der Kaiserzeit, in: GWU 49 (1998), S. 746-753; Frevert, Ute: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, S. 193 und 206f. 33 Zur Wehrpolitik in der Französischen Revolution neuerdings Wolfgang Kruse: Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789-1799, München 2003; Moran, Daniel (Hrsg.): The People in Arms: Military Myth and National Mobilization Since the French Revolution, Cambridge u.a. 2003. zen
Frank Becker
282
bürgerlichen Kriegsdeutung werden sollte: Einerseits wurde die Teilhabe der Nation am Krieg herausgestrichen, andererseits aber auch betont, wie wichtig die Einbettung des nationalen Engagements in die Strukturen der bestehenden Heeresorganisation war. So wie bei der Mobilmachung die staatlichen Behörden dafür sorgten, dass jeder Wehrpflichtige rechtzeitig seinen Einberufungsbefehl erhielt, dass er sich zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle einfand, um in einem ausgeklügelten System von Eisenbahntransporten zum Kriegsschauplatz befördert zu werden, so galt auch für den gesamten Feldzug, dass sich die Fähigkeiten und das Engagement der Bevölkerung mit der
professionellen Führung durch feste Kader von Offizieren und Unteroffium einen optimalen Wirkungsgrad zu erreichen. vergeudete sich die nationale Begeisterung sehr
zieren verknüpfen mussten, Fehlte diese Führung, dann
schnell in unkoordiniertem Aktionismus; die französischen Volksheere, die nach der Revolution vom 4. September 1870 von der französischen Republik aufgestellt wurden, lieferten dafür den besten Beweis. Das Verhältnis von Staat, Armee und Gesellschaft wurde in der Deutungskultur der Einigungskriege also neu bestimmt. Die Armee war nicht die bewaffnete Gesellschaft, wie es viele Nationalisten seit jeher gefordert hatten, aber sie war keineswegs auch nur ein Werkzeug des Staates, wie es der Tradition der stehenden Fürstenheere entsprochen hätte. Der Staat behielt die Zügel in der Hand, aber er öffnete sich über die allgemeine Wehrpflicht zur Gesellschaft, deren Kräfte er gleichsam in sich hineinsaugte, ohne mit ihr identisch zu werden. Das Engagement der Gesellschaft, die Talente und Fähigkeiten der Bürger, die allesamt in einer großen Nationalarmee ihren Ort fanden, an dem sie gebraucht wurden und erfolgsdienlich einzusetzen waren, wurden vom Staat aufgegriffen und genutzt, aber gleichzeitig auch in die Kanäle einer straffen Organisation geleitet. Das Potential, das nationalisierte Massen für die Kriegführung des 19. Jahrhunderts bargen, das ganz neue Möglichkeiten für ihren Transport durch die Eisenbahn und ihre Koordinierung durch die Télégraphie bereithielt34, wurde also nicht brach liegen gelassen, sondern konsequent verwertet; der Staat und die militärische Führung wurden in neuer Weise legitimiert, indem nur sie die gigantische Aufgabe der Organisation und Leitung einer solchen Massenmobilisierung zu schultern vermochten. Bei diesem Projekt waren beide Faktoren gleichermaßen wichtig, die Führung von oben ebenso wie das Mittun von unten. Damit wurde die Armee zum Modell für eine gelungene Mischung von Führung und Partizipation, von staatlicher Lenkung und Teilhabe der Bevöl-
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34
-
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Zu diesen Veränderungen bei der Kriegführung: Förster, Stig/Nagler, Jörg the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of 1861-1871, Cambridge/New York 1997.
(Hrsg.):
On
Unification,
Auf dem Weg zu einer „Kulturgeschichte der Ideen"?
283
kerung: Wie gelungen diese Mischung war, bewies die atemberaubende Siegesserie der preußisch-deutschen Armeen.35 Diese Konstruktion erlaubte es der bürgerlichen Öffentlichkeit, sich in hohem Maße mit der kämpfenden Truppe zu identifizieren. Nicht nur die Erfolge der Truppe wurden begrüßt, weil sie das eigene Ziel, die nationale Einigung, herbeiführten, sondern die Organisationsstruktur der Armee selbst wurde mit bürgerlichen Zielen und Ansprüchen in Übereinstimmung gebracht. Das deutet darauf hin, dass sich der bürgerliche Militarismus im Kaiserreich auch insgesamt viel stärker mit Partizipationsansprüchen verband, als nur der adeligen Kriegerkaste und den Instrumenten der Obrigkeit seine Bewunderung zu zollen. Die Thesen, die bislang die wissenschaftliche Dis-
kussion um den Militarismus im Kaiserreich beherrscht haben, müssen insofern korrigiert werden: Es trifft nicht zu, dass alle bürgerlichen Wehrideale im Heeres- und Verfassungskonflikt der frühen 1860er Jahre beerdigt wurden und erst ab ca. 1890 in Verbindung mit dem Beginn der Flottenagitation und Konzepten von Massenmobilisierung, wie sie später in das Programm des Deutschen Wehrvereins eingingen, wieder hervortraten, um sich im Sinne eines „doppelten Militarismus"36 an die Seite des konservativ-obrigkeitlichen Militarismus zu stellen, der in der Zwischenzeit das Feld praktisch allein bestellte. Stattdessen gab es auch in den Jahren zwischen 1860 und 1890 ein Fortschreiben bürgerlicher Wehrideale, für die das preußisch-deutsche Heer ohne Bedenken als Projektionsfläche in Anspruch genommen wurde. Hierbei wurden traditionelle und bürgerliche Komponenten aber keineswegs nur schlicht nebeneinander gestellt. Ein zeitliches Vorziehen des doppelten Militarismus in die Zeit der Einigungskriege und des frühen Kaiserreichs löst das Problem also nicht. Bürgerlicher und konservativer Militarismus traten in ein komplizierteres Verhältnis ein. Die Bewertung des Wechselspiels von professioneller Führung einerseits, nationalem Engagement andererseits hat bereits in diese Richtung gewiesen. Offensichtlich mussten beide Elemente zusammenkommen, um ein Höchstmaß an militärischer Effizienz zu erreichen. Weder ein traditionelles Königsheer noch eine 35
Individuelles Engagement und individuelle Leistungen, wie sie noch in den Freiheitskriegen betont worden waren, spielten insofern keine Rolle mehr. Gefeiert wurde nicht der
Heroismus von einzelnen, sondern die unwiderstehliche Geschlossenheit der gesamten Maschinerie. Das führte dazu, dass der Krieg von 1870/71 ohne besondere „Helden" auskommen müsste. Auf der Basis anderer Quellen ist diese Beobachtung bestätigt worden von René Schilling: „Kriegshelden". Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813-1945, Paderborn u.a. 2002, S. 31. 36 Dieser Begriff bei Stig Förster: Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-Quo-Sicherung und Aggression 1890-1913, Stuttgart 1985. Förster hat seine Auffassung später leicht modifiziert, im Prinzip aber bis zur Gegenwart beibehalten. Siehe ders.: Militär und Militarismus im Deutschen Kaiserreich, in: Wette, Wolfram (Hrsg.): Militarismus in Deutschland 1871-1945. Zeitgenössische Analysen und Kritik, Münster 1999, S. 63-S0, hier S. 66f.
284
Frank Becker
Nationalarmee nach dem Muster der französischen Revolutionsheere hätte auch nur annähernd die Leistungsfähigkeit des preußisch-deutschen Mischsystems erreicht. Diese Mischung darf aber nicht als Kompromiss zwischen konservativen und bürgerlichen Konzepten missverstanden werden. Bei einem Kompromiss machen beide Seiten Abstriche von ihren Ausgangspositionen, um sich auf einen häufig relativ kleinen gemeinsamen Nenner zu einigen. Der Kriegskommentar der bürgerlichen Öffentlichkeit lässt aber keinen Zweifel daran, dass die eigenen Wehrideale durch die Amalgamierung mit den traditionellen Führungsstrukturen nicht geschmälert wurden. Im Gegenteil: Diese Verschmelzung verschaffte ihnen eine Durchschlagskraft, die sie allein niemals erreicht hätten. Offensichtlich wurde die Kombination der beiden Konzepte als eine Synthese im Sinne Hegels gedacht: Indem These und Antithese in dieser Synthese aufgingen, wurden sie gleichzeitig auf ein höheres Niveau heraufgehoben, d.h. gewannen eine neue, verbesserte -
Qualität.37 Diese
Kriegsdeutung
hatte auch für den
-
Nationsbegriff der bürgerlichen
Öffentlichkeit weitreichende Konsequenzen. Weil der Krieg
das Wesen der Nation offenbarte, weil der Krieg der Geburtshelfer des Nationalstaats war, wuchs auch den Überlegungen zur Wehrorganisation ein paradigmatischer Charakter zu. Die gelungene Synthese von Führung und Partizipation war das Erfolgsgeheimnis der Streitkräfte gewesen, und sie eignete sich insofern auch als Modell für den Aufbau des Nationalstaates. Damit wurden die Einigungskriege, insbesondere der deutsch-französische Krieg, auch zu einem politischen Mythos: einer Erzählung, einem narrativen Stereotyp, das immer wieder aufs Neue vorgetragen wurde, um Herkunft und Aufbau des Gemeinwesens zu veranschaulichen, zu deuten und zu legitimieren.38 Manche Kommentatoren gingen so weit, das allgemeine Wahlrecht mit der allgemeinen Wehrpflicht, die Regierungsgewalt der Fürsten hingegen mit der Kommandogewalt der Offiziere zu analogisieren. Wenn die intelligente Verknüpfung von Lenkung und Teilhabe die Armee zu großartigen Siegen geführt hatte,
Insofern lässt sich für das frühe Kaiserreich auch von einem „synthetischen Militarismus" sprechen. Dazu ausführlich Frank Becker. Strammstehen vor der Obrigkeit? Bürgerliche der Einigungskriege und Militarismus im Deutschen Kaiserreich, in: HZ 277 (2003), H. 1, S. 87-113; ders.: Synthetischer Militarismus. Die Einigungskriege und der Stellenwert des Militärischen in der deutschen Gesellschaft, in: Epkenhans, MichaeVGroß, Gerhard P. (Hrsg.): Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan, München 2003, S. 125-141; „Bewaffnetes Volk" oder „Volk in Waffen"? Militarismus und Militärpolitik in Frankreich und Deutschland 1870-1914, in: Jansen, Christian (Hrsg.): Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich, Essen 2004, S. 158-174. 38 Zur Theorie des politischen Mythos auch Frank Becker: Begriff und Bedeutung des politischen Mythos, in: Stollberg-Rilinger, Barbara (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 35).
Wahrnehmung
Auf dem Weg
zu
einer „Kulturgeschichte der Ideen"?
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sich herausgestellt hatte, dass die preußisch-deutsche Heeresverfassung effizienter und damit moderner war als jedes andere Wehrsystem in Europa, dann war auch davon auszugehen, dass ein entsprechend strukturiertes Gemeinwesen funktionstüchtig und konkurrenzfähig sein müsste. Die positive Bewertung des Kaiserreichs, der Art und Weise, wie hier Lenkung von oben ergänzt wurde durch ein Mitgetragen-Werden von unten, leitete sich gewiss nicht unwesentlich auch von der Deutung der Einigungskriege her. Damit trugen die Bismarck-Kriege auch zur Entstehung bzw. Bestätigung eines Sonderwegsbewusstseins in Deutschland bei. Dieses Sonderwegsbewusstsein wenn
als
positives Selbstdeutungsmuster, das von einem realgeschichtlichen Sonderweg, wie er nach Auskunft der neueren Forschung von Deutschland in den
meisten Bereichen eben nicht beschriften wurde, klar zu unterscheiden ist, fand in der Deutungswelt der Einigungskriege seine Leitbilder und sein Anschauungsmaterial vor.39 Die militärischen Konflikte an der Schwelle zur Reichsgründung haben zwar nicht zur Entstehung, aber zur Neufassung dieses Musters im Sinne der Betonung von autoritär-partizipatorischen Mischformen maßgeblich beigetragen. Hinzu kam jetzt die massive Aneignung durch das deutsche Bildungsbürgertum, das in der Folge dafür sorgte, dass die Rede vom deutschen Sonderweg zu einem wichtigen Element der politischen Kultur des Kaiserreichs wurde. Selbstverständlich lassen sich nicht alle Vorstellungen, die den Themenkomplex Krieg und Militär betrafen, aus dem Bild der Einigungskriege herleiten. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass solche Vorstellungen in den breit gefächerten Diskurs zur Deutung der Einigungskriege einflössen und dort auch auffindbar sind, solange dieser Diskurs noch eine herausragende Rolle in der Öffentlichkeit des Kaiserreichs spielte. Als er spätestens seit der Jahrhundertwende an Gewicht verlor, konnten sich neben ihm andere Kriegsdeutungen etablieren, von denen die Darstellung der Einigungskriege unberührt blieb. So sorgten seit 1900 verschiedene Kolonialkriege und eine sprudelnde Literatur zum ,.Krieg der Zukunft" dafür, dass der Denkhorizont der Soldaten von 1914 gewiss nicht allein von den Erinnerungen an den Frankreichfeldzug ihrer Großväter beherrscht wurde.40 39
den deutschen Sonderweg siehe: Grebing, Helga: Der „deutsche Son1806-1945. Eine Kritik, Stuttgart 1986; Welskopp, Thomas: Identität ex negativo Der „deutsche Sonderweg" als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. Referat für die Sektion „Krisen und Konjunkturen der .nationalen Meistererzählungen' im geteilten Deutschland" auf dem 43. Historikertag in Aachen, September 2000; Spenkuch, Hartwin: Vergleichsweise besonders? Politisches System und Strukturen Preußens als Kern des „deutschen Sonderweges", in: GG 29 (2003), H. 2, S. 262-293. 40 Neuere Arbeiten zur öffentlichen Kriegsdeutung im Sommer 1914 haben vorgelegt: Raithel, Thomas: Das „Wunder" der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996; Rosenberger, Bernhard: Zeitungen als Kriegstreiber? Die Rolle der Presse im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, Zur Debatte
um
derweg" in Europa -
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Frank Becker
Wenn ein Fazit versucht wird, inwiefern diese Ideen- und Deutungsgeschichte der Einigungskriege und des bürgerlichen Militarismus auf theoretisch-methodischen Grundlagen fußt, die im Hinblick auf die Diskussion um eine neue Geistesgeschichte verallgemeinerbar oder zumindest von Interesse sein könnten, kristallisieren sich sehr schnell einige wesentliche Aspekte heraus. An erster Stelle ist sichtbar geworden, wie viel Plausibilität Pococks Annahme der Existenz von Deutungssystemen, die traditionelle Einteilungskategorien des Sozialen wie Konfession, Generation, Region etc. transzendieren, nach wie vor besitzt. Die völlige Ablösung der Diskurs- von der Sozialgeschichte ein Vorwurf, mit dem Pocock häufig konfrontiert wurde ist dadurch vermieden worden, dass von vornherein auf eine bestimmte Trägergruppe, die bürgerlichen Schichten nämlich, rekurriert wurde. Dabei stellte sich heraus, dass sich die Deutung von Krieg und Nation in diesem zerklüfteten Milieu über die Stationen 1864, 1866 und 1870/71 hinweg mehr und mehr vereinheitlichte. Anstatt die Eigendynamik des Diskurses einfach zu unterstellen, anstatt die Sprechersubjekte von vornherein zu vernachlässigen, jedenfalls nicht mehr angemessen sozial zu verorten, hat sich der überwölbende Charakter einer bestimmten Kriegsdeutung erst aufgrund des empirischen Befundes als Ergebnis der Untersuchung herauskristallisiert. Damit ist auch die Brücke zu einer zentralen Annahme der Bürgertumsforschung geschlagen: Die Definition dessen, was bürgerlich ist, kann nur sehr bedingt auf der Basis sozialstruktureller Faktoren erfolgen; die Partizipation an einer bestimmten Kultur, an Weltbildern, Werten und Verhaltensmustern erweist sich als das überzeugendere Kriterium.41 In diesem Sinne hat sich das Bürgertum der Reichsgründungsära zu einem hohen Anteil auch über eine gemeinsame Einstellung zu Krieg und Militär konstituiert. Hier ist die gesellschaftliche Gestaltungskraft von Ideen wahrlich mit Händen zu greifen: Eine bestimmte Deutungswelt gehört zu jenen Kohäsionskräften, die aus verschiedenen Gruppen in ganz unterschiedlichen sozialökonomischen, politischen und regionalen Bezügen eine größere Formation wie das deutsche Bürgertum hervorgehen lassen. -
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Köln u.a. 1998; Beßlich, Barbara: Wege in den ,Kulturkrieg'. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, Darmstadt 2000; Bruendel, Steffen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat? Die „Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. 41 Kocka, Jürgen: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 42f.; Lepsius, M. Rainer: Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: ebd., S. 89 und S. 91; Kaschuba, Wolfgang: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3, München 1988, S. 16f.; Hübinger, Gangolf: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 17ff.
Auf dem Weg
zu
einer „Kulturgeschichte der Ideen"?
287
Über den bisherigen Stand der ideengeschichtlichen Forschung hinaus ging die Kombination
Text- und
Bildanalysen. Bisher sind solche Untersueinander chungen getrennt durchgeführt worden. Stattdessen wurden Texte und Bilder nun nebeneinander gestellt und auf der Basis derselben, an der Identifizierung rekurrenter Deutungsmuster orientierten Methode analysiert. Da sich das Kriegsbild der Zeitgenossen gewiss aus sprachlichen und aus visuellen Darstellungen speiste, wurde diese Methode schon vom Untersuchungsgegenstand erzwungen. Sie brachte aber auch den Vorteil mit sich, den Blick für die unterschiedlichen medialen Einbettungen der Ideen zu schärfen. In den Texten verknüpfen sie sich mit den unterschiedlichsten Konfigurationen und Narrationen, auf den Bildern werden sie von visuellen Zeichen transportiert. Die klassische Ideengeschichte hat Ideen oft nur dort anzutreffen vermeint, wo sie explizit vorgetragen wurden. Das ist ein viel zu enger Fokus gewesen. Nachdem die Sozialgeschichte der Ideen auch die zweitrangigen Texte und die Denkweisen größerer Bevölkerungsgruppen einbezogen hat, muss eine Kulturgeschichte der Ideen nun auch die gesamte Breite der möglichen medialen Aufbereitungen weltanschaulicher Aussagen erfassen und dabei die nötige Sensibilität für die Interpretation dieser Aufnur
von
von
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bereitungen mitbringen.
Noch zwei weitere Unterschiede zur bisherigen ideengeschichtlichen Forschung sind zu nennen. Anstatt eine einzelne Idee isoliert zu betrachten, wie es traditionell zumeist geschehen ist, wurde eine Ideengeschichte des Krieges mit einer Geschichte der Nationalidee verknüpft. Dabei konnte gezeigt werden, wie stark die beiden Ideen aufeinander bezogen waren, wie sie sich miteinander zu einem komplexen Deutungssystem verbanden. Außerdem wurde der ideengeschichtliche Ansatz nicht nur dazu verwendet, gleichsam selbstzweckhaft bestimmte mentale Zugänge zur Wirklichkeit zu rekonstruieren, sondern gleichzeitig die Verbindung zu einer klassischen Fragestellung der Politik- und Sozialgeschichte gesucht: indem nämlich eine neue Perspektive auf das Problem des bürgerlichen Kriegsbildes und des bürgerlichen Militarismus im Kaiserreich eröffnet wurde. Das Anliegen bestand nicht nur darin, bestimmte Weltbilder und Denkweisen möglichst wirklichkeitsnah zu rekonstruieren, sondern gleichzeitig sollte auch mit Nachdruck die Relevanz von Ideen für das gesamte politisch-soziale Geschehen betont werden. Der ideengeschichtliche Ansatz hat es erlaubt, ein neues Licht auf den bürgerlichen Militarismus im Kaiserreich zu werfen. In ähnlicher Form könnten sicherlich viele Probleme, die bisher in der Politik- und Sozialgeschichte verhandelt worden sind, durch die Hinzuziehung der Perspektive einer Neuen Ideengeschichte profitieren. Jede menschliche Praxis ist an bestimmte Annahmen über die Welt und das richtige Handeln in ihr zurückgebunden, und sie kann nur adäquat analysiert werden, wenn diese Dimension nicht unterschlagen wird.
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Veröffentlichungen: von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, hrsg. v. Dietrich ßeyrau/Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael; Bd. 7). Ders.: Die Anfange der deutschen Kriegsfotografie in der Ära der Reichseinigungskriege (1864-1871), in: Eisermann, Thilo u.a. (Hrsg.): Propaganda. Von der Macht des Wortes zur Macht der Bilder, Hamburg 1998, S. 69-102. Ders.: Bilder von Krieg und Nation. Der Frankreichfeldzug von 1870/71 in der deutschen Graphik und Malerei, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 5 (1999),
Becker, Frank: Bilder
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Ideenzirkulation und Buchmarkt. Am Beispiel der konfessionellen und politischen Sortimentsbuchhandlungen im Kaiserreich
Gangolf Hübinger/Helen Müller
Einleitung Unser
Beitrag zum Forschungsschwerpunkt „Ideen und ihre soziale Gestaltungskraft im neuzeitlichen Europa" war an der Europa-Universität Viadrina
zwischen 1997 und 2002 dem Thema „Intellektuelle und Politik in der Entstehung der europäischen Massenkommunikationsgesellschaft, 1880-1930" gewidmet. Wir haben uns unter drei Aspekten mit den neuartigen Rollen von Buchverlagen und Intellektuellen im Strukturwandel von liberalen Bürgergesellschaften zu industriekapitalistischen Massendemokratien befasst. Gefragt wurde, erstens, nach der Bedeutung von Verlagen für die Etablierung eines Massenmarktes für geistige Produkte, zweitens, nach ihrer Funktion für die Herausbildung des Typs des modernen Intellektuellen und drittens nach ihrem aktiven Beitrag für die Neu- bzw. Umordnung von Wissen im Zeitalter wissenschaftlicher Großforschung.1 Konzeptionell haben wir dazu den Blick auf die Rolle von Ideen in Verbreitungs- und Kommunikationsprozessen einerseits sowie auf die Funktion von Ideen in Wissens- bzw. Wissenschaftsordnungen andererseits gerichtet. Ideen werden hier verstanden als Leitvorstellungen bzw. Kulturwerte, an denen Individuen oder Gruppen ihr Handeln mehr oder weniger verbindlich ausrichten. Dazu waren die spezialisierten Forschungszweige der Buchgeschichte und der Intellektuellengeschichte sozialgeschichtlich mit Hilfe von Modellen zu verknüpfen, wie sie Robert Darnton mit seinem Angebot des ,,Kommunikationszirkels", Roger Chartier mit den Konstellationsanalysen von „Texts, Printing, Readings" oder Pierre Bourdieu mit seiner Theorie des „literarischen Feldes" als „Kampf um die symbolische oder kulturelle Macht"2 entwickelt haben. Methodisch wurde dadurch eine Verbindung von 1 Vgl. an einem konkreten Fall Müller, Helen: Wissenschaft und Markt um 1900. Das Verlagsunternehmen Walter de Gruyters im literarischen Feld der Jahrhundertwende, Tübingen 2004, zugleich Dissertation in Frankfurt (Oder) im Rahmen dieses DFGFörderschwerpunkts. 2 Zur Systematisierung seiner vorrevolutionären Buchforschung in Frankreich hat der Kulturhistoriker Robert Darnton einen „Kommunikationszirkel" entwickelt und hinzugefügt: „Mit geringen Modifikationen dürfte er sich auf alle Epochen in der Geschichte des
Buches anwenden lassen", Darnton, Robert: Was ist die Geschichte des Buches?, in: ders.: Der Kuß des Lamourette, München 1998, S. 66-97, Zitat S. 72 zum Modell auf S. 70; diese Überlegung haben wir aufgegriffen und modifiziert; Chartier, Roger: Texts, Printing,
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Gangolf Hübinger/Helen Müller
Intellektuellengeschichte
und Verlagsgeschichte hergestellt und als neue im Sinne des Schwerpunktprogramms deshalb verstanden, Ideengeschichte weil sich in empirischen Konstellationen erschließen lässt, wie Intellektuelle als gesellschaftlich anerkannte „Spezialisten für den Umgang mit symbolischen Gütern"3 Ideenzirkulation betreiben und auf welche Weise Verleger die Produktion und Zirkulation von Ideen „marktfähig" machen. Für die europäische Vergleichsperspektive haben wir im Verlauf des Forschungsprojekts den Versuch unternommen, Teilprozesse der Ökonomisierung, Demokratisierung und Professionalisierung des Buchwesens unter anderem anhand von Eckdaten zur Ausdifferenzierung der nationalen Verlagslandschaften herauszuarbeiten.4 Die Leitfrage richtete sich in theoretischer Hinsicht darauf, wie auf dem neuen Massenmarkt für Druckmedien in den europäischen Industriegesellschaften Prozesse „kultureller Vergesellschaftung" eingeleitet und gesteuert wurden. Hier sollen nun in Ergänzung zu einem früheren Beitrag über politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage im Kaiserreich", der im Rahmen der groß angelegten „Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert" erschienen ist, die konfessionellen und politischen Sortimentsbuchhandlungen exemplarisch für unsere empirische Vorgehensweise behandelt werden. Drei Konstellationen sind dabei für die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs besonders auf-
schlussreich:5 1. Die Lesesteuerung der protestantischen und der katholischen Kirche, wobei im Katholizismus die Buchkultur stärker homogenisierende Wirkung erzielte, im Protestantismus dagegen die Polarisierung zwischen kulturprotestantischem und konservativem Milieu bestärkt wurde.
Readings, in: Hunt, Lynn (Hrsg.): The
New Cultural History. Berkeley: University of California Press 1989, S. 154-175; mit den Kategorien von Bourdieu ist die europäische Vergleichsstudie von Christophe Charle gearbeitet: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1996, Zitat S. 16. 3 Charle: ebd., S. 10. 4 Hübinger, Gangolf: Ideenzirkulation und Buchmarkt. Ein Themenschwerpunkt zu neuen Konstellationen der Verlags- und Intellektuellengeschichte, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 27 (2002), S. 116-124; ders.: Verleger als Kulturberuf in der entstehenden europäischen Massenkommunikationsgesellschaft, in: Buchhandelsgeschichte 2001/1 (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel Nr. 23 vom 20. März 2001), B20-B29; Müller, Helen: Verlagswesen und europäische Massenkommunikaum 1900, in: IASL 27 (2002), S. 170-197. tionsgesellschaft 5 Hübinger, Gangolf/'Müller, Helen: Politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage im Kaiserreich, in: Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1870-1918, Teil 1, im Auftrag der Historischen Kommission hrsg. v. Georg Jäger in Verbindung mit Dieter Langewiesche und Wolfram Siemann, Frankfurt/M. 2001, S. 347^105.
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Ideenzirkulation und Buchmarkt
2. Die literarische Mobilisierung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und die Stagnation des Liberalismus. Nicht zuletzt dank ihrer J^eserlenkung" durch die etwa 200 Presseorgane, mit denen bis 1910 regelmäßig über 1,2 Millionen Mitglieder und Anhänger erreicht wurden, konnte sich innerhalb der Arbeiterbewegung der weltanschauliche Marxismus Karl Kautskys gegenüber dem „Revisionismus" Eduard Bernsteins durchsetzen. Der J. H. W. Dietz-Verlag repräsentierte am Vorabend des Ersten Weltkriegs die gesamte intellektuelle Breite der deutschen Sozialdemokratie. Das sozialdemokratische Verlagswesen verschaffte seinem Milieu eine noch stärkere Binnenintegration, als es im Katholizismus der Fall war. Nicht überraschend, hat es im bürgerlichen Liberalismus eine derartige verlagspolitische Machtstellung nicht gegeben. Die liberalen Bildungsschichten fühlten sich zu stark mit dem Geist des protestantischen Kulturidealismus verwoben, um sich mit einem eigenen Verlagszentrum im literarischen Feld zu positionieren. ,
3. Den intellektuellen Gestaltwandel des Konservatismus, den man in einen Zusammenhang bringen kann mit den religiösen, politischen und ästhetischen Suchbewegungen der neuen kleinen Weltanschauungsverlage. Ebenso wenig wie den Liberalen gelang es den Konservativen, sich im neuen publizistischen Massenmarkt organisatorisch zu festigen. Der ständische Konservatismus im Umfeld der Deutsch-konservativen Partei, auf der Verlagsebene etwa repräsentiert durch den Mittler-Verlag, die nationalistische Sammlungsideologie des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes, repräsentiert durch die Hanseatische Druck- und Verlagsanstalt, oder die im Umfeld der „konservativen Revolution" und der lebensreformerischen Zivilisationskritik beginnende „Kulturalisierung des Konservatismus" (Axel Schild), repräsentiert durch eine Vielzahl zumeist völkischer Kleinstverlage, unterhielten soweit bekannt keine eigenen Sortimentsbuchhandlungen.
-
-
Das Adreßbuch des Deutschen Buchhandels nennt für das Reichsgründungs1871 die Zahl von 2 354 und für das erste Kriegsjahr 1914 die Zahl von 7 273 reinen Sortimentern, also frei wirtschaftenden Ladengeschäften mit ihren dort vorrätigen Buchbeständen ein wichtiger Indikator für die Expansion des Buchhandels.6 Für eine Darstellung der religiösen und politischen Buchlandschaft bleibt der Zusammenhang von Sortiment und Verlag wichtig, da sich in der Regel darüber die weltanschaulichen Bezüge ergaben7: Der Massenmarkt des späten 19. Jahrhunderts brachte auch für das konfessionell
jahr
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6
Adreßbuch des Deutschen Buchhandels, Jg. 87 (1925), S. XXV. Vgl. Hübinger/Müller: Politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage. Im folgenden Beitrag handelt es sich um die leicht gekürzte und veränderte Fassung eines Kapitels für die „Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1870-1918, Teil 3. 7
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Gangolf Hübinger/Helen Müller
und
politisch ausgerichtete Sortiment jene tief greifende Veränderung, die sich vor allem in einer verschärften Wettbewerbssituation verschiedener Vertriebsnetze äußerte.8 Nicht nur die neuen Vertriebsformen durch Kolportage-, Kaufhaus- oder Bahnhofsbuchhandel machten den konfessionell oder parteipolitisch gebundenen Sortimentern überregionale Konkurrenz und banden die Kaufkraft ihrer traditionellen Leserschaft. Darüber hinaus entstanden neue Verkaufsstrategien, die als Reaktion auf den „Massenabsatz" weltanschaulich gebundenen Schrifttums gesehen werden können. Diese manifestierten sich etwa in der Arbeit des katholischen Borromäusvereins oder des protestantischen Christlichen Zeitschriftenvereins, die den Sortimentern der großen katholischen Verlagshäuser auf der einen sowie den eingesessenen protestantischen Vereinsbuchhandlungen auf der anderen Seite mit offensiver Werbearbeit die Kunden wegnahmen. Für das sozialdemokratische Milieu wurden wiederum die von der Partei geförderten Leihbibliotheken zu einem wichtigen Angelpunkt sozialdemokratischer Bildungsarbeit, die die Ausdifferenzierung eines eigenen sozialdemokratischen Sortimentergeschäftes eher hemmten als förderten. Die Erweiterung der ideengeschichtlichen Perspektive über die Buchverlage und ihre intellektuellen Hausautoren hinaus auf die Entwicklung und Eigentümlichkeiten des weltanschaulich gebundenen Buchhandels mag ungewöhnlich erscheinen. Aber erst die Berücksichtigung auch dieser Verkaufsgeschichte geistiger Produkte rundet die Verlags- und Intellektuellengeschichte, der unser Projekt gewidmet war, in ihrer wirkungsstrategischen Bedeutung für die großen kulturellen Milieus des Kaiserreichs ab. In vier Abschnitten sind der katholische, der protestantische, der sozialdemokratische und der jüdische Sortimentbuchhandel thematisiert. Katholischer Sortimentsbuchhandel Der katholische Buchhändler Josef Waibel aus Freiburg beklagte sich im Kriegswinter 1917/18 in Form von Briefen an seine Söhne eine autobiographisch gefärbte Klage über die soziale Lage seines Berufsstandes. Im Rückblick auf die Entwicklung des katholischen Buchmarktes in den Friedenszeiten des Kaiserreichs wertete er seine religiöse Motivation, „als christlicher Volksbuchhändler ein segensreiches Laienapostolat verwirklichen zu können", als kaum lösbaren Zielkonflikt mit den Maximen kaufmännischer Gewinnkalkulation. Ein katholischer Sortimenter könne über das Existenzminimum nicht hinausgelangen, es sei denn, er vertreibe neben seinem Sortiment eine „Zentrumszeitung mit 40 000 Abonnenten". Der Gegensatz von Berufs8
Vgl. Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels, München 1991, S. 289.
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arbeit und Glaubensüberzeugung schien Waibel allerdings nicht durch die klassische Doppeldeutung vom Buch als „Ware" und als „Geistesprodukt" derart verschärft zu sein. Den gravierenderen Konflikt machte er zwischen dem einzelnen Sortimenter als Privatunternehmer und der machtvollen Verbandsstruktur der katholischen Amtskirche mit ihren eigenen Vertriebssystemen katholischer Literatur in gut organisierten Vereinen und mit Hilfe der katholischen Verlagshäuser aus: „Die katholischen Sortimenter verspüren es recht gut, was schon das bloße Dasein eines Vereins, wie z. B. des Borromäusvereins, für sie bedeutet, dessen Leistungen bis 1909 auf ca. 23 Millionen Mark angegeben wird. Im Jahre 1912 zählte der Verein 4 432 Volksbüchereien bzw. Vereine mit 237 049 Mitgliedern. Jedes Mitglied erhält entsprechend seinem Beitrag (M[ark] 6.-, 3.-, 1.50) eine Büchergabe nach eigener Wahl; sämtliche Überschüsse werden zum Ausbau der Volksbüchereien verwendet. So lieferte der Verein i. J. 1912 in die Hausbüchereien 475 303 Bände, in seine Bibliotheken geschenkweise 84 426 Bände, auf Bestellung 14 800, als Wanderbibliotheken 8 227 Bände. Der Gesamtumsatz belief sich auf 724 820 M. und 522 756 Bücher. Seine Volksbüchereien verzeichnen im gleichen Jahre einen Bücherbestand von 1 770 141 Bänden und 5 070 074 Entleihungen. 284 000 Bücher wurden neu eingestellt, 77 415 M. und 16 025 Bücher von privater Seite geschenkt. Die Büchereien haben durchaus öffentlichen Charakter. Sie wurden 1912 von 70 947 Nichtmitgliedern benutzt. Der Verein hat sich zum Ziele gesetzt, durch durchgreifende Agitation an jedem Ort mit katholischer Bevölkerung eine Bibliothek zu gründen, durch Wanderkonferenzen die breite Öffentlichkeit, namentlich aber Lehrer, Geistliche, Studenten, für die Bibliotheksfrage zu interessieren, die Bibliotheksleiter größerer Bezirke zu ständigen Konferenzen zusammenzuschließen und durch Gründung einer eigenen Bibliothekarschule die Bibliotheksleiter zu schulen."9 Unter der Frage „Wer schützt den katholischen Laienbuchhandel?" hatte Waibel als Sprecher der katholischen Sortimenter diese Zahlen an den Börsenverein der deutschen Buchhändler übersandt, im Vertrauen darauf, dass seine überkonfessionelle Standesvereinigung ihn gegen seine konfessionsinternen Konkurrenten aus dem katholischen Vereins- und Verlagswesen unterstützen möge. Das strukturelle Problem, das hier zwischen Buchhändlern und Verlegern generell zum Ausdruck kommt, wurde in der Buchhandelsgeschichte lange Zeit heruntergespielt. Gerhard Menz leitet seine „Lebensbilder führender Männer des Buchhandels" von 1925 mit einer Betonung des ideellen Aspektes ein: „Weil beim Buch in der Herstellung auch schon die Idee der Verbreitung mit enthalten ist, stehen sich überhaupt Buchherstel-
9
Waibel, Josef: Am Wendepunkt des christlich nationalen Buchhandels! Was lehrt uns die Leidensgeschichte der vergangenen katholischen Vertriebsbuchhandels für's neue Deutschland?, Freiburg 1917/18, S. 86.
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1er (Verleger) und Buchvertreiber (Sortimenter) gar nicht in dem Sinne scharf als Produzent und Händler gegenüber, wie das für andere Waren ohne weiteres gilt. [...] Herstellung und Vertrieb bilden daher beim Buch mehr als bei wohl allen anderen Waren notwendigerweise ein zusammenhängendes Ganzes. Mehr als jeder andere Händler muß sich der Buchhändler dabei noch besonders bewußt bleiben, daß er nicht so sehr sich selber dient als vielmehr in erster Linie der geistigen Tendenz seiner Ware."10 Der katholische Regensburger Verlagsbuchhändler Friedrich Pustet nutzte den Platz, den ihm die protestantische Enzyklopädie ,Jteligion in Geschichte und Gegenwart" in ihrer zweiten Auflage einräumte, um in dem Artikel „Katholischer Buchhandel" diesen weltanschaulichen Dienst gegenüber ökonomischen Differenzierungen noch deutlicher hervorzuheben: ^ür den kath. B. als einen spezifisch weltanschaulich gerichteten Teil des Gesamtbuchhandels ist es charakteristisch, daß er sich in seiner Gesamttätigkeit bewußt von den Grundsätzen leiten läßt, die in der objektiven Norm der kath. Weltanschauung gegeben sind. Zum kath. B. zählen also nicht solche Unternehmungen, die, mögen sie auch kath. Literatur neben anderen Büchern verbreiten, doch in ihrer Gesamttätigkeit sich nicht an diese Norm gebunden halten. Anderseits entspricht es dem Wesen des kath. B.s durchaus, daß er neben der religiösen Literatur auch profane Gebiete im Sinne dieser einheitlichen Einstellung pflegt. Unterschiede in der Unternehmungsform zwischen rein gewerblichen Firmen einerseits und Gründungen von Vereinen, geistlichen Organisationen usw. andererseits sind für die Begriffsbestimmung unwesent-
lieh."11
Tatsächlich waren die Unterschiede bedeutend, das zeigt die Geschichte des Borromäusvereins. Idee des 1844 gegründeten und in Bonn angesiedelten Borromäusvereins lag in der Ausstattung der katholischen Familie mit einer eigenen Hausbücherei, um sie gegen nichtkatholische Einflüsse und seit der raschen Demokratisierung des Lesens im späten 19. Jahrhundert gegen die so bezeichnete „Schmutz- und Schundliteratur" zu immunisieren. Dazu wurde eine Vereinsstruktur geschaffen, die zwischen „Mitgliedern" und „Teilnehmern" an einem durch Beiträge subventioniertem System des Bucherwerbs unterschied. „Mitglieder", die zumeist aus wohlhabenderen katholischen Bildungsschichten stammten, zahlten gegenüber „Teilnehmern" aus allen heterogenen katholischen Sozialschichten, die in der Regel keine Buchhandlung betraten, den vierfachen Jahresbeitrag. Alle, Mitglieder wie Teilnehmer erhielten aus dem Jahresverzeichnis des Borromäusvereins dann die gleichen 10
Menz, Gerhard: Einleitung: Der Buchhandel und seine Ware, in: ders.: Deutsche BuchVierundzwanzig Lebensbilder führender Männer des Buchhandels, Leipzig 1925,
händler. S.25. "
Pustet, Friedrich: Artikel: Buchhandel: I. Katholischer B[uchhandel], in: Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Tübingen 1927, Bd. 1, Sp. 1300.
Religion
in
Ideenzirkulation und Buchmarkt
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Buchgaben zum gleichen Preis. Da dieses Jahresverzeichnis keine Neuerscheinungen aufnehmen sollte, wurden Eingaben des Sortiments gegen „Gewerbebeeinträchtigung" von der preußischen Regierung abgewiesen. Zum Stein des Anstoßes wurde die Durchbrechung dieser Regel. Manche Verlage überließen ihre Titel sofort dem Borromäusverein, der, gemäß seiner Satzung, die in seinem Verzeichnis aufgeführten Titel „allen Vereinsangehörigen zu einem niedrigeren Preis" anbot. Katholische Verlagsbuchhandlungen und Sortimenter bildeten in Zeiten der Absatzkreise alles andere als eine
Interessengemeinschaft. Das biographische Lexikon des Deutschen Buchhandels der Gegenwart" machte 1890 unter dem Stichwort „Theologie, Katholische" die Firmen G. B. Aderholz, Aschendorf sehe Verlagsbuchhandlung, J. B. Bachern, Benzinger
& Co., Herder'sche Verlagsbuchhandlung, Krüll'sche Universitätsbuchhandlung, F. Pustet, F. Schöningh, Schwärm'sehe Verlagsbuchhandlung, U. E. Sebald, Stahd'sche Universitätsbuchhandlung, J. Stahl, Velhagen & Klasing, Wagner'sehe Hofbuchhandlung, als katholische Unternehmungen kenntlich.12 Diese zeitgenössische Auflistung setzt Akzente, läßt aber Firmen ungenannt, die als katholische Sortimentsbuchhandlungen gegründet worden sind wie beispielsweise Paul Pattloch in Aschaffenburg, die Görres Buchund Kunsthandlung in Bamberg, Bouvier in Bonn oder Christian Jakob Belser in Stuttgart. Das weiträumige Netz an Sortimentsbuchhandlungen baute der Herderverlag auf. 1913 existierten nationale Zweigniederlassungen in Freiburg (seit 1849), in München (seit 1873), in Karlsruhe (mit Unterbrechungen seit 1818), in Tauberbischofsheim (1906 Erwerb der F. X. Bottschen Buchhandlung), in Berlin (seit 1912), in Köln (1912 Erwerb der Zacherschen Buch- und Kunsthandlung). Internationale Niederlassungen wurden errichtet 1833 in Paris (nur bis 1840), Straßburg (1867), St. Louis, USA (1873), Wien (1886), London (1910).13 Der Interessenskonflikt zwischen Buchverein und Barsortiment ließ sich nur durch eine formelle Einrichtung unter Einbeziehung des Deutschen Börsenvereins regeln. Am 14. Mai 1906 wurde in dessen Räumen, dem Buchhändlerhaus in Leipzig, die „Vereinigung der Vertreter des katholischen Buchhandels" gegründet, zwei Tage nach der Gründung der Evangelischen Buchhändlervereinigung. Zur Mitgliedschaft wurden „alle diejenigen Buchhändlerfirmen des Deutschen Reichs, Österreichs und der Schweiz" aufgefordert, „deren Geschäftsrichtung der Herstellung oder Verbreitung katholischer Literatur sich zuwendet." Zwar wurde auch in diesem Gremium nicht zwischen Verlag und Sortiment unterschieden und mit Hermann Herder, 12
Pfau, Karl Friedrich: Biographisches Lexikon des Deutschen Buchhandels der GegenLeipzig 1890. Herdersche Verlagsbuchhandlung, Haupt-Katalog reichend bis Ende 1912 mit Jahresbericht 1913, Freiburg 1914, o.S. wart, 13
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Friedrich Pustet und Heinrich Schöningh die renommiertesten Vertreter von Verlagsbuchhandlungen in den Vorstand gewählt. Der Mitteilung im Börsenblatt ist aber zu entnehmen, dass hier keine weltanschaulichen „Sonderinteressen" organisiert werden, sondern, im Gegenteil, in Abstimmung mit dem Börsenverein, das Berufsinteresse des Sortiments gegen die Buchpolitik der kirchlichen Verbände und Vereine geschützt werden sollte.14 Als Erfolg konnte verbucht werden, dass 1907 auch der Borromäusverein an feste Ladenpreise gebunden wurde. Der Redakteur und langjährige Herausgeber des .Literarischen Ratgebers" Wilhelm Spael hat als Chronist des katholischen Buchhandels und des Borromäusvereins allerdings auch auf Vorteile aufmerksam gemacht, die dem Sortimentsbuchhandel langfristig durch die Arbeit des Borromäusvereins erwachsen sind: „Es ist zweifellos das Verdienst des BV, daß er die breiten Massen des katholischen Volkes an den Besitz des Buches gewöhnt hat, eine Aufgabe, die er nur als kirchliche Organisation leisten konnte; keine Buchhändlervereinigung hätte das aus eigenen Kräften zustande gebracht."15 Diese Bewertung charakterisiert die Eigenart des katholischen Buchhandels zwischen religiöser Wertgemeinschaft und Eigengesetzlichkeit des Lesemarktes, dessen Tendenzen zum literarischen Massenmarkt auch von den Sortimentern, die sich aus den kirchlichen Eingriffen zu befreien suchten, beklagt wurden. So zählte deren Wortführer Josef Waibel neben den kontinuierlich steigenden Betriebskosten bei stagnierendem Absatz durch die separaten Distributionswege des Borromäusvereins sowohl die allgemeine „Gewerbefreiheit" als auch die „zunehmende Demokratisierung des Buches" zu den Ursachen für den Niedergang des katholischen Privatbuchhandels. Lösungen wurden dazu eher in traditionaler Rückkehr zu zunftmäßiger Ordnung und in staatlichen Interventionen gesucht.16 Nicht zufällig fanden sich katholische Sortimenter als eifrige Verfechter einer Sittlichkeitsbewegung gegen literarischen „Schmutz und Schund".17 Gemeinsam mit der Zentrumspartei forderten sie verschärfte Zensur. Einerseits zeigt sich hier ein Fortwirken der Kulturkampfmentalität, in der maßgebliche katholische Kreise literarisch nicht „aus dem Turm heraus" wollten. Stärker noch dürfte dies allerdings auf Anzeichen wachsender kultureller Fragmentierungen auch innerhalb des Katho14
Börsenblatt, Nr. 183 vom 9. August 1906, S. 7554: Kleine Mitteilungen. Vereinigung der Vertreter des katholischen Buchhandels. 15 Spael, Wilhelm: Die Geschichte der Vereinigung des katholischen Buchhandels, in: Der katholische Buchhandel Deutschlands. Seine Geschichte bis zum Jahre 1967, hrsg. v. d. Vereinigung des katholischen Buchhandels, Frankfurt/M. 1967, S. 91-145; eine Übersicht über Vorstände und Mitglieder S. 172-200. 16 Waibel: Am Wendepunkt des christlich nationalen Buchhandels, S. 161. 17 Dazu ausführlich Storim, Miriam: Literatur und Sittlichkeit. Die Unterhaltungsliteraturdebatte um 1900, in: Lehmstedt, MarkIHerzog, Andreas (Hrsg.): Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, Wiesbaden 1999, S. 369-395.
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Ideenzirkulation und Buchmarkt
lizismus hindeuten. Denn in der Vorlage zu den Strafgesetzen von 1899/1900, der sog. ,Lex Heinze", schlössen sich konservative Katholiken und konservative Protestanten parlamentarisch zusammen, um generell die Bestimmungen über Literatur und Abbildungen zu verschärfen, die, „ohne unzüchtig zu sein", das „Schamgefühl gröblich verletzen". Mit den GoetheBünden formierte sich hiergegen eine wirkungsvolle liberale Opposition, die im Namen der ,.Freiheit der Kultur" eine Abschwächung der Gesetzesvorlage
erzielte.18
Der Einfluss des Buchhandels auf das katholische Sozialmilieu lässt sich über seine Literaturlisten und Kommentare ermessen, die regelmäßig zur Förderung des Weihnachtsabsatzes erschienen. Wie abgeschottet oder aufgeschlossen gegenüber der allgemeinen Literaturentwicklung präsentierte sich der katholische Buchhandel eine Generation nach dem Ghettoerlebnis des Kulturkampfes? Vergleicht man in einer Stichprobe den „Literarischen Jahresbericht und Weihnachtskatalog für gebildete katholische Kreise. Ausgegeben durch Herder & Co Buchhandlung München" von 1903 mit dem „Literatischen Ratgeber" 1911, hg. von Max Ettlinger München, Josef Kösd'sche Buchhandlung. Abteilung Sortiment, Kempten" von 1911, so sind einige tendenzielle Verschiebungen bemerkenswert. In beiden Fällen lag das Zentrum katholischer Leserlenkung in München, unterstützt durch die Zeitschrift ,3ochland" mit ihrem intellektuell hervorstechenden Redakteur Carl Muth. Muth baute im .Jahresbericht" von 1903 den österreichischen Dichter und Essayisten Richard von Kralik leitmotivisch zur Alternative zu den „meist flachen Erscheinungen wie dem bürgerlichen Schauspiel, dem Sittenstück, „dem Problem- und Unterhaltungsroman" auf.19 Der katholische Gabentisch sollte zu Weihnachten, so die Hoffnung der Redaktion, nicht von der Bestsellerliteratur des profanen, demokratisierten Marktes geschmückt sein, etwa von Elisabeth von Heikings ,3riefe, die ihn nie erreichten" aus dem Paetel Verlag in Berlin, „ein .Modebuch' in des Wortes schlimmster Lieber versöhnte man sich mit der in der Kulturkampfzeit noch distanziert bewerteten deutschen Klassik. Goethe und Schiller wurden jetzt gleichberechtigt neben Eichendorff und Herder zu den empfehlenswerten Büchern gerechnet. Die Empfehlung erstreckte sich allerdings nicht auf den philosophischen Idealismus, der nach wie vor der protestantischen Weltanschauung zugeschrieben wurde. Weniger in der Belletristik, dafür aber in Geschichte und Philosophie baute der katholische Buchhandel, diesen Schluss lässt eine Auswertung der literarischen Jahresberichte" zu, um 1900 einen separierten Lesemarkt auf.
Bedeutung".20
,
18
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd.
kratie, München 1992, S. 719. 19 20
Literarischer Jahresbericht 13 (1903), S. 1. Ebd., S. 8f.
II: Machtstaat
vor
der Demo-
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Protestantische S ortimentsbuchhandlungen Auch die Vertriebswege protestantischer Literatur unterlagen im Laufe des 19. Jahrhunderts einem signifikanten Wandel. Während sie im Zeitraum zwischen 1820 und 1850 fast ausschließlich durch die expandierende protestantische Vereinslandschaft gesteuert wurden, deren offensive Publikationspraxis wesentlich zu der Entstehung einer frühkonservativen protestantischen Öffentlichkeit beigetragen hatte21, trugen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch privat betriebene, von religiösen Vereinen und Gesellschaften unabhängige Buchhandlungen zum Vertrieb protestantischen Schrifttums bei. Dennoch blieb die starke Bindung an die soziale Basis des Protestantismus, die sich im Wesentlichen aus Missions-, Bibel- und Traktatgesellschaften sowie stark neupietistisch gefärbten religiösen Vereinen rekrutierte, ein charakteristisches Merkmal. Nicht nur spätere Verleger wie Friedrich Perthes, Carl Bertelsmann, Julius Fricke, Paul Kober-Godat, Martin Warneck u.a. unterhielten langfristige Verbindungen zu regionalen Glaubensgesellschaften, deren Schriften sie in der Anfangszeit ihrer buchhändlerischen Karrieren zumeist kommissionarisch vertrieben.22 Spätestens seit der Reichsgründung spann sich auch ein dichtes überregionales Netz von Verlagsbuchhandlungen, die teils als Filialen etwa des Christlichen Zeitschriftenvereins (s.u.) agierten, teils als Buchhandlungen für die jeweiligen Vereine fungierten, teils aber auch als spezialisierte freie Buchhandlungen tätig waren. Zwei Faktoren waren für diesen Prozess bestimmend. Zum einen richtete sich das Programm der Inneren Missionsbewegung, die in den späten 1840er Jahren von Johann Hinrich Wichern eingeleitet und von Adolf Stöcker fortgeführt worden war, von Beginn an auf eine gezielte Verbreitung christlicher Glaubens- und Lebensgestaltungsgrundsätze durch eine offensive publizistische Arbeit.23 Die Innere Missionsarbeit, mit der vor allem der konservative Protestantismus auf die Herausforderungen der Moderne reagierte, schloss daher auch die „Verwendung moderner Kommunikationsmedien ausdrücklich mit ein."24 Das vielleicht prominenteste Beispiel 21
Dazu ausführlich Graf, Friedrich Wilhelm: Die Spaltung des Protestantismus. Zum Verhältnis von evangelischer Kirche, Staat und .Gesellschaft' im frühen 19. Jahrhundert, in: Schieder, Wolfgang (Hrsg.): Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 157-190. 22 Lebensbilder der genannten abgedruckt in: Fick, Gustav (Hrsg.): Der Evangelische Buchhandel. Bausteine zu seiner Geschichte. Unter Mitwirkung von M. Feesche, Ernst Fischer, Konrad Gustorff, Dr. Alfred Kober-Stähelin, Ulrich Meyer, Johannes Mohn, Martin Warneck, Leipzig 1921. 23 Pöhlmann, Matthias: Publizistischer „Angriffskrieg", in: Röper, Ursula/Jüllig, Carola (Hrsg.): Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848-1998, Berlin 1998, S. 206-215. Vgl. auch vom selben Autor: Kampf der Geister. Die Publizistik der „Apologetischen Centrale" (1921-1937), Stuttgart 1998. 24 Pöhlmann: „Angriffskrieg", S. 206.
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für diese Entwicklung ist der bereits erwähnte Christliche Zeitschriftenverein (CZV), der im Jahr 1880 in Berlin-Kreuzberg von Mitgliedern des Evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke (gegr. 1847) gegründet wurde. Als eine der publizistisch aktivsten christlichen Vereinsbuchhandlungen richtete der Christliche Zeitschriftenverein zur Abrundung seines Vertriebskonzeptes ausgehend von Berlin zunächst im norddeutschen Raum, später auch in Süddeutschland (Württemberg) eigene Sortimentsbuchhandlungen ein und etablierte so ein ausgeklügeltes Vertriebsnetz für seine Publikationen.25 Aber auch über die Aktivitäten des CZV hinaus trugen die Gründungen zahlreicher christlicher Verlagsbuchhandlungen im Anschluss an das missionsgebundene Vereinsnetz sowie die Einrichtung zentraler Vertriebsstellen wie die Kommission für Apologetik und Vortragswesen (1904), aus der sich nach dem Ersten Weltkrieg die Apologetische Centrale des Central-Ausschusses für die Innere Mission entwickelte, erheblich zu einer Institutionalisierung geschlossener Vertriebs- und Kommunikationswege für den christlichen Buchhandel bei. Zum anderen entwickelte sich insbesondere die wissenschaftlich-theologische Literatur seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert zu einem buchhändlerischen Teilmarkt, der nun auch ein Publikum außerhalb der theologischen Fakultäten erreichte. Von dem breiten Interesse, auf das insbesondere die religionsgeschichtlich inspirierten theologischen Werke etwa Adolf von Harnacks oder Friedrich Gunkels in der wilhelminischen Öffentlichkeit stießen26, hatten nicht nur liberale Verlage wie J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) und A. Marcus & E. Webers profitiert.27 Auch C. H. Beck in München erreichte mit den Schriften Johannes Müllers und Karl Girgensohns enorme Auflagenzahlen, die indirekt dem auf christlich-weltanschauliche Literatur spezialisierten Sortimentsbuchhandel zugute kamen.28 Die Auswirkungen dieser Entwicklung werden sich im Einzelnen allerdings schwer nachweisen lassen, da hier auch die universal ausgerichteten wissenschaftlichen Sortimenter erheblich profitierten. Dennoch dürfte die Popularisierungswelle, die die Theologie als Universitätsdisziplin erfasst hatte, dem konfessionell ausgerichteten Sortimenter erheblich zugute gekommen sein. 25
Siehe hierzu die FS Hundert Jahre Christlicher Zeitschriftenverein, 1880 bis 1980, Berlin
1980.
26
Graf, Friedrich Wilhelm: Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: vom Bruch, Rüdiger/Graf, Friedrich WilhelmlHübinger, Gangolf (Hrsg.): Kultur und Kulturwissenschaft um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 103-132, insb. S. 108ff. 27 Vgl. dazu das in Teilband 1.1 verfasste Kapitel über „Politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage". 28 Bis 1921 hatte C. H. Beck nach eigenen Angaben bereits über 250.000 Bände von Johannes Müller abgesetzt. Vgl. die Selbstdarstellung in: Fick (Hrsg.): Evangelischer Buchhandel, S. 138.
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Der Christliche Bücherschatz, seit 1887 Vereinsorgan des Vereins för Verleger christlicher Literatur19, gibt als bibliographisch strukturierte Katalogzeitschrift Auskunft über die Vielfalt an christlichen Literaturformen und Gattungen, die über den protestantischen Sortimenter das Publikum erreichte. Als ihr Herausgeber und Redakteur fungierte bis 1889 der Theologe Gustav Schlosser (1826-1890), ein dem konservativen Neuluthertum zuzurechnender Pfarrer und Volksmissionar, der als Vereinsgeistlicher der Inneren Mission in Frankfurt am Main stark in der Missionsbewegung engagiert und mit Stöcker und Friedrich von Bodelschwingh befreundet war.30 Nach dem Tod Schlossers übernahm Emil Kraus (1839-1899), ebenfalls ein lutherisch ausgerichteter Geistlicher, die Redaktion des Christlichen Bücherschatzes, ohne jedoch ihr Profil wesentlich zu verändern.31 Infolge der starken Pluralisierung des weltanschaulichen Buchmarktes benun auch die gannen am Ende des 19. Jahrhunderts neben den Sortimenter sich als eigener Zweig im Rahmen des protestantischen Buchhandels zu organisieren. Im Jahr 1895 kam es zur Gründung der Vereinigung christlicher Buchhändler in Berlin, einer zunächst lokal ausgerichteten Interessenvertretung, deren Vereinsziel auf eine Erschließung neuer Distributionswege christlicher Literatur gerichtet war.33 Als zentrale Figur fungierte ihr Vorsitzender Gerhard Kauffmann, der als Geschäftsführer der Buchhandlung der Berliner Missionsgesellschaft bereits eine prominente Rolle in der vielgestaltigen Landschaft des Berliner Buchhandels eingenommen hatte. Ausdrücklich richtete sich die Vereinssatzung darauf, die „Verbreitung der christlichen Weltanschauung durch Schrift und Bild nach Möglichkeit zu fördern und jeden nach den buchhändlerischen Gebräuchen unerlaubten Vertrieb christlicher Schriften zu Tatsächlich sah sich der Verein als Zentralinstanz für die im Zuge der Inneren Missionsbewegung überall
Verlegern32
bekämpfen."34
29 Die Zeitschrift erschien bereits seit 1879 als illustrierter Weihnachtskatalog im Verlag der „Schriftenniederlage des evangelischen Vereins", Frankfurt/M. und wurde nach der Gründung des Vereins von Verlegern christlicher Literatur im Jahr 1887 als dessen Vereinszeitschrift geführt. 30 Zur Biographie: Treplin, Hans Gustav (Hrsg.): Der Evangelische Verein für Innere Mission in Frankfurt am Main 1850-1990, Frankfurt/M. 1991, S. 27-32. Vgl. auch Dechent, Hermann: Art. „Schlosser, Georg Karl Wilhelm Gustav", in: Hessische Biographien, Bd. 2, Darmstadt 1927, S. 289-294. 31 Zu Kraus siehe: Beste, Johannes: Album der evangelischen Geistlichen der Stadt Braunschweig mit kurzen Nachrichten über ihre Kirchen, Braunschweig/Leipzig: Verlag von Hellmuth Wollermann 1900, S. 131-132. 32 Dazu ausführlich: Teilband 1.1. 33 Ausführlich beschrieben bei Möbius, Karl: Die evangelischen Buchhändler-Vereine, in: Vereinigung Evangelischer Buchhändler (Hrsg.): Der evangelische Buchhandel. Eine Übersicht seiner Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Mit 600 Firmengeschichten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, Stuttgart: Verbandssortiment Ev. Buchhändler 1961, S. 28-30. 34 Ebd., S. 28f.
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aufkommenden „Schriftenniederlagen", die als Selbstverlage und autodidaktisch geführte Buchhandlungen nicht nur der Unterstützung in Bezug auf ihre kaufmännische Führung bedurften, sondern deren Schrifttum auch einer inhaltlichen Kontrolle unterworfen werden müsste. In den Jahren 1901 bis 1903 veröffentlichte die Vereinigung sogar eine eigene Zeitschrift, die Literarischen Mitteilungen für das christliche Haus, die auf der lokalen Ebene eine ähnliche Funktion ausübte wie der reichsweit vertriebene Christliche
Bücherschatz. Im Anschluss an die Zielsetzung der Vereinigung christlicher Buchhändler in Berlin kam es im Mai 1906 schließlich zur Einrichtung einer ersten überregionalen Sortimentervereinigung, die in enger Tuchfühlung mit dem Verein von Verlegern christlicher Literatur in Leipzig gegründet wurde. Die Satzung dieses Verbandes evangelischer Buchhändler trug klar die Züge einer berufsständischen Interessenvertretung, die jedoch auf dem ideellen Fundament eines konservativen Protestantismus agieren sollte. Ihre Funktion richtete sich vor allem auf eine gemeinsame Werbearbeit, der reichsweiten Stellenund Lehrstellenvermittlung, der Herstellung gemeinsamer Kataloge sowie deren Vertrieb an Volksbibliotheken. Wie sehr im protestantischen Schrifttum der Bedarf an Ordnung und bibliographischer Erfassung vor dem Hintergrund eines generell expandierenden Buchmarktes vorhanden war, verdeutlicht das 1908 im Auftrag des Verbandes evangelischer Buchhändler herausgegebene Verzeichnis der evangelischen Presse, in der zahllose religiös gefärbte Zeitschriften unterschiedlichster Ausrichtung nach Regionen und Gattungen, aber auch systematisch aufgeführt waren.35 Diese verschiedenen Prozesse der Institutionalisierung verdeutlichen nicht zuletzt die professionelle Aufwertung, die der Sortimenter im Rahmen des protestantischen Gesamtbuchhandels erfuhr. Im Gegensatz zum Börsenverein, wo es im selben Zeitraum wohl zu einer Gründung eines überregionalen Verlegervereins (1904) gekommen war, nicht aber zu einer allein auf die Sortimenter bezogenen Interessenvertretung, präsentierten sich die evangelischen Buchhändler als recht homogener Bestandteil eines alles in allem sehr inhomogenen protestantischen Milieus. Diese Betonung der gemeinsamen Arbeit für die christliche „Sache", in der antiaufklärerische Elemente ebenso eine Rolle spielten wie die Ablehnung der religionsgeschichtlichen und liberalen Theologie, konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz einer gewissen „Vereinheitlichung" der Vertriebswege sowie der Stärkung durch überregionale buchhändlerische Zusammenschlüsse die jeweiligen Buchhandlungen vor Ort die unterschiedlichsten theologischen Positionen und Richtungen repräsentierten, die nur schwer auf einen gemeinsamen Nen35
Verzeichnis der evangelischen Presse, hrsg. im Auftrage des Verbandes evangelischer Buchhändler, Hamburg: Gustav Schloessmanns Verlagsbuchhandlung (Gustav Fick) 1908.
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bringen waren. In etwa lassen sich Sortimentsbuchhandlungen unterscheiden.
ner zu
drei
Gruppierung evangelischer
1.) Die meisten der im Zuge der späten Gegenaufklärung zwischen 1820
und 1850 entstandenen Verlagsvereine gründeten und unterhielten ihre eigenen Buchhandlungen. Sie knüpften an die bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gegründeten Bibelgesellschaften wie die Privilegierte Württembergische Bibelanstalt in Stuttgart (gegr. 1812), die Preußische Hauptbibelgesellschaft (gegr. 1814) oder auch an die erheblich ältere pietistische Buchhandlung des Weisenhauses von der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle (gegr. 1698) an. Zu dieser Gruppe sind etwa die Buchhandlung des Calwer Verlagsvereins (gegr. 1836), die 1850 gegründete Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart sowie die Buchhandlung des Evangelischen Brüdervereins (gegr. 1851) zu zählen.36 Diese Buchhandlungen waren fester Bestandteil der regional sehr unterschiedlich strukturierten neupietistischen Milieus und agierten zumeist auf lokaler Ebene.37 2.) Seit der Jahrhundertmitte kam es zu einem Schub von Sortimentergründungen, deren Inhaber und Programme sich den Ideen der Inneren Missionsbewegung verpflichtet fühlten. Entsprechend der engen Verzahnung von Neupietismus und Mission kam es hier allerdings auch zu Überschneidungen mit der unter Punkt 1 genannten Gruppe. Erste und wichtigste Institution
dieser Art, deren Verlagsgeschäft weit über den lokalen Rahmen hinaus agierte, war die 1844 gegründete Agentur des Rauhen Hauses in Hamburg, welcher auch eine eigene Buchhandlung angegliedert wurde. Zahlreiche weitere Buchhandlungen können jedoch in diesem Zusammenhang genannt werden, die sich entsprechend der Aufgabenstellung der Inneren Mission einer sozialen und caritativen Ausrichtung verpflichtet fühlten. Zu nennen wären hier etwa die Buchhandlungen der Anstalt Bethel (gegr. 1874), des Erziehungsvereins Neukirchen (gegr. 1888) sowie der Diakonissenanstalt Neuendettelsau (gegr. 1893). Viele der zahllosen deutschen, schweizerischen und elsässischen Missionsgesellschaften unterhielten eigene Buchhandlungen, so die Evangelische Buchhandlung des Kirchlichen Vereins ßr Innere Mission in Mühlhausen (gegr. 1893), die Pilgermission in Gießen (gegr. 1910) oder die Herrnhuter Missionsbuchhandlung (gegr. 1899). Auch den Institutionen der Äußeren Mission waren zumeist eigene Sortimenter angeschlossen. Eine der bekanntesten Buchhandlungen dieser Art war die bereits erwähnte Buchhandlung der Berliner Evangelischen Missionsgesellschaft (gegr. 1890), die sich im Wesentlichen der „Aufklärungsarbeit" über die -
36
-
Zu den genannten siehe die kurzen historischen Abschnitte in Fick: Evangelischer Buchhandel. 37 Die regionalen Unterschiede des Neupietismus werden ausführlich herausgearbeitet bei: Gabler, Ulrich (Hrsg.): Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Göttingen 2000.
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in Südafrika stark engagierten Berliner Mission verschrieben hatte. Gerade im Bereich der Äußeren Mission wird zudem die enge Vernetzung zwischen den einzelnen missionarischen Gesellschaften und dem missionarischen Schriftenvertrieb besonders deutlich. So errichtete Martin Warneck, Sohn des Missionstheoretikers und Missionars Gustav Warneck, in Berlin im Jahr 1895 eine eigene Missionsbuchhandlung, in der er u.a. auch die Schriften seines Vaters vertrieb.38 3.) Schließlich unterhielten viele der großen theologischen Verlagshäuser eigene Buchhandlungen. Diese vertrieben zumeist die verlagseigenen Publikationen, konnten aber darüber hinaus auch die Werke aus anderen Verlagen verkaufen. Zu nennen wäre hier die Buchhandlung von C. H. Beck, die bereits in München eröffnet wurde, noch bevor das Verlagshaus seinen Sitz von Nördlingen nach München verlegte. Auch den Verlagen / C. Hinrichs, Georg Reimer, und J. C. B. Mohr war eine Verlagsbuchhandlung angeschlossen. Zumeist hatten die Inhaber dieser Verlage ehemals als Buchhändler oder Buchdrucker begonnen, um ihrem Geschäft erst später ein eigenes Verlagsgeschäft anzugliedern. Ihre Käuferschichten stellten weniger Vereinsmitglieder oder in Vereinen organisierte Diakone und Pfarrer dar, denn die akademischen Kreise der Universitätsstädte, auf die sie in enger Tuchfühlung mit den örtlichen theologischen Fakultäten ihr Angebot ausrichteten.
Tätigkeit der u.a.
Sozialdemokratische Sortimentsbuchhandlungen und Handelsformen des sozialdemokratischen Buchhandels boten wie bei keinem anderen Milieu das Bild eines engen Netzwerkes, in dem die einzelnen Teile organisatorisch eng miteinander verbunden waren. In diesem Geflecht aus Genossenschaftsbuchdruckereien, Kolporteuren, Reiseund Versandbuchhandlungen sowie den Zeitungs- und Buchverlagen bildeten die Sortimenter nur einen vertriebsstrategischen Faktor, dessen Funktion für das sozialdemokratische Vertriebsnetz jedoch nicht unterschätzt werden sollte.39 Die weitgehende Weigerung bürgerlicher Buchhändler, sich an dem Verkauf von Socialistica zu beteiligen, dazu die besonderen Markt- und Vertriebsverhältnisse während der Zeit des Sozialistengesetzes (1878-1890), führten zu der Etablierung eines ganz eigenen Systems des sozialdemokratischen Buchhandels, in dem die parteigebundene Pressearbeit ebenso ihren Platz einnahm wie die von Partei und Gewerkschaften finanzierten Arbeiterbibliotheken. Seit dem Beginn der 1870er Jahre zeichnete sich dabei als be-
Vertriebspraxis
38
Fick (Hrsg.): Evangelischer Buchhandel, S. 355f. Zur Geschichte des sozialdemokratischen Buchhandels vgl. Zimmermann, Rüdiger: Zur Vorgeschichte der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-EbertStiftung, 2. Aufl., Bonn 1991, insb. S. 3-6. 39
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sonderes Charakteristikum des sozialdemokratischen Bücher Vertriebs ab, dass dieser vor allem an die zahlreichen Zeitungsunternehmen angegliedert wurde, die sich seit der Reichsgründung überall im Land etablierten. Die sozialdemokratische Presse galt damit auch in den Augen zeitgenössischer Beobachter als organisatorische Schnittstelle, um die herum sich der gesamte sozialdemokratische Schriftenvertrieb gruppierte: ,J3ie Zeitungen und ihre Betriebe wurden damit Reklameinstitute, Versandstellen, stationäre Buchhandlungen, Grossogeschäfte, und die Organisationen, denen die Zeitungen dienten, besorgten die Kolportage."40 Entsprechend der zentralen Rolle, die die Arbeiterbildung in der parteipolitischen Agitation der sozialdemokratischen Partei und sozialistischen Gewerkschaften einnahm41, entwickelte sich so ein zentral gesteuerter, angesichts der lokalen Spannbreite jedoch hervorragend organisierter sozialistischer Schriftenvertrieb. Seine Finanzierung regelte sich nur partiell über den „freien" Markt, wie anhand der publizistischen Erfolge bzw. Nichterfolge von J. H. W. Dietz an anderer Stelle dargelegt wurde.42 Er lebte vielmehr von einer leserlenkenden Finanzierung aus Partei- und Gewerkschaftsmitteln, deren Höhe zumindest einen Eindruck über den Umfang des sozialistischen Buchhandels vermittelt: Im Jahr 1912, also etwa am Ende des hier behandelten Zeitraums, unterhielten bereits 581 Gewerkschaftskartelle eigene Bibliotheken, deren Versorgung zumeist die parteieigenen Verlage und Druckereien übernahmen; 1914 gaben die gewerkschaftlichen Zentral verbände bei zwei Millionen Mitgliedern 2 598 476 Mark für Bildungszwecke aus, die neben populärwissenschaftlichen Vorträgen, Bildungskursen etc. vor allem der Regelung des Bibliothekswesens, Jugendschriftenausstellungen und dem Druck von Bildungsbroschüren zugute kamen.43 Zahlreiche sozialdemokratische Verbände unterhielten darüber hinaus eigene Lesehallen, deren Bestückung vom Zentral-Bildungsausschuss der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands unterstützt und beaufsichtigt wurde. Dieser gab kontinuierlich Literaturempfehlungen heraus, die entweder vom Ausschuss selbst, aber auch über das Sortiment zu beziehen waren. Als zentrales Informationsorgan diente dem Zentral-Ausschuss der Arbeiter-Notiz-Kalender (1898-1924), in dem sich ein dichtes Adressenmaterial über alle Arbeiter-Bildungsinstitutionen Drahn, Ernst: Vom Büchervertrieb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in: Börsenblatt, Jg. 80 (1913), H. 4,7. Januar 1913, S. 149-151, Zitat S. 149. Nach wie vor einschlägig: Langewiesche, Dietec/Schönhoven, Klaus: Arbeiterbibliotheken und Arbeiterlektüre im Wilhelminischen Deutschland, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. XVI (1976), S. 135-204; zur Bildungs- und Bibliothekspolitik der Sozialdemokratie
41
und der Freien Gewerkschaften siehe insb. S. 142ff. Vgl. Teilband 1.1. Zahlen entnommen aus Röhrig, Paul: Kap. „Erwachsenenbildung", in: Berg, Christa (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV, 1870-1918, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, S. 441-471. 42 43
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die letztlich auch die Verlage und Sortimentsbuchhandlungen angekoppelt waren.44 Aus dem Arbeiter-Notiz-Kalender geht auch hervor, dass trotz einiger freier Verlage, die mitunter der Sozialdemokratie nahe stehende Publikationen veröffentlichten, wie z.B. Felix Dieterich in Leipzig oder Rütten & Loening in Frankfurt die Zahl der überregional agierenden Verlagsbuchhandlungen letztlich begrenzt war.45 Hauptproduzent sozialdemokratischer Literatur blieb über den gesamten hier behandelten Zeitraum hinweg die Partei. Vorsichtigen Schätzungen zufolge, die auf der Auswertung des Bücherkatalogs der „Vorwärts-Buchhandlung" in Berlin sowie dem Schriftenverzeichnis der Buchhandlung Ignaz Brand & Co. in Wien beruhen, waren Anfang 1912 rund „1150 Einzelpublikationen der Partei, in allen Preislagen"46, im sozialdemokratischen Buchhandel erhältlich.47 Nahm der „Vorwärts" als offizielles Parteiorgan eine zentrale Stellung unter den zahlreichen sozialdemokratischen Zeitungen ein, so fungierte die ,3uchhandlung Vorwärts" als die vertriebsstrategische Ergänzung dazu. Untergebracht im Parteigebäude in der Lindenstraße 3 in Berlin-Kreuzberg (zuvor Lindenstraße 69), lag die wohl größte und wichtigste Buchhandlung direkt im Machtzentrum der deutschen Sozialdemokratie. Im selben Gebäude befanden sich seit 1914 die Räume des Parteivorstandes, die Parteischule, das Parteiarchiv, die Vorwärts-Buchdruckerei und neben einer Reihe anderer Zeitschriften die Redaktion des 1884 gegründeten Vorwärts.™ Verlag und Buchhandlung sind allerdings kaum voneinander zu trennen. Der seit 1905 geführte Name der ,3uchhandlung Vorwärts"49, der sowohl für den Sortimentsbetrieb als auch für den Verlag geführt wurde, macht dies bereits deutlich. Beide zusammen erwirtschafteten erhebliche Überschüsse, die im Ge-
findet,
an
-
-
-
-
44
Vgl. dazu auch die Ausführungen von Heinrich Schulz, dem Vorsitzenden des ZentralenBildungsausschusses, über „Arbeiterbildung und Bildungsarbeit", in: Arbeiter-Notizkalender, 1913, S. 91-106.
45
Zu den einzelnen vgl. unseren Beitrag in Teilband 1.1. Drahn: Büchervertrieb, S. 149. Einen Eindruck über den Umfang sozialdemokratischer Literatur vermittelt auch die Zeitschrift „Der Bibliothekar", die unter ihrem Redakteur G. Hennig in Leipzig erschien und sich speziell an Bibliothekare der Arbeiterbibliotheken richtete. 48 Zum Vorwärts sowie der Geschichte des „Vorwärts-Gebäudes" vgl.: Literatur für eine neue Wirklichkeit. „Vorwärts" in der Lindenstraße, in: Kreuzberg-Museum (Hrsg.): Made in Kreuzberg, Produkte aus Handwerk und Industrie, Berlin 1996, S. 103-110 sowie Peters, Dietlinde: „[...] der Marxismus ist nicht ohne Judentum denkbar". Das „Vorwärts"Gebäude Lindenstraße 3, in: Juden in Kreuzberg. Fundstücke, Fragmente, Erinnerungen, hrsg. v. der Berliner Geschichtswerkstatt e.V., Berlin 1991, S. 329-338. 49 Die Bezeichnung des Verlags wurde mehrmals geändert: 1894 wurde er als „Verlag der Expedition des .Vorwärts'"; 1896 als „Expedition der Buchhandlung Vorwärts" geführt. Vgl. dazu: Emig, BúgitteJSchwarz, MaxIZimmermann, Rüdiger: Literatur für eine neue Wirklichkeit. Bibliographie und Geschichte des Verlags J. H. W. Dietz Nachf. 1881 bis 1981, S. 281. 46
47
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schäftsjahr 1904/05 ihren Höhepunkt mit über 90 000 Reichsmark erreichten und jährlich an die Parteikasse überwiesen wurden.50 Neben der Buchhandlung-Vorwärts gab es noch weitere Partei-Buchhandlungen, die zumeist an die wichtigsten Druckereien und Verlage angegliedert waren: So unterhielt J. H. W. Dietz in Stuttgart ebenso eine eigene Buchhandlung wie die Leipziger Genossenschafts-Buchdruckerei und die Hamburger Druckerei und Verlagsanstalt (Auer & Co.).51 In München spe-
zialisierte sich Birk & Co. auf belletristische Literatur, in Dresden entwickelte sich die Firma Kaden & Co. zum sächsischen Zentrum sozialdemokratischen Büchervertriebs. Ferner sind zu nennen die Buchhandlungen Gerisch & Co. in Bielefeld sowie die Buchhandlung der Frankfurter Volksstimme. Als eine der wenigen selbständigen Buchhandlungen, die sozialdemokratische und konfessionell-katholische Literatur verkaufte, überlebte Fredebeul & Koenen in Essen die Repressalien des Sozialistengesetzes. Die Firma war 1866 als Verlag der Essener Volks-Zeitung gegründet worden, gab aber auch den Essener Volkskalender sowie einige Werke internationaler Arbeiterverbindungen heraus. Sie unterhielt ebenfalls eine eigene Buchhandlung.52 Über diese Firmen ist heute wenig bekannt und ihre kommunikative Funktion für das sozialdemokratische Netzwerk muss immer in Zusammenhang mit dem angegliederten (Zeitungs-)Verlag oder der jeweiligen Druckerei gesehen werden. Erst in der Mitte der zwanziger Jahren kam es zu einem ersten vorsichtigen Versuch der Institutionalisierung des sozialdemokratischen Sortimentsbuchhandels: Im März 1926 gab der im Herbst 1925 gegründete ,3eirat für die Parteibuchhandlungen" eigene „Leitsätze" für den Betrieb von sozialdemokratischen Parteibuchhandlungen heraus,53 in denen nun auch offiziell die Aufgabe des Sortiments im Rahmen der ideenpolitischen Verbreitungsarbeit der Sozialdemokratie formuliert wurde: „Die im Auftrag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands durch die Parteigeschäfte (Druckereien und Verlage) oder auch als selbständige Geschäfte betriebenen Parteibuchhandlungen haben die Aufgabe, in erster Linie die sozialdemokratische und die gewerkschaftliche Literatur unter den Parteigenossen wie in allen anderen Volkskreisen planmäßig zu verbreiten."54 In den 15 Leitsätzen wurde nun das festgeschrieben, was auch vor 1918 in Ansätzen 50
Übersicht der erwirtschafteten Überschüsse bei EmigISchwarzIZimmermann: Literatur,
S. 271. 51 52
Vgl. Teilband 1.1. Dort auch die weiterführende Literatur. Gesamt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels, Bd. IV, Münster
1881. Leitsätze für den Betrieb von sozialdemokratischen Parteibuchhandlungen, hrsg. im März 1926 im Auftrage des Beirats für die Parteibuchhandlungen, Berlin: Konzentration A.-G. (Sozialdemokratische Druckerei- und Verlagsbetriebe) 1926. Vgl. auch: Die gegenwärtige Lage und die nächsten Aufgaben des sozialdemokratischen Parteibuchhandels, Berlin: Konzentration A.-G. 1928. 54 Ebd. 53
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spezifische Modernität des sozialdemokratischen Buchhandels ausgemacht hatte.55 Neben professioneller kaufmännischer Führung war die
bereits die
moderne Innenarchitektur der einzelnen Läden ebenso ein Kriterium für den buchhändlerischen Erfolg wie die qualitativen Ansprüche an die zum Verkauf gelangende Literatur und die Aktualität des Programms. Enge Verbindungen zu den lokalen Bildungsausschüssen der SPD sowie ein regelmäßiges Inserieren in der Parteipresse machten auch in den zwanziger Jahren noch die enge Verzahnung von Druckerei, Presse, Verlag und dem sozialdemokratischen Sortimentsbuchhändler deutlich.
Jüdische Sortimenter im Kaiserreich Seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bestanden oft in direkter Anbindung an die traditionellen jüdischen Druckereien und Verlage, auch entsprechende Ladengeschäfte. Sie deckten zumeist den lokalen oder regionalen Bedarf an hebraistischer und rabbinistischer Literatur. Ein starker Anstieg der Zahl solcher Buchhandlungen ist erst für die unmittelbare Nachkriegszeit seit 1919 zu verzeichnen: Viele ostjüdische Einwanderer gründeten Buchhandlungen mit kleinem Verlag, die, zumeist von Berlin aus, den osteuropäischen Markt beliefern sollten.56 Buchhändlerische Initiativen im Zusammenhang mit den unterschiedlichen politischen, sozialen und religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums um die Jahrhundertwende lassen sich auf der Ebene der Sortimenter kaum ausmachen. Auch hier sind wichtige Neugründungen erst nach dem Ersten Weltkrieg zu verzeichnen. Dieser Befund entspricht durchaus der allgemeinen Situation des Sortimentsbuchhandels vor dem Ersten Weltkrieg: „Der Persönlichkeit des Kulturverlegers stand um die Jahrhundertwende [...] kein .Kultursortimenter' gegenüber."57 Von zentraler Bedeutung für die jüdische Reformbewegung vor 1914 waren vielmehr die Antiquariate. Sie stellten den Bestrebungen um eine Wiederbelebung von Traditionen eine Textbasis zur Verfügung und förderten vergessene Autoren und Werke zutage. Gershom Scholem etwa berichtet in seinen Erinnerungen, daß er sein Taschengeld regelmäßig in „die beiden bekanntesten hebraistischen und judaistischen So weist bereits Drahn 1913 darauf hin, dass der sozialdemokratische Buchhandel schon seit längerem „Wege geht, die erst in neuester Zeit der moderne reguläre Buchhandel einzuschlagen beginnt, um möglichst große Auflagen in das Publikum zu bringen [...]." Drahn: Büchervertrieb, S. 149. 56 Kaznelson, Siegmund: Verlag und Buchhandel, in: ders. (Hrsg.): Juden im deutschen Kulturbereich. Ein Sammelwerk, 2. Ausg. Berlin 1959, S. 131-146, hier S. 133. Vgl. Eike: Im Scheunenviertel, Berlin 1981, S. 86. Geisel, 57 Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 289. -
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Antiquariate
Berlins" trug. Diese Geschäfte wurden zu Kristallisationsfür die Neuformierung von jüdischer Literatur bzw. Wissenschaft punkten und trugen damit erheblich zur jüdischen Identitätsbildung bei. Das Antiquariat von Louis Lamm in Berlin (gegr. 1903) etwa war eine wichtige Anlaufstelle für Sammler jüdischer Handschriften und Bücher.59 Auf der Basis seiner umfangreichen Kundenliste gründete der bibliophile Rechtsreferendar und Antiquar Herrmann M. Z. Meyer dann 1924 die Sonciono-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches.60 Moses Poppelauer (1824-1880) gründete nach Studien in Leipzig und Jena und einer Hauslehrertätigkeit in Frankfurt am Main 1860 in Berlin seine Verlag, Sortiment und Antiquariat für Judaica und Hebraica umfassende Buchhandlung.61 Er brachte neben Ritualien und pädagogischen Schriften auch Werke von Zunz, Steinschneider, Kassel, Lebrecht und Zomberg heraus und verlegte synagogale Kompositionen. Seine Nachfolger erweiterten dieses liberale, den Traditionen der 1848er Revolution verpflichtete Programm unter anderem um das Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur. Die Buchhandlung wurde bis mindestens 1935 von ihrem letzten Besitzer, Jacob Saenger, fortgeführt.62 Bisher nicht erforscht ist die wechselvolle Firmengeschichte der Buchhandlung Hugo Schildberger in Berlin. Das Unternehmen, Ende des 19. Jahrhunderts gegründet, wurde nach Enteignung durch die Nationalsozialisten in den späten 1940er Jahren wiederbegründet und befand sich bis in die 60er Jahre hinein im Familienbesitz. Schildberger legte einen Schwerpunkt seines Sortiments und Verlags auf jüdische Literatur. Das Spektrum der verlegten Titel reichte von jüdischen Gesangsbüchern und Anekdotensammlungen bis hin zu biographischen Reihen und den Pamphleten des prominenten Rathenau-Gegners Moritz de Jonge.63 Darüber hinaus erschienen hier die Veröffentlichungen des Bureaus fär Statistik der Juden, eine Jüdische Volksbibliothek und die Untersuchung Die beruflichen und sozialen Verhältnisse der Juden in Deutschland von Jakob Segall (1912).
Scholem, Gershom: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 1997, S. 138. 5 Vgl. Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, S. 44: „Manchmal kam ich auch in Besitz
einer Summe, die bedeutend genug war, um sich damit in der Buchhandlung des Louis Lamm die Ehre zu geben." 60 Meyer, Herrmann M. Z.: Als deutscher Antiquar in Jerusalem, in: Aus dem Antiquariat 29 (1972) Nr. 52, A 218. 61 Wininger, Salomon (Hrsg.): Große jüdische National-Biographie, Czernowitz 19251936, Bd. V, S. 70. 62 Homeyer, Fritz: Deutsche Juden als Bibliophilen und Antiquare, 2. Aufl., Tübingen 1966, S. 143. 63 Jonge, Moritz: Höret Rathenau und Genossen! Kritik des Dogmas von der assimilatio gojica, Berlin 1903.
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In Berlin bestand noch eine Reihe weiterer Buchhandlungen, von denen hier noch die Häuser C. Boas Nachf. (gegr. 1863) und Julius Benzian (gegr. 1865) exemplarisch genannt werden sollen.64 In Leipzig war die Firma M. W. Kaufmann für das jüdische Sortiment federführend. Das von Wolff Kaufmann 1828 in Hamburg gegründete Unternehmen wurde von seinem Sohn Moses Wolf (1818-1896) 1863 nach Leipzig verlegt.65 Hier betrieb er ein jüdisches Sortiment und begann wenig später mit dem Verlag von Gebetsund Andachtsbüchern. 1895 verkaufte er sein Unternehmen an Max Kallmann (geb. 1873), der sich verstärkt um den verlegerischen Zweig bemühte.66 Zu den ambitioniertesten Unternehmungen Kallmanns gehörte der 1914 erstmals erschienene Vierteljahresbericht für die jüdische Literatur unter der Schriftleitung des Rabbiners Reinhold Lewin. Kriegsbedingt blieb das erste jedoch auch das einzige Heft. In Frankfurt am Main zählte I. Kaufmann, der als Verlag, Sortiment und Antiquariat hebräischer Literatur firmierte, zu den wichtigsten Vertretern des jüdischen Buchhandels.67 1838 von Isaac Kauffmann gegründet, führte dessen Sohn Ignatz Kauffmann die Handlung seit 1877. Letzter Inhaber bis 1933 war Felix Kauffmann (gest. 1953 in New York). Ein weiterer wichtiger Ort für den jüdischen Buchhandel war Breslau, wo sich die Firmen Wilhelm Jacobson & Co.68 (gegr. 1840), N. Samosch69 (gegr. 1844), Jac. B. Brandeis und A. (gegr. 1877) etablierten. In ihrem Profil vergleichbar sind die Wiener Verlagsbuchhandlungen Josef Schlesinger (gegr. 1858), D. Löwy (gegr. 1878) und R. Löwit (gegr. 1883).71 Darüber hinaus befanden sich zahlreiche allgemeine Antiquariate in jüdischem Besitz, die sich zwar nicht auf konfessionell-jüdische Literatur spezialisierten, deren Namen hier jedoch zumindest genannt werden sollen: Martin Breslauer (1871-1940), der sein Berliner Geschäft im Jahr 1898 zunächst gemeinsam mit Edmund Meyer gründete, gehörte zu den Gründern der bibliophilen Maximilan-Gesellschaft (1911). Breslauers Kataloge so das 1908 erschienene Kompendium „Das deutsche Lied, geistlich und weltlich, bis
Hepner70
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Kaznelson: Verlag und Buchhandel, S. 143. Vgl. Gesamt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels II. Erste Abteilung, Münster 1881. 65 Lorz, Andrea: Die Verlagsbuchhandlung M. W. Kaufmann in Leipzig. Firmengeschichte einer der ältesten jüdischen Buchhandlungen Deutschlands und Lebensschicksale ihrer Besitzer, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 7 (1997), S. 107-124. 66 Lorz: Kaufmann, S. 112. 67 Gesamt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels IV, Münster 1881, Sp. 259ff. Vgl. Ignatz Kauffmann 1849-1913. Ein Lebensbild. Als Manuskript gedruckt Frankfurt/M. 1928. 68 Homeyer: Deutsche Juden, S. 140. 69 Kaznelson: Verlag und Buchhandel, S. 143. 70 des Deutschen Buchhandels III, Münster 1881, Sp. 470ff. Gesamt-Verlags-Katalog 71 Kaznelson: Verlag und Buchhandel, S. 143. Vgl. Gesamt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels und des mit ihm im direkten Verkehr stehenden Auslandes XIII, Münster 1882. -
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Gangolf Hübinger/Helen Müller
18ten Jahrhundert" setzten wissenschaftliche Standards.72 Internationalen Bekanntheitsgrad erlangte auch die bereits am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankfurt am Main gegründete Firma Joseph Baer & Co. Frankfurt am Main, die im 19. Jahrhundert unter Leopold und Simon Baer, dem Sohn bzw. Enkel des Firmengründers fortgeführt wurde. Simon Leopold Baer (1845-1919) machte 1901 den bedeutenden Antiquar Moritz Sondheim (1860-1944) zu seinem Teilhaber.73 Schließlich sei noch der in München ansässige Antiquar Emil Hirsch (1866-1954) erwähnt, der sein Geschäft 1892 eröffnete. Von ihm überliefert Scholem die Anekdote, dass er ein Exemplar des berüchtigten Antisemiticums entdecktes Judentum" von Eisenmenger im Angebot hatte: Statt es jedoch an deutschvölkische Kreise zu verkaufen, überließ er es Scholem für einen symbolischen Preis: „Wissen Sie, mir liegt nur daran, daß das Buch in die richtigen Hände kommt."74 Buchforschung unter den neuen Vorzeichen der Ideen- und Kulturgeschichte versucht umfassender als bisher, den Ort des Buchhandels „im Leben einer Gesellschaft"75 zu bestimmen. Politik mit Büchern, so unser Ergebnis, führte im Kaiserreich zu einer inneren Verfestigung des sozialkulturellen Milieus.76 Der weltanschaulich gebundene Buchhandel muss deshalb stärker als bisher in seiner Bedeutung für die fragmentierte politische Kultur des Kaiserreichs in Rechnung gestellt werden. zum
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1936 wurde die Schließung des Geschäfts erzwungen. Breslauer selbst emigrierte 1937 nach London und eröffnete dort ein neues Antiquariat. Er starb 1940 bei einem Bombenangriff. Sein Sohn Bernd verlegte in der Nachkriegszeit das Unternehmen nach New York. Homeyer: Deutsche Juden, S. 27f. 74 Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, S. 156. 75 Estermann, MonikalJäger, Georg: Einleitung, in: Geschichte des deutschen Buchhandels 1/1, S. 11. 76 Vgl. auch Hübinger, Gangolf: Politik mit Büchern und kulturelle Fragmentierung im Deutschen Kaiserreich, in: The Germanic Review 76 (2001), S. 290-307, ein von Meike G. Werner herausgegebenes Themenheft zu „Publishing Culture. Cultural Studies and the History of Books in Modern Germany".
Ideenzirkulation und Buchmarkt
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Veröffentlichungen aus dem Projekt „Verlage und Intellektuelle": Hübinger, Gangolf: Geschichtspolitik, Verlagswesen und Presse, in: Geschichtsdiskurs, Bd. 5, hrsg. v. Wolfgang Kultier u.a., Frankfurt/M. 1999. Ders.: Verlagswesen und Geschichtspolitik, in: Geschichtsdiskurs, Bd. 5, hrsg. v. Wolf-
gang Rüttler u.a., Frankfurt/M. 1999, S. 284-296. Ders.: Kultur und Wissenschaft im Eugen Diederichs Verlag, in: Ulbricht, Justus H./Werner, Meike G. (Hrsg.): Der Eugen Diederichs-Verlag, Göttingen 1999, S. 11-27. Ders. : Verleger als Kulturberuf in der entstehenden europäischen Massenkommunikationsgesellschaft, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 2001, B20-B29. Ders.: Politik mit Büchern und kulturelle Fragmentierungen im Deutschen Kaiserreich, in: The Germanic Review 76 (2001), S. 290-307. Ders.: Ideenzirkulation und Buchmarkt, in: IASL 27 (2002), S. 116-124. Ders.: Die „Tat" und der „Tat-Kreis". Politische Entwürfe und intellektuelle Konstellationen, in: Grunewald, MicheVPuschner, Uwe (Hrsg.): Das konservative Intellektuellenmillieu, seine Presse und seine Netzwerke, Bern 2003. Ders.lMüller, Helen: Politisches, konfessionelles und weltanschauliches Verlagswesen, in: Jäger, George'Langewiesche, Ditler/Siemann, Wolfram (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Frankfurt/M. 2001, S. 347-405. Ders./Dies.: Politische und konfessionelle Sortimentbuchhandlungen, in: Jäger, Georg/ Langewiesche, Dieter/Siemann, Wolfram (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1/2, im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Frankfurt/M. 2003.
Müller, Hellen: Idealismus und Markt. Der literarische Beirat Artur Buchenau und die Popularisierung idealistischer Weltbilder im frühen 20. Jahrhundert, in: Goschler, Constantin (Hrsg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, 1870-1930, Stuttgart 2000.
Dies.: Im Zeitalter der Sammelwerke. Friedrich Naumanns Projekt eines liberalen Staatslexikons (1914), in: vom Bruch, Rüdiger (Hrsg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000, S. 189-207. Dies.: Verlagswesen und europäische Massenkommunikationsgesellschaft um 1900, ein Forschungsbericht, in: IASL 27 (2002), S. 170-197. Dies.: Wissenschaft und Markt um 1900. Das Verlagsunternehmen Walter de Gruyters im literarischen Feld der Jahrhundertwende, Tübingen 2004.
Ideen als Weichensteller? Polyvalenz, Aneignung und Homogenitätsstreben im deutschen Nationalismus 1890-19331 Moritz F'oilmen'Andrea Meissner I.
Einleitung
Der Nationalismus des Kaiserreichs war durch ein spannungsreiches Verhältnis von Integrationserfolgen und inneren Konflikten gekennzeichnet. Gründung und Ausbau des Kaiserreichs hatten seinen Bürgern einen umfangreichen und attraktiven Katalog institutioneller Leistungen beschert, der wesentlich zur Akzeptanz des neuen Nationalstaats Die deutsche „imagined community" schien es zu ermöglichen, Differenzen zwischen partikularen und nationalen Identitäten, Eigeninteressen und Gemeinwohl ohne Schwierigkeiten zu überbrücken.3 Auf der anderen Seite hatte die integrative Kraft des Leitbildes der Nation Grenzen, weil es aller Einheitsrhetorik zum Trotz in fundamentale konfessionelle, soziale und ethnische Gegensätze involviert war und diese zum Teil erheblich verschärfte.4 Seit den 1890er Jahren erhöhte sich zwar die grundsätzliche Akzeptanz des Nationalstaats weiter, doch gleichzeitig kamen neue Spannungsfelder hinzu. Der Staat war nach wie vor bemüht, einen gouvernementalen Nationalismus durchzusetzen, der vor allem darauf zielte, den Status Quo des kleindeutschen Reiches zu erhalten und zu legitimieren, und deshalb an den Einseitigkeiten des borussianischen Modells krankte. Wilhelm II. setzte dies
beitrug.2
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Dieser Artikel ist ein Versuch, zwei verschiedene und unabhängig voneinander durchgeführte Forschungsprojekte unter einem gemeinsamen thematischen und konzeptionellen Dach zusammenzubringen. Andrea Meissner hat Teil II, Moritz Föllmer Teil III geschrieben; die Teile I und IV wurden gemeinsam verfasst. Für Anregungen und Unterstützung danken wir Wolfgang Hardtwig, für ihre kritische Lektüre Christian Goeschel, Rüdiger Graf und Jochen Guckes. 2 Weichlein, Siegfried: Nation und Region. Parallele Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 2004. 3 Das zeigen die neueren Forschungen zum Verhältnis von nationalen, regionalen und
lokalen Identitäten, vgl. etwa Applegate, Celia: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990; Hardtwig, Wolfgang: Nation Region Stadt. Strukturmerkmale des deutschen Nationalismus und lokale Denkmalskulturen, in: Mai, Günther (Hrsg.): Das Kyffhäuser-Denkmal 1896-1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext, Köln u.a. 1997, S. 53-83; Confino, Alón: The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and National Memory, 1871-1918, Chapel Hill 1997. 4 Vgl. u.a. Hardtwig, Wolfgang: Nationsbildung und politische Mentalität. Denkmal und Fest im Kaiserreich, in: ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 264— 301; Smith, Helmut Walser: German Nationalism and Religious Conflict. Culture, Ideology, Politics, 1870-1914, Princeton 1995. -
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fort, entwickelte aber andererseits eine Neukonzeption seines Kaisertums, die
Versprechen sozialstaatlicher Teilhabe und imperialistischer Machtsteigerung integrativ wirken sollte. Damit unterstützte er den Trend, durch das
dass immer mehr Gruppen ihre Positionen innerhalb des nationalen Diskurses, als Anspruch auf Partizipation an der Nation, formulierten.5 Weil die wilhelminische Gesellschaft von einer enormen Pluralisierungsdynamik geprägt war,6 wurde das Leitbild der Nation in unterschiedlicher Weise verstanden und pluralisierte sich damit selbst. Gleichzeitig drängten zahlreiche überzeugte Nationalisten darauf, die gesellschaftliche und moralische Reichweite des Leitbildes der Nation zu erhöhen und daraus verbindliche Normen abzuleiten, die über partikularen Präferenzen stehen sollten. Unter diesen Bedingungen wurde es zunehmend schwierig, den Nationalismus in kohärenten Erzählungen zu bündeln und seine normative Geltung sicherzustellen. Die Sehnsucht nach Homogenität und Verbindlichkeit führte in der Praxis immer wieder zu Konflikten und Enttäuschungen. Das wurde im Ersten Weltkrieg und besonders nach 1918 zu einem drängenden Problem. Gerade aus diesen Konflikten und Enttäuschungen resultierte ein verbreiteter Wunsch nach einer dezisionistisch geeinten Nation, in der Homogenität und Verbindlichkeit durch neue Formen der Massenintegration und durch gewaltsame Ausgrenzung hergestellt und garantiert würden. Diese These soll im Folgenden auf zwei verschiedenen Feldern untermauert werden, die neuralgisch für das Spannungsverhältnis von Homogenitätsstreben auf der einen, Polyvalenz und unterschiedlicher Aneignung auf der anderen Seite waren. Zunächst wird untersucht, wie in Preußen und Bayern populäre nationale Geschichtsbilder für den Volksschulunterricht entworfen wurden, die jedoch aufgrund unterschiedlicher Akteure, konkurrierender Loyalitätsansprüche und der Eigenheiten pädagogischer Texte wenig Kohärenz aufweisen konnten (II.). Anschließend wird am Beispiel von Industriellen analysiert, welche Konflikte zwischen normativen Erwartungen und den unterschiedlichen Adaptationen des Nationalismus aufkamen und welche gesellschaftlichen Konsequenzen sich daraus ergaben (III.). Beides zusammen ermöglicht es, die bisherigen Arbeiten zur Kulturgeschichte des Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert durch eine andere Perspektive zu ergänzen. Diese Studien haben überwiegend die mobilisierende und integrative Kraft nationalistischer Bewegungen, Diskurse und Symbo5
Zur „Partizipationsverheißung" des Nationalismus vgl. allg. Langewiesche, Dieter: Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression, in: ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 3554. 6 Dazu klassisch Nipperdey, Thomas: War die wilhelminische Gesellschaft eine Untertanengesellschaft?, in: ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1990, S. 208-225.
Ideen als Weichensteller?
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le betont.7 Das ist zwar für weite Teile der deutschen Gesellschaft gut belegt, insbesondere für die protestantischen Mittelschichten, deren Vergemeinschaftung ganz wesentlich über den Nationalismus erfolgte. Doch betrachtet man daneben andere Gruppen und Konstellationen, so wird deutlich, dass das Verhältnis von nationalen Ideen, narrativer Vermittlung und sozialen Beziehungen ebenso sehr von bitteren Enttäuschungen geprägt war und viele Konflikte verschärfte, statt sie zu überwölben.8 Dieser Befund wirft das grundsätzliche Problem auf, wie die gesellschaftlichen Konsequenzen von Ideen adäquat erfasst werden können. Insbesondere ist zu fragen, ob Ideen mit Max Weber als „Weichensteller" verstanden werden sollten, die menschlichen Handlungen eine gemeinsame Richtung verleihen und damit politisch-soziale Entwicklungen induzieren, oder ob das Eigengewicht von Diskursen, Mythen und deren Aneignungen so hoch zu veranschlagen ist, dass es Webers Theorem entgegensteht. Diese theoretischen Alternativen werden abschließend diskutiert und zur Geschichte des deutschen Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Beziehung
gesetzt (rv.).
II. Nationale Mythen in Lehrbüchern für die Volksschulen in Preußen und
Bayern9
Die Inhalte historischer Wissensvermittlung an den Volksschulen wurden in einem konfliktträchtigen Such- und Aushandlungsvorgang bestimmt, der auf den relativ autonomen Diskursfeldern Politik, Religion, Pädagogik, Ethik und Ästhetik stattfand. Die staatliche Steuerung intensivierte sich zwar seit den Schulreformen der späten 1860er und frühen 1870er Jahre. Doch prallte sie 7
Vgl. bes. Fritzsche, Peter: Wie aus Deutschen Nazis wurden, München/Zürich 1999; Matthiesen, Helge: Von der Massenbewegung zur Partei. Nationalismus in der deutschen
Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 316-329; Wehler, Hans-Ulrich: Radikalnationalismus erklärt er das ,J>itte Reich" besser als der Nationalsozialismus?, in: ders.: Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000, S. 47-64. 8 Wir schließen uns hier und im Folgenden Sven-Oliver Müller: Die umstrittene Gemeinschaft. Nationalismus als Konfliktphänomen, in: Jureit, Ulrike (Hrsg.): Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Münster 2001, S. 122-143 an, der zu Recht die spaltenden, konfliktverschärfenden Wirkungen des Nationalismus vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus betont. Allerdings stützt Müller seine konzeptionell sehr reflektierte Argumentation auf gut bekannte innenpolitische Gegensätze, etwa im Zusammenhang mit der Kontroverse um den „Hauptfeind" im Krieg oder der so genannten Dolchstoßlegende. 9 Für weitere Belege vgl. Meissner, Andrea: „Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen". Nationalismus im Geschichtsunterricht der Volksschulen Preußens, Bayerns und Österreichs 1918-1933/38, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 7 (2001), S. 161-190, sowie demnächst deren Dissertation zum Thema. -
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Autonomieansprüche der Pädagogen sowie auf die öffentlichen Einsprüche des politischen Katholizismus und der Sozialdemokratie gegen die Versuche, sie aus der Schulbuchproduktion auszuschließen. Im entstehenden politischen Massenmarkt waren Schulfragen ein Politikum ersten Ranges, und die zuständige Bürokratie konnte es sich nicht mehr leisten, die in einer pluralistischen Öffentlichkeit vertretenen Interessen ungehört zu lassen. auf die
Der Volksschulunterricht ist damit weder im Sinne einer herkömmlichen Ideengeschichte als Popularisierung und Trivialisierung der akademischen Geschichtsschreibung noch als lineare Umsetzung staatlicher Interessen hinreichend zu beschreiben. Er hatte äußerst heterogenen Forderungen zu entsprechen: Einerseits sollte er eine „vaterländische" Erziehung bewirken, also ein kanonisiertes kollektives Gedächtnis den Schüler(inne)n autoritativ einprägen und auf diese Weise politische Legitimationserfordernisse erfüllen, andererseits hatte er auch eine individualethische „sittlich-religiöse" Erziehung zu leisten.10 Daneben behielten genuin didaktische Kriterien in der
staatlichen Schulbuchapprobation ihr Eigengewicht, weil pädagogischen als Gutachtern eine maßgebliche Rolle zukam. Da vor allem an einfachen Landschulen das Lesebuch wichtigstes Unterrichtsmedium blieb, war das Volksschulwissen stark von literaturästhetischen Kriterien geprägt, die nicht immer zu einer Auswahl von Lesestücken führten, welche mit dem erwünschten Geschichtsbild konform waren.11 Doch auch eine Einheitlichkeit „des" staatlichen Interesses kann nicht unterstellt werden, da in den Schulverwaltungen Liberale und Konservative, sowie Zentral- und Provinzbehörden miteinander konkurrierten und sich die großstädtischen Magistrate zu eigenständigen schulpolitischen Kräften entwickelten. Auch zielte das staatliche Legitimationsinteresse keineswegs eindeutig auf nationale Integration, umso weniger, als das Schulwesen der Hoheit der Einzelstaaten unterstand. In Preußen blieb auch nach 1871 die Loyal isierung der neupreußischen Gebiete vorrangig, weshalb die Schulbücher in erster Linie auf eine stark staatsbezogene gemeinpreußische Identifikation abzielten; die Nation und Preußen fielen dabei weitgehend ineinander. In Bayern wurde die von liberalen Schulbuchautoren vorangetriebene Nationalisierung der Schulbuchhistoriographie von katholisch-konservativer Seite
Experten
10
So lauteten die Kompromissformeln in den Lehrplänen. Vgl. z.B. für Preußen: Allerhöchster Erlass vom 13.10.1890: „Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande" (in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 1890, S. 703-715, hier S. 703). " August Graf von Platens Gedicht „Das Grab im Busento" liegt quer zu dem in den Lehrbüchern vermittelten Fortschrittsoptimismus, weil es die Grablegung Alarichs als düstere Szenerie wiedergibt, in der nicht einmal der tote König der abziehenden Goten vor den Römern sicher ist. Der Aufstieg des Textes zu einem Lesebuchklassiker ist daher eher mit dessen gelungener lautmalerischer und metrischer Gestaltung zu erklären: „Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder./ Aus den Wassern schallt es Antwort, in den Wirbeln klingt es wider [...]."
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nicht ohne Argwohn verfolgt. Diese drang darauf, weiterhin ein stark dynastisch geprägtes regionales Gedächtnis zu pflegen. Damit aber traten die Loyalitätsansprüche der Dynastien in Konkurrenz zueinander. Zudem ließen es die Behörden um der Befriedung von Konflikten willen zu, dass die Schulbücher für Lesestücke geöffnet wurden, die von bestimmten Gruppen präferiert wurden, allen voran von den Katholiken, aber auch von Partikularisten und, je nach Machtverhältnissen, von Liberalen oder Konservativen.12 Strikt ausgeschlossen blieben hingegen die Sozialdemokratie und die polnischsprachige Bevölkerung. Entsprechend inkohärente Vorstellungen der kollektiven Identität wurden damit produziert, zumal die begrenzte Freigabe des Schulbuchmarktes eine erhebliche Pluralität der Geschichtsbilder bewirkte. Dennoch gelang es in den 1870er und 1880er Jahren, integrative historische Mythen zu entwerfen. Die Mythisierung der Nationalstaatsgründung von 1871 als Wiedererstehung des Ersten Reiches baute den Katholiken eine Brücke in das protestantisch dominierte kleindeutsche Reich, da sie eine Verbindung des neuen Nationalstaats mit dem christlichen Universalismus konstruierte.13 Besonders attraktiv war zudem die Definition der Nation über ihre Außenabgrenzung gegen Frankreich.14 Die antinapoleonischen Befreiungskriege stiegen dadurch zu einem zentralen nationalen Mythos auf, zumal sie sowohl für konservative Monarchisten als auch für Liberale einen positiven historischen Bezugspunkt boten, weil an ihnen sowohl die Monarchen als auch das Volk ihren Anteil gehabt hatten. Doch die Vereinnahmung der nationalen Vorreiterrolle in den Befreiungskriegen durch Preußen erschwerte für Bayern eine positive Integration des Mythos in die Identitätsbildung. Umso mehr erfüllte hier die Erinnerung an den Krieg von 1870/71 als bayerisch-preußische „Waffenbrüderschaft" die Funktion eines Gründungsmythos, der Nation und Einzelstaat vermittelte.15 12
Beispielsweise findet sich in preußischen Lesebüchern für die protestantischen Volksschulen Friedrich Schillers Ballade „Der Graf von Habsburg", die nicht nur einen Habsburger als vorbildlichen deutschen Kaiser vorführt, sondern Rudolf von Habsburgs Herrscherrecht aus seiner spezifisch katholischen Frömmigkeit herleitet. (Vgl. z.B. in Ferdinand Hins: Deutsches Lesebuch. Ausgabe B. V. Teil: Erstes Lesebuch für die Oberstufe. Neubearbeitung von 1897, 2. durchges. Aufl., Breslau (Hirt) 1900, S. 283.) Dies lief jedoch der vorherrschenden protestantisch-borussianischen Mythologie entgegen. Vgl. dazu Hardtwig, Wolfgang: Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: ders.: Geschichtskultur, S. 103-160. 13 Zum Nationalisierungsprozess bei den Katholiken vgl. Hardtwig: Nationsbildung, 293f. S. 14 Vgl. z.B. für Bayern: „Die Verwüstung der Pfalz und der Brand Speyers", in: Lese- und Sprachbuch für die Oberklassen der Volksschulen. Bearb. v. mehreren öffentlichen Lehrern. I. Abt., 27, durchges. Aufl., München (Königl. Zentral-Schulbücher-Verlag) 1880, S. 146ff. Hier wurden die Franzosen als „Mordbrenner", „liederlich", „gottlos" und „zungenfix" diffamiert. Vgl. z.B.: „Die Wiedererrichtung des deutschen Kaisertums", in: Lese- und Sprachbuch 1880, S. 265f.
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Daran wird die typische Struktur der Produktion und Organisation historischen Wissens in den Lehrbüchern sichtbar, nämlich die Suche nach historischen Mythen, die aufgrund ihrer Deutungsoffenheit Anschlussmöglichkeiten für verschiedene Identitätsbedürfnisse boten, diese aber auf der symbolischen Ebene vermittelten und integrierten. Das diskurstheoretisch informierte Modell des politischen Mythos16 erscheint daher besonders geeignet zu erfassen, wie die kollektive Erinnerungspflege immer wieder auf einzelne, symbolisch hoch verdichtete Figuren und Schlüsselereignisse rekurrierte, um so einerseits Integration zu bewerkstelligen und andererseits zu politisch wirksamen Situationsdeutungen für die Gegenwart zu gelangen. Gerade die wirkungsrelevante Dimension des Mythos, dass er nämlich gegenwartsbezogen gedeutet werden muss, um Sinnstiftung und Handlungsorientierung geben zu können, blieb im Volksschulunterricht jedoch problematisch. Denn die Schulbehörden scheuten sich, ausformulierte ,Uehren" aus den geschichtlichen Erzählungen festzulegen, um sich keinen Angriffen auszusetzen. So wurde in altbayerischen Schulbüchern nicht einmal eine explizite Parallele zwischen Barbarossa als Symbolfigur des Ersten Reiches und Wilhelm I. gezogen. Die konkrete Ausdeutung der in den Schulbüchern präsentierten historischen Stoffe war in hohem Maße den Lehrer(inne)n überlassen. Die Schaffung eines nationalen „kollektiven Gedächtnisses" blieb so
jedoch prekär.
Zwar sollte der Volksschulunterricht eine generalisierte Folgebereitschaft erzeugen, wie sie an dem permanenten Appell an die „deutsche Treue" ablesbar ist. Doch erwies sich dies als nicht ausreichend, als die Sozialdemokratie nach der Aufhebung der Sozialistengesetze zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft aufstieg. Zugleich verblassten die Integrationsmythen der Reichsgründungsära seit den 1890er Jahren infolge des Kaiserwechsels und auch deshalb, weil sie stark auf den Status Quo bezogen waren und von daher kaum Möglichkeiten boten, eine politische Zukunftsperspektive zu formulieren. Wilhelm II. versuchte, darauf zu reagieren, indem er sein Kaisertum von dessen historischem Herkommen löste und es zu einer Problemlösungsinstanz in der modernen Industriegesellschaft umwidmete.17 Mit ersten Ansätzen einer Staatsbürgerkunde an den preußischen Volksschulen sollte der Arbeiterschaft ein auf sozialstaatliche Teilhaberechte bezogenes nationales 16 Zum Konzept des „politischen Mythos" vgl. v.a. Münkler, Herfried: Politische Mythen und nationale Identität, in: Frindte, Wolfgang/Pätzolt, Harald (Hrsg.): Mythen der Deutschen. Deutsche Befindlichkeiten zwischen Geschichte und Geschichten, Opladen 1994, S. 21-27. Die Deutungsbedürftigkeit politischer Mythen betont besonders: Dörner, Andreas: Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos, Reinbek bei 1996, S. 17, 31-35. Hamburg 17 Vgl. Allerhöchster Erlass 1890; zur praktischen Umsetzung in den Volksschul-Lehrbüchern vgl. z.B.: „Kaiser Wilhelm II., ein Freund der Arbeiter und ein Mann des Friedens", in: Hirts Lesebuch 1900, S. 348ff.
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Integrationsangebot gemacht werden. Da jedoch im Gefolge der kaiserlichen Initiative die preußischen Schulbücher einseitig protestantisch, borussianisch, antipolnisch und antisozialdemokratisch profiliert wurden, mobilisierte sich aufs Neue der sozialdemokratische, katholische und polnische Protest.18
Zugleich stieß das solchermaßen borussifizierte Kaisertum in Bayern auf wenig Gegenliebe. Diese Problemdiagnose wird auch durch die Richtung der geschichtsdidaktischen Innovationen bestätigt. Denn die Lösung wurde darin gesucht, die Komplexität der kollektiven Selbstdefmition zu reduzieren, indem man sie partiell enthistorisierte. Die Geschichtsdarstellung konzentrierte sich nun stärker auf die germanische Urzeit und die Völkerwanderung.19 Die Annahme eines primordialen germanisch-deutschen „Wesens" diente dazu, die
Definitionen des ,J)eutschtums" dem historischen Wandel zu entheben und sie damit gegenüber den älteren kulturellen Konzepten zu vereindeutigen. Komplementär dazu wurde die Nation zunehmend in einer stereotypen Symbolik der „Heimat" imaginiert, die das Verhältnis des Individuums zur Nation nach der emotionalen Bindung an die Familie und den sozialen Nahraum modellierte. Das Aufkommen des völkischen Nationalismus ist somit eher aus seinen Simplifizierungsleistungen zu erklären als aus einer Abkehr von der Moderne. Denn das Paradigma einer Fortschrittsgeschichte blieb insgesamt bis 1914 weitgehend unangetastet. Dies steht in engem Zusammenhang mit der zweiten Lösungsstrategie, ein imperialistisches Zukunftsprojekt zu entwerfen, welches dem Kollektiv eine gemeinsame Perspektive gab, ohne Fragen nach den Gemeinsamkeiten in der Vergangenheit und nach der politischen Ordnung der Gegenwart aufwerfen zu müssen.20 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges jedoch fand diese stark auf das Kaisertum und die impériale Zukunft bezogene Neufassung des kollektiven Selbstverständnisses ein abruptes Ende. Die propagandistische Behauptung, die Mittelmächte führten einen Verteidigungskrieg, verbot es, dem Krieg einen Sinn als Vorbereitung eines imperialen Projektes zu geben. Zum Durchbruch kam stattdessen nun die Vorstellung von der Nation als „Volk", welches solidarisch kämpfte und litt. Zugleich erlebte die Symbolisierung der 18
1906/07 formierte sich eine
umfangreiche Streikbewegung polnischsprachiger
Volks-
schüler(innen). Da auf katholischer Seite die Germanisierung der polnischen Bevölkerung als versuchte protestantische Beeinflussung interpretiert wurde, kam es um die für den
preußischen
Osten bestimmten Lehrbücher immer wieder zu heftigen Konflikten bis hin Aufkommen von Petitionsbewegungen. In Bayern war der völkische Einschlag in den Schulbüchern vor dem Ersten Weltkrieg besonders stark ausgeprägt. Hier war bereits von den Römern als ,,entartete[m] Volk" die Rede, zugleich hielten das Paradigma des Volkstumskampfs und die Rassenlehre Einzug in die Schulbücher. (Vgl. Lesebuch für die siebente Klasse der Volksschulen in München, hrsg. v. Bezirkslehrerverein München, München (Oldenbourg) [1905], S. 133f., 169zum 19
172,205). Vgl. für Bayern: Lesebuch siebente Klasse München [1905], S. 128-136.
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Moritz Föllmer/Andrea Meissner
Nation in der „Heimat" einen erneuten
Aufstieg,
weil sie
an
elementare
Kampfesmotivationen appellierte. Waren die Definitionen der Nation als Volk vor 1914 noch eingegrenzt gewesen, weil die monarchische Staatsdoktrin demokratische Deutungen nicht zuließ, so spalteten sich nationale Selbstdeutungen nach 1918 gerade am Volksbegriff auf: Mit der Übernahme von Regierungsverantwortung durch die Sozialdemokratie begann diese nun auch, sich in den nationalen Diskurs „einzuschreiben". Gerade indem sie versuchte, den Volksbegriff national und demokratisch zugleich zu definieren, hoffte sie, den Nationalismus für die Legitimation der Republik nutzen zu können. Dass dies keineswegs nur über die in der Tradition der Aufklärung entwickelte Konzeption des „Staatsvolkes" geschehen sollte, zeigt sich an folgendem Beispiel: Der Sozialdemokratie nahe stehende Schulbuchautoren in Preußen wählten ein Lesestück des völkischen Schriftstellers Felix Dann,21 welches die germanische Volksversammlung als nationale Urdemokratie darstellte, die sogar legitimiert gewesen sei, einen Fürsten abzusetzen.22 Insofern enthielt der Volksbegriff einen eminenten Demokratisierungsimpuls. Andererseits aber konstituierten sich die staatsbürgerlichen Rechte der freien Germanen-Männer gerade aus ihrer Bereitschaft, ihr Volk gegen den stets präsenten Feind zu verteidigen. Frauen und „Volksfremde" hingegen blieben ausgeschlossen. Diese Koppelung von Kriegsdienst und Partizipationsrecht bedeutete im Kontext der Zeit nach 1918 eine Apologie des Weltkrieges. Ein Auseinanderdriften der Deutungsvarianten kennzeichnet auch die Symbolisierung der Nation in der „Heimat". Jene erfuhr nach 1918 im Kontext der Diskussionen um die „Kriegsschuldlüge" einen neuen Aufschwung, da sie einerseits traditionell unmilitärisch war und deshalb für die eigene Unschuld am Kriegsausbruch stand, andererseits aber eine Sinnstiftung des Krieges bot, wenn er als Düngung der Heimatscholle mit Blut metaphorisiert wurde.23 War die als Dorfgemeinschaft und Familie imaginierte Heimat bislang der Inbegriff einer vormodernen und konfliktfreien Idylle gewesen, so reklamierten nun prorepublikanische Reformpädagogen den Begriff Heimat auch für die Großstadt und erklärten gerade die Heimat zum Übungsfeld, wie politische Konflikte auszutragen seien, indem sie die Wahlen am Wohnort 21 Vgl. z.B. Frech, Kurt: Felix Dahn. Die Verbreitung völkischen Gedankenguts durch den historischen Roman, in: Puschner, Uwe (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung" 1871-1918, München 1999, S. 685-699; vgl. auch Kipper, Rainer: Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, 2002. Göttingen 22 Reiniger, Max/Nickol, Hermann: Neues geschichtliches Lesebuch, I. Teil, 10. und 11. Aufl., Langensalza (Beliz) 1922, S. 8-13; dass., 23. Aufl., Langensalza (Beltz) 1926, S. 21-26. 23 Vgl. z.B. Ferdinand Hirts Deutsches Lesebuch für Berlin. Für das 5.-8. Schuljahr. Teil II, Breslau (Hirt) 1926, S. 203.
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Gegenstand der Heimatkunde machten. Damit trugen sie aber den Alptraum der Völkischen, nämlich die großstädtische Vermassung und Entartung" sowie den „Parteienhader", in das Konzept der „Heimat" hinein. Dies heißt zugleich, dass eine Zurechnung völkischer Topoi zur antirepublikanischen Rechten den politischen Diskurs nach 1918 nicht zureichend zum
charakterisiert. Gerade auch der demokratische Nationalismus rekurrierte auf einen Volksbegriff, der wie bei der völkischen Rechten auf die Germanen, auf Martialität und körperliche Stärke bezogen war.25 Zugegebenermaßen
Schulbuchautoren Stellung gegen den Antifür die völkische Bewegung war,26 doch der charakteristisch semitismus, konnte man den Ausschluss der „Volksfremden" aus der germanischen Urdemokratie auch als antisemitische Anspielung verstehen. Auch interpretierten republikanische Schulbuchautoren den Volksbegriff auf den „Volksstaat" hin, also auf einen demokratischen Staatsnationalismus, wohingegen sie das Konzept der „Volksgemeinschaft" mieden, wie es die politische Rechte proden republipagierte. Dennoch trifft diese idealtypische kanischen Volksbegriff nur zum Teil, da auch hier immer wieder die Sehnsucht nach innerer Einheit artikuliert wurde. Zentraler Mythos dieser Einheit war für die preußische Sozialdemokratie ebenso wie für die antirepublikanische Rechte das „Augusterlebnis" von 1914.28 Komplementär dazu war die Beteiligung der Befürworter der Republik an der Anti-Versailles-Agitation, mit der man glaubte, eine neue nationale Einigung herstellen zu können. Als es jedoch darum ging, konkrete Strategien für den Kampf gegen die Friedensverträge zu entwerfen und die Ziele dieses Kampfes zu definieren, verstrickten sich auch die prorepublikanischen Schulbuchautoren in Widersprüche:
bezogen einige republikanische
Gegenüberstellung27
24
Vgl. Tews, Johannes: Großstadterziehung. Die Großstadt als Jugenderziehungs- und Jugendbildungsstätte, 2. Aufl., Leipzig/Berlin (Teubner) 1921: hier wird gerade die Großstadt als „Stätte freier Staatsauffassung" gepriesen (S. 19). 25 Bernd Buchner, der die Symbolpolitik der Weimarer Sozialdemokratie untersucht hat, reduziert ihren Nationalismus zu sehr auf das nationalrepublikanische Erbe von 1848; ihre Anleihen beim völkischen Diskurs erfasst er hingegen nicht. (Buchner, Bernd: Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001). Eine scharfe Verurteilung des Antisemitismus anlässlich des Rathenau-Mordes findet sich in: Müller, KaiVWagner, Albert: Republikanische Feiern. Eine Handreichung [...].
Bd. I, 3. Aufl., Berlin/Leipzig (Beltz) 1930, S. 189. 27 So bei Hübinger, Gangolf: Geschichtsmythen in „völkischer Bewegung" und „konservativer Revolution". Nationalistische Wirkungen historischer Sinnbildung, in: Blanke, Horst Walter u.a. (Hrsg.): Dimensionen der Historik. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, Köln u.a. 1998, S. 93-103, hier S. 102. 28 In besonders attraktiver Weise formulierte diesen Mythos der „Arbeiterdichter" und Sozialdemokrat Karl Bröger, dessen „Bekenntnis" in beinahe jedem Lesebuch abgedruckt war: „[...] Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt,/ bloß wir haben sie nie mit einem Namen genannt./ Herrlich offenbarte es erst deine größte Gefahr,/ daß dein ärmster Sohn auch dein getreuester war./ Denk es, o Deutschland!" (z.B. in: Müller/Wagner: Republikanische Feiern 1930, S. 99).
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Koppelung der Vorstellung nationaler Freiheit an den Mythos der antinapoleonischen Befreiungskriege, den sie aufgriffen, weil er ebenso als Befreiung von der Fremdherrschaft wie als Befreiung zur politischen Partizipation deutbar war, zeichnete eine militärische Lösungsstrategie vor, die wiederum die „Erfüllungspolitik" ad absurdum führte.29 Zugleich legitimierte die extreme Viktimisierung des deutschen Volkes eine gewaltsame „NotDie enge
wehr".
Insgesamt zeigt sich damit, dass ein staatlich gesteuerter Geschichtsunterricht an den Volksschulen zwar die Chance bot, kanonisierte kollektive Selbstbilder und Weltbilder zu vermitteln, um dadurch sozialisatorisch handlungsprägend auf die kommenden Generationen einzuwirken. Die Versuche der Schulbehörden jedoch, die Varianzbreite dieser Selbstdeutungen einzugrenzen, gelangen nur zum Teil und nur um den Preis, dass die geschichtspolitischen Konflikte sich weiter verschärften, weil sie zu immer neuen politischen Mobilisierungswellen führten. Die doppelte Befriedungsstrategie, einerseits vielfältig deutungsoffene und damit potentiell integrative nationale Geschichtsmythen zu suchen und andererseits begrenzt auch spezifische konfessionelle und regionale Symboliken zuzulassen, war insofern erfolgreich, als der nationale Diskurs tatsächlich einen integrativen Sog erzeugte. Denn konfessionelle und regionale Varianzen erwiesen sich als ebenso mit dem nationalen Rahmen vermittelbar wie politischer Liberalismus und Konservatismus. Auf der diskursiven Ebene integrative Mythen wirken aber nur dann auch politisch integrativ, wenn sie Gegenwartsdeutungen ähnlicher Richtung zu formulieren erlauben, und gerade dies blieb äußerst problematisch. Davon zeugen schon die permanenten Suchbewegungen nach neuen und adäquateren pädagogischen Methoden und Inhalten. Die präsentierten Geschichtsbilder blieben bis hinein in das einzelne Lehrwerk inkohärent und widersprüchlich, und konkrete gegenwartsbezogene Mythendeutungen wurden entweder aus Rücksicht auf pädagogische Autonomiebedürfnisse gänzlich unterlassen oder aber oftmals so formuliert, dass sie die vorhandenen politischen Konfliktlinien verschärften. Nach dem Ersten Weltkrieg äußerten auch die bislang ausgegrenzten politischen und pädagogischen Gruppierungen ihre politischen Deutungen innerhalb des nationalen Diskurses mit den Versatzstücken30 „Volk", „Heimat", 29
So verteidigte die Anthologie „Republikanische Feiern" einerseits die Erfüllungs- und Verständigungspolitik, um andererseits zu erklären, zuerst müssten die Auslandsdeutschen dem Deutschen Reich zugeschlagen werden, bevor eine Völkerverständigung möglich sei. (Vgl. Müller/Wagner: Republikanische Feiern 1930, S. 233f.). Vgl. Ruddies, Hartmut: Flottierende Versatzstücke und ideologische Austauscheffekte. Theologische Antworten auf die Ambivalenz der Moderne, in: Gangl, Manfred/Raulet, Gerard (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Darmstadt 1994, S. 19-36.
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„Germanen" und „Augusterlebnis". Somit trifft das für den Weimarer Rechtsradikalismus bereits öfter beobachtete Schillern der politischen Sprache, die sich „linker" Begriffe und Symbole bediente,31 mit umgekehrtem Vorzeichen auch auf seine politischen Opponenten zu. Doch waren diese nicht frei darin, wie sie nationale Mythen und Symbole umdeuteten; die Eigendynamik des nationalen Diskurses ließ es nicht zu, von einem demokratischen „Volk" zu sprechen, ohne auch die von der politischen Rechten propagierten Bedeutungsdimensionen des Volksbegriffs mitzutransportieren. Doch damit klafften postulierte Einheit und politische Diskrepanzen umso deutlicher auseinander. Was die diskursive Suggestion von Einigkeit bewirkte, war letztlich keine Gleichrichtung der Interessen und politischen Ordnungsvorstellungen, sondern eine vagierende Sehnsucht nach Einheit und Identität. Der Nationalsozialismus versprach, diese Sehnsucht einzulösen, und
sowohl diskursiv, durch die Vereinheitlichung der historischen als auch ganz real, indem er die Bandbreite innenpolitischer Optionen gewaltsam begrenzte und dasjenige Ziel, auf das sich alle politischen Lager einigen konnten, nämlich die Revision des Friedensvertrags von Versailles, gewaltsam durchsetzte. zwar
Wissensvermittlung,32
III. Industrielle und Nationalismus: Erwartungen, und Interessen33
Aneignungen
Die Adaptation des Nationalismus durch Interessengruppen ist von der politischen Sozialgeschichte der 1960er und 1970er Jahre häufig behandelt worden. Die einschlägigen Studien tendieren jedoch dazu, das manipulative 31
So bereits bei Bracher, Karl Dietrich: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, bes. S. 170-182; Vgl. auch: Schüddekopf, Otto-Ernst: Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960; Herf, Jeffrey: Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge u.a. 1984. 32 Der zentralisierte NS-Staat setzte 1935-1939 ein einheitliches Reichslesebuch durch QDeutsches Lesebuch für Volksschulen, hrsg. v. d. Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum in Zusammenarbeit mit der Reichswaltung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. 4 Bde., Berlin [Deutscher Schulverlag] 1935ff.; Deutsches Lesebuch für Hauptschulen, hrsg. v. d. Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum. 2 Bde., Berlin [Deutscher Schulverlag] 1944). Der Geschichtsunterricht wurde bereits unmittelbar nach der „Machtergreifung" neu normiert und die Zahl dafür zulässiger Lehrwerke 1939 reichsweit auf 9 reduziert (Richtlinien für die Geschichtslehrbücher vom 22.6.1933 [für Preußen], in: Zentralblatt 1933, S. 197ff.; Reichsrichtlinien für die Volksschulen vom 15.12.1939, in: Reichsministerialamtsblatt Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volks1940, S. 75ff.). bildung 33 Für ausführliche Belege vgl. Föllmer, Moritz: Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900-1930, Göttingen 2002; ders.: The Problem of National Solidarity, in: German History 23 (2005), S. 202-231.
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Potential nationaler Parolen und das diskursstrategische Geschick ihrer Sprecher überzubetonen.34 Deshalb soll hier erneut nach den sozialen Konsequenzen gefragt werden, die sich aus der breiten Verwendung nationaler Ideen
ergaben. Speziell geht es um Konfliktfalle, in denen Normen der Opferbereit-
schaft und Solidarität mit unterschiedlichen Aneignungen und Interessen kollidierten. Das wird exemplarisch an Industriellen behandelt, aber auch als breiteres Phänomen der politischen Kultur diskutiert. Die Analyse solcher Konfliktfälle erfordert es, über die Ebene programmatischer Erklärungen und ritueller Inszenierungen hinauszugehen und eher periphere Publikationen sowie archivalische Quellen einzubeziehen. Dabei ist es wichtig, Appelle an das Nationalgefühl einerseits mit den Interessen ihrer Autoren in Verbindung zu bringen, sie aber andererseits nicht darauf zu reduzieren, sondern die darin ausgedrückten Überzeugungen und Erwartungen ernst zu nehmen. Die Interessenverbände der wilhelminischen Ära passten das Arsenal der nationalen Rhetorik geschickt an ihre eigenen Deutungsbedürfnisse an. So waren auch die Schwer- und Leichtindustriellen mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung davon überzeugt, durch die eigene Tätigkeit zum Wohl Deutschlands beizutragen. Aus dieser Grundhaltung resultierten neben immer neuen Selbstbestätigungen auch hohe normative Erwartungen. Weil sie in einem harten und angeblich oft unfairen Wettbewerb mit ausländischen Konkurrenten standen, postulierten verschiedene Industrieverbände, dass die Konsumenten zum Kauf einheimischer Feinmechanik, Dachpappe oder Hutmode moralisch verpflichtet seien.35 Die Industriellen selbst wurden aufgefordert, die deutsche Herkunft ihrer Erzeugnisse auch dann nicht zu verbergen, wenn das Publikum ausländische Produkte bevorzugte.36 Damit war bereits das Grundproblem angesprochen, das mit solchen Kampagnen verbunden war: Sie beruhten auf der Annahme, dass sich die moderne Konsumgesellschaft durch nationale Normen beeinflussen lasse und die Käufer bereit seien, ihre individuellen Präferenzen zurückzustellen. Dass dieser Anspruch nur schwer einzulösen war, wurde bereits von den zeitgenössischen Industriellen bemerkt. Sie zogen daraus jedoch nicht den Schluss, ihn für unrealistisch zu erklären, sondern ergingen sich in erbitterten Äußerungen über die nationale Selbstvergessenheit der konsumierenden Bevölkerung. Eine Zuschrift württembergischer Hutfabrikanten erklärte dieses Defizit mit der jahrhundertelangen Erfahrung „deutscher Zerrissenheit und Ohnmacht" 34
Vgl. die Gesamtdarstellungen von Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 6. Aufl., Göttingen 1988 und Mommsen, Hans: Aufstieg und Untergang der von Weimar 1918-1933, Berlin 1998, mit der Literatur. Republik 35 Deutsche Industrie 15 (1913), S. 51f; Deutsche Industrie 14 (1912), S. 359f; WürttemIndustrie 3 (1912), S. 136ff. bergische 36 Deutsche Industrie-Zeitung 30 (1911), S. 913f; Deutsche Industrie 15 (1913), S. 40f; Hansa-Bund 3 (1913), S. 65.
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und monierte, dass sich der „deutsche Michel [...] mit Hochgefühl einen englischen Filz auf das historische Denkerhaupt" setze.37 Solche Konflikte zwischen Normen und Interessen markierten einen kritischen Punkt des Nationalismus. Vor 1914 war dies nicht unbedingt ein zentrales Problem der politischen Kultur, weil Opferbereitschaft und Solidarität etwa in der Erinnerung an den Krieg von 1870/71 meist rituell beschworen werden konnten, ohne wirklich auf die Probe gestellt zu werden. Doch dort, wo tatsächlich eingeklagt wurde, nach nationalen Prinzipien zu handeln, blieb der Erfolg in der Regel hinter den Erwartungen zurück, was zu großen Enttäuschungen führen konnte. Das ließe sich am Nationalitätenkampf im preußischen Osten ausführlich zeigen, in dem man sich wechselseitig beschuldigte, das eigene Interesse über das allgemeine Wohl zu stellen. So war es etwa ein beliebter Vorwurf linksliberaler Publizisten, dass der Adel die Polenpolitik aus Standesegoismus konterkariere.38 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs weitete sich die Problematik der nationalen Opferbereitschaft und Solidarität stark aus. Dass Kämpfen vier Jahre lang die Norm war, setzte besonders die Zivilbevölkerung erheblichen Rechtfertigungszwängen aus. Ein breites Spektrum menschlicher Aktivitäten müsste nun als Beitrag zur Kriegführung legitimiert werden, um den neuen normativen Ansprüchen zu genügen und öffentliche Akzeptanz und Anerkennung zu erlangen. Das prägte die Selbstwahrnehmung vieler Zeitgenossen, nicht zuletzt die der Industriellen. Manche von ihnen gingen dabei so -
-
weit, die Nichtbeteiligung
am
physischen Kampf zum eigentlichen Opfer zu
erheben. So betonte der Verbandstofffabrikant Walther Hartmann aus dem württembergischen Heidenheim, dass es ihm ungemein schwer falle, „daheim zu sitzen wie ein alter Großvater", dass er jedoch die Aufrechterhaltung seines kriegswichtigen Betriebs als höhere Pflicht und als Chance verstehe, sich „an dem großen Ringen persönlich beteiligen zu dürfen."39 Die erfahrungsgeschichtliche Forschung zum Ersten Weltkrieg hat zahlreiche Belege für solche flexiblen Anpassungen nationaler Ideen an die eigenen individuellen und gruppenspezifischen Deutungsbedürfnisse erbracht. In der Selbstwahrnehmung der Akteure konnte es dadurch gar keinen Widerspruch zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl geben.40 Die gesellschaft37
Württembergische Industrie 3 (1912), S. 136ff. Vgl. z.B. Hansa-Bund 1 (1911), S. 308. 39 38
Walther Hartmann an seinen Freund Ströbel, 28.10.1914; Walther Hartmann an Herrn Wiest, 4.5.1915, beide im Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart-Hohenheim, B 46, Bü 444. 40 Das zeigt das Beispiel des Mundharmonikafabrikanten Hohner, der offenbar gar nicht verstand, warum Lieferungen nach Großbritannien ein Anlass waren, seinen Patriotismus in Frage zu stellen; vgl. den vorzüglichen Artikel von Berghoff, Hartmut: Patriotismus und Geschäftssinn im Krieg: Eine Fallstudie aus der Musikinstrumentenindustrie, in: Hirsch-
feld, Gerhard u.a. (Hrsg.): Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997, S. 262-282, hier S. 277, 281.
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liehe Folge war jedoch ein Zerfall der Kriegswahrnehmung in unterschiedliche „subjektive Repräsentationen desselben Ereignisses",41 der in einem Spannungsverhältnis zum ubiquitären Ruf nach innerer Einheit im Angesicht des Feindes stand. Der von der Staats- und Armeeführung sowie der politischen Rechten propagierte Mythos des „Augusterlebnisses" konnte das immer weniger überdecken.42 Vor diesem Hintergrund kam es häufig zu wechselseitigen Anschuldigungen, das nationale Wohl zugunsten der eigenen Interessen zu vernachlässigen oder sogar zu instrumentalisieren, was neben den bekannten Kontroversen über Hauptfeindbilder, Kriegsziele und Demokratisierung maßgeblich zur Polarisierung der deutschen Kriegsgesellschaft -
beitrug.
-
Die Industriellen machten die Erfahrung, dass ihre subjektiven patriotischen Verdienste nicht anerkannt wurden und sie sich stattdessen gegen den Vorwurf verteidigen mussten, „Kriegsgewinnler" zu sein.43 Und innerhalb der eigenen Reihen gab es ähnliche Anschuldigungen. In Württemberg kam der Verdacht auf, dass die Berliner Großindustriellen „den Krieg als eine vortreffliche Gelegenheit zum Geschäftemachen" verstünden. „Wo eine solche Stimmung überwiegend ist, wird auf uns Württemberger keine Rücksicht genommen."44 Ein Hersteller von Papierwaren unterstellte einer Gruppe von Strohwarenfabrikanten, aus egoistischen Motiven ein Einfuhrverbot für niederländische Pappe zu propagieren; angeblich ginge es darum, deutsches Gold zu sparen, tatsächlich seien „diese Patrioten" aber bloß darauf aus, den Preis ihres Produkts in die Höhe zu treiben.45 Solche Konflikte wurden durch den Nationalismus moralisch aufgeladen und dadurch verschärft statt überwunden. Die Konsequenz, dieses Spannungspotential zu entschärfen, zog als einer der wenigen Unternehmer Robert Bosch, der einem empörten Konkurrenten entgegenhielt: ,£s ist nicht richtig, wenn man jemand angreift und sein Deutschtum verdächtigt, weil er einer anderen Ansicht zuneigt, als der, welche man selbst hat."46 41
So die treffende
Formulierung von Achim Hopbach: Der Erste Weltkrieg in der Erfahin: Hirschfeld u.a. (Hrsg.): Kriegserfahrungen,
rungswelt württembergischer Unternehmer, S. 247-261, hier S. 260. Verhey, Jeffrey: Der „Geist burg 2000.
42
von
1914" und die
Erfindung der Volksgemeinschaft,
Ham-
Vgl. etwa Mitteilungen des Kriegsausschusses der deutschen Industrie, Nr. 118 (7.10.1916), S. 1893f; Württembergische Industrie 7 (1917), S. 171. Wilhelm Model, Feuerbach-Stuttgart, Fabrik der „Original-Mode" Hotel- und Haus-
haltungsmaschinen an Königliche Zentralstelle für Gewerbe und Handel, 6.11.1916, Staatsarchiv Ludwigsburg, E 170, Bü 1489. 45 Mich. Birk Tuttlingen, Cartonagen- Etuis- und Papierwaren-Fabriken an Königliche Zentralstelle für Gewerbe und Handel, 26.4.1916, Staatsarchiv Ludwigsburg, E 170, Bü 1597. Robert Bosch gart, 14/34. 46
an
Kommerzienrat S.
Seligmann, 3.10.1914,
Robert Bosch Archiv Stutt-
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Nach 1918 wirkte diese Problematik fort und blieb für die gesamte Weimarer Republik prägend, vor allem weil der Krieg diskursiv und durch Revolution und sozialen Protest, Grenzverschiebung und Besatzung lebensweltlich verlängert, beziehungsweise zum Teil überhaupt erst erfahren wurde. Darin liegt ein wichtiger Unterschied etwa zu Frankreich, wo es während des Krieges ganz ähnliche Vorwürfe gegeben hatte, die jedoch im Zuge der raschen innenpolitischen und gesellschaftlichen Stabilisierung stark an Bedeutung verloren. Dort blieb auch das politische System bestehen, so dass es nach wie vor einen offiziösen Deutungs- und Orientierungsrahmen für die unterschiedlichen nationalen Diskurse gab. In Deutschland dagegen ging der massive Legitimationsverlust des Staates, der bereits während des Krieges eingesetzt hatte, weiter; das Ende des Kaiserreichs verlieh dem Nationalismus eine zusätzliche Dynamik, die sich in einer diskursiven Konjunktur des „Volkes"
niederschlug.
Selbst die industriellen Eliten, die sich bis 1918 mit unterschiedlichen Akzenten in eine nationalstaatliche Erfolgsgeschichte eingeschrieben hatten, adaptierten nun das populäre Leitbild der „Volksgemeinschaft". Aufgrund der betont antietatistischen Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften in der Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) war das anfänglich auch plausibel. Doch der Gemeinschaftsdiskurs führte die Industriellen dazu, die ZAG nicht als institutionellen Rahmen zur kooperativen Austragung von Interessendifferenzen zu verstehen, sondern mit utopischen Integrationserwartungen zu belasten. Das müsste zu Enttäuschungen führen, die den Erosionsprozess der ZAG begleiteten und mit vorantrieben: „Mit solchen Einwänden, solchem Mißtrauen überall", so ein typischer Vorwurf an die Gewerkschaften, „wird man allerdings kaum eine Volksgemeinschaft zusammenbringen, sie höchstens auseinanderreden und -schreiben."47 Nach der endgültigen Auflösung der ZAG 1924 deuteten die Industriellen die Arbeitsgemeinschafts- und damit auch die Volksgemeinschaftsidee offensiv um. Im Zentrum stand nun die „Werksgemeinschaft [...] im Rahmen einer nationalen Volksgemeinschaft", die als Gegenmodell zum bestehenden System der Arbeitsbeziehungen entworfen wurde.48 Diese Engführung ermöglichte einerseits eine noch raffiniertere und schlüssigere Adaptation des Nationalismus an gruppenspezifische Deutungsbedürfnisse und Erfahrungswelten, ging jedoch andererseits mit ungebrochenen Homogenitätsvisionen einher. Beides wurde auch noch in der Weimarer Republik über bürgerliche Einstellungen und Wahrnehmungsmuster in subjektiv überzeugender Weise vermittelt: Durch ihre unermüdliche Arbeit für das eigene Unternehmen förderten die Industriellen zwangsläufig das nationale Wohl. Gleich-
47 48
Der Arbeitgeber 1922, S. 285. Der Arbeitgeber 1924, S. 268; ähnlich ebd., S. 368f., 500f.
-
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Belegschaften als im Grunde gutherzig und unterorderziehungsbedürftig an. Daher glaubten sie an die Möglichkeit von Integrationserfolgen, wenn es nur gelänge, den Einfluss der Arbeiterbewegung zu überwinden. Die Vermittlungsform der „Werksgemeinschaft" waren die Werkszeitschriften, die in der Weimarer Republik florierten. Auf diese Weise versuchte etwa die Firma Henkel, ihre Beschäftigten davon zu überzeugen, dass der Betrieb die „Keimzelle jenes neuen deutschen Vaterlandes" sei, „das wir alle als gesegnete Heimat einer wahren Volksge-
zeitig sahen nungswillig,
sie ihre aber
meinschaft ersehnen und mit erreichen mögen."49 Während sich die Industriellen, und zwar besonders die rheinischwestfälischen Schwerindustriellen,50 auf diese Weise in der Öffentlichkeit und innerhalb der Betriebe selbstbewusst präsentieren konnten, gab es auch Fälle, wo sich nationale Konflikte unmittelbar mit ihren Erfahrungen verbanden. Das war in besonderem Maße im westdeutschen Industriegebiet der Fall, wo die regionalen Unternehmer von der Ruhrbesetzung betroffen oder sogar (links des Rheines sowie in Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort) über mehrere Jahre hinweg der alliierten Okkupation ausgesetzt waren. Der Versuch Frankreichs und Belgiens, das industrielle Potenzial des Reiches zu kontrollieren, hatte eine wichtige erfahrungs- und deutungsgeschichtliche Dimension, weil er mit tiefen Eingriffen in den unternehmerischen Alltag verbunden war.51 Zahlreiche Industrielle mussten Fabrikinspektionen und Demontagen, Verhaftungen und Ausweisungen hinnehmen. Aus diesen Erfahrungen und aus den Solidaritätsbekundungen im Reich leiteten sie einen moralischen Anspruch auf weitreichende Unterstützung ab. Dessen Erfüllung blieb allerdings hinter den hohen Erwartungen zurück. Während der Ruhrkrise warf man intern den übrigen Deutschen vor, die damit verbundenen materiellen und psychischen Lasten gering zu schätzen und den Betroffenen nicht genügend zu helfen.52 Auch das Verhalten der Geschäftspartner im unbesetzten Gebiet gab Anlass zu enttäuschten Reaktionen. Allen Solidaritätsappellen zum Trotz beharrten diese auf der genauen Erfüllung vertraglich fixierter Lieferverpflichtungen, ohne zu berücksichtigen, dass die Transportbedingungen wegen der Besatzungsherrschaft er49
Hause. Hauszeitschrift der Firma Henkel & Cie., Düsseldorf 7 (1927), S. 2; Visions of Modernity. American Business and the Modernization of New York 1994, S. 196-200. Germany, 50 In Württemberg beanspruchte man zwar ebenfalls, im nationalen Interesse zu handeln, aber die Werks- und Volksgemeinschaftsrhetorik tauchte in den Zeitschriften Württembergische Industrie (1919-1930), Württembergische Wirtschaftszeitschrift (1921-1929) und Bosch-Zünder (1919-1930) nicht auf. 51 Dazu ausführlich Föllmer, Moritz: Der Feind im Salon. Eliten, Besatzung und nationale Identität in Nordfrankreich und Westdeutschland 1914-1930, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002), S. 1-24. 52 Reinhard Poensgen an Josef Wilden, 12.4.1923, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierung Düsseldorf, RW 49, 60, Bd. 2. Blätter
vom
vgl. Nolan, Mary:
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waren. Wurde nicht pünktlich geliefert, zögerten sie nicht, den Veroder die Zahlung zu verweigern. Eine betroffene Düsselkündigen trag dorfer Firma gab sich entschlossen, „diesen Fall evtl. zum Präzedenzfalle zu
schwert zu
machen, ob wir im Ruhrgebiet nach jeder Seite die Geschädigten sein müssen", erhob eine geschäftliche Auseinandersetzung also zum Test für die
patriotische Hilfsbereitschaft des unbesetzten Deutschland.53 Für ein anderes Unternehmen war diese Frage wenige Monate später geklärt: „Von einer Unterstützung kann überhaupt keine Rede sein, man möchte manchmal daran zweifeln, daß das Rhein. Westf. [sie] Gebiet überhaupt noch zu Deutschland gehört. Die ganzen Firmen im unbesetzten Gebiet, insbesondere die von Thüringen und Sachsen, geben sich nicht die geringste Mühe, irgend etwas zu tun."54 Die angeführten Konfliktfalle zeigen, dass die durch die Rhetorik der Opferbereitschaft und Solidarität geweckten normativen Erwartungen in einem Spannungsverhältnis zur flexiblen Adaptation nationaler Ideen an die jeweiligen Deutungsbedürfnisse und Interessen standen. Die kollektiven und individuellen Akteure dieser Aneignung waren in aller Regel subjektiv davon überzeugt, im nationalen Interesse zu handeln und deshalb ein moralisches Anrecht auf Unterstützung durch andere Deutsche zu haben. Deshalb interpretierten sie es häufig als mangelnde patriotische Solidarität, wenn ihre Konfliktgegner genauso dachten und handelten. Die Folge war, dass der radikalisierte, normativ anspruchsvolle Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts neben den unbestreitbar vorhandenen integrativen auch polarisierende Wirkungen hatte: Wie gezeigt, konnte er Konflikte zwischen Produzenten und Konsumenten, Unternehmern und Arbeiterschaft, Industriellen aus Württemberg und Berlin oder aus den okkupierten Teilen Westdeutschlands und dem unbesetzten Gebiet, zwischen Papierwarenherstellern und Strohwarenfabrikanten nicht überwinden. Stattdessen verschärfte er sie, indem er sie moralisch auflud und dadurch zu nationalen Gegensätzen machte. Solche Erfahrungen erklären auch die zahlreichen enttäuschten Äußerungen über das angebliche deutsche Defizit an patriotischer Gesinnung, wenn etwa der Chemieindustrielle Fritz Henkel auf die Zeit vor der Reichsgründung zurückblickte und hinzufügte, „daß es auch heute keine Deutschen gebe, daß alle nur ihrer Partei, ihren Sonderinteressen leben".55 Was hier an den Industriellen exemplarisch behandelt worden ist, war ein breiteres Phänomen.56 Es war kennzeichnend für die politische Kultur der 53
Gebrüder Schwarz, Chemische Fabrik, Düsseldorf, an Firma Grafitverwertungsgesellschaft m.b.h., München, 7.2.1923, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Regierung Düsseldorf, RW 49, 61, Bd. 1. 54 Industrie-Kontor GmbH, Düsseldorf, an Handelskammer von Düsseldorf, 9.7.1923, ebd. 55 Blätter vom Hause 10 (1930), S. 7 [Hervorhebung im Original]. 56 Das kann hier nicht näher belegt werden; vgl. ausführlich Föllmer: Problem.
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Weimarer Republik, dass sich eine Vielzahl von Gruppen zu ihrer Selbstlegitimation und Außendarstellung auf die Nation beriefen, aber von den Resultaten ihrer rhetorischen Anstrengungen enttäuscht waren und Konkurrenten, Öffentlichkeit und Staat eine Missachtung der eigenen, als genuin patriotisch wahrgenommenen Bedürfnisse vorhielten. Zwar trifft es zu, dass die nationalistische Mobilisierung in Vereinen, Festen und Stahlhelm ein starkes Gegengewicht zur sozioökonomischen Fragmentierung insbesondere der Mittelschichten darstellte.57 Aber deshalb sollte nicht übersehen werden, wie eng nationale Rhetorik und Interessenpolitik miteinander verknüpft waren und welches immense Konfliktpotential sich aus dieser Vermischung ergab. Hinzu kamen diejenigen Teile der Bevölkerung, die von Grenzverschiebung und Besatzung betroffen oder kriegsversehrt waren und ihre Erfahrungen deshalb als heroisches Opfer interpretierten. In ihren daraus abgeleiteten Erwartungen auf Unterstützung sahen sie sich jedoch vielfach enttäuscht und schlössen sich daraufhin in unterschiedlichen Varianten dem allgemeinen Viktimisie-
rungsdiskurs an.58
Damit soll nicht bestritten werden, dass
es
vielfach
so etwas
wie eine
patriotisch motivierte Hilfs- und Opferbereitschaft gegeben hat; entscheidend ist aber, dass sie weit hinter den hohen normativen Ansprüchen zurückblieb. Deshalb lagen die Konsequenzen nationaler Ideen für die Weimarer Gesellschaft weniger in ihrer handlungsmotivierenden Kraft oder in politischen Steuerungswirkungen als in den enttäuschten Erwartungen, die sie produzierten. Die Folge war, dass auch und gerade führende Rechtsintellektuelle den moralischen Instinkten der Bevölkerungsmehrheit misstrauten. So warnte etwa Hans Zehrer vor einem übereilten „Sprung in die Volksgemeinschaft" und beklagte im Herbst 1932, dass das Volk nach wie vor „selber liberal", d.h. an eigennützigen Interessen orientiert, sei.59 Das erklärt, warum die radikalnationalistischen Diskurse der späten Weimarer Republik die moralischen Vorbilder für ein erneuertes Deutschland außerhalb der deutschen Gegenwart (bei toten Kriegshelden, Auslandsdeutschen, Germanen, einer utopisch verstandenen Jugend oder einer mehr imaginären als realen Landbevölkerung) sahen und von einer Sehnsucht nach .¿Entscheidung", staatlicher Homogenitätserzwingung und klarer rassischer Kategorisierung durchzogen waren. Auf diese Weise sollte eine Nation hergestellt werden, die nicht länger von der zweifelhaften Gesinnung der Bevölkerungsmehrheit abhängen und endlich einen eindeutigen politischen Richtungssinn haben würde.60 57
Vgl. u.a. Fritzsche: Wie aus Deutschen; Matthiesen: Massenbewegung. Vgl. auch Eghigian, Greg A.: The Politics of Victimization. Social Pensioners and the German Social State in the Inflation of 1914-1924, in: Central European History 26 S. 375-404. Für Anregungen zu diesem Punkt danke ich Alexa Geisthövel. (1993), ** 58
60
Die Tat 23 (1931/32), S. Vgl. Föllmer: Problem.
922; 24 (1932/33), S. 632.
Ideen als Weichensteller?
IV.
331
Schlussbetrachtung: Zur gesellschaftlichen Gestaltungskraft nationaler Ideen
Mit der historischen Wissensvermittlung in Volksschulen und den Deutungen und Interessen von Industriellen sind hier zwei Konfliktfelder der deutschen Gesellschaft zwischen Wilhelminismus und Nationalsozialismus behandelt worden, die zunächst einmal wenig gemeinsam haben. Dennoch verweist ihre Zusammenschau auf ein Grundproblem des Nationalismus, nämlich die inneren Konflikte, die durch seine Polyvalenz und unterschiedliche Aneignung hervorgerufen werden können und sich in Deutschland im Untersuchungszeitraum besonders zuspitzten. Dieser Befund wirft die grundsätzliche Frage auf, wie sich die gesellschaftliche Gestaltungskraft nationaler Ideen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert konzeptionell erfassen lässt. Einen einflussreichen Vorschlag hat Max Weber formuliert, für den Ideen dadurch wirksam werden, dass sie von Intellektuellen zu „systematisch-rationalisierten" Weltbildern gebündelt werden. Diese Weltbilder steuern zwar nicht unmittelbar das menschliche Handeln, haben aber „sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt", „in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte".61 Konkret fragte Weber nach den Auswirkungen religiöser Wertbegründungen auf Wirtschaftsethiken und damit auf ökonomisches Verhalten. Folgt man der Explikation und Weiterentwicklung des Weberschen Ansatzes durch Mario Rainer Lepsius, so sind Ideen insoweit gesellschaftlich wirksam, als sie kausal für menschliches Handeln verantwortlich sind: Dire „Sozialrelevanz" besteht in ihrer „Handlungsrelevanz". Demnach sei es Aufgabe der Kultursoziologie, die kognitive Struktur der jeweiligen Idee zu erfassen und ihre verhaltensprägenden Konsequenzen für bestimmte Trägergruppen herauszuarbeiten.62 Dieses Verständnis der gesellschaftlichen Wirkung von Ideen ist durch wichtige theoretische Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte in Frage gestellt worden. Zunächst einmal wird bezweifelt, ob sich Ideen sinnvoll als zielgerichtete, rationalisierte Weltbilder verstehen lassen, und es wird die Bedeutung solcher diskursiver Zusammenhänge betont, die kein erkennbares Ziel haben und nicht zu kohärenten Doktrinen rationalisiert sind.63 Im Zusammenhang damit werden Sprache, Erzählungen, Mythen, auch die Rolle der Akteure aufgewertet. Es handelt sich nicht mehr um bloße Vermittlungs61
Weber, Max: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Einleitung, in: ders.: Gesammelte zur Religionssoziologie I, 6. Aufl., Tübingen 1988, S. 237-275, hier S. 252.
Aufsätze 62
Lepsius, Mario Rainer:
Interessen und Ideen. Die
Zurechnungsproblematik
bei Max
Weber, in: ders.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 31-43. 63 Vgl. z.B. mit expliziter Kritik an Weber Sarasin, Philipp: Subjekte, Diskurse, Körper.
Überlegungen -
gang/Wehler, hier S. 136.
zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte, in: Hardtwig, WolfHans-Ulrich (Hrsg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 131-164, -
332 formen
Moritz Föllmer/Andrea Meissner von
Inhalten, sondern
um
Faktoren, die ein hohes Maß
an
Eigen-
dynamik entfalten.
Dabei bestehen jedoch wichtige Unterschiede: Einerseits unterstreichen viele Autoren den Charakter von diskursiven Formationen als Regelsystemen, die „dem Sprechen seine Bedingungen" diktieren und so den Handlungsspielraum der Subjekte von vornherein begrenzen.64 Andererseits betonen vor allem Alltagshistoriker die große Bedeutung und Bandbreite individueller Aneignungen von Diskursen.65 Ähnlich versteht die amerikanische Soziologin Ann Swidler in expliziter Abgrenzung von Weber Kultur nicht als Zielvorgabe für das Handeln sondern als „tool kit", den Menschen nutzen, um sich Orientierung zu verschaffen, ihr Leben zu deuten und ihre Identität zusammenzusetzen.66 Eine mittlere Position nehmen solche Stimmen ein, welche die Bedeutung von Diskursen hoch veranschlagen, aber sie eng mit gesellschaftlichen Machtkämpfen verbinden. Damit lenken sie den Blick auf die „Vielzahl von Urhebern", die an der Produktion von Diskursen beteiligt sind und sie dadurch heterogen machen,67 was mit dem „systematisch-rationalisierten" und ideologischen Charakter von Ideen in Webers Weichensteller-Theorem nur schwer zu vereinbaren ist. Schließlich wird darauf hingewiesen, dass der Status von Diskursen nicht rein theoretisch bestimmbar ist, sondern insofern selbst historisiert werden sollte, als sich die verfügbaren diskursiven Möglichkeiten in der Moderne stark vermehrt und darüber an Durchsetzungsfähigkeit verloren haben.68 Es wäre weiter zu klären, wie sich dieser Befund zur Konjunktur von Homogenitätsvisionen im späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhält. Ob Weber tatsächlich die „Art, in der überhaupt die ,Ideen' in der Geschichte wirksam werden",69 erfasst hat, lässt sich also mit guten Gründen Ebd., S. 142 und passim, in Anknüpfung an Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Aufl., Frankfurt/M. 1997. 65 Vgl. verschiedene Publikationen von Alf Lüdtke, v.a. ders.: Alltagsgeschichte: Aneig8.
es hat noch kaum begonnen!, in: WerkstattGeschichte 17 nung und Akteure. Oder (1997), S. 83-91, als Replik auf: Sarasin, Philipp: Arbeit, Sprache, Alltag. Wozu noch in: ebd. 15 (1996), S. 72-85. Alltagsgeschichte?, 66 Swidler, Ann: Talk of Love. How Culture Matters, Chicago 2001; vgl. auch schon dies.: Culture in Action: Symbols and Strategies, in: American Sociological Review 51 (1986), S. 273-286. Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, 2. Aufl., Tübingen 2004, S. 89, im Anschluss an den späten Foucault (vor allem in: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit I, 6. Aufl., Frankfurt/M. 1992). 68 Raphael, Lutz: Diskurse, Lebenswelten und Felder. Implizite Vorannahmen über das soziale Handeln von Kulturproduzenten im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hardtwig/'Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte, S. 165-181, hier S. 171 (in Abgrenzung von solchen Ansätzen, die in der Tradition des französischen Strukturalismus die Homogenität von Diskursen -
unterstellen).
69
Weber, Max: Die protestantische Ethik gionssoziologie I, S. 17-206, hier S. 82.
und der Geist des
Kapitalismus,
in: ders.: Reli-
333
Ideen als Weichensteller?
ist damit noch nicht gesagt, dass Ideen niemals als „Weichensteller" wirken. Wichtig ist hier, dass Weber sein Theorem erst nach Abschluss der „Protestantischen Ethik" entwickelt und 1920 in die Einleitung zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen" eingefügt hat, zu einer Zeit, als er intensiv über die gesellschaftliche Rolle von Intellektuellen nachdachte. Dabei hatte er das revolutionäre Russland vor Augen, in dem eine neue Deutungselite vielfältige Strömungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu einem kanonischen Weltbild zusammenfügte, das tatsächlich ein hohes Maß an gesellschaftlicher Gestaltungskraft entfaltete.70 Für solche Umbruchsperioden, in denen Ideen für bestimmte Gruppen ein hohes Maß an Handlungsrelevanz haben, in kurzer Zeit politisch durchgesetzt und auch institutionell konkretisiert werden, hat das Weichensteller-Theorem also eine gewisse Plausibilität, während es wesentlich schwieriger ist, damit längerfristige Verhaltensprägungen zu erfassen.71 Es ist kein Zufall, dass sich eine der wenigen Arbeiten, die Webers Verständnis der gesellschaftlichen Wirkung von Ideen empirisch erprobt haben, ebenfalls auf eine revolutionäre Situation bezieht, nämlich die Nacht des 4. August 1789.72 Wie können diese theoretischen Überlegungen nun auf die Geschichte des deutschen Nationalismus bezogen werden? Auch vor 1871 waren nationale Ideen polyvalent, weil ihre diskursive, narrative und mythische Form ein starkes Eigengewicht hatte und sie von unterschiedlichen aber ganz überwiegend bürgerlichen Akteuren mit jeweils eigenen Deutungsbedürfhissen und Ideen adaptiert wurden.73 Das verhinderte jedoch nicht, dass sie von Deutungseliten zu Weltbildern gebündelt wurden, die den im Einzelnen heterogenen Teildiskursen und Aneignungen einen gemeinsamen Richtungssinn verliehen. Eine einflussreiche Minderheit wurde dadurch motiviert, sich für eine Nationalstaatsgründung zu engagieren, wenngleich deren konkrete Form bis in die 1860er Jahre offen war. Nach 1871 wurde diese „Weichensteller"-
bezweifeln.
Allerdings
-
-
70 Vgl. Hübinger, Gangolf: Intellektuelle, Intellektualismus, in: Kippenberg, Hans G./ Riesebrodt, Martin (Hrsg.): Max Webers .Religionssystematik', Tübingen 2001, S. 297313, hier S.310ff. 71 Lepsius: Interessen, S. 37 schlägt vor, direkte von indirekten Folgen einer Idee zu unterscheiden, wobei die Ersteren sich „aus ihrer Struktur ableiten" und die Letzteren „sich aus dem Zusammentreffen mit Kontextbedingungen eigener Art erst einstellen." Gegen diese Position lässt sich einwenden, dass Ideen keine fixe „Struktur" haben, aus der sich „direkte Folgen" ergeben, sondern dass sie im „Zusammentreffen mit Kontextbedingungen" übererst wirksam werden und sich damit immer auch ihr Gehalt selbst verändert. haupt 72 Eine Gruppe engagierter Parlamentarier rekurrierte auf aufklärerische Ideen, um unter-
schiedlichen Interessen und der kommunikativen Dynamik der Debatte über die bäuerlichen Unruhen einen gemeinsamen Richtungssinn zu verleihen, und führte damit die Abschaffung der Feudalherrschaft herbei. Vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid: Die Nacht des 4. August 1789 im Schnittpunkt von Aufklärung und Revolution. Zur Sozialrelevanz von Ideen, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 27 (2001), S. 68-86. 73 Das wird etwa deutlich bei Echternkamp, Jörg: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770-1840), Frankfurt/M. 1998.
334
Moritz Föllmer/Andrea Meissner
Funktion retrospektiv zu einer kleindeutschen Tdeologie überhöht, die für etwa zwei Jahrzehnte einen eindeutigen Richtungssinn des Nationalismus
suggerieren konnte.74
Seit dem späten 19. Jahrhundert ging allerdings die „Weichensteller"Funktion nationaler Ideen zunehmend verloren. Gerade die Vieldeutigkeit und die Anschlussfähigkeit an unterschiedliche Identitäten und Interessen, die lange Zeit integrativ gewirkt hatten, wurden nun zum Problem. Die narrativen Formen, über die der Nationalismus als höchster Wert verankert werden sollte, entfalteten eine starke Eigendynamik. Und für immer mehr Gruppen stellte die wichtigste zeitgenössische Ideologie ein diskursives Angebot dar, aus dem sie sich zu ihrer eigenen Selbstdeutung und öffentlichen Präsentation mit hoher Flexibilität bedienten. Der Appell an patriotische Solidarität ging dabei mit der Formulierung eigener Partizipationsansprüche einher. Dieser Erfolg des Nationalismus brachte jedoch neue Probleme mit sich. In einer Epoche der Fundamentalpolitisierung konnten bürgerliche Publizisten immer weniger als anerkannte Deutungseliten agieren und Ideen so zu gesellschaftlich wirksamen Weltbildern bündeln. Da auch der Staat nicht mehr in der Lage war, diese Rolle auszufüllen, bietet der Nationalismus dieser Periode viele Beispiele für solche Diskurse, die durch Institutionen unzureichend kontrolliert und daher auch nicht durch Regeln stabilisiert sind.75 Dass das Leitbild des „Volkes" anders als die elitäreren Varianten des Nationalismus im 19. Jahrhundert breite Bevölkerungsschichten ansprach, erschwerte eine konsensfähige Bestimmung der Ziele, die in seinem Namen verfolgt werden sollten. Max Webers Feststellung, dass sich „auf die Frage: welche Konsequenzen eine Menschengruppe aus dem innerhalb ihrer emphatisch und mit subjektiv noch so aufrichtigem Pathos verbreiteten .Nationalgefühl' für die Entwicklung der Art eines spezifischen Gemeinschaftshandelns zu ziehen bereit ist, grundverschiedene Antworten" fänden, traf nun immer stärker auf das Innenleben der deutschen Nation zu.76 Gleichzeitig machte es die moralisch-aktivistische Aufladung nationaler Ideen in und nach dem Krieg für viele Menschen aber auch unmöglich, sich mit dem Fehlen einer solchen Zielbestimmung abzufinden. Stattdessen entbrannte ein offener Definitionskampf mit hoher Radikalisierungsdynamik, der zunehmend auch nach innen in den Kategorien der Feindschaft geführt wurde. Begleitet wurde dieser Definitionskampf von einem verbreiteten Wunsch nach autoritativdezisionistischer Festlegung und eindeutiger Handlungsrelevanz des Nationalismus. 4
Vgl. u.a. Langewiesche: Nation; Gramley, Hedda: Propheten des deutschen NationalisTheologen, Historiker und Nationalökonomen (1848-1880), Frankfurt/M. 2001. Diese Unterscheidung bei Sarasin: Subjekte, S. 153, in Anlehnung an Michel Pecheux. 76 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Studienausg., Tübingen 1980, S. 530. mus. 75
Ideen als Weichensteller?
335
Diese Sehnsucht nach Homogenität und Verbindlichkeit durchzog die politischen Diskurse der Weimarer Republik. Nach 1933 schien sie erfüllt zu sein: Nun waren zwar weiterhin unterschiedliche Varianten „völkischen" Denkens möglich, und auch konservative Formen des Nationalismus wirkten fort. Aber das NS-Regime demonstrierte erfolgreich, dass es dieser Heterogenität ideologische wie institutionelle Grenzen setzte, ihr einen gemeinsamen Richtungssinn verlieh und überhaupt in der Lage war, weitreichende Ideen „rücksichtslos" in die Praxis umzusetzen. Neue Eliten kamen zum Zuge, die mit hoher Glaubwürdigkeit beanspruchen konnten, dass der radikale Nationalismus für sie handlungsrelevant sei.77 Die weithin ersehnte einheitsstiftende Funktion von Ideen schien wiederhergestellt zu sein.
77
Vgl. Raphael, Lutz: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer HerrWeltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: GG 27 (2001), S. 5-40; Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996; Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. schaft:
336
Moritz Föllmer/Andrea Meissner
Veröffentlichungen aus den Projekten: Föllmer, Moritz: Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900-1930, Göttingen 2002. Ders.: Die fragile „Volksgemeinschaft". Industrielle, hohe Beamte und das Problem der
nationalen Solidarität in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 6 (2000), S. 281-298. Ders.: Der „kranke Volkskörper". Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik, in: GG 27 (2001), S. 41-67. Ders.: Machtverlust und utopische Kompensation. Hohe Beamte und Nationalismus im Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 581-598. Ders.: Der Feind im Salon. Eliten, Besatzung und nationale Identität in Nordfrankreich und Westdeutschland 1914-1930, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002), S. 1-24. Ders.: The Problem of National Solidarity in Interwar Germany, in: German History 23 (2005), S. 202-231. Ders. : Les hauts fonctionnaires et la construction de la nation. Une comparaison entre la France et la Prusse de 1900 aux années 1920, erscheint in: Chatriot, A\ain!Gosewinkel, Dieter (Hrsg.): Figurations de l'État en Allemagne et en France 1870-1945, München 2005. Ders.: Senior Civil Servants and Nationalism in Germany, erscheint in: Becker, Peter/von Krosigk, Rüdiger (Hrsg.): Figures of Authority. Contributions towards a Cultural History of Governance from the 17th to the 20th Century, Berlin 2005.
Meissner, Andrea: „Deutschland
muss leben, und wenn wir sterben müssen". Nationalisim Geschichtsunterricht der Volksschulen Preußens, Bayerns und Österreichs 19181933/1938, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 7 (2001), S. 161-190. Dies.: Région et Nation dans les livres de lecture d'écoles primaires de Prusse, de Bavière et Autriche (1871-1933/1938), in: Enseigner la Région. Actes du Colloque International IUFM de Montpellier 4-5 février 2000. Sous la direction de Pierre Boutan, Philippe Martel, Georges Roques, Paris 2000, S. 55-61.
mus
Der Ort des Nationalen in der autobiographischen
Selbstthematisierung deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs
eine Bilanz
-
Dagmar Günther I. In der seit mehreren Jahren boomenden neueren Nationalismusforschung ist die Frage nach den Wirkweisen des Nationalen ein Desideratum. Es ist kein Geheimnis, dass sich soziale Gruppen, wie das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts, bei der Propagierung nationaler Ideen und Ordnungsentwürfe hervorgetan haben. Auch ist inzwischen wohlbekannt, dass sie dabei verschiedene Medien und Agenturen nutzten. Die zeitlichen Konjunkturen dieses Bemühens und die Umdeutungen, die der Begriff der Nation jeweils erfuhr, haben desgleichen Beachtung gefunden. Zudem hat man sich unter kulturhistorischen Vorzeichen vermehrt jenen Anlässen und Ausdrucksformen zugewandt, die starke Emotionen wachriefen. Vor allem Feste, Lieder oder Denkmäler sind in ihrer Bedeutung für den Prozess der „inneren Nationsbildung" untersucht worden. Zugleich wurden aber auch vermeintliche Refugien des Regionalen und Lokalen, so auch die .JTeimat", im Hinblick auf ihre nationale Bedeutung erforscht und konfessionelle Brechungen des Nationalen in den Blick Dabei neigt die aktuelle historische nicht Nation die (geglückte) politische nur dazu, Nationalismusforschung sondern ebenso beiläufig wie selbstzu überantworten, Vergesellschaftung verständlich als Fixpunkt des individuellen Selbstverständnisses historischer Akteure zu identifizieren (Hettling 1999, S. 27). Systematisch gesehen sind diese weitreichenden Schlussfolgerungen jedoch unbegründet. Denn sie beruhen vorwiegend auf der Analyse der gängigen nationalen Galionsfiguren, Organisationen Bewegungen und Schlüsseltexte der literarischen oder politischen Öffentlichkeit und/oder der offiziellen Inszenierungen und Rituale der Nation, der staatlichen Symbolpolitik. Wenn dabei auch das Kaiserreich als Königsetappe der „inneren Nationsbildung" in den Blick rückt und sich in dieser auf den öffentlichen Raum zielenden Perspektive gerade das gebildete Bürgertum als national besonders virtuos beweist, so bleibt doch eine zentrale wirkungshistorische Frage offen: Inwiefern rekurrieren die berufenen Künder der Nation auf nationale Vorstellungen, wenn sie auf sich selbst Be-
genommen.2
1
Der Beitrag bilanziert die unter wirkungsanalytischen Fragezeichen wichtigsten nationalismushistorischen Ergebnisse einer Studie zum „nationalen Ich" deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs. Vgl. Günther 2004. 2 Vgl. hierzu die Forschungsberichte von Langewiesche 1994 und Haupt/Tacke 1996 sowie die Einleitungen von Föllmer 2002 und Günther 2004.
338
Dagmar Günther
zug nehmen? Inwiefern leitet Nation eine individuelle bildungsbürgerliche Selbstthematisierung an? Diese Fragen nach den Wirkweisen des Nationalen lassen sich mit Hilfe einer Analyse autobiographischen Schrifttums deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs klären.3 Zwei Prämissen kommen hier ins Spiel: Zum einen wird gegen jede strukturrealistische Zumutung geltend gemacht, dass kollektive Identitätszuschreibungen wie Nation nur in dem Maße existieren, in dem sich Individuen als historische Akteure damit identifizieren.4 Zum anderen wird die stillschweigende Grundannahme geschichtswissenschaftlicher Praxis übernommen, dass dem als wie geschichtsmächtig auch immer eingeschätzten .Individuellen' am besten mit autobiographischen Zeugnissen Briefe, Tagebücher und Autobiographien beizukommen ist. Zugleich ist damit ein übergeordneter Fragehorizont abgesteckt: Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für die historische Nationalismusforschung aus Befunden, die abseits ihrer Hauptstraßen gewonnen werden? Inwiefern muss das in kräftigen Farben gehaltene Bild von den Wirkweisen der Nation retouchiert werden, wenn mit Briefen, Tagebüchern und Autobiographien im Unterschied zu Denkmälern, Feiertagen oder Kriegspublizistik Quellen privater Natur bzw. weniger offiziöse Quellen herangezogen werden? Im Einzelnen wurden 28 während des Kaiserreichs geschriebene und größtenteils hier auch veröffentlichte Lebenserinnerungen (Autobiographien), sowie fünf Briefwechsel und sechs Tagebücher aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis 1914 ausgewertet. Die autobiographischen Zeugnisse stammen von Universitätsprofessoren, Gymnasiallehrern, Pastoren, höheren Verwaltungsbeamten, Rechtsanwälten, Ärzten und Künstlern, von Protestanten genauso wie von Katholiken und Juden, von Klein- und Großstädtern, Nord- und Süddeutschen, bzw. politisch übersetzt, von Preußen und SüdStaatlern. Autobiographierende Bildungsbürgerinnen sind im Untersuchungszeitraum präsent als Ehefrauen bzw. Töchter von Bildungsbürgern, die sich vorzugsweise als Künstlerinnen, als Schriftstellerinnen oder Schauspielerinnen einen eigenen Namen machten.5 Die Auswahl trägt demnach der beruflichen, konfessionellen und regionalen Heterogenität des Bildungsbürgertums als soziale Formation Rechnung, wie sie gerade für den Untersuchungszeitraum unter den Vorzeichen von Erosion bzw. Wandel diskutiert wird (Mommsen 1987; Jarausch 1989; Tenfelde 1994). Dass die Größe des Samples keine statistische Repräsentativität in Bezug auf die prinzipiell offene Grundgesamtheit bildungsbürgerlicher Selbstzeugnisse des Kaiserreichs beanspruchen kann, dürfte nicht überraschen. Unter einer methodischen Perspektive, die sich auf die internen Bezü-
-
-
3 4
5
-
Der Erste Weltkrieg liegt nicht mehr im Blickfeld des Beitrags. Zum „Realismus der Struktur" vgl. die kritischen Einwände von Bourdieu 1983, S. 39. Das Feld der Frauenautobiographie um 1900 in Deutschland steckt Heinritz 2000 ab.
339
Der Ort des Nationalen
ge der autobiographischen, diaristischen und brieflichen Selbstbeschreibungen richtet, trifft dieser Umstand allerdings nicht den Kern der Argumentation. Denn das forscherische Interesse beschränkte sich zwar aus nationalismushistorischen Motiven auf bildungsbürgerliche Akteure, doch wurde dieser Gruppenzugehörigkeit in der Analyse der entsprechenden Selbstzeugnisse nicht von vornherein Bedeutung zugemessen. Nicht die gängigen Klassifikationen der Sozialgeschichtsschreibung markierten den analytischen Ausgangspunkt, sondern Texte sollten als Texte ernst genommen werden: „[...], des objets, des formes, des codes, et non des groupes" (Chartier 1989, S. 1511). Die jeweiligen Selbstzeugnisse rückten als autobiographische Sinnkonstruktionen in den Blick: Das Augenmerk lag auf den Konstellationen und erzählerischen Verfahren, in denen sich ein (nationales) Ich überhaupt erst als solches hervorbringt. Die Frage nach dem nationalen Horizont bildungsbürgerlicher Selbstthematisierung war dabei immer auch verknüpft mit der Frage nach den gattungsspezifischen Regeln biographischer Sinnkonstruktionen.6 Zugleich wurde anhand von Vorworten und Rezensionen geklärt, worin für die bürgerliche Kultur des Kaiserreichs das Interesse an Selbstzeugnissen bestand und inwiefern sie als Textsorten nationaler Selbstverständigung in Anspruch genommen wurden. Doch was heißt hier national? Die kulturhistorische Nationalismusforschung verabschiedet sich von essentialistischen Definitionen und Spekulationen über das Wesen der Nation. Analytischer Ausgangspunkt waren daher zum einen zeitgenössische Identifikationen und Aufführungszusammenhänge des Nationalen: etwa jene Schlüsselbegriffe und Ereignisse die nach Maßgabe des im Kaiserreich dominanten Wertediskurses als national besonders einschlägig ausgewiesen sind: die Rede von „deutsch" etwa, sowie die Befreiungskriege und die ,J£inigungskriege" von 1864, 1866 und 1870/71. Zum anderen wurde die Nationalisierung des autobiographischen Selbstbezugs mit Hilfe der in der neueren Kulturwissenschaft prominenten Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Anderen überprüft. Wo hört das Eigene auf, wo fängt das Andere an? Ist diese Grenzziehung national belegt? Der Beitrag wird zunächst die Frage nach der nationalen Geltung von autobiographischen Zeugnissen in der bürgerlichen Kommunikation des Kaiserreichs diskutieren. Danach soll der Ort des Nationalen in bildungsbürgerlichen Selbstzeugnissen des Kaiserreichs umrissen werden: Ausgehend von zwei Fallbeispielen soll zum einen die methodische Vorgehensweise -
6
Eine solche Blickrichtung distanziert sich von der namentlich in der historischen Bürgertumsforschung üblichen Inanspruchnahme von autobiographischen Quellen als Fakten- und Praktikensteinbruch bzw. weit geöffnetes Tor zur „gelebten Erfahrung" historischer Akteure. Vgl. hierzu Günther 2001.
340
Dagmar Günther
veranschaulicht werden, zum anderen die in nationalismushistorischer Hinsicht wichtigsten Ergebnisse präsentiert, gewichtet und typisiert werden. Ein wirkungshistorisches Resümee wird den Beitrag beschließen.
II. Um die Jahrhundertwende zeichnet sich in der bürgerlichen Kultur ein starkes Interesse am biographischen und autobiographischen Genre ab. Neben den biographischen Großprojekten der Gelehrsamkeit, allen voran der ab 1875 herausgebrachten „Allgemeinen Deutschen Biographie", erfreuen sich auch Lebenserinnerungen großer öffentlicher Resonanz. Die Frage, inwiefern die Konjunktur des (Auto-)Biographischen ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bzw. nach der Reichsgründung national belegt ist, scheint zunächst die Aporien der historischen Nationalismusforschung zu wiederholen, nämlich kulturelle und soziale Praktiken vorsorglich auf nationale Bezugnahmen abzuklopfen. Damit besteht allerdings die Gefahr, einer Konstruktion, einer auch (geschichts-)wissenschaftlich produzierten Nationalisierung aufzusitzen. Doch wenn sich die zeitgenössische Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung als nationale Identifikationswissenschaften darstellen,7 dann gilt dies womöglich auch für die LebensSammelwerke erinnerungen als subjektive Form der wie die .Allgemeine Deutsche Biographie" und das „Biographische Jahrbuch und deutscher Nekrolog" geben ihre Reichweite jedenfalls mit „deutsch" an und lösen die bis dahin dominierenden Regional- und Berufsbiographien ab (Maurer 1996, S. 117). Summieren sich die jeweiligen Individualbiographien zur nationalen Kollektivbiographie? Besteht etwa ein Zusammenhang zwischen der Hochkonjunktur individueller Erfolgsgeschichten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und der Reichsgründung als nationaler Erfolgs-
Geschichtsschreibung.8
geschichte? Folgt man den exemplarischen (Vor-)Lesern der autobiographischen Literatur, den Rezensenten und Herausgebern von Briefwechseln und Lebenserinnerungen, so zeigt sich, dass diese autobiographische Konjunktur tatsächlich auf die Reichsgründung bezogen wird. In diesem Sinne doziert jedenfalls 7
Zur (Selbst-)Deutung der zeitgenössischen Literaturgeschichtsschreibung als Meilenstein der kulturellen Nationsbildung vgl. Weimar 1989; FohrmannlVoßkamp (Hrsg.) 1991; Amann/Wagner (Hrsg.) 1996. Zur Geschichtsschreibung im Kaiserreich vgl. Mommsen 1989; Wolfrum 2001; zum Verhältnis von Geschichtskultur und Wissenschaft im Kaiserreich vgl. Hardtwig 1990. 8 Diese pragmatisch-pädagogische Funktionsbestimmung der Autobiographie wird mit und seit Goethes „Dichtung und Wahrheit" wirkungsmächtig. Vgl. Sill 1991, S. 144f.
Der Ort des Nationalen
341
der Historiker Hermann Oncken9 in seiner in der „Deutschen Monatsschrift" publizierten Sammelrezension zur „Neueren Memoiren-Literatur": „Lange standen die Deutschen hinter der Memoirenliteratur Frankreichs und Englands weit zurück. Heute ist das längst anders geworden. Je mehr wir wieder zu einem einzigen Volke zusammenschmelzen und miteinander auf gemeinsame glänzende Erinnerungen zurückblicken können, umso lebhafter erwacht auch das Interesse an allem Persönlichen, das zu unserer neuen Entwicklung einen wirksamen Einschlag geliefert hat: die ungeheure Anziehungskraft, die von den ,Gedanken und Erinnerungen' des Schöpfers unserer Einheit ausgeübt worden ist, stellt auch auf diesem Gebiete einen Markstein dar." (Oncken 1905, S. 616) Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen drückt sich die einschneidende Bedeutung aus, die der Reichsgründung auch für die Entwicklung der Autobiographik beigemessen wird. Nicht von ungefähr berufen sich Oncken (und andere) auf Bismarck als Ahnherr des autobiographischen Booms Goethes „Dichtung und Wahrheit", das ansonsten gerne als Kulminationspunkt der deutschsprachigen autobiographischen Literatur zitiert wird, bleibt hier außen vor. Oncken deutet die Beliebtheit der Memoiren als Interesse für die Anteile des Einzelnen an der Entwicklung zur nationalen Einheit. Das persönliche" markiert die Schnittstelle zwischen dem Autobiographischen und dem Nationalen. Die autobiographische Hochkonjunktur erscheint hier sowohl als Vehikel als auch als Beleg der (erfolgreichen) inne-
ren
Nationsbildung.
Die Anschlussfrage, inwiefern die einzelnen Lebenserinnerungen selbst nationalen Lesarten unterworfen werden, erfordert eine weitergehende Betrachtung. Generell interessieren in der zeitgenössischen Wahrnehmung Lebenserinnerungen nicht als Darstellung eigener Art, besprochen und beurteilt werden vielmehr der dargestellte (berufliche) Lebenslauf, Einstellungen und Haltungen, Moral und Charakter der Autobiographen. Die Aufmerksamkeit der Rezensenten richtet sich auf „l'homme (la femme) dans l'œuvre". Je nach Milieugebundenheit und Interessenlage setzen die Zeitschriften jedoch unterschiedliche Schwerpunkte. In ihrer Vorliebe für Lebenslauf und Moral des Autobiographen kommen die entsprechenden Begleitworte und Rezensionen lediglich mancherorts auf die nationale Vorbildlichkeit und Typik des dargestellten Lebens zu sprechen, etwa wenn der Rezensent der ,Zeitschrift für den physikalischen und chemischen Unterricht" über den Autobiographen Werner von Siemens (Siemens 1892) folgendes vermerkt: „Ein treuer Patriot, der an der grossen Zukunft seines Vaterlandes nie zweifelte, und redlich das 9
Der Historiker Hermann Oncken hat selbst Biographien verfasst: eine Biographie über Lasalle (1904) und ein zweibändiges Werk über den liberalen Politiker Rudolf von Bennig-
sen(1910).
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Dagmar Günther
Seine that, sie herbeizuführen." (Zeitschrift für den physikalischen und chemischen Unterricht 6, 1892/93, S. 153) Siemens' Patriotismus wird auf die Reichsgründung bezogen, verleiht Siemens das Prädikat „besonders wertvoll". Solch nationale Vereinnahmung autobiographischer Zeugnisse von und für andere(n) scheint zeitlich und örtlich signifikant zu sein. Einerseits setzen die Rezeptionen nationale Akzente im Sinne der kleindeutschen Einigung mit deutlichem Abstand zur Reichsgründung. Andererseits entwachsen nationale Lesarten preußischprotestantischem Boden, werden von den anerkannten Experten des Nationalen, nämlich Historikern, Literarhistorikern, Pädagogen formuliert und auf einschlägigen Bühnen vollzogen: Hierher gehören die ,J?reußischen Jahrbücher", das „Humanistische Gymnasium", die national besonders rührige „Deutsche Monatsschrift". Dagegen bleibt die nationale Einfärbung der Rezensionen im katholischen ,JLiterarischen Handweiser", aber auch in der ,Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins" vergleichsweise blass. Innerhalb der Gesamtmenge an Rezeptionen fallen diese Lektüren jedoch kaum ins Gewicht. Ein metasprachlicher Gebrauch von „deutsch" scheint nicht dominant zu sein. Ebenso bleibt es die Ausnahme, dass Vorleser die Lebensgeschichten anderer den Wertmaßstäben borussisch-kleindeutscher Geschichtsschreibung unterwerfen. Lebenserinnerungen werden für ein anonymes Publikum vielmehr in einem anderen Sinne als Quelle in Wert gesetzt. Dominant ist eine Sichtweise, die Lebenserinnerungen zum einen als Anleitung für ein vorbildliches, erfolgreiches Leben liest. Zum anderen werden sie als Zeitdokumente, als Quellen historischer Belehrung in Wert gesetzt und dabei hauptsächlich der begrifflichen Obhut der Kulturgeschichte unterstellt. Ungeachtet der Heterogenität der zeitgenössischen Kulturgeschichte grenzt dieses Label Lebenserinnerungen gegen die Politik- und Heldengeschichte ab und legt eine Perspektive fest, in der das Besondere lediglich in seiner Bedeutung für die Erkenntnis des Allgemeinen interessiert. Der entsprechende kulturhistorische Quellenwert wird vor allem innerhalb eines lokalen, regionalen bzw. einzelstaatlichen Rahmens profiliert, ohne den Bezug zum großen Ganzen der Nation zu suchen. Diese von den exemplarischen Vorlesern entworfenen Lesarten bestätigen den in den Lebenserinnerungen selbst reflektierten Fokus autobiographischen Schreibens und Veröffentlichens, d.h. die in den jeweiligen Vor-, Zwischen- und Nachworten getroffenen gattungsprogrammatischen Aussagen. Denn die wenigsten Lebenserinnerungen fundieren ihren Gegenstand dezidiert nationalhistorisch. So gesehen entsprechen sich textinterne und textexterne Begründungszusammenhänge des autobiographischen Projekts. Doch sagen diese Deutungen noch nichts darüber aus, wie sich die vorherrschenden Legitimationsmuster des Verfassens, Publizierens und Lesens von Autobiographien zu den autobiographischen Erzählungen selbst und umgekehrt verhalten. -
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III.
Lebenserinnerungen stellen eine uneigentliche Form nationaler Selbstvergewisserung dar. Denn Art und Zweck der Gattung liegen nicht darin begründet, über den Nationsbegriff zu reflektieren, sondern die ,wahre' Lebensgeschichte eines Individuums zu erzählen. Doch bleibt es den Autobiographen unbenommen, diese individuelle eigene Geschichte im Hinblick auf ihre
Bedeutsamkeit für eine wie auch immer verstandene kollektive nationale Geschichte zu repräsentieren. Einen vermeintlich eindeutigen Befund liefert hier etwa Gustav (von) Binders Anfang der 1880er Jahre verfasster unveröffentlichter .Lebenslauf (Binder 1881/82).10 Gustav Binder, Theologe, Philologe und nachmaliger Direktor der württembergischen Kultusministerialabteilung für die Gelehrten- und Realschulen, berichtet in betreffender Passage, wie er 1850 in einem Prozess gegen Liberale als Zeuge vernommen wird: „Mit der Zeugschaft in diesem Prozeß hat meine politische Tätigkeit ihr Ende erreicht. Was mein Wünschen und Streben bei derselben ausmachte, ist in den Jahren 1866 und 1870/71 erreicht worden, die Einheit Deutschlands." (Binder 1975, S. 107) Reduziert man diesen Abschnitt auf seine erzählten Inhalte, so wird im zweiten Satz das typologische Muster von nationaler Verheißung und Erfüllung kurz anzitiert und in ein eindeutiges nationales Bekenntnis im Sinne der preußisch-kleindeutschen Geschichtsschreibung überführt. Ein paar Seiten vorher war von 1870/71 schon einmal die Rede, nämlich in der Schilderung einer Reise nach Berlin im Jahr 1832. Binder erzählt, wie die Reisepartie während eines Aufenthalts in Rüdesheim einen Ausflug in den Niederwald unternimmt: „[...]; auf der Höhe des Niederwalds hatten wir eine prachtvolle Aussicht; das für diese Stätte projektierte Siegesdenkmal für 1870/71 wird weithin leuchten. An demselben Vormittag waren wir auf dem Johannisberg, [...]." (Binder 1975, S. 72) Ein Ausflugsziel der 1830er Jahre, das dem erzählten Ich schöne Aussicht verspricht, wird vom erzählenden Ich zum Denkmal nationaler Größe (Germania) voraus- und zurückgedeutet: zumindest einen Satz lang, bevor die touristische Erzählung wieder fortgesetzt wird. Auch in den um 1910 verfassten und 1911 veröffentlichten ,J3rinnerungsblättern" des „Großherzoglich Badischen Geheimen Rats und Landeskommissärs" Max Föhrenbach wird die Reichsgründung am uneigentlichen Ort 10
1975 wurde der „Lebenslauf im Auftrag des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins unter dem Titel „Ein liberaler Theologe und Schulmann in Württemberg. Erinnerungen von Dr. Gustav v. Binder 1807-1885" publiziert. Dabei wurden Kürzungen vorgenommen. Ein Vergleich mit dem handschriftlichen Manuskript im Deutschen Literaturarchiv Marbach ergab für die hier relevanten Passagen keine Textunterschiede. Im Folgenden wird aus der veröffentlichten Fassung (Binder 1975) zitiert.
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uneigentlicher Zeit erwähnt, und zwar bereits im ersten Kapitel, das die Geschichte seiner Vorfahren väterlicherseits erzählt. Hier wird 1870/71 im Hinblick auf das Leben seines 1873 verstorbenen Vaters sinnfällig: „Als eine zu
besondere Gunst des Schicksals aber hat er es gepriesen, daß ihm noch vergönnt war, die nationale Erhebung von 1870/71 zu erleben und die Wiedererstehung von Kaiser und Reich zu schauen." (Föhrenbach 1911, S. 14) Dass es sich um eine „Gunst des Schicksals" handelt, wird hier nicht eigens begründet, so als würde es sich 1911 von selbst verstehen, dass die Gründung des deutschen Kaiserreichs nicht nur den Fluchtpunkt der .großen' Geschichte, sondern auch der individuellen Geschichte darstellt. Die Metaphorik deutet die Reichsgründung eschatologisch, gemeinhin wird nur das Paradies .geschaut'. Geschichte ist hier als Heilsgeschichte an der Endstation Sehnsucht angelangt und zum Stillstand gekommen. Nicht nur Binders und Föhrenbachs Erinnerungen, auch andere Autobiographien deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs erinnern die Ereignisse der nationalen Einigung für sich und andere. Zwar werden auch andere, nachgerade als ,groß' klassifizierte historische Ereignisse Befreiungskriege, Griechische Revolution, Polenaufstand, 1848er Revolution, Krimkrieg, der französisch-österreichische Krieg, 1863/64, 1866 registriert, die Reichsgründung markiert in den Lebenserinnerungen jedoch in ihrer flächendeckenden Präsenz einen Verweis besonderer Art. Selbst Erinnerungen, welche die eigene Lebensgeschichte ansonsten ohne historische Referenzen erzählen, vermerken zumindest die Ereignisse von 1870/71. Sie werden wie bei Binder und Föhrenbach zudem in vielen Lebenserinnerungen vor ihrer Zeit bedeutsam. Der Verweis fehlt selbst nicht in Autobiographien, deren erzählter Zeitraum nie an 1870/71 heranreicht. Das Ereignis der Reichsgründung wird damit nicht lediglich chronologisch dem Lauf der Zeit eingeordnet. Bringt sich hier nun also die einschneidende Bedeutung von 1870/71 im retrospektiven Selbstentwurf zur Anschauung? Stellt die Reichsgründung gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein so übermächtiges, positiv besetztes Deutungsmuster dar, so dass diese in der Lage ist, die Zeit vor ihrer Zeit an sich zu ziehen? Nun mag es legitim sein, aus dem Verbreitungsmuster der zeitgenössisch als national ausgewiesenen Schlüsselereignisse die Geltung des Nationalen abzuleiten. Es wäre jedoch einigermaßen illegitim, es bei dieser Art von Analyse zu belassen. Denn hier bestünde die Gefahr, lediglich den zeitgenössischen Wertehorizont zu übernehmen. Diese verkürzte Schlussfolgerung lässt sich jedoch vermeiden, sofern der interne Stellenwert dieser Aussagen Funktionen, Anschlusstöne und Widersprüche innerhalb der jeweiligen Erzählung der Lebensgeschichte berücksichtigt wird. In Binders Erinnerungen markiert das nationale Bekenntnis einen Bruch zur ansonsten vorherrschenden Erzählweise. Denn Binder erzählt quasi auf Augenhöhe der Ereignisse; Rückblicke, Vorausschauen, abschweifende Re-
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flexionen, Erzählerkommentare sind selten. Im Herbeizitieren
von 1870/71 sich ein das der erzählten Zeit (1832, 1850) profiliert jedoch Gegenwarts-Ich, weit vorausgreift. Solche Zeitverschiebungen sind zwar konstitutiv für das autobiographische Schreiben, sofern hier ein Kontinuum zwischen vergangenem und gegenwärtigem Ich hergestellt wird, also Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Beziehung gesetzt werden (Müller 1976, S. 71). Die Lebenserinnerungen von Binder und Föhrenbach stellen hier allerdings Extrempositionen dar. Bei Binder ist die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart nur schwach herausgearbeitet, bei Föhrenbach in expliziten Damals-Heute-Vergleichen überdeutlich. Bei Binder erzählen sich die Dinge selbst, bei Föhrenbach tritt das erzählte Vergangenheits-Ich dagegen hinter die starken Ansichten des erzählenden Gegenwarts-Ichs zurück. So verschwindet etwa im Kapitel „Volksschule" der erinnerte 6-9 jährige Bub in einer eineinhalb Seiten langen Abhandlung über den jeweiligen Wert von Bekenntnisschulen und gemischt konfessionellen Schulen (Föhrenbach 1911, S. 26-27). Auch in der Aufnahme historischer Zeit unterscheiden sich die zwei Autobiographien grundsätzlich. Wie weiter oben deutlich wurde, werden autobiographische Aufzeichnungen für andere, für ein anonymes Publikum gerade in ihrer (kultur-)geschichtlichen Dimension, als historisch aufschlussreiches Bild konkreter Lebensumstände und Fenster zur Vergangenheit in Wert gesetzt. Nun stehen Binders und Föhrenbachs Erinnerungen allerdings in völlig unterschiedlichen kommunikativen Kontexten. Binders „Lebenslauf ist nicht von vornherein zur Veröffentlichung geschrieben, Föhrenbachs „Erinnerungsblätter" sind dagegen von Anfang an für eine breitere Öffentlichkeit jenseits des Familienkreises bestimmt. Während Binder in seinen als Familienschatz konzipierten Erinnerungen demnach keine historiographischen Ambitionen entwickeln muss, schreibt Föhrenbach mit dem Ehrgeiz, den Wandel der Zeitverhältnisse darzustellen. Historische Ereignisse und historische Zustände werden hier für sich und andere registriert und kommentiert, die nationalen Ereignisse von 1866 und 1870/71 sind dabei eine besonders beliebte Referenz. Föhrenbachs deutende Vorausschau auf die Reichsgründung von Anfang an findet auch auf Augenhöhe des Geschehens ihre Entsprechung. 1866 und 1870/71 nehmen hier einen breiten Raum ein und sind Anlass für nationale Reflexionen und Sentenzen. Föhrenbach legt in seinen Lebenserinnerungen Wert darauf, sich eine gemäß dem zeitgenössisch domi'
preußisch-kleindeutschen Wertediskurs legitime nationale Biographie anzueignen. So fungiert die Erinnerung an den preußisch-österreichischen Krieg von 1866 als Anlass, seine Konversion vom Groß- zum Kleindeutschen nachzuweisen. Im Rückblick auf den deutsch-französischen Kriege schlüpft Föhrenbach allerdings nicht nur in die Rolle eines kommentierenden nanten
Nationalhistorikers der borussischen Schule, 1870/71 markiert vielmehr auch
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den erzählerischen Höhepunkt seiner „Erinnerungsblätter": Wenn Föhrenbach die Mobilmachung in Mannheim als Augenzeuge schildert, vermag er mit einem mal anschaulich zu erzählen, statt wie sonst nur zu benennen, bekennen oder zu urteilen (Föhrenbach 1911, S. 93-112). Im Stolz auf die Opferbereitschaft seiner Mannheimer Mitbürger und die Leistungen der badischen Soldaten gesteht er sich ansonsten rar bleibende landespatriotische Gefühle zu. Föhrenbach begnügt sich zudem in der Erzählung von 1870/71 keineswegs mit dem ansonsten privilegierten Deutungsmuster der Hohen Zeit, welches eine kollektive Selbstschöpfung beschwört, die zwar angesichts äußerer Bedrohung erfolgt, jedoch in dieser Situation nicht aufgeht. Denn Föhrenbach zählt zu jenen Autoren, welche die nationale Selbstfindung vor allem in der Abgrenzung gegen Frankreich Gestalt annehmen lassen und die Überlegenheit des Eigenen gegenüber der Grande Nation insbesondere in der Kontrastierung mit deren nordafrikanischen Truppenteilen demonstrieren. Die in Bezug auf 1866 und 1870/71 auffällige deutschlandpolitische Profiliertheit von Föhrenbachs Selbstverhältnis findet in anderen Erinnerungszusammenhängen Entsprechung: Dazu zählt die ebenso beiläufige wie selbstverständliche Ausgrenzung von Juden in der Erzählung seiner Mannheimer Verkehrskreise, die ostentative Distanzierung vom Ultramontanismus, das (fast) völlige Fehlen einer regionalen Selbstidentifikation. Föhrenbachs Lebenserinnerungen machen sich hier ein zum Zeitpunkt der Niederschrift überdeterminiertes Muster nationaler Selbstbeschreibung zu eigen. So gesehen zimmert Föhrenbach in der zitierten Eingangs-Charakterisierung seines Vaters den nationalen Rahmen, in den er seine eigene Lebensgeschichte eingepasst wissen will. Dagegen ist Gustav Binders Bekenntnis zum neuen Nationalstaat in seiin dieser Art machen nem „Lebenslauf ebenso eindeutig, wie einzigartig die Erinnerungen von 1866 und 1870/71 nur an den zitierten Passagen Sinn. Wie ist dieser thematische und erzählerische Bruch zu deuten? Lenkt er die Aufmerksamkeit auf das nationale Bekenntnis und beglaubigt es in seiner Bedeutung, oder weist er es umgekehrt als Bekenntnis mit Ansage aus? Hier gilt es den unmittelbaren Erzählanlass der Selbstaussage im Auge zu behalten. Die Motivierung ist künstlich, denn der Zusammenhang zwischen der Zeugenschaft in einem politischen Prozess und der Reichsgründung ist von der Sache her nicht zwingend. Und das behauptete Bindeglied, das „Wünschen und Streben" in seiner politischen Tätigkeit greift nicht in der erzählten Lebensgeschichte. Gustav Binder, württembergischer Landtagsabgeordneter und Mitglied des Vorparlaments von 1848, stellt sein politisches Wirken nicht in den Vordergrund seiner Lebenserinnerungen.11 Innerhalb seines „Lebenslaufs" widmet er seiner Tätigkeit als Politiker nur ein schmales Kapitel. '
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Zu Binders
politischem Wirken während der Revolution von 1848/49 vgl. Mann
1975.
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Diese wird zudem lediglich als Unterbrechung seiner GymnasiallehrerLaufbahn abgetan und vom erzählenden Gegenwarts-Ich als zweifelhaftes Unternehmen, als „Versuchung" dargestellt, „der ich vielleicht besser nicht gefolgt wäre" (Binder 1975, S. 104). Auch bleibt das angebliche Telos seiner politischen Ambitionen, besagte „nationale Einheit", in seinen Erinnerungen ohne weitere Resonanz. Denn die dem nationalen Bekenntnis vorausliegende Erzählung seines politischen Wirkens profiliert Binder als liberalen Politiker, als Landes- und Lokalpolitiker, der sich für den Anschluss seines Wahlkreises Heidenheim an das württembergische Eisenbahnnetz stark macht, der öffentliche Hunger-Hilfen für seinen Wohnort Ulm fordert und sich für die Rechtsgleichheit von Juden und die Presse- und Versammlungsfreiheit einsetzt
(Binder 1975, S. 104).
Umgekehrt fällt auf, dass die Erzählung auf Augenhöhe der zuvor als Meilensteine der „nationalen Einheit" reklamierten Ereignisse von 1866 und 1870/71 wortkarg bleibt. 1866 und 1870/71 werden in zwei kurzen aufeinander folgenden Abschnitten erwähnt. Obwohl Binders Erzählung ansonsten streng der kalendarischen Zeit folgt, werden vier Jahre übersprungen. Die Ereignisse werden also implizit ihrem der Erzählung vorausliegenden nationalgeschichtlichen Sinn nach aufeinander bezogen, ihren Sinn im „Lebenslauf erhalten sie jedoch innerhalb einer anderen Geschichte: „Von meinen Reisen nach Tübingen möchte ich noch erwähnen, daß zwei derselben für mich ganz unerwartet mit wichtigen politischen Ereignissen zusammenge-
troffen sind." (Binder 1975, S. 148) Die Visitationen sind der eigentliche Erzählgegenstand der Abschnitte, die „wichtigen politischen Ereignisse" sind den Reisen nach Tübingen, der individuellen Geschichte, nachgeordnet. Sie werden nicht als nationale Großereignisse bedeutsam, sie sind vielmehr als kuriose Umstände seiner Dienstfahrten und Dienstgeschäfte nach und in Tübingen erzählenswert. Die Meilensteine der Nationalgeschichte verkleinern sich hier zu Episoden seiner dienstlichen Aufenthalte in Tübingen. So schließen sich auch an die wenigen Zeilen zum Kriegsausbruch 1870 keine Abschnitte zur Fortsetzungsgeschichte, keine Betrachtungen zu Reichsgründung und „nationaler Einheit" an, sondern die Erzählung bleibt bei Binders Tübinger Aufenthalten. Binder unterstellt zwar seine individuelle Geschichte als Politiker dem Telos „nationale Einheit", doch wird dieser Anspruch von der entsprechenden Erzählung nicht eingelöst. Umgekehrt werden die „wichtigen politischen Ereignisse" gerade in ihren individuellen Bezügen bedeutsam, hier wird nicht einmal der Versuch unternommen, diese innerhalb einer nationalen Heilsgeschichte zu erzählen. Solche Anschlusstöne fehlen auch dort, wo die ,Lebenserinnerungen" sich auf Augenhöhe der Zeit der „nationalen Einheit" bewegen. So gesehen handelt es sich bei Binders eindeutigen nationalen (preußisch-kleindeutschen) Statements um eine vom erzählenden Gegen-
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warts-Ich pflichtschuldigst nachgeschobene Remineszenz an den herrschenden Diskurs, die in der Erzählung seiner Erinnerungen selbst folgenlos bleibt. Diese Inkonsistenzen zwischen auktorial gestützter nationaler Selbstaussage des Gegenwarts-Ichs und der davon unberührten Präsentation entsprechender Empfindungen des Vergangenheits-Ichs charakterisieren nicht nur
Binders Erinnerungen, verweisen diese Wahrnehmungsdifferenzen doch auf ein grundsätzliches Problem autobiographischen Erzählens, das Problem der Konversion bzw. Nicht-Konversion. Das Überschreiben einer Konversion, die Konstruktion einer „Schon-Damals"-Geschichte beweist nicht nur eine gelungene bürgerliche Lebensgeschichte, sofern hier Charakterstärke und Prinzipientreue demonstriert werden. Sie entspricht auch der Geistesbeschäftigung der zeitgenössischen Autobiographie. Lebenserinnerungen des Kaiserreichs fokussieren nicht Bruch, Kehrtwende und Neuanfang, sondern sind den Wertvorstellungen der Kontinuität und organischen Entwicklung verpflichtet. Allerdings wird gerade auch mit Blick auf Binders Autobiographie deutlich, dass der Anspruch auf Kontinuität und Identität seinen Preis hat, dass unter Umständen in ein und derselben Autobiographie die forcierten kleindeutsch-preußischen Selbstaussagen des erinnernden Gegenwarts-Ichs von den jeweiligen Erzählungen selbst fortwährend zurückgenommen werden. Dieser Eindruck verstärkt sich mit Blick auf die alternativen Konstellationen und diskursiven Strategien, die das autobiographische Subjekt,Gustav Binder' hervorbringen. Binders Erinnerungen lesen sich als Berufsbiographie, sofern sie entlang seines Werdegangs als Theologe und „Schulmann" strukturiert sind. Wenn Binder sich mit sich selbst ins Verhältnis setzt, wird jedoch nicht der „Schulmann" bemüht, seine Selbstdeutung artikuliert sich vielmehr in Formulierungen wie „wir Schwaben", „uns Schwaben", „wir in Württemberg". Besonders dicht gestreut sind sie in den Passagen, die Begegnungen mit Fremden erzählen oder Binder in die Fremde versetzen, sei es nun Amsterdam oder das Berlin der 1830er Jahre. Das andere, die Fremde beginnt dort, wo Binder auf keine „guten Schwaben" stößt, oder umgekehrt, dort wo er nicht als solcher erkannt wird und Württemberg unbekannt ist. Die regionalen und lokalen Bezüge verschwinden nicht etwa, als sich die Erinnerungen der Zeit nach der Reichsgründung zuwenden. Aufschlussreich ist hier eine Passage, in der Binder von seinen neuen beruflichen Aufgaben im deutschen Kaiserreich berichtet: „Die enge Verbindung aber, in die Württemberg durch seinen Eintritt in das Deutsche Reich mit Norddeutschland eintrat, rief in mir auch das Verlangen wach, das preußische und sächsische höhere Schulwesen persönlich näher kennenzulernen. [...]. Ich kam zurück [von der entsprechenden Studienreise, D.G.] mit der Überzeugung, daß wir in Württemberg neben den norddeutschen Schulen und Leistungen uns ganz
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wohl sehen lassen dürfen, und fand auch, daß man im Norden uns gerne anerkennt und zu schätzen weiß." (Binder 1975, S. 148) Es fällt zum einen auf, dass das Deutsche Reich stillschweigend als norddeutsch qualifiziert wird. Die im Gründungsakt gleichsam eingegangene engere Verbindung mit Baden oder Bayern ist hier keiner Silbe wert: Sie versteht sich anscheinend von selbst. Zum anderen ließe die Rede von „Norddeutschland", sofern man auf derselben semantischen Achse bleibt, ,Süddeutschland' erwarten. Doch dem nur einmal in „preußisch" und „sächsisch" differenzierte große Block „Norddeutschland" ist allein „Württemberg" gegenübergestellt. Auch zu Zeiten nationaler Einheit und eines nationalen Wertediskurses deutet sich Binder in einer regionalen und dynastischen Zuordnung, die ihren besonderen Wert im Vergleich mit „Norddeutschland" erhält. Er lässt in seinen Erinnerungen keine Gelegenheit aus, Württemberg ins rechte Licht zu rücken. Als er die Tagung der Reichsschulkommission 1876 in Stuttgart erzählt, versäumt er es nicht zu erwähnen, dass sein preußischer Kollege die landschaftlichen Reize Stuttgarts lobt: „Nachdem er Spazierfahrten in den Anlagen und über den Kanonenweg gemacht, sprach er wiederholt von dem ,schönen' Stuttgart. Und allerdings, gegenüber der Umgebung, insbesondere der Vegetation Berlins ist Stuttgart .schön', unvergleichlich schön." (Binder 1975, S. 154) Hier interessiert weniger, dass Binders Urteil in der Tat zutrifft, vielmehr, dass die Qualitäten des Eigenen nur im Hinblick auf ein entsprechendes Anderes erzählbar oder erzählenswert sind: Dieses Andere ist in Binders Erinnerungen auffallend oft mit „Preußen", ,3erlin", bzw. „Norddeutschland" besetzt. Eine Nationalisierung der Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen nehmen Binders Erinnerungen ganz im Unterschied zu Föhrenbachs J3rinnerungsblättern" nicht vor. Die Erinnerungen von Max Föhrenbach und Gustav Binder zeichnen sich durch unterschiedliche Erzählweisen aus und leiten gegensätzliche autobiographische Sinnkonstruktionen an. Binder stellt einen von Landschaft über Dynastie bis hin zum Dialekt auf vielen Ebenen angespielten regionalen Selbstbezug her. Föhrenbachs Erinnerungen lassen dagegen keine Gelegenheit ungenutzt, sich eine nationale Vita im Sinne des dominanten Wertediskurses anzueignen. Zwar gesteht sich auch Föhrenbach landespatriotische Gefühle zu, allerdings fast ausschließlich in der Schilderung der Mannheimer Mobilmachung von 1870/71. Gerade diese Erinnerungskonstellation deutet an, dass das Verhältnis von partikularstaatlichen und nationalen Identifikationen keineswegs so problemlos vorzustellen ist, wie es neuere Studien glauben machen wollen.12 Jene Autoren, welche die erzählte Lebensgeschich-
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12
Zu
nennen
sind hier in erster Linie die Arbeiten 1997 und Applegate 1999.
Vgl. etwa Confino
von
Alón Confino und Celia
Applegate.
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wie Max Föhrenbach ausdrücklich auf den preußisch-kleindeutschen Nationalstaat hin ausrichten, sind im Ausweis eines partikularen territorialen Selbstbezugs eher zurückhaltend, gerade auch die betreffenden süddeutschen Autobiographen. Umgekehrt ist in jenen Selbstzeugnissen, die auf unterschiedlichsten Bühnen die Macht des Partikularen anspielen, der affirmative Bezug zum großen deutschen Ganzen, zu den neuen nationalstaatlichen Verhältnissen unterbelichtet. Das latent problematische Verhältnis zwischen partikularem Teil und nationalem Ganzem wurde auch von der Auswertung der Rezensionen bestätigt. Autobiographien (und Briefwechsel) reflektieren in den unterschiedlichsten Redezusammenhängen eine ungebrochene, emotional gestützte Attraktivität des Partikularen. So werden die Grenzen zwischen In- und Ausland auch nach 1871 durchaus noch partikularstaatlich gezogen, und zwar unabhängig davon, in welches explizite Verhältnis sich der Autobiograph zum neuen Nationalstaat setzt. Die gemeinsame regionale Herkunft scheint von vornherein ein besonderes Nahverhältnis zu begründen, und biographische Entscheidungen werden mit großer Selbstverständlichkeit über landsmannschaftliche Bindungen motiviert. Darüber hinaus hat sich erwiesen, dass die „föderativen Wurzeln der Idee einer deutschen Nation" (Langewiesche 2000, S. 215) auch im Wilhelminismus keineswegs umstandslos auf das große Ganze des neuen Nationalstaats oder eines metasprachlich aufgeladenen „deutsch" bezogen werden. Vielmehr artikuliert Region, wie gerade Binders Erinnerungen verdeutlichen, einen Sinn für Grenzen, der auf unterschiedlichen Ebenen mit Verve verschiedene Partikularitäten gegeneinander ausspielt. Mitnichten werden diese als Vielheit in der Einheit sinnfällig. Deutlich wird dies etwa in der Aneignung von Natur als Landschaft, und in der Penetranz, mit der ein scheint's unüberbrückbarer Nord-Süd-Gegensatz in der Selbstthematisierung bedeutsam wird. Die von der neueren historischen Nationalismusforschung akzentuierten Vermittlungspotentiale von Begriff und Phänomen der „Heimat" bleiben nicht nur in Binders Autobiographie ungenutzt. Gleichwohl ist der Kulminationspunkt der kleindeutschen Einigung, der Krieg von 1870/71 ein Ereignis, an dem (fast) kein Autobiograph in seinen Erinnerungen vorbei kommt, auch Binder nicht. Vor allem Autorinnen betreten in diesem Redezusammenhang meistens erst- und letztmals die Bühne des Nationalen und profilieren den subjektiven Erlebniswert von 1870/71. Die te
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ausführlichen Schilderungen der weiblichen vaterländischen Hilfsdienste an der Heimatfront stellen eine frauenspezifische Strategie dar, sich ins Gedächtnis der Nation zurückzurufen. Sofern Frauen zeitgenössischen Vorstellungen zufolge in Distanz zum Politischen stehen, bleibt der große nationalhistorische Kommentar den männlichen Autobiographen vorbehalten. Und nicht 1864 und 1866 oder gar die Befreiungskriege werden hier als Äquiva-
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lenzereignisse erinnert, sondern wie die Erinnerungen von Gustav Binder ebenso beiläufig wie selbstverständlich andeuten die Revolution von 1848/49. Diese und der Krieg von 1870/71 sind die mit Abstand am häufig-
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erinnerten historischen Bezugspunkte. Zudem werden beide Ereignisse ganz im Unterschied zu den Kriegen von 1864 und 1866 nicht nur als politische Ergebnisse bilanziert, sondern in ihrer Erlebnisdimension für die eigene innere und äußere Lebensgeschichte erzählt. Die Zauberformel der zeitgenössischen Geschichtsschreibung: „1864, 1866, 1870/71" kommt in der autobiographischen Erinnerung kaum zur Geltung. Die Revolution von 1848/49 gehört mit den Befreiungskriegen zugleich zu jenen Kommunikationsereignissen, welche die Inkongruenz zwischen dem offiziellen historischen Gedächtnis des Kaiserreichs und der autobiographischen Erinnerung besonders deutlich vor Augen führen. Daraus allerdings auf eine Diskrepanz zwischen einer privaten und einer öffentlichen Stimme des Bildungsbürgertums zu schließen, wäre ebenso verführerisch wie verkürzt. Denn der Quellentypus Lebenserinnerungen bezeichnet gerade keine privaten, intimen Verrichtungen, sondern Erzählungen eines privaten Lebens, denen ein konstitutiver Öffentlichkeitsbezug eignet und die Teil nachvollziehbarer öffentlicher Kommunikationsprozesse sind. In dieser spezifischen Konstellation von privat und öffentlich sind die Befreiungskriege allerdings vergessen, während sie zum Kanon der offiziellen Gedenktage des Kaiserreichs zählen. Und während die Revolution von 1848 keinen Platz im offiziellen Gedächtnis des Kaiserreichs findet, ist sie in den Lebenserinnerungen deutscher Bildungsbürger äußerst präsent. Nicht 1813 und 1870, sondern 1848 und 1871 werden ubiquitär und im Modus von Verheißung und Erfüllung, Verzicht und Gratifikation, Opfer und Sühne typologisch aufeinander bezogen. Die Marginalität der Napoleonischen Ära im untersuchten Material verdankt sich zum einen gattungsimmanenten und verzum anderen weist auf die gebrochene Wirkungsgeschichte der Befreiungskriege im langen 19. Jahrhundert. Die privilegierte Inbezugsetzung von 1848 und 1871 verabsolutiert nicht nur die nationalstaatlichen Zielsetzungen von 1848 auf Kosten der Verfassungsfrage und der staatsbürgerlichen Grundrechte. Er vereindeutigt sie vielmehr auch im Sinne der 1871 hergestellten kleindeutschen Lösung. Konzentriert man sich auf die in diesen expliziten Stellungnahmen transportierten sten
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Beschränkungen13
13 So wird die Reichweite des autobiographischen Rückblicks dem zeitgenössischen Verständnis zufolge vom Horizont des Selbsterlebten begrenzt. Dafür zentral sind neben dem Ereignis der eigenen Geburt vor allem die „ersten Erinnerungen", sofern sich hier das autobiographische Ich überhaupt erst als solches konstituiert. Demzufolge können streng genommen nur jene Autobiographen auf die Napoleonische Ära Bezug nehmen, deren autobiographische Eckdaten, nämlich Geburt und Erinnerungsfähigkeit, in jenen Zeitraum fallen. In einem Sample, das ausschließlich im Kaiserreich verfasste Erinnerungen aufnimmt, sind diese Autoren erwartungsgemäß in der Minderzahl.
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Geschichtsbilder, so überwiegen demnach, was angesichts der Klientel keineswegs überrascht, nationalliberale Deutungsmuster. Die auffälligen Wahr-
nehmungsbrüche zwischen erinnertem und erinnerndem Ich zeigen jedoch, dass sich das Andere von 1848 auch im bemühten Überschreiben nicht gänzlich tilgen lässt. So gesehen legt die auffällige umgekehrte Proportionalität zwischen Befreiungskriegen und der Revolution von 1848/49 in der Konstruktion von National- und Individualgeschichte eine weitere Vermutung nahe. Für das Projekt einer entschieden (bildungs-)bürgerlichen Lebensgeschichtsschreibung ist die Inwertsetzung der Revolution von 1848/49 im Kaiserreich weitaus einschlägiger und funktionaler als der Rekurs auf die Befreiungskriege: Der Brückenschlag zwischen bürgerlicher Revolution und militärisch bewerkstelligter Reichsgründung „von oben" maximiert den bürgerlichen Anteil am neuen Nationalstaat und erweist sich so gesehen als funktionales Äquivalent zu der in Lebenserinnerungen vielfach vorgenommenen „Verbürgerlichung" der Reichsgründungspersönlichkeiten sowie zur hier gleichfalls gern gestrickten kulturellen Reichseinigungslegende, derzufolge der militärische Sieg und die staatliche Einigung Deutschlands von einer vorgängigen kulturellen Einheit antizipiert worden sind. Die Grenzen des Nationalen liegen nicht nur darin begründet, dass auktorial gestützte Geltungsansprüche der Nation durch die Wahrnehmungsbrüche zwischen erinnerndem und erinnertem Ich, durch die Textbewegung selbst relativiert werden. Die Macht des Nationalen wird von manchen Autoren in bestimmten Redezusammenhängen auch dezidiert zurückgewiesen. So wird die kriegerische Hervorbringung der Nation (1864, 1866, 1870/71) auf Höhe der Ereignisse unter den Vorzeichen einer christlichen Brüderlichkeitsethik verurteilt, die Ansprüche der Nation als letzte Sinn- und Rechtfertigungsinstanz durch den Verweis auf andere Loyalitäten: Verwandtschaft, Freundschaft, Religion und Region beschnitten. Neben der Macht des Partikularen stellen Lebenserinnerungen und Briefwechsel die Macht der Konfession eine Macht, die wiederum als Sinn für Grenzen wirksam unter Beweis Zwar wird. gründen die wenigsten Autoren ihre Lebensgeschichte in der christlichen bzw. jüdischen Transzendenz, doch wird Konfession als eine privilegierte kulturelle Markierung in Anspruch genommen. Dabei wird deutlich, daß der Protestantismus als Bekenntnis von Nation und Bildung kulturelle Definitionsmacht besitzt, unabhängig davon, welcher Konfession der -
jeweilige Autor angehört. In dieser Hinsicht bestätigt die Untersuchung andernorts gewonnene Ergebnisse der Nationalismusforschung. Eine andere Forschungsannahme muss allerdings modifiziert werden. Die privilegierte Rolle, die der Forschung zufolge das Moment der ,JFeindschaft" und insbesondere die Abgrenzung gegen Frankreich in der Konstituierung der deutschen Nation spielen, macht sich in der Konstituierung individueller Lebensgeschichten kaum bemerkbar.
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Ungeachtet
der Tatsache, dass in den unterschiedlichen
autobiographischen
Genres und im gesamten Untersuchungszeitraum gängige kulturelle Vorstellungen über Frankreich und das Französische abgerufen werden, ist das Moment deutsch-französischer Feindschaft weder auf Ebene der Geschichtsbilder noch in den Erlebniserzählungen der dafür prädestinierten Ereignisse (Napoleonische Ära, 1870/71) dominant. Die prominente Verknüpfung von 1848 und 1871 setzt gerade nicht die nach außen gerichtete anti-französische, anti-napoleonische Dimension als Moment historischer Kontinuität in Szene. Diese Geschichtsteleologie rekurriert weniger auf den adversativen Außenbezug als vielmehr auf das Postulat einer inneren Staatsordnung. Auch die Erlebnis- und Ereigniserzählungen zur Napoleonischen Ära und zum Krieg von 1870/71 stehen gerade nicht unter dem Vorzeichen der Nationalisierung von Feindschaft. Die kulturell-sittliche Stigmatisierung Frankreichs zum Erbfeind" ist vielmehr den situationsenthobenen nationalhistorischen Betrachtungen außerhalb der eigentlichen Kriegserzählung vorbehalten. Föhrenbachs Kriegserzählung stellt hier eine sprechende Ausnahme dar. Insgesamt markieren die gleichsam binnennationalen Grenzziehungen, nämlich die partikularen, religiösen und konfessionellen Momente des Selbstbezugs weitaus signifikantere Unterscheidungen als der deutsch-französische Gegensatz oder allgemein die Abgrenzung zu ausländischen Anderen. Wie lassen sich diese Befunde typisieren? Kommen hier die Autoren als Träger nationalismushistorisch relevanter sozialer Merkmale ins Spiel? Inwiefern drängen sich textnähere, gattungsspezifischere Kategorien auf, um die Wirkweisen des Nationalen in der autobiographischen Selbstthematisierung zu erklären? Mit Blick auf die Fallbeispiele Binder und Föhrenbach sind folgende Kennzahlen zu vermerken: Beide sind Süddeutsche, Föhrenbach ist Katholik, Binder Protestant. Binders Erinnerungen sind im ersten Jahrzehnt des Kaiserreichs verfasst, Föhrenbachs Autobiographie an dessen Ende. Föhrenbach schreibt seine ,J3rinnerungsblätter" von vornherein zur Veröffentlichung, Binders .Lebenslauf bleibt dagegen unveröffentlicht. Bereits mit Blick auf die Texte von Föhrenbach und Binder wird deutlich, dass die sich innerhalb der Selbstzeugnisse herstellende Struktur und Bedeutung nationaler Bezugnahmen weder in dem nach gängigen Kategorien vermessenen nationalismushistorischen Ort der Autoren aufgeht, noch mit deren guten Absichten zusammenfallt. Auch die in der frauengeschichtlich interessierten Autobio-
graphieforschung nicht selten vertretene These von der genuinen Andersartigkeit weiblicher autobiographischer Selbstpräsentation als Effekt der geschlechtsspezifisch aufgeladenen Normen von Privatheit und Öffentlich-
kann im Hinblick auf das mir
keit
bestätigt werden.14
zur
Kenntnis stehende Material nicht
-
14
Einen guten
(Hrsg.) 1998.
Überblick bieten Heuser (Hrsg.) 19% und der Reader
von
Smith/Watson
Dagmar Günther
354
Für die nationalismushistorische
scheint die Entstehungszeit bzw. die historische Entstehungskonstellation der Texte ein gangbarer und weiter zu verfolgender Weg der Typisierung zu sein. So wird Religion in den relevanten aktualitätslastigen Texten zwar nicht ausschließlich, aber bevorzugt auf Höhe der kriegerischen Hervorbringung der Nation (1864, 1866, 1870/71) auf den Plan gerufen. Die Bereitschaft katholischer Autoren, man denke an Max Föhrenbach, sich mit dem kleindeutsch-protestantischen Nationalstaat zu identifizieren, scheint in den ab den 1890er Jahren verfassten Autobiographien zu wachsen. Umgekehrt ist der Sinn für partikulare Grenzziehungen in den vor oder unmittelbar nach der Reichsgründung datierenden (süddeutschen) Quellen stärker ausgeprägt als im Wilhdminismus. Die kulturnationalen Gebrauchsweisen von „deutsch" sind vor allem in den vor oder unmittelbar nach 1871 verfassten Selbstzeugnissen greifbar, während mit zunehmender Distanz zur Reichsgründung die Vorstellung eines mit sich selbst identischen, deutlich abgegrenzten „deutsch" an Boden gewinnt. Mit wachsendem Abstand zur Reichsgründungsära steigern sich die Geltungsansprüche der Nation im Sinne der kleindeutsch-preußischen Staatlichkeit. Diese Zäsur zeigt sich nicht nur in, sondern auch auf Ebene der nationalen Geltungszuschreibungen von Lebenserinnerungen in der öffentlichen Kommunikation. Die textsortenspezifische Stilisierung von Kommunikationsereignissen bietet sich als weitere Möglichkeit der Typisierung an. Unterscheidet man die jeweiligen Quellen nach dem Kriterium Retrospektive versus Aktualität, so fällt hier etwa auf, daß die Kriege von 1864 und 1866 auf Höhe der Ereignisse durchaus ein Thema bildungsbürgerlicher Selbstthematisierungen sind, im retrospektiven Selbstentwurf dagegen vergleichsweise wenig Erinnerungsspuren hinterlassen. Und nur auf Höhe der Ereignisse, nicht aber im Nachhinein scheinen die Schattenseiten des Kriegs ein Thema zu sein, während in der Retrospektive der deutschlandpolitische Kommentar dominiert. Erst im Rückblick auf 1870/71 steht auch der retrospektive Selbstentwurf unter dem Eindruck einer umfassenden emotionalen Betroffenheit, die auch Sinn für die Kosten des Kriegs zu entwickeln vermag. Solcherart Typisierungen sind jedoch insofern nicht ganz unproblematisch, als sich die Genres Brief, Tagebuch und Lebenserinnerungen nicht nur in Bezug auf Retrospektivität bzw. Aktualität unterscheiden. Generell ist festzuhalten, dass die herangezogenen -
Fragestellung
der
Untersuchung
-
Briefwechsel und Autobiographien weitaus auskunftsfreudiger und selbstreflexiver sind als die Tagebücher des Samples. Ob Nation, Region, Religion, Konfession: Das diesbezügliche Schweigen der Diaristen fügt sich ein in die Mitteilungsstruktur der jeweiligen Tagebücher, die im Notizbuchstil Tagesverrichtungen chronologisieren und in Selbstaussprache und Reflexion zurückhaltend sind. Nicht nur das Faktum der Retrospektivität ist demnach für die Hervorbringung eines Kommunikationsereignisses entscheidend, viel-
355
Der Ort des Nationalen
von Briefen und Lebenserinnerungen geteilte spezifische Adressatenbezug, nämlich die Möglichkeit bzw. der Zwang, sich für und vor andere(n) in Szene zu setzen. Zugleich dürfte der jeweils spezifische Öffentlichkeitsbezug dem Mitteilbaren spezifische Grenzen setzen. Im Vergleich zum retrospektiven Selbstentwurf der Lebenserinnerungen ist das Nationale in der andauernden Gegenwart des Tagebuchs oder Briefwechsels von begrenzter, d.h. äußerst situationsspezifischer Reichweite. Nation erscheint als Redegegenstand vorzugsweise während der Großereignisse von 1866 und 1870/71 am Horizont von Tagebüchern und Briefwechseln. Die Tagebücher zeigen besonders deutlich, wie sich Nation der üblichen Mitteilungs-Struktur der Eintragungen einfügt, den Wetterbeobachtungen und Tagesverrichtungen gleichgeordnet wird, schließlich verschwindet, wenn nicht sogar auf die Kosten der kriegerisch beschworenen Nation eingegangen wird. Als biographisch bedeutsam bringen sich diese Ereignisse hier nicht zur Anschauung. Es bleibt dem (veröffentlichten) retrospektiven Selbstentwurf und dem semiöffentlichen Brief vorbehalten, einen Zusammenhang zwischen Individualund Kollektivgeschichte reflexiv herzustellen.
mehr auch der
IV. Der Beitrag hob auf die Grenzen des Nationalen ab. Ist die Nation demnach eine „Idee von beschränkter gesellschaftlicher Die Ernahe: diese nicht in gebnis-Bilanzierung legt Schlussfolgerung allerdings dem Sinn, dass die der Forschung andernorts als Hauptstimmführer der Nation auffällig gewordenen Bildungsbürger nun als in Wahrheit und Wirklichkeit am Nationalen desinteressierte Zeitgenossen zu zeichnen seien. Ein solches Resümee würde hinter die Einsichten einer Untersuchung zurückfallen, welche „Beschränkungen" der Nation profilierte, die über ein bloßes Quantifizieren des viel bzw. wenig hinausgreifen. Denn zentral waren, wie anhand der Fallbeispiele Binder und Föhrenbach deutlich werden sollte, die (Erzähl)Konstellationen, in denen sich ein (nationales) Ich innerhalb der jeweiligen Selbstzeugnisse überhaupt erst hervorbringt und das Nationale Bedeutung annimmt. Hier wurden Anziehungs- und Abstossungskräfte zwischen einzelnen Deutungsmustern identifiziert und zugleich die Eigendynamik der jeweiligen Texte ins Spiel gebracht, (vergangene) Lebensgeschichte so und nicht anders darzustellen. Die textexternen Referenzen gehen in einem bloßen Abbildverhältnis nicht auf. Was an welcher Stelle über sich und andere wie erzählt wird, verdankt sich vielmehr textinternen Arrangements und Aus-
Gestaltungskraft?"15
15 In Anlehnung an den Titel des ideen- und wirkungsgeschichtlichen Schwerpunktprogramms der DFG („Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit"), in dessen Rahmen die Untersuchung gefördert worden ist.
356
Dagmar Günther
wahlprozessen. Würde man sich dagegen damit begnügen, etwa lediglich entsprechende Bekenntnisse zum kleindeutschen Kaiserreich Wort für Wort und ohne Rücksicht auf ihre Platzierung in den jeweiligen Selbstzeugnissen zu bergen, wäre man auch in Autobiographien wie jener von Gustav Binder fündig geworden und könnte die gängige Wirkungsgeschichte des Nationalen um ein weiteres Kapitel bereichern. Eine an Wirkungsprozessen tatsächlich interessierte (statt sie voraussetzende) historische Nationalismusforschung
kommt deshalb nicht umhin, die Reichweite ihrer Antworten vor allem methodisch zu begrenzen: Auf welche Weise werden welche kommunikativen Akte untersucht, und welche Bedeutung ist diesen in welcher Hinsicht auf Wirkweisen des Nationalen beizumessen? Im zeitgenössischen (Lexikon-) Wissen ist das biographische Genre, als deren „eigenthümliche Unterart" die Sofern sich Autobiographie gilt, der Geschichtsschreibung des der Kaiserreichs dezidiert Lebenserinnerungen begrifflichen Oberhoheit der Kulturgeschichte unterstellen, lassen sie sich dabei als Erinnerungsorte in Ergänzung bzw. Opposition zur zeitgenössisch dominanten (wissenschaftlichen) Politikgeschichte, zur Staaten- und Heldengeschichte begreifen. Sie stellen im Untersuchungszeitraum zugleich ein zentrales Medium (bildungs-) bürgerlicher Selbstvergewisserung dar. Daher liegt der nationalismushistorische Ertrag der Beschäftigung mit Selbstzeugnissen als autobiographische Sinnkonstruktionen in der Differenzierung des pauschalen Urteils über die nationale Orientierung des Bildungsbürgertums. Dabei wird eher die Bandbreite unterschiedlicher Selbst-Verhältnisse zum Nationalen eröffnet, als dass Aussagen über den Verbreitungsgrad einzelner Positionierungen im Bildungsbürgertum schlechthin möglich wären.
zugeordnet.16
16 Vgl. Brockhaus Conversationslexikon, Bd. 3, 1882, S. 68; Brockhaus Konversationslexikon, Bd. 3, 1898, S. 16; Meyers Konversationslexikon, Bd. 10, 1889, S. 589; Meyers Konversationslexikon, Bd. 12, 1905, S. 284. Diese Klassifikation hält sich bis in die 1920er Jahre hinein (Hoffmann 1989, S. 488). Vgl. auch Anm. 8.
357
Der Ort des Nationalen
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Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig
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Allgemeine
deutsche
Real-Encyklopädie,
13. Aufl.
Allgemeine
deutsche
Real-Encyklopädie,
14. Aufl.
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358
Dagmar Günther
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Die Idee Nation als Handlungsorientierung. Kommentar Dieter Langewiesche
I. Wer nach den
Handlungsorientierungen fragt, die von der Idee Nation ausgehen können, wird gut daran tun, die Suche nach Handlungsspuren nicht zu sehr mit Erwartungen zu überfrachten. Zu den vielfältigen Rollen, die der einzelne in einer pluralistischen Gesellschaft ausfüllt, gehört zwar auch die nationale. Sie ist in ihrer Wirkung jedoch nicht mit den Alltagsrollen zu vergleichen, die ständig oder doch häufig wiederkehrend aufgerufen werden etwa als Elternteil oder Ehepartner, im Beruf oder als Fußgänger, der an der roten Ampel überlegt, ob er nun als erzieherisches Vorbild agieren oder den kalkulierten Regelverstoß seiner Rolle als mündiger Staatsbürger zuschreiben soll. Solche Rollen stellen ständig Verhaltensaufforderungen an jeden. Als Mitglied einer Nation wird der einzelne hingegen nur selten direkt zu Handlungen verpflichtet. Ändert sich das und die Nationszugehörigkeit stellt ständig Anforderungen an die eigene Loyalität, so ist eine Ausnahmesituation eingetreten: die Olympischen Spiele oder eine Fußballweltmeisterschaft finden statt oder das eigene Land führt Krieg. Im Krieg schlägt die Stunde der Nation, denn nun verlangt sie Loyalität bis zum Tode. Ansonsten aber, so Michael Billigs Beobachtungen zum banal nationalism der Gegenwart, liege -
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die nationale Identität meistens still wie ein Mobiltelefon, doch sie könne stets aktiviert werden. „Then, the crisis occurs; the president calls; citizens answers; and the patriotic identity is connected."1 Zumindest in Staaten ohne akute militärische Bedrohung und mit gedämpftem Nationalbewusstsein wie im heutigen Deutschland ist der Appell, der von der Idee Nation auf den einzelnen ausgeht, selten geworden. Das ist in Gesellschaften mit ungebrochener Tradition nationaler Orientierungen keineswegs so Michael Billigs Buch Banal Nationalism geht nicht zufällig von den USA und Großbritannien aus und war früher auch in Deutschland anders. Wer Zeitungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg liest, kann nicht übersehen, dass die Idee Nation bei vielen Gelegenheiten als eine Art höhere Instanz, die Forderungen stellt, allgemein akzeptiert war. Die Nation besaß in den Vorstellungen der damaligen Zeitgenossen eine empfindliche Ehre, zu deren Schutz jedes Mitglied als verpflichtet galt. In der Außenpolitik konnte davon ein erheblicher öffentlicher Druck auf die Regierung ausgehen. -
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1
Billig, Michael: Banal Nationalism, New Dehli 1995, S. 7.
360
Dieter Langewiesche
Diese Macht, Verhaltensweisen als national geboten festzulegen, hat Isaiah Berlin veranlasse den Nationalismus mit „Frankenstein's Monster" zu vergleichen, da beide von ihren Erzeugern nicht zu bändigen waren.2 Erzeugt wurde dieses Monster in Europa, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach dem Prinzip eine Nation ein Nationalstaat in einer langen Kette blutiger Kriege und Revolutionen territorial neu geordnet wurde. Heute ist Europa erneut ein Experimentierfeld auf der Suche nach einem neuen Ordnungsmuster, das den Nationalstaat suprastaatlich in seinen Funktionen relativiert und längerfristig wohl auch die Idee Nation als Handlungsorientierung ablösen wird. Insofern ließe sich die Diskussion über das Ziel, auf das die Europäische Union zusteuert, auch als Suche nach einer neuen Leitidee als „Weichensteller" für die Zukunft analysieren. Die Umfrageergebnisse im Eurobarometer bieten empirische Anhaltspunkte, ob die Idee Europa in welchen Bereichen, mit welchen Unterschieden in den Mitgliedsstaaten, mit welchen Entwicklungstendenzen an die Stelle der Nation und des Nationalstaates treten kann. Darauf zielen die vier Aufsätze, die ich zu kommentieren habe, jedoch nicht. Sie spüren vielmehr für Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Handlungsbereichen der Frage nach, welche handlungsleitenden Wirkungen von der Nation ausgegangen sind. Ich werde die vier Aufsätze zunächst knapp vorstellen, offene Fragen, die ich sehe, formulieren und dann jeweils skizzieren, welche Folgerungen sich -
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daraus für das fassen.
generelle Problem ergeben, Wirkungen von Ideen empirisch zu
II. Frank Becker hat ein Untersuchungsfeld gewählt, auf dem die Idee Nation allgegenwärtig ist: der deutsch-französische Krieg von 1870/71, aus dem der deutsche Nationalstaat hervorging. Niemand kann sich in Zeiten eines nationalen Einigungskrieges dem nationalen Loyalitätsappell entziehen. Doch nicht einmal jetzt musste er einheitlich beantwortet werden. Da es damals konkurrierende Vorstellungen von deutscher Nation gab, konnten auch die Vorstellungen, welche Gestalt der künftige deutsche Nationalstaat haben sollte, unterschiedlich ausfallen. Das ist jedoch nicht die Perspektive, unter der Becker auf die nationalen Einigungskriege blickt.3 Er fragt: Wie hat sich 2
Berlin, Isaiah: Kant as an Unfamiliar Source of Nationalism (1972), in: ders.: The Sense of Reality. Studies in Ideas and their History, New York 1996, S. 232-248, S. 234. Wie realistisch Berlins Einschätzung ist, suche ich zu zeigen in: Nationalismus als Pflicht zur Intoleranz, in: Mattioli, Arsan/Ries, Markus/Rudolph, Enno (Hrsg.): Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen. Europa 1770-1848, Zürich 2004, S. 281-302. 3 Über die konkurrierenden Vorstellungen von nationaler Einheit der Deutschen informieren im historischen Längsschnitt die Beiträge in Langewiesche, Dieter/Schmidt, Georg
Die Idee Nation als
361
Handlungsorientierung
bürgerliche Öffentlichkeit im nicht-österreichischen Deutschland die Neubildung der deutschen Nation, die auf den Schlachtfeldern von 1866 und 1870 militärisch errungen wurde, medial angeeignet? Seine Antwort ist eindeutig: Das gebildete Bürgertum es steht als Medienproduzent im Zentrum der Untersuchung hat in den „ersten ,Pressekriegen' der deutschen Geschichte" eine „zweite Wirklichkeit" neben die militärischen Ereignisse gesetzt. Auf den Verlauf der Kriege hatten die Bürger keinen Einfluss. Doch in ihrer öffentlichen Kriegsdeutung machten sie sich zum Hauptsieger. Pointiert gesagt: der Deutungskrieg, den die Medien der bürgerlichen Öffentlichkeit bestimmten, überlagerte in der öffentlichen Wahrnehmung den Krieg des Militärs und der Monarchen. Diese bürgerliche Aneignung des militärischen Erfolges von 1870/71 war zugleich eine Enteignung der nichtbürgerlichen Führung in Politik und Militär. Becker dreht also die üblichen Deutungsmuster um ich verschärfe seine Interpretation, aber doch in den Bahnen, die bei ihm angelegt sind: aus bürgerlicher Ohnmacht bei der Erschaffung des deutschen Nationalstaates wird bürgerliche Deutungssuprematie. Die bürgerliche Wertordnung triumphiert, indem die Medien den Sieg des Militärs in einem Krieg, in dem Bürger nichts zu sagen hatten, umcodieren zu einem Sieg bürgerlicher Tugenden. Der militärische Sieg und die Sieger werden verbürgerlicht. Dazu gehört auch, dass der Kreis der Sieger sozial weit gezogen wird: nicht nur die militärisch-staatliche Führungseliten rechnete der bürgerliche Medienkrieg, der die Wahrnehmung des Schlachtenkrieges bestimmte, zu den Siegern. Auch die vielen kleinen Rädchen im militärischen Räderwerk werden aufgewertet. Das bürgerliche Leistungsethos verbindet sie mit der Führung. Moltke erscheint im Bild, das von ihm medial vermittelt wird, als der Wissenschaftler in Uniform und der preußische Monarch als bürgerliche Vaterfigur. Der bürgerliche Diskussionskrieg rehabilitiert den Adel, indem er ihm ein bürgerliches Leistungsethos und Expertenwissen zuschreibt, die der Adel im Krieg in den Dienst für die Nation gestellt habe. die
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(Hrsg): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000; europäisch: Langewiesche: Zentralstaat Föderativstaat: Nationalstaatsmodelle in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 2 (2004), S. 173-190; zur Reichsgründungsära: Buschmann, Nikolaus: Einkreisung und Waffenbruderschaft. Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850-1871, Göttingen 2003; ders.: „Im Kanonenfeuer müssen die Stämme Deutschlands zusammen geschmolzen werden". Zur Konstruktion nationaler Einheit in den Kriegen der Reichsgründungsphase, in: Buschmann, Nikolaus/Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt/M. 2004, S. 99-119; Krüger, Christine: „Sind wir denn nicht Brüder?" Deutsche Juden im nationalen Krieg, 1870/71, Phil. Diss. Tübingen 2005; dies.: „Weil nun der Kampf der Völker die jüdischen Bruchstücke gegeneinander schleudert...". Die deutsch-jüdische Öffentlichkeit im Krieg von 1870/71, in: GG 31 (2005), H. 2. -
Dieter Langewiesche
362
Insofern rebelliert die bürgerliche Deutungsoffensive nicht gegen die überkommenen Führungsschichten, sondern verbürgerlicht sie und ihren Kriegs-
erfolg.
In dieser Deutungsoffensive trennte sich das deutsche Bürgertum von seinen früheren Vorstellungen einer modernen Militärverfassung. Bürgerheer meint nun ein Nationalheer aus Wehrpflichtigen nach preußischem Muster, scharf abgegrenzt vom französischen Nationalheer. Der mediale Diskurs begreift den deutsch-französischen Krieg als Entscheidung in einem Wettbewerb zwischen zwei gegensätzlichen Typen der Militärverfassung und der Kriegführung. Preußen-Deutschland gewinnt diesen Wettbewerb, weil es nur in Deutschland so die Hauptstimme der bürgerlichen Öffentlichkeit gelungen sei, die konkurrierenden Modelle ,Staatenkrieg' und ,Nationalkrieg' zu einer Symbiose zu verschmelzen, in der die gesamte Armee bürgerliche Verhaltensnormen übernommen habe. Diese Umdeutung des militärischen Sieges in einen Sieg der bürgerlichen Werteordnung und Verhaltensformen präsentiert Becker als Widerspruch zu allen historiographischen Interpretationen, die das Kaiserreich in Richtung Militarismus und Obrigkeitsstaat deuten. Frank Becker gelingt mit dieser Analyse, die er in seinem Werk Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913 (München 2001) näher ausführt, zweifellos eine Wirkungsgeschichte von Ideen. Ich ziehe sie jedoch enger als er. Becker konstruiert die „bürgerliche Öffentlichkeit" als einen Diskursraum, in dem alle Quellen, die er auswertet, eine gleichsinnige Kriegsdeutung aufweisen: Der neue Krieg kann nur siegreich geführt werden, wenn die Leistungsfähigkeit der Zivilgesellschaft genutzt wird, und dazu bedarf es des Bürgers. Das wird völlig plausibel aus den Quellen heraus entwickelt. Doch die Wirkungslinien, die Becker von diesem Diskursraum ausgehen sieht, greifen dann über in andere Räume, ohne dass untersucht werden könnte, was sich dort ereignet hat, denn sie sind zeitlich entfernt vom Diskursraum deutschfranzösischer Krieg. Becker zielt auf eine Erklärung für ein deutsches Sonderwegsbewusstsein, das die weitere Entwicklung des Kaiserreichs besser als bisher erklären soll, vor allem die Handlungsdispositionen im Bürgertum, dessen Kriegsbereitschaft und 1914 dessen Kriegsbegeisterung. Diese Handlungsdispositionen nach 1871 bis zum Ende des Kaiserreichs werden jedoch nicht mehr empirisch untersucht. Doch nicht diese Lücke ist der wunde Punkt, auf den ich den Finger legen will. Der Stachel, den ich für das Ziel des Förderschwerpunktes in diesem Projekt mit seinen stimulierenden Ergebnissen sehe, steckt in dem Modell für eine Wirkungsanalyse von Ideen, das ich aus Beckers Forschungen herauslese. Es sieht so aus: Ein Diskursraum wird präzise abgesteckt und auch die Prozesse, die sich in diesem Diskursraum vollziehen, werden präzise analysiert. Aber die län-
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Die Idee Nation als
Handlungsorientierung
363
gerfristigen Wirkungen der Deutungswirklichkeiten, die in diesem Diskursraum erschaffen werden, können postuliert werden, indem das Spätere, auch
sich über fast ein halbes Jahrhundert hinzieht, kausal den Ideen zugerechnet wird, die in dem Diskursraum der Entscheidungsjahre 1870/71 zu einem neuen nationalpolitischen Deutungsmodell verdichtet wurden. Mich wenn es
würden aber vor allem die Übergänge interessieren. In ihnen muss etwas geschehen sein. Und genau darum müsste es gehen. Wenn wir unser Modell für eine Wirkungsanalyse von Ideen so anlegen, dass der Ausgangspunkt als Erklärungsdominante des Späteren dient, überführen wir Ideengeschichte in eine Strukturgeschichte, die für Handlungsprozesse blind ist. Mein Fazit als These mit Blick auf den gesamten Förderschwerpunkt: Wir haben es in Frank Beckers Projekt mit einem gelungenen Beispiel für eine Wirkungsgeschichte von Ideen in einem bestimmten, klar begrenzten Zeitraum zu tun. Wirkungslinien, die aus diesem Zeitraum hinausführen, lassen sich hingegen hier widerspreche ich ihm nicht verfolgen. Wirkungsgeschichte als längerfristige Prozessgeschichte lässt sich so wohl nicht schreiben. Es müssten Wirkungslinien zwischen unterschiedlichen Diskursräumen verfolgt werden. Darauf zielt der Aufsatz von Dagmar Günther (ausführlich dazu ihr Werk Das nationale Ich? Autobiographische Sinnkonstruktionen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs, Tübingen 2004). -
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III. Günther fragt nach der Wirkungsmacht des Nationalen, indem sie anhand von Autobiographien prüft, wie es (erstens) im Kaiserreich um die nationale Geltung von autobiographischen Zeugnissen bestellt war, und (zweitens) welche Geltung nationale Vorstellungen in autobiographischen Zeugnissen besaßen. Das Ergebnis ist aufregend und herausfordernd für die Nationsforschung, sofern sie Wirkungsanalysen anstrebt. Und das sollte eine
Dagmar
gute Nationsforschung tun.
Das Hauptergebnis mit Blick auf den Förderschwerpunkt lässt sich so umschreiben: Individuelles und öffentliches historisches Gedächtnis im Kaiserreich stimmten in vielen Punkten nicht überein, und dies auch dort, wo es um Phänomene geht, die in der öffentliche Debatte als nationalgeschichtliche
erscheinen. Diese Diskrepanz zwischen individuellem und öffentlichem Erinnern lässt sich nicht mit politischen oder weltanschaulichen Wertungsunterschieden erklären, denn die Personen, deren autobiographische Zeugnisse ausgewertet werden, gehörten alle jenem Bildungsbürgertum an, das auch die öffentlichen Vorstellungen von deutscher Nation und ihrer Geschichte vorrangig bestimmt haben. Es sind genau jene Kreise, die bei Frank Becker den Diskurskrieg gewonnen haben, indem sie öffentlich den
Schlüsselereignisse
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Schlachtenkrieg umgedeutet haben in einen Krieg, in dem bürgerliche Verhaltensnormen über Sieg und Niederlage entschieden haben. Was bedeutet es für eine wirkungsgeschichtlich orientierte Nationsforschung, wenn die Hauptaussage von Bildungsbürgern, die auf den öffentlichen Raum zielen, in den autobiographischen Selbstdeutungen dieser nationalpolitischen Protagonisten keine Resonanz finden? Die Nationsforschung beansprucht, Aussagen zu machen über die Wirkung nationaler Ideen, die sie als gesellschaftliche Handlungsdispositionen begreift. Doch was ist, wenn diese angenommenen Wirkungen nicht einmal die autobiographischen Sinnkonstruktionen derer, die als Sprecher der Nation auftreten, durchdringen? Müssen wir den Bildungsbürgern zwei Stimmen zuschreiben eine öffentliche und eine private bzw. autobiographische? Die eine Stimme bezeugt die Dominanz des Nationalen im Denken des Bildungsbürgers als homo politicus; die andere Stimme bezeugt die engen Grenzen des Nationalen in den Selbstbildern, die diese Bildungsbürger autobiographisch von sich entwerfen? Auch Frank Becker hat autobiographische Zeugnisse ausgewertet, neben anderen. Er findet eine gleichsinnige Aussage in allen Text- und Bildquellen, ob autobiographisch oder nicht. Dagmar Günther findet das Gegenteil. Eine Brücke zwischen beiden lässt sich vielleicht so finden: Dagmar Günther zeigt, dass ganz im Gegensatz zu dem, was man dazu üblicherweise liest die Revolution 1848/49 in den Lebenserinnerungen, die im Kaiserreich verfasst wurden, einen herausgehobenen Platz einnimmt. 1871 und 1848 werden in den bildungsbürgerlichen Autobiographien unmittelbar aufeinander bezogen, der eigene Lebensweg wird als einheitlich entworfen. Dürfen wir diesen ideologischen Kurzschluss von 1848 nach 1870 als den Versuch von Bildungsbürgern verstehen, die militärisch erzwungene Einigung von oben als Vollendung eines Weges zu deuten, den die Bürger bereits 1848 begonnen hatten, wenn auch so die retrospektive Selbstdeutung mit untauglichen Mitteln? So gesehen ließen sich die Ergebnisse Günthers und Beckers doch aufeinander beziehen, obwohl beide völlig gegensätzlich zu sein scheinen. Dann hätten nämlich die Bildungsbürger in ihren autobiographischen Zeugnissen zwar das Nationale viel geringer gewichtet als in ihren öffentlichen Wortmeldungen. Doch die Wirkung würde beidemal in dieselbe Richtung zielen: Die nationale Einheit wird 1871 zwar ganz anders erreicht als sie 1848 von den Bürgern intendiert war, doch die bürgerliche Dominanz wird für beide Formen beansprucht: in den öffentlichen Äußerungen durch Umdeutung des militärischen Kampfes in einen bürgerlichen Leistungswettbewerb zwischen der deutschen und der französischen Nation; in den autobiographischen Zeugnissen dezenter durch Konstruktion von Biographien, die 1848 auf 1871 beziehen, zugleich aber konkurrierende Loyalitäten gegenwärtig halten, insbesondere partikulare (ich fände die Formulierung ,föde-
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Die Idee Nation als
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Handlungsorientierung
rale' angemessener) und religiöse bzw. konfessionelle. Dass mit wachsendem Abstand zum Ereignis Reichsgründung der Geltungsanspruch der Nation im Sinne des kleindeutsch-preußischen Nationalstaates mächtiger wurde, verbindet die autobiographischen Zeugnisse durchaus mit den öffentlichen Deu-
tungen.
IV. Moritz Föllmer und Andrea Meissner spüren in ihrem Aufsatz der Vielfalt im deutschen Nationalismus zwischen 1890 und 1933 nach, eine Zeit, in der die kleindeutsche Form des deutschen Nationalstaates einerseits akzeptiert wurde, andererseits jedoch die nationale Einheitsrhetorik die unterschiedlichen Zukunftsziele immer weniger überbrücken konnte. Das ist in vielen Forschungen dicht erforscht worden. Föllmer und Meissner ergänzen dies mit ihren Untersuchungen zu den nationalen Mythen in Lehrbüchern für die Volksschulen in Preußen und Bayern sowie zur Adaption des Nationalismus durch industrielle Interessengruppen. Sie stellen in beiden Bereichen eine wachsende Polyvalenz des Nationalen fest. In der Weimarer Republik lasse sich schließlich die Idee Nation wirkungsgeschichtlich eher in den enttäuschten Erwartungen als in handlungsmotivierender Kraft erfassen. Mit Blick auf die Polyvalenz der Idee Nation, ihre Offenheit hinsichtlich konkreter Handlungsanweisungen und ihre Fähigkeit, konkurrierende Vorstellungen als national auszuflaggen, wird der Forschungsstand bestätigt. Das wusste bereits die ältere Literatur, und die neuere hat es ohne immer ihre Vorläufer zu kennen breit entfaltet. Der Reiz des Aufsatzes von Moritz Föllmer und Andrea Meissner liegt in ihrem Versuch, Max Webers Konzept von Ideen als Weichensteller, das dem Antrag für diesen Förderschwerpunkt zugrunde lag, in Frage zu stellen. Ein Förderschwerpunkt, der sich selber theoretisch überholt eine erfreuliche Leistung. Mir hatte sie jedoch schon bei der Präsentation der ursprünglichen Aufsatzfassung auf der Tagung, aus der dieses Buch hervorgegangen ist, nicht eingeleuchtet. Jetzt haben die beiden Autoren ihre Kritik vorsichtiger gefasst, doch sie verstehen weiterhin das Konzept von den Ideen als Weichensteller für Handlungsorientierung als theoretische Alternative zu einem Konzept, das auf das ,J3igengewicht von Diskursen, Mythen und deren Aneignungen" setzt. Warum mir dies nach wie vor nicht einleuchtet, möchte ich kurz erläutern. Max Webers Wort „Weichensteller" verstehe ich als eine Metapher, die helfen soll, Ideen und Interessen so aufeinander zu beziehen, dass Handeln von Menschen erklärt werden kann aus der Wertsphäre, die durch Ideen geschaffen wird. Rainer Lepsius, dessen Weber-Studien für die Ausarbeitung des Antrags zur Einrichtung des Förderschwerpunktes wichtig waren, be-
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als die „schärfste Formulierung des Programms der KultursozioMax Weber fordert, „bestimmte Elemente des sozialen Verhallogie", tens und seiner Organisation auf die Eigenart bestimmter Ideen" zurückzuführen.4 Ideen erzeugen, so Webers Annahme, bestimmte Wertsphären und legen die Handlungsorientierungen in diesen Wertsphären fest. Aber das leitende Ideen können sich ändern. Nation war für Weber selbstverständlich ist als Leitidee in einer bestimmten Zeit entstanden und als historisches Phänomen kann sie diese Position auch wieder verlieren. Das liegt an der Historizität des Phänomens Nation. Es hat jedoch nichts mit Max Webers handlungstheoretischer Begründung von Ideen zu tun. Der empirische Nachweis, dass die Idee Nation ihre Kraft verliert, soziales Verhalten zu prägen, spricht nicht gegen den Nutzen von Webers Annahmen über die Wirkkraft von Ideen und gegen seine theoretische Zurechnung von Handlungsorientierungen auf zeichnet
es
wenn
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Wertsphären.
Davon zu trennen ist die Frage, ob das Wirkungspotential der Idee Nation daran geknüpft ist, dass über diese Idee in der Gesellschaft Konsens besteht. Dagegen spricht die empirische Evidenz und die gesamte Nationalismusforschung. Auch vor dem Ersten Weltkrieg war die konkrete Ausgestaltung der Idee Nation höchst umstritten. Und ein Teil der Forschung argumentiert mit guten Gründen, die Wirkkraft der Idee Nation liege gerade in ihrer Unbestimmtheit und Offenheit. Ist diese Kraft wirklich nach dem Ersten Weltkrieg verloren gegangen? Die Vorstellungen von Nation wurden zweifellos radikalisiert und bekämpften nun erbittert ältere Formen der Idee Nation. Das ist bekannt. Der völkische Radikalnationalismus verneinte alle Formen von Liberalnationalismus. Aber bedeutet das, nationale Ideen hätte nicht mehr als „Weichensteller" fungieren können? Dagegen spricht auch der Schlusssatz, mit dem die beiden Autoren ihren Aufsatz beenden. Wie auch immer man die konkreten Wirkungen der Idee „nationale Volksgemeinschaft" einschätzt dazu liegen eine Vielzahl erhellender Studien und konkurrierender Deutungen vor -, sie zeigen, um Webers berühmte Formulierung zu zitieren, dass diese Idee „als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte". Ich sehe deshalb in dem neuen empirischen Material, das Moritz Föllmer und Andrea Meissner vorlegen, keine Begründung, Max Webers Handlungstheorie in ihrer Gültigkeit zeitlich auf „Umbruchsperioden" zu befristen. Auf welche Periode träfe dieses Merkmal nicht zu? Wenn die Idee Nation ihre Handlungskraft verliert, spricht das nicht gegen Webers Theorie. Sie steckt die Akteure auch keineswegs, wie hier suggeriert wird, in eine Zwangsjacke, die den „Handlungsspielraum der Subjekte von vornherein" begrenzt. Es geht -
4
Lepsius, M. Rainer: Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik (1986), in: ders.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 33.
bei Max Weber
Die Idee Nation als
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Handlungsorientierung
vielmehr um ein Konzept, das Handlungsmuster und Weltbilder, die diskursiv entstehen und veränderlich sind, einander zurechnet.
V.
Gangolf Hübinger und Helen Müller fragen in ihrem Projekt Ideenzirkulation und Buchmarkt nach den Wegen, auf denen Ideen in bestimmten politischen und konfessionellen bzw. religiösen Milieus entwickelt und verbreitet wurden. Welche Bedeutung kam den neuen Formen und dem neuen Ausmaß der Ideenzirkulation die Forschung spricht von der Wissens- und Kommunikationsrevolution um 1900 in den Prozessen kultureller Fragmentierung und gesellschaftlicher Integration zu? Die Rolle der Verlage auf dem literarischen Massenmarkt, ihre Bedeutung für die Entstehung des Typus des Intellektuellen und ihr Beitrag zur Wissensorganisation stehen im Mittelpunkt. Um 1900 kamen zu den politisch-kulturellen Ordnungsmustern in der deutschen Gesellschaft des Kaiserreichs neue Fragmentierungen hinzu, etwa die künstlerischen Avantgarden, die sich dem bisherigen bildungsbürgerlichen Deutungsmonopol entzogen, neue politische Bünde, neue religiöse Sekten, und all dies war buchvermittelt, so die beiden Autoren. Der expandierende Buchmarkt schuf neue Möglichkeiten, Wertideen in der Gesellschaft zu verbreiten, und neue Produzenten traten auf. Hier ordnen Hübinger und Müller den Typus des Intellektuellen ein, der damals entstand. Zu den Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung, die er formuliert und auf dem literarischen Massenmarkt verbreitet hat, gehörten auch die Umdeutungen -
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Nation. Das wird hier nicht Ansatz analysieren. von
thematisiert, doch
es
lässt sich mit diesem
Hübinger und Müller zeichnen ein Bild vom späten Kaiserreich, das auf mehr Pluralität zuläuft, die den neuen Ideen und vor allem den neuen Formen der Ideenzirkulation zugerechnet werden kann. Aber diese neue Pluralität das möchte ich als eine These aus dem Text herauslesen wird nicht von der Gesellschaft bejaht. Sie ist vielmehr agonal auf wechselseitigen Ausschluss, nicht auf Anerkennung oder zumindest Duldung bedacht. Das Kaiserreich war nicht auf dem Wege zu einer pluralistischen Gesellschaft, verstanden als eine Gesellschaft, die Pluralität als Wert bejaht und fordert. Es war eher eine Pluralität, die dem Anderen das Recht, anders zu sein, bestritt. Das möchte ich als ein Zeichen dafür verstehen, dass dem Kaiserreich ein fundamentaler Wertekonsens fehlte, der stark genug gewesen wäre, um konkurrierende Wertvorstellungen zu ertragen. Die Nation als Wertegemeinschaft reichte offensichtlich nicht, einen Fundamentalkonsens zu erzeugen, innerhalb dessen Pluralität bejaht werden konnte. Ahnlich sehen es Föllmer und Meissner, wenngleich sie daraus im Vergleich zu Hübinger und Müller mit Blick auf -
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das theoretische Konzept zur Wirkungsanalyse von Ideen eine konträre Folgerung ableiten. Methodisch möchte ich aus den Ergebnissen der Buchmarkstudie Gangolf Hübingers und Helen Müllers diesen Schluss ziehen: Die Ideenzirkulation, die im Buchmarkt erfasst wird, lässt sich nicht direkt politischen Handlungsorientierungen zurechnen, aber ihre Analyse ist wirkungsgeschichtlich ausgerichtet, denn sie eröffnet Möglichkeiten, die Wege zu verfolgen, auf denen Ideen zirkulierten und in der Gesellschaft zur Institutionalisierung von Wertvorstellungen führten. Und genau darauf sollten Forschungskonzepte, die nach den Wirkungsmöglichkeiten von Ideen jenseits einer traditionellen Ideengeschichte fragen, ausgerichtet werden: Wie und in welchen Bereichen der Gesellschaft werden bestimmte Ideen institutionalisiert und dadurch überindividuell wirksam? Selbstverständlich schließt dies die Frage ein nach der Konkurrenz von Ideen und nach dem Verlust ihrer Wirkungsmöglichkeiten, wenn die Kraft zur Institutionalisierung einer Leitidee an andere Vorstellungen übergeht.
IV. Normen: Recht, Moral, Religion in der Moderne
Ideen und Recht Die Umsetzung strafrechtlicher Ordnungsvorstellungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts Diethelm Klippel/Martina Henze/Sylvia Kesper-Biermann I. Ideen und rechtliche Normen in der Rechtsgeschichte Das Forschungsprojekt fragt nach der Wechselwirkung von Ideen und rechtlichen Normen auf dem Gebiet des Strafrechts im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Damit füllt es zum einen eine erhebliche Forschungslücke auf dem Gebiet der Strafrechtsgeschichte, und zum anderen verwendet und modifiziert es methodische Vorstellungen der „Neuen Ideengeschichte" im Bereich der Rechtsgeschichte. Die deutsche Strafrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Zusammenhang zwischen Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, ist bisher nur recht lückenhaft erforscht. Das gilt sowohl hinsichtlich der so genannten Historischen Kriminalitätsforschung als Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft als auch hinsichtlich der von Juristen betriebenen rechtshistorischen Die Historische Kriminalitätsforschung widmet sich, abgesehen von Ausnahmen wie Dirk Blasius, vorwiegend anderen zeitlichen und inhaltlichen Schwerpunkten. Die rechtshistorische Forschung dagegen, wiederum abgesehen von Ausnahmen, vernachlässigt die Strafrechtsgeschichte insgesamt, stellt häufig methodisch wenig zufrieden und beschäftigt sich vorwiegend mit den „großen Namen" des Faches und mit den herausragenden Gesetzen. Erheblicher Forschungsbedarf besteht erstens hinsichtlich der Entstehungsgeschichte eines der wichtigsten Gesetze des 19. Jahrhunderts, des Reichsstrafgesetzbuches von 1871. Zweitens gibt es nur wenige neuere Untersuchungen zur Strafgesetzgebung der einzelnen deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts. Gerade diese Gesetze, die im Laufe ihrer Entstehungsgeschichte verfassten Entwürfe und die Beratungen dazu geben Aufschluss u.a. über den Wandel der strafrechtlichen Vorstellungen von Gesetzgeber und Parla-
Forschung.1
'
Vgl. die Forschungsüberblicke bei Schwerhoff, Gerd: Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999, S. 15-23; Eibach, Joachim: Recht
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Kultur
Diskurs. Nullum Crimen sine Scientia, in: Zeitschrift für Neuere
Rechtsgeschichte (ZNR) 23 (2001), S. 102-120; ders.: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift (HZ) 263 (1996), S. 681-715; Jerouschek, Günter/Rüping, Hinrich: Literaturbericht Strafrechtsge-
schichte, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 106 (1994), S. 163-183; 108 (1996), S. 167-188.
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Klippel/Martina Henze/Sylvia Kesper-Biermann
menten; nicht zuletzt auf den Ergebnissen dieses Prozesses beruhte das Reichsstrafgesetzbuch. Drittens fehlt es an Arbeiten über die Wechselwirkung zwischen dem Diskurs in der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts und den zahlreichen Gesetzesprojekten. Viertens ist hinsichtlich des Strafvollzugs bisher kaum erforscht, welche Ideen in dem im 19. Jahrhundert entstehenden umfangreichen gefängniskundlichen Diskurs vorherrschten und inwiefern der Diskurs auf Politik und Gesetzgebung der deutschen Staaten einwirkte. Was die Methode betrifft, so baut das Projekt vor allem auf den Überlegungen der so genannten Neuen Ideengeschichte auf.2 Freilich bedürfen diese Vorstellungen der Ergänzung generell für rechtshistorische Fragestellungen und speziell für die hier behandelten Themen.3 Auf dem Gebiet des Rechts gerät neben den beiden Ebenen der Theorie bzw. Sprache einerseits und der politischen Praxis bzw. sozialen Wirklichkeit andererseits eine dritte Ebene in den Blick, nämlich Gesetze und andere rechtliche Normen, u.a. der Verwaltung, der Rechtsprechung und je nach dem Rechtsquellenverständnis der Zeit auch der Rechtswissenschaft. Rechtliche Normen, vor allem Gesetze, können aber weder mit Ideen, Theorie oder Sprache gleichgesetzt werden, noch mit der politischen Praxis oder der sozialen Wirklichkeit. Lediglich eine Unterart von Ideen sind sie deshalb nicht, weil ihnen in der Regel ein deutlicher Anwendungsbezug zukommt; sie werden angewandt oder durchgesetzt. Und mit der sozialen Wirklichkeit dürfen sie nicht verwechselt werden, da ihre Anwendung oder Durchsetzung keinesfalls sicher ist. Das Projekt hat es unternommen, mit Hilfe der skizzierten methodischen Überlegungen die genannten Forschungsdesiderata zumindest teilweise zu füllen. Angesichts des Umfangs der Aufgabe waren thematische Eingrenzungen erforderlich. So wurden zur Analyse des Zusammenhangs von Ideen und Gesetzgebung zwei Bereiche herausgegriffen: die Entstehungsgeschichte der deutschen Strafrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts und der Strafvollzug. Die folgenden Ausführungen präsentieren einen Ausschnitt aus den Ergebnissen des Forschungsprojekts, indem sie allgemeine Resultate mit Beispielen kombinieren. Zum einen geht es um Ordnungsvorstellungen im Strafrecht des 19. Jahrhunderts, exemplarisch dargestellt anhand von Ehre und Ehrverlust. Darüber geben Ausgestaltung und Veränderung der so ge-
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2
Vgl. den von Günther Lottes, S. 261-269, eingeleiteten entsprechenden Abschnitt in: Eibach, JoachimAfers. (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, mit Beiträgen von Schorn-Schütte, Luise: Neue Geistesgeschichte, ebd., S. 270-280; Eßer, Raingard: Historische Semantik, ebd., S. 281-292; Hampsher-Monk, Iain: Neuere anglo-amerikanische Ideengeschichte, ebd., S. 293-306; Jütte, Robert: Disin Frankreich, ebd., S. 307-317. kursanalyse 3 Dazu Kuppel, Diethelm: Rechtsgeschichte, ebd., S. 126-141; ders.: Ideen Normen
Lebenswelt. Exegese und Kontexterschließung in der Rechtsgeschichte, in: Scientia Poética. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 4 (2000), S. 179-191. -
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Ehrenstrafen in den strafrechtlichen Kodifikationen bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 Aufschluss (II). Im Mittelpunkt dieses Abschnitts stehen die innerbürokratischen Vorbereitungsarbeiten zur Erstellung von Gesetzentwürfen. Zum anderen geht es um die Durchsetzung des Gedankens der Einzelhaft im Strafvollzug (III). Hier liegt der Schwerpunkt auf der parlamentarischen Behandlung der Idee der Einzelhaft. Das Fazit schließlich fasst den Ertrag des Forschungsprojekts im Hinblick auf Fragestellung und
nannten
Methode zusammen (IV). Als Quellengrundlage dienten zum einen die in Form von Monographien, Zeitschriftenartikeln und Rezensionen gedruckte juristische, insbesondere strafrechtswissenschaftliche Literatur zu den Strafrechtskodifikationen sowie die umfangreichen Publikationen zum Strafvollzug zwischen ca. 1780 und 1871.4 Zum anderen wurden die publizierten Entwürfe und Materialien zu den einschlägigen Gesetzesprojekten sowie die Verhandlungen ausgewählter einzelstaatlicher Landtage (Sachsen, Hessen-Darmstadt, Baden, Bayern) sowie des Reichstags des Norddeutschen Bundes herangezogen. Darüber hinaus fand eine Auswertung der ungedruckten Überlieferung in den Hauptstaatsarchiven Dresden, Hannover, München und Stuttgart, den Staatsarchiven Bremen, Darmstadt und Wolfenbüttel sowie des Bundesarchivs Berlin statt.
II.
Bürgerliche Ehre und staatliches Recht. „Ehrenstrafen" in den deutschen Strafgesetzbüchern 1813-18715
Das enge Zusammenwirken von Strafrechtswissenschaft und praktischer Gesetzgebungstätigkeit in den deutschen Staaten empfanden schon die Zeitgenossen als zentrales Charakteristikum der Entstehung von Strafrechtskodifikationen im 19. Jahrhundert. So sprach Carl Georg von Wächter 1855 von einer ,,stete[n], ganz besonders lebendige[n] Wechselwirkung, welche in diesen Zeiten zwischen Wissenschaft und Legislation lebte".6 Richard Loening setzte es 1882 als allgemein bekannt voraus, „welchen großen Einfluß die Strafrechtswissenschaft seit etwa 100 Jahren auf die Gestaltung der Straf4
Zeitgenössische Übersichten z.B. bei Kappler, Friedrich: Handbuch der Literatur des philosophischer und medizinischer Hülfswissenschaften für Rechtsgelehrte, Psychologen und gerichtliche Aerzte, Stuttgart 1838; Ristelhueber, Jean Baptiste: Wegweiser zur Literatur der Waisenpflege, des Volks-Erziehungswesens, der des Bettelwesens und der Gefangnisskunde, 2 Bde., Köln 1831 und 1840. Annenfürsorge, 5 Eine frühere Fassung dieses Abschnitts wurde beim 13. Treffen des Arbeitskreises „Historische Kriminalitätsforschung in der Vormoderne" am 19.-21.6.2003 in StuttgartHohenheim präsentiert. 6 Von Wächter, Carl Georg: Die Deutsche Strafrechtswissenschaft des XIX. Jahrhunderts und ihre Aufgaben, in: Jahrbücher der deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung 1 Criminalrechts und dessen
(1855), S. 105-113, ZitateS. 107.
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gesetzgebung geübt hat; in der Förderung der letzteren sah sie ihre Hauptaufgabe, und diese wieder folgte getreulich ihren Anregungen".7 Bevor im Folgenden das Verhältnis von Strafrechtswissenschaft und Gesetzgebung am Beispiel der Ehrenstrafen dargestellt wird, sollen zunächst allgemeine Entwicklungslinien vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Gründung des Deutschen Reiches 1871 geschildert werden. Den Ausgangspunkt bildete der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa einsetzender breiter Diskurs über Verbrechen und Strafen.8 Er stellte die bestehende, als gemeines Strafrecht bezeichnete Strafrechtsordnung grundsätzlich in Frage. Sie beruhte im Wesentlichen auf der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532, ergänzt durch das römische Recht und modifiziert durch partikularrechtliche Vorschriften und den Gerichtsgebrauch.9 Der Legitimationsverlust des geltenden Rechts war so groß, dass
für nicht mehr reformierbar hielt und deshalb nach neuen strafrechtlichen Ordnungsvorstellungen suchte. Man fand sie in der Rechtsphilosophie, die sich zunächst vornehmlich, aber nicht nur mit den allgemeinen Grundlagen und Grundsätzen staatlichen Strafens, insbesondere mit den Strafzwecken, beschäftigte. Sie übernahm im Strafrecht für einige Jahrzehnte die Funktion einer Leitwissenschaft.10 Auf die von ihr entwickelten Ideen griffen die deutschen Staaten bei ihren Bemühungen um die Reform des Strafrechts im 19. Jahrhundert zurück. Man wollte mit dem Mittel der Kodifikation, also der „zusammenfassende^] Regelung eines ganzen Rechtsgebiets in einem systematisch geordneten Gesetzeswerk",11 eine grundlegende Reform des materiellen Strafrechts erreichen, das zeitgemäß sein und dem aktuellen Diskussionsstand der Wissenschaft entsprechen sollte. Bestehende Missstände in der Strafrechtspflege sollten beseitigt, und das Vertrauen der Bevölkerung in die staatliche Strafrechtspflege wiedergewonnen werden. Darüber hinaus beabsichtigten die Regierungen, angesichts der von ihnen beobachteten Kriminalität die Verbrechensbekämpfung zu effektivieren, die staatliche man es
7
Loening, Richard: Über geschichtliche und ungeschichtliche Behandlung des deutschen Strafrechts. Antrittsrede gehalten zu Jena am 29. April 1882, in: ZStW 3 (1883), S. 219ff., hier S. 246. 8 Vgl. Ludi, Regula: Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik 1750-1850, Tübingen 1999, S. 31-230; Fischl, Otto: Der Einfluss der Aufklärungsphilosophie auf die Entwicklung des Strafrechts in Doktrin, Politik und Gesetzgebung und
Vergleichung der damaligen Bewegung mit den heutigen Reformversuchen,
Breslau
1913, Ndr. Aalen 1973.
9
Dazu im 19. Jahrhundert von Wächter, Carl Georg: Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht. Eine Abhandlung, Leipzig 1844. Zur Carolina Schroeder, Friedrich-Christian (Hrsg.): Die Carolina. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, Darmstadt 1986. 10 Vgl. Loening, S. 247ff., bes. Anm. 2, S. 273ff. 11 So für das Strafrecht Jescheck, Hans-Heinrich: Einleitung, in: Jahne, Burkhard/ Laufhütte, Heinrich Wi\he\mlOdersky, Walter (Hrsg.): Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, 11., neu bearb. Aufl., Bd. 1 : Einleitung; §§ 1 bis 31, Berlin 2003, Rdn. 13.
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Integration nach der territorialen Neuordnung zu Beginn des zu
19. Jahrhunderts fördern und die Souveränität des Staates auf dem Gebiet der Strafrechts-
pflege vollständig durchzusetzen.12 Um diese Ziele zu erreichen, beauftragten die deutschen Staaten zu Beginn
des Jahrhunderts zumeist namhafte einheimische Strafrechtswissenschaftler damit, ihre Vorstellungen von Verbrechen und Strafen in Gesetzentwürfe zu kleiden. Derartige Arbeiten erlangten jedoch mit Ausnahme Bayerns 1813 zunächst in keinem deutschen Staat Gesetzeskraft.13 Das hing zum einen mit den allgemeinen Umständen der napoleonischen Kriege und der darauf folgenden politischen Neuordnung Deutschlands zusammen. Zum anderen befand sich der Diskurs in einer Phase der Orientierung, in der die neuen Ordnungsvorstellungen erst noch entwickelt werden mussten. Die vielen unterschiedlichen, oft gegensätzlichen und sich häufig ändernden Ansichten erschwerten die Abfassung von Kodifikationen. Die in fast allen deutschen Staaten erstellten Entwürfe veralteten deshalb schnell und wurden vielfach vollständig zu den Akten gelegt.14 Eine grundlegende Änderung dieser Situation trat in den 1830er Jahre ein. Zu vielen Grundsatzfragen hatte sich inzwischen ein Konsens im Diskurs herausgebildet, man thematisierte sie nicht weiter und wandte sich nun Detailproblemen der Strafgesetzgebung zu. In den Mittelpunkt rückte die praktische Gesetzgebungstätigkeit der deutschen Staaten, insbesondere der Vergleich der vielen parallel und im gegenseitigen Austausch entstehenden Kodifikationsentwürfe, welche die Regierungen jetzt regelmäßig veröffentlichten. Die Strafrechtswissenschaft übernahm nun vornehmlich die Aufgabe, diese Entwürfe durch Gutachten, öffentliche Kritiken und durch die Mitarbeit in den Kommissionen zu gestalten und zu verbessern. Mit dieser Schwerpunktverlagerung verlor die Rechtsphilosophie an Bedeutung, und an ihre Stelle trat eine empirische Sichtweise. Diese betonte die Kategorie der Erfahrung", die sich zunächst auf die Gesetzentwürfe, nach der Verabschiedung der ersten Kodifikationen insbesondere auf deren Anwendung in der Ge-
12
Allgemein zum Zusammenhang von Staats- und Justizreformen im frühen 19. Jahrhunam Beispiel Bayerns Demel, Walter: Die Entwicklung der Gesetzgebung in Bayern unter Max I. Joseph, in: Glaser, Hubert (Hrsg.): Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1799-1825, dert
München 1980, S. 72-82. 13 Zum bayerischen Strafgesetzbuch von 1813: Brandt, Christian: Die Entstehung des Code pénal von 1810 und sein Einfluss auf die Strafgesetzgebung der deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts am Beispiel Bayerns und Preußens, Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 258ff. 14 Vgl. allgemein Wächter: Straffechtswissenschaft, S. 107; zu Württemberg Hepp, Ferdinand Care Theodor: Commentar über das neue württembergische Strafgesetzbuch, nach seinen authentischen Quellen, den Vorlagen der Staats-Regierung, und den ständischen Verhandlungen des Jahres 1838, mit Erläuterungen und Registern versehen, Bd. 1, Tübingen 1839, Ndr. Frankfurt/M. 1989, S. 5.
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grossen Lehrerin für jede Theorie",15 stützte. Nach Ansicht der Strafrechtswissenschaft sollten die deutschen Staaten nicht mehr wie zu Beginn des Jahrhunderts den Weg der Neuschaffung von Recht auf der Basis rechtsphilosophischer Überlegungen gehen, sondern auf den bereits vorhandenen Entwürfen und Strafgesetzbüchern aufbauen. Die legislativen Bemühungen der Regierungen waren jetzt erfolgreich und mündeten seit dem Ende der 1830er Jahre in die Verabschiedung von Kodifikationen. Den Anfang machte das Königreich Sachsen 1838, gefolgt von Württemberg 1839, Braunschweig und Hannover 1840, dem Großherzogtum Hessen 1841 und Baden 1845. Die thüringischen Staaten verabschiedeten 1850 eine gemeinsame Kodifikation, Preußen folgte 1851. Während die genannten größeren Staaten eigene Gesetzgebungswerke schufen, übernahmen die meisten der hier nicht einzeln aufgezählten Kleinstaaten in der Regel das Strafgesetzbuch eines größeren Territoriums und modifizierten es gegebenenfalls für ihre Bedürfnisse, so dass am Vorabend der Gründung des Deutschen Reiches fast überall in Deutschland moderne Strafgesetze in Kraft waren.16 Das Augenmerk von Regierungen und Strafrechtswissenschaft richtete sich demgemäß in der zweiten Jahrhunderthälfte vor allem darauf, die bestehenden Gesetzbücher anhand der bei ihrer Anwendung gemachten Erfahrungen zu revidieren und sie an das nach 1848 in vielen Staaten eingeführte reformierte Strafverfahren, ferner an die Einführung von Geschworenengerichten anzupassen.17 Daneben wandte sich die Strafrechtswissenschaft verstärkt einem freilich nicht neuen anderen Arbeitsgebiet zu, da die geschilderte Entwicklung Konsequenzen für ihr Selbstverständnis und ihre Aufgaben hatte: der Frage eines einheitlichen deutschen Strafrechts und eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches. Mit der auch von ihr herbeigeführten Kodifikationswelle seit dem Ende der 1830er Jahre sah sich die Strafrechtswissenschaft nämlich vor das Problem gestellt, dass das gemeine Strafrecht in Deutschland als gemeinsamer, staatenübergreifender Gegenstand von universitärer Lehre und Forschung rapide an Bedeutung verlor. Durch die Verabschiedung der neuen Strafgesetzbücher verkleinerte sich stetig das Gebiet, in dem das gemeine Strafrecht noch galt. Konzentrierte man sich jetzt auf die isolierte Bearbeitung der einzelstaatlichen Kodifikationen, war die Zersplitterung und Provinzialisierung der Wissenschaft in Deutschland zu befürchten. In der dadurch ausgelösten Diskussion über den Tätigkeitsbereich
richtspraxis, „dieser
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Wächter. Strafrechtswissenschaft, S. 113. Überblick über die Kodifikationen bei Berner, Albert Friedrich: Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart, Leipzig 1867, Ndr. Aalen 1978; Schmidt, Eberhard: Eiriführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Ndr. d. Aufl., Göttingen 1983, S. 313ff. 3. 17 Vgl. dazu Schmidt: Einführung, S. 327ff.; Landau, Peter: Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland im 19. Jahrhundert bis 1870, in: Padoa Schioppa, Antonio (Hrsg.): The Trial Jury in England, France and Germany 1700-1900, Berlin 1987, S. 241-304. 16
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der Strafrechtswissenschaft gewann die Idee einer gemeinsamen deutschen Strafrechtskodifikation erneut an So bezeichnete der erste deutsche Juristentag im Jahr 1860 ein einheitliches Strafrecht für Deutschland als „dringendes Bedürfniß", und viele seiner Mitglieder sahen es als ihre Aufgabe an, eine gesamtdeutsche Kodifikation auf der Basis der einzelstaatlichen Strafgesetzbücher vorzubereiten. Der Naumburger Appellationsgerichtsrat Rudolf von Kräwel etwa sah 1862 „die deutsche Rechtswissenschaft" dazu aufgefordert, „den Beweis dafür zu liefern, daß die Herbeiführung eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuchs nicht so schwierig ist"19 und publizierte einen entsprechenden Entwurf. Angesichts der politischen Situation wie der meist Jahre oder Jahrzehnte dauernden Vorarbeiten zu den einzelstaatlichen Kodifikationen rechnete Kräwel allerdings wie seine juristischen Kollegen nicht damit, dass sich diese Forderung innerhalb kurzer Zeit erfüllen sollte. Schon 1870 verabschiedete der Norddeutsche Bund jedoch ein einheitliches, auf der preußischen Kodifikation von 1851 basierendes Strafgesetzbuch, das vom Deutschen Reich im folgenden Jahr übernommen wurde.20 Die Entstehung des Reichsstrafgesetzbuches wurde von einer lebhaften strafrechtswissenschaftlichen Debatte begleitet, deren Kritik und Anregungen in einer Reihe von Materien Eingang in das Gesetzeswerk fanden. Das vergleichsweise hohe Entstehungstempo lag vornehmlich darin begründet, dass die Regierungen, insbesondere Preußen, ebenso wie der Reichstag dem Strafgesetzbuch große Bedeutung als einheitsstiftendem Symbol wie auch als Bewährungsprobe für das neue Staatswesen
Bedeutung.18
zumaßen.21 Die Wechselwirkungen zwischen Ideen und Gesetzgebung zeigen sich besonders deutlich bei der Betrachtung einzelner inhaltlicher Fragen der strafrechtlichen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts. Das soll im Folgenden am
18 Zu entsprechenden Bestrebungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Schöler, Claudia: Deutsche Rechtseinheit. Partikulare und nationale Gesetzgebung (1780-1866), Köln/Weimar/Wien 2004. 19 Kräwel, Rudolf von: Entwurf nebst Gründen zu dem allgemeinen Theile eines für ganz Deutschland geltenden Strafgesetzbuchs unter besonderer Berücksichtigung der geltenden deutschen Straf-Gesetzbücher, sowie des Baierischen und Lübeck'schen Entwurfs, Halle 1862, S. V. Vgl. auch Krug, August Otto: Ideen zu einer gemeinsamen Strafgesetzgebung für Deutschland, Erlangen 1857. Zum Juristentag: Olshausen, Theodor: Der deutsche Juristentag. Sein Werden und Wirken. Eine FS zum fünfzigjährigen Jubiläum. Im Auftrage der ständigen Deputation verfasst, Berlin 1910, S. 360. 20 Zur Entstehungsgeschichte Geus, Elmar: Mörder, Diebe, Räuber. Historische Betrachtungen des deutschen Strafrechts von der Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch, Berlin 2002, S. 210ff.; Schubert, Werner: Der Ausbau der Rechtseinheit unter dem Norddeutschen Bund. Zur Entstehung des Strafgesetzbuchs von 1870 unter besonderer Berücksichtigung des Strafensystems, in: Buschmann, Arno u.a. (Hrsg.): FS für Rudolf Gmür am 70. GeBielefeld 1983, S. 149-189. burtstag, 21 Vgl. dazu die Schilderung der Debatten im Norddeutschen Reichstag bei Pollmann, Klaus Erich: Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867-1870, Düsseldorf 1985, S. 489-497.
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Beispiel der so genannten Ehrenstrafen, neben der Todesstrafe eines der am meisten diskutierten Themen, gezeigt werden. Die Strafrechtsordnung der Frühen Neuzeit kannte ein komplexes System von Ehren- und Schandstrafen, deren bekanntesten Ausprägungen der Pranger und das Steinetragen, aber auch Körperstrafen, die Brandmarkung oder die öffentliche körperliche Züchtigung (Staupenschlag) gehörten. Die schweren Ehrenstrafen zogen als Konsequenz den rechtlichen und sozialen Ausschluss aus der Gemeinde nach sich; sie entehrten oder „infamierten" den Verurteilten.22 Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen zunächst die verstümmelnden Körperstrafen, dann aber auch die anderen entehrenden Strafen ins Visier der aufgeklärten Kritiker am geltenden Strafrecht. Sie galten nun als grausam und unzweckmäßig, vor allem weil die solcherart Bestraften keine nützlichen Arbeiten mehr verrichten konnten und somit letztlich dem Staat zur Last fielen.23 Nach ersten Ansätzen vor 1800 fanden diese Positionen nach der Jahrhundertwende zunehmend Eingang in die Kriminalpolitik der deutschen Staaten. Das zeigte sich unter anderem an den neugeschaffenen Strafrechtskodifikationen der ersten Jahrhunderthälfte: Sie nahmen die entehrenden Leibesstrafen und mit Ausnahme des bayerischen Strafgesetzbuches von 1813 sowie des hannoverschen von 1840 den Pranger nicht mehr in ihr Strafensystem auf.24 In Sachsen setzte der Landtag durch, dass diese Strafart aus dem Entwurf des Strafgesetzbuchs gestrichen wurde. Die Deputation der Zweiten Kammer stellte fest, sie diene weder der Abschreckung noch könne sie beim Straftäter selbst Positives bewirken. ,Die Prangerausstellung ist nur ein Schauspiel für die rohe Menge, welche sich daran ergötzt, wenn der ruchlose Verbrecher mit Hohn frech umherblickt, oder der Verbrecher, in dem noch nicht der letzte Funken des Ehrgefühls erstorben ist, beschämt das Auge zu
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Vgl. allgemein van Dülmen, Richard: Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 67-82; Schwerhoff, Gerd: Verordnete Schande? Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Ehrenstrafen zwischen Rechtsakt und sozialer Sanktion, in: Blauen, Andreas/ders. (Hrsg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Frank-
furt/M. 1993, S. 158-188; insbesondere zur Infamie: Nowosadtko, Jutta: Die Ehre, die Unehre und das Staatsinteresse. Konzepte und Funktionen von „Unehrlichkeit" im historischen Wandel am Beispiel des Kurfürstentums Bayern, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 44 (1993), S. 362-381, bes. S. 362ff.; Fuchs, Irene: Die Ehrenstrafen der Vergangenheit und Gegenwart, Diss. jur. Köln 1928, S. 45-49; zeitgenössisch Marezoll, Theodor: Ueber die bürgerliche Ehre, ihre gänzliche Entziehung und theilweise Eine historisch-dogmatische Abhandlung, Gießen 1824. Schmälerung. 23 Vgl. mit zahlreichen Nachweisen Günther, Louis: Die Strafrechtsreform im Aufklärungszeitalter nebst Vergleichen mit unserer modernen kriminalpolitischen Reformbewegung, in: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 28 (1907), S. 178ff. Einzelheiten bei dems.: Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts. Ein Beitrag zur universalhistorischen Entwicklung desselben, Bd. 3, Erlangen 1895, Ndr. Aalen 1970, S. 512-515, bes. S. 513 Anm. 837.
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senkt". Die Reichsverfassung von 1849 schließlich hob die Strafen des Prangers und der Brandmarkung ausdrücklich auf. Anders als die im selben Paragraphen ausgesprochene Abschaffung der Todesstrafe überdauerte dies fast überall die Reaktionszeit und wurde nicht rückgängig gemacht.26 Den Hintergrund für diese Entwicklung bildeten veränderte Vorstellungen von Ehre und Ehrverlust. Unter Rückgriff auf das Naturrecht entwickelte die Aufklärung die Idee einer unveräußerlichen, individuellen und allgemeinen Ehre für jeden Menschen, die an die Stelle der frühneuzeitlichen, namentlich von der Zugehörigkeit zu einem Stand bestimmten Ehre trat.27 ,JDenn die absolute Ehre, welche dem Bürger, als Menschen zukommt, kann nie von Menschen aufgehoben werden",28 argumentierte beispielsweise der Professor und spätere hessen-darmstädtische Staatsminister Karl Ludwig Wilhelm Grolman in seinen Grundsätzen der Kriminalrechtswissenschaft. Sie war dementsprechend wie die anderen Menschenrechte der Verfügungsgewalt des Staates entzogen und konnte von ihm weder durch Ehrenstrafen verletzt noch durch Infamie vollständig aberkannt werden. ,J3er Staat darf eben nicht an der moralischen Ehre strafen, welche nicht unter der Herrschaft des Gesetzes steht",29 stellte der Wiener Strafrechtsprofessor Wilhelm Emil Wahlberg 1864 fest. Ein Urteil über die moralische Ehrenhaftigkeit einer Person kam nach seiner wie der Ansicht der Mehrheit der Strafrechtswissenschaft allein dem sozialen Umfeld des Betroffenen bzw. der öffentlichen Meinung zu. Auch überführte Straftäter „dürfen also keinen rechtlichen Nachtheil an der allgemeinen Ehre leiden", formulierten etwa die Anmerkungen zum bayerischen Strafgesetzbuch von 1813, „aber der öffentlichen Meinung legt das 25
Bericht der Deputation der Zweiten Kammer des sächsischen Landtags über den Strafgesetzbuchentwurf vom 6.4.1837, in: Landtags-Acten vom Jahre 1836/37, Beilagen zu den Protokollen der 2. Kammer, Bd. 1, S. 41f. 26 Vgl. zu § 139 der Reichsverfassung und seinem Fortwirken Kühne, Jörg-Detlef: Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, Frankfurt/M. 1985, S. 347f. Aus der umfangreichen Literatur zur Ehre in der Frühen Neuzeit seien nur genannt Backmann, Sibylle u.a. (Hrsg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998; Dinges, Martin: Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung (ZHF) 16 (1989), S. 409^40; Fuchs, Ralf-Peter: Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht 1525-1805, Paderborn 1999. Grolman, Karl: Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft nebst einer systematischen Darstellung des Geistes der deutschen Criminalgesetze, 3. Aufl., Gießen 1818, Ndr. Glashütten i. Taunus 1970, S. 56. Vgl. auch Kalbfleisch, Willi: Die Ehrenstrafen des gemeinen peinlichen Rechts und ihre Entwicklung in Deutschland bis zum Reichsstrafgesetzbuch, Diss. jur. Gießen 1920, S. 4; zum allgemeinen Zusammenhang Zunkel, Friedrich: Ehre, Reputation, in: Brunner, Otto/Conze, Wemer/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, 1975, S. 1-63. Stuttgart 29 Wahlberg, Wilhelm Emil: Die Ehrenfolgen der strafgerichtlichen Verurteilung. Ein Beitrag zur Reform des Strafensystems, Wien 1864, S. 51 (Hervorhebungen im Original).
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Gesetz keinen Zwang an".30 Vielmehr sah man in der .Abhängigkeit der Ehre oder Unbescholtenheit von der Meinung Anderer"31 eine wichtige und wirksame Ergänzung zum staatlichen Strafrecht, da sie die Bürger dazu anhielt, sich in rechtlicher wie in moralischer Hinsicht einwandfrei zu verhalten, um das Ansehen der Mitmenschen nicht zu verlieren. Die Überzeugung von der Unverletzlichkeit der allgemeinen Menschenehre bedeutete jedoch nicht, dass die Strafrechtswissenschaft Ehrenstrafen generell ablehnte. Zum einen befürworteten viele ihrer Vertreter zumindest zu Beginn des 19. Jahrhunderts die in einige Strafgesetzbücher aufgenommenen so genannten demütigenden Strafen des gerichtlichen Verweises sowie von Abbitte und Widerruf. Letztere dienten vor allem dazu, als Sanktion für Beleidigungen die Ehre des Betroffenen öffentlich wiederherzustellen. Sie gerieten jedoch als unzweckmäßig, absurd und lächerlich zunehmend in die Kritik und wurden nicht in das Reichsstrafgesetzbuch aufgenommen.32 Demgegenüber stellte die Strafrechtswissenschaft während des gesamten 19. Jahrhunderts eine andere Form des staatlich verordneten Ehrverlustes nicht in Frage. Diese betraf, basierend auf der von der Aufklärung vorgenommenen Trennung von Moral und Recht, die von der allgemeinen, moralischen unterschiedene so genannte bürgerliche oder politische Ehre und die mit ihr verbundenen Rechte. Die bürgerliche Ehre bezog sich auf die Stellung des einzelnen im öffentlichen Leben, also sein Verhältnis zu Staat und „Gemeinleben", und zeichnete sich in erster Linie durch (rechtliche) Unbescholtenheit aus. So war der Tübinger Professor Karl Ferdinand Theodor Hepp 1850 überzeugt, „daß der Vollgenuß der bürgerlichen Ehre durch den guten Ruf des Bürgers, und dieser durch ein legales Benehmen desselben bedingt ist, der gute Ruf eines Bürgers aber schon unter der Verübung eines schweren [...] Verbrechens leidet, mithin die Schmälerung der bürgerlichen Ehre die rechtlich gebotene Folge solcher Verletzungen ist".33 Nach Auffassung der Strafrechtswissenschaft hatte der Staat nicht nur das Recht, die bürgerlichen Ehrenrechte zu entziehen, weil er sie selbst verliehen hatte, sondern er war gewissermaßen in seinem eigenen wie im Interesse der ehrenhaften Bürger dazu verpflichtet, wie es die Motive zum Entwurf eines Strafgesetzbuches für die Herzogtümer Schleswig und Holstein formulierten: .Ausgezeichnete Ehre 30
Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Baiern. Nach den Protokollen königlichen geheimen Raths, Bd. 1, München 1813, S. 41 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Rannacher, Helmut: Der Ehrenschutz in der Geschichte des deutschen Strafrechts von der Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 (mit Berücksichtigung der Ehrenstrafen und des Zweikampfes), Breslau 1938, Ndr. Frankfurt/M/Tokio 1977, S. 93. 31 Zu diesem Aspekt Wahlberg: Ehrenfolgen, S. 39-43 (Zitat S. 39). 32 Zu den „demütigenden" Strafen des bayerischen Strafgesetzbuches von 1813 Brandt: Entstehung, S. 296f.; zur Kritik Paraquin: Von dem bürgerlichen Tode, in: Gerichtssaal 3 des
(1851), Bd. 2, S. 470-478, S. 470.
Hepp: Die Reform des Infamiesystems, in: Gerichtssaal 2 (1850), Bd. 1, S. 416-438, hier
S. 429f.
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und öffentliches Vertrauen kann im Allgemeinen derjenige nicht genießen, der durch seine Handlung an den Tag gelegt hat, daß er selbst die Rechtsordnung und die Rechte seiner Mitbürger nicht achtet, und es ergiebt sich daraus, daß er [...] von den Rechten und Vorzügen ausgeschlossen bleiben muß, welche eine ehrenwerthe Gesinnung und öffentliches Vertrauen zu derselben
voraussetzen".34
In der Form des Verlustes bzw. der Aberkennung einzelner Rechte als einer strafgerichtlichen Verurteilung fanden Ehrenstrafen überall in Deutschland Eingang in die Kodifikationen des 19. Jahrhunderts. Das Kriminalgesetzbuch für das Herzogtum Braunschweig von 1840 beispielsweise teilte die rechtlichen Konsequenzen für verurteilte Straftäter in vier Gruppen ein (§§ 17, 74—76): erstens der Verlust der Ehrenrechte, das heißt des Adels, der Würden, Titel, Orden und Ehrenzeichen; zweitens der Verlust der politischen Rechte, also des aktiven und passiven Wahlrechts bei Gemeinde- und Landtagswahlen; drittens bei Beamten der Verlust der Ämter, Dienstrechte und Pensionen sowie allgemein der Verlust aller Rechte aus öffentlichen Funktionen, etwa bei Notaren, Ärzten oder Apothekern; schließlich viertens der Verlust der Innungsrechte, Gewerbekonzessionen und der Fähigkeit, die Vormundschaft über andere als die eigenen Kinder auszuüben. Andere Kodifikationen kannten darüber hinaus die Unfähigkeit zum Militärdienst, zur Eidesleistung sowie als Geschworener, Schöffe, Zeuge oder Sachverständiger bei Gericht aufzutreten und schließlich den Verlust von Gilden- und Zunftrechten.35 Trotz der Unterschiede in einzelnen Punkten stimmten die Bestimmungen der deutschen Staaten darüber, was im Einzelnen unter den bürgerlichen Ehrenrechten zu verstehen sei, im Großen und Ganzen überein. Eine Ursache dafür war, dass sie sich durchweg nach dem Vorbild des bayerischen Strafgesetzbuches von 1813 am französischen Code pénal von 1810 orientierten.36 Das galt jedoch nicht für radikalste Form der in der Gesetzgebung Frankreichs angedrohten Straffolgen, den so genannten bürgerlichen Tod, der den Verlust sämtlicher, auch ziviler Rechte für den Verurteilten bedeutete. Dieses nur von der Kodifikation Bayerns übernommene Institut wurde schon sehr bald allgemein als „Gesetz des Hasses, der Rache und des politischen Fanatismus"37 abgelehnt und im Zuge der Revolution von 1848/ 1849
Folge
abgeschafft.38
34
Zit. n. von Wiek: Zur Gesetzgebung über die Ehrenfolgen der Verbrechen, in: Archiv des Criminalrechts, N.F. 32 (1851), S. 1-39, hier S. 4. 5 Einen Überblick gibt Fuchs, S. 54ff.; vgl. auch die Zusammenstellung bei Wahlberg:
Ehrenfolgen, S. 64ff. So schon Wahlberg: Ehrenfolgen, S. 75; mit einzelnen Nachweisen zum bayr. Strafgevon 1813 und dem preuß. von 1851, Brandt: Entstehung, S. 287ff., 421ff. setzbuch 37 Paraquin: Von dem bürgerlichen Tode, S. 474f. 8 Vgl. Weithase, Franz: Über den bürgerlichen Tod als Straffolge, Diss. jur. Berlin 1966, S. 59ff.; ebd., S. 104-106, zur Aufhebung.
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Die konkrete ten
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Ausgestaltung der Ehrenstrafen
in den Kodifikationen erörter-
Strafrechtswissenschaft, Regierungen und Verwaltungsbehörden sowie
die Parlamente der deutschen Staaten ausführlich und kontrovers vor allem im Zusammenhang mit den gesetzgeberischen Arbeiten. Seit der Jahrhundertmitte wurden zunehmend die Erfahrungen, die man in den einzelnen Staaten mit den jeweiligen Regelungen gesammelt hatte, als Argument herangezogen, und die Strafrechtswissenschaft forderte verstärkt eine Änderung der Bestimmungen in den Strafgesetzbüchern. Daneben spielte auch ein sich allmählich während des 19. Jahrhunderts vollziehender Wandel grundlegender strafrechtlicher Ordnungsvorstellungen eine Rolle. Er betraf zum einen den Strafzweck. Hier machte sich die Tendenz zu einer stärkeren Berücksichtigung des Besserungsgedankens bemerkbar, der auch bei der Diskussion um den Strafvollzug von zentraler Bedeutung war.39 Zum anderen vertraten Teile der Strafrechtswissenschaft zunehmend die Forderung nach einer „Individualisierung" des Strafrechts.40 Das bedeutete, dass für die Zumessung der Strafe nicht nur die Tat maßgeblich sein sollte, sondern auch die jeweiligen Umstände und die Persönlichkeit des Täters berücksichtigt werden sollten. Drei Schwerpunkte der Diskussion über die Ehrenstrafen lassen sich erkennen. Umstritten war erstens, was im Einzelnen unter dem Begriff .Ehrenrechte" zu verstehen sei. Dazu gehörte insbesondere die Frage, ob auch Adelsbezeichnungen darunter fielen.41 Die Befürworter verglichen die Adelsbezeichnungen mit einem Titel, da sie vom Staatsoberhaupt verliehen und damit auch wieder aberkannt werden könne. Die Gegner der Möglichkeit des Adelsverlustes wiesen darauf hin, dass seine Entziehung nicht nur die Ehre des Verurteilten treffe, sondern in vielen Fällen auch einer Vermögensstrafe gleichkomme, namentlich bei adeligen Familienstiftungen und Fideikommissen, was darüber hinaus auch die unschuldigen Nachkommen treffe. Zweitens kritisierte eine Reihe von Strafrechtswissenschaftlern und Landtagsabgeordneten die Verknüpfung des Ehrverlustes mit bestimmten Strafarten. In der Regel war der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nämlich keine selbständige Strafe, sondern er folgte automatisch (ipso jure) auf die Verurteilung zur Todes- oder einer schweren („entehrenden") Freiheitsstrafe. Im Gegensatz dazu vertrat die Mehrheit der Strafrechtswissenschaft die Auffas39
Vgl. etwa Hälschner, Hugo: Beiträge zur Beurtheilung des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für den norddeutschen Bund, Bonn 1870, S. 11; Wahlberg: Ehrenfolgen, S. 49-53. Zum Besserungsgedanken in Bezug auf den Strafvollzug Henze, Martina: Strafvollzugsreformen im 19. Jahrhundert. Gefängniskundlicher Diskurs und staatliche Praxis in Bayern und Hessen-Darmstadt, Darmstadt/Marburg 2003, S. 37-44. 40 In Bezug auf die Ehrenstrafen Häberlin, Carl Franz W. J.: Kritische Bemerkungen zu dem Entwurf eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund, Erlangen 1869, S. 19; vgl. auch Hälschner: Beiträge, S. 16. 4 Eine Übersicht über die Debatte mit Verweis auf die entsprechende Literatur in: Schubert, Werner (Hrsg.): Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund vom Juli 1869 und Motive zu diesem Entwurf, Frankfurt/M. 1992, S. 173-176.
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sung, dass nicht die Strafe entehre, sondern das Verbrechen, sofern der Täter dabei eine „ehrlose" Gesinnung zutage gelegt hatte. Viele Autoren forderten deshalb vor allem seit der Jahrhundertmitte eine Reform der gesetzlichen Bestimmungen, die diesem Prinzip Rechnung tragen sollte. Vorgeschlagen
wurde, den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte
nur
Folge beman allerdings
noch als
stimmter Straftatbestände eintreten zu lassen. Dazu musste vorab definieren, was unter den Begriff eines „entehrenden Verbrechens" zu verstehen sei. Der Wiener Professor Wahlberg fasste 1864 darunter solche Handlungen, „welche ihrem Begriffe und ihrer concreten Beschaffenheit nach auf Gewinnsucht beruhen, wie Diebstahl, Betrug, Münzverfälschung, Erpressung [...], ferner die Verbrechen, welche die Befriedigung der Bosheit, der Gehässigkeit, des entarteten Geschlechtstriebes zum Zwecke haben, wie Brandstiftung, Meuchelmord, Raubmord, boshafte Beschädigung fremden Eigenthums, Nothzucht [...], oder welche aus Gewohnheitsmässigkeit oder Gewerbsmäßigkeit hervorgehen".42 Er wies aber sofort selbst darauf hin, dass jedem dieser Delikte unterschiedliche, sogar entgegengesetzte Motive zugrunde liegen konnten. Deshalb befürwortete er wie die meisten anderen Kritiker des geltenden Rechts den Vorschlag, die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte nicht mehr automatisch mit bestimmten Strafarten zu verknüpfen, sondern sie in das Ermessen des Richters zu stellen. Dieser konnte dann bei jedem einzelnen Fall die Gesinnung des Täters prüfen und dementsprechend entscheiden. Drittens beanstandeten einige Teilnehmer des Diskurses, dass die Nebenstrafe an der Ehre meist lebenslänglich galt und damit länger andauern konnte als die oftmals für einen begrenzten Zeitraum verhängte Freiheits- oder Hauptstrafe.43 Die Möglichkeit der Rehabilitation und damit der Wiedereinsetzung in die entzogenen Rechte war in den vormärzlichen Kodifikationen prinzipiell nicht vorgesehen.44 Dem stand nach Ansicht des sächsischen Landtagsabgeordneten Todt der Grundsatz entgegen, „daß der Staat wenigstens einmal versöhnt werden müsse", also die Strafe irgendwann verbüßt sein müsse. Eng damit verknüpft war der Hinweis auf die praktischen Folgen des lebenslänglichen Ehrverlustes: Er entfremde nicht nur den Verbrecher vom Staat, „stösst ihn in den Haufen der moralischen Proletarier, die sich der Staat zu Feinden auf Leben und Tod machen kann",45 sondern vereitele auch die Besserungsbemühungen in den Strafanstalten. Darüber hinaus versperre der 42 43
Vgl. Wahlberg: Ehrenfolgen, S. 47f. Vgl. auch zum Folgenden die „Gründe gegen
S. 53-59. ebd., 44
die
Lebenslänglichkeit der Ehrenfolgen"
Sie war allerdings durch Begnadigung erreichbar; seit der Jahrhundertmitte führten darüber hinaus einige Staaten gesetzliche Regelungen zur Rehabilitation ein. Vgl. von Wiek: Gesetzgebung, S. 14f., S. 27-35; Die Rehabilitation in Bayern, in: Allgemeine Deutsche Strafrechtszeitung 1861, Sp. 753-756. 45 Wahlberg: Ehrenfolgen, S. 55.
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Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte dem entlassenen Sträfling viele Möglichkeiten des ehrlichen Erwerbs und mache dadurch „die Rückkehr des Sünwie es ein ders zur Tugend und guten Gesellschaft geradezu Praktiker formulierte. treibe ihn 1851 Das Straftaten. zu neuen juristischer Der Strafrechtler Karl Joseph Anton Mittermaier etwa sah im Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte einen maßgeblichen Grund für viele Rückfalle: „Je größer die Zahl derjenigen ist, welche von dem Brandmal des Ehrenverlusts niedergedrückt, als von der Gesellschaft ausgestoßene überall in ihrem Fortkommen gehinderte Feinde ihr gegenüber stehen, desto größer ist die Gefahr
unmöglich",46
von neuen
Verbrechen".47
Diese Diskussion spielte bei der (Neu-)Regelung der Ehrenstrafen im Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund eine zentrale Rolle. Nach den Motiven zum Entwurf vom Juli 1869 gehörten die Bestimmungen in den einzelstaatlichen Kodifikationen zu denjenigen, „welche nicht bloß in der Wissenschaft lebhaft angefochten, sondern auch von den Praktikern als solche bezeichnet werden, die sich in der Rechtsübung nicht als nützlich, vielmehr als schädlich erwiesen haben".48 Unter Anführung der wichtigsten Argumente und mit Verweis auf die zugrunde liegende juristische Literatur begründeten sie „eine der tiefgreifendsten und folgewichtigsten Aenderungen des Norddeutschen Strafgesetz-Entwurfes, dem Preußischen wie anderen Deutschen Strafgesetzbüchern gegenüber".49 So verband die 1870 verabschiedete Kodifikation für den Norddeutschen Bund den Ehrverlust nicht mehr automatisch mit der Todes- oder Zuchthausstrafe, sondern stellte ihn in das Ermessen des Richters. Das bedeutete einerseits eine Einschränkung der Ehrenstrafen; andererseits erfuhren sie jedoch eine Ausdehnung, da sie von nun auch bei einer Reihe von geringeren, nur mit einer leichten, („nicht entehrenden") Form der Freiheitsstrafe bedrohten Straftaten verhängt werden konnten. Von dem allgemeinen Grundsatz machte der Gesetzentwurf zwei Ausnahmen: Zum einen blieb für zwei als grundsätzlich „ehrlos" verstandene Tatbestände, nämlich Meineid (§ 161) sowie schwere Kuppelei (§ 181), die automatische Aberkennung der Ehrenrechte bestehen. Zum anderen hatte die Verurteilung zur Zuchthausstrafe „die dauernde Unfähigkeit zum Dienste in dem Bundesheere und der Bundesmarine, sowie die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter von Rechtswegen" zur Folge (§31). Neben diesen dauerhaften Folgen der Zuchthausstrafe führte auch die Ab46
Von dem bürgerlichen Tode, S. 471. Mittermaier, Karl Joseph Anton: Ueber die Drohung entehrender Strafen, in: ders.: Die Strafgesetzgebung in ihrer Fortbildung, Heidelberg 1841, Ndr. Goldbach 1997, S. 273299, hier S. 299. 48
47
Paraquin:
Motive zum Entwurf vom Juli 1869, S. 168. Ebd. Vgl. zum Folgenden die §§ 31-37 des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, abgedruckt in: Schubert, Werner (Hrsg.): Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund. Entwurf vom 14.2.1870 (Reichstagsvorlage), Frankfurt/M. 1992, S. 462f.
49
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erkennung der bürgerlichen Ehrenrechte
zu lebenslangen Konsequenzen für den Verurteilten, nämlich zum Verlust der schon erworbenen, aus öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte, zum Verlust der öffentlichen Ämter, Würden, Titel, Orden und Ehrenzeichen. Bei allen anderen Ehrenrechten sah die Kodifikation nur noch einen zeitlich begrenzten Entzug zwischen einem und zehn Jahren nach Verbüßung der Freiheitsstrafe vor. Der in § 34 aufgestellte Katalog umfasste den Eintritt in Bundesheer oder -marine, die Fähigkeit, öffentliche Ämter, Würden, Titel, Orden und Ehrenzeichen zu erlangen, das aktive und passive Wahlrecht „und andere politische Rechte" sowie das Recht, Zeuge, Vormund oder Kurator zu sein. Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vollzog also in wesentlichen Punkten eine Abkehr von den in den vormärzlichen Strafgesetzbüchern verfolgten Grundsätzen bezüglich der Ehrenstrafen, setzte jedoch die neuen Prinzipien nicht konsequent um. Eine Ursache dafür war, dass die Kodifikation von 1870 wie jede andere vor ihr nicht nur das Ergebnis juristischer Überlegungen und Diskussionen bildete, sondern auch die Anschauungen und Interessen anderer am Gesetzgebungsprozess beteiligter Gruppen widerspiegelte. So strich beispielsweise die Mehrheit der im Bundesrat vertretenen Länder gegen den Widerstand Preußens den im ersten Entwurf vorgesehenen Adelsverlust aus dem Kreis der Ehrenstrafen.50 Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Vorstellungen von Ehre und Ehrverlust trat besonders deutlich bei den Punkten zutage, die militärische Belange betrafen. So setzte der preußische Kriegsminister Graf Albrecht Theodor Emil von Roon unter Verweis auf das spezifische Ehrverständnis des „Soldatenstandes" durch, die dauerhafte Unfähigkeit zum Dienst in Bundesheer oder -marine als Folge der Zuchthausstrafe in den überarbeiteten Entwurf vom Dezember 1869 aufzunehmen: „Auch wird jeder ehrliebende Soldat es als einen Schimpf betrachten, und es darf ihm daher nicht zugemuthet werden, mit ehemaligen Zuchthäuslern zusammen zu dienen und dieselben als ihm gleichstehende Kameraden zu betrachten". Dasselbe galt für die automatische Verknüpfung des Ehrverlustes mit dem Delikt der Selbstverstümmelung zur Entziehung von der Wehrpflicht.51 Bei der Beratung des Strafgesetzbuchentwurfes im Reichstag des Norddeutschen Bundes waren gerade diese beiden Punkte besonders umstritten. Einen Schwerpunkt der Diskussion -
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50
Vgl. das Protokoll der Bundesratssitzung vom 11.2.1870, in: Schubert, Werner (Hrsg.): Verhandlungen des Bundesrats und des Reichstags des Norddeutschen Bundes über den Entwurf eines Strafgesetzbuches, Frankfurt/M. 1992, S. 31-37, hier S. 33. 51 Vgl. das Schreiben Roons an Bismarck vom 11.10.1869, in: Bundesarchiv Berlin, Best. R 1401, Nr. 638, Bl. 35-46 (Zitat Bl. 40). Der Entwurf vom Dezember 1869 ist abgedruckt in: Schubert, V/erntr/Vormbaum, Thomas (Hrsg.): Entstehung des Strafgesetzbuchs. Kommissionsprotokolle und Entwürfe, Bd. 1: 1869, Baden-Baden 2002, S. 427ff., hier §§28 und 141. Zum militärischen Ehrenverständnis im 19. Jahrhundert: Frevert, Ute: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991, S. 89ff.
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bildeten die Definition und das Verständnis von militärischer Ehre und ihr Verhältnis zur bürgerlichen Ehre. Im Zusammenhang damit stand die Frage, ob sich daraus Abweichungen von den allgemeinen Prinzipien der Kodifikation für das Militär betreffende Punkte rechtfertigen ließen. Die Majorität der Abgeordneten sprach sich schließlich dafür aus, die Unfähigkeit zum Militärdienst als automatische und lebenslange Folge der Zuchthausstrafe analog zum Verlust der (zivilen) öffentlichen Ämter beizubehalten, den Ehrverlust bei Selbstverstümmelung jedoch nicht als Sonderfall zu behandeln, sondern wie bei der überwiegenden Zahl der anderen schweren Delikte in das Ermessen des Richters zu stellen.52 -
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III. Der Siegeszug der Einzelhaft. Die Durchsetzung einer Reformidee in den Parlamenten des 19. Jahrhunderts Die Einzelhaft, also die Unterbringung eines einzigen Strafgefangenen in einer Zelle bei Tag und Nacht, ist ein Beispiel dafür, wie sehr eine Idee die Reform des Strafvollzugs vom gefängniskundlichen Diskurs über die gesetzlichen und verwaltungsrechtlichen Normen bis hin zur Vollzugspraxis zu prägen vermochte. Zu Recht konnte Hermann Kriegsmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem „Siegeszug"53 sprechen, der, angefangen von den ersten Zellenanstalten des ausgehenden 18. Jahrhunderts vornehmlich in Nordamerika, dazu führte, dass die Einzelhaft 50 Jahre später zur Leitidee von Gefängnisreformern geworden war. Diese Leitidee wurde, wenngleich langsam und keinesfalls flächendeckend, auch in die Vollzugspraxis umgesetzt. Am Ende des 19. Jahrhunderts existierten in allen deutschen Ländern neben der Mehrheit der alten Vollzugseinrichtungen eigens erbaute Einzelhaftanstalten bzw. Pläne dazu.54 Dazu bedurfte es jedoch der Zustimmung der Parlamente der deutschen Einzelstaaten bzw. später des Deutschen Reichs. Sie entschieden nämlich über die gesetzliche Grundlage des Strafvollzugs und über die Staatsbudgets und damit darüber, ob Gelder für die notwendigen Neu- oder Anbauten bewilligt wurden. Wie und auf welch unterschiedliche Weise sich die Einzelhaft in Deutschland durchsetzen konnte, wird im Folgenden am Beispiel dreier Staaten, nämlich Badens, Bayerns und HessenDarmstadts gezeigt. -
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Der letztgenannte Beschluss fiel jedoch nur mit einer Stimme Mehrheit. Debatten und Beschlussfassung im Reichstag am 5. und 23.3.1870, in: Verhandlungen des Bundesrats,
S. 149-157, S. 323-325. 53 Kriegsmann, Hermann: Einführung in die Gefängniskunde, Heidelberg 1912, S. 63. 54 Ebd., S. 80ff.; vgl. zu den einzelnen deutschen Staaten Handbuch des Gefängniswesens, 2 Bde., Hamburg 1888, Bd. 1, S. 142-205; Krohne, Karl: Lehrbuch der Gefängniskunde unter Berücksichtigung der Kriminalstatistik und Kriminalpolitik, Stuttgart 1889, S. 138187.
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und Grundlage der parlamentarischen Debatten war der in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstehende internationale gefängniskundliche Diskurs. Die Gefängniskunde bildete ein Netzwerk von am Strafvollzug interessierten bzw. aktiv an dessen Gestaltung beteiligten Personen, die sich durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen, durch Fachkongresse, Vereine und nicht zuletzt durch briefliche und persönliche Kontakte organisierten.55 Ziel des gefängniskundlichen Diskurses war über die Beseitigung offensichtlicher Missstände hinaus die grundlegende Reform des Strafvollzugs durch Annahme eines so genannten Strafvollzugssystems. Darunter verstand man eine Behandlungsmethode bzw. ein Grundprinzip, mittels dessen neben den Strafzwecken der Abschreckung und Sicherung auch die Besserung der Gefangenen verwirklicht werden konnte. Unter den vier diskutierten Vollzugssystemen beruhte die Klassifikation auf dem Gedanken, die Gefangenen nach Schwere ihrer Strafe bzw. Grad der Verdorbenheit in Gruppen einzuteilen und Wohlverhalten zu belohnen. Das zweite System, die gemeinschaftliche Unterbringung nach dem Muster des bayerischen Reformers und Gefängnisdirektors Georg Michael Obermaier, setzte auf gegenseitige positive Einwirkung der Gefangenen innerhalb eines streng geregelten, aber humanen Anstaltsalltags. Die Idee der Einzelhaft bestand darin, durch Isolierung der Gefangenen voneinander eine Besserung ihres Verhaltens zu erreichen oder doch zumindest die gegenseitige Verschlechterung zu vermeiden. Vorbild waren dabei die beiden amerikanischen Vollzugsmodelle in Philadelphia mit Unterbringung der Gefangenen in Einzelzellen und in Auburn, wo nächtliche Trennung und tagsüber gemeinschaftliche Unterbringung unter Schweigegebot herrschte. Das vierte System, die Progression, ging hauptsächlich auf englisch-irische Reformversuche zurück. Es verband Gemeinschafts- und Einzelhaft samt einer Zwischenstufe vor der Entlassung zu einem abgestuften Strafvollzug.56 Spätestens auf dem ersten internationalen gefängniskundlichen Kongress in Frankfurt 1846 wurde die Einzelhaft nach philadelphischem Muster mit Einzelunterbringung bei Tag und Nacht zum Leitbild der Gefängniskunde.57 In allen drei Staaten griffen die Landtage die Kernfrage des Diskurses nach dem besten Strafvollzugssystem auf und befürworteten gleichfalls die Einzelhaft. In Baden verliefen die Diskussionen des Landtags zur Reform des Strafvollzugs zeitlich und inhaltlich nahezu parallel zur gefängniskundlichen
Ausgangspunkt
55
Nutz, Thomas: Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775-1848, München 2001; Henze: Strafvollzugsreformen. 56 Vgl. dazu ausführlich und mit Quellenangaben Henze: Strafvollzugsreformen, S. 56-89. 57 Zu Zielsetzung und Bedeutung dieses Kongresses Riemer, Lars Hendrik: „Die Beschlüsse, welche hier gefaßt worden sind, gehören der Welt an". Der erste internationale Gefängniskongress (1846) und das Europa der Strafanstalten, in: Bauer, Andreas/Welker, Karl H. L. (Hrsg.): Europa und seine Regionen. 2000 Jahre europäische Rechtsgeschichte, Köln/ Weimar/Wien 2005.
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Debatte. Während die Gemeinschaftshaft generell verworfen und die Klassifikation lediglich kurz erwogen wurde, konzentrierte sich der Landtag auf die beiden amerikanischen Einzelhaftsysteme. Er entschied sich schließlich 1845, also sogar noch kurz vor dem ersten gefängniskundlichen Kongress, für das philadelphische Modell und stimmte einem Gesetz zur Einführung der Einzelhaft ebenso zu wie dem Bau des 1848 eröffneten ersten deutschen Zellengefängnisses in Bruchsal.58 Die Landtage Bayerns und Hessen-Darmstadts bezogen sich dagegen erst ab den 1840er Jahren, hauptsächlich dann ab Mitte der 1850er Jahre auf den Diskurs, also im Vergleich zu Baden mit erheblicher Verspätung. Diese Verspätung beruhte in Bayern darauf, dass dort zunächst die Gemeinschaftshaft nach Obermaierschem Vorbild in der Praxis wie auch im Parlament die Oberhand hatte. Erst nach dem Scheitern dieses Reformansatzes befürwortete der Landtag 1861 ein Gesetz zur Einzelhaft und genehmigte wenig später auch die Mittel für die 1868 eröffnete erste Zellenstrafanstalt Bayerns in Nürnberg.59 Im Gegensatz dazu waren in Hessen-Darmstadt lange keine Ansätze zu einer umfassenden Reform des Gefängniswesens durch Annahme eines Vollzugssystems zu erkennen. Erst ein Antrag auf Einführung der Einzelhaft auf dem Landtag 1859/62 fand die Zustimmung beider Kammern, die daraufhin die Regierung um entsprechende Vorlagen baten. Allerdings sind keinerlei Pläne zu einem Vollzugsgesetz überliefert; auch Vorarbeiten zu einem Neubau verliefen in den 1860er Jahren im Sande und konnten erst erheblich später, nämlich 1894, mit Eröffnung der Butzbacher Zellenanstalt verwirklicht werden.60 Die Beschlüsse der Landtage wirkten ihrerseits auf den gefängniskundlichen Diskurs zurück. Die Einführung der Einzelhaft in Baden wurde bereits auf dem Gefängniskongress 1846 und in zahlreichen Publikationen danach, aber auch in den Landtagsverhandlungen Bayerns und Hessen-Darmstadts als Argument zugunsten dieses Vollzugsmodells herangezogen. Ähnlich bewerteten einschlägige Schriften später die bayerischen bzw. hessen-darmstädtischen Landtagsverhandlungen als Erfolg für das Modell der Einzel58
Verhandlungen des Landtags des Großherzogtums Baden 1843/45 II, Beilagenheft 14, S. 161-172, Protokollheft 10, S. 368^130; ebd. I, Protokollheft 3, S. 486-499; Freßle, Paul: Die Geschichte des Männerzuchthauses Bruchsal, Diss. jur. Freiburg 1970, S. 70ff. 59 Verhandlungen des Landtags des Königreichs Bayern 1856/57 II, Protbd. 1, S. 97-131; Verhandlungen des Gesetzgebungsausschusses 1856/58 I, S. 10-18; Verhandlungen des Landtags des Königreichs Bayern 1859/61 II, Beilbd. 7, S. 55-66; Protbd. 3, S. 119-147; ebd. I, Bd. 3, S. 97-154; Henze: Strafvollzugsreformen, S. 164ff.; Streng, Adolf: Das Zellengefängniß Nürnberg. Mitteilungen aus der Praxis und Studien über das Gefängniswesen und Strafvollzug, Stuttgart 1879. 60 Verhandlungen des Landtags des Großherzogtums Hessen 1859/62 I, Beilbd., Beil. 39, S. 1-36; Protbd., Prot. 12, S. 155-209; ebd. II, Protbd. 2, Prot. 39, S. 40-51; Henze: Strafvollzugsreformen, S. 292ff.; Hoffmann, Ernst Emil: Das Gefängniswesen in Hessen, seine geschichtliche Entwicklung und jetzige Lage, Diss. jur. Mannheim 1899, S. 38ff.
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haft. Es bestand also eine enge Wechselwirkung von gefängniskundlichem Diskurs und parlamentarischer Debatte. Dass sich die Einzelhaft als Leitidee des gefängniskundlichen Diskurses auch in der parlamentarischen Praxis durchsetzen konnte, hatte mehrere Gründe. Zunächst einmal bestand in allen drei Staaten ein erheblicher Reformbedarf angesichts der bestehenden unzweckmäßigen und oft überfüllten Strafanstalten. Hinzu trat insbesondere in Baden und Bayern das Scheitern früherer Reformversuche.62 Insofern übte die Vorstellung, durch Annahme eines Vollzugssystems den Strafvollzug grundlegend verbessern zu können, große Anziehungskraft aus. Darüber hinaus war es der Gefängniskunde hervorragend gelungen, ihre Schriften und zentralen Reformvorschläge einer breiteren Öffentlichkeit bis in die Parlamente der Einzelstaaten hinein bekannt zu machen. Dies geschah über personelle Verflechtungen, gab es doch eine Reihe von Abgeordneten, die sich am gefängniskundlichen Diskurs als Autoren oder durch ihre Teilnahme an Fachkongressen aktiv beteiligten. Wie fast alle Gefängniskundler waren diese Abgeordneten mit der Thematik zudem durch Besuche in Strafanstalten, eigene Berufstätigkeit oder aber Engagement in der Entlassenenfürsorge vertraut. Zu dieser Gruppe zählten in Baden vor allem Karl Joseph Anton Mittermaier, durch zahlreiche Veröffentlichungen und vielfache, auch internationale Kontakte eine der Zentralfiguren des gefängniskundlichen Diskurses in Deutschland, und Karl Theodor Welcker, der seinen für den Landtag erarbeiteten Kommissionsbericht zur Gefängnisreform später im Staatslexikon veröffentlichte. Ludwig von Jagemann, gleichfalls Autor und Herausgeber einschlägiger Veröffentlichungen sowie Leiter des badischen Gefängniswesens, bildete insofern eine Ausnahme, als er nicht als Kammermitglied, sondern als Referent der Regierung das Wort ergriff.63 In Bayern Z.B. Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnißreform, zusammengetreten im September 1846 in Frankfurt/M., Frankfurt/M. 1847, S. 26ff.; Röder, Karl David August: Besserungsstrafe und Besserungsstrafanstalten als Rechtsforderung. Eine Berufung an den gesunden Sinn des deutschen Volkes, Leipzig/Heidelberg 1864, S. 170-185, S. 196ff. 62 Zu den badischen Versuchen mit dem Klassifikations- bzw. dem auburnschen Vollzugssystem der 1830er Jahre vgl. Freßle: Geschichte, S. 30ff.; in Bayern betrieb die Landesregierung in den 1840er und 1850er Jahren eine Ausweitung der geregelten Gemeinschaftshaft nach dem Vorbild der Kaiserslauterner bzw. der Münchener Strafanstalt unter Leitung Georg Michael Obermaiers. Vgl. dazu Henze: Strafvollzugsreformen, S. 185ff. In Hessen-Darmstadt beschränkten sich die Reformen dagegen vorwiegend auf Beseitigung grober Missstände bzw. auf organisatorische Verbesserungen. Ebd., S. 305ff. 63 Aus der zahlreichen Literatur zu Mittermaier vgl. insb. Kammer, Jürgen Friedrich: Das gefängniswissenschaftliche Werk C. J. A. Mittermaiers, Diss. jur. Freiburg 1971; MüllerDietz, Heinz: Karl-Theodor Welcker Politiker, Strafrechtslehrer und Vollzugsreformer, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffalligenhilfe 16 (1967), S. 13-23; Fasoli, Hemma: Zum Strafverfahrensrecht und Gefängniswesen im 19. Jahrhundert. Der Jurist Ludwig von Jagemann (1805-1853). Seine Rolle in Deutschland unter Berücksichtigung der Entwicklungen in England, Frankreich und USA, Kehl u.a. 1985. -
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Karl Freiherr von Closen, der als Randfigur des Diskurallerdings lediglich dem ersten Gefängniskongress 1846 beiwohnte. Für Hessen-Darmstadt ist Carl Graf von Schlitz gen. von Görtz zu nennen, der in mehreren Artikeln seine Besuche in Strafanstalten schilderte.64 Für alle Genannten lassen sich persönliche oder briefliche Kontakte untereinander und mit anderen Gefängniskundlern nachweisen. Gemeinsam ist ihnen des weiteren, dass es sich mit Ausnahme von Jagemanns durchgehend um prominente Persönlichkeiten handelte, die durch hohe Ämter bzw. Kommissionsarbeit über viele Jahre entscheidenden Einfluss auf die Tätigkeit der Landtage ausübten. Für den Siegeszug der Einzelhaft spielten insbesondere drei der Beteiligten eine maßgebliche Rolle: In Baden bildete Welckers Kommissionsbericht die argumentative Grundlage für die Durchsetzung der Einzelhaft. In Bayern gab Closen dem Landtag nicht nur erstmals 1845/46 einen Überblick über den aktuellen Stand der Gefängniskunde, sondern beantragte 1855/56 auch die Einführung der Zellenhaft.65 Ein ähnlicher, wohlvorbereiteter Antrag von Görtz 1859/62 brachte die Systemfrage in Hessen-Darmstadt auf die Tagesordnung des Landtags. Darüber hinaus lässt sich auch bei den Mitgliedern der Gesetzgebungsausschüsse, den zuständigen Referenten und der Mehrzahl der Redner in den Debatten aller drei Landtage ein zunehmender Bezug auf bekannte gefängniskundliche Schriften nachweisen, die zum Teil für die Landtagsbibliotheken angeschafft wurden. Nicht nur wurden die Namen führender Autoren regelmäßig ins Feld geführt; auch an der Argumentationsstruktur ist deutlich erkennbar, dass zentrale gefängniskundliche Topoi, etwa von den bestehenden Strafanstalten als Hochschulen des Verbrechens, allgemein bekannt waren. Zu nennen sind für Baden z.B. Justizminister Isaak Jolly und die Abgeordneten Ludwig Weller, Adam von Itzstein oder Friedrich Hecker, für Bayern etwa Ministerialrat Friedrich Benedikt Wilhelm von Herrmann, die langjährigen Mitglieder des Gesetzgebungsausschusses Ludwig Weis und Franz Joseph Volk sowie Karl Freiherr von Seinsheim und für Hessen-Darmstadt u.a. der zuständige Referent Andreas Hesse, Michael Franz Birnbaum, Regierungskommissär Maximilian von Rodenstein oder Friedrich August Küchler. Der Handlungsspielraum der Parlamente in allen drei untersuchten Staaten war verfassungsrechtlich begrenzt. Die badischen Kammern hatten allerdings einen größeren Spielraum als diejenigen Bayerns und Badens. Hinzu kam, dass das Wahlsystem in Baden das am wenigsten restriktive der frühkonstitutionellen Staaten war. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen führten dazu,
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Zu Closen und Görtz vgl. ausführlich Henze: Strafvollzugsreformen, S. 169ff., S. 289ff., S. 298ff. 65 Durch seinen Tod konnte Closen die von ihm auf den Weg gebrachte Initiative nicht mehr weiterverfolgen.
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dass die Zweite Kammer in Baden früher und in größerem Umfang als in den beiden anderen Staaten zu einem wichtigen Faktor des politischen Lebens wurde66. Dies zeigte sich auch bei der Behandlung der Vollzugsreformen im Landtag. Die Kammern verfügten zunächst nur über die Möglichkeit, durch Anfragen und Bitten auf die Thematik aufmerksam zu machen. Davon machten die Abgeordneten aller drei Staaten vielfach Gebrauch, indem sie sowohl zu Einzelfragen als auch zu grundlegenden Änderungen der Strafanstalten Anträge formulierten. Die Kammern besaßen jedoch nicht das Recht auf Gesetzesinitiative und konnten somit keine eigenen Vorlagen einbringen. Allerdings hatten sie insofern nicht unbeträchtlichen Einfluss, als Regierungsvorlagen von ihrer Zustimmung abhängig waren. Entsprechend konnten sie Druck ausüben, indem sie mit Ablehnung drohten bzw. die Zustimmung mit der Bitte um weitere Vorlagen verbanden. Von dieser Möglichkeit machte man in Baden mit Erfolg Gebrauch, als die Budgetkommission der Zweiten Kammer 1843/45 ihr positives Votum davon abhängig machte, dass die Regierung dem Landtag ein Vollzugsgesetz vorlegte.67 Das generelle Bild, dass die Zweiten Kammern eine aktivere Rolle im parlamentarischen Leben spielten als die Ersten, bestätigt sich auch bei Fragen des Strafvollzugs: Die Mehrzahl einschlägiger Anregungen ging von den gewählten Abgeordneten aus. Hierbei bildete Hessen-Darmstadt insofern eine Ausnahme, als der entscheidende Antrag auf Einführung der Einzelhaft von einem Mitglied der Ersten Kammer, Görtz, eingebracht wurde und entsprechend der größte Teil der Ausschussarbeit und Plenumsdiskussionen von Mitgliedern der Ersten Kammer geleistet wurde68. Das insgesamt größere 66
Vgl. dazu Becht, Hans-Peter: Die badische zweite Kammer und ihre Mitglieder 1819 bis 1841/42. Untersuchungen zu Struktur und Funktionsweise eines frühen deutschten Parlaments, Heidelberg/Mannhein 1985, S. 29ff.; ders.: Vom Ständesaal zur Revolution. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der badischen Geschichte von 1815 bis 1848/49, in: Borst, Otto (Hrsg.): Aufruhr und Entsagung. Vormärz 1815-1848 in Baden und Württemberg, Stuttgart 1992, S. 44-64; Götschmarm, Dirk: Parlament an der Longe. Zur Geschäftsordnung des bayerischen Landtages im Vormärz, in: Albrecht, Dieter/ders. (Hrsg.): Forschungen zur bayerischen Geschichte. FS für Wilhelm Volkert zum 65. Geburtstag, Frankfurt/M. u.a. 1993, S. 219-236; Löffler, Bernhard: Die bayerische Kammer der Reichsräte 1848 bis 1918. Grundlagen, Zusammensetzung, Politik, München 1996, S. 17ff.; Büttner, Siegfried: Die Anfange des Parlamentarismus in Hessen-Darmstadt und das du Thilsche System, Darmstadt 1969, S. 62ff.; Franz, Eckhart GJFleck, Peter (Hrsg.): Der Landtag des Großherzogtums Hessen 1820-1848. Reden aus den parlamentarischen Reform-Debatten des Vormärz, Darmstadt 1998, S. 24ff. 67 Vgl. Verhandlungen des Landtags des Großherzogtums Baden 1843/45 II, Beilbd. 12, S. 239ff.; bereits auf den vorhergehenden Landtagen hatten mehrfach Abgeordnete, darunter auch Karl von Rotteck, ein Vollzugsgesetz gefordert und die Regierung ein solches in Aussicht gestellt. 68 Diese Besonderheit war auch den Zeitgenossen bewusst. So beweise der Antrag Görtz' nach Meinung des Gefängniskundlers Karl David August Röder, „daß der Schwerpunkt der Intelligenz und des Gemeinsinns nicht etwa bloß in der Zweiten Kammer zu suchen sei". Brief an Görtz vom 29.11.1859, in: Staatsarchiv Darmstadt, F 23A Nr. 325/33.
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der Thematik wie auch die Beteiligung einer ganzen Reihe prominenter oppositioneller Politiker an den einschlägigen Debatten wirft die Frage auf, ob es einen Zusammenhang zwischen allgemeinpolitischer Orientierung und Haltung zur Einzelhaft gab. Ein solcher lässt sich allerdings bei näherer Betrachtung nicht eindeutig herstellen. Bekannte Liberale wie etwa Welcker in Baden und Closen in Bayern waren nämlich ebenso für dieses Haftsystem wie der konservative Görtz in HessenDarmstadt. Umgekehrt zogen z.B. in Baden der spätere Revolutionär Hecker, in Bayern der konservative Seinsheim vehement gegen die Einzelhaft zu Felde. Der Vergleich zeigt weiter, dass die Annahme eines neuen Vollzugssystems grundsätzlich zwar von der Zustimmung der Landtage, nicht aber von einem Vollzugsgesetz abhing. In Deutschland bildeten die Einzelhaftgesetze in Baden und Bayern eher die Ausnahme als die Regel. Dir Zustandekommen beruhte darauf, dass zeitgleich Strafgesetzbücher, nämlich das badische Strafgesetzbuch von 1845 bzw. 1861 die Novelle des bayerischen Strafgesetzbuches von 1813 verabschiedet wurden. Dagegen scheiterten Strafvollzugsgesetze in anderen Staaten bzw. später auf Reichsebene nicht zuletzt an dem fehlenden Bewusstsein, dass auch der Strafvollzug einer gesetzlichen Grundlage bedurfte.69 Typischer für die Entwicklung in Deutschland war das Beispiel Hessen-Darmstadt, wo trotz fehlenden Vollzugsgegesetzes die Einzelhaft auf dem Verwaltungsweg eingeführt wurde.70 Ausschlaggebend für die Einführung der Zellenhaft war somit zuerst der Reformwille der jeweiligen Regierung. Von ihr hing es ab, Gesetzesvorlagen oder aber Budgets zugunsten neuer Zellenbauten einzubringen, die erst danach der Zustimmung der Landtage bedurften. Ob per Gesetz oder auf dem Verwaltungswege: Die Idee, den Strafvollzug durch Einführung der Einzelhaft zu reformieren, konnte sich zuerst im gefängniskundlichen Diskurs durchsetzen und erwies sich dann, wenngleich mit zeitlichen Verschiebungen, auch bei den politischen Entscheidungsträgern in Landtag und Regierung, unabhängig von politischen Präferenzen, als mehrheitsfähig. Interesse der Zweiten Kammern
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Zur Bedeutung der beiden Gesetze zur Einzelhaft, die auch weitere Bestimmungen zur Behandlung von Strafgefangenen enthielten und damit erstmals deren Lage gesetzlich absicherten vgl. Henze, Martina: Gesetzgebung und Einzelhaft im 19. Jahrhundert. Die ersten deutschen Gesetze zum Strafvollzug in Baden und Bayern, in: Pahlow, Louis (Hrsg.): Die zeitliche Dimension des Rechts. Historische Rechtsforschung und geschichtli-
che Rechtswissenschaft, Paderborn 2005. Ein weiteres Beispiel war Preußen, das, angefangen mit Berlin-Moabit, Einzelhaftanstalten erbaute, aber nie ein Vollzugsgesetz verabschiedete.
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IV. Fazit: Theorie und Gesetzgebungspraxis in Strafrecht und Strafvollzug des 19. Jahrhunderts Der methodische Ansatz des Forschungsprojekts, vor allem die dezidierte Berücksichtigung der Ebene der rechtlichen Normen, also der Gesetze und ihrer Entstehung, hat sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Welche Verbreitung und Tiefenwirkung einzelne Ideen entfalten konnten, zeigte sich besonders an der im 19. Jahrhundert neu aufkommenden Diskussion über die Einzelhaft, die ausgehend von der Gefängniskunde bald zum Inbegriff für Gefängnisreform in Wissenschaft, Bürokratie und Parlamenten wurde. Bei -
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der Thematik der Ehre und der Ehrenstrafen füllte die Strafrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert den überkommenen Ehrbegriff mit neuen Inhalten und forderte die bürgerliche bzw. politische Ehre betreffende Sanktionen. Im strafrechtswissenschaftlichen Diskurs wie in den Parlamenten gab es zur konkreten Ausgestaltung dieser Strafen jedoch nicht eine Leitidee, sondern konkurrierende Vorstellungen, von denen sich einige dann bis hin zum Reichsstrafgesetzbuch durchsetzen konnten. Von entscheidender Bedeutung für die Durchsetzung der genannten Ideen waren die beteiligten Personen. Strafrechtswissenschaftler wie Gefängniskundler standen untereinander in engem Kontakt und bildeten Netzwerke über die Grenzen der deutschen, teilweise der europäischen Staaten hinweg. Über den fachlichen Diskurs hinaus fanden diese Experten Wege, ihre Ideen erfolgreich bis in die staatliche Politik hinein zu verbreiten. Eine ganze Reihe einflussreicher Strafrechtler und Gefängniskundler nahm zudem in verschiedenen Funktionen direkt am Gesetzgebungsprozess teil, so als Verfasser von Entwürfen, als Gutachter, als Mitglieder einschlägiger Regierungs- und Parlamentskommissionen sowie als Landtagsabgeordnete. Trotzdem gelang die Umsetzung von Ideen in rechtliche Normen aus verschiedenen Gründen nicht immer. Die zahlreichen Gesetzesprojekte zur Kodifikation des materiellen Strafrechts am Beginn des 19. Jahrhunderts scheiterten an den äußeren politischen Umständen oder am Entwicklungsstand des Diskurses. Ein weiterer, entscheidender Faktor war der Wille bzw. Unwille der Regierungen, Vorlagen umzusetzen, da die Einflussmöglichkeiten der Parlamente grundsätzlich begrenzt waren. Darüber hinaus hatte sich beim Strafvollzug im Gegensatz zum Strafrecht noch nicht die Überzeugung durchgesetzt, dass dieser Bereich nicht nur durch Verwaltungsnormen, sondern auch per Gesetz geregelt werden sollte. Insgesamt hat sich gleichwohl die eingangs formulierte Hypothese einer deutlichen Wechselwirkung zwischen strafrechtlicher Theorie und Gesetzgebung im 19. Jahrhundert bestätigt. Im Strafrecht wie in der Regelung des Strafvollzugs lässt sich nachzeichnen, dass und wie zentrale Ordnungsvorstellungen in rechtlichen Normen und darüber hinaus in Rechtspraxis und -
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Lebenswelt wirksam wurden. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, würde man den Zusammenhang von strafrechtlichem Diskurs und Gesetzgebung nur als Einbahnstraße betrachten. Vielmehr wirkten die tatsächlich verabschiedeten Rechtsnormen und insbesondere die Erfahrungen mit ihrer Anwendung ihrerseits auf den Diskurs zurück, beeinflussten und veränderten ihn.
Veröffentlichungen aus dem Projekt „Strafrechtsdiskurs und Strafgesetzgebung": Henze, Martina: Handlungsspielräume im Strafvollzug. Die Beschwerden von Gefangenen
im hessen-darmstädtischen Zuchthaus Marienschloss 1830-1860, in: Berding, HelGünther (Hrsg.): Kriminalität und abweichendes Verhalten. Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 141-169. Dies.: Strafvollzugsreformen im 19. Jahrhundert. Gefängniskundlicher Diskurs und staatliche Praxis in Bayern und Hessen-Darmstadt, Darmstadt/Marburg 2003 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 135). Dies.: Gesetzgebung und Einzelhaft im 19. Jahrhundert. Die ersten deutschen Gesetze zum Strafvollzug in Baden und Bayern, in: Pahlow, Louis (Hrsg.): Die zeitliche Dimension des Rechts. Historische Rechtsforschung und geschichtliche Rechtswissenschaft, Paderborn
mutlKlippel, DielhelmlLottes,
2005. Dies.: Einzelhaft und Vollzugsreformen. Zur Durchsetzung einer Leitidee im gefängniskundlichen Diskurs und in der parlamentarischen Praxis des süddeutschen Konstitutionalismus (1820-1860) (in Vorb.). Dies.: Art. „Gefängnis"; Gefängniskunde" u. „Strafvollzug", in: Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Stuttgart (erscheint ab 2005). Kesper-Biermann, Sylvia: Die Grenzen des Straffechts. Zur Abgrenzung von Criminalund Policeyrecht in Deutschland und der Schweiz während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch 2004 der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozial-
geschichte (im Druck). Dies.: „[...] die Oeffnung, durch welche in die Brust der Gesetzgebung geschaut wird". Zur parlamentarischen Beratung von Strafrechtskodifikationen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 26 (2004), S. 36-61. Dies.: Einheit und Recht. Kriminalgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 (in Vorb.). Dies.: Art. „Strafgesetzgebung" u. „Strafrechtswissenschaft", in: Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Stuttgart (erscheint ab 2005). Klippe!, Diethelm: Staat und Devianz. Zur Einführung, in: Berding, HümutlKlippel, Diethe\mlLottes, Günther (Hrsg.): Kriminalität und abweichendes Verhalten. Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 7-14. Ders.: Politische und juristische Funktionen des Naturrechts in Deutschland. Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.): Legitimation, Kritik und Reform. Naturrecht und Staat in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Wien/Mainz 2000, S. 3-10 (= Zeitschrift für Neuere
Rechtsgeschichte, H. 1/2000).
Ders.: Ideen Normen Lebenswelt. Exegese und Kontexterschließung in der Rechtsgeschichte, in: Scientia Poética. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 2000, Bd. 4, S. 179-191. Ders.: Französische und deutsche Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein bibliographischer Überblick, in: Kervégan, lean-François/Mohnhaupt, Heinz (Hrsg.): Wechselseitige Beeinflussungen und Rezeptionen von Recht und Philosophie in Deutschland und Frankreich. Influences et réceptions mutuelles du droit et de la philosophie en France et en Allemagne, Frankfurt/M. 2001, S. 231-257 (zus. mit Jan Rolin). Ders.: Kant im Kontext. Der naturrechtliche Diskurs um 1800, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, S. 77-107. Ders.: Rechtsgeschichte, in: Eibach, Joachim/Lottes, Günther (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 126-141. -
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Der homosexuelle Staatsfeind zur
Geschichte einer Idee
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Susanne zur Nieden Der 30. Juni 1934 war der Auftakt einer staatlich angeordneten Mordserie zur Abwehr des so genannten „Röhm-Putsches", dem nicht nur der damalige Stabschef der SA Ernst Röhm und etliche führende SA-Männer, sondern auch einige bekannte Politiker der konservativen Opposition zum Opfer fielen.1 In der von Hitler formulierten amtlichen Presseerklärung im Völkischen Beobachter vom 1. Juli hieß es: Seit Monaten hätten „einzelne Elemente" versucht, zwischen SA und Partei sowie SA und Staat Keile zu treiben. Diese Versuche seien von einer „bestimmt eingestellten Clique" ausgegangen, die von Röhm gefördert worden sei. In Anspielung auf die Homosexualität Röhms, die in der deutschen Öffentlichkeit seit dem großen Sexualskandal der Jahre 1931/32 weiten Kreisen bekannt war, liest man weiter: „Seine bekannte unglückliche Veranlagung" habe zu „unerträglichen Belastungen" geführt. Röhm habe, ohne Hitlers Wissen, mit General von Schleicher und mit „einer auswärtigen Macht" Verhandlungen geführt. Aus diesem Grund sei „sowohl vom Standpunkt der Partei wie auch vom Standpunkt des StaaIn derselben Ausgabe tes" ein Einschreiten nicht mehr zu umgehen des Völkischen Beobachters kommentierte ein Artikel die Umstände der Verhaftung: „Einige SA-Führer hatten sich Lustknaben mitgenommen. Einer wurde in einer ekelhaften Situation aufgeschreckt und verhaftet. Der Führer gab den Befehl zur rücksichtslosen Ausräumung der Pestbeule. Er will in Zukunft nicht mehr dulden, daß Millionen anständiger Menschen durch einzelne krankhaft veranlagte Personen belastet und kompromittiert werden".3 Die Anschuldigung, um Ernst Röhm habe sich ein Kreis von Verschwörern gesammelt, deren Putschpläne nur durch blutige Niederschlagung habe verhindert werden können, wurde demnach also in den ersten öffentlichen Stellungnahmen in einen Zusammenhang gebracht mit dem Vorwurf homosexueller Umtriebe gebracht. Interessant ist, wie die Exilpresse auf die Ereignisse des 30. Juli 1934 reagierte. Es gab kaum eine Exilzeitung, die sich homophober Kommentare
gewesen.2
1 Vgl. hierzu ausführlicher: zur Nieden, SusannelReichardt, Sven: Skandale als Instrument des Machtkampfes in der NS-Führung. Zur Funktionalisierung der Homosexualität von Ernst Röhm, in: Sabrow, Martin (Hrsg.): Skandal und Diktatur. Öffentliche Empörung im NS-Staat und in der DDR, Göttingen 2004, S. 33-58. 2 Zit. n. Domarus, Max: Hitler, Reden und Proklamationen 1932-1945, kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. 1: Triumph (1932-1938), Würzburg 1962, S. 398. 3 Zit. n. ebd.
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enthalten hätte. Der in Prag erscheinende sozialdemokratische Neue Vorwärts kommentierte die Morde: „Seit Jahren haben wir das Treiben dieses Mannes angeprangert, so ekelhaft es uns war, haben wir auf die Verderbnis der Jugend in der SA hingewiesen."4 Im gleichen Tenor berichteten die Kuriere der Sozialdemokratischen Partei im Deutschland-Bericht des Jahres 1934 über die Stimmung der Bevölkerung. Witze wie „Röhm sei verbrannt worden, weil er schon warm war" seien im Umlauf. Hitlers energisches Durchgreifen gegen die „Schweinereien" sei durchaus verständlich.5 „Aber die große Masse des Volkes", schrieb ein Anderer über die Bevölkerung in Pommern, „ist tatsächlich so idiotisch, daß sie sagt: ,Hitler ist doch ein Kerl, der durchgreift', und sie ist zugleich so demoralisiert, daß sie kein Gefühl für den moralischen Sumpf hat, den die Aktion bloßgelegt hat."6 Konkrete Putschpläne hat es im Sommer 1934 nicht gegeben. Die Morde dienten der NS-Führung, wie die Forschung hinlänglich nachgewiesen hat, zur Entmachtung der SA und zur vollständigen Einschüchterung potentieller konservativer Gegner. Die blutige Ausschaltung der SA-Spitze schuf die Voraussetzung zur Integration der Reichswehr in den neuen Staat und zur Erweiterung der Machtposition Hitlers, der nach dem Tod Hindenburgs als „Führer und Reichkanzler" die Zentralgewalt im Staat auf seine Person zentrieren konnte.7 Es war gleichzeitig ein erfolgreicher Schachzug, dass Hitler sich als der Retter der Nation inszenierte, der bereit war gegen „Sittenverfall", vor allem gegen Homosexuelle in den eigenen Reihen erbarmungslos vorzugehen. Die weit verbreitete Homophobie trug offenbar dazu bei, dass viele Deutsche selbst eine staatlich angeordnete Lynchjustiz gut hießen oder zumindest hinnahmen. Die Vorstellung, eine Clique Homosexueller habe den NS-Staat bedroht, hatte aber über die politischen Instrumentalisierungen hinaus für die NSFührung durchaus Realitätsgehalt. Nach der Ermordung Ernst Röhms begann tatsächlich eine rigorose staatliche Verfolgung mannmännlicher Sexualbe4
Zinn, Alexander: Zur sozialen Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialis„Röhm-Putsch" und die Homosexuellenbewegung 1934/35 im Spiegel der Exilpresse, in: Capri (1995), Nr. 18, S. 21-48, hier S. 21. Ausführlicher geht Zinn der Frage, wie es in den 30er Jahren zu dieser seltsamen Koalition hat kommen können, in seiner Zit.
n.
ten. Der
Studie: Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten. Zu Genese und Etablierung eines Stereotyp, Berlin 1997 nach. Er greift hierbei eine Diskussion über das Verhältnis der Linken zur Homosexualität auf, die im Journal of Homosexuality schon 1995 begonnen wurde, vgl. Hekma, GerXlOosterhuis, Harry/Steakley, James: Leftist Sexual Politics and Homosexuality. A Historical Overview, in: Journal of Homosexuality 29 (1995), Nr. 2/3, S. 1^10. Zit. n. Deutschland-Bericht der Sopade. Erster Jahrgang 1934, 7. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 198. 6 Zit. n. ebd. 7 Vgl. hierzu Kershaw, Ian: Hitler 1889-1936, München 2002, S. 629-662; sowie Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996, S. 133-147.
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die es in dieser Intensität und Härte ausschließlich im nationalsozialistischen Deutschland gab.8 Man glaubte vor allem die Reihen der eigenen Organisationen „säubern" zu müssen und setzte parteiinterne Kontrollund Untersuchungskommissionen ein.9 Der Reichsführer SS Heinrich Himmler kommentierte im Rückblick: „Wir haben in den ersten sechs Wochen unserer Tätigkeit auf diesem Gebiet im Jahre 1934 mehr Fälle dem Gericht zugeführt, als das gesamte Polizeipräsidium in Berlin in 25 Jahren."10 Von 1934 zu 1935 verdoppelte sich die Zahl der Männer, die im Deutschen Reich nach § 175 StGB rechtskräftig verurteilt wurden. 1937 hatte sich ihre Zahl im '' Vergleich zum letzten Jahr der Weimarer Republik, mehr als verzehnfacht. Insgesamt wurden in den zwölf Jahren der NS-Herrschaft annähernd 50 000 Verfolgte im Gebiet des Deutschen Reiches von zivilen Gerichten verurteilt.12 Darüber hinaus wurden ab 1939 über 7 000 Männern von Wehrmachtsgerichten wegen homosexueller Delikte bestraft.13 Tausende deportierte man außerdem in Konzentrationslager, Schätzungen schwanken zwischen 5 000 und 15 000. Zusätzlich zu Straf- und KZ-Haft mussten sich etliche dem folgenreichen medizinischen Eingriff, der Zwangskastration unterziehen.14 Für Berlin, wo allein 5 000 Männer als Homosexuelle verurteilt wurden, weiß man, dass fast 10 Prozent die Verfolgung nicht überlebten.15 Warum waren sich große Teile der Bevölkerung in Deutschland, aber auch viele ins Exil vertriebene Linke mit der NS-Führung im Sommer 1934 einig
Ziehungen,
Vgl. hierzu Jellonnek, Burkhard: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, Paderborn 1990. Vgl. hierzu Pretzel, Andreas: Vom Staatsfeind zum Volksfeind. Zur Radikalisierung der Homosexuellenverfolgung im Zusammenwirken von Polizei und Justiz, in: zur Nieden, Susanne (Hrsg.): Homosexualität und Staatsräson Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900 bis 1945, Frankfurt/M. u.a. 2005; sowie Armin Nolzen: „Streng vertraulich!" Die Bekämpfung „gleichgeschlechtlicher Verfehlungen" in der Hitlerjugend, in: 9
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ebd. 10 Zit. n. Smith, Bradley F. (Hrsg.): Heinrich Himmler 1900-1926, München 1979, S. 98. 11 Die Zahl der Verurteilungen stieg von 1934 bis 1935 von 948 auf 2 106, und im Folgejahr 1936 von 2 106 auf 5 320. 1937 wurden 8.271 Männer nach § 175 verurteilt, 1932 hingegen waren es nur 801, vgl. Grau, Günter (Hrsg.): Homosexualität in der NS-Zeit, Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, Frankfurt/M. 1993, S. 220. 12 Nach den Angaben des Statistischen Jahrbuchs wurden von 1933 bis 1943 über 46 000 Männer von zivilen Gerichten aufgrund der §§175 und 175 a-c verurteilt, Zahlen nach S. 197. ebd., 13 Zahlen nach ebd., S. 210. 14 Die gerichtliche Anordnung der Kastration für schwere Sittlichkeitsverbrechen war bereits 1933 durch das so genannten „Gewohnheitsverbrechergesetz" möglich geworden. Männer, die nach § 175 verurteilt worden waren, wurden jedoch in der Regel massiv unter Druck gesetzt, nach dem 1935 novellierten Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mehr oder weniger gezwungen, einer so genannt „freiwilligen" Kastration zuzustimmen. Da es hier keine zentrale staatliche Erfassung gab, ist eine Schätzung, wie viele Männer sich dieser Operation unterziehen mußten, kaum möglich. 15 Auskunft von Andreas Pretzel (Berlin), der zurzeit an einem Gedenkbuch für die der Homosexuellenverfolgung in Berlin arbeitet.
Opfer
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in ihrer Abscheu vor Homosexualität? Warum wurde Homophobie ausgerechnet in Deutschland, dem Land, in dem mit der Wende zum 20. Jahrhundert die weltweit erste homosexuelle Emanzipationsbewegung entstanden war, zu einer Einstellung, die so erbitterte Gegner wie Nazis und Antifaschisten teilten und die jeder auf seine Weise versuchte für seine Zwecke politisch zu nutzen? Warum sah die NS-Führung in homosexuellen Männern „Staatsfeinde", die seit dem Sommer 1934 nicht nur strafrechtlich weitaus schärfer als zuvor, sondern auch von der Geheimen Staatspolizei verfolgt wurden? Warum wurden Homosexuelle in Konzentrationslager verschleppt, etliche zur Kastration gezwungen, und wenn es sich um Angehörige der SS und Polizei handelte, für homosexuelle Verfehlungen sogar zum Tode verurteilt? Immer wieder betonten die Nationalsozialisten in ihren Stellungnahmen, männliche Homosexualität müsse bekämpft werden, weil sie den NS-Staat von innen her zu zerstören drohe. Homosexualität unterminiere die Staatsräson, nicht nur weil sie bevölkerungspolitischen Zielsetzungen zuwiderlaufe, sondern auch, weil sie die Regularien eines „Männerstaates" gefährde, ihn in „seinen Grundfesten" zerstöre, so Heinrich Himmler in einer Geheimrede des Jahres 1937 vor Vertretern des Reichssicherheitshauptamtes.17 Um der Frage nachzugehen, wie es zu dieser eigentümlichen Verknüpfung von Sexualität und Politik, von Homophobie und Staatsräson kommen konnte, wird im Folgenden ein Bogen geschlagen von den Debatten um Homosexualität, Männlichkeit und Staat, die die Öffentlichkeit in Deutschland seit der Wende zum 20. Jahrhundert beschäftigten zum Schreckensszenario einer den NS-Staat bedrohenden homosexuellen Seuche, die die Nationalsozialisten glaubten mit einer gnadenlosen Verfolgungspolitik „ausmerzen" zu müssen. Gezeigt wird, in welchem Zusammenhang eine „innere" Beziehung zwischen deutschem Staat und männlicher Homosexualität erstmalig öffentlich breit debattiert wurde, in welchen Kontexten sich diese Problematisierung als überaus funktional für unterschiedliche politische Strategien erwies und warum ein solcher Zusammenhang für die Zeitgenossen zunehmend evident wurde. Elemente eines eben erst etablierten medizinisch-psychiatrischen Diskurses wurden hier in die politischen Debatten transferiert und mit einer normativen politischen Stoßrichtung versehen. In diesen Debatten, aber auch in Romanen Glossen, Polemiken und Karikaturen stößt man im Wilhelminischen Kaiserreich, aber auch später während der Jahre der Weimarer Republik immer wieder auf eine eigentümliche diskursive Verknüp16
Zur homophoben Front des Jahres 1934 vgl. den Aufsatz von Klaus Mann: Homosexualität und Faschismus, in: Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik Kunst Wirtschaft, 1934, S. 130-137. Prag 17 Himmler, Heinrich: Homosexualität (1937), in: Smith, Bradley F. (Hrsg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, Frankfurt/M. 1974, S. 93104. -
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fung. Es ist die Vorstellung der Staat allen voran der deutsche könne in seinen verborgenen Bewegungsgesetzen durch mannmännliche homoerotische Bindungen geprägt und sei durch diese heimliche Wirkkraft existenziell gefährdet. Was vor allem konservativ-völkische Kreise als virulente Gefahr männlicher Politik bannen wollten und vehement bekämpften, galt anderen wie dem damals überaus populären Männerbundtheoretiker Hans Blüher als -
Kennzeichen Jener
von
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Männerpolitik.18
Zusammenhang von (Homo-)Sexualität und Politik wurde von den Zeitgenossen als eine Tiefenstruktur verstanden, die, wenn auch auf den ersten Blick verborgen, gleichwohl das gesellschaftliche Geschehen wesenhaft präge. Diese Idee, bei der man staatsbürgerliche Qualitäten, Männlichkeit und Sexualpraktiken miteinander in Beziehung setzte, wurde in mehreren großen Kampagnen strategisch äußerst effektvoll eingesetzt. In den Auseinandersetzungen um männliche Homosexualität kämpften, wie ich im Folgenden zeigen möchte, keineswegs Gegner einer Emanzipation Homosexueller
gegen ihre Feinde. Es zeichnen sich vielmehr diskursive Muster ab, die die Kontrahenten der Auseinandersetzungen teilten, die aus unterschiedlichen Motiven ständig neu aktualisiert wurden und nicht zuletzt durch die Wiederholung in verschiedenen Kontexten an Plausibilität gewannen. Ursprünglich im Kontext einer erfolgreichen Diffamierung politischer Gegner in Szene gesetzt, wurde diese Verknüpfung in der Folgezeit in unterschiedlichen strategischen Kontexten variiert, konträr bewertet und thematisch verengt. Seit Beginn der 1930er Jahre wurde, wie ich weiterhin zeige, vor allem der NS-Bewegung eine Affinität zu Homosexualität polemisch unterstellt, ein Vorwurf, der führende Nationalsozialisten wie z.B. Goebbels oder Himmler durchaus beunruhigte. Diese Furcht forcierte, so meine These, die Verfolgung mannmännlicher Sexualbeziehungen im Nationalsozialismus.
Das „Räthsel der mannmännlichen Liebe"1 Der Begriff „Homosexualität" ist eine Wortschöpfung für sexuelle Kontakte zwischen Menschen gleichen Geschlechts, der im 19. Jahrhunderts Eingang in die deutsche Sprache fand. Der Schriftsteller Karl Maria Kertbeny hob ihn 18
Vgl. Fout, John C: Sexual Politics in Wilhelmime Germany. The Male Gender Crises, Moral purity, and Homophobia, in: Journal of the History of Sexuality (JHS) 2 (1992), Nr. 3, S. 388—421; sowie Bruns, Claudia: Politik des Eros. Der Männerbund als Wissens-, Macht- und Subjektstrategie vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus, Diss., Hamburg 2004. 19 Zu den folgenden Überlegungen vgl.: zur Nieden, Susanne: Homophobie und Staatsräson, in: dies. (Hrsg.): Homosexualität und Staatsräson. „Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe" war der Titel der zwölfbändigen Schrift des Juristen Karl Heinrich Ulrichs (Leipzig 1898).
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1869 in der Debatte um den Strafgesetzentwurf des Norddeutschen Bundes gegen das preußische Sexualstrafrecht aus der Taufe, um einen Straftatbestand zu benennen, der in der bisherigen Rechtssprechung als „widernatürliche Unzucht" zwischen Männern bezeichnet wurde und dem Straftatbestand der „Sodomie" zugeordnet war. Kaum jemand konnte mit dem Wort etwas anfangen, das manchem wegen seiner griechisch-lateinischen Sprachwurzel kryptisch und unschön erschien. Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld berichtete noch 1908, dass einem italienischen Journalisten, der über den Moltke-Eulenburg-Skandal, dem größten Sexualskandal des Kaiserreichs schrieb, die Wortschöpfung so fremd war, das er „Homosexualität", in Verkennung der griechisch-lateinischen Herkunft, statt mit „omosessualitá" als der sexualisierte Mensch/Mann übersetzte.20 Betrof„uomo sessualis" die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts für die Straffreiheit mannmännfene, licher Sexualkontakte stark machten, vermieden die direkte Thematisierung praktizierter Sexualität aus guten Gründen und sprachen nicht zuletzt wegen möglicher strafrechtlicher Konsequenzen von „Uranismus", „Veranlagung", ,J£ros", „drittem Geschlecht", „Lieblingminne" und der „namenlosen Liebe".21 Erst mit der Wende zum 20. Jahrhundert wurde der Neologismus in der Wissenschaft aufgegriffen.22 Kaum ins Visier der Wissenschaft geraten, gründeten besorgte Sittenapostel und Rassehygieniker seit der Jahrhundertwende Vereine gegen eine bedrohliche, scheinbar immer mehr um sich greifende „Unsitte". Katholische und protestantische Geistliche predigten wider die Sünde, die nun auch als Krankheit galt. Alarmiert registrierten die für Sittlichkeitsdelikte zuständigen Kriminalbeamten, dass die Zahl der Strichjungen in den Großstädten zunahm und damit ein Milieu wuchs, in dem Beischlafdiebstahl, und Erpressungen an der Tagesordnung waren. Erpresser versuchten das gefährliche Wissen um homosexuelle Beziehungen zahlender Opfer zu versilbern. „Sex and crime" war das große Thema der eben erst entstehenden Sensationspresse, die das Publikum gerne kaufte. Die Freier der Stricher oder Männer, die sich in einen anderen Mann verliebt hatten, begaben sich bestürzt über ihre „Andersartigkeit" oder verstört von den Konflikten mit Familie, Polizei und Justiz oft freiwillig in ärztliche Behandlung. Nicht wenige, die Opfer von Erpressun-
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20
Vgl. Hirschfeld, Magnus: Sexualpsychologie und Volkspsychologie. Eine Epikritische zum Harden-Prozess, Leipzig 1908. 21 Vgl. Keilson-Lauritz, Marita: Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene, Berlin 1997. 22 Der bekannte Psychiater Richard von Krafft-Ebing verwendete in den 1890er Jahren in seinen zahlreichen Publikationen zum Thema in der Regel den viel unbestimmteren Begriff „konträre Sexualempfindung". Wichtig für die Einführung des Begriffs war wohl die von Magnus Hirschfeld 1901 anonym herausgegebene Broschüre: Was soll das Volk vom dritten Geschlecht wissen? Eine Aufklärungsschrift über gleichgeschlechtlich 0iomosexuell) empfindende Menschen, Leipzig 1901. Studie
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gen wurden, denen Rufmord, Enthüllungen der Presse, gesellschaftliche Ächtung oder Strafverfolgung drohte, begingen Selbstmord, andere verließen
Deutschland.23
Psychiater wie Richard von Krafft-Ebing und später Albert Moll oder Magnus Hirschfeld, der Vater der eben erst entstehenden Sexualwissenschaft, berieten ihre verstörte Klientel und schrieben gerichtsmedizinische Gutachten, wenn es zu juristischen Auseinandersetzungen kam. Besonders Hirschfeld stritt um Milde und Straffreiheit gegenüber denen, die er als „drittes
Geschlecht" bezeichnete und nach Grad der „sexuellen Zwischenstufen" in seinen Publikationen sortierte.24 Er gründete schon 1897 das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, das für die Rechte „homosexuell Veranlagter" stritt. Andere Ärzte rieten ihren Patienten zur Abstinenz, Brom oder wie Sigmund Freud zur Psychoanalyse. Der Chirurg Eugen Steinach, der zu Beginn der 20er Jahre mit seinen Operationen Aufsehen erregte, plädierte zur Heilung für die Einpflanzung „heterosexueller" Hoden. Der Mediziner Gustav Boeters kämpfte seit Ende der 20er Jahre für juristische Freigabe freiwilliger Kastrationen zur „Heilung" Homosexueller.25 Anwälte stritten vor Gericht mit Staatsanwaltschaft und Richtern um die Höhe des Strafmaßes. Gefängnisdirektoren sorgten sich, die nach § 175 Verurteilten könnten in die Versuchung geraten, in den Männerzellen ihrem strafbaren Tun nun erst recht nachzugehen. Architekten planten Kontrollfenster für die Umkleidekabinen der Männer in städtischen Badeanstalten. Zahlreiche Experten waren so mit dem Problem Homosexualität befasst.26 Im Bildungsbürgertum vor allem in der Jugendbewegung entdeckte man mit den damals überaus populären Schriften Hans Blühers und jenen des Reformpädagogen Gustav Weyneken die große Macht des „Eros" neu, der so die beiden Theoretiker unter Berufung auf die griechische Jünglingsliebe nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Männer an Männer zu binden vermochte.27 „Homoerotik" wurde zu einem Modewort unter Gebildeten. Eltern sorgten sich seitdem vermehrt um ihre Söhne, Pädagogen um ihre schwarzen Schafe. Zärtlichkeiten zwischen Mädchen galten als vergleichsweise harmlos. Sexualität war das Thema der jungen Generation. Selbst Teile -
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23
Sehr eindrücklich beschrieb 1901 Magnus Hirschfeld die Berliner Subkultur in: Berlins Drittes Geschlecht, das von Manfred Herzer 1991 (Berlin) als Reprint herausgegeben wurde.
24
Hirschfeld, Magnus: Die objektive Diagnose der Homosexualität, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 1, 1899, S. 4-35. 25 Vgl. zu Boeters und Steinach Florian Mildenberger: in der Richtung der Homosexualität verdorben". Psychiater, Kriminalpsychologen und Gerichtsmediziner über männliche Homosexualität 1850-1970, Hamburg 2002, S. 97-121. 26 Vgl. ebd., S. 135-148. 27 Vgl. Bruns, Claudia: Einleitung, in: Politik des Eros, S. 6-27; sowie dies.: Der homosexuelle Staatsfreund. Von der Konstruktion des erotischen Männerbunds bei Hans Blüher, in: zur Nieden: Homosexualität und Staatsräson. „...
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der Arbeiterbewegung, allen voran die Arbeiterjugend, glaubte mit Wilhelm Reich seit Beginn der 30er Jahre einen Zusammenhang zwischen sexueller Befreiung und Klassenkampf erkennen zu können. Man stritt allerdings darum, ob Homosexualität nicht Ausdruck bürgerlicher Dekadenz sei.28 Die Macht des Eros der Sexualität, vor allem der Homosexualität beschäftigte seit der Jahrhundertwende Kaiser und Kutscher, Arzt und Patient, Junge und Alte, Linke wie Rechte, Experten aller Art, ob vor Gericht oder am Stammtisch, Adelige und Proleten, feinsinnige Literaten und Skandaljournalisten. Warum aber schien den Zeitgenossen .Jrlomosexualität" so rätselhaft, so bedrohlich, so überaus bedeutsam? Seit dem 18. Jahrhundert wurde den unsichtbaren sexuellen Trieben eine zentrale Rolle für den sozialen Raum zugeschrieben. Im Kontext von Charles Darwins Evolutionstheorie, wurde es im 19. Jahrhundert wissenschaftlich attraktiv, auch das gesellschaftliche Verhalten biologisch zu deuten. Insbesondere die menschliche Sexualität diente nun als zentrales Deutungsmuster, um gesellschaftliche Phänomene und spätestens mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds auch die individuelle Entwicklung des Menschen zu erklären. Zeitgleich wurden seit dem 18. Jahrhundert die Vorstellungen von den Geschlechtern neu konturiert.29 Die hier entwickelte polare Geschlechterphilosophie war ein umfassendes Zuweisungssystem, das noch weit über das 19. Jahrhundert hinaus erstaunlich populär blieb. Der Gegensatz von Mann und Frau galt, so Ute Planert, als die grundlegendste aller Dichotomien: ,Männlich' versus ,weiblich' bildete das Raster, „in das alle Phänomene der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eingeordnet wurden".30 Mann und Frau begriff man als zwei entgegengesetzte Geschlechtswesen, die die Natur füreinander bestimmt und auf Ergänzung angelegt hatte. Diese in der Literatur der Klassik und der Romantik immer wieder gestaltete Idee verallgemeinerte den in der Sexualität angelegten Gattungszweck zur psychischen Verschmelzung in der Seelengemeinschaft. Abgeleitet aus ihrer Geschlechtszugehörigkeit wurden Männern und Frauen unterschiedliche „Geschlechtscharaktere" und dementsprechend verschiedene Vor einem solchen gedanklichen Hingesellschaftliche Orte war Sexualität oder Liebe nicht einfach „süngleichgeschlechtliche tergrund sondern „widernatürlich", geradezu widersinnig und kaum zu begreifen. dig", -
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zugewiesen.31
28
Vgl. hierzu Hekma, Gert/Oosterhuis, Hany/Steakley, James: Leftist Sexual Politics and Homosexuality. A Historical Overview, in: Journal of Homosexuality 29 (1995) Nr. 2/3, S. 1^*0.
29
Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere" Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1977, S. 363-393. 30 Planert, Ute: Reaktionäre Modernisten. Zum Verhältnis von Antisemitismus und Antifeminismus in der völkischen Bewegung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung (2002), Nr. 11, S. 31-51, hier S. 39. 1 Hausen: Polarisierung, S. 377. -
Der homosexuelle Staatsfeind
Diese
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Rätselhaftigkeit rief seit Mitte
des 19. Jahrhundert vermehrt Wissenallem Mediziner auf den Plan, die versuchten, dem Phänomen mit Kategorisierungen wie „Uranismus", ,konträre Sexualempfindung", „sexuelle Inversion" und schließlich dem Begriff „Homosexualität" eine naturwissenschaftliche Deutung zu geben. Im Kontext dieser Debatten etablierte sich auch ein neues Bild des Homosexuellen. Michel Foucault hat die Verwandlung so zusammengefasst: Während die „Sodomie" zuvor eine verbotene Handlung war, deren Urheber nur als „Rechtssubjekt" in Betracht kam, sei der moderne Homosexuelle zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform und eine Physiologie besitzt. „Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben."32 Gleichgeschlechtliche Akte wurden von einer „Gewohnheitssünde" zur „Sondernatur". Die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie der Homosexualität, merkte Foucault an, habe sich an dem Tag konstituiert, an dem man sie nicht mehr einfach als spezielle Form sexueller Beziehungen, sondern als „innerliche Verkehrung" des „Männlichen" und des „Weiblichen" charakterisiert habe. Gleichgeschlechtlichkeit sei von einer Sexualpraktik zu einer Art „innerer Androgynie", einem „seelischen Hermaphrodismus [...] herabgedrückt" worden. Er schließt diesen Gedanken mit seinem bekannten Diktum: „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies."33 Bereits der bekannte Wiener Psychiater Richard von Krafft-Ebing hatte in seinem 1886 erschienenen, viel beachteten Standardwerk Psychopathia sexualis, das in Fortsetzungsbänden weitergeführt und in zahlreichen Auflagen verbreitet wurde, Theorien über normales Sexualverhalten mit männlichen und weiblichen „Geschlechtscharakteren" sowie eine explizite Verknüpfung von Sexualität und gesellschaftlicher Entwicklung hergestellt und einen direkten Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Krisenerscheinungen mit Degenerationsphänomenen angenommen. Er deutete männliche Homosexualität als konstitutionsbiologische Verweiblichung und weibliche Gleichgeschlechtlichkeit als Zeichen von Vermännlichung. Er stellte vor allem die mannmännliche Sexualität in einen Zusammenhang mit einem drohenden gesellschaftlichen Niedergang, moralischen Verfall und der Zunahme von Effeminisierung und Dekadenz.34 Der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld wiederum, der Homosexualität als konstitionsbiologischen Eigenart von Menschen, die er einem „Drit-
schaftler,
32
vor
Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Der Wille
zum
Wissen, Frankfurt/M. 1983,
S. 58. 33 Ebd. 34
Vgl. Oosterhuis, Harry: Stepchildren of Nature. Krafft-Ebing, Psychiatry and the Making Identity, Chicago/London 2000.
of Sexual
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Geschlecht" zurechnete, erklärte, forderte gesellschaftliche Tolerierung dieser „angeborenen" Normabweichung, die den Betroffenen, bei denen es sich oft „hochwertige" Menschen handele, nicht als Schuld zuzurechnen sei.35 Dem widersprach der renommierte Psychiater und leidenschaftliche Vorkämpfer der Rassenhygiene Ernst Rüdin, der später die ersten massenpolitischen" Maßnahmen der Nationalsozialisten entscheidend prägen sollte.36 Er schrieb in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 1904 den Grundsatzartikel Zur Rolle der Homosexuellen im Lebensprozeß der Rasse. Er betonte, in der übergroßen Zahl der Fälle seien mit Homosexualität stets krankhafte Symptome und Defekte verknüpft, „die es rechtfertigen, von ausgesprochener konstitutioneller Minderwertigkeit" zu sprechen.37 Homosexualität, so Ernst Rüdin in scharfer Abgrenzung zu Hirschfeld, könne „vom Standpunkt der Rassenerhaltung aus nie und nimmer als eine normale Variante bezeichnet werden, geschweige denn als eine solche, an deren Fortpflanzung die Rasse ein Interesse" habe.38 „Eingefleischte Homosexuelle", so Rüdin seien „Entartete von Hause aus".39 ten
„Kamarilla der Kinäden"4 oder „homoerotischer Männerbund" Homosexualität wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Politikum, das im Wilhelminischen Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit über wissenschaftliche Debatten hinaus eine breite Öffentlichkeit außerordentlich stark beschäftigte. Im Kaiserreich wurde seit der Jahrhundertwende zunehmend häufiger in wissenschaftlichen Abhandlungen und politischen Statements die Gefahr einer „Entmännlichung" der Politik und einer ,Eeminisierung" des Staates beschworen. Zu dem Zeitpunkt als es Frauen in Deutschland allmählich erfolgreich gelang, in jene Sphären des öffentlichen Lebens vorzudringen, aus der man sie zuvor so kategorisch ausgeschlossen hatte, mehrten sich die Stimmen, die laut und vernehmbar zu begründen versuchten, warum der Staat aus prinzipiellen Gründen Männern vorbehalten bleiben müsse. Theorien, die den „Männerbund" zum Kern des Staates und männliche Vorherrschaft zur anthropologischen Konstante erklär35 Vgl. Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen, Frankfurt/M. 1992. 36 Vgl. Weber, Matthias M.: Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie, Berlin/Heidelberg u.a. 1993. 37 Rüdin, Ernst: Zur Rolle der Homosexuellen im Lebensprozeß der Rasse, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 1 (1904), S. 99-109, hier S. 103f. 38 Ebd., S. 104. 39 Zit. n. Weber: Rüdin, S. 58. 40 Kinäde ist eine abfällige aus dem lateinischen abgeleitete Bezeichnung für Strichjungen und Lustknaben, Homosexuelle.
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ten, erfreuten sich großer Beliebtheit.41 Misogyne Publikationen, wie der Bestseller des Hirnforschers und Psychiaters Paul Julius Möbius Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900) erreichten ein breites Publikum. Antifeministische Organisationen, wie der 1912 gegründete ,JJeutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation" hatten großen Zulauf.42 In dem Maß wie Frauen ein politisches Mitspracherecht einforderten, wurde „männlich" zu einem Attribut, das politisches Handeln in besonderer Weise auszeichnen sollte. Jene Debatten um Politik und Männlichkeit wurden besonders intensiv in den Diskussionen um männliche Homosexualität ausgefochten. Diskurstheoretische und historische Analysen, wie die von Claudia Bruns, Isabell Hull43 oder Eve Kosofsky-Sedgwick zeigen, dass Deutschland seit der Wende zum 20. Jahrhundert stärker als jede andere Nation mit immer wieder neu auftauchenden Diskursen über Homosexualität beschäftigt war.44 Alle Konzepte, so Kosofsky-Sedgwick, die darauf zielten, gleichgeschlechtliches Begehren zu erklären, wurden in dieser Zeit zuerst in Deutschland entwickelt und in Umlauf gebracht.45 Insbesondere die öffentliche Diskussion zu Fragen der Homosexualität sei hier breiter und schärfer geführt worden, als sonst in der modernen Welt.46 Im Zentrum der Auseinandersetzungen standen nicht von ungefähr gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Männern. Weibliche Homosexualität wurde demgegenüber vergleichsweise selten zum Thema.
In den Debatten über Sexualmoral und sexuelle Laster und vor allem über Homosexualität ging es stets auch um Fragen nach dem Verhältnis der Geschlechter. Die Wilhelminische Kultur und Gesellschaft, so John Fout, der über die Sittlichkeitsbewegung im Kaiserreich geforscht hat, habe in Fragen Das des Geschlechterkampfs in Europa „an vorderster Front" L. Mosse betonte, in einem Ansteigen von Homophobie stand, wie George direkten Zusammenhang mit einer wachsenden Beunruhigung über die mögliche Auflösung einer klar definierten männlichen Identität, über die erodie-
gestanden.47
renden Grenzen zwischen den Geschlechtern, die
41 42
Vgl. Bruns: Politik des Eros, S. 45-55.
Effeminierung
der Politik
Vgl. Planen, Ute: Antifeminismus im Deutschen Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998. 43 Bruns: Politik des Eros, S. 45-55; Hull, Isabel V.: Kaiser Wilhelm II. und der „Liebenberg-Kreis", in: Lautmann, Rüdiger/Taeger, Angela (Hrsg.): Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, Berlin 1992, S. 81-118. 44 Eve: Epistomology of the Closet, Berkeley 1990. Kosofsky-Sedgwick, 45 Eve: Tendencies, Durham 1993, S. 66. Kosofsky-Sedgwick, 46 Ebd., S. 388. 47 Fout, John C: Sexual Politics in Wilhelmime Germany. The Male Gender Crises, Moral purity, and Homophobia, in: JHS 2 (1992), Nr. 3, S. 388-421, hier S. 393.
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und den drohenden Verlust männlicher Privilegien. Tatsächlich durchzieht die Sorge vor einer „Verweiblichung" der Politik jene Debatten, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert um die Frage von Homosexualität und Staatlichkeit kreisten. Als der Schriftsteller Oskar Wilde 1895 in England nach dem Criminal Law Amendment Act, der gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Männer unter Strafe stellte, zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe mit Zwangsarbeit verurteilt wurde, berichtete auch die deutsche Presse ausgiebig von den Aufsehen erregenden 1902 sorgte der Fall des Großindustriellen Alfred Krupp erneut für Schlagzeilen. Die italienischen Behörden hatten Krupp sexueller Ausschweifungen mit Knaben und Männern in seinem Feriendomizil auf der Insel Capri verdächtigt und des Landes verwiesen. Der sozialdemokratische Vorwärts machte den Vorfall publik. Krupp nahm sich noch im selben Jahr das Leben. Zum größten Sexualskandal des Wilhelminischen Kaiserreichs, der die Öffentlichkeit ab 1906 über Jahre beschäftigte, wuchs sich die so genannte Eulenburg-Affäre aus.50 Der Diplomat und enge Berater Wilhelm II., Fürst Phillip zu Eulenburg und Hertefeld, sowie einige seiner Freunde unter anderen der Berliner Polizeikommandant Graf Kuno von Moltke und Außenminister Bernhard von Bülow waren in eine Serie von Strafprozessen verwickelt, die um das Thema Homosexualität kreisten. Ausgelöst hatte diesen Skandal der Publizist und Herausgeber der Wochenzeitschrift Die Zukunft Maximilian Harden, der bekannt dafür war, Schwachstellen des Wilhelminischen Systems aufzudecken. Harden schuf jenes Schreckgespenst einer für den deutschen Staat gefährlichen homosexuellen Verschwörung, das die Öffentlichkeit fortan beschäftigen sollte. In seinem Kampf gegen das persönliche Regiment Wilhelm IL, als dessen Verkörperung er Eulenburg einstufte, erklärte er diesen zum „Staatsfeind Nr. 1", der „vernichtet" werden müsse.51 Auslöser war die so genannte „Marokko-Krise", die 1906 auf der Konferenz in Algercira nach Hardens Urteil zu einem für Deutschland unrühmlichen Abschluss gekommen war. Harden unterstellte, Eulenburg habe Wil-
Ereignissen.49
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48
In Zeiten der Unsicherheit, so Mosse, werde den starken Demarkationslinien zwischen den Geschlechtern großes Gewicht beigemessen; „sie zu verwischen schien das Schreckgespenst der Anarchie heraufzubeschwören. Homosexualität [...] war besonders bedrohlich [...]." Mosse, George L.: Das Büd des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt/M. 1997, S. 92 und S. 133. 49 Raddatz, Fritz J.: „Mein Leben zerrinnt im Sande". Oscar Wilde vor seinen Sittenrichtern, in: Schultz, Uwe (Hrsg.): Große Prozesse. Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, München 1996, S. 261-268. 50 Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: Homosexualität, aristokratische Kultur und Weltpolitik. Die Herausforderung des wilhelminischen Establishments durch Maximilian Harden 19061908, in: Schultz: Große Prozesse, S. 179-288; vgl. auch Röhl, John C. G.: Fürst Phillip zu Zu einem Lebensbild, in: LautmannZTaeger: Männerliebe, S. 119-140. Eulenburg. 51 Sombart, Nicolaus: Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1997, S. 161.
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Der homosexuelle Staatsfeind
heim II. zu einer friedlichen und für Deutschland „unehrenhaften" Lösung des Konflikt bewegt und machte in diesem Zusammenhang in mehreren Artikeln dunkle Andeutungen über Eulenburgs und Moltkes homosexuelle Vorlieben und zielte damit auf einen Zusammenhang zwischen Effeminiertheit und unkriegerischer passiver Haltung. Derart „schwärmende Friedensstifter" bevorzugten eine zu „süßliche und weichliche Politik". Anzüglich kommentierte Harden: „Die träumen nicht Weltbrände, die haben's schon warm ge52 nug." Die Artikelserie wurde Wilhelm II. vorgelegt und Eulenburg müsste sich aus der Politik zurückziehen. Moltke erbat seine Entlassung als Berliner Stadtkommandant und strengte eine Beleidigungsklage an, um den ehrenrührigen Vorwurf der Homosexualität zu entkräften. Ausgerechnet Magnus Hirschfeld stützte die Kampagne von Maximilian Harden, indem er in dem Beleidigungsprozess als Gerichtsgutachter bei Moltke, dem engen Freund Eulenburgs, eine „unbewußte homosexuelle Veranlagung" diagnostizierte.53 Das Gerichtsverfahren nutzte wiederum Harden als Forum für seine Verschwörungstheorie und griff den von Bismarck geprägten Begriff der „Kamarilla der Kinäden"54 auf. Sexualität, so Harden im Rückblick mit Rekurs auf den medizinisch-sexualwissenschaftlichen Diskurs, sei „die stärkste Wurzel" des „Wesens" der Geschlechter, die .jeder Lebensregung, dem Thun und dem Sinnen, dem Willen und der Vorstellung, Form und Farbe" gebe. ,Jüine Menschengruppe von normwidrigem Geschlechtsempfinden" dürfe sich daher nicht „auf dem Gipfel des Staatsgebirges fesmisten".55 Im Zuge der Harden'schen Kampagne kam es zu einer Fülle von Beleidigungs- und Disziplinarverfahren, Ehrengerichten, Entlassungen, Rücktritten, Duellforderungen und Selbstmorden in den höchsten Kreisen, in der Armee und am Hof. Darüber berichtete Die Zukunft wiederum laufend. „Jede neue Nummer", schreibt Nicolas Sombart, „brachte die Fortsetzung der Seifenoper. [...] Der Plot war die Aufdeckung einer Verschwörung, die das Vaterland in Gefahr brachte."56 Harden war es gelungen, Homophobie, nationales Interesse und eine Debatte über Politikstile und Männlichkeit öffentlichkeitswirksam miteinander zu verknüpfen. 52
Harden, Maximilian: Wilhelm der Friedliche, in: Die Zukunft, Bd. 59, 6.4.1907, S. 1-12. Vgl. Haeberle, Erwin J.: Justitias zweischneidiges Schwert Magnus Hirschfeld als Gutachter in der Eulenburg-Affäre, in: Beier, Klaus M. (Hrsg.): Sexualität zwischen Medizin und Recht, Stuttgart/Jena 1991, S. 5-20. 54 Paul Liman, ein Kritiker Wilhelm II., wurde als Gutachter zu einem der Prozesse hinzugezogen und gab zu Protokoll, Bismarck habe ihm folgendes gesagt: „Die Hintermänner im doppelten Sinn, auch im physischen siehe Eulenburg -, sitzen in Liebenberg. Die Leute umgeben den Kaiser und schließen ihn ab (...) Diese männlichen Kinäden treiben alles von ihm fort, was ihnen paßt." Zit. n. Sombart: Wilhelm IL, S. 187. 55 Harden, Maximilian: Fürst Eulenburg, in: ders.: Köpfe, Bd. 3, Berlin 1923, S. 169-283, 53
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hier S. 192. 56 Sombart: Wilhelm II., S. 178.
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Der Skandal fand nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland ein breites Medienecho, wurde zum Thema unzähliger Artikel, Glossen, KarikaMit der Affäre habe eine „Masturen, anzüglicher Witze und sensuggestion" und eine „Verfolgungsepidemie" gegen homosexuelle Männer eingesetzt, schrieb Magnus Hirschfeld 1908. Erst durch die Prozesse sei die 1869 eingeführte wissenschaftliche Wortschöpfung „Homosexualität" Für die homosexuelle einer breiteren Öffentlichkeit geläufig Emanzipationsbewegung bedeuteten die Skandale einen spürbaren Rückschlag. Mitgliederzahlen und Spenden waren rückläufig und Hirschfeld wurde angefeindet wie nie zuvor. In Folge formierten sich jene gesellschaftlichen Kräfte, die einer vehementen Bekämpfung männlicher Homosexualität das Wort redeten. Eindrücklich zeigte sich dies in einem Entwurf zur Novellierung des § 175 StGB, der dem Reichstag 1909 vorgelegt wurde. Gefordert wurde hier nicht nur die Beibehaltung, sondern die Verschärfung der einschlägigen Strafrechtsbestimmungen. Das Gesetzesvorhaben kam im Kaiserreich zwar nicht zur Abstimmung, ist für die Politisierung der Debatte jedoch sehr kennzeichnend. In Begründung hieß es, dass man die in den letzten Jahren laut gewordenen Stimmen für eine Streichung des Paragrafen, energisch bekämpfen müsse. „Die Tatbestände des § 175 entsprechen nicht nur auch jetzt noch der gesunden Volksanschauung, sondern sie dienen auch vor allem dem Interesse der Allgemeinheit, dem unmittelbaren Staatsinteresse. Die widernatürliche Unzucht zwischen Männern ist eine Gefahr für den Staat, da sie geeignet ist, die Männer in ihrem Charakter und in ihrer Existenz auf das schwerste zu schädigen, das gesunde Familienleben zu zerrütten und die männliche Jugend zu verderben [...]. Es liegt also im dringenden Interesse des Staates, dem Umsichgreifen dieser Art der Unzucht auch weiterhin energisch entgegenzutreten und auch dem Bestreben, sie als eine berücksichtigenswerte bloße physische und psychische Anomalie hinzustellen, durch Aufrechterhaltung des Strafverbotes Grenzen zu setzen."59 Homosexualität wäre eine „interne Angelegenheit der psychiatrischen Wissenschaft" geblieben, kommentierte Hans Blüher, der die EulenburgAffare als Heranwachsender erlebt hatte, wenn die Sache nicht auf einmal ein politisches Gesicht gewonnen hätte. „Alle Welt" habe nach den Skandalen über „Homosexualität" geredet, „die Konversationslexika traten in Tätigkeit [...]. Überfallartig sexualisierte sich die Phantasie der Bürgerwelt." Die Öf-
Spottlieder.57
geworden.58
57
Zur Reaktionen im Ausland vgl. Steakley, James D.: Iconography of a Skandal. Political Cartoons and the Eulenburg Affair in Wilhelmin Germany, in: Duberman, Martin (Hrsg.): Hidden from History. Reclaiming the Gay and Lesbian Past, London 1991, S. 233-263. 58 Hirschfeld: Sexualpsychologie und Volkspsychologie. 59 Zit. n. Stümke, Hans Georg: Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte, München 1989, S. 49f.
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fentlichkeit habe sich, „in einem sexuellen Erregungszustand" befunden, „der durchweg von dem Begriff und dem Wort der Homosexualität geprägt war".60 Bezeichnend für diese thematische Aufladung und Politisierung war
der große Erfolg des jungen Autors Blüher mit seiner 1912 veröffentlichten Schrift Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatte um männliche Homosexualität, aber in dem Versuch einer radikalen Umwertung entwickelte Blüher, der selbst der Jugendbewegung angehörte, seine Theorie von der Bedeutung der erotischen mannmännlichen bzw. mannjugendlichen Bindung im Wandervogel. Er verallgemeinerte diese Thesen in seiner 1919 erschienenen Publikation Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, in der er die erotische Bindung zwischen Männern zum inneren Halt und einer Art Grundgesetz des von ihm favorisierten Männerstaates erklärte. Die Rolle der Erotik stieß bei seiner Publikation auf breite Resonanz. Thomas Mann, um ein Beispiel zu nennen, gehörte zu jenen Intellektuellen, für dessen literarisches Werk die Auseinandersetzung mit Homosexualität zentral war, wie seine 1912 erschienene Erzählung Tod in Venedig deutlich vor Augen führte. Darüber hinaus suchte Thomas Mann jedoch das Ästhetische in seinen Überlegungen immer wieder an das Politische zurück zu binden. Beeindruckt von Blühers Theorien schrieb er 1920 in einem Brief mit Bezug auf dessen Publikation „die Idee seiner ,Rolle der Erotik' [...] ist entschieden groß und tief germanisch".61 In seinen Essays wie z.B. Betrachtungen eines Unpolitischen übernahm Mann Teile der Blüher'schen Männerbundtheorien. 1922 bekannte er sich, nun allerdings in Abgrenzung zu Blüher, in seiner berühmt gewordenen Rede Von deutscher Republik zur Demokratie und versuchte in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Homoerotik, Nation und Politik nutzbar zu machen.62 Begriff Blüher die mannmännliche erotische Bindung als Movens des Männerstaates, so erklärten andere Theoretiker der völkischen und nationalen Rechten in Anlehnung und zugleich in deutlicher Umwertung Blühers eben jene Bindung zum möglichen Kern existentieller Bedrohung des Staates. Sie malten die Gefahr einer „homosexuellen Verseuchung" an die Wand, die die männliche Jugend und die angestrebte „Volksgemeinschaft" auf Äußerste gefährde. Tief ambivalent reagierte zum Beispiel der junge Heinrich Himmler, der während der NS-Zeit als Reichsführer SS und erster Mann des Reichssicherheitshauptamtes die Verfolgung homosexueller Männer ent-
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60
Blüher, Hans: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, Bd. 1: Der Typus Inversus, Stuttgart 1962, S. 17. 61 Zit. n. Wisskirchen, Hans: Republikanischer Eros. Zu Walt Whitmans und Hans Blühers Rolle in der politischen Publizistik Thomas Manns, in: Härie, Gerhard (Hrsg.): Heimsuchung und süßes Gift. Erotik und Poetik bei Thomas Mann, Frankfurt/M. 1992, S. 1740, hier S. 26. 62
Vgl.
Wisskirchen: ebd.
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scheidend vorantreiben sollte, auf die Blüher'schen Thesen. Nachdem er im 1922 die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft gelesen hatte, notierte er im Tagebuch, „der Mann ist sicher kolossal tief in die menschliche Erotik eingedrungen und hat sie psychologisch und philosophisch erfaßt. [...] Daß es eine männliche Gesellschaft geben muss, ist klar. Ob man es als Erotik bezeichnen kann, bezweifle ich. Auf jeden Fall ist die reine Päderastie eine Irrung einer degenerierten Individualität, die der Natur
Frühjahr
zuwidrig ist."63
Zur Debatte die Strafbarkeit der Homosexualität in der Weimarer Republik Vor dem Hintergrund dieser Politisierung der Debatten um Homosexualität wurde in den Diskussionen zur Strafreform der Streit um den § 175 StGB in der Weimarer Republik zu einem zentralen Thema. An der Haltung zum umstrittenen Paragrafen schieden sich wie schon zuvor im Kaiserreich das linke und rechte Parteienspektrum. Während die Rechtsparteien die Verschärfung des Paragrafen verlangten, forderte die KPD dessen ersatzlose Streichung. Die SPD, die schon im Kaiserreich für eine Reform des Paragrafen gekämpft hatte, und Teile der Liberalen traten für dessen grundlegende Novellierung ein. Allen voran die NSDAP forderte die rigorose Bekämpfung der Homosexualität und verknüpfte zugleich Homophobie mit antisemitischen und misogynen Stereotypen. So polemisierte der Völkische Beobachter 1930 in einer Gleichsetzung von Homosexualität, Sodomie und Inzest gegen die Empfehlung des Strafrechtsausschusses zur Liberalisierung des Paragrafen: „Aber glauben Sie ja nicht, daß wir Deutschen solche Gesetze auch nur einen Tag gelten lassen, wenn wir zur Macht gelangt sein werden. [...] Wir werden in ganz kurzer Zeit alle die Zugeständnisse, die Sie an die Widernatürlichkeit verweichlichter und entnervter .deutscher' Demokraten und rassebewußter jüdischer Demokraten gemacht haben, aus dem Gesetz entfernen und dem deutschen Volk ein urkräftiges deutsches Strafgesetzbuch geben. [...] Alle boshaften Triebe der Judenseele, den göttlichen Schöpfungsgedanken durch körperliche Beziehungen zu Tieren, Geschwistern und Gleichgeschlechtlichen zu durchkreuzen, werden wir in Kürze als das gesetzlich kennzeichnen, was sie sind, als ganz gemeine Abirrungen von Syriern, als allerschwerste mit Strang oder Ausweisung zu ahndende Verbrechen."64 63
Tagebucheintrag vom 4.3.1922, zit. 1900-1926, München 1979, S. 156.
n.
Smith, Bradley F. (Hrsg.): Heinrich Himmler
64
Anonymer Verfasser: Die Koalition zum Schutz der Päderastie. Von Kahl bis Hirschfeld, Landberg und Rosenfeld, in: Völkischer Beobachter, 2.8.1930 (Bayernausgabe), zit. n.
Herzer, Manfred: Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee
Vom Institut für Sexual-
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Der homosexuelle Staatsfeind
Nationalsozialistische Männer wurden auf ihrem Weg zur Macht nie müde zu betonen, dass sie Männlichkeit retten und klare Grenzen zwischen den Geschlechtern abstecken wollten. Geschlechtsidentität und Politik sind in programmatischen Äußerungen der Nationalsozialisten stets auffällig eng miteinander verknüpft.65 Aus dem „Männerbund der Schützengräben" sollte Deutschland wieder auferstehen. Der Kampf um die nationale Revolution und das „Dritte Reich'"sollte „von der Entmännlichung zu neuer Männlichkeit, von Zertrümmerung zur Wiedererlangung unseres deutschen Nationalismus" führen, so Goebbels in einer Rede im September 1929.66 Die Aufgabe ein „Drittes Reich" zu schaffen, sei „hart, nüchtern, brutal und männlich, verläuft zwischen Blut und Gefahr in jeder Stunde", formulierte ungefähr zeitgleich ein weniger bekannter SA-Mann.67 Als Garant der männlichen Geschlechtsidentität und des politischen Handelns galten der Ausschluss von Frauen und eine unbedingte Bereitschaft zur Gewalt. Offenbar schufen die Zumutungen des rapiden sozialen Wandels, der Veränderungen der sozialen Geschlechterrollen, der harten ökonomische Verteilungskämpfe der Nachkriegszeit, sowie die Gewalterfahrungen im Krieg, ein überaus günstiges Klima für diskursive Verknüpfungen von Männlichkeit, Gewalt und politischer Handlungsfähigkeit und für die Akzeptanz dieser brachialen Rettungs-
phantasien.
In einer Erklärung der NSDAP zur Reichstags wähl im Mai 1928 hieß es in einer bezeichnenden Verknüpfung von Sozialdarwinismus, drohender Verweiblichung und Untergang des Staates: „Alles, was unser Volk entmannt, zum Spielball seiner Feinde macht, lehnen wir ab, denn wir wissen, daß das Leben Kampf ist und Wahnsinn, zu denken, die Menschen lägen sich einst brüderlich in den Armen. Die Naturgeschichte lehrt uns anderes. Der Stärkere wird immer sich gegen den Schwächeren durchsetzen. Heute sind wir die Schwächeren, aber sehen wir zu, daß wir die Stärkeren werden! Das können wir nur, wenn wir Zucht üben. Wir verwerfen darum jede Unzucht, vor allem die mannmännliche Liebe, weil sie uns der letzten Möglichkeit beraubt, jemals unser Volk von den Sklavenketten zu befreien, unter denen es heute front."68 Durchaus symptomatisch wurde hier der Kampf gegen Homosexualität mit erfolgreicher Triebbeherrschung gleichgesetzt, die wiederum einzig
Wissenschaft bis zur Selbstauflösung, in: Goodbye to Berlin 100 Jahre Schwulenbewegung, hrsg. v. Schwulen Museum/Akademie der Künste, Berlin 1997, S. 83-87, hier S. 87. Vgl. Planen: Reaktionäre Modernisten, S. 40f. 66 Zit. n. Reichardt, Sven: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln u.a. 2002, S. 667. 67 Ebd. 68 Dieser Text 1943 war als Motto den „streng geheimen" „Sonderrichtlinien" der Hitlerjugend „Die Bekämpfung gleichgeschlechtlicher Verfehlungen im Rahmen der Jugenderziehung" vom 1. Juni 1943 vorangestellt. -
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eine wehrhafte männliche Identität, liches Überleben zu sichern schien.
Der Skandal
um
politische Handlungsfähigkeit und staat-
Ernst Röhm und seine Ermordung
Der Aufstieg Ernst Röhms zum Stabschef der SA, der große Skandal um seine Homosexualität und paradoxer Weise auch seine Ermordung gaben, so mein Argument, zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen politischen Konzepten Nahrung, die in der ersten Hälfte der 1930er Jahre unter deutschen Intellektuellen populär wurden. Auf der einen Seite feierte die schon fast vergessene Blüher'sche Vorstellung des virilen und zugleich homophilen Männerhelden, dem eine zentrale Rolle im männerbündisch organisierten Staat zukommen sollte, als Reaktion auf die Anwürfe der Linken eine Art Wiederauferstehung. Zum anderen erfreute sich die Theorie, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen männlicher Homosexualität und Faschismus gebe, immer größerer Beliebtheit. Beide Konzepte trugen auf ihre Weise zur Entstehung der Idee des homosexuellen Staatsfeind bei, die nach der Ermordung Ernst Röhms ab 1934 im nationalsozialistischen Deutschland für Strategen der Verfolgung handlungsleitend wurde. Die Aufregung um Blühers Thesen hatte sich im Verlauf der 1920er Jahre etwas gelegt. Aber seine Theorien hatte eine Generation jugendbewegter bürgerlicher Männer nachhaltig geprägt. Im Zusammenhang mit dem Skandal um die Homosexualität Ernst Röhms erinnerten sich viele, wie sich an zeitgenössischen Kommentaren zeigen lässt, an Blühers virilen männerliebenden Helden. Einer von ihnen war der junge Mediziner Karl Günter Heimsoth, der sich bereits in der 1924 veröffentlichten Doktorarbeit Heteround Homophilie auf Blüher bezogen hatte.70 Heimsoth, völkisch-national gesinnt und Aktivist der homosexuellen Emanzipationsbewegung kam im Sommer 1934 im Zusammenhang mit den Röhm-Morden ums Leben. Er hinterließ vor allem deshalb Spuren in der Geschichte, weil er 1928 Kontakt zu Röhm aufnahm, nicht zuletzt mit dem Ziel, den bekannten Nationalsozialisten mit Hans Blüher bekannt zu machen. Die Briefe, die Röhm Heimsoth im Anschluss an ihre Begegnung 1928 und 1929 schrieb und in denen er seine sexuelle Neigungen nicht verhehlte, standen ab 1931 im Mittelpunkt 69
Ausführlicher zum Röhmskandal vgl. zur Nieden, Susanne: Aufstieg und Fall des virilen Männerhelden Der Skandal um Ernst Röhm und seine Ermordung, in: dies. (Hrsg.): Homosexualität und Staatsräson. 70 Zu Heimsoth und Röhm, vgl. zur Nieden, Susanne: „...heroische Freundesliebe ist dem Judengeiste fremd". Antisemitismus und Maskulinismus, in: Kotowski, Elke-VexalSchoeps, Julius (Hrsg.): Magnus Hirschfeld. Ein Leben im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Berlin 2004, S. 329-342. -
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Der homosexuelle Staatsfeind
vor allem von der linken Presse auswurde. gestaltet Tatsächlich hinderte ihre kritische Stellung zum § 175 StGB die Linksparteien nicht daran, in der Kampagne gegen Ernst Röhm das gesamte Repertoire homophober Vorurteile für ihre politische Agitation zu nutzen. Ihren Höhepunkt erreichte die Kampagne als die Sozialdemokraten im Vorfeld der Reichspräsidentenwahl 1932 eine Broschüre mit den privaten Briefe Röhms an Heimsoth veröffentlichten, in denen sich Röhm recht unverhohlen zu seinen homosexuellen Neigungen bekannte. In Anbetracht dieses Eingeständnisses, erläuterte der Herausgeber Helmuth Klotz, handele ,jeder Vater und jede Mutter gewissenlos, wenn sie ihre Söhne auch nur einen Tag länger der Gefahr der moralischen und sittlichen Verlotterung" aussetze; „eine Bewegung, die auf so anfechtbaren moralischen Grundlagen" beruhe, sei „dem deutschen Wesen [...] fremd".71 In der Einleitung zur Broschüre brachte Klotz die Stoßrichtung der Kampagne auf den Punkt: Wenn ein „so moralisch haltloser Mensch mit einer einflussreichen Führerstellung betraut" werde, sei dies ein „Schlag gegen das preußische Führerprinzip". An das durch „Sittenverderbnis" herbeigeführte „Schicksal des alten Roms" erinnernd, prognostizierte er „die Vergiftung des Volkslebens" und „die Zersetzung der sittlichen und moralischen Kräfte", falls nicht alle „verantwortungsbewußten deutschen Staatsbürger" dagegen einschreiten. Bedeutungsvoll fügte er hinzu: „Der Fisch stinkt vom Kopf her. Bis tief in die Reihen der NSDAP reicht die Verderbnis".72 Wie nicht anders zu erwarten, griff die Presse die Informationen begierig auf. Die sozialdemokratische Welt am Montag veröffentlichte am 6. März Auszüge aus den Briefen, die Münchner Post am 9. März. Der Vorwärts und der Sozialdemokratische Pressedienst zitierten lange Passagen. Ob liberal, konservativ oder kommunistisch ausgerichtet, kaum eine Zeitung ließ es sich nehmen, mit dem sensationellen Thema Schlagzeilen zu machen.73 Geradezu einmütig waren alle, die die Kampagne gegen Röhm vorantrieben, darauf bedacht, Hitler und besser noch die gesamte NS-Bewegung mit homosexuellen Umtrieben in Zusammenhang zu bringen und eine allgemeine sittliche Gefährdung der Gesellschaft und vor allem der deutschen Jugend zu
der
so
genannten Röhm-Affäre, die
-
-
beschwören.74 71
Das Begleitschreiben von Helmuth Klotz findet sich im Dokumentenanhang der Broschüre: Die Memoiren des Stabschef Röhm, 1934, S. 195f. Zur Entstehungsgeschichte und Quellenwert des Textes vgl. Bennecke, Heinrich: Die Memoiren des Ernst Röhm. Ein Vergleich der verschiedenen Ausgaben und Auflagen, in: Politische Studien 14 (1963), S. 186-188. 72 Rundschreiben von Dr. Helmuth Klotz, zit. n. Jellonnek: Homosexuelle, S. 67. 7 Vgl. Jellonnek: ebd., 68f; sowie Zinn: Die soziale Konstruktion, S. 43—49. 74 Bereits im Sommer 1931 hatte die Bayerische Politische Polizei in ihrem Bericht bemerkt, es sei „überhaupt zu beachten, daß der persönliche Kampf gegen Röhm nicht die-
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Folgt man den zeitgenössischen Einschätzungen, so war Röhm nach den Vorgängen des Jahres 1932 politisch schwer angeschlagen. Adolf Hitler stellte sich jedoch vor seinen Stabschef und erklärte kurz vor dem zweiten Wahlgang für das Amt des Reichspräsidenten im April 1932: „Oberstleutnant Röhm bleibt mein Stabschef, jetzt und nach den Wahlen. An dieser Tatsache wird auch die schmutzigste und widerlichste Hetze, die vor Verfälschungen, Gesetzesverletzungen und Amtsmißbrauch nicht zurückschreckt und ihre gesetzesmäßige Sühne finden wird, nichts ändern."75 Mit diesem Machtwort kam der Röhm-Skandal innerhalb der NSDAP zu seinem vorläufigen Abschluss und sollte aber mit der Ermordung Röhms ein blutiges Nachspiel haben. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten setzten die Exilzeitschriften die Angriffe gegen Röhm fort. In der Kampagne zum Reichtagsbrand schreckte man auch vor Fälschungen nicht zurück, um einen Zusammenhang zwischen Röhm und dem als Brandstifter verhafteten Niederländer Marinus van der Lubbe zu konstruieren. Geschickt nutzte der linke Propagandist Willi Münzenberg die Gunst der Stunde und malte gekonnt das Gemälde des nationalsozialistischen Sittenverfalls und der homosexuellen Verschwörung weiter aus. Die frei erfundene Behauptung, van der Lubbe sei ein „Lustknabe Röhms", sollte die Theorie untermauern, dass der Brand von den Nationalsozialisten gelegt und van der Lubbe ihr Werkzeug gewesen sei.76 Um die These von der Anfälligkeit der NS-Bewegung für Homosexualität glaubhaft zu machen, bezogen linke Publizisten sich auf Wilhelm Reichs sexualwissenschaftlichen Theorien. Reich beschwor eine befreite ,Jieterosexualität" als Antrieb für revolutionäres Handeln, während er unterdrückte Sexualität ebenso wie männliche Homosexualität mit einer Anfälligkeit für autoritäre Strukturen gleichsetzte und als Zeichen unproletarischer, unmännlicher bürgerliche Dekadenz deutete.77 Im Rückgriff auf Versatzstücke aus so verschiedenen Erklärungsansätzen wie denen von Reich und Blüher entwickelte sich in mehreren Kampagnen allmählich das Stereotyp vom „homosexuellen Nazi" und erste Ansätze einer Faschismustheorie. In deren Mittelpunkt stand eine ursächliche Verknüpfung von homosexueller „Veranlagung" sondern der NSDAP insgesamt" gelte; Bericht aus den Akten der B.P.P. Ben-.: Aufin der NSDAP, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Rheindorf 263/427, S. 20-24, zit. n. Jellonnek: Homosexuelle, S. 65. 75 Von der Pressestelle herausgegebene Erklärung Hitlers vom 6.4.1932, in: Völkischer Beobachter, 8.4.1932; u.a. abgedruckt in: Bayerischer Kurier, Nr. 98. 7.4.1932 mit dem Titel, „Hitler hält zu Röhm". 76 Vgl. hierzu Rabinbach, Anson: van der Lubbe ein Lustknabe Röhms. Die politische Dramaturgie der Exilkampagne zum Reichstagsbrand, in: zur Nieden: Homosexualität und sem,
spaltungen
-
Staatsräson. 77
Vgl. Hekma, GenlOosterhuis, Hany/Steakley, James: Leftist Sexual Politics and Homosexuality. A Historical Overview, in: Journal of Homosexuality 29 (1995), 2/3, S. 1-40.
Der homosexuelle Staatsfeind
und von
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Nationalsozialismus, von sexueller und politischer Orientierung, sowie Homosexualität, „autoritärem Charakter", Sadismus und Gewalttätig-
keit.78
Die Morde des 30. Juni 1934 zur Abwehr eines angeblich von Röhm gePutsches dienten der NS-Führung zweifellos primär zur Sicherung der „totalen Macht" und Etablierung des „Führerstaates".79 Beachtenswert bleibt dennoch, wie dicht bei dieser Form der Machtsicherung Männlichkeit und Politik miteinander verzahnt wurden. Die NS-Führung legitimierte die Eskalation staatlicher Gewalt mit einem Kampf um Moral und Sittlichkeit. Während Röhm zuvor seine Kritik am moralischen „Muckertum" mit der Unterstellung nationalrevolutionärer Lauheit gekoppelt hatte, präsentierte sich Adolf Hitler als Mann der Gewalttat, der bereit war, gegen den „moralischen Sumpf, vor allem aber gegen Homosexuelle in den eigenen Reihen, gnadenlos vorzugehen. In einer Art Vorwärtsverteidigung gelang es Hitler, die Legende von der homosexuellen Verseuchung der NS-Bewegung seinen Gegnern aus der Hand zu schlagen und sich die Sex-and-Crime-Story seiner
planten
Gegner anzueignen. Etlichen Zeitgenossen war der ebenso virile wie homosexuelle Stabschef der SA als leibhaftige Verkörperung des von Blüher entworfenen „voll inver-
tierten Männerhelden" erschienen. Paradoxerweise wurde diese Wahrnehmung durch die Ermordung Röhms eher verstärkt als in Frage gestellt. Die Liquidierungsaktion schien manchem wie eine Bestätigung, dass es zwischen Homoerotik und Aufstieg des Nationalsozialismus tatsächlich einen inneren Zusammenhang gebe. So griff ausgerechnet Magnus Hirschfeld im Pariser Tageblatt mit seinem Kommentar zu den Morden des 30. Juni, die These auf, homoerotische Männerbünde seien die Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen, auf: „Sind denn nicht", fragte er rhetorisch, auch „andere von den nationalsozialistischen Machthabern nach wie vor verherrlichte Heroen, von Fredericus Rex bis zu Stefan George homosexuell veranlagt gewesen! Sind es denn nicht vor allem jetzt noch viele, die nach wie vor im Dritten Reich im höchsten Ansehen stehen? Es ist sicherlich kein Zufall, dass der ,Führerbegriff in seiner heutigen Auffassung und Gestaltung sich zuerst in der viel gelesenen Schrift des fanatischen Rassentheoretikers Hans Blüher findet."80 In seinem Vorwort zu einer geplanten Neuauflage von Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft schrieb Blüher 1949: „In jedem natürlichen Männerbundgebilde finden sich immer an den Brennpunkten der Wirksamkeit zwei einander in der psychischen Struktur entgegengesetzte Typen des mannliebenden Mannes. Der .Männerheld' und der ,Verdränger', 78
Zinn: Zur sozialen Konstruktion, S. 88-100; Hewitt: S. 1-37. Kershaw: Hitler, S. 662. 80 Pariser Tageblatt, 20.7.1934, zit. n. Zinn: Zur sozialen Konstruktion, S.U.
79
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der ,Typus inversus' und der ,Typus inversus neuroticus'." Der letztere lege unbewusst den „inneren Kriegsschauplatz nach außen". In der Hitlerbewegung habe es für beide typische Vertreter gegeben, „auf der einen Seite Hitler selbst, als Verdränger und späterer Verfolger, auf der anderen Seite der Stabschef Röhm als freier, sehr freier Männerheld".82 Teilte man, wie beispielsweise Heinrich Himmler, die Annahme, dass der Männerbund ein Kernelement des NS-Staats sei, während man andererseits Blühers Parteinahme für Homoerotik strikt bekämpfte, dann konnte eine homosexuelle Verschwörung durchaus als reale Gefahr für den Staat erscheinen. In einem Brief erinnerte sich 1984 der ehemalige SD-Mitarbeiter Werner Best, Heinrich Himmler habe den versammelten SS-Führern mitgeteilt, man sei „knapp der Gefahr entgangen, einen Staat von Urningen83 zu bekommen".84
Vom Staatsfeind
zum
Volksfeind
Wichtig zum Verständnis der nationalsozialistischen Verfolgung Homosexueller ist zweifellos, dass jene Männer, die während der NS-Zeit Homosexualität bekämpften und Strategien der Gegnerbekämpfung entwickelten, als Heranwachsende die einschlägigen Skandale des Kaiserreichs und die Auseinandersetzungen in der Jugendbewegung miterlebt und wie Himmler
Blühers Männerbundtheorien kennen gelernt hatten. Manche dürften sich selbst möglicherweise gefragt haben, welcher „Natur" ihre Gefühle zu ihren Freunden und Kameraden seien. Homosexualität wurde von vielen Nationalsozialisten nicht primär als Problem der Anderen, der Feinde wahrgenomwie der Fall Röhm unterstrich Männern in men, sondern als etwas, was den eigenen Reihen nicht fremd war. Das war wohl einer der Gründe, warum in den Jahren 1934 und 1935 das Hauptaugenmerk zunächst auf eine als „Säuberung" deklarierte Suche nach homosexuellen Männern in Organisationen der NS-Bewegung, vor allem in der SA, der Hitlerjugend, der SS und im staatlichen Sicherheitsapparat gerichtet war. Die Verfolgung homosexueller Männer ist ein weiteres Beispiel für einen Prozess, den Hans Mommsen mit Bezug auf die rassistische NS-Vernichtungspolitik als „kumulative Radikalisierung" bezeichnet hat.85 Wurden im ersten Jahr der NS-Herrschaft ausschließlich politische Gegner als Schutz-
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Zit. n. dem 1949 verfassten Vorwort Hans Blühers, in der Wiederauflage „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft", S. 27, das 1962 auf den Markt kam. 82 Ebd. 83 Urning ist eine schon damals veraltete Bezeichnung für einen homosexuellen Mann. 84 Homosexuelle, S. 98. Jellonnek: 85 Mommsen, Hans: Der Nationalsozialismus. Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon; Bd. 16, Mannheim u.a. 1976, S. 785-790.
Der homosexuelle Staatsfeind
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häftlinge ohne rechtmäßiges Verfahren festgehalten und in Konzentrationslagern interniert, misshandelt und zu Geständnissen gezwungen, so gehörten nach der Ermordung Röhms Homosexuelle ebenfalls zu den ausgemachten Gegner der Nationalsozialisten und gerieten ins Visier der Gestapo. Kriminalpolizei, Gestapo und Justiz konkurrierten und kooperierten in den Folgejahren in den sich ständig wandelnden Institutionen des nationalsozialistischen Verfolgungsapparats bei der Ergreifung, Überführung und Bestrafung
homosexueller Männer. Bereits im Sommer 1935 setzte die Justiz den staatlichen Verfolgungsauftrag so entschieden um, dass die Zahl der verurteilten Männer in die Höhe schnellte. Die Verschärfung des § 175 StGB 1935 ging mit einer bezeichnenden Ausweitung des Straftatbestandes einher. Nicht allein der mannmännliche Geschlechtsakt, sondern „wollüstiges" Begehren, gegenseitige Onanie und Zärtlichkeiten unter Männern konnten nun hart bestraft werden. Der neu eingeführte § 175 a StGB stellte Sexualkontakte mit Abhängigen, mit Jugendlichen und Männer, die jünger als 21 Jahre waren, und männliche Prostitution unter besonders schwere Strafen. Ihren Höhepunkt erreichte die Politisierung der Homosexuellenverfolgung mit der von Himmlers Machtapparat seit 1935 ausgearbeiteten Idee der „Homosexualität als Seuche" und des ,.Homosexuellen als Staatsfeind".86 Da sich bei der Bekämpfung der Homosexualität politische und strafrechtliche Verfolgung verbinden ließen, trieb Himmler die Ausarbeitung der Vorstellung vom homosexuellen Staatsfeind im Verlauf der NS-Zeit mit großer Energie voran. Ein „Männerstaat", wie der nationalsozialistische, so Himmler in einer Rede aus dem Jahr 1937, laufe Gefahr, durch Homosexualität, die sich seuchenartig ausbreite, zerstört zu werden. „Das sind Staatsfeinde" titelte daraufhin programmatisch Das schwarze Korps. „Nicht ,arme kranke Menschen' sind zu ,behandeln', sondern Staatsfeinde sind auszumerzen!" (4.3.1937). Die rapide steigenden Zahlen der Beschuldigten, die man homosexueller Umtriebe überführte, schien dieses Schreckenszenario einer „Seuche" zu bestätigen. In harten Verhören ermittelten Kriminal- und Geheimpolizisten und die Justiz gezielt im Hinblick auf Straftatbestände gemäß 175a. Sie machten dementsprechend häufig „gefährliche Jugend Verführer" und gefährdete Jugendliche ausfindig.87 Wie in folgenden Jahren die Politisierung der Homosexualität mit den neuen Verfolgungskonzepten zusammengebunden wurde, illustriert ein Auszug aus dem Lagebericht über Kriminalität und Gefährdung der Jugend aus dem Jahr 1941. Dort hieß es, der „Wandervogelapostd" Hans Blüher sei ein 86
Vgl. von Rönn, Peter: Politische und psychiatrische Homosexualitätskonstruktion im NSStaat (Teil 1), in: Zeitschrift für Sexualforschung (1998), H. 2, S. 99-129, ders.: Politische und psychiatrische Homosexualitätskonstruktion im NS-Staat (Teil 2), in: Zeitschrift für Sexualforschung (1998), H. 3, S. 220-260. 87 Vgl. Pretzel: Vom Staatsfeind zum Volksfeind.
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„Klassiker der Jugendverderbnis" und für Teile der Bündischen Jugend
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Propheten geworden. Seine verbrecherische Ideologie habe in der Phantasie mancher Führer der bündischen Jugend „staatspolitische" Formen angenommen. „Infolge der Wechselwirkung zwischen kriminell-asozialer Betätigung und politisch-opposioneller Einstellung führt die Homosexualität schließlich im Endergebnis zur politischen Zersetzung. Der Homosexuelle neigt wie jeder Asoziale zur Cliquenbildung, die immer auch zur politischen Opposition führt".88 Die Sorge, Homosexualität zerstöre den NS-Männerstaat und an der Zuschreibung des politischen Gegners, die NS-Bewegung sei von Homosexuellen durchsetzt, könne ein wahrer Kern sein, sollte diejenigen, die die Verfolgung homosexueller Männer während der gesamten NS-Zeit vorantrieben, nicht loslassen. Homosexuelle wurden als Straftäter juristisch verfolgt, als Staatsfeinde stigmatisiert und der Willkür des Maßnahmestaats überantwortet. KZ-Kasernierung und Zwangskastration propagierte man als legitime Mittel von Kriminalprävention und Rassenhygiene, deren Ziel es war, die als „Seuche" definierte Homosexualität auszurotten. Mit dem sukzessiven Überschreiten von Ahndungsgrenzen wurde, wie sich am Beispiel der Zwangskastration Homosexueller zeigen lässt, „Ausrottung" für Kriminalund Gestapobeamte, Justizangestellte und Amtsmediziner als rationales Stufenkonzept vorstellbar und praktizierbar. Bezeichnend ist hier die Stellungnahme des damals jungen Juristen Hans Puvogel. Er forderte 1937 in seiner Dissertation Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher die Ausweitung der vom Strafrichter angeordneten Zwangskastration auf Homosexuelle und behauptete: „Ob das Volk für eine Ausscheidung der Minderwertigen durch Tötung bereits Verständnis aufzubringen vermag, mag dahingestellt bleiben, sicher aber begrüßt es heute zumindest die Ausrottung des Sittlichkeitsverbrechers und damit die Verhütung seiner asozialen Nachkommenschaft."89 Puvogel, dies sei am Rand vermerkt, machte in der Bundesrepublik als Jurist Karriere und wurde 1976 sogar Justizminister Niedersachsens, müsste dann allerdings 1978 zurücktreten, weil er über eben jene Publikation stolperte.
Zit. n. Klönne, Arno (Hrsg.): Jugendkriminalität und Jugendopposition im NS-Staat. Ein sozialgeschichüiches Dokument (abgedruckt), in: Kriminalität und Gefährdung der Jugend Lagebericht bis zum Stande vom 1.1.1941, bearb. v. Bannführer William Knopp unter Mitarbeit von Stammführer Amtsgerichtsrat Walter Ratz, hrsg. v. Jugendführer des Deutschen Reiches, Münster 1981, S. 117. 89 Puvogel, Hans: Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung keitsverbrecher (Diss. jur.), Göttingen 1937, S. 12 und S. 34.
gefährlicher Sittlich-
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Homophobie überlebt das „Dritte Reich" Welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Verfolgung homosexueller Männer über das Ende des „Dritten Reichs" hinaus hatten, ist bislang kaum Gegenstand historischer Analysen geworden. Es gibt zwar einige Untersuchungen zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer nach 1945.90 Eine Klärung der Fragen, wie jene Politisierung nachwirkte und die Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik und in der DDR prägte, steht noch aus.91 Allein der juristische Umgang ist jedoch ein erhellendes Beispiel dafür, welch nachhaltige Spuren die homophobe NS-Politik in Deutschland hinterließ. Für die meisten Männer, die wegen des Verdachts der Homosexualität Gefängnisstrafen verbüßten oder in KZ-Haft festgehalten wurden, brachte der Sieg der Alliierten über Nazideutschland zunächst zwar die Befreiung. Wie die Mehrheit der Strafgefangenen und Internierten wurden fast alle Homosexuellen von den Truppen der Besatzungsmächte im Frühjahr 1945 aus Haftanstalten und Lagern entlassen. Gleichwohl blieb Homosexualität aber weiterhin gemäß den seit 1935 geltenden Bestimmungen strafbar. Die Erklärung des Alliierten Kontrollrates vom Oktober 1945, alle Rechtsvorschriften der Nationalsozialisten, die im Widerspruch zu einer demokratischen Rechtsprechung standen, seien zu novellieren, weckte Hoffnungen, dass die Verschärfung des § 175 StGB von 1935 zurückgenommen werde. Tatsächlich aber blieben in den ersten Nachkriegsjahren die vereinzelten Vorstöße, eine entsprechende Novellierung einzuleiten, ohne Erfolg. Das Gesetz Nr. 1 des Alliierten Kontrollrats hob zwar etliche NS-Gesetze auf. Die Strafgesetzgebung zur Verfolgung homosexueller Männer wurde jedoch weder hier noch in den folgenden Aufhebungsgesetzen verändert.92 90
Während es einige Untersuchungen zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer in Bundesrepublik gibt, vgl. z.B. Schulz, Christian: Paragraph 175. (abgewickelt) Homosexualität und Strafrecht im Nachkriegsdeutschland. Rechtsprechung, juristische Diskussionen und Reformen seit 1945, Hamburg 1994, stehen entsprechende Untersuchungen zur Situation homosexueller Männer in der DDR noch weitgehend aus, vgl. hierzu Grau, Günter: Im Auftrag der Partei, in: Zeitschrift für Sexualforschung 9 (1996), H. 2, S. 109-130. Der Forschungsstand, der sich vor allem auf die ausgebliebene Wiedergutmachung für Männer im Westen Deutschland bezieht, findet man bei Andreas Pretzel (Hrsg.): NS-Opfer unter Vorbehalt. Homosexuelle Männer in Berlin nach 1945. Dokumentation und Forschungsbericht („Fate of persecuted Homosexuals"), Münster 2002. In einem abschließenden Kapitel in „...in der Richtung der Homosexualität verdorben". Psychiater, Kriminalpsychologen und Gerichtsmediziner über männliche Homosexualität 1850-1970 untersucht Mildenberger: S. 316-359, psychiatrische und medizinische Forschungsansätze, die nach 1945 in der Bundesrepublik relevant wurden. 91 Erste Überlegungen findet man bei Michael Kandora: Homosexualität und Sittengesetz, in: Herbert, Ulrich (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 379-401. 92 Strittig war allenfalls, ob die erste von Alliierten erlassene Allgemeine Anweisung an Richter auf den § 175 Anwendung finden müsse. Es wurde hier den Richtern untersagt, über ein vor 1933 geltendes Strafmaß hinaus zu gehen, vgl. Schulz: 175, S. 10.
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Sieg der Alliierten und die bedingungslose Kapitulation Deutschlands hatten die Vorstellung vom „Männerstaat", wie er von den Nationalsozialisten propagiert worden war, zunächst einmal grundlegend kompromittiert. Die Wehrmacht war zerschlagen, die männerbündischen Organisationen die SA und die SS wurden verboten und letztere vom Alliierten Gerichtshof zur verbrecherischen Organisation erklärt. Mit dem Zusammenbruch des NS-Staates hatte die Idee vom homosexuellen Staatsfeind somit jenen Rahmen verloren, in dem sie sich entfalten konnte. Der Antrieb zu immer schärferen Verfolgung homosexueller Männer war verschwunden und die „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität" abgeschafft. Die massive Kriminalisierung homosexueller Männer blieb gleichwohl längerfristig wirksam. Im Nachkriegsalltag zeigte sich bald, dass die gesellschaftliche Ächtung der Homosexualität mit dem Ende der NS-Herrschaft nicht vorüber war. Der Verfolgungsdruck gegen Homosexuelle hatte nachgelassen. Homosexuelle Beziehungen, selbst einvernehmliche Verbindungen unter Erwachsenen, galten in allen Besatzungszonen aber nach wie vor als ein Vergehen, das strafrechtlich nach § 175 StGB verfolgt wurde. Das in § 175a vorgesehene Strafmaß von bis zu zehn Jahren Zuchthaus wurde allerdings nicht mehr ausgeschöpft. Da im NS-Staat homosexuelle Männer nach weiterhin geltenden Recht verurteilt worden waren, blieben sie ungeachtet der Verfolgungsumstände, wie erpresster Geständnisse, KZ-Drohung, der langen Haft oder auch Zuchthausstrafen von jeder Form gesellschaftlicher Wiedergutmachung von NSUnrecht ausgeschlossen. Sie wurden als rechtmäßig verurteilte Straftäter eingestuft.93 Auch diejenigen, die man in Konzentrationslager verschleppt oder zur Kastration gezwungen hatte, erhielten keinen Anspruch auf Wiedergutmachung, der nur jenen zugesprochen wurde, die als politisch, „rassisch" oder religiös Verfolgte galten. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten wurde dieser Ausschluss in beiden Teilen Deutschlands beibehalten. Die Bundesrepublik übernahm 1949 die 1935 verschärfte Fassung des § 175 ins Strafgesetzbuch und er blieb in dieser Form bis 1969 geltendes Recht. Die DDR beschritt in juristischer Hinsicht einen anderen Weg als die Bundesrepublik. Sie knüpfte an Diskussionen der Weimarer Zeit an. 1949 kam der Strafsenat des Obersten Gerichtes der DDR zu der Auffassung, dass es sich bei der Verschärfung des § 175 StGB von 1935 um eine „typisch nationalsozialistische" Gesetzgebung gehandelt habe. Er forderte allerdings nicht die Streichung des Paragrafen, sondern im „Interesse der Erhaltung der Rechtseinheit" Deutschlands die Erhaltung des Paragrafen in der vor 1935 Der militärische
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gültigen Fassung,
unter
Beibehaltung
Vgl. Pretzel: NS-Opfer unter Vorbehalt.
des 1935
neu
eingeführten §
175a.
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Damit blieb männliche Homosexualität auch in der DDR strafbar. Mit der Strafrechtsänderung von 1957 galt Homosexualität unter Erwachsenen in der DDR allerdings nicht mehr als strafrechtliches Delikt. 1968 wurde § 175 StGB abgeschafft. Aber in Bezug auf gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte blieben verschärfte Jugendschutzbestimmungen bestehen. Sie galten nun allerdings für Männer und Frauen gleichermaßen.95 1969 wurde der § 175 StGB schließlich auch in der Bundesrepublik novelliert. Wie zuvor in der DDR galten nun einvernehmliche sexuelle Beziehungen von Männern über 21 Jahren nicht mehr als Delikt. Nach wie vor glaubte man aber Jugendliche und junge Männer unter 21 Jahren vor homosexueller „Verführung" gesetzlich schützen zu müssen. Im Mai 1957 wurde die Frage, ob männliche Homosexualität in der Bundesrepublik weiterhin zu den strafwürdigen Delikten zählen sollte, auf höchster Ebene vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt.96 Günter R. und Oskar K., gegen die Haftstrafen wegen des Verstoßes gegen § 175 und § 175a StGB verhängt worden waren, hatten eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, um die Urteile anzufechten und die Rechtmäßigkeit der einschlägigen Paragrafen, grundsätzlich in Frage zu stellen. Der Paragraf, so die Begründung der Beschwerde, sei inhaltlich durch nationalsozialistisches Gedankengut geprägt, verstoße darüber hinaus über die im Grundgesetz garantierte freie Entfaltung der Persönlichkeit und gegen die rechtliche Gleichbehandlung der Geschlechter, da ausschließlich männliche Homosexualität verfolgt werde. In seinem Urteil bekräftigte das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit der § 175 und 175a StGB und wies die Klage zurück. Den Vorwurf, die Gesetzesnovellierung des Jahres 1935 sei durch NS-Gedankengut geprägt, erklärte das Gericht für irrelevant. Weiter hieß es in der Urteilsbegründung, der Paragraf verletze nicht die im Grundgesetz garantierte Gleichberechtigung von Männern und Frauen, „weil der biologische Geschlechtsunterschied den Sachverhalt hier so entscheidend" präge, dass „vergleichbare Elemente" vollkommen zurückträten. Die Strafvorschrift verstoße zudem ebenfalls nicht gegen das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, da homosexuelle Betätigung gegen das
Grau, Günter: Im Auftrag der Partei, in: Zeitschrift für Sexualforschung 9 (1996), H. 2, S. 109-130. Thinius, Bett: Verwandlung und Fall des Paragraphen 175 in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Grimm, Matthias (Hrsg.): Die Geschichte des § 175, Berlin 1990, S. 145-161. 96 Vgl. Moeller, Robert G.: The Homosexual Man Is a „Man", the Homosexual Woman Is a „Woman". Sex, Society, and the Law in Postwar Germany, in: Moeller, Robert G. (Hrsg.): West Germany under Construction. Politics, Society, and Culture in the Adenauer Era, Ann Arbor 1997, S. 251-284.
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„Sittengesetz" verstoße und „nicht eindeutig" festgestellt könne, dass Jedes öffentliche Interesse an ihrer Bestrafung" fehle.97 Das Weiterbestehen der NS-Gesetzesfassung zog in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1969 eine Fülle von Verfahren nach sich. Waren in den 15 Jahren der Weimarer Republik weniger als 10 000 Personen aufgrund des § 175 StGB verurteilt worden, stieg in den ersten 15 Jahren der Bundesrepublik die Zahl der rechtskräftig Verurteilten von 1950 bis 1965 auf über 40 000 Homosexuelle.98 Nicht nur die große Zahl der Verurteilungen befremdet, sondern auch der Vergleich zum „Dritten Reich". In den ersten 15 Jahren seines Bestehens stand der kleinere bundesrepublikanische Staat den NS-Behörden, was die Zahl der Verfahren und der Verurteilungen angeht, nur wenig nach.99 Zwar gab es keine KZ-Haft, keine Todesstrafe und keine „Entmannungen" mehr, aber die unverminderte Strafquantität zeigt jedoch, dass ein Erbe nationalsozialistischer Politik für viele Jahre in der Bundesrepublik fortwirkte. Erst die Novellierung und Liberalisierung des § 175 StGB 1969 unterstützte seit den siebziger Jahren einen Prozess, in dem sich allmählich der neue gesellschaftliche Konsens durchsetzte, dass man einvernehmliche Homosexualität nicht als strafwürdige Verhaltensweisen einstufen sollte. Erst 1994 konnte sich der Gesetzgeber allerdings zur Aufhebung besonderer Jugendschutzregelungen für gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte und damit zur endgültigen die Streichung des Paragrafen entschließen. S chlussbemerkung In dem Prozess, in dessen Folge in den 1930er Jahren Homophobie im nationalsozialistischen Deutschland handlungsleitend für die NS-Politik wurde, standen sich keinesfalls nazistische Gegner und antifaschistische Befürworter der Emanzipationsbewegung Homosexueller gegenüber. Bisweilen scheinen beider Rollen sogar vertauscht zu sein. Der Publizist Maximilian Harden beteuerte, ein Kritiker der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller zu sein, aber er hob in seiner Polemik gegen das persönliche Regiment Wilhelm II. und gegen Eulenburg die Figur des homosexuellen Staatsfeindes aus der Taufe. Unterstützt wurde Harden anfangs von Magnus Hirschfeld, der seinerseits unermüdlich gegen die gesellschaftliche Diskriminierung Homosexuel97
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 6, hrsg. v. Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 1957, S. 389. 98 Schoppmarm, Claudia: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexuali-
Pfaffenweiler 1991, S. 256. tät, 99 Nach Schoppmarm: ebd., S. 256 wurden in der Bundesrepublik zwischen 1950-1965 100 000 Verfahren angestrengt und 44.231 Männer rechtskräftig verurteilt. Von 1933 bis 1945 wurden ebenfalls annähernd 100.000 Verfahren angestrengt, von denen die Hälfte verurteilt wurde; vgl. auch Jellonnek: Homosexuelle, S. 13.
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kämpfte. Obwohl Sozialdemokratie und Kommunistische Partei eine Liberalisierung des § 175 StGB auf ihre Fahnen geschrieben hatten, war es die linke Presse, die eine breite homophobe Kampagne gegen Ernst Röhm entfesselte. Diese zielte auf die NS-Bewegung, die für eine rigorose Bekämpfung von Homosexualität eintrat. Ausgerechnet Hitler aber stellte sich während der Kampagne schützend vor Röhm, entledigte sich in einer veränderten politisch taktischen Situation dann allerdings seines ehemaligen Duzfreundes. Der homophile Hans Blüher wiederum, der Homoerotik als positive Bindekraft des Männerstaates inthronisieren wollte, schuf in seinem Bemühen, die Homosexuellenpanik zu erklären, die Figur des Verfolgers und Neurotikers, des „latent" Homosexuellen, der seine Männerliebe verdränge und dessen Kampf gegen den „vollinvertierten Männerhelden" Ausdruck und Beweis seiner sublimierten homoerotischen Begehrens sei. Blühers Modell des homoerotischen Männerbundes und des „latent" Homosexuellen, dass durch die Freud'sehe Theorie der Triebsublimation geprägt war, gab ergänzt um die Theorien von Wilhelm Reich schließlich die Folie ab, auf der im linken Diskurs selbst die Ermordung Röhms als Zeichen eines inneren Zusammenhangs von Homosexualität und Faschismus gedeutet wurde. In der Linken verfestigte sich mehr und mehr die mit einer marxistischen Faschismustheorie kaum in Einklang zu bringende Vorstellung, verheimlichte oder verdrängte Homoerotik sei eines der verborgenen Bewegungsgesetze des NS-Staates. Diese Vorstellung produzierte das Stereotyp vom homosexuellen Nazi immer -
-
von neuem.
Ein zähes Nachleben sollte dieses Stereotyp und die Idee eines inneren Zusammenhangs von Nationalsozialismus und Homosexualität in den von psychoanalytischen Ansätzen beeinflussten linken Theorien haben. Der Literaturwissenschaftler Andrew Hewitt arbeitet in seiner Untersuchung Political Inversions Homosexuality, Fascism, and the Modernist Imaginary eindrucksvoll heraus, dass die ,JTomosexualisierung des Faschismus", die in Adornos Diktum „Totalitarismus und Homosexualität gehören zusammen" in Minima Moralia gipfelte, in den Theorien der Frankfurter Schule eine bedeutsame Rolle gespielt hat.100 Mit welcher Hartnäckigkeit ein solcher innerer Zusammenhang immer wieder neu unterstellt wird, zeigt die 2001 veröffentlichte Studie des Histori-
kers Lothar Machtan Hitlers Geheimnis, in dem er nachzuweisen versucht, Hitlers angeblich homosexuelle „Veranlagung" habe die Geschichte des Er stützt seine These in weiten Nationalsozialismus nachhaltig Teilen auf die schon fast vergessene linke Polemik und beruft sich immer wieder auch auf Hans Blüher. Hitlers „fanatischer Antisemitismus" lasse
geprägt.101
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Hewitt: S. 55. Hans Mommsen wiesen. 101
(2001) hat Machtans Deutung
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wenig plausibel zurückge-
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so Machtan, „nicht zum wenigstens aus seiner erotisch-sexuellen Besonderheit erklären".102 Allein Hans Blüher habe 1949 den Mut gehabt, „den homosexuellen Kontext von Hitlers Karriere anzusprechen."103 Noch jüngst hat der Literaturwissenschaftler Hans Rudolf Wahl in seinen Überlegungen zur Historiografie der SA in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften behauptet, die „Tätigkeit der SA sei nicht zuletzt durch ein homoerotisches geprägtes Milieu" vermittelt: „Homosexualitäten stellten eines der Wesenselemente dar, waren ein grundlegenden Faktor für ihre ,Praxis des Politischen' und damit notabene auch für die gesamte NSBewegung."104 Wahl belegt seine These neben dem Verweis auf die Homosexualität Ernst Röhms, mit einer biografischen Skizze des Berliner SAFührer Karl Ernst, dessen sexuelle Vorliebe für Männer in der Forschung bekannt ist. Wenn Wahl betont, Karl Ernst sei als „pars pro toto" anzusehen, dann reaktiviert er unverhohlen, das Stereotyp vom homosexuellen Nazi.105 Es folgt der unvermeidliche Bezug auf die Männerbundtheorien Hans Blühers, der den „Wandervögeln" offenbart habe, „was eigentlich vor sich ging".106 Wahl schlussfolgert: „Wir stehen hier vor dem Zusammenhang von .Nationalismus und Sexualität'", und spitzt die Aussage zu: „Mehr noch vor dem Zusammenhang von Nationalsozialismus und Homosexualität."107 Claudia Bruns hat in ihrer Untersuchung zum Männerbunddiskurs vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus herausgearbeitet, dass Blühers Männerbundtheorie in der Forschung bis heute kaum historisiert, sondern in der Regel unreflektiert als analytisches Instrument zur Beschreibung der Vergangenheit eingeführt wird.108 Sie verweist unter anderem auf die in den 1980er Jahren zum Klassiker avancierten Männerphantasien Klaus Theweleits109 und auf die in den 1990er erschienenen Publikation des Kultursoziologen Werner Sombart, sowie die Monografie von Helmut Blazek Der Männerbünde, die 1999 erschien.110 So meint z.B. Sombart, Blüher habe mit seiner Männerbundtheorie, einen wichtigen Beitrag zum Verhältnis von Sexualität und Politik geleistet: „Wichtiger und weitreichender als Max Weber in seiner
sich,
102
Machtan: Hitlers Geheimnis, 2003, S. 442. Ebd., S. 450. Wahl, Hans Rudolf: Männerbünde, Homosexualitäten und politische Kultur, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZGWiss) 52 (2004), H. 2, S. 218-237. 105 Ebd., S. 235. 106 Ebd., S. 225. 107 Ebd., S. 237. 108 Bruns: Der Männerbund als Thema der Forschung, in: Politik des Eros, S. 27-44, hier S.38. 109 So schreibt Theweleit, eine Verbindung vom „homosexuellen Verlangen" zu „einigen der von Blüher beschworenen Eigenschaften des männerliebenden .freien Männerhelden' des Wandervogels, der deutschen Jugendbewegung oder auch der SA", sei „nicht von der zu weisen", Theweleit: S. 309. Hand 110 Blazek, Helmut: Männerbünde. Eine Geschichte von Faszination und Macht, Berlin 1999. 103
104
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weil er das besondere, kann sagen atavistisch-erotische Verhältnis der deutschen Männer zum ,Staat', zur .Monarchie', zur ,Krone' erklären hilft."111 Nach wie vor, so Bruns, bestimme die Annahme homoerotischer Bindungen, „in ungebrocheden wissenschaftlichen Diskurs über den ner Adaption von Blühers Thesen (nationalsozialistischen) Männerbund.112 Eine Interpretation, die im Kontext völkischer Denkmuster entstanden sei, werde mit dem Verweis auf Sexualität als „natürliche" Stütze homosozialer Strukturen präsentiert, ohne diese Verbindung, etwa mit Bezug auf den weit verbreiteten Antifeminismus, zu erklären. Zu Recht fordert Bruns, statt Annahmen aus den Diskursen der Jahrhundertwende einfach zu übernehmen und fortzuschreiben, müsse die der Sexualität zugeschriebene Bedeutung selbst historisiert werden. Zu fragen sei, welche spezifische Funktion die Rede von Sexualität jeweils für die Konstruktion des Männerbundes gehabt habe und welche Hierarchien und Ausgrenzungen gegenüber anderen sozialen Gruppen, vor allem in Hinblick auf das andere Geschlecht gestützt worden seien.113 Schreiben einige Autoren wohl am deutlichsten Lothar Machtan die Thesen Blühers ungeachtet ihres ebenso antisemitischen wie misogynen theoretischen Gehalts fort und interpretieren (Homo)Sexualität, nicht anders als ihr Mentor, als Motor des historischen Geschehens, so wird die Bedeutung homophober Politik in der Forschung allerdings weitaus häufiger ausgeblendet oder unterschätzt. Ulrich Herbert erwähnt zum Beispiel in seiner ebenso ausführlichen wie differenzierten Darstellung der Röhm-Morde die homophobe Unterlegung der Legende von Röhms Putschplänen mit keinem Wort.114 In der Regel wird Hitlers Verdammung der Homosexualität, oft mit dem Hinweis, jener habe Röhms seit langem erwiesene sexuelle Neigung gewusst und geduldet, als Vorwand eingestuft, um sein Ziel, die Ausschaltung der SA, kaschieren zu können.115 Ein ähnliches Interpretationsmuster findet man zur Deutung der linken Kampagnen. Hier wird, mit Verweis auf die kritische Stellung der linken Parteien in der Strafrechtdebatte, das instrumentelle Verhältnis zum Thema betont und die JDoppelmoral" von SPD und KPD
(gleichzeitig entstehenden) ,Herrschaftssoziologie', man
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,
gegeißelt.116
1,1
Sombart: Wilhelm II., S. 207. Bruns: Politik des Eros, S. 37 113 Ebd. 114 Vgl. Herbert: Best, S. 133-147. 115 Vgl. z.B. Gritschneder, Otto: 112
,J3er Führer hat sie zum Tode verurteilt...". Hitlers „Röhm-Putsch"-Morde vor Gericht, München 1993; sowie Richardi, Hans-Günter/ Schumann, Klaus: Geheimakte Gerlich/Bell. Röhms Pläne für ein Reich ohne Hitler, München 1993. 116
Eissler, Wilfried U.: Arbeiterparteien und Homosexuellenfrage. Zur SPD und KPD in der Weimarer Republik, Berlin 1980.
Sexualpolitik
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Zweifellos war Homophobie eine scharfe Waffe in der Auseinandersetzung um sehr unterschiedliche politische Ziele. Dennoch greift die Annahme, homophobe Kampagnen und moralische Ressentiments seien für politische Ziele instrumentalisiert worden, zu kurz. Die Akteure der Debatten um Homosexualität, ob Maximilian Harden 1908, Helmut Klotz 1932 oder Heinrich Himmler 1937 betonten unisono und stets nachdrücklich, ihr Anliegen sei nicht primär moralisch-sittlich, sondern politisch motiviert. Die These von der Instrumentalisierung verliert das komplexe Wechselverhältnis zwischen Homophobie und Staatsräson und das zwischen Männlichkeit, Politik und Sexualität geknüpfte dichte diskursive Netz aus dem Blickfeld. Die ausgeprägt politische Bedeutung öffentlicher Auseinandersetzungen um Sittlichkeit und Moral, wie die Frage, warum ausgerechnet der Vorwurf der Homosexualität ein solch effektives Mittel in politischen Machtkämpfen sein konnte, kann so nicht ausreichende beantwortet werden. Allein die offensichtliche Radikalisierung der Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus macht deutlich, wie unzureichend ein solcher Erklärungsansatz ist. Trug der NSStaat doch die Verfolgung in die eigenen Reihen hinein und erweiterte mit der Novellierung des § 175 STGB im Sommer 1935 die Definition von Homosexualität und stieß in Folge dessen nun erst Recht auf immer größere Kreise Verdächtiger im eigenen Umfeld. Überlagerungen von politischer Gegnerbekämpfung der Geheimen Staatspolizei, neuen Präventionskonzeptionen der Kriminalpolizei und Strafauftrag der Justiz verschärften das Vorgehen gegen homosexuelle Männer im National-sozialismus in rasantem Tempo. Auch die Frage, ob homosexuelle Beziehungen zwischen Männern im nationalsozialistischen Deutschland tatsächlich so verbreitet waren, wie es der von den Nationalsozialisten bemühte Topos der „Seuchengefahr" oder die Zuschreibungen der Exillinken nahe legen, verstellt den Zugang zu der weit aufschlussreicheren Überlegung, welche politischen Konzepte und Männ-
lichkeitsvorstellungen, welche polizeilichen und juristischen Praxen, Homosexualität überhaupt zu einem akuten gesellschaftlichen Problem werden
ließen. Tatsächlich wurden mit der Wende zum 20. Jahrhundert in Deutschland die Grenzen zwischen homosozialen und homosexuellen Männerbindungen zu einem Bereich, der die Aufmerksamkeit von breiter Öffentlichkeit und Obrigkeit stark in Anspruch nahm, als eminent politisches Problem eingestuft wurde, erhebliche Unruhe hervorrief und neue staatliche Regulierungen mannmännlicher Beziehungen nach sich zog. Die historischen Konstellationen, die jene Grenzen zum Gegenstand staatlicher Sorge, sich ändernder biografischer Selbstentwürfe, aber auch einer Problematisierung des Verhältnisses von Männlichkeit, Sexualität und Politik machten, gilt es, über die hier vorgestellte Studie zur Entstehung der Idee vom homosexuellen Staatsfeind
hinaus, zu analysieren.
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Die massive Verfolgung in Kombination mit dem stark erweiterten Straftatbestand, der „wollüstiges" Begehren, gegenseitige Onanie und erotisch gefärbte Beziehungen zwischen älteren und jüngeren Männern unter hohe Strafandrohung stellte, hatte für homosexuelle Männer weitreichende Folgen. Sie hatte darüber hinaus aber zweifellos auch Auswirkungen auf männliche Umgangsformen allgemein. Unter den Verdacht, strafbar zu sein, gerieten nun ehemals akzeptierte, zumindest nicht verbotene Gefühlsäußerungen, wie Umarmungen, Küsse oder zärtliche Blicke, sowie durchaus verbreitete Praktiken, wie gemeinsames jugendliches Onanieren, sexuelle Zudringlichkeiten zwischen Männern unter Alkoholeinfluss, körperbetonte Kontakte zwischen „Kameraden", schwärmerische Beziehungen zu einem „Führer" einer Jungen- oder Männergruppe. Schon zuvor hatten sich offenbar die Körpergrenzen zwischen Männern allmählich verschoben und ein habitueller Wandel „normaler" Männlichkeit gesellschaftlich durchgesetzt. Die neue strafrechtliche Definition von verbotener Homosexualität und die Praxis rigoroser Verfolgung trugen ihrerseits wohl erheblich dazu bei, die strikteren Normen für männliche Sexualität und die Grenzen von Männerfreundschaften beschleunigt zu verallgemeinern. Die NS-Verfolgung homosexueller Männer veränderte auf längere Sicht die gesellschaftlichen und moralischen Wertmaßstäbe so stark, dass der homophobe Konsens das „Dritte Reich" um viele Jahre überdauerte.
Deskriptionen und Erektionen. Projektion auf den Körper des Mörders Maren Hoffmeister Die historische Betrachtung von Mehrfachtötungen im Zeitraum von 1924 bis 1939, die als Lustmorde bezeichnet wurden, lässt verschiedene Vorstellungen über die Beschaffenheit der Körper von Verbrechern erkennen, die unterschiedlichen Spezialdiskursen (Medizin, Jurisprudenz, Kriminologie) entstammen.1 Diesen Körperkonzepten liegen Vorstellungen zugrunde, wie menschliches Handeln organisiert sei.
Verbrechen als körperliches Problem wird eindringlich der Körper als Medium des Bösen beschrieben. Im Aktenmaterial wird immer wieder Bezug auf den Kriminologen Cesare Lombroso und den Mediziner und Sexualwissenschaftler Richard von Krafft-Ebing genommen, die im 19. Jahrhundert einschlägige Lehrbücher über Verbrechen und Verbrecher veröffentlicht hatten. Lombroso wollte das kriminelle Wesen des Menschen bereits im Kinde entdecken, das erst durch Erziehung zum moralisch anständigen Mitbürger erwachse, während es ohne pädagogische Sorgfalt unweigerlich dem moralischen Irrsinn in die Arme getrieben werde.2 Der moralische Irrsinn, welcher der Lust des Körpers folgt und sich nicht an Sanktionen und Erfordernisse In der
Deutung des Lustmords
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Die Auswahl der Fälle wurde nach drei Kriterien getroffen: 1. Nach Maßgabe des Gerichts mussten die Täter aus einer sexuellen Motivation getötet haben und als Lustmörder bezeichnet werden. 2. Mehr als drei Tötungen mussten nacheinander vollzogen worden sein. 3. Die Fälle mussten in einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit (Medizin/Justiz/ Kriminologie) diskutiert werden und auf sie müsste im späteren Diskurs Bezug genommen werden. Für diese Veröffentlichung, die in weiten Teilen dem Beitrag: Der Körper als Medium des Bösen, in: Kriminologisches Journal 35. Jg. 3 (2003), S. 212-223 entspricht, bringe ich einen Fall aus der Weimarer Republik und einen Fall aus dem Nationalsozialismus zur
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Darstellung.
Die Idee, dass Kinder mit einem verbrecherischen Wesen ausgestattet sind, ist keine originäre These von Lombroso. Vgl. Lombroso, Cesare: Verbrecherstudien, Gera 1896, S. 267ff. Schetsche kennzeichnet diese Idee als Erfindung des protestantischen Fundamentalismus (17. Jahrhundert). Lombroso bringt diese Idee in den kriminologischen Diskurs ein. Vgl. Schetsche, Michael/Schmidt, Renate-Berenike: Ein „dunkler Drang aus dem Leibe". Deutungen kindlicher Onanie seit dem 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Sexualforschung 9 (1) (1996), S. 22. Zum Verbrecher als Durchbruch der Natur siehe Strasser, Peter: Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen, Frankfurt/M./New York 1984, S. 65.
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der Gesellschaft hält, lag nach Lombroso auch den grausamen Taten solcher Täter zugrunde, die Krafft-Ebing in seiner Psychopathia sexualis Lustmörder nannte. (Krafft-Ebing 1903, S. 69ff.) Krafft-Ebing sah in den Taten die Endstufe eines sexuell motivierten Sadismus, während Lombroso das Verbrechertum insgesamt auf die krankhafte oder ererbte Veränderung der höheren Zentren des Nervensystems zurückführte (Lombroso 1896, S. 269). Beide Autoren finden rein auf den Körper gegründete Erklärungen für die Taten. Lombroso ging nicht einmal davon aus, dass der normale Mensch in seinen Handlungen wirklich einem freien Willen folge. „Ruhmgier", Furcht vor Strafe und Schande, Angst vor der Kirche oder die ererbten oder noch mehr mittels unausgesetzter geistiger Gymnastik gekräftigte gute Sitte hielten den Menschen von den Untaten ab, nicht aber ein freier Wille. Zwar distanzierte sich Lombroso von der Willensfreiheit, doch begründete er kognitiv, warum die Taten nicht begangen werden. Der Verbrecher wurde damit zum Anderen der Gesellschaft, gleich dem Geisteskranken zu einer von der er eine weitere Abart bildete.
„Naturerscheinung",3
Die Lesbarkeit des Verbrechens
am
Körper
In seiner Theorie des geborenen Verbrechers geht Lombroso von einer Wiederholung der Phylogenese in der Ontogenese aus. Er präsentiert den Verbrecher als eine niedrigere Evolutionsstufe bzw. eine Form der Degeneration. Verbrechertum ist demnach erblich und aus dieser Sicht ein physiologischer Jugendzustand, weil die höheren zuletzt erworbenen Zentren im jugendlichen Zustand noch nicht entwickelt sind (Lombroso 1896, S. 233). Verbrechertum stellt für ihn immer eine Rückentwicklung dieser Zentren bzw. einen Stillstand dar, der sich körperlich abzeichnet und für den sich bestimmte Verbrechertypen finden lassen, die bestimmte Degenerationszeichen im Körper aufweisen (Lombroso 1894, S. 112 und 124). Das gegenständliche Korrelat zur verbrecherischen Einstellung muss in seiner Deutung die Verformung des Körpers, insbesondere die der Knochen des Kopfes sein. Diese treten einerseits als Zeichen für eine Krankheit auf, die möglicherweise heilbar sei. Andererseits kann der Krankheit präventiv begegnet werden, beispielsweise durch die entsprechende Erziehung oder Berufswahl (etwa als Schlachter) des Kindes bzw. des Jugendlichen, welche es erlauben die Neigungen gesellschaftlich nutzbringend auszuleben. 3
„Das Verbrechen tritt demnach wie eine Naturerscheinung die Philosophen würden sagen, wie eine nothwendige Erscheinung auf, gleich denen der Geburt, des Todes, der Geisteskrankheit, von welcher es oft eine traurige Abart bildet." Lombroso, Cesare: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, Hamburg 1894, S. 537. -
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der physiognomischen Sichtbarkeit des Verbrechens manifestiert sich noch 1958 in dem Buch Das Geheimnis der Menschenform von Burger-Villingen und Nöthling. Am Passfoto des Lustmörders Peter Kürten, der 1931 hingerichtet worden war, werden Profil, Augenstand und Augengröße bewertet; an beiden Gesichtshälften wird der „übertrieben fanatische seelische Willen", ein „viel zu stark betontes triebhaftes, sinnliches und rücksichtsloses Lebensbedürfnis" und eine „abnorme Verwirklichungskraft" konstatiert, die die „verbrecherischen Begierden" (Burger-Villingen/Nöthling 1958, S 162) wirksam unterstützen. Friedrich Hegel hatte sich Anfang des 19. Jahrhunderts gegen die physiognomische Gleichsetzung der Charaktereigenschaften mit der äußeren Erscheinung ausgesprochen. Zwar wollte Hegel die Eigenschaft des Geistes als Knochen" etablieren (Hegel 1988, S. 230), lehnte aber die Festlegung des Individuums durch die Formung seiner Knochen als unwissenschaftliches Marktffauengeschwätz ab, und zwar mit dem ironischen Hinweis, dass die Geisteshaltung sich kaum durch Schläge formen lasse, wie auch der Knochen im Gegensatz zum Fleisch sich nicht verforme (Ebd., S. 226ff). Trotz des sich bald regenden Widerspruchs gegen die Physiognomie des Verbrechers lassen sich in den Gerichtsakten von 1924-1939 und in der diese Fälle begleitenden medialen Berichterstattung verurteilter ,Lustmörder" Bezüge auf ihr Aussehen bzw. Überraschung über die fehlende Sichtbarkeit des Bösen finden. Zwar wird die physiognomische Analyse nicht zu einer institutionalisierten Praktik der Gerichte, aber der Rückgriff auf die Vorstellung, dass sich Charaktereigenschaften im äußeren Erscheinungsbild abzeichnen, zeigt sich in einigen Formulierungen innerhalb der Akten, wo eben dies vermisst wurde. Die Gerichtsmedizin fotografiert den nackten Täter Friedrich Haarmann für die Akten, und man fahndet nach Abweichungen seiner geschlechtlichen Merkmale im Sinne einer physiologischen Devianz. Genauere Ausführungen der Sichtbarkeit des Bösen am Körper, etwa zur Physiognomie (insbesondere eine Kopfvermessung) fehlen. Sie bleiben in abgeschwächter Form im Interdiskurs Thema (d.h. in dem Gerede, das nicht unmittelbar in den mit dem Fall beschäftigten Institutionen stattfindet). In einer großen Zeitung heißt es, man müsse sich daran gewöhnen, dass die beiden Angeklagten Grans und Haarmann wie Menschen aussehen und sich so benehmen, obwohl sie doch viel entsetzlicher seien als Raubtiere (DAZ, 04.12.1924). Abweichungen vom Durchschnitt werden gesucht, um den Verbrecher als auffälligen Menschen kennzeichnen zu können; gefunden werden etwa die Fistelstimme Haarmanns oder ein besonderes Verhalten bei Gericht, das als schwachsinnig gekennzeichnet wird. Andere Zeitungen finden Umschreibungen wie „Schlächtergesicht", die die Erwartungen des Publikums stärker bedienen (WaM, 01.01.1925).
Die
Deutung
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Dem vermuteten wissenschaftlichen Potential in Hinblick auf die Physiognomie bzw. die Gehirnforschung wurde innerhalb der Gerichtspraxis nur formal Rechnung getragen, indem man Haarmanns Kopf wie auch sein Gehirn konservieren ließ.4 An Haarmanns Körperbau konnte das Grobschlächtige und Gewalttätige des Mörders nicht exemplifiziert werden. Auf Grund seiner geistigen Verfassung, seines kindischen Benehmens und seiner Homosexualität ließ er sich als anormales Individuum aus der Gesellschaft ausgrenzen. Bei dem Täter Peter Kürten, der 1931 wegen mehrfacher Morde hingerichtet worden ist, zeigte sich ebenfalls das Problem, ihn nicht in die stereotype Vorstellung des Verbrechers einordnen zu können. Eine physiognomische Vermessung hat im Rahmen der Gutachtertätigkeit nicht stattgefunden. Eine Zeitung stellt der Erwartung „diebisches Ungeheuer" den vorgefundenen Täter gegenüber, der als „höchst geistesbeherrschter Mensch" erscheint und dem die Gutachter sogar das Zeugnis ausstellten, ein „netter Mensch" zu sein (DAZ, 24.04.1931). Kürten selbst stellt die Diskrepanz zwischen der erwarteten Bestie und sich selbst fest; gegenüber dem Gutachter Prof. Berg äußerte er seine geheime Freude darüber, dass die aufgeregte Gesellschaft beim Anblick seiner Person sehr große „Augen machen" wird (Berg 1931, S. 330). Die Suche nach körperlichen Anzeichen zeigt sich schließlich in Umschreibungen des Täters als unauffällig, harmlos usw.. Im Kontext dieser Umschreibung drückt sich die enttäuschte Erwartung aus. Bis in die Gegenwart setzt sich diese Überraschung fort und endet in der Bedrohungsformel, das Böse sei unsichtbar und überall. Die Anknüpfung an physiognomische Merkmale des Körpers verschwindet insgesamt zugunsten der Frage nach Kriminalität als Folge von Alkoholismus, Geschlechtskrankheit, Gehirnkrankheit (Epilepsie), Degeneration oder Kopfverletzung einerseits und nach der Kriminalität als Folge der bösen Sexualität andererseits. Der Bezug zum Körper in einem umfassenden Sinne bleibt bestehen. Onanie, abweichende sexuelle Praktiken (wie Sodomie), übermäßiger Trieb oder Impotenz als körperliche Abweichungen werden zu Indizien des bösen Triebes und zum Kennzeichen einer Lustmordneigung, die sich zwangsläufig aus den Devianzen entwickelt. Die Tat wird entweder zum Betriebsunfall eines fehlerhaften Gehirns oder zur Performanz des bösen Körpertriebes erklärt. 4
Flesch beschwert sich, dass das „Verbrechergehirn" von Haarmann nicht untersucht wurde, weil er meint, die organischen Ursachen für die Taten am Gehirn festmachen zu können, und will in der objektiven anatomischen Untersuchungen Relationen finden.
S. 52ff. An der Furchung des Gehirns zeichnet sich für im Vergleich mit Menschenaffen und Raubtieren eindeutig ab, dass man es zwar nicht mit einem eindeutigen Atavismus zu tun habe. Hier kommt er dennoch zu dem Ergebnis, dass der Verbrecherschädel atypisch sei, d.h. immer vom Normalen abweiche. Flesch, Max: Gehirn und Veranlagung des Verbrechens. Beiträge zur Aufhebung der Todesstrafe und zur Einführung eines Verwahrungsgesetzes, Berlin/Leipzig 1929, S. 35.
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Körperliche Reaktionen als Beweis Bereits die Verhöre durch Ermittler schenken den körperlichen Reaktionen des Täters bei der Tat große Aufmerksamkeit. Wann ist der Täter erregt; wann ejakuliert er, oder onaniert er nach der Tat über der Leiche? Solche körperlichen Reaktionen stehen Pate für die sich anschließende Rezeption der Taten als Ausdruck perverser Sexualität. Die Vorstellung, die Tötung als sexuelle Praktik zu sehen, tritt auch dann auf, wenn keine Anzeichen begleitender sexueller Handlungen nachzuweisen sind.5 Dieser Verdacht ergibt sich aus dem Fehlen der Möglichkeit, ein Motiv für die Handlung auszumachen, und aus der über die Tötungshandlung hinausgehender Gewalttätigkeit.6 Für die Wertung als Lustmord bleibt ein verfestigter Konflikt bestehen, der sich seit Beginn der Deutung in einschlägigen Lehrwerken, wie Wulffens Sexualverbrecher und Krafft-Ebings Psychopathia sexualis eingeschrieben hat: Einerseits werden Beschreibungsformeln verwendet (wie Affekt, Bewusstlosigkeit oder veränderter Bewusstseinszustand, Rausch und schließlich Wahn), die darauf verweisen, welche Zustände die Tat begleitet haben könnten, andererseits steht einer solchen Beschreibung die anscheinend willentlich geplante und bewusste Ausführung der Straftat diametral gegenüber. Im Vordergrund der ersten Deutung steht die fehlende Kontrolle des Geistes über den bösen Körper. Der Körper erscheint als Agens der Handlung. Als skurriles Beispiel sei angeführt, wie Peter Kürten selbst eine neue Deutungsvariante in den Diskurs einbringen will, um diese Dichotomie zu durchbrechen. Zunächst bestreitet er vor dem Hintergrund seines Sexualitätsverständnisses die sexuelle Motivation seiner Taten und führt als Intention eine Rache an der Gesellschaft an, dann aber zieht er den Körper zur Begründung für einzelne Stationen des Tatverlaufs heran (Berg passim). Gegen die Bezeichnung Lustmörder wehrt sich Kürten. Für ihn ist der Begriff Sexualität mit explizit sexuellen Handlungen verknüpft. In einigen Fällen ist es zu sexuellen Handlungen gekommen, von welchen Kürten einen besonderen Effekt erwartete. Er stellt aber für sich fest, dass es ihm darum 5
Es bedarf nach Hübner keiner sexuellen Handlungen am Körper des getöteten Menschen, Anton: Lehrbuch der forensischen Psychiatrie, Bonn 1914, S. 1006. Im Fall Adolf Seefeld wird aus seinen Verurteilungen (Unzucht mit Minderjährigen) gefolgert, dass aufgefundene Kinderleichen, die keine Spuren von Gewalteinwirkungen oder sexuellen Missbrauchs aufwiesen, und deren Tötungen er gesteht, als Lustmorde zu werten seien. Weder Gewalt, noch sexuelle Handlungen ließen sich nachweisen, die Serie und der perverse erwachsene Mann, waren einzelne Anhaltspunkte, die die Deutung Lustmord zu erfüllen vermochten. 6 Die Bereitschaft der Gesellschaft, diese Formen des Hasses als Sexualität zu werten, führt dazu, dass die Varianten des Ausdrucks der körperlichen Liebe zwischen Menschen als verwerflich oder gar gefährlich stigmatisiert werden. Unterschiede in den Praktiken werden nicht der Kulturform des anderen Habitus zugeordnet und diskutierbar gemacht, sondern zur düsteren Gefahr heraufbeschworen.
Vgl. Hübner,
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Er müsse Blut sehen bzw. Blut rauschen hören, um eine Genugerreichen. Diese deutet Kürten in der Retrospektive seiner Taten als tuung Erektion um, so wie sie ihm in der Befragung durch die Gutachter nahe gelegt wurde.7 Für ihn stelle es einen „abrufbaren Erfolg" dar, das Blut fließen zu sehen. Mit der Beschreibung dieser Reaktionen macht er seinen Körper zur verantwortlichen Instanz, die er angeblich in seinen Taten erforscht und wobei er Wissen über seinen Körper bildet. Was sich hier andeutet, erinnert an die Variante, den Körper als nicht determinierten, unkontrollierbaren Raum zu verstehen, der mit der Natur gleichgesetzt wird.8 Er wehrt sich allerdings dagegen, diesen Zustand als einen tierischen Instinkt zu fassen. Für diese Idee wirbt Prof. Sioli nach der Verurteilung bei dem Todgeweihten.9 Mit seinem Widerstand gegen den animalischen Trieb wehrt Kürten sich gegen die Zurückstufung innerhalb eines Evolutionsmodells auf die Stufe des Tieres. Stattdessen schafft er in seinem Körper einen parallelen Wirklichkeits- und Erfahrungsraum, den er durch die Taten erschlossen habe. Aus dem Blickwinkel des Philosophen Foucault lässt sich diese Konstruktion als Heterotopie benennen.10 Kürtens Beschreibung ist allerdings keine ungebrochene Abbildung einer historischen körperlichen Realität, da er erst am Ende einer langen Reihe von Befragungen, die immerzu auf die sexuellen Regungen seines Körpers abzielten, auf diese Deutung der Taten kommt. Er verbindet die geforderten Antworten mit einer eigenen Erklärung, für die er schließlich auch im Rückblick auf die nicht
gehe. zu
7
Bereits Auernheimer weist 1984 daraufhin, dass frühere Erfahrungen in dem gegenwärtigen Bewusstsein eine neue Qualität gewinnen. Jedes autobiographische Dokument ist in seiner Zeitstruktur nach sowohl vergegenwärtigte Vergangenheit und erinnerte Gegenwart wie auch Entwurf der Zukunft. Dies lässt sich am Beispiel der Befragung des Peter Kürten sehr gut aufzeigen. Gegenwärtig wird nach seiner sexuellen Perversion gefahndet, während ihm für seine Zukunft Strafmilderung in Aussicht gestellt wird, falls er unter einem unüberwindlichen Trieb, der sein Urteilsvermögen trübt, gehandelt hätte. Zur Bedingung wird die neue Lesweise der Vergangenheit gestellt. Auernheimer, Georg: Kategorien zur Interpretation von autobiographischen Dokumenten, in: Heinze, Thomas (Hrsg.): Hermeneutisch-lebens-geschichtliche Forschung, Bd. 1, Hagen 1984, S. 4-80, S. 13f. Cameron und Frazer führen die Deutung von Grausamkeit als naturgegeben auf die Schrift Justine von de Sade zurück, der Mord zu den edelsten Gesetzen der Natur zählt. Allerdings wird der Text von de Sade nicht nach historischen Methoden interpretiert und damit die philosophische Aussage, die hinter dem Text steht, verkannt. Dennoch lässt sich hier sehr deutlich diese Deutung aufzeigen. Vgl. Cameron, DeborahZFrazer, Elizabeth: Lust am Töten. Eine feministische Analyse von Sexualmorden, Frankfurt/M. 1993, S. 120. 9 Das Gespräch mit Prof. Sioli fand zwei Tage vor der Hinrichtung statt. Vgl. Lenk, ElisabethlKaever, Roswitha: Das Leben und Wirken des Peter Kürten, genannt der Vampir von Düsseldorf, München 1974, S. 305. 10 Heterotopie verwendet Foucault als ergänzenden Begriff zur Utopie, um einen Raum zu beschreiben, der von den gesellschaftlichen Diskursen durchströmt ist, aber dennoch erlaubt verschiedene unzulässige Platzierungen zusammenzulegen und daraus eine Gegenwirklichkeit entstehen zu lassen, die in der Gesellschaft verortbar und beschreibbar ist. Deferí, Daniel: Foucault, der Raum und die Architekten, in: David, Catherine/CftevreiV, Jean-Francois (Hrsg.): Politics poetics, Ostfildern Ruit, Cantz 1997, S. 274-283. -
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generiert.11
Was Kürten als Motivation anführt Taten körperliche Reaktionen und nicht als Sexualität gesehen haben will, zeigt, dass er seine Vorstellungswelt während der Taten dem Wahn verpflichtet sieht, sich an der Gesellschaft rächen zu wollen. Er war bereit, die größten Katastrophen herbeizuführen, um das Entsetzen der Anderen zu genießen.12 Hieran wird deutlich, dass der Körper nicht von dem ihn beherrschenden Wahn jedenfalls in der Auffassung von Peter Kürten zu trennen ist und damit auch nicht als eine Quelle anormaler sexueller Lust zu sehen ist, die etwa vom Körper selbst und nicht von der Gesellschaft hervorgebracht wurde also als nicht gesellschaftlich codierter Körper zu verstehen ist. Es gelingt Kürten nicht seine Interpretation durchzusetzen. Er wird aber als Lustmörder verstanden und seine Taten werden als Endpunkt sadistischer Handlungen gewertet. Die Deutung der Körper als Agens des Bösen und genauer die männliche Sexualität als gefährlicher Antrieb tritt am direktesten in den Gerichtsakten des Falles Johann Eichhorn (hingerichtet 1939) hervor. Dem Täter wird die „Willensschwäche" angelastet eben dass sein Wille zum Verzicht auf die Tat zu schwach war -, obwohl er doch ausreichend Zeit hatte, darüber nachzudenken. (München StAnw 9206) Das eigentliche Verbrechen des Lustmords liegt bei diesem Deutungsgebäude darin, dass der Täter seinen sexuellen Trieb nicht beherrschen will. Über den Fall hinaus wird damit die Gefährlichkeit des Mannes schlechthin unabänderlich festgeschrieben. Der Ort des Antriebes liegt bei dieser Deutungskonzeption im Körper. Das kriminalbiologische Gutachten formuliert am klarsten die Deutung, dass der Hoden der Ort des bösen Triebes sei. Denn die Entmannung würde nach Schlussfolgerung dieses Gutachtens den Antrieb zu den Überfällen wegnehmen. (München StAnw 9200) Die Deutung ist nicht singular: Zunächst finden sich 1939 ortsgebundene Erlasse zur Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern (München MA 1563/20), schließlich 1943 Entwürfe zu Gesetzesvorlagen des StGB, welche eine Entmannung bei Straftaten gegen die Sittlichkeit anordnen, sofern der Täter das 21. Lebensjahr vollendet hat. (Berlin BArch R 22/943) Dieser institutionalisierten Festschreibung der Deutung stehen Aussagen der Täter entgegen. So argumentiert Seefeld, 1935 wegen mehrfachen Mordes hingerichtet, gegen die ihm drohende Entmannung: „Es liegt nicht am Geschlechtsteil, es liegt am Gehirn, das das Seelenleben bestimmt. Durch die -
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"
Der Gutachter bemerkt die zunehmende Gewandtheit in der Ausdrucks weise, die zeige, dass der Angeklagte bereits viel mit Ärzten und Juristen über seine Tat gesprochen habe. Dieser Beobachtung muss ich in der Analyse der Akten ebenfalls beipflichten. Nicht nur Ausdrucksweisen, sondern auch Deutungen nimmt der Angeklagte aus den Gesprächen auf. Berg, Karl: Der Sadist, in: Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 17 (1931), S. 333. 12 Als Genese seines Wahns gibt er die Zuchthausstrafen an, die er für ungerechtfertigt hielt und die ihn verwirrt hätten. Berg: Der Sadist, S. 323.
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Gedanken des Gehirns kommt erst die Wallung in das Geschlechtsteil, darin kann man schließlich nicht mehr dagegen an. Ein Mann, der kastriert ist, kann vielleicht viel etwas Schlimmeres anrichten als der nicht kastrierte, weil er schwerer seinen Trieb befriedigen kann. Darüber habe ich schon oft nachgedacht, aber man glaubt mir nicht. [...] Was nun meine Person betrifft, so kommt es urplötzlich wie ein Funke ins Gehirn, der einen Gedanken bildet, und dieser zieht den Menschen wie ein Magnet mit so furchtbarer Kraft an sich, dass man alle Willenskraft verliert. Diese Kraft wirkt sich ins Riesige aus und macht den betreffenden Menschen mehr oder weniger willens- und kraftlos." (Fischer 1955, S. 1) Ebenfalls will Peter Kürten das Geheimnis seiner Taten gelüftet sehen, wenn die Mediziner sein Gehirn sezieren. (Riese 1931, S. 102). Auch wenn sich beide Täter gegen die ihnen angebotene Deutung wehren, sprechen sie nicht außerhalb des Diskurses, der sich um grauenhafte Verbrechen bereits ausgebreitet hat, sondern innerhalb der möglichen Bandbreite von Auslegungsmöglichkeiten. Der individuelle Versuch der Täter, aus den Spezialdiskursen und Alltagsdeutungen eine Eigendeutung ihrer Taten zu bilden, um eine Strafminderung zu erreichen, bleibt machtlos gegen die Präskriptionskraft der Deutung als Lustmord. Untersucht man die Gespräche: Täter Ermittler, Täter Gutachter und Täter Staatsanwalt so lässt sich aufzeigen, dass die Deutung sich nun zur Vorschrift wandelt, und zwar welchen Hergang die Tat als Lustmord genommen haben muss. Der Täter Peter Kürten wird von seinem Gutachter, dem Mediziner Berg, darauf hingewiesen, dass er seine Geständnisse entwerte, wenn er seine Tatschilderung immer mit den Worten einleite: „er sei losgegangen, um sich ein Opfer zu suchen". Vielmehr müsse er darlegen, dass die Tat plötzlich über ihn gekommen sei (Berg 1931, S. 308). In diesem Zusammenhang berichtet Kürten, dass er die Erklärung seiner Taten aus den Fachbüchern, insbesondere von Lombroso, übernommen habe. Dass diese Deutung plötzlich kommt die Tat über ihn sich im Diskurs nicht halten kann, zeigt sich an der Bewertung der Taten des 1939 verurteilten Johann Eichhorn. Dim wird vorgeworfen, dass er nur in seiner Freizeit morde und nicht während seiner Arbeitszeit, während der er sich offensichtlich habe beherrschen können. Demnach kann ihm die Übermacht des Triebes nicht zur Verteidigung dienen, die man dem Täter Kürten als Strafmilderung noch in Aussicht gestellt hatte. Eichhorn wird die eigene Deutung, dass „sein Surri und Trieb" plötzlich über ihn gekommen sei, sogar ausgeredet. Die Dichotomie mörderische Sexualität versus Verstand wird thematisiert und zugleich aufgelöst. Mord wird zu einer geplanten sexuellen Praxis. -
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Beziehung: Körper Gesellschaftskörper Sexualitätsdispositiv -
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In der Darstellung des Materials habe ich bereits das Netzwerk zwischen den Agierenden, die so genannte Ausformung des Sexualitätsdispositivs, gezeigt. Zu diesem Dispositiv gehören unter anderem Dienstvorschriften und Gesetzesentwürfe, die die Vorstellung über den Täter und seinen gefährlichen Körper normieren und durch ihre Umsetzung instrumentalisieren. Dazu zählen aber auch der Zugriff von Ermittlern, medizinischen Gutachtern und Staatsanwälten auf den Körper des Täters sowie der Einfluss auf seine Vorstellung über sein Tatmotiv. Zur Veranschaulichung, was unter den Begriff Dispositiv zusätzlich gefasst werden soll, schreibt Foucault mit dem ich das letzte Kapitel meiner Analyse beschließen möchte: „Was ich unter dem Titel (Dispositiv, MH) festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann."(Foucault 1978, S. 119) Dem Dispositiv liegen also unterschiedliche allgemeine Vorstellungen zugrunde, die als Wahrnehmungsfolie wirksam werden: An die Taten wurden immerzu Konzepte herangetragen, die auf ein Vorverständnis menschlichen Handelns rekurrieren. Handeln wird als eine Folge von Motiven gefasst, die allgemein nachvollziehbar sind und an vorangegangenen Handlungen erkannt und retrodiktiv formuliert werden können.13 Die allgemeinen Vorstellungen können als eben diese Wahrnehmungsfolien demaskiert werden, die in die Das Verständnis von Beschreibung der Tatverläufe pointierend innerhalb Sexualität kann als ein Ordnungssystem der Wahrnehmungsfolie aufgefasst werden. Es aktualisiert sich an Ereignissen und der begleitenden Forschung immer und nur in der Spur bereits existierender Vorstellungen. Wird mit Foucault dieses wirksame Netz (das Ordnungssystem, Vorstel-
eingreifen.14
lungen, Institutionen, Gesetzesvorlagen, Untersuchungspraktiken
am
Körper
des Täters [...]) als Sexualitätsdispositiv15 verstanden und von der Existenz desselben ausgegangen, aber im falschen Verständnis, und zwar dass das
13 Schorsch und Becker knüpfen an eben jenen Punkt ihre Kritik an, kommen aber zu komplett anderen Lösungen. Vgl. Schorsch, EbethatdlBecker, Nikolaus: Angst, Lust, Zerstörung. Sadismus als soziales und kriminelles Handeln. Zur Psychodynamik sexueller Gießen 2000. Tötungen, 14 Z.B. Umwandlung der Tötungshandlung von Vergiften in Erwürgen im Fall Adolf Seefeld, weil Vergiften für den Lustmord nicht gewalttätig genug erscheint. 15 Nach Foucault ist das Sexualitätsdispositiv die Koppelung vom Wissen über Sexualität, das sich aufspaltet in normal und abweichend, und Institutionen, die das Wissen instrumentalisieren und disziplinierend auf die Einzelnen einwirken.
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einzelne Individuum von der Deutung seiner Tat als Sexualverbrechen vollständig informiert oder sogar überzeugt sei, dann müssen die Interpretationsentwicklungen innerhalb der Gerichtsakten wie am Beispiel Kürten, der seine sexuelle Motivation zunächst ablehnt zunächst überraschen. -
Das Sexualitätsdispositiv muss deswegen vor dem Hintergrund des Umgangs mit den Tätern und deren Befragung gesehen werden. Hier wird der Tatbestand samt Beschreibung auf die sexuelle Dimension reduziert und fokussiert, um ihn innerhalb einer sich allmählich verändernden gerichtlichen Praxis bewertbar zu machen. An den ausgewählten Fällen im Zeitraum von 1924-1939 verwirklicht sich das Sexualitätsdispositiv und weist von Fall zu Fall Veränderungen auf, die zwar erklärbar bleiben, aber nicht vorhersehbar sind. Durch seine Konkann es sowenig korrumpiert oder instrumentalisiert werden, wie der Macht-Wissenkomplex dieses Dispositiv auch von den Tätern nicht vollständig begriffen werden kann. Das Sexualitätsdispositiv verwirklicht und aktualisiert sich in der Tatbewertung durch die Institutionen, während die Täter in ihren unzeitgemäßen Vorstellungen über ihr Motiv verhaftet bleiben und diese Vorstellungen und Ideen referieren. Durch die Verhöre innerhalb der Institutionen erfahren die Täter jeweils notdürftig eine aktualisierte Version über die Hintergründe ihrer Taten, wie auch über ihren mentalen und psychischen Zustand. Das mitgebrachte oder erlernte Verständnis der eigenen Tat als sexuell motivierte Tat und die damit nachgewiesene perverse Ausrichtung des Täters, welche letztlich als Ursache für ihre Taten herhalten muss, dient zur Kennzeichnung des anormalen Individuums. Das ermöglicht, den Täter als bösen Menschen sichtbar zu machen und aus der Gesellschaft auszuschließen. Die Täter aus dem untersuchten Zeitraum wirken an dem Deutungsprozess mit, da mit dem sexuellen Motiv die Möglichkeit einer Strafmilderung im Sinne des Paragraphen 51 scheinbar verbunden ist. Welche Bedeutung der Körper des Mörders bei der Tat gehabt hat, ist mit der historischen Quellenanalyse schwer zu ermitteln. Der Täterkörper erweist sich in den Diskursen als amorph formbare Masse, die nach der Tat beschrieben und geformt werden kann, ohne dass wirklich über die Genese17 der Lüste oder Unlüste und des Wahns oder der seelischen Verfassung des Mörders Auskunft gegeben wird. Eine Analyse der Gerichtsakten sagt mehr über die Normalitätsvorstellungen der historischen Gesellschaft aus als über die Hintergründe der Gewalttaten. -
tingenz16
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Kontingenz ist hier im Sinne von möglich aber nicht notwendig zu verstehen. Das Sexualdispositiv ermöglicht ein abgestecktes Spektrum von Wertungsmöglichkeiten, aber die Wertungen hängen nicht kausal voneinander ab, noch müssen sie sich aufeinander beziehen. Aber sie können sich aufeinander beziehen und ihre Legitimation über diesen Bezug gründen. Die Körperwahrnehmung des eigenen Körpers ist ebenfalls gesellschaftlich geformt.
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Das Dilemma bleibt bestehen: Was die Gesellschaft in der Tatinszenierung unzweifelhaft als Lustmord erkennt, muss dem Täter nicht als Tatmotiv oder Tathandlung bewusst gewesen sein. Erst im Prozess der Ermittlung und der Gerichtsverhandlung wird der Täter in seiner Individualität als Lustmörder hervorgebracht und die gesuchten sexuellen Devianzen als Negativfolie und Distinktionslinie zwischen Gut und Böse bestimmt.
Quellen:
Nürnberger Oberbürgermeisters Willy Liebel an die Stadtverwaltung August 1939), München Institut für Zeitgeschichte, Nürnberger Dokumente;
Dienstvorschrift des
(Nürnberg,
1.
MA 1563/20. Entwurf des Ministerialrats im Reichsjustizministerium Otto Rietzsch für ein Gesetz über die Behandlung Asozialer (Berlin, 1. Februar 1943), BArch R 22/943, fol. S. 302-307. Kriminalbiologisches Gutachten, Staatsarchiv München, StAnw 9200. Landgericht München, Aktenzeichen Us-So 1059/39, in: Staatsarchiv München, StAnw 9206. Haarmann vor Gericht, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 4.12.1924. Mordatmosphäre, in: Welt am Montag, 1.01.1925. Das Recht auf Todesstrafe, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 24.04.1931.
Literatur:
Auernheimer, Georg: Kategorien zur Interpretation von autobiographischen Dokumenten, in: Heinze, Thomas (Hrsg.): Hermeneutisch-lebensgeschichtliche Forschung, Bd. 1, Hagen
1984, S. 4-80.
Karl: Der Sadist, in: Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin, Bd. 17, 1931, S. 245-347. Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens, Frankfurt/M. u.a. 1983. Burger-Villingen, Robert!Nöthling, Walter: Das Geheimnis der Menschenform. Lehrbuch der Menschenkenntnis auf Grand der Anlagefeststellung, 6. Aufl., Wuppertal-Barmen 1958. Butler, Judith: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/M. 2001. Cameron, Deborah/Frazer, Elizabeth: Lust am Töten. Eine feministische Analyse von Sexualmorden, Frankfurt/M. 1993. De Quincey, Thomas: Der Mord als schöne Kunst betrachtet, in: Köhler, Peter: Das Katastrophenbuch, Stuttgart 1994, S. 92-97. Deferí, Daniel: Foucault, der Raum und die Architekten, in: David, CatiietineJChevreir, Jean-Francois (Hrsg.): Politics poetics, Ostfildern/Ruit, Cantz 1997, S. 274-283. Fischer, Johannes: Der Fall des Massenmörders Adolf Seefeld. Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten, erstattet für das Schweriner Schwurgericht von Obermedizinalrat Dr. med. in Sachsenberg, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Bd. 38, 1, 1955. Flesch, Max: Gehirn und Veranlagung des Verbrechens, Beiträge zur Aufhebung der Todesstrafe und zur Einführung eines Verwahrungsgesetzes, Berlin/Leipzig 1929. Foucault, Michel: Dispositive der Macht, Berlin 1978. Ders.: Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976. Ders.: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M. 1991. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (1807), Hamburg 1988, S. 226ff. Hübner, Anton: Lehrbuch der forensischen Psychiatrie, Bonn 1914.
Berg,
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Maren Hoffmeister
Jennings, Theodore W.: On Ritual Knowledge, Press 1982, S. 111-127. Krafft-Ebing, Richard von:
in: Journal of Religion, Bd.
62.2, Chicago
Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung, Stuttgart 1903 (erst 1886). Lenk, Elisabeth/Kaever, Roswitha: Das Leben und Wirken des Peter Kürten, genannt der Vampir von Düsseldorf, München 1974. Lombroso, Cesare: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Bezie-
hung, Hamburg 1894.
Verbrecherstudien, Gera 1896. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, Krit. Studienausg. Bd. 5, München 1980. Schetsche, Michael/Schmidt, Renate-Berenike: Ein „dunkler Drang aus dem Leibe". Deutungen kindlicher Onanie seit dem 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Sexualforschung 9 Ders. :
(1)(1996), S. 1-22.
Schorsch, Eberhard/Becker, Nikolaus: Angst, Lust, Zerstörung. Sadismus als soziales und kriminelles Handeln. Zur Psychodynamik sexueller Tötungen, Gießen 2000.
Strasser, Peter: Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen, Frankfurt/M. u.a. 1984. Wulffen, Erich: Der Sexualverbrecher, Berlin 1910.
Veröffentlichungen : Hoffmeister, Maren: Lustmord. Widerständige Körper im Deutungssystem der Justiz, in: Wulf, Christoph/Sc/twarte, Ludger (Hrsg.): Körper und Recht. Anthropologische Dimensi-
der Rechtsphilosophie, Paderborn 2003. Dies.: „Ich kann nicht anders, es war stärker" Ritual und Zwang, in: Wulf, Christoph/Zir/as, Jörg (Hrsg.): Rituelle Welten, Paragrana, Bd. 12 (2003), H. 1. Dies.: Der Körper als Medium des Bösen, in: Kriminologisches Journal 35/3 (2003). Dies.: Inszenierung des grotesken Körpers, in: Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.): Praktiken des Performativen, Paragrana, Bd. 13 (2004), H. 1. Dies.: Wahn sucht Sinn, in: Wulf, Christoph/ZiV/as, Jörg (Hrsg.): Sucht Rausch Ekstase, Paragrana, Bd. 13 (2004), H. 2. Dies.: Change of View. The Ritual Side of Serial Killings and the Conditions for Fortunate Failure, in: Hüsken, Ute (Hrsg.): „Getting it Wrong? Ritual Dynamics, Mistakes, and Failure", Brill/Leiden 2005. Dies.: Autopoiesis im juristischen System. Erschaffung des Mörders durch performative Akte, in: Diehl, Paula/Grunwald, Herming/Scheffer, Thomas/Wulf, Christoph (Hrsg.): Performanz des Rechts. Inszenierung und Materialität, Paragrana, Bd. 14 (2005), H. 2. onen
Kommentar Lutz Raphael Die drei Beiträge dieser Sektion erkunden in ganz unterschiedlicher Richtung das ideengeschichtliche Beziehungsfeld zwischen Recht, Politik, Moral und Wissenschaft. In allen drei Aufsätzen bilden dabei strafrechtliche Normen den zentralen Referenzpunkt. Alle drei Beiträge fragen nach den ideengeschichtlichen Aufladungen, in denen strafrechtliche Normen ihre konkrete gesellschaftliche Geltung entfalten. Die Verknüpfung mit politischen, moralischen oder wissenschaftlichen Ordnungsvorstellungen macht aus den strafrechtlichen Normen deutlich mehr als rein rechtstechnische Instrumente zur Regelung des sozialen Zusammenlebens. Alle drei Beiträge interessieren sich für das Gewicht, das in diesem Zusammenhang dem Reflexionswissen zukommt. Klippel/Henze/Kesper-Biermann fragen nach dem Zusammenhang zwischen Gesetzgebung, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft. Deutlich tritt in ihren Ergebnissen ein Prozess hervor, der auch in zahlreichen anderen Fällen der Gesetzgebung zu beobachten ist: Während in einer ersten Phase zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Rechtsphilosophie besonderes Gewicht bei der Ausarbeitung neuer Strafrechtsnormen zukam, waren es im weiteren Verlauf des Jahrhunderts bereits in viel stärkerem Maß die anwendungsorientierten Rechtswissenschaftler bzw. Strafvollzugsexperten, welche in den Kodifikationsarbeiten zum Strafrecht eine führende Rolle übernommen haben. Hoffmeister konzentriert sich auf die Verbindungen medizinischer, rechtswissenschaftlicher und kriminologischer Deutungsmuster in Prozessen gegen „Lustmörder" in der Weimarer Republik. Die engmaschige Verknüpfung wissenschaftsbeglaubigter, durch Expertenmeinungen im Verfahren selbst aktualisierter Kategorien zu Gesamtdeutungen, welche die Mörder und ihre Taten „erklären", wird mit Hilfe der Foucaultschen Diskurstheorie rekonstruiert. Hoffmeister zeigt, wie sich in den Prozessen gegen Mehrfachmörder institutionelle und diskursive Routinen verbanden und damit eine spezifische Verdichtung einer Rechtsnorm eintrat. Für den Fall der Einzelhaft als Vollzugsform der Haftstrafe im 19. Jahrhundert haben dies auch Kuppel/ Henze/Kesper-Biermann beobachtet, ohne dass die Autoren jedoch auf Foucaults Konzept der diskursiven Formation und des Dispositiv zurückgegriffen hätten. In beiden Fällen haben wir es mit einer spezifischen „Sättigung" von Argumentationsmustern unterschiedlicher ideeller Provenienz zu tun, die als spezifisch ideengeschichtliche „Stärke" des Diskurses aufgefasst werden kann. -
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Lutz
Raphael
Eine solche enge Verknüpfung von Handlungsroutinen, Argumentationsbzw. Deutungsmustern und Rechtsnorm begegnet uns auch im Beitrag zur Niedens: Hier sind es die Strafverfolgungspraktiken der Polizei gegen männliche Homosexuelle in der NS-Diktatur nach der Verschärfung des Strafrechtsparagraphen 175 im Jahr 1935. Im Vergleich zu den beiden anderen Beiträgen tritt hier jedoch eine noch komplexere Gemengelage zu Tage, wenn zur Nieden die politischen Aufladungen der strafrechtlich verfolgten männlichen Homosexualität untersucht. Auch in diesem Fall spielt die wissenschaftsförmige Reflexion über Strafrechtsnormen, konkret in diesem Fall die seit den 1880er Jahren rasch anwachsende human wissenschaftliche Expertise über Homosexualität eine wichtige Rolle, aber es tritt in den viel breiteren Kommunikationszusammenhang der politischen Öffentlichkeit. Die seit der Kaiserzeit betrachteten Skandalisierungsformen homoerotischer Neigungen politisch Verantwortlicher wird von der Autorin in dem viel weiteren Horizont der Geschlechterdiskurse im politischen Raum des Deutschen Reiches diskutiert. Genese und Geltung rechtlicher Normen erweisen sich in allen drei Beiträgen als komplexer und komplizierter Vorgang ideengeschichtlicher Vernetzungen und Querverbindungen. Die methodischen Optionen reichen von der mikrohistorischen Fallstudie bei Hoffmeister zur rechtsgeschichtlichen Längsschnittuntersuchung im Fall von KlippelZHenzeZKesper-Biermann bis hin zum makrohistorischen Entwurf einer interpretativen Synthese zur Niedens. Es scheint mir unsinnig, Chancen und Risiken der drei unterschiedlichen Beobachtungsniveaus gegeneinander aufzurechnen. Ich möchte nur auf ein zentrales Problem aufmerksam machen, welches ein Spezifikum des Rechts im Kontext einer neuen Ideengeschichte ausmacht. Die Rechtsnormen bilden ein eigenständiges Zwischenreich zwischen Ideen auf der einen Seite, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik auf der anderen Seite. Die rechtlich fixierten und Geltung beanspruchenden Normen sind als Ordnungssysteme besonderer Art zu beachten. Die Existenz von Strafrechtsparagraphen stellt ein sowohl ideen- wie sozial- und politikgeschichtlich unmittelbar relevantes Faktum dar. Seine Wirksamkeit hängt nicht mehr an spezifischen Wegen der „Verbreitung" von Ideen und auch nicht allein der sozial diffusen Durchsetzungskraft von Mehrheitsmeinungen, Mentalitäten oder Gewohnheiten. So war die Weiterexistenz des Paragraphen 175 und damit die strafrechtliche Verfolgungschance von Homosexualität eine notwendige, wenn auch keineswegs die hinreichende Bedingung für die Prozesse der Politisierung von Homosexualität in Form der Skandale und Affären im Deutschen Reich. Die rechtliche Fixierung und Tradierung populärer Ressentiments und verbreiteter Ablehnung von Homosexualität öffnete im deutschen Fall gerade das Feld für weitere wissenschaftsförmige Argumente und wirkte entsprechend anregend auf die Entwicklung der neuen medizinischen Deutungen und For-
443
Kommentar
schungen auf diesem Feld. Mir scheint es, dass diese Eigendynamik und Anschlussfähigkeit von Expertendiskursen im Umfeld von Rechtsnormen besondere Aufmerksamkeit verdient. Über Gerichtsexpertisen, Argumentationsmuster in Gesetzesinitiativen und Novellierungsverfahren treten die humanwissenschaftlichen Ordnungssysteme in ganz besondere Nähe zur Auslegung und Veränderung des Rechts. Insofern führt die ideengeschichtliche Spur der NS-Verfolgung von Homosexuellen nicht nur zu den geschlechterdiskursiven Aufladungen der Politik vom wilhelminischen Kaiserreich zur NS-Zeit, sondern auch zur Anschlussfähigkeit und den real vollzogenen Anschlüssen humanwissenschaftlicher Ordnungsmuster über Abweichungen diesmal verstanden im Sinn statistischer Verteilung. Der von „Normalität" nationalsozialistische Polizeidiskurs, den Himmler und seine Gefolgsleute entfalteten und der im rassenhygienischen Konzept des polizeilichen Schutzes des Volkskörpers seine systematische und radikale Ausgestaltung fand, steht auf jeden Fall in engstem Zusammenhang mit solchen Verknüpfungen. Die Konstruktion rassenhygienischer „Gefahrenherde" hat jedenfalls der juristischen Norm des Paragraphen 175 im NS-Regime eine neue rechtspraktische Aktualität verliehen. Dieser Zusammenhang sollte hinter den machtpolitischen Instrumentalisierungen im Zusammenhang der Morde an Röhm und anderen 1934 sowie hinter den mentalitätsgeschichtlichen Kontinuitäten der Ächtung und Verfolgung von Homosexualität nicht ver-nachlässigt werden. Er war auch nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur noch in den Köpfen juristischer oder medizinischer Experten präsent. In unterschiedlicher Weise sprechen alle drei Beiträge schließlich auch den Zusammenhang zwischen Ideen- und Erfahrungsgeschichte an. Die Geltung strafrechtlicher Normen verweist auch auf deren Verankerung in grundlegenden Wahrnehmungsmustern der sozialen Welt die Konstruktion menschlicher Perfektibilität oder Egalität im Fall von Einzelhaft oder Ehrenstrafen, die Wahrnehmung und Deutung von Sexualität bzw. Geschlechter-
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differenz im Fall
Mord und Homosexualität. Zur Nieden verweist auf die als Referenzpunkt für Staat und Politik Männlichkeit Thematisierung und vermutet Verunsicherungen auf erfahrungsgeschichtlicher Ebene zumindest mit Blick auf Männer in ihren neuen und alten Rollen in männerdominierten Sphären ihres Handelns. Die Grundlagen gesicherten Wissens, aber auch die Möglichkeiten quellenbasierter Rekonstruktion von Erfahrungswelten sind auf diesem Feld eher bescheiden. Eine Kooperation zwischen Ideenhistorikern und Psychologen ist nach wie vor eher die Ausnahme und so bleibt die Zuschreibung diskursiver Phänomene wie etwa die Skandalisierung der Homosexualität von Politikern auf tieferliegende individual- wie sozialpsychologische Motivlagen eine möglicherweise plausible, aber in jedem Fall von
von
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voraussetzungsvolle Hypothese. Verunsicherungen produzieren kognitiv beDissonanzphänomene, die von Individuen eher kurzfristig durch-
kanntlich
444
Lutz Raphael
lebt, aber dann wieder beseitigt werden. An dieser Stelle wird gerade auch die stabilisierende Kraft von Vorurteil und Stereotyp für die Erfahrungen verständlich. „Lustmörder" wie „Homosexuelle" wurden in den zwanziger
dreißiger Jahren sowohl Objekte humanwissenschaftlicher Ordnungssysals auch populärer Vorverurteilungen. Zwischen beiden mussten keineswegs immer Übereinstimmungen oder gar Verbindungen bestehen. Den gemeinsamen Bezugspunkt hatte bereits die Rechtsnorm mit ihren spezifischen praktischen Anschlussmöglichkeiten wie Strafverfolgung, Prozess und Haft geschaffen. Deren Einbettung in weitere Deutungsmuster treten jedenfalls in den drei Aufsätzen ebenso facettenreich wie plastisch zu Tage. und
teme
V.
Wissenschaftliche Ideen, Diskurse und Praktiken
Herbartianismus im 19. Jahrhundert: Urnriss einer intellektuellen Konfiguration Andreas Hoeschen/Lothar Schneider I. Auch die Ideengeschichte versteht unter ihrem Gegenstand kaum mehr eine strikt platonische, überhistorische und universelle metaphysische Entität, sondern ein zumeist komplexes, kulturell und historische situiertes intellektuelles Gebilde. In ihrer Eigenschaft als kohärentes Set von Regeln und Begriffen eigener Historizität und offener Struktur nähert sich die Idee damit dem Fleckschen und Mannheimschen Begriff des Denkstils, aber im Unterschied zu diesem handelt es sich bei der Idee um eine partikulare Form, die nicht die ganze Breite eines intellektuellen Habitus umgreift, sondern lediglich ein tendenziell kohärentes partikulares Gefüge benennt, das als Explikation seieben der Idee gelesen werden kann und mit relativer histones Namens rischer Konstanz auch so gelesen worden ist. Aber selbst diese Bestimmung kann im Falle des Herbartianismus in Frage gestellt werden: Er bezeichnet eine zeitlich eng umgrenzte Konfiguration, die weniger als hundert Jahre Bestand reklamieren kann, die zudem konzeptionell wie disziplinär in unscharfen Rändern ausläuft, die zwar das intellektuelle Leben der Zeit in vielen Bereichen fingierte, deren bleibende systematische Bedeutung aber bereits nach den Urteil der folgenden Generation oft mehr darin zu finden war, Reflexionsansätze geboten als Problemlösungen gefunden zu haben. Trotz der systematischen Philosophie des Namensgebers handelt sich beim Herbartianismus weniger um ein kohärentes System als um eine intellektuelle Konvergenz, ein Gravitationsfeld im intellektuellen Raum des 19. Jahrhunderts, das vor allem in der Pädagogik mit dem Namen des Gründers, in der Ästhetik auch als formale Ästhetik und in der Philosophie als Realismus benannt wurde. Auf dem Kantschen Kritizismus aufbauend versucht der Herbartianismus die logische Tradition der Aufklärung für eine Konzeption von Philosophie fruchtbar zu machen, die als methodisch intendierter und logisch kontrollierter Erkenntnisprozess sämtliche Bereiche des wissenschaftlichen Universums integrieren und über die analytische Wissenschaft der Psychologie und die praktischen Disziplinen von Pädagogik und Ethik auch die Felder des gesellschaftlichen Lebens durchdringen will. Dir Ideal ist eine beseelte Gesellschaft, die Selbstorganisation rationaler und ethischer Individuen.1 Indem er -
1
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Sämtliche Werke. In chronologischer Reihenfolge, hrsg. Flügel, 19 Bde., Langensalza 1887ff., ND Aalen 1964, Bd. 2: All-
Vgl. Herbart, Johann Friedrich:
v.
Karl KehrbachlOtto
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Andreas Hoeschen/Lothar Schneider
448
die Gesellschaft nicht als eigengesetzliche Sphäre, sondern als emergentes Phänomen der Aggregation von Einzelpersonen versteht, formuliert der Herbartianismus das Gesellschaftsmodell eines (protestantischen) Liberalismus, der sich durch individuelle Pflichtethik und einen pflichtethisch begründeten Verzicht auf politische Aktion auszeichnet. Obwohl seine pädagogische Konzeption der philanthropischen Tradition protestantischer Aufklärung verpflichtet ist, kann der Herbartianismus damit um die Jahrhundertmitte selbst im katholischen Habsburger Reich zur pädagogischen offiziellen und philosophisch hegemonialen Theorie werden. Der Ideengeschichtsschreibung ist Johann Friedrich Herbart denn auch vor allem als Pädagoge bekannt. Das philosophische Schaffen dieses Zeitgenossen Hegels und „äußersten Gegenfüßlers der idealistischen mehr noch das seiner Schüler der Herbartianer taucht dagegen meist nur noch in Fußnotenapparaten auf. Dem „philosophischen Diskurs der Moderne", dessen Selbstvergewisserung Hegel als Ausgangspunkt wählt, scheint er jedenfalls entbehrlich.3 Eine ideengeschichtliche Neusichtung des 19. Jahrhunderts, die nicht an der Erfindung, Legitimierung oder Fortschreibung von geistesgeschichtlichen Traditionen, sondern an der Analyse fachübergreifender intellektuellen Konfigurationen interessiert ist, muss hier Revisionsbedarf anmelden. Allerdings werden wir im Folgenden wenig mehr als eine Skizze des Gegenstandsbereichs geben und einige Stichproben auf Feldern vornehmen können, die dem Bereich der Literaturwissenschaft und damit den Kompetenzen der Verfasser nahe liegen. Es soll aber zumindest angedeutet werden, dass eine Berücksichtigung der dargestellten intellektuellen Zusammenhänge sich für andere Disziplinen fruchtbar erweisen könnten. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts galt die herbartianische Philosophie, die das Etikett Realismus für sich beanspruchte, als bedeutendster Konkurrent der idealistischen Strömungen und als deren ernste Bedrohung, da der Herbartianismus sowohl die größere Nähe zu den prosperierenden Naturwissenschaften aufzuweisen hatte, als auch mit seiner wissenschaftlichen Pädagogik über eine mächtige, international bedeutsame und -
-
Metaphysik",2
-
-
-
-
-
aus dem Zwecke der Erziehung abgeleitet (1806), S. 405-408; vgl. 113-122; vgl. Orth, Ernst Wolfgang: Kultur und Vorstellungsmassen. Ansätze
gemeine Pädagogik Bd. 4, S. zur
Entwicklung eines
neuen
Kulturbegriffs
im 19. Jahrhundert bei Johann Friedrich Her-
bart, in: Hoeschen, Andreas/Schneider, Lothar L. (Hrsg.): Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 25-34. Vgl. Zimmer-
mann, Robert: Anthroposophie im Umriss. Entwurf eines Systems idealer Weltansicht auf realistischer Grundlage, Wien 1882. 2 Windelband, Wilhelm: Die Geschichte der Philosophie, Bd. 2: Von Kant bis Hegel und Herbart, Leipzig 1880, S. 36. 3 Vgl. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1986.
Herbartianismus im 19. Jahrhundert
449
verfügte.4
scheinbar
Auch hatte dieser Gegenentzukunftsträchtige Bastion wurf zur Logik, Ästhetik und Ethik des deutschen Idealismus nicht allein in der universitären Philosophie nach 1850 eine starke Bastion, sondern besaß vor allem in den Ausfaltungen der Schülergeneration erheblichen Einfluss auf das Theorieverständnis unterschiedlichster Disziplinen von der Mathematik und Psychologie bis zu Kunst-, Literatur- und Sprachwissenschaft. Außerdem ist er ein wichtiger Faktor der Kulturwissenschaftsdiskussion des ausgehenden 19. Jahrhunderts. So urteilt der zeitgenössische Philosophiehistoriker Eduard Zeller: „Nächst Hegel hat während des letzten Menschenalters kein anderer deutscher Philosoph einen bedeutenderen Einfluß geübt, als Herbart".5 Der Bonner Philosoph und Herbart-Gegner Jürgen Bona Meyer räumte noch 1880 ein, „dass man leider [...] die Wahrheit trifft, wenn man sagt, heutzutage sei Herbarts Philosophie noch die einzige die Schule mache und große Wissensgebiete wie z.B. die Pädagogik und die Psychiatrie nahezu beherrsche."6 Und auch Kuno Fischer bestätigt (in etwas schiefer Formulierung): ,,[S]eine Lehre ist in Österreich und in Leipzig zur herrschenden Universitätsphilosophie geworden [...]" In den philosophischen Kernbereichen wird erst der Neukantianismus dem Herbartianismus diese Position erfolgreich streitig machen und ihn zuerst aus der zeitgenössischen Reflexion und danach auch aus dem Gedächtnis der Disziplinen weitgehend verdrängen, während seine Bewusstseinsmechanik durch die messende Psychologie Fechners und Wundt und seine Pädagogik durch die die Reformpädagogik ins Abseits gedrängt werden. Für unser Projekt muss jedoch eine Einschränkung notiert werden: Die pädagogische Tradition des Herbartianismus blieb weitgehend ausgeklammert. Zwar ist dieser Bereich nicht nur der zeitgeschichtlich bedeutendste und hat bis heute in der Forschung als einziger ungebrochene Aufmerksamkeit erfahren, doch fanden sie in den benachbarten geisteswissenschaftlichen Disziplinen zunächst kaum Beachtung was nicht zuletzt an der bis heute stark disziplinspezifischen Akzentuierung der Auseinandersetzung mit dem Klassiker -
4
Vgl. Köhnke, Klaus Christian: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutUniversitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M 1993,
sche
S. 117ff. 5
Zeller, Eduard: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, München 1873, S. 906f.; vgl. die umfangreiche Darstellung der Herbartschen Philosophie in: Erdmann, Johann Eduard: Die Entwicklung der deutschen Spekulation seit Kant, Bd. 3, Leipzig 1848, Neudruck Stuttgart 1931, S. 12-84. 6 Meyer, Jürgen Bona: [Rez.] M. J. Monrad: Denkrichtungen der neueren Zeit. Eine kritische Rundschau, in: Deutsche Literaturzeitung 1 (1880), Sp. 259-261, hier Sp. 260. 7 Fischer, Kuno: Hegels Leben. Werke und Lehre, 2. Teil, Halle 1943, Neudr. Tübingen 1957, S. 1184.
450
Andreas Hoeschen/Lothar Schneider
des neuzeitlichen Erziehungsdenkens lag. Dabei hätte bereits das Herbartsche pädagogische Prinzip des „Taktes"9 weiteres Interesse finden können, denn es formuliert in Anlehnung an den „logischen Takt" der Kantschen Anthropologie10 ein Konzept praktischen Urteilens, das auch als gesellige Tugend in aristotelischem Sinn," als hermeneutisches Prinzip12 und freilich ohne Herbart zu erwähnen auch als genuin geisteswissenschaftliches Erkenntnisverfahren verstanden worden ist.13 -
-
8
Vgl. Asmus, Walter: Johann Friedrich Herbart. Eine pädagogische Biographie, 2 Bde., Heidelberg 1968/70; Lassahn, Rudolf (Hrsg.): Tendenzen internationaler HerbartRezeption, Kastellaun 1978; Buck, Günther: Herbarts Grundlegung der Pädagogik, Heidelberg 1985; Hopfner, Johanna: Das Subjekt im neuzeitlichen Erziehungsdenken. Ansätze zur Überwindung grundsätzlicher Antinomien bei Herbart und Schleiermacher, Weinheim/München 1999; Heesch, Matthias: Johann Friedrich Herbart zur Einführung, Hamburg 1999; Coriand, Rotraud (Hrsg.): Herbartianische Konzepte der Lehrerbildung Geschichte oder Herausforderung?, Bad Heilbrunn/Oberbayern 2003. 9 .Pädagogischer Tact' im Sinne Herbarts bezeichnet eine Urteilskompetenz des Erziehers, die zum einen praktisch notwendig ist, weil systematische Erkenntnis sich prinzipiell außerstande ist, der Komplexität gerecht werden zu können, die aber dennoch durch systematische Übung als quasi.methodische Fähigkeit habitualisiert werden kann. Vgl. Herbart, Johann Friedrich: Zwei Vorlesungen über Pädagogik (1802), in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 279-290; vgl. Metz, Peter: Interpretative Zugänge zu Herbarts .pädagogischen Takt', in: Zeitschrift für Pädagogik 41 (1995), S. 615-630; Brenner, Dietrich: Die Pädagogik Herbarts. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Systematik neuzeitlicher Weinheim/München 1986, S. 31-54. Pädagogik, 10 Vgl Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), I, § 6, in: ders.: Werke, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abt., Bd. 7, Berlin 1917, S. 117-333, hier S. 139f.; vgl. Sünkel, Wolfgang: [Art.] Takt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 882-886. " Dabei belegt die Formulierung Moritz Lazarus' eine beträchtliche Nähe zum Pascalschen Konzept eines esprit de finesse: „Wenn nun jemand alle die, auch nur in diesen flüchtigen, durch das Bewußtsein hindurch gleitenden Vorstellungen enthaltenen Verhältnissen durch eine pfeilschnelle Aufmerksamkeit betrachtet, wenn er eine solche Reizbarkeit und Gewissenhaftigkeit besitzt, daß auch über jene flüchtigen Keime des Bewußtseins sein urtheil ergeht und seine Handlung darnach bestimmt wird, mit Einem Wort: wenn auch die kaum in's Bewußtsein gekommenen Vorstellungen eben so auf das Urtheil und den Entschluß des Menschen einwirken, wie die klaren und bewußten Vorstellungen, dann hat er Tact. / [...] [D]er Tact fängt da an, wo der Verstand aufhört, d.h. er ist das verständige und überhaupt auf Gesetz und Regel achtende Denken ohne die psychologische Bedingung des Verstandes, nämlich ohne bewußte Vorstellung. Der Tact ist demnach sowohl der Wahrscheinlichkeitsrechnung als der Rechnung mit irrationalen Größen vergleichbar." Lazarus, Moritz: Der Tact, in: ders.: Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinun-
gen und Gesetze, 2 Bde., Berlin 1856f., Bd. 2, S. 261-298, hier S. 286. Vgl. Germar, Friedrich Heinrich: Beitrag zur allgemeinen Hermeneutik und deren Anwendung auf die theologische. Ein Versuch zur näheren Erörterung und Begründung der panharmonischen Interpretation, Altona 1828; ders.: Die hermeneutischen Mängel der sogenannten grammatisch-historischen, eigentlich aber der Takt-Interpretation, an einem auffallenden Beispiele dargestellt und erläutert, Halle 1834; vgl. Vogel, Emil Ferdinand: [Art.] Interpres, in: Ersch, Johann Samuel/Grwèer, Johann Gottfried (Hrsg.): Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, 2. Section, 19. Theil, Leipzg 1841, Neudr. Graz 1981, S. 365^106, hier S. 372f. 13 So spricht Helmholtz von „psychologischem Tactgefühl", das in den historischen und Philologischen Wissenschaften zu „künstlerischer, nicht eigentlich logischer Induction"
Herbartianismus im 19. Jahrhundert
451
dem Urteil der Zeitgenossen Glauben, stellt sich weniger die die herbartianische Philosophie behandeln solle, als die, warum sie so lange vernachlässigt wurde. Bietet es sich doch an, in der Diffusion in Richtungen und Diversifizierung in Disziplinen eine notwendige Eigenschaft jeder sich weitläufig etablierenden philosophischen Strömung zu sehen. Eine wichtige Bedingung des Vergessens liegt jedoch im Ansatz der Herbartschen Philosophie selbst, in der Tatsache, dass sie wegen ihres fehlenden Interesses an Historiographie in den Wissenschaften quasi aufging ist und mit der Ablösung ihrer Konzepte dort auch aus dem Gedächtnis verschwand, während sich in ihrer Stammdisziplin der Neukantianismus gemäß Otto Liebmanns ostinatem Diktum, dass „auf Kant zurückgegangen werden [müsse]",14 eine artifizielle Genealogie schuf, welche die Entwicklungen der kantianischen Philosophie um die Mitte des Jahrhunderts tilgte und eigene Dependenzen verschleierte. Und gerade in dieser Zeit hatte herbartianische Theorie in einigen Kernbereichen der philosophischen Wissenschaften des Feld beherrscht, sich in anderen zumindest behauptet und als mögliche Alternative zu den materialistischen positivistischen Strömungen einerseits und den naturwissenschaftsfeindlichen spekulativen Systemen andererseits empfohlen. Gegen die (vermeintliche) erkenntnistheoretische Naivität des Materialismus setzten die Herbartianer einen kritischen Gegenstandsbegriff; subjektphilosophischen Überschwang der Idealisten wehrten sie mit der Forderung nach methodisch kontrollierter Gegenstandserkenntnis ab. Diese doppelte Frontstellung oder -je nach Interpretation versuchte Brückenfunktion wird dem Herbartianismus zur Falle werden, denn sie zwingt ihn, die Theoriebildung der Gegenstandswissenschaften nicht nur methodisch, sondern zugleich inhaltlich kontrollieren zu wollen und verpflichtet ihn Modelle zu erstellen, die materiale Befunde und Methoden in einem homogenen Raum systematischer Herleitung aus ersten Gründen synthetisieren. Sobald die verschiedenen Disziplinen institutionalisiert waren, sprachen sie sich von diesem Anspruch los; sobald sich die Entwicklungen nicht mehr unter ein gemeinsames philosophisches Dach fügten, verlor auch der philosophische Zweig des Herbartianismus seine Legitimation. Nachdem jahrzehntelang auch innerhalb der wissenschaftshistorisch orientierten Philosophiegeschichtsschreibung nur vereinzelte Stimmen auf den Gegenstand hingewiesen hatten,15 datieren Ansätze einer allgemeinen wisSchenkt
Frage,
man
warum man
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Hermann von: Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft (1862), in: ders.: Das Denken in der Naturwissenschaft, 1968, S. 1-29, hier S. 16. Darmstadt 14 Vgl. z.B. Liebmann, Otto: Kant und die Epigonen. Eine kritische Abhandlung, Stuttgart 1865, Neudruck Berlin 1912, S. 12f.; vgl. Köhnke, Neukantianismus, S. 214-219. Vgl. Diemer, Alwin: Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und Geisteswissenschaften und die Begründung der Geisteswissenschaft als Wissenschaft, in: ders.
befähigt. Helmholtz,
452
Andreas Hoeschen/Lothar Schneider
senschaftshistorischen
Wiederaneignung des Herbartianismus frühestens seit Jahren.16 Sie haben sich im letzten Jahrzehnt zu einem von der siebziger Philosophie vorangetriebenen Forschungsprozess verdichtet.17 Schließlich sind in jüngster Zeit die Vorleistungen wieder entdeckt worden, die der Herden
bartianismus für Theorien wie den amerikanischen Pragmatizismus18 oder den Formalismus19 erbracht hat. Eine wesentliche Voraussetzung des Vergessens lag wie gesagt im Ansatz der Herbartscher Philosophie selbst. Vor der Positivität des Systems versteht Herbart Philosophie als kritisches Unternehmen und verpflichtet sich dabei inhaltlich den jeweiligen Fachwissenschaften. Während die Auseinandersetzung mit den Wissenschaften sich für den spekulativen Idealismus zur Entscheidungsfrage zwischen philosophischer Projektion und szientifischer Praxis zuspitzt, spielen sich im realistischen Wissenschaftsgefüge des Her-
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zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert, MeisenGlan 1968, S. 174-223, hier S. 226. Die für lange Zeit letzte umfassende Berücksichtigung erfolgte in: Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 3 Bde., Bd. 3, Berlin 1923, Neudruck Darmstadt 1994, S. 378^*10. 16 Vgl z.B.: Busch, Friedrich WJRaapke, Hans-Dietrich (Hrsg.): Johann Friedrich Herbart. Leben und Werk in den Widersprüchen seiner Zeit. Neun Analysen, Oldenburg 1976; Jäger, Georg: Die Herbartianische Ästhetik ein österreichischer Weg in die Moderne, in: Zeman, Herbert (Hrsg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880-1980), 2 Bde., 2. Bd., Graz 1982, S. 195-219; Träger, Franz: Herbarts realistisches Denken. Ein Abriß, Amsterdam 1982; Nachtsheim, Stephan: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870-1920, Berlin 1984, S. 76ff.; Allesch, Christian G.: Geschichte der psychologischen Ästhetik, Göttingen/Toronto/Zürich 1987; Kalmar, Ivan: The Völkerpsychologie of Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of in: Journal of the History of Ideas 48 (1987), S. 671-690. Culture, 17 Poggi, Stefano: Positivistische Philosophie und naturwissenschaftliches Denken, in: ders./Röd, Wolfgang (Hrsg.): Geschichte der Philosophie, Bd. 10, München 1989, S. 13154; Frank, Manfred: Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre (Nachwort), in: ders. (Hrsg.): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt/M 1991, S. 413-599; Orth, Ernst Wolfgang: Johann Friedrich Herbart als Philosoph des 19. Jahrhunderts, in: Rauschning, Dietrich/ZVeree, Donata v. (Hrsg.): Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren, Berlin 1995, S. 137-151 und Henckmann, Wolfhart: Einleitung, in: Johann Friedrich Herbart. Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, hrsg. v. Wolfhart Henckmann, Hamburg 1993, S. VII-LV. 18 Vgl. Schlüter, Steffen: Deutscher Realismus und Amerikanischer Pragmatismus. Der Einfluss des Realismus von Johann Friedrich Herbart auf die Philosophie von Charles Sanders Peirce, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47.2 (1999), S. 183-201; vgl. Rescher, Nicholas: Der Streit der Systeme. Ein Essay über die Gründe und Implikationen Vielfalt, Würzburg 1997 (zuerst Pittsburgh 1984), bes. S. 7 u. S. 115f. philosophischer 9 Vgl. Bakos, Jan: Der Tschecho-Slowakische Strukturalismus und die Kunstgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 35 (1990), S. 53-103, hier S. 56f. vgl. auch: Wiesing, Lambert: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Hamburg 1997, S. 57-126. Ein Beispiel kritischen Bezugs bietet Mukarovsky, Jan: Einführung in die Ästhetik [I]. Universitätsvorlesung, Bratislava 1931/32, in: Schwarz, Wolfgang F.: Prager Schule: Kontinuität und Wandel. Arbeiten zur Literaturästhetik und Poetik der Narration, Frankfurt/M 1997, S. 740, hier S. 19-21.
(Hrsg): Beiträge
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Herbartianismus im 19. Jahrhundert
weniger dramatisch aber dafür folgenreicher Funktionsverschiebungen ab. Aber in Grenzen: Obwohl der Herbartianismus um logische Formalisierung und um Mathematisierung bemüht war, gelang es den Herbartianismus
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bartianer in beiden Gebieten nicht, angemessene Theorien zu entwickeln. Dennoch haben sie auch hier anregend gewirkt, in der Logik auf Frege, in der Mathematik auf Bernhard Riemann.20 Zugleich fungieren Herbartianische Logik und Urteilstheorie als expliziter Anknüpfungspunkt für die antipsychologistische Bedeutungs- und Geltungstheorien von Neukantianismus und Phänomenologie.21 Dire Wirkung kann hier über die Jahrhundertwende hinaus bis zu den Semantikdiskussionen der analytischen Philosophie nachvollzogen werden.22
II. Johann Friedrich Herbart verstand sich als „Kantianer von 1828".23 Sein System beruht auf der Annahme, einzig die Ebene des Bewusstseins sei der Reflexion zugänglich. Dessen Einheiten, die Vorstellungen, bestehen aus elementaren Empfindungen, die unzugänglich bleiben und nur in ihren komplexen Formationen von der Philosophie und den Wissenschaften thematisiert und erkannt werden können. Bewusstseinsinhalte sind immer schon lebensweltlich und sprachlich Aufgabe der Philosophie ist, diese lebensweltlichen Quasi-Begriffe zu kritisieren, zu reformieren und in ein logisches und vernünftiges System von evidenten Urteilen, Axiomen und Sie Aussagen zu überführen. Philosophie ist .¿Bearbeitung der
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Begriffe".25
!0
Vgl. Gabriel, Gottfried: Existenz- und Zahlaussage. Herbart und Frege, in: Herbarts Kultursystem, S. 149—162; Scholz, Erhard: Bernhard Riemanns Auseinandersetzung mit der Herbartschen Philosophie, in: Herbarts Kultursystem, S. 163-183; ders.: Herbart's Influence on Bernhard Rieman, in: Historia mathematica 9 (1982), S. 413-440. 21 Vgl. z.B.: Ricken, Heinrich. Zwei Wege der Erkenntnistheorie. Transscendentalpsychologie und Transscendentallogik, in: Kantstudien 14 (1909), S. 169-228, hier S. 195f. und Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, Bd. 1: Prolegomena zur reinen Logik, 7. Aufl., Tübingen 1993, S. 215-219, § 59. 12 Vgl. Dummett, Michael: Ursprünge der analytischen Philosophie, Frankfurt/M 1992, S. 32ff. Zur Bedeutung Robert Zimmermanns für die Genese der Lwow-Warschauer Schule vgl. Smith, Barry: Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano, Chicago and La
Salle 1996, S. 155f. 23 Vgl. Herbart: Werke, Bd. 7: Allgemeine Metaphysik (1828), S. 13. 24„Der Mensch ist nichts außerhalb der Gesellschaft. Den völlig Einzelnen kennen wir gar nicht [...]" Herbart: Werke, Bd. 6, S. 16. 25 Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. Textkritisch revidierte Ausgabe, mit einer Einleitung hrsg. v. Wolfhart Henckmann, Hamburg 1993, S. 29; vgl. Zimmermann, Robert: Aesthetik. 2 Bde., Bd. 1: Geschichte der Aesthetik als philosophischer Wissenschaft, Wien 1858; Bd. 2: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft, Wien 1865, hier Bd. 2, S. 3: ,J^hilosophie ist die Wissenschaft, welche entsteht durch Bearbeitung von Begriffen." (HiO)
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unterteilt sich in Logik, welche die Ordnung von Begriffen unbeschadet ihres Inhalts untersucht, Metaphysik, die aus klaren und distinkten Begriffen inhaltliche Urteile bildet, und Ästhetik. Herbartsche Ästhetik ist die Wissenschaft von Vorstellungen, insofern sie notwendig und intuitiv Zustimmung oder Ablehnung auslösen. Sie umfasst neben der Ästhetik in gebräuchlicher Bedeutung des Wortes auch die Ethik; letztere hat Willensverhältnisse, erstere Gefallensreaktionen ohne Handlungsimplikationen zum Gegenstand. Herbart selbst hat nur den ethischen Teil der Ästhetik ausgearbeitet,26 die bedeutendste herbartianische Ästhetik stammt von Robert Zimmermann. Filiationen bergen zumeist die Gefahr, sich im Dickicht der Einflusslinien zu verlieren; eine topische Lokalisierung einzelner Strömungen erscheint auf den ersten Blick erfolgversprechender: Mit Leipzig, Prag und Wien und für die Völkerpsychologie Berlin lassen sich zwanglos vier Zentren feststellen. Dabei erscheint der Kern der Leipziger Gruppe durch die philosophisch dominierende Person des Logikers und Psychologen Wilhem Drobisch,27 sowie durch ihre Fokussierung auf psychologische Wissenschaft einerseits und die straffe pädagogische Ausrichtung im Umfeld der Lehrschule andererseits relativ geschlossen. Diese Gruppe dominiert mit der Zeitschrift für exacte Philosophie auch das zumindest zeitweise zentrale Publikationsorgan des Herbartianismus.28 Während dabei die Wirkmächtigkeit des Herbartianismus in der pädagogischen Disziplin durch die Personen Allihns, Flügels, Hartensteins, Strümpells und Zillers eindeutig benennbar ist,29 gestalten sich die -
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6
Zu der impliziten ästhetischen Konzeption Herbarts vgl. Henckmann, Wolfhart: Über die Grundlagen von Herbarts Ästhetik, in: Herbarts Kultursystem, S. 231-258, Ziechner, Alfred: Herbart Ästhetik. Dargestellt mit besonderer Rücksicht auf seiner Pädagogik und im Zusammenhange mit der Entwicklung der Ästhetik an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert betrachtet, Leipzig 1908. 27 Drobisch (1802-1896) war bereits mit 24 Jahren von der Universität Leipzig 1826 zum
ordentlichen Professor für Mathematik ernannt worden, seit 1842 hatte er zusätzlich und ab 1864 ausschließlich eine Professur für Philosophie inne. Er lehrte bis 1886. Vgl. Brasch, Moritz: Moritz Wilhelm Drobisch und die mathematischen Psychologie, in: ders. : Leipziger Philosophen. Portraits und Studien aus dem wissenschaftlichen Leben der Gegenwart, 1894, S. 14-50. Leipzig 8 Zeitschrift für exacte Philosophie im Sinne des neuern philosophischen Realismus.
Langensalza, später Leipzig 1 (1861)-20 (1893/96).
29
Friedrich Heinrich H. Theodor Allihn (1811-1885): Lange Jahre Herausgeber der Zeitschrift für exacte Philosophie, auch enagagierter Anti-Hegelianer (vgl. Anm. 53), veröf-
fentlichte
unter dem Pseudonym Caius auch Schriften zur Logik (vgl. Anm. 30) Otto Flügel (1842-1914) Theologe, Schwiegersohn Allihns, ab 1872 mit diesem Herausgeber der Zeitschrift für exacte Philosophe, die ab 1894 mit W. Rein und K. Just als Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik fortgesetzt wurde. Popularisator der herbartianschen Philosophie und Pädagogik. 1912 Ehrendoktor der Universität Halle.Gustav Hartenstein (18081890) Schüler Drobischs, seit 1834 a.o, seit 1836 o. Professor in Leipzig, 1848 Rektor, 1859 emeritiert, Herausgeber von Kant und Herbart. Lehrer von Bonitz. Ludwig Strümpell (1812-1899) ab 1849 Professor für Philosophie in Dorpat, ab 1871 Honorarprofessor in Leipzig, hauptsächlich Schriften zur Philosophie und Pädagogik. Tuiskon Ziller (1817-1882) Pädagoge, seit 1864 a.o. Professor in Leipzig.1861 dort Grün-
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Herbartianismus im 19. Jahrhundert
Verhältnisse im Bereich der Psychologie schwieriger. Da die Leipziger Fraktion und insbesondere Drobisch gegen die idealistische Theorie für eine enge Bindung der Philosophie an die Naturwissenschaften, für formales Logikverständnis und für die Mathematisierung der Wissenschaften eintreten,30 dabei aber vielfach noch nicht über das geeignete Instrumentarium verfügen, kann man je nach dem Blickwinkel der historischen Rekonstruktion in ihnen ein missing link zwischen der Anthropologie der Spätaufklärung und dem -
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philosophischen Psychologismus des späten 19. Jahrhunderts31 oder den Vorläufer einer eigenständigen Disziplin sehen, die sich in Leipzig gerade im Übergang von der philosophischen Psychologie Drobischs32 zur experimentellen Psychologie Gustav Theodor Fechners33 und zum psychologischen Institut Wilhelm Wundts34 konstituierte. Zusätzlich ist dabei noch eine Gruppe habsburgischer Psychologen wie der Wiener Hirnforscher Theodor Meynert,35 und der Prager Sozialpsychologe Gustav Adolf Lindner36 in Betracht zu ziehen. Herbartianische Psychologie
Pädagogischen Philosophie.
der des exacte 30
Seminars. Mit Allihn 1860-69
Herausgeber der Zeitschrift für
Vgl. Drobisch, Moritz Wilhelm: Neue Darstellung der Logik nach ihren einfachsten Verhältnissen nebst einem logisch-mathematischen Anhange, Leipzig 1936; vgl. Brasch, Drobisch; vgl. Caius [= Allihn, Theodor]: Antibarbarus Logicus, Halle 1850. 1 Vgl. Poggi, Stefano: Am Beginn des Psychologismusstreites in der deutschen Philosoin: Herbarts Kultursystem, S. 135-148. phie, 2 Vgl. Drobisch, Moritz Wilhelm: Empirische Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode, Leipzig 1842; ders.: Erste Grundlehren der mathematischen Psychologie, Leipzig 1850; vgl. auch Schilling, Gustav: Lehrbuch der Psychologie, Leipzig 1851; Strümpell, Ludwig: Grundriß der Psychologie oder der Lehre von der Entwicklung des Seelenlebens im Menschen, Leipzig 1884. 33 Vgl. Gundlach, Horst: Verwandte, Freunde, Vertraute, in: ders./Brozek, Josef (Hrsg.): G.T. Fechner und die Psychologie, Passau 1988, S. 87-102; Wolters, Gereon: Verschmähte Liebe Mach, Fechner und die Psychophysik, in: Fechner und die Psychologie, S. 103116. 34 Vgl. Wundt, Wilhelm: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Sprache, Mythus und Sitte, 10 Bde., Leipzig 1900-1920; vgl. Petersen, Peter: Wilhelm Wundt und seine Zeit, 1925. Stuttgart 35 Vgl. Meynert, Theodor: Sammlung von populär-wissenschaftlichen Vorträgen über den Bau und die Leistung des Gehirns, Wien/Leipzig 1892; vgl. auch: Spielmann, Johann: der Geisteserkrankungen, Wien 1855. Diagnostik 36 Vgl. Lindner, Gustav Adolf: Ideen zu einer Psychologie der Gesellschaft als Grundlage der Sozialwissenschaft, Wien 1871; ders.: Über latente Vorstellungen. Prag 1875; ders.: Einleitung in die Philosophie. Prag 1866. Zu Lindner vgl. Macha, Karel: Glaube und Vernunft. Die Böhmische Philosophie in geschichtlicher Übersicht, Teil II: 1800-1900, München u.a. 1987, S. 92f.; vgl. auch Exner, Franz: Die Psychologie der Hegeischen Schule, Leipzig 1842; Volkmann von Volkmar, Wilhelm Fridolin: Die Lehre von den Elementen der Psychologie als Wissenschaft, Prag 1850; ders.: Grundriß der Psychologie nach genetischer Methode vom Standpunkte des philosophischen Realismus, Halle 1856; ders.: Lehrbuch der Psychologie, 2. Aufl., Cöthen 1875. -
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nicht zuletzt durch ihre Tradierung Leibnizscher Philosopheme in zudem die Vorgeschichte der Psychoanalyse.37 Doch nach Berlin: Moritz Lazarus und Heyman Steinthal, entwickeln in ihrer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft das Modell einer Kulturwissenschaft, die nicht mehr Traditionen und Exotismen, sondern die Analyse des Alltäglichen ins Zentrum ihres Interesses stellt.39 Auf der Basis Herbartianischer Philosophie und Psychologie und mit steter Rücksicht auf die Sprachphilosophie Wilhelms von Humboldt erarbeitet Steinthal ein Gedächtnismodell, das die simple Archiv-Vorstellung der rhetorischmnemotechnischen Tradition durch das Modell eines komplexen Funktionszusammenhangs von Eindruck und Erinnerung ersetzt.40 Für Steinthal befindet sich das Gedächtnis in ständiger, aber unmerklicher Veränderung.41 Sein Inhalt besteht hierin folgt er der Herbartschen Psychologie aus komplexen, verflochtenen Ketten und Reihen elementarer Empfindungen, die sich zu charakteristischen Formationen zusammenschließen. Sämtlich drängen sie danach, ins Bewusstsein zurückzukehren, werden aber von den aktuellen Bewusstseinsinhalten zumeist daran gehindert. Da sich das Bewusstsein in der Regel auf der Stufe der Gegenwart erhält, werden dem Gedächtnis außerdem kontinuierlich neue Empfindungskomplexe zugewiesen. Diese interagieren mit den vorhandenen Formationen und Ketten, modifizieren sie und werden wiederum von ihnen modifiziert.42 Die psychologische Weiterentwicklung der Herbartianische Bewusstseinsmechanik erfahrt in der Völker-
gehört
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37
Vgl. Dorer, Marianne: Historische Grundlagen der Psychoanalyse, Leipzig 1932. Für einige herbartianische Wirkungslinien, die im dichten intellektuellen Milieu der habsburgischen Hauptstadt um 1900 neben Freud bei Mauthner und Mach zum Vorschein kommen vgl. auch: Janik, AWan/Toulmin, Stephen: Wittgensteins Wien, Wien 1998, bes. S. 154 u.
S. 172. 38 Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, 1860ff.; vgl. die Sammlung der konzeptionellen Schriften in: Lazarus, Moritz: Grundzüge der Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, hrsg. v. Klaus Christian Köhnke, Hamburg 2003. 3 Vgl. Eckhardt, Georg (Hrsg.): Völkerpsychologie Versuch einer Neuentdeckung. Texte von Lazarus, Steinthal und Wundt, Weinheim 1979; Sganzini, Carlo: Die Fortschritte der Völkerpsychologie von Lazarus bis Wundt, Bern 1913; Leicht, Alfred: Lazarus der Begründer der Völkerpsychologie, Leipzig 1904; Köhnke, Klaus Christian: Der Kulturbegriff von Moritz Lazarus oder: die wissenschaftliche Aneignung des Alltäglichen, in: Herbarts Kultursystem, S. 39-50. 40 Vgl. Steinthal, H[eyman] : Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft Abriss der Sprachwissenschaft. 1. Teil: Die Sprache im Allgemeinen, Berlin 1871. 41 „So bemerken wir die allmählichen Veränderungen der Dinge und Personen nicht, mit denen wir fortwährend verkehren, weil wir von Tag zu Tage je nach der Wahrnehmung unsere Erinnerung umgestalten." Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, S. 150. 42 „Zwei ganz gleiche Dinge sehen wir selten; aber täglich und stündlich stoßen wir auf ähnliche Dinge, d.h. auf solche, welche teils gleiche, teils ungleiche Elemente enthalten. Die gleichen Elemente in den beiden VerBde.n streben nach Verschmelzung und werden nur durch die Verbindung mit den ungleichen Elementen davor geschützt." Steinthal: Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, S. 147. -
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Herbartianismus im 19. Jahrhundert
psychologie
zudem eine objektive Erweiterung. Auf ihrer Grundlage entwickelt Moritz Lazarus eine umfassende Theorie der Funktion kultureller Wirklichkeit. Die Herbartsche Psychologie hatte das Problem, zu erklären, wie die Unmenge von Empfindungen, die auf das Gedächtnis einströmen, zu bewältigen sind. Dire Lösung hatte darin gelegen, das Gedächtnis nicht als Ablage materialer Korpuskel, sondern als Arsenal von Strukturen zu denken, die durch den Einfluss neuer Empfindungen weniger erweitert, als in Prozessen von Hemmung, Verschmelzung, Verwebung und Wölbung modifiziert werden. Analog versteht Lazarus die Kultur als Verfahren und Sediment gesellschaftlicher Praxen. In einem Prozess der Verdichtung werden kulturelle Praxen im Medium individueller Gedächtnisse sedimentiert und organisieren einen Fundus biographischer wie sozialer Erinnerung; das selbe Verfahren bestimmt auch die objektiven und intersubjektiven Bereiche der Kultur von der Sprache bis hin zur Form alltäglicher Gegenstände.43 Diese werden damit nicht nur erstmals zu Objekten kulturwissenschaftlichen Interesses, sondern zugleich zu erlebnishaften Symptomen struktureller Nähe, die in der Interaktion von Wahrnehmungsformen und Gedächtnisinhalten als déjà vu, als befremdliches Erlebnis falscher Vertrautheit erfahren werden können.44 Mit dem Konzept der Verdichtung steht die Völkerpsychologie an der Schwelle einer Kulturwissenschaft, die nicht nur die cultura animi, sondern auch altera natura zum Gegenstand erhebt.45 Trotz des disziplinären Scheiterns ihres ambitionierten Projekts im Wilhelminischen Deutschland erweist sie sich als konzeptgeschichtlich produktiver Rezeptionsgegenstand im Kontext der europäischen Ideengeschichte.46 Dies gilt einmal für die französische Diskussion über die methodische Konstituierung und Erfassung des Kollektivbewusstseins von Durckheim bis Halbwachs wenn auch hier die explizite Bezugnahme eher zurückhaltend ausfällt.47 Dies gilt ausdrücklich für die -
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43
Vgl. Lazarus, Moritz: Verdichtung des Denkens in der Geschichte. Ein Fragment, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 2 (1862), S. 54-62. Vgl. Grävenitz, Gerhard von: „Verdichtung"? Das Kulturmodell der „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft", in: Kea, Zeitschrift für Kulturwissenschaften 11 (1998), S. 19-57; Oesterle, Günter: „Unter dem Strich". Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im 19. Jahrhundert, in: Barkhoff, Jürgen u.a. (Hrsg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra, Tübingen 2000, S. 229-250. 44 Vgl. Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, S. 150; vgl. Oesterle, Günter/Schneider, Lothar: Einleitung, in: Oesterle, Günter (Hrsg.): Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 7-23, hier S. lOf. 45 Vgl. Allesch, Christian: Johann Friedrich Herbart als Wegbereiter der Kulturpsychologie, in: Herbarts Kultursystem, S. 51-67. 46 Zur Interdependenz von Konzeptgestalt und Kulturmodell in der herbartianischen Völkerpsychologie vgl. Hoeschen, Andreas: Die .Zirkulation der Ideen' bei Lazarus und Steinthal, in: Schmidt, HaraXdISandl, Marcus (Hrsg.): Gedächtnis und Zirkulation, Göttingen 2002, S. 207-234. 47 Durckheim hebt „die interessanten Arbeiten von Lazarus und Steinthal" ausdrücklich hervor und bemerkt sogar, dass die „Sozialpsychologie", welche von ihm als disziplinäres Projekt und noch nicht als etablierte Wissenschaft beschrieben wird, in der „Völkerpsycho-
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Andreas Hoeschen/Lothar Schneider
russische Diskussion über eine Zusammenführung von Linguistik und Kulturtheorie sowie in der zunehmend brisanten Auseinandersetzung über den Konnex von Individuellem und Gesellschaftlichen. Sie reicht von den Steinthal-Schülern Potebnja und Veselovskij bis zum Bachtin-Zirkel und stattet an allen ihren Stationen der herbartianischen Völkerpsychologie deutlich Referenz ab.48 Selbst Georg Simmel und Wilhelm Dilthey, Gründungsfiguren der Soziologie und der geistesgeschichtlichen Hermeneutik, sind ihr verpflich-
tet.49
Auch bekannte Filiationen in anderen Bereichen erweisen sich als ergänDie Bedeutung Robert Zimmermanns für Eduard Hanslick und über ihn für die Wiener Neoklassik gehört zum Bestand der Musikwiswährend der Einfluss Herbarts, vor allem
zungsbedürftig:
senschaftsgeschichtsschreibung,50
logie der Deutschen" bereits vorliege. Als Mangel erscheint ihm jedoch die weitgehende empirische Unabgesichertheit der herbartianischen Völkerpsychologie. Siehe: Durckheim, Emile: Einführung in die Sozialwissenschaft. Eröffnungsvorlesung von 1887-1888, in: ders.: Frühe Schriften zur Begründung der Sozialwissenschaft, Darmstadt/Neuwied 1981,
S. 25-52, hier S. 45. Vgl. dazu: Hoeschen, Andreas: Anamnesis als ästhetische Rekonfiguration. Zu Bachtins dialogischer Erinnerungskultur, in: Oesterle, Günter (Hrsg.): Erinnerungskulturen interdisziplinär: kulturhistorische Problemfelder und Perspektiven, Göttingen 2005 (im Druck). Als Zeugnis der intensiven russischen Herbartianismus-Rezeption, die sich neben der Völkerpsychologie von Lazarus und Steinthal bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein ebenso auf Zimmermann und Herbart selbst bezieht vgl. die betreffenden Bezüge in Boris Pasternaks philosophischen Konspekt- und Notizheften in: Fleishman, Lazat/Harder, Hans BemdlDorzweiler, Sergei (Hrsg.): Boris Pasternaks Lehrjahre. HeonyönHKOBaHHbie n.ioco(]>CKHe KOHcneirrbi h 3aMencH BopHca üacTepHaKa, 2 Bde., Stanford 1996, Bd. 1, S. 393 u. Bd. 2, S. 120 u. S. 237-254. 49 S.u. 50 Vgl. Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Tonkunst, Leipzig 1854. Hanslick war kein dezidierter Herbartianer, er hatte sich zunächst auf Vischer berufen, diese Verweise aber in den späteren Auflagen zunehmend getilgt. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich Hanslick inhaltlich nicht auf die entsprechenden Teile der Vischerschen Ästhetik beziehen konnte, da sie erst 1857 erschienen. Vgl. Vischer, Friedrich Theodor: Ästhetik, Bd. 3.2.: Die Künste. 4. Abt.: Die Musik, Stuttgart 1857. Vischer war seinerseits die Lektüre des Hanslickschen Werkes von David Friedrich Strauß nahegelegt worden. Vgl. Strauß, David Friedrich: Ausgewählte Briefe, hrsg. u. erl. v. Eduard Zeller, Bonn 1895, S. 3401, Nr. 319: An Vischer. Heidelberg, den 4. Juno 1855. Zudem sieht Christoph Landerer den Einfluss Zimmermanns stärker in Bolzanoscher Perspektive. Vgl. Landerer, Christoph: Bernhard Bolzano, Eduard Hanslick und die Geschichte des musikästhetischen Objektivismus. Zu einem Kapitel österreichischer Geistesgeschichte, in: Kriterion 5 (1993), S. 16-30. Auch Jaroslav Stritecky bestätigt eine spätere Lektüre, verweist jedoch auch darauf, dass Hanslick in Prag Schüler des ausgewiesenen Herbartianers Exner war. Vgl. Stritecky, Jaroslav: Vom Prager/Wiener Formalismus zum Prager Strukturalismus. Zu einer Mitteleuropäischen Tradition, in: Bontinck, Irmgard (Hrsg.): Wege zu einer Wiener Schule der Musiksoziologie. Konvergenz der Disziplinen und empiristische Tradition, Wien/Mühlheim an der Ruhr 1996, S. 35-48, hier S. 47. Ebensowenig ist die strikte, forschungsnotorische Opposition zwischen Wagnerschem Gesamtkunstwerk und Hanslickschem Verständnis von Musik als .bewegter Form' im Sinne einer Formalästhetik dessen eigenes Werk. Sie wurde interessanterweise von Hostinsky formuliert. Vgl. Hostinsky, Ottokar: Das Musikalisch-Schöne und das Gesammtkunstwerk vom Standpuncte der formalen Aesthetik. Eine Studie, Leipzig 1877. 48
Herbartianismus im 19. Jahrhundert
459
aber seines direkten Schülers Griepenkerl auf die Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs und dem Aufstieg der Instrumentalmusik,51 oder der Einfluss des tschechischen Herbartianismus über Josef Durdik auf den musikalischen Naturalismus Leos Janceks noch weithin im Dunkeln liegt.52 Manifestiert wiederum ist der Einfluss Zimmermanns auf die Wiener Schule der Kunstwissenschaft um Alois Riegl und Otto Pacht sowie die Beziehung zur Konrad Fiedler,53 während die literaturwissenschaftliche Verbindung von Herbart zu Oskar Walzel noch weitgehend unausgewiesen geblieben ist.54 Zumeist jedoch gestalten sich besonders die Verhältnisse im Raum der Habsburger Monarchie komplex. Zunächst erscheint Prag als Zentrum der Rezeption des Herbartianismus,55 bevor mit der Berufung des Prager Herbartianers Exner sowie des Berliner herbartianischen Pädagogen Bonitz56 zum Schulreformern und dem folgenden Wechsel Robert Zimmermanns auf den Lehrstuhl für Philosophie nach Wien diese Richtung als quasi offizielle -
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51
Friedrich Konrad Griepenkerl (1782-1849) verfasste die erste, noch von den späteren Fraktionsbildungen unberührte herbartianische Ästhetik: ders.: Lehrbuch der Ästhetik. In zwei Theilen, Braunschweig 1827; vgl. ders.: Briefe an einen jüngeren gelehrten Freund über Philosophie und besonders über Herbarts Lehren, Braunschweig 1832. Zu Griepenkerl vgl. Asmus, Walter: [Art.] Griepenkerl, Friedrich Konrad, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, S. 58. Zu Herbartschen Musikästhetik selbst vgl. Bagier, Guido: Herbart und die Musik mit Berücksichtigung der Beziehung zur Ästhetik und Psychologie, Langensalza 1911.
52
Vgl. Fukac, Jiri: Empirische Denkweise in der tschechischen Musikwissenschaft: ihre Ursachen, Manifestationen und kognitive Folgen, in: Wege zu einer Wiener Schule der Musiksoziologie, S. 23-34; Stritecky, Vom Prager/Wiener Formalismus zum Prager Strukturalismus. 53
Vgl. Olin, Margaret: Forms of Representation in Alois Riegel's Theory of Art, Pensylvania 1992, 5f. u. 104; Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes, 57ff; vgl. auch: Anglet, Andreas: Musikphilosophische Konturen und Perspektiven der Kunsttheorie Konrad Fiedlers, in: Majetschak, Stephan: Auge und Hand. Konrad Fielders Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 323-350. 54 Vgl. Walzel, Oskar: Herbart über dichterische Form (1915), in: ders.: Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erschöpfung, Leipzig 1926, S. 77-99. 55 Zur Bedeutung des Herbartianismus als „offizielle und einflußreichste philosophische Richtung der Prager Universität" bis zu Masaryk vgl.: Macha, Karel: Die philosophischen Traditionen im Gebiet der vormaligen Tschechoslowakei, in: Dahm, Helmut!Ignatow, Assen (Hrsg.): Geschichte der philosophischen Traditionen Osteuropas, Darmstadt 1996, S. 389-447, hier S. 401; vgl. ders.: Glaube und Vernunft, München u.a. 1987, S. 83-102: Die Philosophie J.G. Herbarts im böhmischen Raum; Neumann, Kurt K.: Die „Allgemeine Ästhetik" von Josef Durdik. Ihr Einfluß auf die Genese einer positivistischen „Schönheitswissenschaft" und auf die moderne Kunst, in: Blaukopf, Kurt (Hrsg.): Philosophie, Literatur und Musik im Orchester der Wissenschaften, Wien 1996, S. 106-130; vgl. auch: Cysarz, Herbert: Deutsche Philosophie im Prager Raum seit Bernhard Bolzano, in: Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum 9 (1968), S. 229-264. 56 Hermann Bonitz (1814-1888). Altphilologe und Pädagoge. 1849 Ruf an die Universität Wien, seit 1867 Direktor des Grauen Gymnasiums in Berlin, seit 1875 Vortragender Rat im Preußischen Unterrichtsministerium. 1850 Gründer der Zeitschrift für österreichische Gymnasien.
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und Pädagogik in die Hauptstadt verpflanzt wird. Hinzukommt, dass die Reform der Bedeutung der Philosophie eine neue Qualität verleiht, da die herbartianisch-bolzanistische Propädeutik im Unterricht der Gymnasien obligatorisch wird und damit die universitäre Disziplin Philosophie ihrerseits einen neuen, wissenschaftlichen Status erlangt, wie Robert Zimmermann 1850 in seiner Olmützer Antrittsrede befriedigt feststellen kann.59 Da auch im Deutschen Reich die herbartianische Pädagogik dominierte, konnte in den entsprechenden Ländern niemand ohne ein gewisses Maß herbartianischer Praxis seine höhere Schulbildung absolvieren und in etlichen Fächern kam noch eine Portion Theorie dazu.60 Dennoch ist die Bedeutung des Herbartianismus für die Entwicklung im österreichischen Raum strittig. Dies liegt vor allem daran, dass die Herbartianische Philosophie häufig als Trojanisches Pferd gesehen wird, um die Philosophie des als Professor entlassenen und unter Publikationsverbot stehenden ehemaligen Priesters Bernhard Bolzano in Umlauf zu bringen.61 Dass dies möglich war, liegt jedoch zu einem guten Teil daran, dass es gemeinsame
Philosophie
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57
Vgl. Bauer, Roger: Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, Heidelberg 1966, S. 61-79; Winter, Eduard: Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz, Wien 1968, S. 237-249; Otto, Barbara: Der sezessionierte Herbart Wissenschaftsrezeption im Staatsinteresse zur Zeit Metternichs, in: Benedikt, Michael/Knoll, Reinhold/Rupitz, Josef (Hrsg.): Verdrängter Humanismus Verzögerte Aufklärung, Bd. 3: Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Philosophie in Österreich (1820-1880), Klausen-Leopoldsdorf 1995, S. 141-155. Zur allgemeinen Orientierung vgl. Jäger, Georg/Tenorth, Heinz-Elmar: Pädagogisches Denken, in: Jeismann, Karl-Ernst!Lundgreen, Peter (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 1800-1870: Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, München 1987, S. 71-104; Herrmann, Ulrich: Pädagogisches Denken und die Anfänge der Reformpädagogik, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4: 1870-1918: Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. v. Christa Berg, München 1991, S. 147-178, bes. S. 159-162; Tenorth, Heinz-Elmar: Kulturphilosophie als Weltanschauungswissenschaft. Zur Theoretisierung des Denkens über Erziehung, in: vom Bruch, Rüdiger/Graf, Friedrich Wilhelm///w¿>mge7-, Gangolf (Hrsg.): Kultur und Kulturwissenschaft um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 133-154; Willmann, Otto: Das Prager pädagogische Universitätsseminar in dem ersten Vierteljahrhundert seines Bestehens, Wien 1901, S. 1-3: Der akademisch-pädagogische Seminarunterricht im Ganzen des österreichischen Bil-
-
dungswesen.
S9Vgl. Zimmermann, Robert: Über die jetzige Stellung der Philosophie auf der Universität,
Olmütz 1850; 60
vgl. ders.: Philosophische Propaedeutik, Wien 1860.
Logik beklagt dies Willmann, Otto: Aus Hörsaal und Schulstube. Gesammelte kleinere Schriften zur Erziehungs- und Unterrichtslehre, Freiburg im Breisgau 1904, Für die
S. 124.
61
Vgl. Winter, Eduard: Einleitung, in: Bolzano, Bernhard: Schriften, hrsg. v. der Königlichen Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. 4: Der Briefwechsel B. Bolzano's mit F. Exner, hrsg. v. Eduard Winter, Prag 1935, S. VH-XX, hier S. XI-XX; vgl. Stachel, Peter: Leibniz, Bolzano und die Folgen. Zum Denkstil der österreichischen Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 1: Historischer Kontext, wissenssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, hrsg. v. Karl Acham, Wien 1999, S. 253-296.
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Herbartianismus im 19. Jahrhundert
Positionen gab, die gemeinsame Projekte möglich und gegenseitige Unterstützung wünschenswert erschienen ließen. Einig war man sich in der Ablehnung der Philosophien Hegels und Schellings, teilweise auch Fichtes, besonders aber in der Zurückweisung der in Österreich einflussreichen Spätphilosophien Jacobis und Friedrich Schlegels. Philosophie, so ein beidseitig geteilter, staatlicher Protektion in beiden Ländern sehr förderlicher Standpunkt, solle sich jeden unmittelbaren politischen Engagements enthalten. Diese Auffassung hatte schon Herbart als Rektor mit der Entlassung der Göttinger Sieben für seine Zeitgenossen eindrücklich belegt62 und Theodor Allihn hatte sie 1852 in einer Invektive gegen Hegelianische Philosophie bestätigt.63 Einig waren sich Bolzano und Herbart auch in der Betonung der Logik und im gemeinsamen pädagogischen Anliegen. Andererseits steht Bolzano Herbart in vielen Aspekten durchaus kritisch gegenüber, bleibt dem Herbartianer Exner gegenüber skeptisch und verfolgt das zunehmende Interesse Zimmermanns an der Herbartischen Philosophie mit Misstrauen.64 Zimmermanns Philosophie kann nicht uneingeschränkt als Repräsentant des Habsburger Herbartianismus gelten. Dir profiliertester Teil, die Ästhetik, erfuhr Widerspruch durch den Prager Otakar (Ottokar) Hostinsky, der mit seiner erschöpfenden Kompilation Herbarts Ästhetik in ihren grundlegenden Teilen quellenmäßig dargestellt und erläutert wieder das Augenmerk auf den urkundlichen Herbart richtete und dessen theoretische Offenheit im Gegensatz zum systematischen Reformulierungsanspruch von Zimmermanns Allgemeiner Ästhetik herausstellte.65 Auch der Grazer Philosophieprofessor und Exnerschüler Joseph W. Nahlowsky setzte dem strikten Formalismus Zimmermanns eine versöhnende Position gegenüber und versuchte dem herbartianischen System Elemente der Gehaltsästhetik zu integrieren.66 Zwi-
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62
Vgl. die Selbstrechtfertigung: Herbart, Johann Friedrich: Erinnerung an die Göttingische im Jahre 1837, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 27^4. Katastrophe 63 Vgl. Verfasser des .Antibarbarus Logicus' [Allihn, Friedrich Heinrich Theodor]: Der verderblichen Einfluß der Hegeischen Philosphie, Leipzig 1852; vgl. ders.: Briefe eines Nordhäuser Landmannes über Demokratenwesen, freie Gemeinden und Hegel'sche Philosophie, 2. Aufl., Halle 1849. Zur .Wende' um 1850, die selbst Idealisten wie Immanuel Hermann Fichte und Johann Eduard Erdmann veranlasste, die Herbartsche Philosophie zu empfehlen vgl. Köhnke: Neukantianismus, S. 117-121. 64 Vgl. Winter, EdusidlZeil, Wilhelm (Hrsg.): Wissenschaft und Religion im Vormärz. Der
Briefwechsel Bernhard Bolzanos mit Michael Josef Fesl 1822-1848, Berlin 1865. Hostinsky, Ottokar: Herbart's Ästhetik, in ihren grundlegenden Teilen quellenmässig dargestellt und erläutert, Hamburg 1891; vgl. ders.: Über die Bedeutung der praktischen Ideen Herbart's für die allgemeine Ästhetik, Prag 1883; ders.: Das Musikalisch-Schöne und das Gesammtkunstwerk vom Standpunkte der formalen Ästhetik. Eine Studie, Leipzig 1877; vgl. auch Dr. ig. Kadlec: Hostinsky's Einwendungen gegen die einzelnen Formen der allgemeinen Ästhetik, in: Zeitschrift für exakte Philosophie 14 (1886), S. 151-166. 66 Nahlowsky, Joseph W.: Das Gefühlsleben. In seinen wesentlichsten Erscheinungen und Bezügen dargestellt. 2., durchges. und verbess. Aufl., Leipzig 1884. Ein weiterer Vertreter des österreichischen Herbartianismus ist Matthias Amos Drbal, Pädagoge und Schulinspek65
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sehen Zimmermann und Nahlowsky entspann sich eine Kontroverse, die bemerkenswerterweise in der Zeitschrift för exacte Philosophie ausgetragen und dort mit einem Artikel des orthodoxen Leipziger Herbartianers Otto Flügel beendet wurde.7 Doch damit ist das Feld herbartianischer Ästhetik bei weitem nicht erschöpft: Es gibt es relativ unabhängige strikt herbartianische Positionen wie die Ästhetik des Züricher Philosophen Eduard Bobrik68 oder die gemäßigt formale Ästhetik Hermann Siebecks69 oder die Vorschule der Ästhetik Theodor Fechners, die zwar nicht der Ästhetik des Herbartianismus, wohl aber seiner Psychologie verpflichtet ist,70 und andere mehr.71 Schließlich wäre zu fragen, ob es nicht signifikante Differenzen zwischen Vertretern herbartianischer Ästhetik, die sich auf Musik als modellgebende Kunst beziehen wie Hostinsky, Griepenkerl und Herbart selbst, auf der einen und primär literarästhetisch orientierten Autoren wie Nahlowsy, Zimmermann und die Beiträger der Völkerpsychologie auf der anderen Seite gibt.
Vgl. Drbal, Matthias Arnos: Lehrbuch der propädeutischen Logik, Wien 1865; ders.: Lehrbuch der empirischen Psychologie, 2. Aufl., Wien 1875. 67 Vgl. Zimmermann, Robert: Zur Reform der Aesthetik als exaeter Wissenschaft, in: Zeitschrift für exacte Philosophie 2 (1862), S. 308-358, auch in: ders.: Studien und Kritiken zur Philosophie und Aesthetik, 2 Bde., Wien 1870, Bd. 1, S. 223-265; Nahlowsky, Joseph W.: Aesthetisch-kritische Streifzüge, in: Zeitschrift für exacte Philosophie 3 (1863), S. 384-^440 u. S. 4 (1864), S. 26-63; Zimmermann, Robert: Abwehr, in: Zeitschrift für exacte Philosophie 4 (1863), S. 199-206; Nahlowsky, Joseph W.: Erwiederung und Verwahrung, in: Zeitschrift für exacte Philosophie 4 (1863), S. 300-312; Flügel, Otto: Über den formalen Charakter der Aesthetik, in: Zeitschrift für exacte Philosophie 4, S. 349-370, hier. S. 349-363; vgl. auch ders.: Über das Absolute in den ästhetischen Urteilen, Langensalzal901. 68 Bobrick, Eduard: Freie Vorträge über Aesthetik. Gehalten zu Zürich 1834, Zürich 1834; vgl. Krämer, Erwin: Aesthetik und Wissenschaft. Ein Grundproblem Eduard Bobricks, Phil. Diss. Königsberg 1940; Fiebig, Ernst: Bobricks Ästhetik. Beiträge zur Lehre des ästhetischen Formalismus, Phil. Diss., Bonn 1930. 69 Siebeck, Hermann: Das Wesen der ästhetischen Anschauung. Psychologische Theorie des Schönen und der Kunst, Berlin 1875; ders.: Über musikalische Einfühlung, Leipzig 1906; ders.: Grundfragen zur Psychologie und Ästhetik der Tonkunst, Tübingen 1909; vgl. Marquard, Odo: Hermann Siebeck, in: Gundel, Hans Geotg/Moraw, Peter/Press, Volker (Hrsg.): Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Marburg 1982, S. 866-873; Hoeschen, Andteas/Schneider, Lothar: Herbartianismus-Forschung und herbartianische Tradition in Gießen, in: Gießener Universitätsblätter 34/35 (2001/02), S. 173tor.
178.
70
Fechner, Gustav Theodor: Vorschule der
1897f.
71
Ästhetik,
2 Theile
(1876), 2. Aufl., Leipzig
Vgl. Vogt, Theodor: Form und Gehalt in der Ästhetik. Eine kritische Untersuchung über Entstehung und Anwendung dieser Begriffe, Wien 1865; Hansen, Friedrich Antonius von: Grundlegung von Aesthetik, Moral und Erziehung vom empirischen Standpunkt, Halle 1869; Zeising, Adolf: Ästhetische Forschungen, Frankfurt/M. 1855; Milletich, Stephan von: Die ästhetische Form des abschließenden Ausgleichs in den Shakespear'schen Dramen, 2. Aufl., Wien 1893; vgl. Neudecker, Georg: Studien zur Geschichte der deutschen Ästhetik seit Kant, Würzburg 1878.
Herbartianismus im 19. Jahrhundert
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III. Robert Zimmermann gründet seine Ästhetik einzig auf formale Bestimmungen ihres Gegenstands. Ästhetik ist die formale Analyse von Gegenständen des Gefallens resp. Missfallens, die zwar prinzipiell eine Vereinigung subjektiver und objektiver Momente darstellen, jedoch nicht im Hinblick auf ihre Referenz ihren Abbildcharakter -, sondern in Hinblick auf die formalen Bedingungen ihrer affektiven Konnotate thematisiert werden.72 Sie bleibt dem Inhalt des Bildes Bild wird im Fichteschen Sinne als genetischer Begriff aufgefasst und den Bedingungen seiner Genese gegenüber indifferent;73 einzig das Wie, nicht das Was des Kunstwerks steht in Frage.74 Sie argumentiert aus Sicht des Rezipienten,75 ist gegenüber den Kunstwerken prinzipiell kann aber, wie Zimmermann glaubt, auf die Eviempirisch und denz der exponierten Regularitäten vertrauen. Dabei beruht die soziale Geltung des Kunstwerks nicht auf der Identität eines (begrifflichen oder intuitiven) Substrats, sondern auf seinem Zeichencharakter.77 Symbolische ist „Gedanken mit Rücksicht auf ihre Wahrheit versinnlichende Kunst"78 und gehört damit gehört zum Bereich „rhetorischer Kunstwerke".79 Damit spielt der zentrale Begriff idealistischer Kunsttheorie des späten 19. Jahrhunderts, das Symbol, nur eine untergeordnete Rolle als „Gedankenbild".80 In seiner Eigenschaft zu bedeuten überschreitet es die Bildebene und -
-
-
deskriptiv,76
„Aus dem ästhetischen Begriffsinhalt soll nichts erkannt, derselbe soll nur gedacht und der billigende oder missbilligende Zusatz, den er mit sich fuhrt, abgewartet werden. Während im theoretischen, auf das Gegebene bezüglichen Begriff das Subjekt etwas von diesem empfangt, wird dem ästhetischen umgekehrt etwas von jenem hinzugefügt. Das Bild sammt dem Zusätze erst macht den ästhetischen Begriff ..." Zimmermann, Robert: Aesthetik. Bd. 1: Geschichte der Aesthetik als philosophischer Wissenschaft, Wien 1858; Bd. 2: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft, Wien 1865, hier Bd. 2, S. 10; vgl. Hoeschen, Andreas: Norm, Relation und System im ästhetischen Formalismus, in: Herbarts Kultursystem, S. 297-316; Cernoch, Georg Wolfgang: Zimmermanns Grundlegung der Herbartschen Ästhetik: Eine Brücke zwischen Bolzano und Brentano, in: Verdrängter Humanismus Verzögerte Aufklärung, S. 681-715. 7 „Die Theile ausserhalb der Form, die Materie, sind ästhetisch gleichgiltig." Zimmermann: Aesthetik, Bd. 2, S. 55. 74 Vgl. Zimmermann: Ästhetik, Bd. 2, S. 46. Vgl. Zimmermann, Robert: Ueber Lotzes Kritik der formalistischen Aesthetik, in: ders.: Studien und Kritiken, Bd. 1, S. 370-383, hier S. 373. Vgl. Zimmermann: Aesthetik, Bd. 2, S. 11; vgl. ders.: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft, in: ders.: Studien, Bd. 1, S. 223-266, hier S. 265. 77 „Der Inbegriff der sinnlichen Erscheinungen, durch welche sich der Geist für Andere verkörpert, ist die Sprache..." Zimmermann: Aesthetik, Bd. 2, S. 374. Zimmermann: Aesthetik, Bd. 2, S. 403. 79 Vgl. Zimmermann: Aesthetik, Bd. 2, S. 51 lf. 80 Zimmermann: Aesthetik, Bd. 2, S. 512. Zur Bedeutung von Symbol und Symbolizität im späten 19. Jahrhundert vgl. Titzmann, Michael: Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800-1880, München 1978; Schlesinger, Max: Geschichte des Symbols. Ein Versuch, Berlin 1912, Neudr. Hildesheim 1967; Hamann, Richard: Das Symbol, Phil. Diss., Berlin 1902; Schneider, Lothar: Die Konzeption der Moderne, in: von Graevenitz, Gerhart -
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mit ihr das Gebiet d,er reinen Ästhetik. Wer symbolisch interpretiert, ist, wie ' Zimmermann Herbart zitierend formuliert, „der Deutelei schuldig". Statt sich den Gehalt des Kunstwerks, den tiefen Charakter seines Helden und die Intention des Autors anzuverwandeln, besteht Zimmermann auf dem konkreten Status der Subjekte, beschreibt die Arbeit des Dichters als wissenschaftsanaloges Verfahren der Konstruktion82 und behauptet die strikte Unvereinbarkeit „historischen Begreifens und ästhetischen Beurtheilens".83 Seit der Jahrhunderthälfte bestimmte die Konkurrenz von Gehaltsästhetik und formaler Ästhetik die Diskussion. Hauptvertreter der Gehaltsästhetik war Friedrich Theodor Vischer,84 zu ihren Anhängern zählten neben den Ästhetikern der Jungdeutschen und Hegelianern wie Rosenkranz, Köstlin und Conrad Hermann auch populäre Ästhetiker wie der historistisch ausgerichtete Max Schasler und realidealistische wie Moritz Carrière.85 In gewisser Weise war auch die Schopenhauerianisch-pessimistische Fraktion dazu zu zählen.86 Diese Gruppe liefert mit ihrem Genealogen Hermann Lotze bis heute das
(Hrsg.): Konzepte der Moderne. Germanistische Symposien der DFG XX, Stuttgart/Wei-
1999, S. 234-249. Zimmermann: Lotze, S. 377. 82 „Jedes wirkliche Individuum, unser eigenes Ich einbegriffen, ist uns und anderen ein bis in seine tiefsten Elemente nicht zerlegbares Räthsel und darf es bleiben, weil die Summe seiner bestimmenden Bedingungen unendlich ist; ein poetisches Indviduum hat dieses Recht nicht, weil die Summe der Bedingungen, in welche der Dichter es versetzt, eine von dessen Willen und Gesichtskreise abhängige endliche ist. Beide unterscheiden sich wie ein auf natürlichem Wege eingetretenes Naturereignis von einem Experiment. Bei jenem wirkt die Totalität, bei diesem nur eine Anzahl mit Vernachlässigung der übrigen herausgehobener Bedingungen mit." Zimmermann, Robert: Hamlet und Vischer, in: ders.: Studien und Kritiken, Bd. 1, S. 77-111, hier S. 85 (Hervorhebung im Original); vgl. S. 79: „Die Aufgabe des dramatischen Dichters ist ein psychologisches Rechenexempel, seine Methode ein Calcul, der aus gegebenen Grossen das allein mögliche Facit heraus- und zur Anschauung bringt. [...] Die Voraussetzungen, welche der Dichter hiebei über die psychische Naturbeschaffenheit seiner Figuren macht, sind seine dramatischen Axiome; er hat darauf zu achten, dass sie nicht innerlich unmöglich seien." 83 Zimmermann: Reform, S. 254. Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Reutlingen/Leipzig 1846-58. Zum Verhältnis Vischer-Formalismus aus idealistischer Sicht vgl. Diez, Max: Friedrich Theodor Vischer und der ästhetische Formalismus. FS der K. Realanstalt Stuttgart zum 25. Regierungs-Jubiläum Sr. Majestät des Königs Karl, Stuttgart 1889. 85 Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Hässlichen, Königsberg 1853; Köstlin, Karl: Ästhetik, Tübingen 1864; ders.: Prolegommena zur Ästhetik, Tübingen 1889; Hermann, Conrad: Die Aesthetik in ihrer Geschichte und als wissenschaftliches System, Leipzig 1876; Schasler, Max: Ästhetik als Philosophie des Schönen und der Kunst, Berlin 1872; Carrière, Moritz: Aesthetik. Die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung durch Natur, Geist und Kunst, 1859. Leipzig 86 Zu Zimmermanns Aesthetikgeschichte schreibt Eduard von Hartmann: „Das Verdienst, als der erste an die schwierige Aufgabe herangetreten zu sein, wird Zimmermann unbenommen bleiben, auch ist seine Kritik des abstrakten Idealismus in vieler Hinsicht berechtigt und werthvoll; aber die Gesammtwirkung des Werkes wird schwerlich ein anderer für förderlich und aufklärend halten, als wer der gleichen abstrakt formalistischen Tendenz huldigt." Hanmann, Eduard von: Die deutsche Aesthetik seit Kant. Erster historischkritischer Teil der Aesthetik, Berlin 1886, S. IX. mar 1
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begriffliche Rückgrat der Ästhetik- und Poetikgeschichtsschreibung der Zeit.87 Dabei hatte Zimmermann mit dem ersten Band seiner Ästhetik bereits seine Geschichte der Disziplin vorgelegt, aber diese Leistung verblasste rasch
hinter dem Aufsehen, das der zweite, systematische Teil hervorrief. Durch die formale Strenge der Darstellung more geométrico wurde Zimmermann zum Schreckgespenst leeren Formalismus. Dabei tendierte er trotz seines Bekenntnisses zu einer deskriptiven Wissenschaftskonzeption inhaltlich zur Verteidigung eines relativ konventionellen Klassizismus, der über den Umweg einer anthropologisch-ethischen Interpretation seines Formenarsenals -
-
legitimiert wird.88 Eine weitere Gruppe nutzte den Versuch Lazarus' und Steinthals, in der Völkerpsychologie herbartianische Theorie und Humboldtsche Sprachphilosophie zu vermitteln, als Ausgangspunkt eigener ästhetischer Konzeptionen. Neben den beiden Gründern89 sind hier vor allem Hermann Cohen90 und
Wilhelm Dilthey91 in ihren frühen Schriften zu nennen. Schließlich führt eine letzte Linie herbartianischer Tradition über Vermittlung junggrammatischer Sprachwissenschaft zu dem Ergebnis, Ästhetik abzulehnen und an Stelle begrifflicher Reflexionen und psychologischer Experimente die möglichst genaue Beschreibung der Entwicklungen und Bewegungen der Literatur selbst zu setzen. Sie fordert Poetik statt Ästhetik. Dies ist Programm der Neueren deutschen Literaturwissenschaft zum Zeitpunkt ihres Entstehens. Lotze, Hermann: Geschichte der Aesthetik in Deutschland. Geschichte der WissenschafDeutschland. Neuere Zeit, Bd. 7, München 1868. Das Lotzesche Werk ist von der
ten in
Auseinandersetzung mit formalistischer Ästhetik durchzogen. Das neunte und letzte Kapitel des ersten Buches Geschichte der allgemeinen Standpunkte, das sich mit Herbart ausei-
nandersetzt kommt zu dem Schluß: „Von einer Reform der Aesthetik aber durch Herbart zu sprechen, dürfte verfrüht sein; Reformen bestehen nicht in der Aufstellung, sondern in der Durchführung eines neuen Princips und seiner Beglaubigung durch neue Entdeckungen. Die formale Aesthetik aber arbeitet überwiegend noch mit dem Stoffe, den ihr die großen un lebendigen, oft mißleitenden, aber hier mit Unbilligkeit geringgeschätzten Anstrengungen der idealistischen Aesthetik überliefert haben." Lotze: Geschichte der Aesthetik, S. 246. Zu Lotze wiederum vgl. Zimmermann, Robert: Ueber Lotzes Kritik der formalistischen Aesthetik, in: ders.: Studien, Bd. 1, S. 370-383. 88 Vgl. Zimmermann: Aesthetik, Bd. 2, S. 374-378; vgl. Hoeschen: Norm, Relation und System im ästhetischen Formalismus. 8 Vgl. z.B. Lazarus: Das Leben der Seele; Steinthal, Heyman: Poesie und Prosa, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 6 (1869), S. 285-352. 90 Cohen, Hermann: Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewusstseins, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 6 (1869), S. 172-263; vgl. Sieg, Ulrich: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1994, S. 107-111 u. S. 286-293 u. Liebeschütz, Hans: Hermann Cohen: Seine Philosophie und die Zeitgeschichte, in: ders.: Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum Jüdischen Denken im deutschen Kaiserreich, Tübingen 1970, S. 7-54, bes. S. 14f. 91 Vor allem Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Stuttgart 1958, S. 103-241. Zum problematischen Verhältnis Dilthey-Lazarus vgl. Liebeschütz: Cohen, S. 18f.
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Doch vor allem die theoretisch hochgerüstete, sich über mehr als dreißig Jahre hinziehende Auseinandersetzung zwischen Friedrich Theodor Vischer und Robert Zimmermann polarisierte die Ästhetikdiskussion der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, auch wenn sie bald Züge von Verbissenheit trug: „Die Begriffe Form und Gehalt sind in der neueren Aesthetik häufig als feststehende Anhaltspuncte zur Bestimmung des Schönen angesehen worden [...] Die Entschiedenheit und Consequenz, mit welcher diese Gegensätze in neuerer Zeit durch Hegel und Herbart durchgeführt worden sind, hat auch verschiedene Grundanschauungen in der der Ästhetik zur Folge gehabt. Sie vermitteln heißt sie schwächen [...]",92 stellte Theodor Vogt bereits 1865 fest, elf Jahre später verwendet Gustav Theodor Fechner im zweiten Teil seiner Vorschule der Ästhetik das ganze 21. Kapitel darauf, Ueber den Streit der FormAesthetiker und Gehalts-Aesthetiker in Bezug auf die bildenden Künste so sein Titel zu informieren und sich zu positionieren.93 Zwar verzichtet er „zu leichterer Vermeidung abstruser Gesichtspuncte" auf ein umfassendes Referat,94 räumt jedoch am Schluss des Kapitels ein, dass er zwar „die allgemeine Frage über die Aufgaben der Kunst lieber durch Bezugnahme auf andere Hauptkategorien als Form und Inhalt behandelt sehen möchte", aber dennoch habe Stellung beziehen wollen, „wenn es schon ohne Begegnung damit nicht -
-
abgehen konnte."95 Scheinbar zufällig war bei Vogt die Antagonistenrolle nicht von Vischer, sondern von Hegel vertreten worden. Dies resultiert aus dem (wissenschafts-) politischen Impetus der Darstellung. Unmittelbarer Gegner Vogts wie seines Mentors war die Schule Schillings und besonders Friedrich Schlegels.96 Aus diesem Grund wird der Vischer zwar als Parteigänger Hegels kritisiert, -
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doch als Person, als Liberaler und Forscher respektiert.97
Vogt, Theodor: Form und Gehalt in der Aesthetik. eine kritische Untersuchung über Entstehung und Anwendung dieser Begriffe, Wien 1865, S. III. Fechner, Gustav Theodor: Vorschule der Ästhetik (1876), 2 Bde., 2. Aufl., Leipzig
1897L, Bd. 2, S. 20-35. Beide Fechner: Vorschule, Bd. 2, S. 20. Beide ebd., Bd. 2, S. 35. 96 Vgl. Vogt: Form, S. 55-67. Zur Situation in Österreich vgl. Sauer, Werner: Die verhin94 95
derte Kanttradition. Über eine Eigenheit der österreichischen Philosophie. In: Verdrängter Humanismus Verzögerte Aufklärung, S. 303-317; sowie zur Vorgeschichte: Baum, Wilhelm: Wien als letzter Zufluchtsort der Aufklärung: Josef Schreyvogel die Philosophie Kants als Bollwerk gegen die „Neue Schule" der Wiener Romantik, in: Verdrängter Humanismus, S. 283-302. 97 „Vischer, der sich mit der ganzen Wucht des ernsten Forschers auf diese Wissenschaft warf [...]" Vogt: Form, S. 74. -
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IV. Besonders zu Beginn reichte die Kontroverse weit in das Feld der Politik. Zimmermann sah in der idealistischen Kunstphilosophie eine unzulässige Mischung von Seins- und Sollensaussagen, denn: ,,[D]as metaphysische Einssein tritt mit dem Anspruch eines ästhetisch Werthabenden auf, dem es nur insofern genügen kann, als jene Einheit selbst ästhetisch als Harmonie zwischen Erscheinung und Idee, zwischen dem reden und ideelen Factor, Form und Inhalt verstanden wird."98 Damit hatte für ihn ,,[d]ie ganze Philosophie des Idealismus [...] einen ästhetischen Charakter angenommen und die Stufe der Kunst an oder in die Stufe des Wissens eingereiht."99 Dies zeitigte seiner Meinung nach verheerende Konsequenzen ein Argument, das er pragmatisch für sich zu instrumentalisieren wusste: Am 6. Februar 1854 veröffentlichte Zimmermann in den Oesterreichischen Blättern für Literatur und Kunst einen Aufsatz mit dem Titel Die spekulative Aesthetik und die Kritik, mit dem sich der junge Prager Professor für höhere Aufgaben empfahl.100 Zimmermann beklagte einen vermeintlich anarchischen Zustand von Ästhetik und Kunstkritik und machte die idealistische Kunstphilosophie dafür verantwortlich: „Das idealistische Subjekt stieß die Objektivität vom Thron, das Prinzip der Kunst, der Kritik wie das des Lebens ward der Egoismus."101 Dass er dabei umstandslos das philosophische Subjekt dem empirischen gleichsetzte, hatte (wissenschafts-)politische Motive. Zimmermann suggerierte, die Subjektphilosophie des Idealismus wäre eine notwendige Folge des Toleranzgedankens der protestantisch-preußischen Staatsdoktrin102 und deren Konsequenz wiederum Institutionalisierung der Revolution.103 Im Spiel der Metaphern erscheint die formalistische Ästhetik als Sachwalterin eines geordneten Gemeinwesens, die idealistische Kunstkritik als philosophischer Ausdruck revolutionärer Erneu-
te: 98
Zimmermann: Reform, S. 249. Zimmermann: Aesthetik, Bd. 1, S. 549. 100 Zimmermann, Robert: Die spekulative Aesthetik und die Kritik, in: Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst. Beilage zur Oesterreichisch-Kaiserlichen Wiener Zeitung Nr. 6, 6. Februar 1854, S. 37-40. 101 Zimmermann: spekulative Aesthetik, S. 37. 1 „Die Aesthetik ist in unserer Zeit etwas in Mißkredit gerathen. Trotz der vorwiegend kritischen Neigungen unseres alexandrinischen Zeitalters ist echte Kunstkritik noch seltener als je, und noch seltener echte Achtung vor derselben. Der Künstler emanzipirt sich von der Kritik, wie der Kritiker umgekehrt vom Kunstphilosophen. Jeder handelt auf eigene Faust und die nothwendige Folge ist eine wahre Geisteranarchie in der nach dem bekannten Ausspruch Friedrich des Zweiten, ein jeder nach eigner Façon selig werden will. Der Geist des baaren nackten Individualismus beherrscht die Kunst wie die Kritik." Zimmermann: spekulative Aesthetik, S. 37. 103 „Die spekulative Methode macht die Revolution permanent, indem sie sie für das Wesen des geschichtlichen Fortschritts erklärt." Zimmermann: spekulative Aesthetik, S. 39.
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keine allgemeine Rechtsnorm gibt, gilt das Recht des Räubers, wo die Kunstnorm fehlt, der Kitzel des Moments; wo Jeder recht hat, hat Keiner Recht, und wo alles für schön gilt, entflieht die Schönheit. Das ästhetische Credo muß gemeinschaftlich sein, wie das politische und religiöse, weil es einen Kanon für das Schöne geben muß, wie es einen für das Recht und die Wahrheit gibt. [...] Den gemeinsamen Boden in der Kritik, wie in der Kunst, in der Erkenntnis und der Beurtheilung des Schönen herzustellen, ist die Aufgabe der Aesthetik. Wo, wie in unserer Zeit das Gegenteil davon herrschendes Bekenntnis ist, da hat die Aesthetik entweder keine Macht mehr über die schöperferischen Geister, oder, was schlimmer ist, sie hat selbst jene Bodenlosigkeit zum ästhetischen Credo gestempelt."1 Gegen die Gefahr des Relativismus, der für Zimmermann den Kern des historisch-genetischen Verfahrens idealistischer Kunstphilosophie ausmacht,105 empfiehlt er strikte Trennung zwischen der normativen Ebene werkorientierter Ästhetik auf der einen und Kunstgeschichte auf der anderen
„Wo
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1854 hatte Zimmermann das Oberhaupt des ästhetischen Idealismus, Friedrich Theodor Vischer, nur am Rande erwähnt und sogar zustimmend zitiert.107 Vielleicht ließ Vischer den Angriff aus diesem Grund unbeantwortet. Die ästhetiktheoretische Querele beginnt drei Jahre später: Vischer veröffentlichte 1857 den Abschlussteil des letzten Bands seiner Ästhetik. Zimmermann rezensierte ihn abfällig in einem anonymen, aber zuordenbaren Artikel des Litterarischen Centralblattsm und publizierte selbst im folgen104
Zimmermann: spekulative Aesthetik, S. 37. Zimmermanns Artikel blieb auch in Wien nicht unwidersprochen. Siegmund Barrach warf Zimmermann Subjektivismus vor, weil seine Ästhetik sich der konkreten Bewegung des Begriffs verschließe und im schlechten Sinne abstrakt bleibe. Vgl. Barrach, Siegmund: Ueber spekulative Aesthetik und Kritik. Ein Sendschreiben an Herrn Dr. Robert Zimmermann, Professor der Philosophie an der Prager Universität, Wien 1854, bes. S. 43ff.; vgl. dagegen wiederum: Drbal, Matthias Arnos: Die absolute Kritik. Antwort auf das Sendschreiben des Herrn Sigismund Barrach an Herrn Dr. Robert Zimmermann, Prof. der Philosophie an der Prager Universität, Wien 1854. 105 „Nichts ist der spekulativen Methode absolut als die endlose Relativität; nichts objektiv als der in steter Selbstaufhebung begriffene Progreß der Subjekte; nichts ruhend als der unaufhörliche Fluß." Zimmermann: spekulative Aesthetik, S. 39. 106 „Die Kritik trifft das Kunstwerk und nicht den Künstler. Für den ästhetischen Standpunkt ist es indifferent, ob der Künstler unter den ihm gegebenen Verhältnissen im Stande war, mehr als das was er leistete, zu leisten. Ihre einzige Frage geht dahin, ob der Künstler geleistet hat, was er sollte. Dies allein ist die ästhetische Kritik, alles Andere ist psychologischer und biographischer Nachweis, ist Geschichte des Kunstwerks." Zimmermann: spekulative Aesthetik, S. 39 (Hervorhebung im Original). Vgl. Zimmermann: spekulative Aesthetik, S. 40. 108 [Zimmermann, Robert]: [Rez.] Vischer, Dr. Friedr. Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. 3. Theil: Die Kunstlehre, 2. Abschnitt: Die Künste, 4. H.: Die Musik, Stuttgart 1857, in: Litterarisches Centralblatt 1857, Sp. 673-675. Die Zuschreibung stützt sich auf die Tatsache, daß sich zwei Jahre später im gleichen Blatt die Rezension eines Sonderdrucks von Vischers Aufsatz Über das Verhältnis von Inhalt und Form findet, in
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den Jahr den historischen Teil seiner Aesthetik. Gleichzeitig untermauerte er seinen Führungsanspruch mit einem programmatischen Artikel in der Zeitschrift für exacte Philosophie, der auf den theoretischen Teil der Aesthetik vorauswies.109 Gereizt repliziert Vischer 1858 mit dem Aufsatz Über das Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst.110 Er wurde später von seinem Autor kritisch betrachtet, weist aber die Richtung, in die Vischer sich in seinen späten konzeptionellen Texten, der umfangreichen zweiteiligen Kritik meiner Ästhetik von 1866 bzw. 1873111 sowie in seinem letzten, 1887 veröffentlichten Aufsatz Das Symbol bewegen wird: Vischer antwortet mit dem weitgehenden Verzicht auf philosophische Systematik und dem Versuch, den Kern der Gehaltsästhetik, die These von Symbolizität des Kunstwerks, anthropologisch und quasi-naturwissenschaftlich psychologisch zu begrün-
V. Besonders ein Seitenzweig der Fehde wirft dabei ein Schlaglicht auf das intellektuelle Selbstverständnis der Zeit: In einer Auseinandersetzung über die Figur seines Helden in Shakespeares Hamlet widerspricht Zimmermann energisch der Vischerschen Stilisierung des zögerlichen Dänenprinzen zur Verkörperung der existenziellen Tragik des deutschen Intellektuellen.113 Hamlets Reflexionsvermögen so Vischer führe beim Shakespeareschen Helden notwendig zur Handlungsblockade, weil dieser nicht mehr über die brutalistische Naivität zur Aktion verfüge. Ebenso seien die deutschen Intellektuellen so der nahe liegende Schluss deshalb politisch handlungsunfähig, weil die Komplexität ihrer Reflexion jeder Reduktion zu handlungs-
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dem der Rezensent auf die obengenannte Rezension als seine eigene verweist und sich selbst als Kontrahent Zimmermanns in dem nun rezensierten Aufsatz zu erkennen gibt. Vgl. [Zimmermann, Robert]: [Rez.]: Vischer, Dr. Fr, über das Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst, in: Litterarisches Centralblatt 1859, Sp. 67f. Zudem identifiziert Vischer Zimmermann selbst als Autor. Vgl. Vischer, Friedrich Theodor: Über das Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst, in: ders.: Kritische Gänge, hrsg. v. Robert Vischer, 6 Bde., 2., verm. Aufl., München 1922, Bd. 4, S. 198-221, hier S. 202. 109 Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik. 1,0 Vgl. Vischer: Verhältnis. '" Vischer, Friedrich Theodor: Kritik meiner Ästhetik, in: ders.: Kritische Gänge, Bd. 4, S. 222-419. 112 Vischer, Friedrich Theodor: Das Symbol, in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, unverän. Ndr. der Originalausgabe 1887, Leipzig 1962, S. 151-193. 113 Vgl. Schneider, Lothar: Symbol eines Volkes oder Darstellung einer Pathologie? Friedrich Theodor Vischer und Robert Zimmermann zu Shakespeares Hamlet, in: Perraudin, Michael!Koopmann, Helmut (Hrsg.): Nachmärz und Realismus, Bielefeld 2003, S. 129146.
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auslösender Eindeutigkeit widerstehe. Für Zimmermann hingegen ist Hamlet ein Elisabethanischer Höfling, dessen Velleität zwar psychologisch erklärt werden müsse, aber keinesfalls politisch salviert werden dürfe: „Wie im Faust der Stand der Gelehrten, aber fruchtlos Ringenden, so hat im Hamlet Vieler Meinung nach jener der Gebildeten, aber Unproductiven im allgemeinen tragische Würde erlangt. Wir sind lauter Hamlet-Naturen, hat man mit einigem Recht von der gegenwärtigen Generation gesagt; dass wir aber in diesem Geständnis noch unserer Eitelkeit geschmeichelt glauben, dafür sollte man sich Shakespeare am wenigsten dankbar sein."114 Damit hat sich das Verhältnis von politischem Idealismus und apolitischem Herbartianismus allerdings nur scheinbar umgedreht, denn der herbartianische Politikverzicht hatte immer darauf gebaut, dass die eigene Strategie letztlich um so sicherer zur Etablierung einer bürgerlich-liberalen, der beseelten Gesellschaft führen werde. Da diese Strategie von vornherein nicht an den Erfolg einer direkten politischen Aktion geglaubt, sondern politische Veränderung als notwendige Konsequenz gesellschaftlicher und diese wiederum als deren pädagogische wie wissenschaftliche Durchdringung begriffen hatte, gab für die Herbartianer durchaus erkennbare Fortschritte, die gegen fatalistische Larmoyanz immunisieren konnten. So tragen die Publikationen Zimmermanns unveränderte Spuren liberalen Engagements. In ihrer Bedeutung für die kultur-, ästhetik- und literaturgeschichtliche Forschung kaum zu überschätzen sind dabei die umfangreichen, bisher nicht erschlossenen Rezensionen für das populäre Londoner Athenaeum, in denen Zimmermann ab 1870 bis zu seinem Todesjahr 1898 das intellektuelle Leben der deutschsprachigen Länder Revue passieren ließ.115 Aus dem Blickwinkel einer liberalen und, wie er selbst betont, durch die kleindeutsche Lösung in ihrer Einheit nicht zerstörten Öffentlichkeit116 informiert er sein englisches Publikum über Publikationen aus dem ganzen Bereich liberaler Literatur- und Kulturpolitik und kommentiert sie. Dabei wird die Schopenhauer-Mode der siebziger Jahren ebenso angezeigt wie der Aufstieg des Neukantianismus und die Auseinandersetzungen mit den Naturwissenschaften; der Kulturkampf und der Antagonismus zwischen borussophilen und austrophilen Historikern werden reflektiert, die Ereignisse auf dem Gebiet der Philologien werden ebenso begleitet wie die Entwicklung der Literatur von programmatischem Realismus über die Gründerzeit bis hin zum Naturalismus. Dabei gelingen -
114
Zimmermann, Robert: Hamlet und Vischer, in: ders.: Studien und Kritiken, Bd. 1, S. 77-111, hier S.77f. 115 The Athenaeum. Journal of English and Forgein Literature, Science, and Fine Arts. Der erste Beitrag ist nicht mit Namen gezeichnet, aber die Autorschaft konnte aus der Redaktionsrolle eindeutig erschlossen werden. Dazu: Hoeschen, Andreas: Robert Zimmermanns .britische' Literaturkritik (in Vorb.). 16 Vgl. Zimmermann, Robert: Germany, in: Athenaeum No. 2357 (28. Dec. 72), S. 847; vgl. ders.: Germany, in: Athenaeum No. 2722 (Dec. 27. 1879), S. 829.
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Formulierungen von aphoristischer Prägnanz. So notiert Zimmermann 1874: „The do-nothing quietism of peevish philosophers who sat in their study chairs has given place to the strict discipline of Prussian Militarism. Extraordinary successes such as Germany has won are not consistent with contemplative retirement from the world, but only with unselfish self-sacrifice in behalf of a great nation or human object. The universal liability to military service, which is the secret of Prussia's strength, is the visible expression of the social requirements of this practical philosophy. The heightened national and patriotic tone which pervades most of the poems of this year is its audible echo.",117 bemerkt im folgenden Jahr zum Verhältnis von Geist und Politik im neuen Reich: „The saying of Hegel, that the owl of Minerva begins its flight at dusk, has been contradicted by the experience of his own nation.""8 und kommentiert 1880 den Kulturkampf mit den Worten: „The love of wandering shown by the old Teutons is still displayed in their decendants. The Römerzüge of the German emperors have nowadays assumed the form of a Culturkampf, but the journeys of German artists, patrons of art, and poets have not ceased with Carstens, Winkelmann, and Goethe."119 Auch die Publikationen des herbartianischen Lagers und eigene Schriften werden angezeigt. Noch 1871 äußert sich Zimmermann dabei zuversichtlich über die Entwicklung des Herbartianismus und legt ihn seinem englischen Publikum ans Herz, weil hier von allen philosophischen Strömungen des deutschsprachigen Raumes die größte Nähe zur empirischen Tradition und positivistischen Gegenwartsphilosophie Großbritanniens erkennt: „In the ten years after Hegel's death sadly fallen, philosophy has lately taken a new start. But in this département, too, the race of great original thinkers is gone, and we are busy celebrating their centenaries: in 1862 Fichte's, in 1870 Hegel's, in 1875 Schelling's, and in this year Herbart's, the founder of a school of philosophical realism in Germany which of all the German schools is most akin to the English, in psychology to Locke, in morals to Clarke. During the predominance of the Schelling-Hegel philosophy, Herbart long stood alone; but since the fall of the Hegelian school, and the growing study of the empirical sciences, the Königsberg professor has enjoyed an ever-increasing number of adherents."120 Erst Ende der 80er Jahre treten dann philosophische und historische Themen zunehmend in den Hintergrund, während die Literatur an Gewicht gewinnt; in den Neunzigern schließlich findet die Auseinandersetzungen um -
Werk und Person Gerhart Hauptmanns besondere Aufmerksamkeit. Dabei lässt Zimmermanns Engagement als Vorsitzender der Grillparzer-Gesell1,7
Ders.: Ders.: Ders.: 120 Ders.: 118 119
Germany, in: Athenaeum No. 2461 (Dec. 26. Germany, in: Athenaeum No. 2513 (Dec. 25. Germany, in: Athenaeum No. 2774 (Dec. 25. Germany, in: Athenaeum No. 2566 (Dec. 30.
1874), S. 862. 1875), S. 868. 1880), S. 850. 1876), S. 871.
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schaft für die Verleihung des Grillparzer-Preises an Gerhart Hauptmann noch einmal den Versuch des alten, die deutschsprachigen Länder übergreifenden liberalen Netzwerks erkennen, ein Gegengewicht zur Literaturpolitik des Reiches zu behaupten121 und der staatlichen Teilung eine Einheit der Kulturnation gegenüberzustellen, die noch die German Communities der Vereinigten Staaten einbegreift.122
VI. Nachdem sich der Umriss des Herbartianischen Universums in den Rezensionen Zimmermanns bereits der Literatur genähert hat, zum Abschluss ein Blick auf die zuständige Disziplin. Als Literaturwissenschaft, speziell: als Neuere deutsche Literaturwissenschaft im disziplinären Sinne etabliert sie sich erst im letzten Viertel des Jahrhunderts, also in einer Periode, in der die Herbartianische Theorie bereits ihren Zenit überschritten hatte. Doch zwischen Literaturwissenschaft und herbartianischer Philosophie gab es gemeinsame, für die Literaturwissenschaft als Disziplin lebenswichtige Interessen: Beide berühren sich an der Schnittstelle von Poetik und Ästhetik. Erst der tendenzielle Rückzug der Ästhetik auf eine allgemeine Begriffs- und Prinzipienwissenschaft der Kunst, wie ihn Zimmermann angeboten hatte, eröffnet einen Raum, in dem sich die Literaturwissenschaft über das Erbe der Literaturgeschichte hinaus als Disziplin mit eigener formaler Kompetenz konstituieren konnte. Unter Preisgabe der philosophischen Disziplin Ästhetik formulierte sie als Teildisziplin der formalen Aspekte des Gegenstandsfeldes eine empirisierte Poetik. So übernahm Wilhelm Scherer, Gründervater der Literaturwissenschaft, die herbartianische Psychologie in ihrer Grundkonzeption für die eigene Wissenschaft123 und betonte in seiner Literaturgeschichte die Wissenschaftlichkeit der Herbartianische Philosophie gegenüber der populären „Begriffsdichtung" des idealistischen Lagers.124 In der nachgelas-
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121 Vgl. Zimmermann, Robert: Germany, in: Athenaeum No 3636 (July 3., 1897), 13f.; vgl. bereits No. 3584 (July 4., 1896), S. 14; vgl. Sprengel, Petet/Streim, Georg: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Mit einem Beitrag von Barbara Noth, Wien u.a. 1998, S. 429-456: Gerhart Hauptmann und der
Grillparzer-Preis. 122
Vgl. insbes. Zimmermann: Germany, in: Athenaeum No. 3636 (July 3., 1897), S. 13-18. Vgl. Stemsdorff, Jürgen: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer. Eine Biographie nach unveröffentlichten Quel123
len, Frankfurt/M. u.a. 1979, S. 90f. u. S. 213. 124 „Herbart, ein kühler, methodischer Denker
von starker erziehender Kraft, erlangte erst spät eine beschränkte Anerkennung. Schelling und Hegel allein kamen mit ihren verwege-
Begriffsdichtungen dem Drange der Zeit entgegen und führten die Naturwissenschafin die Irre." Scherer, Wilhelm: Geschichte der deutschen Literatur, 2. Ausg., Berlin 1884, S. 619; vgl. Blaukopf, Herta: Positivismus und Ideologie in der Germanistik. Aus den Anfängen der österreichischen Sprach- und Literaturforschung, in: Blaukopf, Kurt (Hrsg.): nen
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Poetik nennt er sogar die Ästhetikgeschichte Zimmermanns gegen Hermann Lotze als Autorität, und kritisiert ganz in dessen Sinn die Selbstbezogenheit der philosophischen Ästhetik, die sie für poetologische Fragen unbrauchbar mache.125 Stattdessen berief er sich auf die Untersuchungen Fechners und eine sprachphilosophisch-logisch argumentierende Abhandlung Anton Martys, die beide als Weiterentwicklung der herbartianischen Tradition gelesen werden können.126 Deutlicher noch sind die Verbindungen im Bereich der junggrammatischen Sprachwissenschaft, zu deren Gründern Scherer ebenfalls gehört hatte: Sie berief sich bis nach der Jahrhundertwende auf herbartianische Psychologie und herbartianisches Wissenschaftsverständnis und lehnte selbst die vermittelnden Positionen der Völkerpsychologie Lazarus'/Steinthals und Wundts vehement ab.127 Für Hermann Paul, ihren prominentesten Vertreter, war Sprache „Urgrund aller höheren geistigen Entwicklung im einzelnen Menschen wie im ganzen Geschlecht."128 Da Sprachentwicklung im wesentlichen Produkt unabsichtlicher Handlungen darstellt, ist sie das primäre Medium des Kultursystems und damit privilegierter Gegenstand einer Kulturwissenschaft, die Paul in seinem Grundriß der germanischen Philologie als umfassende systematische Wissenschaft der Erklärung kultureller Tatsachen und Gegenstände entwirft.129 Doch Pauls Entwurf scheitert ebenso wie das Projekt der Völkerpsychologie, selbst die junge Richtung der Ethnologie, deren Protagonisten Waitz und Bastian deutlich dem Herbartianische Lager angehört hatten, wird als Volkskunde zur einer antiquarischen Disziplin mit
senen
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Philosophie, Literatur und Musik im Orchester der Wissenschaften, Wien 1996, S. 53-80. Typisch für herbartianische Argumentation ist, daß Scherer Herbart nicht nur in die Nachfolge Kants, sondern zugleich in jener Lamberts und beide in die Tradition Leibniz' stellt.
Vgl. Scherer. Geschichte, S. 618. 12 Vgl. Scherer, Wilhelm: Poetik (1888), mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hrsg. v. Günter Reiss, Tübingen 1977, S. 29 u. S. 45f. 126 Scherer. Poetik, S. 46 u. S. 171ff. Vgl. 127 Vgl. Delbrück, Berthold: Grundfragen der Sprachforschung. Mit Rücksicht auf W. Wundts Sprachpsychologie erörtert, Strassburg 1901; Paul, Hermann: Principien der Sprachgeschichte, 2. Aufl., Halle 1886, S. 8-12. Vgl. Einhauser, Eveline: Die Junggrammatiker. Ein Problem für die 128 Paul: Principien, S. 19.
Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung, Trier
1989.
129 Paul, Hermann: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Grundriß der germanischen Philologie (1887), 2. verbess. und verm. Aufl., Strassburg 1892, S. 1-8; ders.: Prinzipien der Sprachgeschichte, 4. Aufl., Halle 1909, S. 1-22, bes. 12f; vgl. auch ders.: Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaft (1920), in: ders.: Sprachtheorie, Sprachgeschichte, Philologie. Reden, Abhandlungen und Biographie, hrsg. v. Helmut Henne/Jörg Kilian, Tübingen 1998, S. 193-250; vgl. Hoeschen, Andreas/Schneider, Lothar: Zwei klassische Konzeptionen der Kulturwissenschaft: Hermann Paul und Heinrich Ricken, in: IASL 27,1 (2002), S. 53-71. Trotz des Titels geht die Publikation Burkhard!, Armin/Henne, Helmut (Hrsg.): Germanis-
tik als Kulturwissenschaft. Hermann Paul. 150. Geburtstag und 100 Jahre Deutsches Wörterbuch. Erinnerungsblätter und Notizen zum Leben und Werk, Braunschweig 1997 nicht auf das Thema ein.
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nationaler Ausrichtung verengt werden. So werden schließlich die historisch einflussreichen kulturwissenschaftlichen Entwürfe der Jahrhundertwende von ihren Schöpfern eher in Absetzung von herbartianischer Theorie als in deren Nachfolge entworfen; dennoch bleibt gerade in der distanzierenden Bezugnahme der Einfluss kenntlich.131 Wilhelm Dilthey entwirft sein Konzept kulturellen Verstehens, das auf der Grundlage einer beschreibenden Psychologie gegen die erklärende Psychologie der Herbartianer Stellung beziehen soll,132 und distanziert sich von der Lazarus/Steinthalschen Völkerpsychologie, die er aber zugleich mit seiner eigenen Konzeption zu überbieten sucht.133 Und Georg Simmel zeigt wie Klaus Christian Köhnke bemerkt zumindest im Bereich der Ethik „allerdings große[.] Nähe" zur Herbartschen Psychologie.134 Um die Wende zum 20. Jahrhundert ist der Herbartianismus also noch präsent, aber als Theorie schon ein primär geschichtliches Phänomen. So begrüßt das germanistische Euphorion noch 1905 eine Neuauflage der Drobischschen Logik als historisches Dokument, nicht als wissenschaftliches Werk.135 Ahnlich ambivalent klingt Cassirers Trost aus dem Jahr 1923, „unter den Leistungen des Analytikers Herbart [gäbe es] viele, die dem Schicksal der Auflösung, das die Herbartsche Metaphysik betroffen hat, entgangen sind."136 Dire disziplinären Ausformungen kann Cassirer kaum gemeint haben, denn in der Psychologie war die Herbartianische Seelenmechanik durch die messende Psychologie Fechners und Wundt abgelöst worden, in der Philosophie hatte der Neukantianismus längst die Katheder erobert und in der Pädagogik über fast fünfzig Jahre die Bastion des Herbartianismus hatten -
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130 Vgl. Bastian, Adolf: Die Vorgeschichte der Ethnologie. Deutschlands Denkfreunden gewidmet für eine Musestunde, Berlin 1881; Riding, James N: Alternatives in NineteenthCentury German Ethnology: A Case Study in the Sociology of Science, in: Sociologus. Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie, Neue Serie 25,1 (1975), S. 1-28; vgl. Waitz, Theodor: Die Anthropologie der Naturvölker, 6 Bde., Leipzig 1859-
1872. Den
131
Zusammenhang konstatiert schon: Frankenberger, Julius: Objektiver Geist und Völkerpsychologie. Eine Studie zum Verständnis der alten Völkerpsychologie, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 154 (1914), S. 68-83 u. S. 151-168. 132 Dilthey, Wilhelm: Ideen über eine beschreibende und zergleidernde Psychologie (1894), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5: Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, 4. Aufl., Stuttgart 1964, S. 139-240. Die titelgebende Differenz führt Dilthey
auf Christan Wolf zurück, dabei nennt er Drobisch und insbes. Theodor Waitz als unmittelbare Voräufer. Vgl. Dilthey: Ideen, S. 154f. 133 Vgl. Lessing, Hans-Ulrich: Dilthey und Lazarus, in: Dilthey-Jahrbuch 3 (1985), S. 5782. 134 Köhnke, Klaus Christian: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Frankfurt/M 1996, S. 271, Anm. 154 u. S. 350-355. Bewegungen, 135 Vgl. Spitzer, Hugo: [Rez] Drobisch, W. M.: Empirische Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode. 2. Aufl., Hamburg 1905, in: Euphorion 4 (1898), S. 643. 136 Cassirer: Erkenntnisproblem, S 410; vgl. Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. 1, S. 217. -
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Reformpädagogen gesiegt. Zwar hatte gerade der Herbartianismus die Eigenlogik einzelner Disziplinen gegen Vereinnahmungsversuche seitens des spekulativen Idealismus verteidigt und damit seinerseits die Differenzierung des Wissenschaftssystems vorangetrieben. Aber er hatte sie gleichzeitig unter dem Dach einer, seiner theoretischen Philosophie vereinigen und einem, seinem ethisch-pädagogischen Ideal verpflichten wollen.137 Weil dabei die Sphäre der kulturellen Wirklichkeit nicht nur Zielpunkt gewesen, sondern selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Durchdringung geworden war, hatte der Herbartianismus zwar den gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen Geburtshilfe geleistet, war jedoch auch hier schließlich in die Vorgeschichten verwiesen worden, da er ihnen Autonomie verweigert hatte. Es ist der Zerfall dieses gemeinsamen Daches der Metaphysik, den die
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Cassirer im Zitierten benennt, und der die intellektuelle Entität Herbartianismus aus der disziplinär geprägten Sichtweise heutiger Rekonstruktionen zu einem schwer fassbaren Gebilde werden lässt.138 Ob der Herbartianismus aber als Idee bezeichnet werden kann, ist natürlich nur im Rahmen der jeweiligen Definition dieses Begriffs zu entscheiden. Eindeutig jedoch lässt seine systematische Existenz die intellektuelle Landschaft der deutschsprachigen Länder des 19. Jahrhunderts in Vielem besser beschreibbar und verstehbar werden. -
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Veröffentlichungen aus dem Projekt „Ideenzirkulation und Herbartianismus": Haug, Christine: Geheimbündische Organisationsstrukturen und subversive Distributionssysteme zur Zeit der Französischen Revolution, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 7 (1997), S. 51-73. Dies.: Die Bedeutung der radikal-demokratischen Korrespondenzgesellschaft „Deutsche Union" für die Entstehung von Lesegesellschaften in Oberhessen im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Donnert, Erich (Hrsg.): Europa in der Frühen Neuzeit. FS für Günter Mühlpfordt, Bd. 2: Frühmoderne, Weimar u.a. 1997, S. 299-321. Dies.: Geheimbündische Organisationsstrukturen und subversive Distributionssysteme zur Zeit der Französischen Revolution, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 7 (1997),
S. 51-73. Dies.: Das Verlagsunternehmen Krieger (1725-1825). Die Bedeutung des Buchhändlers, Verlegers und Leihbibliothekars Johann Christian Konrad Krieger für die Entstehung eines Buchmarktes und einer Lesekultur in Hessen um 1800, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 49 (1998), S. 97-262. Dies.: Literarische Zensur, in: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler-Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 1998, S. 578-579. Zur EntstehungsgeDies.: „Das halbe Geschäft beruht auf Eisenbahnstationen [...]" schichte der Eisenbahnbibliotheken im 19. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte und Literatur 23/2 (1998), S. 70-117. -
Vgl. Ziller, Tuiskon: Allgemeine philosophische Ethik, Langensalza 1880, S. 383. Laut mündlicher Auskunft von Herrn Prof. Diethelm Klippel, Bayreuth, ist auch in der Rechtsgeschichte eine .herbartianische Strömung' auszumachen. 138
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Dies.: „Schlimme Bücher, so im Verborgenen herumgehn, thun mehr schaden, als die im öffentlichen Laden liegen [...]". Literarische Konspiration und Geheimliteratur in Deutschland zur Zeit der Aufklärung, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 11 (2001/2002), S. 11-63. Dies.: „Die kleinen französischen Schriften gehen zur Zeit ungleich stärker als aber andere solide Werke [...]". Der Buchhändler Johann Georg Esslinger (1710-1775) in Frankfurt am Main und sein Handel mit Geheimliteratur, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 4 (2002), S. 104-135. Dies.: Weibliche Geselligkeit und literarische Konspiration im Vorfeld der Französischen Über das Projekt zur Gründung einer Frauenlesegesellschaft in Gießen Revolution 1789/1790, in: Zaunstöck, HoXgei/Meumann, Markus (Hrsg.): Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 177-191. Dies.: „Die Liebe zum Lesen verbreitet sich überhaupt in unserer Gegend" Formelle und informelle Formen von literarischer Geselligkeit in der Universitätsstadt Gießen zur Zeit der Französischen Revolution, in: Albrecht, PeXexIHinrichs, EtnstJBödeker, Hans Erich (Hrsg.): Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750-1820, Tübingen 2003, S. 19-41. Dies.: „Populäres auch populär vertreiben [...]" Karl Gutzkows Vorschläge zur Reform des Buchhandels und zur Beschleunigung des Buchabsatzes im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Reiselektüre und Buchwerbung im 19. Jahrhundert, in: Koopmann, XAeXmuUPerraudin, Michael (Hrsg.): Formen der Wirklichkeitserfassung nach 1848. Deutsche Literatur und Kultur vom Nachmärz bis zur Gründerzeit in europäischer Perspektive, I, Bielefeld 2003, S. 189-215. -
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Oesterle, Günter: Aufklärung und Geheimnis oder die Kunst als Rätsel, in: Spitznagel, Albert (Hrsg.): Geheimnis, Geheimhaltung. Beiträge des Symposiums, Göttingen 1998, S. 97-105. Ders.: „Unter dem Strich". Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert, in: Barkhoff, Jürgen u.a. (Hrsg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert, Tübingen 2001, S. 229-250. Ders.lSchneider, Lothar: Einleitung, in: Oesterle, Günter (Hrsg.): Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 7-23. Hoeschen, Andreas: Art. Ideengeschichte, in: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze Personen Grundbegriffe, Stuttgart 1998, S. 225f. Ders.: Norm, Relation und System im ästhetischen Formalismus, in: Hoeschen, Andreas/ Schneider, Lothar (Hrsg.): Herbarts „Kultursystem". Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 297-316. Ders.: Ernst Cassirers Beitrag zur ideengeschichtlichen Begriffsbildung im Kontext der Lovejoy-Spitzer Debatte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75 (2001) S. 145-174. Ders.lSchneider, Lothar (Hrsg.): Herbarts „Kultursystem". Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001. Ders.lSchneider, Lothar: Einleitung: Der ideengeschichtliche Ort des Herbartianismus, in: Hoeschen, Andreas/Schneider, Lothar: Herbarts „Kultursystem". Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 9-22. Ders.: Die „Zirkulation der Ideen" bei Lazarus/Steinthal: Von öffentlicher Kulturproduktion zu sozial-normativer „Wilhelm Meister"-Rezeption, in: Sandl, Marcus/Schmidt, Harald (Hrsg.): Gedächtnis und Zirkulation, Göttingen 2002, S. 207-234. Ders.lSchneider, Lothar: Herbartianismus-Forschung und herbartianische Tradition in Gießen, in: Gießener Universitätsblätter 34/35 (2002), S. 173-178. Ders.lSchneider, Lothar: Zwei klassische Konzeptionen der Kulturwissenschaft: Hermann Paul und Heinrich Rickert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 27.1(2002), S. 54-72. Ders.: Anamnesis als ästhetische Rekonfiguration. Zu Bachtins dialogischer Erinnerungskultur, in: Oesterle, Günter (Hrsg.): Formen der Erinnerung, Göttingen 2005. -
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Herbartianismus im 19. Jahrhundert
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Schmidt, Harald: Jungdeutsche Publizistik als Ideenzirkulation. Ludwig Börnes Ankündigung der „Wage" und Theodor Mundts Essay „Zeitperspective", in: Lauster, Martina/ Oesterle, Günter (Hrsg.): Vormärzliteratur in europäischer Perspektive II: Politische Revolution Industrielle Revolution Ästhetische Revolution, Bielefeld 1998, S. 207-228. Ders.: Artikel „Ideenzirkulation", in: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler-Lexikon „Literatur- und Kulturtheorie", Stuttgart 1998, S. 227. Ders.: Reise in die Ungeniertheit. Adolf Glaßbrenners „Bilder und Träume aus Wien" (1836), in: Lengauer, Hubert/Kucher, Primus Heinz (Hrsg.): Bewegung im Reich der -
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Immobilität. Revolutionen in der Habsburgermonarchie 1848-1849. Literarisch-publizistische Auseinandersetzungen, Köln u.a. 2001, S. 110-131. Ders./Sandl, Marcus (Hrsg): Gedächtnis und Zirkulation. Der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2003. Ders.: Ein Groschen im Hut des Bettlers. Die „Zirkulation" und Thesaurierung publizistischen Wissens in der spätaufklärerischen Mediendebatte und bei den deutschen Spätphilanthropen, in: Schmidt, HaraldlSandl, Marcus (Hrsg.): Gedächtnis und Zirkulation. Der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 145-166. Ders. : Das Zirkulieren der Gemeinplätze und das kollektive Gedächtnis. Zitat und Widerruf der emphatischen Öffentlichkeitsmetapher „Ideenzirkulation" in Johann Heinrich Mercks kunst- und kulturkritischer Essayistik, in: Schmidt, HaraldlSandl, Marcus (Hrsg.): Gedächtnis und Zirkulation. Der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 103-126.
Schneider, Lothar: Die Konzeption der Moderne, in: Konzepte der Moderne, hrsg. v. Gerhart von Graevenitz. Germanistische Symposien der DFG XX, Stuttgart/Weimar 1999,
S. 234-249. Ders.: Realismus und formale Ästhetik. Die Auseinandersetzung zwischen Robert Zimmermann und Friedrich Theodor Vischer als poetologische Leitdifferenz im späten neunzehnten Jahrhundert, in: Hoeschen, Andreas/Schneider, Lothar (Hrsg.): Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 259-281. Ders./Hoeschen, Andreas (Hrsg.): Herbarts „Kultursystem". Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001. Deri./Hoeschen, Andreas: Einleitung: Der ideengeschichtliche Ort des Herbartianismus, in: Hoeschen, Andreas/Schneider, Lothar (Hrsg.): Herbarts „Kultursystem". Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 9-22. Deri./Hoeschen, Andreas: .Herbartianismus-Forschung und herbartianische Tradition in Gießen', in: Gießener Universitätsblätter 34/35 (2002), S. 173-178. Deri./Hoeschen, Andreas: Zwei klassische Konzeptionen der Kulturwissenschaft: Hermann Paul und Heinrich Rickert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 27.1 (2002), S. 54-72. Ders.: Symbol eines Volkes oder Darstellung einer Pathologie? Friedrich Theodor Vischer und Robert Zimmermann zu Shakespeares Hamlet, in: Perraudin, Michael!Koopmann, Helmut (Hrsg.): Nachmärz und Realismus, Bielefeld 2003, S. 129-146. Derj./Oestele, Günter: Einleitung, in: Oesterle, Günter (Hrsg.): Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 7-23. Ders.: Liberalismus, Positivismus, Anglophilie. Das liberale Konzept der Kulturgeschichtsschreibung und die Rezeption Thomas Buckles im 19. Jahrhundert, in: Midgley, David/Emden, Christian (Hrsg.): The Fragile Tradition, London/Cambridge 2004, S. 165— 187.
Psychologische Eignungsdiagnostik in westdeutschen Großunternehmen: Wirkung von Ideen als Neufiguration wissenschaftlicher Konzepte in professionellen Verwendungsfeldern Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz 1.
„Intelligenzmessung und Prognose" im Kontext von Verwissenschaftlichungsprozessen
Das
Projekt hatte sich beim Erstantrag im August 1998 zum Ziel gesetzt, am Beispiel der psychologischen Eignungsdiagnostik die unterschiedlichen sozialen Ordnungsentwürfe und Gebrauchsweisen des Wissenschaftskonstrukts „Intelligenz" in westdeutschen Unternehmen zu erforschen.1 Ausgewählt wurden in der ersten Förderphase sieben industrielle Großunternehmen, in denen zwischen 1950 und 1980 betriebspsychologische Abteilungen eingeführt, wiederaufgebaut oder ausgebaut worden sind und in denen eignungsdiagnostische Testverfahren zum Einsatz kamen.2 Diese wurden anhand von Materialien in den jeweiligen Unternehmensarchiven erforscht. Das zeitgenössische Spektrum anwendungsorientierter psychologischer Konzepte und Verfahren wurde anhand einer systematischen Auswertung einschlägiger Fachperiodika und Standardwerke rekonstruiert.3 Die praktische Anwendung dieses psychologischen Expertenwissens zur Messung und Prognose von Arbeits- und Führungskompetenzen bei Bewerbern und Beschäftigten vollzog sich in engem Wechselspiel mit dem Aufund Ausbau von expertengestützten Personalabteilungen in den untersuchten Unternehmen. Sie war grundlegend verknüpft mit der Entstehung eines maßgeblich überbetrieblichen Expertenfeldes für Fragen des Personalwesens seit den
späten 40er Jahren. Dieses stellte neben dem fachwissenschaftlichen
1 Als zusammenfassende Projektskizze vgl.: Platz, Johannes: Seeleningenieure, Diagnostiker, Ausbilder. Psychologen in westdeutschen Unternehmen der Nachkriegszeit, in: Ak-
kumulation. Informationen des Arbeitskreises für kritische Unternehmens- und Industriegeschichte 13 (2000), S. 16-20. Dabei ergaben sich Schwerpunkte vor allem in der chemischen Industrie: Bayer AG (Leverkusen), Glanzstoff AG, Merck KGaA, Henkel KGaA (Düsseldorf), Hoechst AG (Frankfurt/M.). Die anderen Unternehmen gehören unterschiedlichen Branchen an: Mannesmann AG (Metall erzeugende und verarbeitende Industrie), Siemens AG (Elektro-
industrie).
3
Folgende Zeitschriften wurden dazu ausgewertet: Psychologische Rundschau. Offizielles Organ des Berufsverbands Deutscher Psychologen; Psychologie und Praxis. Zs. f. Arbeitsund Organisationspsychologie. Organ der Sektion Arbeits- und Betriebspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen; Forfa-Briefe; Diagnostica; Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie; Mensch und Arbeit.
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Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
Referenzsystem diagnostischer Konzepte und Verfahren den engeren organisatorischen und inhaltlichen Bezugsrahmen betriebspsychologischer Praxis in
den von uns untersuchten Unternehmen dar. Mit Hilfe des sozialwissenschaftlichen Feldansatzes (Bourdieu) sind diese professionellen Kontexte eingehend untersucht worden.4 Ausgangshypothese war dabei, dass Ziele und Leitbilder in diesem personalpolitischen Feld ihrerseits Reichweite und Konzepte der betriebspsychologischen Diagnostik beeinflusst haben. Entstehung und Entwicklung dieses spezifischen Handlungszusammenhangs, der von zwei unterschiedlich wissenschaftlich ausgebildeten Berufsgruppen (Betriebspsychologen und Personalexperten) in Konkurrenz besetzt worden ist, wird von der Projektmitarbeiterin Ruth Rosenberger untersucht.5 Ausgangspunkt ist dabei die Auseinandersetzung um die Neugestaltung der Arbeitsbeziehungen bzw. der betrieblichen Sozialordnung, die bis zur Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes (1952) eines der bestimmenden Themen der westdeutschen Nachkriegszeit war. Insbesondere die Mitbestimmungsdiskussion und -gesetzgebung hatte über die unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen hinaus weitreichende Fernwirkungen für Theorie und Praxis betrieblicher Personalpolitik und damit auch für die Betriebspsychologie. Die Studie verfolgt neben ideengeschichtlichen Perspektiven einen sozial- und unternehmenshistorischen Ansatz. Sie stellt konkret die Frage nach den Trägern personalpolitischer Ideen und nach der Entwicklung ihrer betrieblichen Handlungsspielräume. Dabei geht es auch darum herauszufinden, was die Etablierung betrieblicher Personalpolitik für westdeutsche Unternehmen bedeutete und wie dieses Phänomen in die bundesrepublikanische Gesellschaftsgeschichte einzuordnen ist. Eine zweite Ausgangshypothese des Projekts war, dass die Durchsetzung psychologischen Expertenwissens zur Messung und Prognose von Arbeitsund Führungskompetenzen sich in enger Wechselbeziehung zum Wandel sozialer Deutungsmuster in der bundesrepublikanischen Gesellschaft vollzogen habe. Sozialwissenschaftliche Neuansätze zur Erfassung des Betriebs als 4
Zum Feldansatz siehe Bourdieu, Pierre: Das ökonomische Feld, in: ders. u.a.: Der Einzige und sein Eigenheim. Hamburg 1998, S. 162-204; ders.: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998, S. 15-61; Hofbauer, Johanna: Der soziale Raum „Betrieb", Berlin/Wien 1992; siehe auch Welskopp, Thomas: Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 22 (1996), S. 118-142. 5 Rosenberger, Ruth: Experten für Humankapital. Psychologen und Personalpolitik in westdeutschen Unternehmen 1945-1980 (Arbeitstitel); dies.: Der schwierige Dialog. Betriebspsychologen und Unternehmenskommunikation in Westdeutschland 1945-1980, in: Föllmer, Moritz (Hrsg.): Sehnsucht nach Nähe. Interpersonale Kommunikation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 173-195; dies.: Demokratisierung durch Verwissenschaftlichung? Betriebliche Humanexperten als Akteure des Wandels der betrieblichen Sozialordnung in westdeutschen Unternehmen, in: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 44 (2004), S. 327-355.
481
Psychologische Eignungsdiagnostik
Handlungszusammenhang und zur Bewertung individueller Handlungskompetenzen erhielten unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen von Demokratisierung und Westeraisierung Realisierungschancen. Der politische und rechtliche Wechsel von der hierarchischen Betriebsgemeinschaft zur betrieblichen Mitbestimmung und zur Tarifpartnerschaft markiert eine wichtige Zäsur in den Anwendungsbedingungen psychologischer bzw. industriesoziologischer Konzepte und Expertise. Die spezifischen Diskurskoalitionen zwischen akademischer Wissenschaft, organisationsinternen Praktikern, die den neuen, auf die Änderung der Führungsstile, die praktische Partizipation und die Demokratisierung hin orientierten Konzepten Eingang in die Praxisfelder von Unternehmen oder Organisationen verschafften, untersucht die Studie des zweiten Projektmitarbeiters Johannes Platz.6 sozialem
2. Wissenschaftliche
Konzepte, Diskurse und Praktiken
Ein Ziel des Schwerpunktprogramms war, die methodischen und konzeptionellen Instrumente weiterzuentwickeln, welche es ermöglichen, die Wirkung von Ideen präziser zu beschreiben und in den weiteren Kontext historischer Erklärungsmodelle einzubeziehen. Unser Forschungsprojekt hat ganz explizit Bezug auf dieses übergreifende Vorhaben genommen, indem es sich als Alternative zu engeren wissenschaftshistorischen Ansätzen auf dem Gebiet der und als Ergänzung und mögliche Korrektur breiter ansetzender allgemeinhistorischer Ansätze verstand, welche mit Blick auf zeittypische Diskurse und öffentliche Erörterungszusammenhänge nach Prozessen der Amerikanisierung, Liberalisierung oder Verwestlichung fragen.8 Deutlich ist die Nähe zum Ansatz der Tübinger Forschergruppe, die ebenfalls nach spezifischen Personennetzwerken und Ideentransfers geforscht und
Psychologiegeschichte7
6
Platz, Johannes: Antoikrismus, Führungsstile und Mitbestimmung. Kritische Sozialwissenschaften und Demokratie in der Bundesrepublik (Arbeitstitel); ders.: „Überlegt Euch das mal ganz gut: wir bestimmen mit. Schon das Wort allein." Entstehungsbedingungen und Wirkungen der Betriebsklimastudie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Werken der Mannesmann AG 1954/1955, in: Kleinschmidt, Christian (Hrsg.): Kulturalismus, Neue Institutionenökonomie oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der UnterEssen 2002, S. 199-224. nehmensgeschichte, 7 Dorsch, Friedrich: Geschichte und Probleme der angewandten Psychologie, Bern/ Stuttgart 1963; näher an unserer Problemstellung: Maikowski, Rainer/Mattes, Peter/Rott, Gerhard: Psychologie und ihre Praxis. Materialien zur Geschichte und Funktion einer in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1976. Einzelwissenschaft 8 Bude, HeiraJGreiner, Bernd (Hrsg.): Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999; Herbert, Ulrich (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002; Schildt, Axel: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1999; Jarausch, Konrad/Siegrist, Hannes (Hrsg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt/M. 1996. -
482
Ruth
Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
maßgeblich zur Erkenntnis des Gesamtphänomens der „Westernisierung" der Bundesrepublik zwischen 1945 und 1970 beigetragen hat.9 Der Unterschied gegenüber diesen Ansätzen liegt jedoch ganz deutlich darin, dass damit
Fall wissenschaftsgestützte Ideen und damit verbundene Verfahuntersucht werden, welchen ganz ähnlich wie Institutionen eine ausgeprägte Beharrungskraft gegenüber Zeitströmungen und eine spezifische Selbstreferenz eigen ist. Für die beiden in unserem Projekt näher betrachteten Fachdisziplinen hat die Forschung in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Ebenen die Verbindungen zu diesen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Gesamttendenzen nachgezeichnet. Psychologie und Soziologie erlebten nach einer kurzen Phase der Kontinuität einen markanten und auch zeitgenössisch als dramatisch erlebten Wechsel von Leitbegriffen und Methodenbezügen, welcher sich maßgeblich als Orientierung an US-amerikanischen Standards und Vorbildern Neben dieser zeitgenössisch noch vielfach als erlebten .Amerikanisierung" Neuausrichtung an im westlichen Wissenschaftssystem aber als international gültig wahrgenommen Wissensbeständen und Forschungsmethoden traten Psychologen und Soziologen zugleich auch als Vertreter von Disziplinen auf, welche sich als Wegbereiter der neuen Demokratie und als Sozialingenieure der Demokratisierung verstanden oder als solche wirkten." Diese Verschiebungen im Wissenschaftsfeld vollzogen sich auf breiterer Ebene während der 60er Jahre; ab diesem Zeitpunkt lassen sich auch entsprechende Überzeugungen bei den jüngeren Fach Vertretern in den entsprechenden Berufsfeldern beobachten. Die 15-20 Jahre zwischen Kriegsende und diesem Umbruch sind von enormen lokalen Unterschieden in
in
unserem
ren
vollzog.10
9
Hochgeschwender, Michael: Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998; Kruip, Gudrun: Das „Welt"-„Bild" des Axel Springer. Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen, München 1997; Angster, Julia: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Zur ideellen Westorientierung der deutschen Sozialdemokratie, München 2003; zusammenfassend: DoeringManteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisieim 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. rung 10 Métraux, Alexander: Der Methodenstreit und die Amerikanisierung der Psychologie 1950-1970, in: Ash, Mitchell C/Geuter, Ulfried (Hrsg.): Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, Opladen 1985, S. 225-251. Dieselbe Frage untersucht Michael Grossheim in kulturkritischer bis kulturpessimistischer Perspektive: ders.: Die westdeutsche Psychologie nach 1945 amerikanistische Mode oder exakte Wissenschaft? in: Zitelmann, Rainer (Hrsg.): Westbindung. Chancen und Risiken, Frankfurt/M. 1993, S. 391-419. 11 Für die Soziologie: Demirovic, Alex: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt/M. 1999, S. 339-381; Scheibe, Moritz: Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Herbert, Ulrich (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 245-277. Für die Psychologie: Rupieper: Hermann-Josef: Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Der amerikanische Beitrag 19451952, Opladen 1993, S. 199-204. -
Psychologische Eignungsdiagnostik
483
der konkreten Lehrgestalt der beiden Fächer und von einem scharfen Konflikt zwischen älteren und neueren Ansätzen, zwischen nationalzentrierten und „amerikanischen" Orientierungen gekennzeichnet. Dies lässt sich insbesondere für den Fall der Psychologie zeigen, in welcher der Methodenstreit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre und die methodische Neuorientierung einen deutlichen Generationenwechsel innerhalb der Fachdisziplin markieren.12 Für unsere Themenstellung ist dies wichtig, weil die Etablierung betriebspsychologischer Expertise in Unternehmen sich genau in dieser Übergangsphase vollzog. Entsprechend vielfältig sind die ideellen Konstellationen, welche sich aus dem Zusammentreffen spezifischer betrieblicher und universitär-fachlicher Traditionen nicht zuletzt über die Anstellung von Psychologen und deren Anpassung bzw. Adaptation an Unternehmenstraditionen ergeben haben. Hinzukommt, dass Ideen in unserem Fall als inkorporiertes Berufswissen und quasi objektivierte Testverfahren in Erscheinung treten, also der rein diskursive Weg des Ideentransfers verlassen wird. Dem entspricht auch, dass die institutionellen Rahmungen für die betriebliche Verwendung psychologischen Wissens eine besonders wichtige Rolle besitzen: Die von uns untersuchten Unternehmen waren im Untersuchungszeitraum von Traditionspflege und personellen Kontinuitäten geprägt und haben sich über die politischen Zäsuren und Umbrüche hinweg betriebsspezifische Handlungsroutinen aufrechterhalten. Dies war im Untersuchungszeitraum auch deshalb möglich, weil günstige ökonomische Rahmenbedingungen den Erhalt der Traditionsbestände gewährleisteten. Selbst die Kriegszerstörungen und die Eingriffe der Besatzungsmächte unterbrachen nur für kurze Zeit diese Kontinuitäten.13 Mit Betriebspsychologen und ihren Konkurrenten, den Personalexperten, sind schließlich auch zwei Trägergruppen wissenschaftlicher Ideen genannt, die ein spezifisches Interesse entwickelten, Kontrolle über die Entwicklung ihres anwendungsbezogenen Expertenwissen zu behalten und ihrerseits professionelle Widerstände gegen externe Ideen und Konkurrenten an den Tag legten. Anwendungsbezogenes Expertenwissen, das institutionell nicht in professionellen Verwendungsfelder angesiedelt ist, hingegen wirkt anders. Weil wir gleichzeitig den Blick auf die Industriesoziologie gerichtet haben, ist es erforderlich, dieses Expertenwissen, das einerseits zum Bereich der angewandten Wissenschaften gehört, institutionell andererseits aber vielfach extern geblieben ist, von den betriebspsychologischen Wissensbeständen abzugrenzen. Während die Psychologie sich professionell bereits frühzeitig in Organisationen und Unternehmen fest institutionalisiert hat, blieben die In12
Lück, Helmut E.: Sozialgeschichte der Psychologie, Opladen 1987, S. 141-168; Methodenstreit, S. 225-251. Abelshauser, Werner: Umbruch und Persistenz. Das deutsche Produktionsregime in
Métraux: 13
historischer Perspektive, in: GG 27
(2001), S. 503-523.
Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
484
im Feld der Wissenschaft. Zurückzuführen ist dies auf unterschiedliche berufspolitische Strategien. Dies hat Folgen für die Art, wie deren wissenschaftlich fundierte Ideen wirkten. Um den Wechselwirkungen
dustriesoziologen
zwischen industriesoziologischen wie betriebspsychologischen Ansätzen und industriellen Sozialbeziehungen nachzuspüren, ist es notwendig, Diskurskoalitionen zu analysieren, die nicht zum engeren Praxisfeld des Betriebs gerechnet werden können, aber dennoch Einfluss auf dieses nehmen konnten. Dem Ansatz von Peter Wagner folgend werden akteursanalytische Ansätze mit diskursanalytischen Überlegungen verknüpft.14 Die spezifische Wirkung des Zusammenspiels von Diskurskoalitionen und Professionsfeldern lässt sich am Beispiel des Umgangs mit dem Problem betrieblicher Fluktuation im Steinkohlenbergbau während der 50er Jahre illustrieren. Die Aufmerksamkeit für dieses Sachproblem und seine Verknüpfung mit den Problemen betrieblicher Autoritätsbeziehungen wurde von außen an die Betriebe herangetragen: Es war ein Sozialpsychologe, Theodor Scharmann seit Beginn der fünfziger Jahre im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) tätig -, der in Anbetracht der Belastungen für die öffentliche Arbeitsverwaltung 1953 anregte, die subjektiven Faktoren der Fluktuation im Steinkohlenbergbergbau sozialwissenschaftlich zu untersuchen.15 Scharmanns Affinität zu sozialpsychologischen Ansätzen stand in engem Zusammenhang mit seinen Nachkriegserfahrungen als Prüfungsleiter des Personalamtes des Vereinigten Wirtschaftsgebietes ebenso wie als Teilnehmer und Berichterstatter des transatlantischen Kulturtransfers der mit amerikanischer Unterstützung gegründeten Deutschen Gesellschaft für Personalwesen.16 Seinen Vorstellungen zufolge sollte das Problem den Sozialpartnern, vertreten durch den Unternehmensverband Ruhrbergbau und die Industriegewerkschaft Bergbau, bewusst gemacht werden, indem es im Rah-
14
Wagner,
Peter: Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870-
1980, Frankfurt/M. 1990, S. 23-35.
15
Zum Zusammenhang des Fluktuationsproblems mit seiner sozialwissenschaftlichen Aufarbeitung finden sich Hinweise bei Karl Lauschke: Schwarze Fahnen an der Ruhr. Die Politik der IG Bergbau und Energie während der Kohlenkrise 1958-1968, Marburg 1984, S. 81-109; Roseman, Mark: Recasting the Ruhr 1945-1958. Manpower, Economic Recov-
ery and Labour Relations, New York/Oxford 1992, S. 253-278; Trischler, Helmuth: Partielle Modernisierung. Die betrieblichen Sozialbeziehungen im Ruhrbergbau zwischen Grubenmilitarismus und Human Relations, in: Frese, Matthias/Prinz, Michael (Hrsg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 145-171, zur Sozialforschung und Psychologie S. 162-169. Dort auch weitere Literatur. Der öffentliche Dienst in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Reisebericht. Hrsg. v. der Deutschen Gesellschaft für Personalwesen, Frankfurt/M. 1950; Scharmann, Theodor: Persönlichkeit und Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1966, darin Bibliographie S. 255-260; Müller, H. A.: Der Grenzgänger. Theodor Scharmann zum 70. Geburtstag, in: Psychologie und Praxis 21 (1977), S. 137-139. Rupieper, Hermann: Wurzeln der Nachkriegsdemokratie, S. 199-201.
Psychologische Eignungsdiagnostik
485
des Ausschusses für sozialpolitische Fragen im Kohlenbergbau beim BMAS beraten werden sollte. Um gemeinsame Empfehlungen" an die Mitgliedsbetriebe des Unternehmensverbandes auszusprechen, bedurfte es einer sicheren Datengrundlage, über die weder die Statistik der Verbände, der Letztlich entschied sich das Betriebe noch der Arbeitsverwaltung BMAS Anfang 1955 ermuntert vom Unternehmensverband Ruhrbergbau unter dem Einfluss des einschlägigen Erfolgs der ,3etriebsklimastudie", die das Institut für Sozialforschung in Frankfurt im Auftrag des MannesmannVorstands 1954/55 angefertigt hatte, das Frankfurter Institut mit der Untersuchung der „subjektiven und objektiven Abkehrgründe aus den Zechen des men
verfügte.17
Steinkohlebergbaus" zu betrauen.18 Dadurch dass Konstruktion, Erhebung und die Schritte zur Auswertung in enger Kooperation mit den Sozialpartnern und in Konsultation des Ausschusses geschahen, konnte in den folgenden zwei Jahren ein intensiver Kommunikationsprozess über dieses Sachthema angestoßen werden. In dessen Verlauf wurden sowohl die Studie, insbesondere die Ergebnisse zum Verhältnis von Arbeitern und Vorgesetzten, also letztlich die Arbeits- und Autoritätsverhältnisse, als auch die Arbeits- und Sozialbedingungen, die von den Auftraggebern als kausal für die hohe Fluktuationsrate angesehen wurden, breit diskutiert.19 Am Ende dieser Beratungen zwischen dem Unternehmensverband Ruhrbergbau und den Gewerkschaften im Ausschuss des BMAS wurde in mehreren Schritten der Fachöffentlichkeit (Bundesarbeitsblatt,20 „nichtöffentliche" Empfehlungen an die Arbeitsdirektoren im Steinkohlebergbau) die Deutung nahe gebracht, dass die ,,Menschenführung" unter Tage den Kern des Problems ausmache.21 In einem konkreten Fall lassen sich weitere Effek17
BAK B 149/5745, 5746,6074; IfSA A 12. Betriebsklima. Eine industriesoziologische Untersuchung aus dem Ruhrgebiet, Frankfurt/M. 1955 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie; 3), Horkheimer, Max: Menschen im Großbetrieb, in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, Nr. 14, 19.02.1955; Winkhaus, Hermann: Betriebsklima und Mitbestimmung, in: Arbeit und Sozialpolitik 9 (1955), H. 4, S. 101-109; vgl. hierzu Platz, Johannes: „Wir bestimmen mit". 19 Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität: Die subjektiven und objektiven Abkehrgründe bei sieben Zechen des westdeutschen Steinkohlebergbaus in ihrer Auswirkung auf die Sicherung des Belegschaftsstandes unter Tage. Ein Forschungsbericht des Institutes für Sozialforschung, Frankfurt/M. 1955, Mannesmann Archiv, M 30.083. 20 Friedeburg, Ludwig von: Zur Fluktuation im Steinkohlenbergbau. Ergebnisse einer industriesoziologischen Untersuchung des Instituts für Sozialforschung über die Gründe der Fluktuationsdifferenzen bei sechs Zechen im Ruhrbezirk, in: Bundesarbeitsblatt 8 (1957), S. 705-721; Ministerialdirektor Dr. Petz: Die subjektiven und objektiven Abkehrgründe im Kohlenbergbau. Bemerkungen zu der industriesoziologischen Untersuchung des Instituts für Sozialforschung, in: Bundesarbeitsblatt 8 (1957), S. 721-734. 21 Ministerialdirektor Dr. Petz: Fluktuation im Steinkohlenbergbau! Was kann noch dagegen geschehen. Empfehlungen zu den Ergebnissen einer industriesoziologischen Untersuchung des Instituts für Sozialforschung über die Gründe der Fluktuationsdifferenzen bei sechs Zechen im Ruhrbezirk, Bonn [1957]. 18
486
Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
dieser Themensetzung nachvollziehen: Der Arbeitsdirektor des Eschweiler Bergwerksvereins, einer großen Steinkohlengrube im Aachener Raum, nahm die Ergebnisse der Studie und die an sie anknüpfenden Empfehlungen 1959 te
zum
Anlass, einen betriebspsychologischen Dienst einzurichten. Der hier
beschäftigte Günter Marschner setzte einen Schwerpunkt seiner Tätigkeit auf die Auswahl des Führungskräftenachwuchses der Steiger, um dem Führungsstil durch die Auswahl qualifizierten und geeigneten Leitungspersonals zu wandeln.22 Marschner hatte zuvor im Braunschweiger Forschungsinstitut für Arbeitspsychologie und Personalwesen" (Forfa) gearbeitet, wo er sich seit Beginn der 50er Jahre mit eignungsdiagnostischen Problemen im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Führungspersonal beschäftigt hatte.23 Solche spezifischen Konstellationen lassen sich zusammenfassend am besten durch die Eigendynamik und die Eigenlogik sozialer Institutionen (Unternehmen, Professionen, Disziplinen) wie aber auch deren Wechselwirkungen untereinander charakterisieren. Das Projekt hat sich im wesentlichen darauf konzentriert, präzisere Beschreibungen der externen Rahmenbedingungen des Ideentransfers und der internen Transformation von Konzepten und Ideen zu liefern, welche eventuell auch für die Verbreitung oder Anwendung wissenschaftlicher Ideen in ähnlich strukturierten Kontexten zutreffen können.
3. In den
Wirkung von Ideen als Neufiguration wissenschaftlicher Konzepte in Verwendungsfeldern
untersuchten Unternehmen und Organisationen wurden Konzepte der universitären Psychologie wirksam, indem sie Bestandteil eines eigenständigen und spezifischen Expertenwissens in einem sich institutionell verfestigenden Professionsfeld wurden. Statt einer linearen oder gar zeitlich kontinuierlichen Diffusion wissenschaftlicher (in unserem Fall psychologischer) Konzepte in Unternehmen handelt es sich um einen Ideentransfer, dessen Regeln, Intensität und Geschwindigkeit unmittelbar mit der Genese bzw. den internen Veränderungen des betriebspsychologischen und personalDrei generalisierende Beopolitischen Professionsfeldes bachtungen haben sich herauskristallisiert: von uns
zusammenhängen.24
22
Marschner, Günter: Auswahl des Steigernachwuchses. Organisation, Methoden und
der innerbetrieblichen Auswahl von Führungskräften der unteren Stufe in einem Unternehmen des Steinkohlenbergbaus, in: Psychologie und Praxis 8 S. 48-65. (1964), 3 Z.B. Marschner, Günter: Ausbildungsfragen höherer industrieller Führungskräfte, in: Forfa-Briefe 1 (1951/52), S. XII/3,1-3,9. 24 Zum Ansatz der Verwendungsforschung vgl. Beck, XJXricii!Bonß, Wolfgang: Verwissenschaftlichung ohne Aufklärung? Zum Strukturwandel von Sozialwissenschaft und Praxis,
Bewährungskontrollen
Psychologische Eignungsdiagnostik
487
a) Als Teilschritt der Entstehung eines eigenständigen, organisatorisch und beruflich ausdifferenzierten Bereiches ,Personalwesen" in westdeutschen Großunternehmen etablierte sich außerhalb der Betriebe im Zeitraum zwischen 1945-1955 ein Netzwerk konkurrierender personalpolitischer Fachorganisationen und Institutionen, in denen faktisch das Feld relevanter wissenschaftlicher und anwendungsorientierter Konzepte, Verfahren und Begriffe abgesteckt wurde. Als wichtigste sind hier zu nennen das 1948 in Braunschweig eingerichtete „Forschungsinstitut für Arbeitspsychologie und Personalwesen" (Forfa),25 die „Arbeitsgemeinschaft für Soziale Betriebsgestaltung" (ASB) in Heidelberg, die 1949 ihre Tätigkeit aufnahm,26 und „Der Neue Betrieb Studienkreis für sozialwirtschaftliche Betriebsformen" (DNB) in Düsseldorf, ein 1952 gegründeter Zusammenschluss von Unternehmen und überbetrieblichen Organisationen27. Während im Forfa maßgeblich betriebspsychologische Interessen verfolgt wurden, dominierten in der ASB und im DNB Personalexperten, d.h. Betriebspraktiker aus Personalabteilungen, die Ausrichtung und Orientierung des spezifischen Tätigkeitsfeldes, wenngleich auch hier Betriebspsychologen zu Rate gezogen wurden. Durch die Tätigkeit dieser Institute erfuhr der Transfer wissenschaftlicher Konzepte eine neue Intensität. Indikator für den Druck, der dadurch auf Unternehmen ausgeübt wurde, ist, dass zu Beginn der 50er Jahre betriebspsychologische -
Abteilungen eingerichtet wurden.28 Gleichzeitig war der Transfer begleitet von einer Neuordnung (Rekonfiguration) von Begriffen aufgrund spezifischer Problembezüge und insbesondere aufgrund der konkurrierenden Leitdiskurse in diesem neuen Professionsfeld. Diese „Übersetzungsarbeit" leisteten in der Regel bereits neue Spezialisten selbst beziehungsweise die von ihnen (und nicht etwa der universitären Psychologie) ausgewählten Wortführer und Vordenker. So proklamierte beispielsweise Albrecht Weiß, der als Jurist seit den 30er Jahren in der sozialpolitischen Abteilung im Werk Ludwigshafen bei der IG Farben gearbeitet in: dies. (Hrsg.): Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt/M. 1989, S. 7-45. Herwig, Bernhard: Forschungsstelle für Berufserziehung und Eignungsbegutachtung, Braunschweig, in: Mitteilungen des BDP 8.12.1948, in: Bonner, Karl H./Lück, Helmut E. (Hrsg.): Die Mitteilungen des Berufs Verbands Deutscher Psychologen 1947-1950, Frankfurt/M. 1998, S. 133-135; Bräutigam, Georg: FORFA Forschungsinstitut für Arbeitspsyund Personalwesen, in: Mensch und Arbeit 6 (1954), S. 167-169. chologie 26 Arbeitsgemeinschaft für Soziale Betriebsgestaltung, in: Rationalisierung 1 (1950), H. 2, S. 53f; Informations-Broschüre für Mitglieder, ASB: Satzungen, Organisation, Mitglieder, Juli 1954, in: RWWA, Abt. 195, Acordis AG, Wuppertal, Best. V 9-2+4/9. 27 Schmidt-Dorrenbach, Heribert: 50 Jahre betriebliche Personalpolitik. Der Weg der Deutschen Gesellschaft für Personalführung, hrsg. v. der Deutschen Gesellschaft für Personalführung e.V., Frankfurt/M. 2002, S. 16-31. 28 Einrichtung einer betriebspsychologischen Abteilung bei Merck 1954, bei Glanzstoff 1953, bei Siemens 1951. -
Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
488
Konzept der „Sozialen Betriebsgestaltung". Danach war Zielvorgabe personalpolitischer Arbeit die Verbesserung der innerbetrieblichen Arbeitsbeziehungen mit Hilfe arbeitsmedizinischer, rechtswissenschaftlicher, betriebswissenschaftlicher und psychologischer Erkenntnisse.30 Bis zur Mitte der 50er Jahre diente „Soziale Betriebsgestaltung" nicht nur als Name für das neue Kind, dessen sich jeder bediente ob Betriebspsychologe, Personalexperte oder selbst ernannter Fachmann; dabei wirkte das Konzept auch als allgemeiner Orientierungsrahmen. Verfahren der Personalauswahl oder Personalbeurteilung, die bisher vorrangig als Rationalisierungsinstrumente verstanden worden waren, versuchte man beispielsweise danach auszurichten, indem sie um erläuternde Gespräche mit den Betroffenen erweitert wurden. Weitere Maßnahmen wie die Förderung einzelner Gruppen von Führungskräften, vor allem Meister, wurden in dieser Phase verstärkt vorbereitet.31 Insgesamt markieren somit drei ideelle Faktoren die Entstehung des neuen Professionsfeldes: der Ideentransfer unter den Experten nahm zu und verstetigte sich, Ideen vielfach unterschiedlicher disziplinärer oder allgemeiner politisch-weltanschaulicher Herkunft wurden dabei neu arrangiert und drittens etablierte sich ein eigenes ideelles Referenzsystem. hatte,
1947 das
oberste
-
b) Das anwendungsorientierte Professionswissen der Personalexperten und
Betriebspsychologen hat sich mit der Etablierung des Professionsfeldes gegenüber dem ständigen Angebot wissenschaftlicher Kritik und Innovation zunehmend abgeschlossen. Es entwickelte nicht zuletzt aufgrund der Überführung von Ideen in Verfahren (Tests, Ausleseroutinen, Organisationsabläufe) und Berufsroutinen eine spezifische Beharrungskraft. Personelle Kontinuitäten in den betriebspsychologischen Abteilungen bei gleichzeitig verlangsamtem Ausbau der betrieblichen Personalbereiche verstärkten diesen Trend. Mit der Schließung des Forfa 1962 infolge finanzieller Schwierigkeiten wurde zusätzlich eine wichtige Verbindung ins akademische Feld der Psychologie gekappt, während gleichzeitig die Personalwissenschaft an den Universitäten noch so gut wie überhaupt nicht vertreten war.32 Primär war diese Stagnation jedoch Folge der erfolgreichen Etablierung interner, feldspezifischer Bewertungsschemata und Problemwahrnehmungen, die erst vor dem Hintergrund grundlegender ökonomischer und gesellschaftlicher Veränderungen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre in Frage gestellt wurden. Für 29
H, J.: Der Lebenslauf des Jubilars, in: Mensch und Arbeit 12 (1960), S. 162-164.
Weiß, AXbtecbxJHergt, Wilhelm: Soziale Betriebsgestaltung, in: Hoffmann, Irma (Hrsg.): Aus der Praxis der Sozialen Betriebsgestaltung. Aufsätze, Auszüge und Beiträge von Dr. Albrecht Weiß, München/Düsseldorf 1950, S. 11-15; erstmals erschienen in: Der BetriebsBerater 2, H. 16(1947). 31 Zu deren Einrichtung in den Unternehmen vgl. Rosenberger: Der schwierige Dialog. 32 Krell, Gertraude: Geschichte der Personallehren, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, H. 5 (1998), S. 222-227.
Psychologische Eignungsdiagnostik
489
die betriebliche Praxis bedeutete das, dass oft bis in die 70er Jahre hinein die angewendeten Personalauswahlverfahren im wesentlichen nicht korrigiert wurden, auch wenn die Anzahl der zu testenden Bewerber zunahm und nun auch verstärkt Erwachsene der eignungsdiagnostischen Prozedur unterworfen
wurden.33
c) Der Transfer psychologischer Konzepte (Umfang, Geschwindigkeit) in das Professionsfeld hing schließlich auch davon ab, welche Position die Betriebspsychologen innerhalb dieses Professionsfeldes eingenommen haben. Die erfolgreiche Behauptung vorrangig betriebswirtschaftlich oder juristisch ausgebildeter Personalexperten und schließlich ihr Aufstieg zur dominierenden Kraft begrenzten die Erfolgschancen neuerer wissenschaftlicher Ideenimporte aus der Psychologie. Eher lässt sich beobachten, wie die Einschränkung betriebspsychologischer Expertise auf das Kerngeschäft der Personalauswahl die berufsbezogene Ausbildung der universitären Betriebspsychologie affizierte. Die Wirkung wissenschaftlicher Konzepte, konkret also deren Chance, zu einer Leitidee oder zum Kern eines Deutungsmusters aufzusteigen, ist somit auch abhängig davon, ob sich in den spezifischen Professionsfeldern die Träger dieser Konzepte gegenüber Konkurrenten, die ihre Kompetenz auf andere Wissenschaften oder Wissensbestände gründen, durchsetzen, d.h. die Definitionsgewalt über Ziele und Probleme erlangen. Diese Konkurrenz jedoch wird weniger durch die Überzeugungskraft von Argumenten, als vielmehr durch die Aneignung materieller und symbolischer Ressourcen entschieden. Im Feld der Personalexpertise stützten sich die betriebswirtschaftlich oder juristisch geprägten Konkurrenten auf die größere Nähe ihres Wissens (in den Dimensionen: soziale Gemeinsamkeiten wie universitäre und wissenschaftliche Sozialisation, intellektuelle Affinitäten) zum Feld des Managements, der Unternehmensführung. Insbesondere unterschied sie von den Betriebspsychologen, dass sie bis in die 70er Jahre maßgeblich auf ,Erfahrung' als Legitimation ihres Wissens rekurrierten.34 Gerade deshalb blieben Personalexperten auch als dominante Akteursgruppe auf die Kooperation mit den Betriebspsychologen angewiesen, da nur diese über das -
-
33
Aufgrund mangelnder Quellen kann die Zunahme von erwachsenen Testprobanden zahlenmäßig nicht direkt belegt werden. Für den Fall Merck ist sie jedoch nicht nur durch
Zeitzeugenaussagen belegt,
sondern lässt sich auch
aus
anderen Daten erschließen: Die
betriebspsychologisch untersuchten Bewerber für Ausbildungsplätze stieg im Untersuchungszeitraum Ende der sechziger Jahre nur leicht an (1955, 260; 1959, 268; 1967, 217; 1968, 281), während gleichzeitig jedoch eine personelle Ausweitung der betriebspsychologischen Abteilung stattfand. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre waren zwei Arbeitskräfte dort beschäftigt, in der zweiten Hälfte der 60er Jahre drei bzw. vier. Da die betriebspsychologische Abteilung bei Merck fast nur mit der Durchführung von Eignungsuntersuchungen beschäftigt war, kann diese Ausweitung nur dadurch erklärt werden, dass Anzahl der
zunehmend erwachsene Bewerber getestet wurden. 34
Vgl. dazu Rosenberger. Demokratisierung.
490
Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
spezifische kulturelle und symbolische Kapital verfügten, eignungsdiagnostische wie insgesamt anwendungsorientierte Verfahren zu entwickeln, deren Legitimität grundlegend auf wissenschaftlich abgesichertem Wissen über den Menschen beruhte und die zum konstitutiven Bestandteil des personalpolitischen Feldes geworden waren. Betriebspsychologen und Personalexperten richteten sich somit in einer Art Komplementärverhältnis im personalpolitischen Feld ein, auf das berufspolitisch beide angewiesen waren.
Schließlich stellt sich in ideengeschichtlicher Perspektive die Frage, ob noch weitere zeittypische Vorbedingungen als notwendige Voraussetzung für den Ideentransfer von der Psychologie in die Unternehmen zu bestimmen sind. Dazu sind wir nach dem Modell konzentrischer Kreise vorgegangen, das von allgemeineren, d.h. auch bereits über einen längeren Zeitraum wirksamen Ideenkonstellationen zu besonderen, in unserem Fall mit der politischen Umbruchsituation und den Neuentwicklungen des Zeitraums 1945-1952 unmittelbar verbundenen spezifischen Leitideen fortschreitet. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass für das westdeutsche Professionsfeld betrieblicher Personalpolitik vor allem die neuen Rahmenbedingungen der Arbeitsbeziehungen konstitutiv waren. Sie bildeten den Horizont aller Leitideen und Konzepte, die Personalexperten und Betriebspsychologen im Untersuchungszeitraum entwickelt haben. Dies erklärt u.a. die feldspezifische Brechung (d.h. Umformung, Abwehr) aller derjenigen Ideen und Konzepte, welche unmittelbar aus anderen Traditionen und Systemen der Arbeitsbeziehungen stammten, wie etwa die US-amerikanischen Konzepte der Human Relations. In der verwendenden Betriebspsychologie ist dementsprechend ein ganz anderer Rhythmus transatlantischen Ideentransfers zu beobachten als etwa in der universitär ausgerichteten bundesrepublikanischen Psychologie. Im Einzelnen lassen sich folgende Aspekte als notwendige Voraussetzungen für den von uns analysierten Wirkungs- und Transferprozess hervorheben: -
die Neubewertung des Faktors Arbeitskraft" im Kaiserreich und im Zuge der Rationalisierungsdebatten der Zwischenkriegszeit,35 ,
Rabinbach, Anson: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001 (The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity 1990); Schuster, Hellmuth: Industrie und Sozialwissenschaften. Eine Praxisgeschichte der Sozialwissenschaften in Deutschland, Opladen 1987; Hinrichs, Peter: Um die Seele des Arbeiters. Arbeitspsychologie, Industrie- und Betriebssoziologie in Deutschland 1871-1914, Köln 1976; Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 17651914, Frankfurt/M. 2001; ders./Tanner, Jakob (Hrsg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1998.
491
Psychologische Eignungsdiagnostik -
-
-
die Etablierung einer eignungsdiagnostischen Praxis mit anwendungsbezogenen Konzepten und Verfahren in Unternehmen im Zeichen der Psychotechnik seit 1912,36 der Aufstieg von personalpolitischen „Vergemeinschaftungs"-Konzepten in der betrieblichen Praxis als Reaktion auf die Erfahrung, dass Rationalisierungsmaßnahmen im Sinne Taylors „Wissenschaftlicher Betriebsführung" an ihre Grenzen gestoßen waren,37 die Durchsetzung von Humanexperten in anwendungsorientierten sozialen Handlungsfeldern in der Zwischenkriegszeit und insbesondere im
NS,38
-
der
so
genannte „Humanisierungsdiskurs" in der unmittelbaren Nach-
Versuch der Neuorientierung und partiellen Distanzierung den Leitideen der NS-Zeit, mit dem sich so gut wie alle gesellschaftlichen Gruppen auf den bis heute aktuellen Gemeinplatz vom ,.Menschen im Mittelpunkt" einigten.39 In deutlicher, aber unausgesprochener Abgrenzung davon und gleichzeitig enger Verbindung mit den Erfahrungen der Beschäftigten und der Unternehmensleitungen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren wurde dabei insbesondere die Rolle des Individuums betont. Damit verschoben sich auch die Bezugspunkte für Entwürfe vergemeinschaftender Personalpolitik in Unternehmen nach 1945. In dieser Konstellation gewannen psychologische Konzepte besonderes Gewicht.40 die Gesetzgebung zur Mitbestimmung, insbesondere im Montanbereich, stellte in der Wahrnehmung der Unternehmensleitungen eine permanente Bedrohung der betrieblichen Sozialordnung dar, der es etwas entgegenzusetzen galt. Ein individualisierendes Verständnis der Arbeitsbeziehungen, bei dem jeder einzelne „nach Können und Wollen" in den Betrieb inte-
kriegszeit als von
-
36
Jäger, Siegfried)'Staeuble, Irmingard: Die Psychotechnik und ihre gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen, in: Stoll, François (Hrsg.): Anwendungen im Berufsleben. Arbeits-, Wirtschafts- und Verkehrspsychologie, Zürich/München 1981 (= Die Psychologie im 20. Jahrhundert; Bd. 13), S. 53-95. 37 Krell, Gertraude: Vergemeinschaftende
Personalpolitik. Normative Personallehren, Werksgemeinschaft, NS-Betriebsgemeinschaft, Betriebliche Partnerschaft, Japan, Unternehmenskultur, München/Mehring 1994, S. 85ff.; Homburg, Heidrun: The .human factor' and the limits of rationalization. Personnel-management strategies and the rationalization movement in German industry between the wars, in: Tolliday, StevenlZeitlin, Jonathan (Hrsg.): The Power to Manage? Employers and industrial relations in comparativehistorical perspective, London/New York 1991, S. 147-175. 38 Raphael, Lutz: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten im NS-Regime, in: GG 27 (2001), S. 5-40; ders.: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine des 20. Jahrhunderts, in: GG 22 (1996), S. 165-193. Sozialgeschichte 39 Vgl. dazu auch Reitmayer, Morten: „Unternehmer zur Führung berufen" durch wen?,
in: Berghahn, Voiker/Unger, Stefan/Ziegler, Dieter (Hrsg.): Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität, Essen 2003, S. 317-336, hier: S. 321f. 40 Z.B. Maikowski, Mattes und Rott: Psychologie und Praxis, S. 79-112. -
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Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
riert werden sollte, unterstützte die Abwehr der Forderungen nach kollektiven Rechten.41 die mit dem Montanmitbestimmungsgesetz eingesetzten Arbeitsdirektoren, deren Tätigkeit sich stark auf den Bereich personal und Soziales" konzentrierte,42 organisierten und systematisierten ihre Arbeit inhaltlich.43 Damit wurden zwar noch keine neuen Maßstäbe betrieblicher Personal politik gesetzt, aber der Erwartungsdruck für praktische Veränderungen
stieg.
-
die Etablierung sozialpartnerschaftlicher Arbeitsbeziehungen unter Einschluss rechtlicher Garantien für autonome, gewerkschaftliche Interessenartikulation der Beschäftigten. Insgesamt verstärkte der Ausbau individueller und kollektiver Schutzrechte für Arbeitnehmer das Gewicht der Personalexperten innerhalb des mittleren und höheren Managements der Großunternehmen.
Abschließend sei der oben bereits skizzierte Fall sozial- bzw. betriebspsychologischer Thematisierung des Problems Fluktuation im Steinkohlenbergbau noch einmal bemüht, um die spezifische Verschränkung institutioneller und ideeller Rahmenbedingungen zu verdeutlichen. Erstens hatte die Montanmitbestimmung das institutionelle Gewicht und die Macht der Gewerkschaft durch die Bestellung des Arbeitsdirektors in den Montanunternehmen entscheidend gestärkt. Das sozialpartnerschaftliche Leitbild, das bei der Zusammensetzung des Ausschusses für sozialpolitische Fragen im Kohlenbergbau beim Bundesarbeitsministerium zugrunde lag, machte diesen zu einem Instrument der Thematisierung und Kommunikation wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse. Damit erhielt die Expertise ein zusätzliches institutionelles Gewicht, das auch von den Sozialpartnern so verstanden wurde. Für die konkrete Wirkung war schließlich eine Diskurskoalition, die sich aus Sozialpsychologen und Beamten im BMAS, aus Sozialwissenschaftlern und Arbeitsdirektoren zusammensetzte, von entscheidender Bedeutung. Sie erlaubte es, den Sachverhalt mit einer durch die sozialwissenschaftliche Erhebung vermeintlich objektivierten Deutung auf die Tagesordnung zu bringen. Die psychologische Deutung des Problems wiederum profitierte von AnreSchneider, Michael: Vom „Herrn-im-Hause" zum Sozialpartner? Grundzüge der unternehmerischen Reaktion auf die gewerkschaftlichen Forderungen nach Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung, in: Borsdorf, Ulrich u.a. (Hrsg.): Gewerkschaftliche Politik: Reform aus Solidarität. FS für Heinz O. Vetter, Köln 1977, S. 271-292, hier S. 286. 42 Martin, Erich: Der Arbeitsdirektor als Träger betrieblicher Personal- und Sozialpolitik in den Unternehmen der westdeutschen Montanindustrie, Mannheim 1956. 4 Lauschke, Karl: Mitbestimmungseliten in der Eisen- und Stahlindustrie Das Beispiel der Arbeitsdirektoren, in: Bovermann, Rainer/Goc/i, Sttían/Priamus, Heinz-Jürgen (Hrsg.): Das Ruhrgebiet Ein starkes Stück Nordrhein-Westfalen. Politik in der Region 19461996, Essen 1996, S. 320-334, hier S. 326. -
-
Psychologische Eignungsdiagnostik
493
gungen, welche sich im Fall Scharmanns aus amerikanischen Reiseerfahrungen und bei seinem Kollegen Marschner aus der Tätigkeit beim Forfa-Institut
ergaben. 4. Das
psychologische Konstrukt „Intelligenz" in der betrieblichen Eignungsdiagnostik
Die eingangs skizzierte Forschungsstrategie, die politischen, ökonomischen und schließlich die sozialen Kontexte anhand von Fallstudien in einzelnen Unternehmen zu rekonstruieren, in denen es zur Anwendung von Intelligenztests kam, hat jedoch auch ihren Preis: im Detail ergeben sich immer noch große Wissenslücken über die Anwendungspraxis der Tests, deren Veränderungen im Wechselspiel mit wissenschaftlichen Weiterentwicklungen der Testtheorie, der Intelligenzforschung und insbesondere der Verfeinerung und Veränderung der Tests selber. Für die engere wissenschaftshistorische Fragestellung nach der Transformation des wissenschaftlichen Konstrukts Intelligenz in der betrieblichen Anwendung bleiben beim jetzigen Stand unserer Forschungen noch viele Fragen offen. Hierauf wird erst eine detaillierte Auswertung der erschlossenen Fachliteratur sowie weiterer archivalischer Quellen zur Testpraxis eine befriedigende Antwort geben.44 Deutlich können wir jedoch die begriffsgeschichtliche Einbettung des Konzepts nachzeichnen, welche sich im Professionsfeld der Personalexperten entwickelt hat. Hier blieb das psychologische Konzept „Intelligenz" immer eingebunden in einen weiteren und zugleich auch älteren Diskurs, der um die Termini „Auslese" und ,3ignung" kreiste. Sachlich wie semantisch konnte sich das Konzept „Intelligenz" im Untersuchungszeitraum nicht als gleichrangig neben diesen älteren Begriffen durchsetzen. Dies lässt sich im Einzel-
folgenden Beobachtungen zeigen: Einstellungstests war „Intelligenz", konkret die Zahlenwerte der entsprechenden Tests, eine Komponente neben anderen mindestens gleichrangigen Faktoren der Bewertung. Im Gesamtrepertoire von Verfahren der betrieblichen Personalauswahl blieben Intelligenztests ein Bestandteil der Testbatterien, welche ihrerseits neben Arbeitsproben, Gesprächen und Gutachten ihren Platz hatten. Mit der Weiterentwicklung eignungsdiagnostischer nen an
In der Praxis der
Verfahren hin zum Assessment, wie er für höhere Positionen in Unternehmen in den 80er Jahren zu beobachten ist,45 veränderte sich die praktische Ver44
Eine solche Studie ist geplant. Der Arbeitskreis Assessment Center, der 1977 auf Initiative des ABO-Psychologen Wolfgang Jeserich gegründet worden war, setzte sich aus Betriebspsychologen und Personalexperten zusammen. Hier wurde maßgeblich die Durchsetzung dieses neuen Verfahrens in der betrieblichen Praxis vorbereitet. Vgl. z.B. Das Assessment Center in der betriebli45
494
Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
wendung des Intelligenzkonstrukts.
Nun wurden keine Tests mehr angewen-
det, sondern die Bewerber präsentierten im Rahmen verschiedener Verfahren
wie Gruppendiskussionen, Interviews oder Planspielen sich und ihre Fähigkeiten einer Beobachtergruppe, die dann gemeinsam über die jeweilige Potentialeinschätzung und daraus resultierende Einsatzmöglichkeiten entschied.46 Mit der Fokussierung so genannter Führungseigenschaften wurde eine inhaltliche Ausweitung des Intelligenzbegriffs vorbereitet, indem er nicht mehr nur auf kognitive Leistungen beschränkt, sondern nun auch von sozialer oder emotionaler Intelligenz gesprochen wurde. Intelligenztests wurden in den von uns untersuchten Unternehmen auch dann noch weiter benutzt, als die ihnen zugrunde liegenden wissenschaftlichen Konstruktionen in der Forschung bereits revidiert und entsprechend modifizierte Tests auf dem Markt waren. Dieses gern als quasi naturgesetzliche Regel aufgefasste Nachhinken der Verwendungspraxis hinter der wissenschaftlichen Theorie lässt sich in unserem Fall jedoch konkreter als Kontinuität eines nicht mehr weiter verfeinerten Messinstruments für begrenztere Zwecke interpretieren. Gerade die Weiterentwicklung der internationalen wissenschaftlichen Intelligenzforschung zielte auf eine Ausweitung und Differenzierung des Konzepts und eine Verfeinerung der Messtechniken. Beides setzte und setzt aber voraus, dass der Begriff eine zentrale Stellung im Kategoriensystem der Differential- oder Individualpsychologie innehat. Wenn dies wie im bundesrepublikanischen Feld betrieblicher Personalpolitik jedoch nicht der Fall ist, bestehen gute professionelle Gründe, an älteren, d.h. in diesem Fall einfacheren, gröberen und zugleich auch engeren Konzepten verfahrenstechnisch festzuhalten. Innerbetrieblich lässt sich eine Resistenz gegenüber der Ausweitung von Eignungstests, darunter wohl insbesondere von Intelligenztests beobachten, je höher man in der Betriebshierarchie nach oben steigt. Psychotechnische Untersuchungen wurden in den zwanziger Jahren zunächst hauptsächlich bei den sozial schwächsten Gruppen im Betrieb, Frauen, Ungelernten und Lehrlingen eingesetzt und ausprobiert.47 Massenwirksam mussten sich während des Krieges Zwangsarbeiter eignungsdiagnostischen Tests unterziehen48 und chen Praxis. Erfahrungen und Perspektiven, hrsg. v. Arbeitskreis Assessment Center, Hamburg 1989. 46 Vgl. dazu Horn, Eva: Test und Theater. Verfahren der Eignungsprüfung, in: Bröckling, Ulrich (Hrsg.): Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002, S. 109-126. 47 Waldau, M.: Psychotechnische Eignungsprüfung von Facharbeiterinnen in der Elektroindustrie, in: Praktische Psychologie 2 (1920/21), S. 160; Perls, P.: Bewährte und angewandte Eignungsprüfung von Arbeiterinnen für Massenherstellung elektrischer Kleinapparate, in: Werkstattstechnik 21 (1927), S. 157-159; Bolt, Richard: Zusammenhänge zwischen Eignungsprüfung und Leistungsbeobachtung in der Praxis bei Lehrlingen der Metallindustrie, in: Maschinenbau 3 (1923/24), S. 450-454. 48 Ansbacher, H. L.: Testing, Management and Reactions of Foreign Workers in Germany during World War II, in: American Psychologist 5 (1950), S. 38^t9.
Psychologische Eignungsdiagnostik
495
auch in der Bundesrepublik war vor allem für Auszubildende der Besuch in der betriebspsychologischen Abteilung der Normalfall. Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre nahm jedoch die Anzahl der erwachsenen Probanden, insbesondere derer, die ihre Führungskompetenz im Zusammenhang mit einer Versetzung oder Beförderung unter Beweis stellen mussten, zu.49 Nichtsdestotrotz bewahrten die Inhaber universitärer Diplome, an der Spitze promovierte Wissenschaftler (vor allem Naturwissenschaftler und Ingenieure) jedoch ihre Vorbehalte gegen den Einsatz von Testverfahren als Mittel der innerbetrieblichen Personalauswahl und Personalführung. Unter anderem stand dies im Zusammenhang mit dem persönlichkeitsorientierten Selbstbild von Unternehmern und leitenden Angestellten: Dieses Bild mit seinen Anklängen an Charisma und Genie stand in krassem Widerspruch zur Vergleichbarkeit und Gleichheit von Fähigkeiten, die „objektive" Intelligenztests mit ihren numerischen Ergebnissen voraussetzen. Darüber hinaus verhinderten die Schranken der Betriebshierarchie, dass Betriebspsychologen, die in der Regel als Stabsstelle fungierten, über die Kompetenz eines ihnen übergeordneten oder auch gleichrangigen Kollegen zu urteilen.50 Noch ungeklärt geblieben ist die Bedeutung des Konzepts „Intelligenz" für das Selbstwertgefühl und die Thematisierung eigener Leistungsfähigkeit in den Belegschaften der von uns untersuchten Unternehmen. Denn große Teile dieser Beschäftigten wurden aufgrund erfolgreicher Einstellungstests und am Ende eines mehrstufigen Auswahlverfahrens als Auszubildende eingestellt. „Intelligenz" war ein Element der selektionsrelevanten Kriterien, das sich die erfolgreichen Bewerber zuschreiben konnten und das ihnen auch als wissenschaftlich beglaubigtes Ergebnis mitgeteilt wurden. Für die Grenzziehung nach außen und damit verbunden auch für die Bindung der Belegschaften an das Unternehmen spielte die Eignungsdiagnostik also eine wohl nicht zu unterschätzende Rolle. Da jedoch für die innerbetrieblichen Personalentscheidungen die Tests gar keine oder aber eine eher umstrittene Rolle spielten, knüpften sich soweit erkennbar auch keine diskursiven Differenzierungsstrategien an den Intelligenzbegriff.
49
Siehe Fußnote 33. Vgl. für außerbetriebliche Personalberatung: Koller, Barbara: Psychologie und Selektion. Die Entwicklung der persönlichkeitsbezogenen Anforderungsprofile an die Wirtschaftselite seit den sechziger Jahren, in: Berghahn, Volker/'linger, Stefan/Ziegler, Dieter (Hrsg.): Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität, Essen 2003, S. 337-351. 50
Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz
496
Veröffentlichungen aus dem Projekt „Intelligenzmessung und Prognose": zum Psychologischen Dienst der Bundeswehr. Ideen- und institutionengeschichtliche Untersuchungen zur Entwicklung der Wehrpsychologie am Beispiel ihrer eignungsdiagnostischen Tätigkeit. Magisterarbeit Universität Trier 1999. Ders.: Seeleningenieure, Diagnostiker, Ausbilder, Psychologen in westdeutschen Unternehmen der Nachkriegszeit, in: Akkumulation. Informationen des Arbeitskreises für kriritische Unternehmens- und Industriegeschichte, Nr. 13/2000, S. 16-20. Ders.: .Authoritarian Personality', Charakterologie oder Psychotechnik? Die Konflikte in der Frühgeschichte der Bundeswehr um Einrichtung und Ausrichtung des Psychologischen Dienstes in: AG Psychologisches Denken und psychologische Praxis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Die Psychologie in praktischen Kontexten, Berlin2001, www.bbaw.de/forschung/psychologie/bin/wsl.pdf, S. 59-79.
Platz, Johannes: Vom Psychologischen Laboratorium der Reichswehr
Ders.:
„Überlegt Euch das mal
ganz gut: wir bestimmen mit. Schon das Wort allein."
Entstehungsbedingungen und Wirkungen der Betriebsklimastudie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Werken der Mannesmann AG 1954/1955, in: Kleinschmidt, Christian (Hrsg.): Kulturalismus, Neue Institutionenökonomie oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002 (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte; 9), S. 199-224. Ders./Raphael, Lutz!Rosenberger, Ruth: Anwendungsorientierte Betriebspsychologie und Eignungsdiagnostik. Kontinuitäten und Neuorientierung (1930-1960), in: vom Bruch, RüdigexlKadreas, Brigitte (Hrsg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsauf-
-
namen zu
Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts,
Stuttgart 2002, S. 291-309. Raphael, Lutz: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totaler Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: GG 27 (2001), S. 5-40. Ders.: Zweierlei Kriegseinsatz: Amerikanische und deutsche Psychologen im 2. Weltkrieg, in: Dipper, Christoph/Gesrndt, Andreas/Raphael Lutz (Hrsg.): Krieg, Frieden und Demokratie. FS für Martin Vogt zum 65. Geburtstag, Frankfurt/M. 2001, S. 207-217. Rosenberger, Ruth: Das praktische Arbeitsfeld von Betriebspsychologen in westdeutschen Unternehmen, in: AG Psychologisches Denken und psychologische Praxis der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Die Psychologie in praktischen Kontexten, 2001, www.bbaw.de/forschung/psychologie/bin/wsl.pdf, S. 45-50. Dies.: Der schwierige Dialog. Betriebspsychologen und Unternehmenskommunikation in Westdeutschland 1945-1980, in: Föllmer, Moritz (Hrsg.): Sehnsucht nach Nähe. Interpersonale Kommunikation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 175— 195. Dies.: Demokratisierung durch Verwissenschaftlichung? Betriebliche Humanexperten als Akteure des Wandels der betrieblichen Sozialordnung in westdeutschen Unternehmen, in: AfS 44 (2004), S. 327-355. Dies.: Von der sozialpolitischen zur personalpolitischen Transformationsstrategie. Zur Verwissenschaftlichung betrieblicher Personalpolitik in westdeutschen Unternehmen 1945-1980, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte (im Druck).
Bildsamkeit und Behinderung Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee1 -
Heinz-Elmar Tenorth
Pädagogik der Moderne, das ist ein bekannter Befund, lebt mit der Diskrepanz von Anspruch und Realität, und zwar in mehrfacher Hinsicht, nicht nur in der Dimension von Erfolg und Misserfolg: Der zentrale Begriff ihrer Praxis, der Begriff der Bildsamkeit, wie er seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert formuliert wurde, hat universalistischen anthropologischen Anspruch, aber die konkrete pädagogische Arbeit in der Moderne trägt durchgängig partikulare Züge. Solche Partikularismen erkennt man unter anderem daran, dass der pädagogische Diskurs der Bildsamkeit und das öffentliche System der Bildung nicht nur nach Standeskriterien sozial, sondern auch nach Bildsamkeitsdifferenzen pädagogisch eindeutige Differenzen markieren. Das wird besonders dann sichtbar, wenn man Prozesse der Bildung von BeDie
hinderten betrachtet; denn hier wird mit den Kriterien der Bildsamkeit z.B. ein Unterschied zwischen „Normalen" und gehinderten" begründet und über diese Differenz sogar Inklusion oder Exklusion in das Bildungswesen definiert und die Geistigbehinderten bleiben, gesetzlich, bis ins 20. Jahrhundert vom obligaten Zugang zum Bildungswesen ausgeschlossen. Die Geschichte der Behinderten in und seit der Neuzeit lässt sich insofern bildungshistorisch als die Geschichte einer kontinuierlichen Ausgrenzung verstehen, wie es auch Urs Haeberlin jüngst noch einmal zusammengefasst hat,2 und im Lichte der Idee der Bildsamkeit ist es ein Prozess der Partikularisierung des eigenen Anspruchs, der sich dabei entwickelt. Der zweite Blick auf die moderne Pädagogik zeigt aber, dass parallel zur Gleichzeitigkeit von Universalisierung und Partikularisierung die pädagogische Arbeit mit den und für die Ausgegrenzten selbst forciert institutionalisiert, also verallgemeinert wird, erneut inspiriert vom Gedanken der Bildsamkeit, aber organisatorisch und methodisch in separiert-differenter Form. Das geschieht zuerst in Schulen für Gehörlose bzw., wie der historische Begriff lautet, Taubstumme, und für Blinde, und zwar bereits im 18. JahrhunDie Abhandlung beruht auf Ergebnissen des SPP-Projekts „Bildsamkeit und Behinderung. Die Erweiterung von Idee und Praxis der Bildsamkeit durch die .Entdeckung' der Bildbarkeit Behinderter", das ich gemeinsam mit Sieglind Ellger-Rüttgardt (HumboldtUniversität zu Berlin) beantragt und bearbeitet habe. Ihr und den Mitarbeiterinnen Ute Keller, Ursula Hofer, Monika Sonke und Sylvia Wolff danke ich für gemeinsame Arbeit und produktive Diskussionen; die Verantwortung für die hier vorgelegte Interpretation eines Teils unserer Ergebnisse trage ich allein. 2 Haeberlin, Urs: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft, Bern/Stuttgart/Wien 1996.
Heinz-Elmar Tenorth
498
dert, dann mit deutlicher Verzögerung für geistig Behinderte in der
ersten
Jahrhunderts.3
Diese Gleichzeitigkeit von Trennung und ZuUniversalität und Partikularisierung in der pädagogischen Arsammenhang, beit der Moderne, die unterschiedlichen Muster sozialer Strukturbildung und die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung von Problemen in ihrem Zusammenhang bilden das Thema der hier vorgelegten Überlegungen, in der Absicht, die Geschichte einer Idee als Leistung und Hypothek der Pädagogik in der Moderne verständlich zu machen. Anders als in älteren Überlegungen, die die Partikularisierung des Bildsamkeitsanspruches allein politisch-ökonomischen Interessen zuschreiben,4 vermuten wir einen wesentlichen Grund in der Arbeits- und Reflexionsfähigkeit der Pädagogik und ihrer Professionalisierung selbst (und grenzen uns damit auch von Analysen ab, die nur den Altruismus als leitendes Motiv der Pädagogik sehen). Einerseits lebt die Pädagogik im Gedanken der Bildsamkeit mit einem Anspruch, den sie zwar sehr früh theoretisch artikulieren, praktisch zunächst aber in keiner Weise einlösen kann; ihr fehlt neben der Idee die ,Form", z.B. eine Methode oder Profession oder Organisation, in der Einheit und Universalität der pädagogischen Aufgabe zugleich gedacht werden können. Andererseits verstärken einige der bald entwickelten positiven Leistungen der Pädagogik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, z.B. die Spezifikation der Methoden, die Differenzierung und reflexive Wendung ihrer Arbeit, gleichzeitig die Separation, die Indiz ihrer Schwäche war und bis heute ist. Die diskursive und institutionelle Gleichzeitigkeit von Universalisierung und Partikularisierung ist also begleitet von der Professionalisierung und Methodisierung der pädagogischen Arbeit. Das ist eine in ihren Konsequenzen paradoxe und in den Effekten ambivalente Entwicklung: In der subtilen Identifikation von Problemen wird die Partikularisierung verschärft und die Differenz und Separierung der Klientel erzeugt, die der an Gleichheit von Bildung und Bildsamkeit orientierte Diskurs an sich verbietet. Zugleich wird in der pädagogischen Arbeit auch ein Prozess der Entwicklung und Förde-
Hälfte des 19.
3
Möckel, Andreas: Geschichte der Heilpädagogik, Stuttgart 1988, S. 248/249 gibt eine einschlägige tabellarische Übersicht; Günter List: Nationale Inklusion und die Gebärdensprache der Taubstummen, in: Zeichen (2000), H. 51/52, S. 8-18, S. 186-196 stellt diese Standarddarstellung in den Kontext sozialgeschichtlicher Überlegungen und in den deutsch-französischen Vergleich, gestützt auf Ergebnisse, die aus einem Projekt hervorgegangen sind, das wir gemeinsam mit Unterstützung der Thyssen-Stifung betrieben haben. Garrim, Hans-Jochen: Allgemeine Pädagogik, Reinbek 1979; analog auch Jaeger, SiegiriedlStaeuble, Irmingard: Die gesellschaftliche Genese der Psychologie, Frankfurt/M. u.a. 1978 sowie Wolfgang Jantzen: Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens, München 1982.
Bildsamkeit und
Behinderung
499
Fähigkeiten für die Behinderten eröffnet, der ohne eine handlungsProfession fähige gar nicht denkbar wäre.5 Die leitende These der folgenden Überlegungen ist, dass in einer Rekonstruktion der Idee der Bildsamkeit im ihrem eigenen historischen Kontext und in ihrer epochalen Variation diese paradoxe und bisher nur unzureichend erklärte Ambivalenz der pädagogischen Dynamik und die Gleichzeitigkeit von Universal isierung und Partikularisierung erklärt werden kann. Einleitend wird deshalb der Begriff der Bildsamkeit als leitende Idee der pädagogischen Praxis und Reflexion vorgestellt ( 1.), dann in seiner Bedeutsamkeit als handlungsregulative Idee in ihrer Wirksamkeit für die Gestaltung pädagogischer Arbeit am Beispiel der Bildung der Taubstummen und geistig Behinderter im ausgehenden 18., frühen 19. Jahrhundert behandelt (2.), schließlich in seiner Neudefinition im ausgehenden 19. Jahrhundert gezeigt, in einer Phase, die nur als Destruktion der ursprünglichen pädagogischen Ambition verstanden rung
von
werden kann (3.).
1.
„Bildsamkeit" Anspruch und Dimensionen einer Idee -
„Der Grundbegriff der Pädagogik ist die Bildsamkeit des Zöglings" diese Bestimmung gehört zum traditionellen Reflexionsbestand der deutschen -
Erziehungswissenschaft.6
Als Johann Friedrich Herbart, theoretischer Ahnherr der wissenschaftlichen Pädagogik, 1835 diese Feststellung an den Beginn seines Umrisses pädagogischer Vorlesungen stellte, hatte aber nicht nur der Begriff der Bildsamkeit schon seine eigene Historizität, Herbart selbst stellte ihn in der unmittelbar folgenden .Anmerkung" zu seiner begrifflichen Vorgabe in einen nicht allein erziehungstheoretischen Kontext: „Der Begriff der Bildsamkeit hat einen viel weitern Umfang. Er erstreckt sich sogar auf die Elemente der Materie. Erfahrungsgemäß läßt er sich verfolgen bis zu denjenigen Elementen, die in den Stoffwechsel der organischen Leiber eingehn. Von der Bildsamkeit des Willens zeigen sich Spuren in den Seelen der edlern Tiere. Aber Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit kennen wir nur beim Menschen."7 Diese mehrfache Referenz des Begriffs der Bildsamkeit, seine 5
Das liegt im Übrigen auch in der Logik der Bildsamkeitsannahme selbst; denn sie zielt auf die Individualität als Thema und Aufgabe der Pädagogik und damit, aller Gleichheit immer auch auf die Erzeugung und Verfestigung von Differenz. ungeachtet, 6 Das ist der klassische Ort: Herbart, Johann Friedrich: Umriß pädagogischer Vorlesungen. (1835), in: Ed. Asmus, Bd. 3, 2. Aufl., Stuttgart 1982, S. 165. Herbart: Umriß (1835), in: Ed. Asmus, Bd. 3, S. 155f.; für den Herbart-Kontext selbst sehr aufschlussreich Günther Buck: Unbestimmtheit und Bildsamkeit: der Ursprung der Pädagogik im Grundaxiom der neuzeitlichen Anthropologie. In ders.: Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, München 1984, S. 135-154.
500
Heinz-Elmar Tenorth
materielle, organische und moralische Bedeutung muss man in Erinnerung rufen, um ihn nicht allein als Grundbegriff einer Disziplin in begrenzter Funktion und in selektiver Geschichtlichkeit, sondern auch als historisch rekonstruierbare Idee mit eigener Diskurs- und Wirkungsgeschichte zu sehen. Herbart selbst lässt diese mehrfache Referenz, anders als seine Rezipienten, noch erkennen. Einerseits betonte er den umfassenden Anspruch des Begriffs, andererseits formulierte er für Bildsamkeit als Grundbegriff einer Disziplin, was man von einem disziplinkonstituierenden Begriff erwarten darf, nämlich eine Spezifikation: ,J3ildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit", so Herbart, sei allein im Blick auf den Menschen und damit für die Pädagogik relevant. Der Blick auf die Bestimmung des Menschen", wie sie zeitgenössisch sowohl in der Anthropologie als auch in der Erziehungsphilosophie diskutiert wurde,8 ab damit den Rahmen vor, in dem das Thema der Bildsamkeit abgehandelt wurde, und zwar bis zur Bildsamkeit wurde, vernetzt mit einem primär normativ verstandenen und als Ideal formulierten Bildungsbegriff, zu einem Konzept, in dem die moralische Natur des Menschen und seine pädagogische Konstruktion durch Erziehung der wesentliche Focus der Analyse war. Bildsamkeit in dieser Bestimmung lässt sich daher als moralphilosophisches Konstrukt rekonstruieren, als Form der Bestimmung des Menschen und sie umfasst dann auch die pädagogische Implikation, dass ,J3ildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit" das Bild des Menschen sub specie educationis hinreichend und umfassend charakterisiert. Die weitere Diskursgeschichte der erziehungsphilosophischen Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert, also die dominierende Denkform dieser Disziplin, gewinnt von dieser im Kern ethischen Intention aus den Zusammenhang und die Methode ihrer Reflexion.10
Gegenwart.9
Vergleichbare Thematisierung im Kontext der Anthropologie auch der theologischen Aufklärung vgl. schon Johann Spalding: Die Bestimmung des Menschen,. 1748 (13. Aufl. 93), für die späte Verwendung in der Erziehungstheorie noch s.v. Bestimmung des Menschen, in: Hergang, Karl G. (Hrsg.): Pädagogische Real-Encyclopädie, Grimma 1843,
1. Bd., S. 278-279, erneut als „der höchste und letzte Zweck des menschlichen Daseins und Wirkens" definiert. 9 Jüngst noch in dieser thematischen Konzentration, also ohne den Blick auf die anderen Dimensionen von Bildsamkeit: Dietrich Benne r/Friedhelm Brüggen: Bildsamkeit/Bildung, in: Benner, DXeti'vMOelkers, Jürgen (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim/Basel 2003, S. 174-215. 10 Paul Höcht: Der Bildsamkeitsbegriff in der deutschen Pädagogik des 19. Jahrhunderts, Diss. phil. Univ. München 1927, S. 4—15 unterscheidet vier „Reihen" in der Behandlung des Begriffs, die sich freilich systematisch auf zwei reduzieren, die philosophischen und die „empirischen" (denn man darf die „religiösen" wohl ebenfalls wie die „aprioristischen" den philosophischen zurechnen). Werner Keil: Begriff und Phänomen der „Bildsamkeit". Chronologisch-systematische Aufarbeitung einer Auswahl erziehungswissenschaftlicher Beiträge zwischen 1920 und 1980, Frankfurt/M. 1983 unterscheidet dagegen nach den theoretischen Dimensionen des Begriffs und dann Bildsamkeit als genetisches Phänomen, „Bildsamkeit unter extremen Bedingungen" sowie Bildsamkeit als personales Phänomen.
Bildsamkeit und Behinderung
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Diese Referenz war schon historisch nicht ohne Alternative und Herbart erinnerte selbst ja an ein weites, nicht allein erziehungsphilosophisches oder moraltheoretisches Konzept der Bildsamkeit, wenn er auf ihre materielle und
verweist. In seinen Annahmen über die Möglichkeit Bildung und Erziehung, und d.h. in den technischoperativen Implikationen seines Konzepts bleibt diese Referenz sogar eindeutig erhalten. Es ist vor allem die Logik der Selbstkonstruktion des Menschen, die dabei zur Geltung kommt und die den vitalistischen Kontext verrät, in dem die Idee der Bildsamkeit zuerst verankert war," wie es ja auch Begriffs-
organische Bedeutung und Realisierbarkeit
von
geschichte zeigt.
,3ildsamkeit" und „bildsam" gehören begriffsgeschichtlich in den Zu-
noch nicht idealistisch gezähmten Bildungsbegriffs und treten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in diesem Kontext auf. Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart verzeichnet auch in der 2. Auflage von 1793 allein Bildung", aber schon Joachim Heinrich Campe nennt 1807 daneben „bildsam" und „bildbar" in seinem Wörterbuch der Deutschen Sprache „bildbar, adj. u. adv.: was gebildet werden kann, in der uneigentlichen Bedeutung dieses Wortes, was der Bildung oder Ausbildung fähig ist. Daher die Bildbarkeit." Campe erläutert dabei ausführlich, was „bilden" bedeutet: ,Einem rohen gestaltlosen Körper bestimmte Gestalt verleihen, gestalten, Früchte aus Wachs bilden. [...] Ein wohl gebildeter Mensch. [...] sich bilden, [...] sich vervollkommnen, Geschicklichkeiten und feine Sitten annehmen." An gleicher Stelle wiederum wird von Campe „bildsam" erläutert als das, „was sich leicht bilden läßt", was er dann mit einem Beleg von Wieland versehen kann: ,Ehe ihn (den Dionysos) Plato vollkommen zahm und bildsam gemacht haben wird. [...] Daher die Bildsamkeit. ,J3ie Bildsamkeit der Sprache", wie Campe im Verweis auf Daniel Jenisch und Karl Philipp Moritz anführt.12 Neben „bildbar" und „bildsam" kennt Campe auch schon „bildungsfähig", und d.h.: „[...] fähig gebildet, ausgebildet zu werden. Der Mensch ist ein bildungsfähiges Wesen. Gebildete und Bildungsfähige. Daher die Im Grimmschen Wörterbuch finden sich schließlich sowohl „bildsam, for-
sammenhang des frühen,
Bildungsfähigkeit."13
'
' Eine subtile theorietechnische, im Kontext systemtheoretischer Gedanken von Autopoiesis platzierte Rekonstruktion dieser Gedankengänge Herbarts liefert jetzt Elmar Anhalt: Bildsamkeit und Selbstorganisation, Weinheim 1999. 12 Für den Kontext und die Nachweise im Einzelnen vgl. den Anhang in Franz Rauhut/llse Schaarschmidl: Beiträge zur Geschichte des Bildungsbegriffs, Weinheim 1965, S. 91-109. 13 Campe zeigt seine professionelle Kenntnis des Begriffsraums schon dadurch, dass er die zitierten Lemmata in den weiteren Kontext stellt: „Bildungslos [...] der Bildungsmangel [...] Der Bildungsort [...] Die Bildungssucht [...] Bildungssüchtig [...] Bildungsunfähig, adj. u. adv.: unfähig gebildet zu werden. Daher die Bildungsunfähigkeit."
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502
mabilis, docilis" als auch Bildsamkeil" und Bildungsfähig, bildsam"
-
und selbstverständlich auch Bildung". Bildsamkeit gehört damit aber nicht allein in den Diskussionszusammenhang von Bildung und Selbstkonstruktion, sondern auch in den eher pädagogischen Kontext von Überlegungen, in denen die Brziehungsbedürftigkeit" und „Erziehungsfähigkeit" des Menschen behandelt und die Notwendigkeit von „Einwirkung" betont wird.15 Dabei wird, begrifflich prominent vor allem seit den Texten des Mediziners und Anthropologen Blumenbach, die Erziehungsfähigkeit mit der Unterstellung eines Bildungstriebs" als möglich betrachtet. Der Mensch erscheint dabei einerseits als „dieses hülfloseste aller Naturwesen",16 der in einem „ganz hilflosen Zustande das Licht dieses Erdentages erblickt",17 also Mensch nur werden kann durch Erziehung, wie die allgemeine Formel lautet, er ist andererseits zugleich in einer für den Pädagogen glücklichen Fügung der Natur für die Erziehungsambition systematisch vorbereitet, denn: Das Defizit seiner Natur, dass er der Bildung" bedarf, sie aber noch nicht besitzt, begründet nicht allein die „Nothwendigkeit der Erziehung", in der Natur des Menschen steht dem Defizit auch ein Vorzug gegenüber,18 die von der Natur gegebene Bildsamkeit" und Bildungs-
-
fähigkeit".
Das bedeutet in der Reflexion der
Anthropologen
These, die bis in Pestalozzis Anthropologie der
der Zeit und in einer als
„Nachforschungen"19
opinio formuliert wird: „die eigentliche sogenannte Bildungsfähigkeit, Vervollkommnungsfähigkeit (Perfektibilität), welche nicht nur in sinnlicher Entwicklung, sondern in Selbstgestaltung von innen heraus be-
communis
14
Grimms Wörterbuch zitiert u.a. Klopstock: „Weil ich die bildsamste bin von allen Sprachenyso träumet jeder pfuschende wager, er dürfte getrost mich gestalten/wie es ihn lüste."; sowie „Göthe": „[...] die meines bildsamen gefühls/im ganzen Umfang sich bemeisterte."; und Zelter: „[...] möge es dir dereinst zur heitern, auch im hohen alter noch
bildsamen stunde gereichen." 15 Die Konkurrenz von Selbstkonstruktion und pädagogischer Einwirkung als Konfliktfeld der Anthropologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts resümiert Jörn Garber: Von der „Geschichte des Menschen" zur „Geschichte der Menschheit". Anthropologie, Pädagogik und Zivilisationstheorie in der deutschen Spätaufklärung, in: Jahrbuch für historische 5 (1999), S. 31-54. Bildungsforschung 16 Friedrich H. C: Erziehungslehre, 2. Aufl., Leipzig 1829, S. 15. Schwarz, 17 Hergenröther, Johann Baptist: Erziehungslehre im Geiste des Christenthums. Ein Handbuch für Schullehrer und Schulpräparanden, Sulzbach 1823, S. 7, auch für das folgende Zitat. 18 „Schwach, hülfsbedürftig und abhängig von mancherlei Zufallen und Gefahren ist er zugleich mit Gaben beschenkt, wodurch er sich über jene scheinbaren Unvollkommenheiten erhebt." so Joseph Hillebrand: Versuch einer allgemeinen Bildungslehre, Hildesheim
1816, S. 22.
19
-
Pestalozzi, Johann Heinrich: Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der
Entwicklung
des
Menschengeschlechts. (1797),
in: SW Bd.
12;
zur
Lesart
u.a.
Johannes
Gruntz-Stoll (Hrsg.): Pestalozzis Erbe Verteidigung gegen seine Verehrer, Bad Heilbrunn 1987.
-
503
Bildsamkeit und Behinderung
steht. Der Mensch wird nicht nur, was die Natur aus ihm macht, sondern seine Ausbildung wird als Selbsterziehung zum Teil sein eigenes Werk."20 Perfectibilité, Vervollkommnungsfähigkeit, ist deshalb auch der Begriff, in dem Rousseau seine Annahmen über die Anthropologie des Menschen und die Möglichkeit der Erziehung zusammenfasst und das meint eine Art Kompetenz-Kompetenz, also die natürlich gegebene Fähigkeit des Menschen, Fähigkeiten auszubilden.21 Hintergrund dieser Zuschreibung, die auch als „Urvermögen der Erzeugung" diskutiert wird,22 ist eine Annahme über die Natur des Menschen, die sie als offen denkt, weder durch den Stand noch durch Geburt oder Vererbung determiniert, sondern erst noch zu entwickeln pädagogisch oder durch Selbstkonstruktion im Bildungsprozess, allein der Weg, nicht die Prämisse ist strittig. Während die Anthropologen, Philosophen wie Mediziner, eher dem Mechanismus der Selbstkonstruktion zuneigen, setzen die Pädagogen wiederum voraus, dass die „Menschheit" über einen „regen verfügt und dass der Mensch „erziehungsfähig" und -bedürftig zugleich ist. Für die Pädagogen steht fest, dass „aus dem Menschenkeime nicht eben so, wie aus dem Pflanzenkeime [...] von Selbsten alles das, was aus ihm werden soll" wird, sondern dass es einer „eigenen Veranstaltung" bedarf, eben der „wahren Erziehung", die „der Natur ihren Lauf lassen" wird und „ohne hin an der Natur des Keimes nichts ändern, nichts aus ihm herlocken und entwickeln kann, was der Schöpfer nicht hineingelegt hat".24 Die pädagogische Rede „vom Menschen und seiner Natur" unterstellt daher seine „Vervollkommnungsfähigkeit (Perfektibilität)" und ,J3ildsamkeit"25 (und diskutiert die sys-
-
Bildungstrieb"23
20 21
Schulze, Gottlob Ernst: Psychische Anthropologie, 2. Aufl., Göttingen 1819, S. 32-34.
Zur Begriffsgeschichte vgl. neben der pädagogischen Debatte Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschLiteratur, in: Archiv für Begriffsgeschichte 24 (1980), S. 221-257. sprachigen 2 So s.v. „Urvermögen und deren Erzeugung" in: Hergang: Realencyclopädie, Bd. 2, 1847, S. 862-865, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass diese Annahme „zunächst nur eine Hypothese" darstelle, freilich auch mit der kühnen These, dass sich solche Vermögen „hauptsächlich" im Schlaf ausbilden, aber der Förderung oder Behinderung durch Pädagogik zugänglich seien. Hergenröther: Erziehungslehre, 1823, S. 6; für die naturphilosophische Diskussion des Begriffs des Bildungstriebes (den Hergenröther hier nicht in dieser theoretischen Fassung verwendet) vgl. zäsursetzend und gegen die Annahme eines „präformierten Keims" Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb, Göttingen 1791, u.a. S. 32: der „die erste wichtigste Kraft zu aller Zeugung, Ernährung, und Reproduction zu sein scheint, und den man um ihn von andern Lebenskräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungstriebes (nisus formativus) bezeichnen kann." 24 Hergenröther: Erziehungslehre, 1823, S. 6 und man sieht die Differenz zu Blumenbach. 25 Zerrenner, Carl Christoph Gottlieb: Grundsätze der Schul-Erziehung, der Schulkunde und Unterrichtswissenschaft für Schul-Aufseher, Lehrer, und Lehrer-Bildungsanstalten, 2. Aufl., Magdeburg 1833, S. 1 und ff; Peter Villaume zitiert im Bd. 8 der „Allgemeinen Revision" in der Anmerkung zur S. 220 als seinen Referenzautor den Franzosen Verdier: Sur la perfectibilité de l'homme, Paris 1772. -
504
Heinz-Elmar Tenorth
tematischen Implikationen in einer eigentümlichen Fixierung auf das 18. Jahrhundert immer wieder26), so als wollte sie der Natur ablesen, was doch erkennbar primär nur als Betriebsprämisse ihrer Praxis fungiert. Der Konflikt zwischen Selbstkonstruktion und ,Einwirkung", wie er die Kritik der Pädagogik seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert kennzeichnet, ist aber mit dieser erziehungstheoretischen Prämisse programmiert. Herbarts Bestimmung der Bildsamkeit hatte zumindest an einer Stelle den Allmachtsphantasien der Pädagogen einen Riegel vorgeschoben, in dem er nämlich die Funktion der Psychologie beschrieb. Sie war dafür verantwortlich, die „Grenzen" zu zeigen, denen die konstruktiven Phantasien der Pädagogen begegnen, und es waren die gegebenen Formen der „Individualität", in denen Herbart 7 solche Grenzen sah. In den Referenzraum des pädagogischen Diskurses tritt die Behauptung über die „Menschenkraft" von Beginn an mit der gleichzeitigen Annahme, dass erst die Anlagen" des Menschen als „Grund der Möglichkeit" auf Erziehung verweisen. In der frühen Theorie wird immerhin noch unterstellt, dass diese .Anlagen" von Erziehung selbst ermöglicht werden: .Anlagen" werden im Wissen der Pädagogen also zum „(realen) Grund der Möglichkeit zu einer Fertigkeit oder Tätigkeit in einem Menschen. [...] der tiefste letzte Grund einer Tätigkeit oder ein Agens, aber ein solches, dessen Wirksamkeit nicht bloß an seine Natur, sondern zugleich an Bedingungen geknüpft ist, welche nicht von ihm selbst abhangen."28 Nur wo .Anlagen sind, ist Entwicklungsfähigkeit", und Diesterweg, der Mentor der deutschen Lehrerschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts, kennt im Blick auf die Anlagen keine Ausgrenzung oder eine Begrenzung: „Gottlob! auch die Zeiten sind vorüber, wo selbst Erwachsene es über sich gewannen, mit Wahnsinnigen, ,
Für die aktuelle Diskussion z.B. die Beiträge von Ulrich Hermann: Vervollkommnung der Unverbesserlichen? Über ein Paradox in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts, in: Kamper, Dietmar/W«//, Christoph (Hrsg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit, Frankfurt/M. 1994 sowie Lüth, Christoph/ Wulf, Christoph (Hrsg.): Vervollkommnung durch Arbeit und Bildung? Anthropologische und historische Perspektiven zum Verhältnis von Individuen, Gesellschaft und Staat, Weinheim 1997; desw. Benner, Dietrich/Brüggen, Friedhelm: Das Konzept der Perfectibilité bei Jean-Jaques Rousseau, in: Hansmann, Otto (Hrsg.): Seminar: Der pädagogische Rousseau, Bd. 2: Kommentare, Interpretationen, Wirkungsgeschichte, Weinheim 1996, S. 12-48; Dieckmann, Bernhard: Bildsamkeit und Sittlichkeit, in: Wulf, Christoph (Hrsg.): Anthropologisches Denken in den Pädagogik 1750-1850, Weinheim 1996, S. 182-195. 27 Herbart 1835, §4: „Die Pädagogik darf jedoch auch keine unbegrenzte Bildsamkeit voraussetzen, und die Psychologie wird diesen Irrtum verhüten. Die Unbestimmtheit des Kindes ist beschränkt durch dessen Individualität." (Herbart: Werke, Ed. Asmus, S. 165f.). 28 Diesterweg, Friedrich A. W.: Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer, Essen 1835 (u.ö.), zit. 2. Aufl. Bearbeitet und mit einer Einleitung versehen von Karl Wacker, in: Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus alter und neuer Zeit, Bd. 26, Paderborn 1904, S. 65-86, textgleich 5. Aufl. 1873, S. 198.
505
Bildsamkeit und Behinderung
Krüppeln, Taubstummen ihren Spott zu treiben. [...] Alles will entwickelt und gebildet sein.' Entsprechend ist es die Bildsamkeit, ohne welche Eigenschaft von keiner Erziehung die Rede sein könnte, und die ganze Menschenbestimmung eine
andere sein müßte als sie ist." Nicht genug damit, dass offenbar die Natur des Menschen selbst auf Erziehung verweist, selbst die Möglichkeit ihrer Gestaltung liegt im pädagogischen Mechanismus begründet. Bildsam" sei beim Menschen nämlich so der sächsische Schulmann Zerrenner nur „das, was sich durch absichtliche Einwirkung zu // gewissen Zwecken verändern läßt. Nicht alles veränderliche ist also bildsam."30 Unschwer lässt sich deshalb neben dem erziehungsphilosophischen, primär an Fragen der Sittlichkeit orientierten Begriff der Bildsamkeit ein anderer identifizieren, der im Schnittpunkt von Medizin, Anthropologie und empirischer Psychologie platziert ist und Bildsamkeit als eine Kategorie der Beobachtung des Menschen und seiner Selbstkonstruktion versteht, vom primär moralischen Impetus der Herbartschen Formel eindeutig unterschieden. Bildsamkeit" hat aber noch eine dritte Dimension, fern der Moralphilosophie und der Bildung des Willens zur Sittlichkeit, aber auch fern der Beobachtungsbegrifflichkeit der ,Anlagen"-diskussion. Bei Herbart war dieser Dimension des Begriffs ebenfall schon angesprochen, wenn er unterstellt: ,J3er Erzieher soll versuchen, wie viel er zu erreichen imstande sei, aber stets darauf sich gefasst halten, durch Beobachtungen des Erfolgs auf die Grenzen vernünftiger Versuche zurückgewiesen zu werden."31 Diese, wie man sie vielleicht nennen kann, pragmatisch-pädagogische Variante des Begriffs ist nun für die eigene Karriere der Idee der Bildsamkeit von besonderer Bedeutung. Sie erschließt sich dann, wenn man nicht mehr allein der Tradierung der Idee in Texten folgt, sondern ihre Wirksamkeit in der Praxis untersucht. Die dafür am ehesten relevante Praxis ist die der Pädagogik der Behinderten; denn erst hier stellt sich die Frage, was denn als ein „vernünftiger Versuch" betrachtet werden kann, und wie sich die professionelle Kompetenz der Pädagogen angesichts der vermeintlich nicht pädagogisierbaren Problemlagen darstellt. Die Erweiterung der Idee der Bildsamkeit auch auf die Gruppe derjenigen Menschen, die als nicht bildungsfähig galten und gelten, ist historisch auch eindeutig markierbar: Sie ist eine Errungenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, zuerst für die Pädagogik der Taubstummen beobachtbar, dann selbst für die der Geistigbehinderten. Dabei ist es der Primat der Praxis, der solche Leistungen anbahnt; denn geniale Praktiker für die Pädagogik der -
-
-
29
Diesterweg, Friedrich A. W.: Über den Charakter der Taubstummen. liche Werke 4, S. 451. 30 Zerrenner: 1833, S. 2/3. 31 Herbart 1835, § 6, Werke, Ed. Asmus, Bd. 3, S. 166.
(1839), in: Sämt-
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Heinz-Elmar Tenorth
Taubstummen in Frankreich z.B. der Abbé de V Epee, Priester, Soldat und Pädagoge, in Deutschland z.B. der Pfarrer Samuel Heinicke,32 für die Pädagogik der Geistigbehinderten finden sich folgenreiche Schulgründungen z.B. in Paris, aber auch im deutschsprachigen Gebiet33 sind dafür verantwortlich, dass man das Vergebliche versucht und das Unmögliche möglich macht: Taubstumme, die aus der Gesellschaft der Hörenden ausgeschlossen sind, zur Teilhabe an Kommunikation zu befähigen, und zwar durch Lautsprache oder durch die Anerkennung der Gebärde als eines kommunikativ leistungsfähigen „Sprach"-Systems, das ist die Pointe und historische Zäsur. Vergleichbar ist die Ausweitung der Zuschreibung der perfectibilité auf geistigbehinderte Menschen eine solche zäsursetzende These.34 Aus der Praxis von Bildsamkeitsunterstellungen wird eine folgenreiche soziale Tatsache; denn die Idee wird von der Ursprungssituation abgelöst, langfristig wirksam und schulisch abgesichert, theoretisch und methodisch prüfbar, zumindest diskutierbar ausgearbeitet und sie entwickelt ihre eigene durchaus ambivalente Dynamik, und zwar nach der Ursprungssituation und der ihr folgenden Erstinstitutionalisierung die ersten Taubstummeninstitute wurden zwischen 1770 und 1788 in Paris, Leipzig, Wien und Berlin gegründet, Schulen für Geistigbehinderte gibt es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. -
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2. ,,Erfinderliches Genie"
oder: Die Möglichkeit der Bildung Behinderter -
Diese Geschichte ereignet sich jeweils in einem spezifischen Kontext, sie kennt nationale, professionelle und konfessionelle Differenzen35, auch die Kuriosität von Entdeckungen und ihrer Propaganda, selbst die Scharlatanerie der Protagonisten fehlt nicht (aber auch bei Folgesituationen, u.a. für spätere pädagogische Reformpläne und -ambitionen, gibt es vergleichbar kuriose Geschichten von Entdeckungsszenarien, Bekehrungserlebnissen und pädago-
32
List, Günther: Charles Michel de l'Epée (1712-1789) und Samuel Heinicke (17271790), in: Tenonh, Heinz-Elmar (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Bd. 1, München 2003,
S.3 93-100.
Übersicht wesentlicher Texte jetzt auch in: Lindmeier, BeXtinalLindmeier, Christian (Hrsg.): Geistigbehindertenpädagogik, Weinheim u.a. 2002 (Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik, Bd. 3). 34 Helferich, Jakob Heinrich: Pädagogische Auffassung des Seelenlebens der Cretinen, als Kriterium für deren Perfektibilität (1847), in: LindmeierlLindmeier (Hrsg.): GeistigbehinS. 28-39. dertenpädagogik, 35 Vor allem für die Pädagogik der Gehörlosen sind solche konfessionellen Referenzen bedeutsam, vgl. List, Günther: Vom Triumph der „deutschen" Methode über die Gebärdensprache Problemskizze zur Pädagogisierung der Gehörlosigkeit im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Pädagogik 37 (1991), S. 245-266. -
Bildsamkeit und Behinderung
507
gischen Revierkämpfen ). In den Kontext der Bildsamkeitsgeschichte gehört auch die Genese eines eigenartigen Teilsystems der obligatorischen Schule und der Sonderpädagogik des ausgehenden 19., frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland, der so genannten „Hilfsschule" bzw. der Schule für ,J_xrnbehinderte". Sie müsste in diesem narrativen Gesamtzusammenhang ebenfalls einen Ort finden, vor allem in Relation zum Elementar- und Volksschulwesen, nicht so sehr im Kontext der Pädagogik der Behinderten.37 Die aktuellen Kontroversen über Genese, Gestalt und Funktion dieser Einrichtung belegen die offenen Fragen, die sich mit dieser Institutionen- und Professionsgeschichte verbinden,38 die aber ungeklärt bleiben, so lange man sich auf den Raum von Professionen und Institutionen konzentriert und nicht den Funktions- und Handlungskontext untersucht, dem sich Institutionen und Professionen überhaupt erst verdanken. Für die obligatorische Schule klären sich solche Fragen dann vom Problem der Grundbildung in modernen Gesellschaften aus, denn von hier aus werden Inklusion und Exklusion organisiert. Für die Sonderpädagogik, andererseits, machen erst die historisch variable Idee der Bildsamkeit und die Gründe für ihre Kontinuität und ihren Wandel die besondere Dynamik der Bildung von Behinderten verständlich; in der Konzentration auf Institutionen oder politische und professionelle Kontexte würde die Geschichte um eine wesentliche Dimension verkürzt: Die Auslegung dieser Theorie in der Semantik der pädagogischen Profession und in den Referenzdisziplinen hat nämlich ihre eigene Wirkung. Sie ist auch für die wechselvolle Geschichte der Institutionen und Praktiken der Sonderpädagogik deshalb von besonderer und eigenständiger Bedeutung; denn sie definiert Die professionelle Selbstbetrachtung der Sonderpädagogik liefert bereits diese Geschichten, vgl. z.B. Möckel: Geschichte der Heilpädagogik; Solarova, Svetluse: Geschichte der Sonderpädagogik, Stuttgart u.a. 1983; Thümmel, Ingeborg: Sozial- und Ideengeschichte der Schule für Geistigbehinderte im 20. Jahrhundert, Weinheim 2003. 37 Die Konzentration auf die Tradition der Hilfsschule ist zwar historiographisch ein bedeutsames Thema, schon um die Kontinuitäten im 20. Jahrhundert zu analysieren, in der Ignoranz gegenüber der Pädagogik der Behinderung erzeugt sie aber selbst falsche Fixierungen und Zäsuren und Probleme, weil allein „Lernbehinderung" noch Thema ist; das sieht man u.a. bei Hansel, Dagmar/Schwager, Hans J.: Die Sonderschule als Armenschule, Bern 2004, oder bei Moser, Vera: Disziplinäre Verortungen. Zur historischen Ausdifferenzierung von Sonder- und Sozialpädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 46 (2000), S. 175-
192.
38
Für die Kontroversen vgl. als Kritiker der Sonderschule und ihrer Historiographie DagHansel: Die Sonderschule ein blinder Zweck in der Schulsystemforschung, in: Zeitschrift für Pädagogik 49 (2003), S. 591-609; dies.: Die Historiographie der Sonderschule. Eine kritische Analyse, in. Zeitschrift für Pädagogik 51 (2001), S. 101-115; für die Rechtfertigung der Sonderschule, der Sonderpädagogik und ihrer professionellen Wahrnehmung ein blinder Zweck in der Schulsystemforschung?, u.a. Andreas Möckel: Die Sonderschule in: Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004), S. 406-415; Ellger-Rüttgardt, Sieglind: Sonderpädagogik ein blinder Fleck der Allgemeinen Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004), S. 416-429; dies.: Prügelknabe Sonderschule ungeliebte Tochter Sonderpädagogik?, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 56 (2005), S. 42-54. mar
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Heinz-Elmar Tenorth
den Möglichkeitsraum, in dem Profession und Institution die Perspektiven ihrer Arbeit im Prozess wahrnehmen konnten und in der Praxis dann selbst bestimmten. Der Begriff der Bildsamkeit erweist sich damit als sozial folgenreiche Idee, nämlich als ein praxisregulierendes Konzept. Diese Geschichte von Konstitution und Transformation der Idee der Bildsamkeit und damit auch die Geschichte ihrer Wirksamkeit gewinnt ihre eigene Dynamik bereits früh nach der Praxis der Ursprungssituation, die eher noch intuitive Plausibilität als distinkte theoretische Legitimation verlangte und präsentierte. In der zweiten Generation der Pädagogen dagegen, als es um die Verstetigung der Idee ging, und um ihre Ablösung von den genialen Erfindern werden die Versuche einer systematischen Begründung bedeutsam. Solche Versuche finden sich auch, und zwar vor allem in der kollegialen Kommunikation der Erben der Gründer und in der Anwendung der Ursprungserfindung, wie sie z.B. von Epée und Heinicke hinterlassen worden war.
In einem Briefwechsel zwischen dem Berliner Pädagogen Ernst Adolf Eschke, dem Schwiegersohn Heinickes und Leiter der Steglitzer Taubstummenschule, und dem Pariser Taubstummenpädagogen Roch-Ambroise Sicard, dem Nachfolger Epées, findet sich dafür die einschlägige Kommunikation. Aus dem Briefwechsel geht zunächst klar hervor, dass es sich trotz der später zu nationalen Verwerfungen stilisierten Kontroverse zwischen deutscher ,JLaut"- und französischer „Gebärdensprache" um keine Fehde zwischen methodischen Gegnern handelt, sondern um einen regen Austausch gleichwertiger Partner über ein bedeutsames, aber noch nicht hinreichend begriffenes Problem. Die Briefpartner haben auch nicht allein „die Methode" im Blick oder gar ihre Reduktion auf ein technisches Verfahren, es geht ihnen vor allem darum, die systematischen Voraussetzungen der erfolgreichen Praxis zu verstehen, und das hieß vor allem, die seit langem schon diskutierte Frage nach den sprachlichen Mittel und sprachtheoretischen Implikationen der pädagogischen Methode39 zu untersuchen und das Verhältnis von Lautsprache, Gebärde und Schrift innerhalb der pädagogischen Praxis zu klären. Es sind dann vor allem zwei Muster der Beweisführung, die dafür sorgen, dass die Praxis in den Kontext der wissenschaftlichen Methodik eingeholt wird und dass das Unmögliche als möglich verstanden wird. Das erste Argument bezieht sich auf den systematischen Referenzkontext der Pädagogik um 1800, und das heißt auf die Natur. Die Begründung macht in dieser Diskussion von einer Denkfigur Gebrauch, die ebenfalls in der Pädagogik der Aufklärung Konjunktur hat, denkt man nur an Rousseau und seine Argumente im 39
allgemeinen Kontext unentbehrlich Gessinger, Joachim: Auge & Ohr. Studien Erforschung der Sprache am Menschen 1750-1850, Berlin/New York 1994, für die frühe Debatte zu den Taubstummen und die Debatte zwischen Epée und Heinicke selbst Für den
zur
bes. S. 179ff.
Bildsamkeit und Behinderung
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Emile, bezogen auf die Natur des Kindes, oder an den zweiten Diskurs, bezo-
gen auf die Frage der Gleichheit und Ungleichheit der Menschen.40 Es ist der kontrafaktisch formulierte Rekurs auf die hypothetisch unterstellte ursprüngliche Konstitution der Natur des Menschen und jetzt auch der Natur der menschlichen Kommunikation, die dieses Argument zuerst begründet. Sicards Antwort auf Eschkes einschlägige Anfrage lautet nämlich, primär im Rekurs auf die „Natur" und ihre ursprüngliche Botschaft über die kommunikative Situation des Menschen und die ihm dafür zur Verfügung stehenden Möglichkeiten sei seine Pädagogik begründbar: „Es ist bewiesen, lieber Eschke, dass der Mensch vom Anfange an zwei Mittel hatte, seine Gedanken mitzutheilen; dass anstatt für die tönenden Zeichen zu entscheiden, welche klingende Gegenstände nachahmten, er hätte die Pantomime wählen können, und von Rechts oder vielmehr: der Vernunft wegen hätte wählen sollen, welche die äußere Form der Gegenstände nachbildet."41 Aber Sicard bemüht nicht allein die Existenz von Alternativen „tönende Zeichen" vs. pantomime" sondern behauptet den funktionalen Primat, ja sogar den unvermeidlichen Sieg der Zeichensprache: „Jedes Volk wird außer den Grenzen seines Landes stumm sein" (S. 115), wenn es allein auf die Sprache angewiesen wäre; die Menschen würden aber kommunikationsfähig durch die Pantomime: ,Aber der, welcher durch die Geberden die Form der Gegenstände malt oder darstellt, wird auf keine Weise stumm sein", behauptet Sicard, und triumphierend schließt er: „Seine Sprache wird die Sprache aller Nationen, Dire gepriesene Ursprache seyn." (S. 115), und zwar „anstatt gesprochener Worte" und mit besonderen Leistungen: „wahrer, reicher und treuer nachahmend". Auf dieser Basis, so Sicard, habe Epée das denken können, was „bisher unmöglich geschienen hatte" (S. 119), aber er hat es nicht nur denken, sondern auch praktizieren können, und das ist neben der Natur das zweite Argument für die Verstetigung der Idee der Bildsamkeit, nämlich die Leistung des Pädagogen selbst: „Sein erfinderliches Genie", so Sicard, kann die „Mittel" (S. 119) bezeichnen, mit denen die hypothetische Antizipation einer anderen, aber funktional äquivalenten Form der Kommunikation die Welt für den „Taubstummen" eröffnet und ermöglicht wird. Die Erfindung des Pädagogen ist also notwendig, um das als möglich zu erweisen, was er im Kontext universaler Bildsamkeit unterstellt: Kommunikation auch für die scheinbar nicht Kommunikationsfähigen, eine „blos für ihn erfundene Lehrart" (Eschke 1791, S. 58). Der hypothetischen Anthropologie und damit der Unterstellung einer anderen Natur als der gegebenen muss die ,Erfindung" einer Methode -
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40
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Für die Epochentypik dieser Argumentation auf der Basis einer hypothetischen Anthropologie vgl. Benner/Brüggen: Konzept. 1 Sicard, Roch-Ambroise: Wie denkt der Taubblindgeborne von der Seele? Und wie kann man einen Taubblindgebohrenen unterrichten?, in: Kronos. Ein Archiv der Zeit, hrsg. v.
Friedrich Rambach, Berlin, Febr. 1801, S. 111-121, hier S. 118.
Heinz-Elmar Tenorth
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korrespondieren, die der Hypothese über die Natur den Status der puren, aber nicht beweisbaren Fiktionalität oder der schlechten Utopie nimmt und sie -
in den Status der realitätsverändernden Annahme überführt und damit der Idee der Bildsamkeit den Status eines praxisverändernden Konzepts verleiht. Im Schema dieser Pädagogik stehen sich deshalb nicht „Ziele" und .Mittel" gegenüber, allein normative Vorgaben und die Praxis von Realisierungsformen, sondern es sind hypothetische Antizipationen überprüfbarer Art und die Formulierung präziser Bedingungen der Realisierung dieser antizipierten Wirklichkeit. Auch der Fortschritt gegenüber Rousseaus reinen Gedankenexperimenten ist offenbar; denn ist nicht allein Literatur und die Konstruktion eines spezifischen, emilischen, nicht-realisierbaren, sowohl unwahrscheinlichen als auch unmöglichen Systems, wie es Rousseau in seinem „Erziehungsroman", dem Emile, vorlegt,42 sondern tatsächlich eine gestaltbare Welt, die hier erfunden wird. Die Metaphorik der „Erfindung" beschreibt deshalb die Praxis der Pädagogik, und zwar generell,43 vor allem aber in den scheinbar unmöglichen Lagen, in denen die Unterstellung der Bildsamkeit gegen allen Augenschein geschieht, auch in zutreffender Weise. Überprüfbar wird der Anspruch und die Einlösung dieser Aufgabe in der -
Praxis,
an
der
pädagogischen
Methode und ihren
Leistungen,
Die
„Mittel"
dieser Pädagogik, das sind in der Ursprungslage z.B. der Taubstummenbildung die materialen Grundlagen des pädagogischen Umgangs: „ein aus poliertem Eisen gemachtes Alphabet" z.B., wodurch „die Hände des Zöglinges" zu Instrumenten der Kommunikation und des Erwerbs der Kommunikationsfähigkeit werden. Die weiteren Erfindungen kann man jetzt ignorieren, vielleicht nur noch die Lehrbarkeit der Methode selbst hervorheben, also ihre Ablösung vom genialen Ursprungserfinder; und dann ist es in methodischpraktischer Hinsicht wesentlich der Behinderte selbst ist, der „der Lehrer seines Lehrers" wird (S. 120), der ihm zeigt, wie die alternative Kommunikation funktioniert, also so, dass der Pädagoge am Klienten abliest, ja durch ihn technologisch übersetzbar lernt, wie die Natur arbeitet. Aber auch das ist ein generelles Merkmal neuzeitlicher Pädagogik, dass sie aus der Beobachtung ihres Adressaten lernt, wie sie ihre eigene Praxis gestalten kann. -
42
Zu diesem Status der Rousseauschen Gedankenexperimente vgl. Harari, Josué V.: Scenarios of the Imaginary. Theorizing the French Enlightenment, Ithaca/London 1987, bes. S. 102ff.; generell: Macho, Thomas/WMnsc/ie/, Annette (Hrsg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt/M. 2004. 43 Die Erfindungsmetaphorik überträgt damit dem Pädagogen eine Leistung, die ansonsten der Selbsttätigkeit des Subjekts und seiner Fähigkeit zur perfectibilité zugeschrieben wird, denn der Mensch, so die generelle anthropologische These, sei dazu „bestimmt, [sich] von der ersten Zeit seiner Existenz an zu erfinden und auszuführen." (Steeb, Johann G.: Über den Menschen nach seinen hauptsächlichen Anlagen in seiner Natur, 2. Bd., Tübingen 1792, S. 418) um nicht die Klassiker wie Fichte zu zitieren, die selbstverständlich auch annehmen, dass der Mensch sich „durch eigene Kraft [...] erzeuge". -
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Bildsamkeit und Behinderung
Aber diese ausführliche Explikation der Methode führt schon zu den Einman muss zunächst das Prinzip noch einmal betonen, wie es aus der Ursprungssituation für die Folgezeit von Bedeutung wird: Bereits im Ursprung wird sichtbar, dass erst die Materialisierung der Idee der Bildsamkeit in eigenen Praktiken der methodischen Konstruktion einer pädagogischen Welt auch ihre Wirkungen diskutierbar macht, und zwar in mehrfacher Hinsicht: personal, als eine neue hypothetisch-anthropologische „Denkungsart" des Pädagogen, die ihm einen Raum der Gestaltung und der Möglichkeiten eröffnet, in dem er über den Status und die Gestaltbarkeit der Natur seiner Klientel disponiert,44 sowie technologisch, in seinen Erfindungen, konkret in den Mitteln der pädagogischen Arbeit. Antizipierende Technologie, das bezeichnet die Zäsur für die Wirksamkeit der Idee der Bildsamkeit. Die paradoxe Struktur dieser Erfindung kann man schon früh nicht übersehen, vor allem dann, wenn die Pädagogen auch über die Bildsamkeit der Geistigbehinderten nachdenken. Vor allem bei dem französischen Pädagogen Edouard Séguin findet sich diese Mischung aus praktischer Erfindungskraft und paradoxierender Selbstbeschreibung in selten klarer und lange nachwirkender Weise. Seine geniale Erfindung und Verfeinerung älterer Ideen stellt die „vorbereitete" Welt dar, sie löst die paradoxe Erwartung den heranwachsenden, zur Selbstbestimmung (noch) nicht fähigen Menschen zur Selbstbestimmung zu befähigen in einer eigenen Paradoxie: Anregung zur Selbsttätigkeit als unausweichlicher Zwang der pädagogisch erzeugten Situation, gestützt auf die pädagogisch gestalteten Aufgaben: Klarheit und Ordnung, die Kontrolle von „Zeit, Ort und Umgebung", das sind seine Prinzipien.45 Sie sollen im und während des Lernprozesses wie im pädagogischen Prozess immer ermöglichen, was dem Adressaten noch nicht möglich ist. Dafür wählt Séguin neben der Formierung und Disziplinierung durch die Kontrolle von Raum und Zeit und der scharfen Form von Befehl und strikter Kommunikation zur Erzeugung von Gehorsam auch „die sanfteren Formen der Veranlassung [...], die das Kind unmerklich von den verschiedenen Graden des Gehorsams zu ernster Selbstbeherrschung führen. Diese Formen nennen wir Ansporne zur Spontaneität f...]".46
zelheiten,
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44
Von Disponieren kann man deshalb auch systematisch sprechen, denn „Bildsamkeit" ist wie „Löslichkeit" wissenschaftslogisch gesehen ein Dispositionsbegriff, dessen Wahrheit sich erweist, in dem man die Operationen vollführt, die er impliziert (und im übrigen, bei Eduard Martinak: Wesen und Aufgabe der Erziehungswissenschaft. (Rektoratsrede), Graz 1928; ders.: Psychologische und pädagogische Abhandlungen, Graz 1929 wird im Kontext der Wissenschaftslehre von Alexius Meinong der Begriff der Disposition als grundbegriffliche Struktur erziehungswissenschaftlicher Argumentation neu belebt. Séguin, Edouard: Die Idiotie in ihrer Behandlung nach physiologischer Methode. (1907), zit. nach der deutschen Übersetzung in: Möckel, Andreas/Adam, Heidemarie/Adam, Gottfried (Hrsg.): Quellen zur Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung, Bd. 1: 19. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 84-103, zit. S. 87. 46 Ebd., S. 97, Hervorhebung H.-E. Tenorth. -
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definiert Séguin dabei die dazu notwendige LehrerpersönSéguin im idiotischen Kinde ein beachtliches Entwicklungswie dies ja bereits aus seiner Hauptthese des fehlenden vermutet potential Willens ersichtlich ist so muss der ideale Erzieher insbesondere die Fähigkeit besitzen, in klarer und unnachgiebiger Haltung dessen Selbstaktivität auszulösen, um damit gegen die angelegten Gewohnheiten der Passivität und Hilflosigkeit anzukämpfen.47 Bei der Gewichtung von Freiheit und Gehorsam hatte Séguin deshalb auch eine eindeutige Haltung. Wenn Freiheit das Ziel der Erziehung darstellt, und Freiheit bedeutet, einen eigenen Willen zu haben, so war der idiotische Mensch aufgrund seiner Unfähigkeit des Wollens vorerst einmal ein gänzlich unfreier Mensch (die Bildsamkeit zur Sittlichkeit" ist auch hier das Problem, wie man mit Herbart sagen könnte). Mit den Mitteln der Autorität sollte er aus dieser Unfreiheit herausgelöst werden. Der Gehorsam hatte also der Freiheit vorauszugehen, um den „Idioten" aus seinem erbärmlichen Zustande zu befreien. In der nachfolgenden Pädagogik der Geistigbehinderten wird das Modell intensiv aufgenommen und die Praxis dieser pädagogischen Arbeit als „Anregung zur Selbsttätigkeit" beschrieben.48 In der Gestaltung des „ersten vorbereitenden Unterrichts" zeigt sich dann die Ambition der Pädagogen, noch die Herstellung der Lern- und Unterrichtsfähigkeit selbst als Arbeit an der Bildsamkeit zu verstehen. Kommunikationstheoretisch, wie bei Séguins Lehre vom Erzieher, der die gelingende Praxis vormachend antizipieren muss, werden Vorgaben zur körperlichen Bewegung trainiert das Gehen und der Stehen, damit die Eindeutigkeit Erwartung durch die Eindeutigkeit der Befehle und die Kontrollierbarkeit der Situation pädagogisch erzeugt wird. Annahmen über die Natur des Behinderten verbinden sich hier mit Konstruktionen einer pädagogischen Welt, die möglich machen soll, was nicht gegeben ist, weil sie an konkreten Aufgaben Selbstbestimmung als möglich und als lernbar präsentiert. In dieser Konstruktion, die Naturanahmen und pädagogische Technologie zur Einheit bündelt, liegt die wesentliche Erfindung der Pädagogik der Behinderten und es ist die Idee der Bildsamkeit, die beide Referenzsysteme zur Einheit einer selbständigen Praxis bringt.
Gleichzeitig
lichkeit. Wenn
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47
Séguin, Edouard: Traitement moral, hygiène et éducation des idiots, Paris 1846, S. 461. Vgl. z.B. Banhold, Carl: Der erste vorbereitende Unterricht für Schwach- und Blödsinnige, 4. durchges. Aufl., Breslau 1895. Nur wegen der fortdauernden Bedeutung der Begrifflichkeit: Im Topos der „Anregung zur Selbsttätigkeit" wird theoretisch, wenn auch nicht praktisch, das handlungstheoretische Regulativ der Bildungstheorie in der Nachfolge Fichtes beschrieben, vgl. Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik, Weinheim/München
48
1987.
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3. Die Transformation und Deformation der Idee Für die Entwicklung der Folgezeit sind beide Referenzpunkte von Bedeutung: die Erfahrungen mit der Technologie und damit die in der eigenen Praxis sichtbar werdende Leistung der Methode, aber auch die Veränderungen im Verständnis der Natur des pädagogischen Klienten. Dabei zerfallt der Systemcharakter der Methode, also die Einheit einer antizipierenden, in der universalen Idee der Bildsamkeit begründeten Technologie, und es bleibt auf der einen Seite professionelle Technik ohne die ursprünglich große Idee und statt der Antizipation einer besseren Zukunft die Klassifikation der schlechten Gegenwart des Klienten. Diese Entwicklung, die sich als Selbstdestruktion des ursprünglichen Anspruchs von Bildsamkeit darstellt, erklärt sich primär daraus, dass im Diskurs der Pädagogen nicht allein die wissenschaftlichen Referenzsysteme wechseln, von der eigenen hypothetischen Anthropologie hin zu Medizin, Psychologie und Psychopathologie, sondern damit auch die Vorstellungswelt verändert. Der Raum der Möglichkeiten, den die Pädagogen antizipieren und für die Gestaltung ihrer eigenen Welt nutzen können, verändert sich, nicht mehr die hypothetische, sondern die gegebene Welt und ein anderes Bild der Natur regieren die Konstruktion der pädagogischen Realität. Erfahrungen mit der eigenen ambitiösen Praxis spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle, vor allem im Blick auf die eigene pädagogische Technologie: Während der Erstinstitutionalisierungsphase der Pädagogik der Behinderten, um 1800, dominierten z.B. im Unterricht von Gehörlosen im Wesentlichen zwei methodische Zugänge: das auf den signes méthodiques basierende, gebärdenbasierte Unterrichtsverfahren des Pariser Taubstummenlehrers Abbé de 1' Epée mit dem Ziel der Schriftsprachentwicklung einerseits, sowie die auf der Grundlage des Geschmacksinns beruhende Methode der „stimmlosen" Artikulation in Verbindung mit Schriftzeichen von Samuel Heinicke andererseits. Die literarische Fehde der beiden Protagonisten bildete den Ausgangspunkt zur späteren Polarisierung der methodischen Ausrichtung in der Gehörlosenpädagogik nach der „französischen" bzw. „deutschen Methode". Als eine der „Irrungen der Heilpädagogik" nennt etwa der Taubstummenlehrer Heidsiek 1886 das von nationalen Interessen geprägte Beharren auf der „deutschen Methode". Urteile wie diese sind aber nur ein Indiz dafür, dass nicht die kritische Erfahrung der eigenen Praxis, sondern eher statuspolitische Kämpfe die Wahrnehmung der eigenen Vorstellungen und die Versprechen der anderen bewerten und bestimmen.49 Neben der nationalen Konfliktlage ist für die Entwicklung der Methode aber auch der zunehmende Professionalisierungsprozess folgenreich. Sicard -
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49
Übersicht List: Triumph, 1991; für die Realisierung auch Ursula Hofer-Sieber: Bildbar und verwertbar. Utilitätsdenken und Vorstellungen der Bildbarkeit behinderter Menschen Ende 18. und Anfang 19. Jahrhundert in Frankreich, Würzburg 2000.
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wie Eschke hatten in ihren gehörlosen Schülern gleichzeitig ihre Lehrer gesehen.50 Gehörlose Taubstummenlehrer unterrichteten selbstverständlich an den Instituten, in Paris etwa der Lehrer Massieu und in Berlin der blinde Habermaß, später Wilke und Senß. Dagegen wurden nach dem Ausscheiden der ersten Taubstummenlehrergeneration in der Taubstummenpädagogik die eigenen Erfahrungen von Gehörlosen immer weniger als Voraussetzung der methodischen Arbeit ernst genommen. Zugleich fehlte die Selbstkritik an den Leistungen der Methode, die eher durch Schaustücke pseudoempirisch beglaubigt, als wirklich begründet wurde. Die öffentliche Präsentation der klavierspielenden taubstummen Laura Brigdeman z.B. und die Theorie des „Scala singenden Taubstummen" gehören zu den spektakulären „Wundern" der Heilpädagogik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Taubstummenpädagogik in einer tiefen Krise befand. Die Debatte über die Jdiotenerziehung" im ausgehenden 19. Jahrhundert spiegelt das gleiche Bild der Selbstkritik ohne methodisch ,
präzise Zurechnung der Erfahrungen. Welche systematischen Gründe dafür
auch verantwortlich gewesen sein der Unterricht einer pädagogischen Klientel mögen mit verschiedenen audiologischen Befunden z.B., von taub bis leicht schwerhörig und entsprechend unterschiedlichen Bedürfnissen für ihre psychosoziale Entwicklung, ist wahrscheinlich ohne eine Vielzahl von Verfahren unter Einbeziehung von Laut- und Gebärdensprache gar nicht möglich gleichwie, mit dem Siegeszug der „deutschen Methode" in Europa, ab 1870, und mit dem Ausblenden der Gebärdensprache aus dem Unterricht verengte sich der methodische Blick der Mehrzahl der Taubstummenlehrer vollends. Das ungelöste Problem der Verarbeitung der professionellen Erfahrungen und Enttäuschungen hatte bereits 1838 F. A. Diesterweg in seinen Anmerkungen zu der Abhandlung Der Unterricht der Taubstummen des Pädagogen Friedrich Moritz Hill zu bedenken „Ohne die unbestreitbare Gewißheit der außerordentlichen, auf keinem Wege zu erreichenden Vorteile wäre die Einübung der Lautsprache eine schreckliche Quälerei. Man bedenke die Sache wohl! Nach altem Sprichwort pflegen die Versuche, die Natur auszutreiben (naturam furca expellas etc.), nicht zu gelingen. Es ist die Frage erlaubt, ob die Versuche, das, wozu die Natur das Organ versagt hat, einzutreiben, in der Regel und bleibend fürs ganze Leben, worauf es ankommt, besser gelingen. Ich kann es nicht verbergen; ich zweifle. Nur lange Erfahrung und fortgesetzte Versuche können entscheiden. Es wäre übrigens nicht das erste Mal, dass die Pädagogen mehr gewollt haben, als sie hätten wollen sollen." und verantwortlich sind
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gegeben51:
50
Sicard: Wie denkt der Taubblindgeborne, S. 120. Diesterweg, Friedrich A. W.: Wegweiser zur 2. Aufl., Essen 1844, S. 489. 51
Bildung für deutsche Lehrer,
Bd. 2,
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Behinderung
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Diesterwegs Argumente belegen nicht nur die Skepsis gegenüber einer pädagogischen Technologie und Ambition, er ruft in Erinnerung, dass „lange Erfahrung und fortgesetzte Versuche" zwar vorlagen, aber nicht verarbeitet waren, er läutet zugleich den zweiten Referenzkontext für den Wandel der aufklärerischen Erfindung des universalen Bildsamkeitskonzepts ein, nämlich das sich ändernde Verständnis von „Natur". Seine skeptische Mahnung, dass möglich oder pädagogisch erlaubt sein kann, „das, wozu die Natur das Organ versagt hat, einzutreiben", deutet an, was im Kontext der sich verändernden und empirisch werdenden Psychologie zur systematischen Reduknicht
tion der pädagogischen Idee der Bildsamkeit führen wird. Diesterweg verweist in der Diskussion von Bildsamkeit nämlich schon darauf, dass es darauf ankäme, die .Anlagen" empirisch und psychologisch zu identifizieren, um zu wissen, was pädagogisch möglich ist; er akzeptiert also, wie bereits Herbart, die Psychologie als Instanz, die zeigen kann, wo die „Grenzen der Bildsamkeit" liegen. Anders als die pädagogischen Innovateure um 1800 verlagert er mit diesem Denken über die Natur als Anlage" die Anstrengung des Pädagogen von der „Erfindung" und der Technologie weg zur Diagnose und Beobachtung des Gegebenen hin. Nicht allein die Pädagogik der Taubstummen, die gesamte Theorie und Praxis der Heil- und Sonderpädagogik schließt sich damit bald nach 1850 (und im Grunde in zentralen Überlegungen bis weit in das 20. Jahrhundert) an ein Verständnis der Natur des Kindes und des Behinderten an, das primär auf die Diagnostik der gegenwärtigen Lernlage setzt und in subtiler Klassifikation der Anlagen und der gegebenen Natur des Lernenden die eigenen Handlungsoptionen begründet. Bildsamkeit bleibt zwar die „Theorie des Zöglings", wie Wilhelm Dilthey gesagt hatte,52 aber der Begriff der ,.Individualität" des Zöglings wird nicht emphatisch gesehen oder als Entwurf einer besseren Zukunft verstanden, sondern aus größter Distanz formuliert, wenn auch, gut pädagogisch, immer noch mit der Prämisse, dass sich die Individualität erst „im unmittelbaren Vollzug der Erziehung geschehen"53 erweisen muss. Das geschieht aber jetzt nicht mehr konstruierend, sondern die Natur beobachtend, nicht mehr sie antizipierend, sondern konstatierend. -
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,
52
Dilthey, Wilhelm: Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissen(1888), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, Göttingen 1958, S. 73f. (sowie, textgleich, in: ders.: Pädagogik. Geschichte und Grundlinien des Systems. Gesammelte Schriften, Bd. IX, Stuttgart/Göttingen 1960, S. 199f). Dilthey schließt hier Überlegungen zur Teleologie des Seelenlebens an („Das Seelenleben bildet eine Entwicklung") und eine Diskussion über die Möglichkeit, „die Entwicklung des Zöglings zu befördern" (S. 74), die in Analysen zum „pädagogischen genius" münden, also in die emphatische Theorie der pädagogischen Technologie. 3 Zillich, Peter: Individualität, in: Rein, Wilhelm (Hrsg.): Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 4, Langensalza 1906, S. 535-542. schaft
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Die wesentliche Referenzliteratur, in der sich der Pädagoge im allgemeinen und auch der Pädagoge der Behinderten bilden und aus der sie ihren Begriff der „Individualität" des Kindes beziehen,54 wird jetzt nicht anthropologisch, sondern im Kontext der Bathologie" des Kindes entwickelt. Der theoretische Referenzraum dieser Überlegungen besteht in den Begriffen von Begabung, Anlagen, Talent, Gene", aber auch von „Schwachsinn" oder vom Jugendliche Verbrecher". ,pädagogische Pathologie" bzw. die Bsychopathologie" des Kindesalters werden auf dem Boden einer empirischen Psychologie und der medizinischen Anthropologie zu den zentralen Referenzwissenschaften,55 die eigene Erfindungskraft und die pragmatische Anthropologie haben ausgedient. Damit wird aber auch der Dispositionsbegriff der Bildsamkeit ersetzt durch den Beobachtungsbegriff der Begabung. Die folgenreichste Zeitschrift im Milieu trägt stolz den Titel Der Kinderfehler (und nennt sich erst nach 1900 Zeitschrift fär Kinderforschung), die Pädagogen rühmen sich, die „Trugschlüsse" der Vergangenheit aufzudecken56 und die alte pädagogische Ambition der vermeintlich grenzenlosen Bildsamkeit und den Anspruch der eigenen Erfindungen zu kritisieren. Die Pädagogische Gesellschaft zu Leipzig schreibt 1891 eine Preisaufgabe aus, in der im Anschluss an Strümpells Arbeiten zur Pädagogischen Pathologie die Literatur über die Kinderfehler systematisiert und nach „Natur und Eigenartigkeit" resümiert sowie „über die Veranlassungen und Ursachen derselben" durchforstet werden soll.57 Die zentralen Werke des pädagogischen Wissens folgen in ihrer Theorie des pädagogischen Adressaten und in ihrem Bild des Kindes dieser Literatur. In dem maßgebenden Handbuch der Pädagogik von Wilhelm Rein beginnt das einschlägige Register der Lemmata mit „Abgestumpftheil" und endet bei „Zweifelsucht" und der dominierende Au-
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Früh Ludwig Adolf von Strümpell: Verschiedenheit der Kindernaturen. Dorpat und Pleskow 1844. 55 Die folgenreichen und wirkungsvollen Schriften sind u.a.: Strümpell, Ludwig A. v.: Die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder, Leipzig 1890; Közle, Johann F. G.: Die pädagogische Pathologie in der Erziehungskunde des 19. Jahrhunderts, Gütersloh 1893; Koch, Julius L. A.: Die Psychopathischen Minderwertigkeiten, Ravensburg 1891; Siegen, Gustav: Problematische Kindesnaturen, Leipzig 1889; Bergmann, W.: Psychopathische Minderwertigkeiten so lautet der Übersichtsartikel im katholischen Lexikon der Pädagogik, 4. Bd., Freiburg 1915, Sp. 123-131. Das Phänomen ist also universell. 56 Heidsiek, Johann: Wunder und Verirrungen auf dem Gebiete der Heilpädagogik, in: Organ der Taubstummen-Anstalten in Deutschland und den deutschredenden Nachbarländern 32 (1886) 12, S. 181-195. 57 Közle 1893 ist der Preisträger, er gibt auf nahezu 500 Seiten eine Übersicht über Meinungen, Theorien und Diagnosen und auch eine alphabetische Liste der „Kinderfehler", von „Aberglaube" bis „Zwistigkeiten" (S. 194-211); die Liste enthält auch so beeindruckende Zuschreibungen wie „Baumverderber", „Leichtsinn des flachen Genußmenschen" oder „Widerwille gegen Gott". -
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„einfältig (beschränkt, dumm)" noch „Mäaus. In der pädagogischen Diagnostik werden die Attribuierungen im Kontext dieser Theorie zu einer eigenen Lehre von der Beurteilung des Kindes ausgearbeitet.59 Wie immer die Details dieser neuen pädagogischen Lehre vom Menschen aussehen, nicht mehr die universale Idee der Bildsamkeit regiert jetzt, sondern erneut ein Mechanismus, in dem Bildsamkeit nicht generell unterstellt, sondern klienttypisch zu- oder abgesprochen wird. Die Reaktion der Pädagogen im Alltag der Arbeit ist jetzt schlicht und schlecht handwerklich, ohne die alte professionelle Ambition und Erfindungskraft, ohne Vertrauen in eine hypothetische Anthropologie und auch ohne das Ethos, das damit verbunden war. Jetzt reagieren sie einfallslos und allein organisatorisch, aber in der Regel ohne den Mut zu den eigenen Fähigkeiten, der noch um 1800 galt: tor, Gustav
Siegert,
lässt weder
kelsucht", weder „Heimweh" noch „weibisch"
Taubstummenlehrer, wie der Berliner Institutsdirektor Eduard Walther oder der Taubstummenlehrer Johann Heidsiek, fordern die "Reorganisation" der
Taubstummenbildung. In der Folge sollte die Aufhebung der heterogenen Klassen erfolgen und die Gehörlosen von den Schwerhörigen, die Begabten von den Schwachbegabten getrennt werden; statt der Anregungskraft der pädagogischen Welt regiert die Homogenität von Lerngruppen. Die Hilfsschule" wird schließlich auch von Sonderpädagogen mit erfunden, um in der Regelschule frei von Kindern arbeiten zu können, die als „lernbehindert" gelten. Absonderung und Exklusion bestimmen die Praxis. Bildsamkeit verkommt damit zur strategischen Ressource professionell-pädagogischen Handelns, sie wird zum Instrument, Erfolg oder Misserfolg zuzurechnen und die Belastung und Selbstbelastung der pädagogischen Profession mit kühlem Kalkül durch Mechanismen von Inklusion oder Exklusion zu minimieren. Die endlosen Listen und Klassifikationen, in denen die „Kinderfehler" aufgearbeitet werden, münden immer neu in Hinweisen, wo, bei welchen Fehlern und bei welchen Graden der „Idiotie", der „Imbezillität" oder des „Mindersinns" sich die pädagogische Arbeit noch lohnt oder nur noch die Bewahranstalt der "Idioten" angebracht ist. Der theoretische Referenzraum für diese Zuschreibungen und Klassifikationen besteht bald auch nicht allein in den Untersuchungen der „Kinderfehler" oder in den umfangreichen Forschungen und Überlegungen zur Begabung, die immerhin noch die Entscheidung zwischen .Anlage" oder „Um58
Sein Übersichtsartikel: Siegen, G.: Kinderfehler, in: Rein, Wilhelm (Hrsg.): Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, 2. Aufl., IV. Bd., 1906, S. 866-872 im Übrigen: mit Verweis auf, Jugendfehler". 59 Für den sonderpädagogischen Kontext: Strümpell, Ludwig A. vJSpitzner, A.: Die Pädagogische Pathologie oder Die Lehre von den Fehlern der Kinder. Eine Grundlegung, 4. Aufl., Leipzig 1910; für den diagnostischen Aspekt als Übersicht Karlheinz Ingenkamp: Pädagogische Diagnostik in Deutschland 1885-1932, Weinheim 1990. -
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welt" als offene Frage kennen, sondern mündet in Analysen der „Naturgrenzen geistiger Bildung".61 Für die Sonderpädagogen entsteht in diesem Kontext nicht nur eine neue Diagnostik, sondern ein spezifisches Bewusstsein von der professionellen Kompetenz. Das erfahrt seit 1933 in der Mitwirkung an den Erbgesundheitsverfahren seine Zuspitzung, die in Konsequenz des „Gesetzes zur Vergütung erbkranken Nachwuchses" veranstaltet werden. Die Zugehörigkeit zur Hilfs- bzw. Sonderschule wird hier bekanntlich als Anlassindiz für die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens genommen, der Pädagoge soll auch nicht mehr die Bildsamkeit", sondern nur noch die Brauchbarkeit" prüfen und die Verbandsvertreter der einschlägigen Lehrerschaft sehen es als Anerkennung ihrer pädagogischen Professionalität, dass sie Sterilisation befürworten können, indem sie Brauchbarkeit zu- oder absprechen.62 Dabei ist die Referenz auf Eugenik und damit die Option der Zuschreibung oder Negation von Bildsamkeit als pädagogischer Leistung nicht allein ein nationales, sondern offenbar zuerst ein professionelles Syndrom; es bestimmt im 20. Jahrhundert jedenfalls auch das sonderpädagogische Selbstverständnis in der Schweiz (und die Distanz zur Eugenik wird primär über die Konfession und ihre Handlungsregulative, nicht über das Ethos der Profession befördert). Es dauert bis weit ins 20. Jahrhundert, dass sich die „pädagogische Theorie des Zöglings" erneut ändert. Neben die Psychopathologie muss dafür die Entwicklungspsychologie treten; die Begabungsforschung muss sich von der scheinbar unauflöslich fixierten Dualität von Anlage und Umwelt zugunsten einer handlungsbezogenen Theorie des Begabens" befreien und alle nur konstatierenden oder biologisierenden Anthropologien zugunsten einer Renaissance historischer Anthropologie problematisieren. Die Lehre von den Kinderfehlern wird bereits früh reformpädagogisch und praktisch dementiert, exemplarisch ablesbar an der Karriere des „Eigensinns". Noch um die Jahrhundertwende als Makel des Kindes gebrandmarkt, wird der „Kinderfehler" in der schulkritischen Literatur seit Hermann Hesse zum Indiz für das Drama des begabten Kindes, das sich gegen den bornierten Lehrer und die subjekt-
Übersicht bei Meumann, Ernst: Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen, 2. Bd., 2. umgearb. und verm. Aufl., Leipzig 1913, bes. S. 94ff.: „Die Grundlagen der wissenschaftlichen Begabungslehre" und (S. 481 „Die Hauptresultate der Begabungsforschung". ff.) 61 Der politisch wie theoretisch folgenreichste Text stammt von dem sächsischen Theoretiker und späteren NS-Schulpolitiker Wilhelm Hartnacke: Naturgrenzen geistiger Bildung schwindendes Führertum, Herrschaft der Urteilslosen, Leipzig 1930. 62 Literatur zur Vorgeschichte und NS-Praxis der Sonderpädagogen bei Brill, Werner: Pädagogik im Spannungsfeld von Eugenik und Euthanasie, Saarbrücken 1994; Woltisberg, Carlo: Heilpädagogik und Eugenik. Zur Geschichte der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz (1800-1950), Zürich 2002.
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bedrohende Schule behauptet. ,3üdsamkeit und Bestimmung" des Menschen werden schließlich nach 1968 in einer Weise resümiert, dass es zur Aufgabe der Pädagogik und des Pädagogen wird, den „Spielraum" zu nutzen, der sich in der Entwicklung des Kindes für seine Förderung durch Erziehung
auftut.64
Veröffentlichungen aus dem Projekt „Bildsamkeit
und Behinderung":
Ellger-Rüttgardt, Sieglind: Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik unter integrativen Aspekten. Texte und Dokumente. Teil I. Studienbrief der FernUniversität Hagen, Hagen 2000. Dies.: Lernbehindertenpädagogik. Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik, Bd. 5, Weinheim 2003. Dies.: Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik unter integrativen Aspekten. Texte und Dokumente. Teil II. Studienbrief der FernUniversität Hagen, Hagen 2004. Dies./Bleidick, Ulrich (Hrsg.): Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik. Quellenedition in acht Bänden, Berlin/Weinheim 1999ff. (bisher 5 Bände erschienen). Dies./Wolff, Sylvia: Zur Geschichte des Heilpädagogischen Archivs Berlin, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 49 (1998), H. 4, S. 212-215. Dies./Tenorth, Heinz-Elmar: Die Erweiterung von Idee und Praxis der Bildsamkeit durch die Entdeckung der Bildbarkeit Behinderter Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 49 (1998), H. 10, S. 438-441. Dies.: Der Verband der Hilfsschulen Deutschlands auf dem Weg von der Weimarer Republik in das Dritte Reich, in: Möckel, Andreas (Hrsg.): Erfolg, Niedergang, Neuanfang. 100 Jahre Verband Deutscher Sonderschulen. Fachverband für Behindertenpädagogik, München/Basel 1998, S. 50-95. Dies.: Traditionen jüdischer Heilpädagogik und Wohlfahrtspflege, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 50 (1999), H. 7, S. 344-348. Dies.: Historiographie der Behindertenpädagogik, in: Antor, Georg/Bleidick, Ulrich (Hrsg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis, Stuttgart 2001, S. 73-76. Dies.: Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 52 (2001), S. 119-124. Dies.: Sonderpädagogik ein blinder Fleck der Allgemeinen Pädagogik? Eine Replik auf den Aufsatz von Dagmar Hansel, in: Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004), H. 3, S. 416-429. -
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Hofer, Ursula: „Instruction publique" im französischen Modernisierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts, in: Oelkers, JürgertlOsterwalder, FrilzIRhyn, Heinz (Hrsg.): Bildung, Öffentlichkeit und Demokratie, Weinheim/Basel 1998, S. 29-44 (Zeitschrift für Pädagogik,
Beiheft 38) Dies.: Sensualismus als Grundlage erster sonderpädagogischer Unterrichtsversuche. Seine Bedeutung für die Frage nach der Bildbarkeit blinder Menschen, in: Zeitschrift für Pädagogik 2 (2000), S. 193-214. 63
Bodenstein, K.: Eigensinn, in: Rein, 2. Bd., 2. Aufl. 1904, S. 326-328; für den reformpä-
Kontext und die positive Transformation des früheren Kinderfehlers YorkGothart Mix: Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der [frühen] Moderne, 1995. Stuttgart 64 So argumentiert Heinrich Roth: Pädagogische Anthropologie, Bd. 1: Bildsamkeit und Bestimmung; Bd. 2: Erziehung und Entwicklung, 1966/1971.
dagogischen
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Heinz-Elmar Tenorth
Dies.: Bildbar und verwertbar: Utilitätsdenken und Vorstellungen der Bildbarkeit behinderter Menschen Ende 18. und Anfang 19. Jahrhundert in Frankreich, Würzburg 2000. Dies.: Sonderpädagogik, in: Oelkers, Jürgen/Benner, Dietrich (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim/Basel 2004.
Tenorth, Heinz-Elmar: Die Erweiterung von Idee und Praxis der Bildsamkeit durch die Entdeckung der Bildbarkeit Behinderter, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 49 (1998), S. 438^41 (mit S. Ellger-Rüttgardf). Ders.: Natur als Argument in der Pädagogik des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Baader, Meike Sophia/JacoW, JuXianelAndresen, Sabine (Hrsg.): Ellen Keys reformpädagogische Vision. „Das Jahrhundert des Kindes" und seine Wirkung, Weinheim/Basel 2000, S. 301-
322. Ders.: „Vom Menschen" Historische, pädagogische und andere Perspektiven einer „Anthropologie" der Erziehung, in: Zeitschrift für Pädagogik 46 (2000), S. 905-925. Ders.: „Bildsamkeit" als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft. Überlegungen zur Arbeit der Allgemeinen Pädagogik, in: Hellekamps, Stephanie/Kay, OXaf/Sladek, Horst (Hrsg.): Bildung, Wissenschaft, Kritik. FS für Dietrich Benner zum 60. Geburtstag, Weinheim 2001, S. 190-201. Ders.: Bildsamkeit und Behinderung Operativ-professionelle Konsequenzen eines pädagogischen Grundbegriffs, in: Wachtel, Güt/Dietze, Sigrid (Hrsg.): Heil- und Sonderpädagogik auch im 21. Jahrhundert eine Herausforderung. Aktuelle Denkansätze in der Heilpädagogik und ihre historischen Wurzeln, Weinheim/Basel 2001, S. 51-63 (gemeinsam mit Ute Keller, Monika Sonke und Sylvia Wolff). Ders.: Apologie einer paradoxen Technologie über Status und Funktion von „Pädagogik", in: Böhm, Winfried (Hrsg.): Pädagogik wozu und für wen?, Stuttgart 2002, S. 7099. Ders.: Geschlossene Welten Pädagogische Begrenzung als Ermöglichungsform, in: Wigger, LothadMeder, Norbert (Hrsg.): Raum und Räumlichkeit in der Pädagogik. FS für Harm Paschen, Bielefeld 2002, S. 228-240. Ders.: Erziehungsutopien zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich, in: Hardtwig Wolfgang (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 175-198 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56). Ders.: Pädagogik der Gewalt. Zur Logik der Erziehung im Nationalsozialismus, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 9 (2003), S. 7-36. Ders.: Begabung eine Kontroverse zwischen Wissenschaft und Politik, in: Finden und Fördern von Begabungen. Fachtagung des Forum Bildung am 6. und 7. März in Berlin, Bonn 2001, S. 15-21 (Materialien des Forum Bildung 7). -
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Wolf, Sylvia: „Taubstumme zu glücklichen Erdnern bilden" Lehren, Lernen und Gebärdensprache am Berliner Taubstummen-Institut. Teil 1: Selbstverständlich Gebärdensprache! -
Ernst Adolf Eschke in der Zeit von 1788 bis 1811, in: Das Zeichen 14: 51 (2000), S. 2029. Dies.: Lehren, Lernen und Gebärdensprache am Berliner Taubstummeninstitut. Teil II: Die Willkür der Zeichen, in: Das Zeichen 14: 52 (2000), S. 198-207. Dies.: Die Idee der Verallgemeinerung. Taubstummenunterricht in Österreich im 19. Jahrhundert, in: Das Zeichen 15: 56 (2001), S. 208-215.
Kommentar zur Sektion „Wissenschaftliche Ideen, Diskurse und Praktiken" Doris Kaufmann
Beiträge von Andreas Hoeschen/Lothar Schneider, Heinz-Elmar Tenorth RaphaelfRuth RosenbergerlJoharmes Platz schreiben Wissenschaftsgeschichte genauer die Geschichte der Wissenschaften vom Menschen im Sinne des Schwerpunktprogramms „Neue Geistesgeschichte" in einem kulturwissenschaftlichen Bezugshorizont. Wissenschaftliche Ideen, d.h. Konzepte, Diskurse und Praktiken werden als gegründet und eingebettet in allgemeine gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Veränderungsprozesse untersucht, die zugleich diese wiederum deuten, ordnen und ihrerseits verändern. Diese doppelte Aufgabe ist von den Autoren und Autorinnen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen eingelöst worden. Es mussten in spezifischen historischen Kontexten die Konstituierungsprozesse wissenschaftlichen Wissens und wissenschaftlicher Gegenstände analysiert und verbunden werden mit einer Untersuchung ihrer gesellschaftlichen Gestaltungskraft und Wirkmächtigkeit, die ebenfalls vermittelt ist durch eine zu erforschende soziale und politische Bedeutung der Trägergruppen von Wissen. In den vorliegenden Beiträgen geht es zum einen um die Analyse der diversen Räume der Wissensgenerierung wie die Universität, die Schule, der Betrieb. Zum anderen geht es um die Analysen von Prozessen des WissensDie
und Lutz
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oder Ideentransfers sowie von intellektuellen Netzwerken und Diskurskoalitionen, aber auch um die Untersuchung der Konkurrenz von Wissensfeldern und der Eigenlogik und spezifischen Beharrungskraft von „wissenschaftsgestützten Ideen". Wissenschaftsgeschichte ist ein interdisziplinäres Unternehmen. Ihre Fragestellungen zwingen zwangsläufig in den Beiträgen nachzulesen zu einer Überschreitung der Fächergrenzen. Dies ist explizites und zentrales Thema von Hoeschen und Schneider, die die Einflussfelder des Herbartianismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert untersuchen. Herbartianismus wird erstens als bedeutende „intellektuelle Konfiguration" für eine Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen insbesondere in den Herbartschen Kernfächern Philosophie, Pädagogik und Psychologie vorgestellt, aber auch auf den Stellenwert für das Entstehen einer Sprach- und Literaturwissenschaft, für Musik- und Kunstwissenschaft und für die Konstitution eines Modells von Kulturwissenschaft befragt. Zweitens untersuchen die Autoren die personellen Beziehungen und Netzwerke von Wissenschaftlern im Umkreis des Herbartianismus. Zudem rekonstruieren sie die Orte, in denen Her-
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Doris Kaufmann
bartianische Ansätze diskutiert und verbreitet wurden; dies in doppeltem Sinn: topographisch (Göttingen, Leipzig, Berlin, Prag, Wien) und im Rahmen von wissenschaftlichen Professionalisierungsprozessen, besonders in den Universitäten und vermittelt durch die Habsburgische Schulreform in den österreichischen Gymnasien. Wie verdichtet sich nun der Gegenstand der Einfluss des Herbartianismus konkret im Verlauf des vorliegenden Beitrags? Die Autoren werfen einen detaillierteren Blick hauptsächlich auf drei disziplinäre Wirkungsfelder: die Kunsttheorie, d.h. die Durchsetzung einer vom Herbartianismus informierten formalen Ästhetik; die frühe Völkerpsychologie von Lazarus und Steinthal, die u.a. dem Herbartschen Gedächtnismodell folgten und schließlich die entstehende sich sprachphilosophischlogisch verstehende Sprachwissenschaft. Der in der Breite der Fragestellung und der zu untersuchenden Wissensfelder liegenden Gefahr der Diffusität ist dabei nicht immer ganz entgangen worden. Eine Entfaltung von spezifischen diskursiven Formationen, die sich durch verschiedene Disziplinen hindurch entwickelten, hätte dem möglicherweise abhelfen können, und es in einem zweiten Schritt erlaubt, die Bedeutungsverschiebungen zu untersuchen, die diese diskursiven Formationen vermutlich in den verschiedenen Disziplinen erfuhren. Bedeutungstransfers und -Verschiebungen kommen wesentlich durch unterschiedliche Anwendungsbereiche von wissenschaftlichem Wissen, durch unterschiedliche Fachtraditionen und epistemische Situationen zustande und verweisen wieder auf den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext auch der Trägergruppen des Wissens zurück. Interessant ist die von den Autoren herausgestellte und bisher wenig thematisierte Brückenfunktion des Herbartianismus zwischen Geistes- und Naturwissenschaften in einer Zeit, die neben der zeitgenössischen Wahrnehmung der Trennung beider Gebiete auch gerade durch das Bemühen der sich formierenden Historischen Kulturwissenschaften) charakterisiert ist, eine Einheit oder Integration von Naturund Geisteswissenschaften zur Lösung der „Probleme der Moderne" um 1900 wiederherzustellen. Der Beitrag von Hoeschen!Schneider verweist auf die Rolle des Herbartianismus dabei, durch den eine Adaption von naturwissenschaftlichen Methoden in einer Reihe von geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern im ausgehenden 19. Jahrhundert angestoßen wurde. Projekte wie das über den Herbartianismus tragen dazu bei, die schon fast kanonische These von der Trennung der beiden Wissenschaftskulturen (C. P. -
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Snow) neu zu überdenken und zu relativieren. Unzweifelhaft ist gleichwohl die gestiegene kulturelle Autorität und Deutungsmacht naturwissenschaftlichen Wissens im Prozess der Verwissenschaftlichung sozialer und politischer Problembereiche (Lutz Raphael) seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wissenschaftlichen Experten wurde zunehmend die Erfassung, Deutung, Verwaltung und Lösung gesellschaftlicher Krisenphänomene übertragen und insbesondere die Umdeutung sozialstruktureller Krisenphänomene in medizi-
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Kommentar
nische Krankheitsbilder in Psychiatrie, Kriminalanthropologie, Strafrechtdiskussion und Polizeiwissenschaft veränderte den Diskurs über die Natur des Menschen tiefgreifend. Tenorihs Beitrag über die Erweiterung der Idee und Praxis der Bildsamkeit am Beispiel der Pädagogik der Taubstummen untersucht die Bedeutung dieses humanwissenschaftlichen ,J?aradigmenwechsels" als Transformation und Selbstdestruktion des pädagogischen Denkens über die Bildsamkeit der menschlichen Natur und die pädagogische Methode „Technik" und Praxis seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die Konstitution der Idee der Bildsamkeit erwuchs aus dem politischen Programm, der sozialen Bewegung und dem Prozess der kulturellen Identitätsfindung der neuen Schichten des Bürgertums während der Aufklärung. Der Diskurs über die Natur des Menschen versuchte, den Anteil der menschlichen Freiheit gegenüber den „unwillkürlichen", physisch bestimmten Anteilen in der menschlichen Natur zu bestimmen und zu vergrößern. Das hieß im emphatischen Sinn, das Recht auf Integration in die entstehende bürgerliche Gesellschaft für Gruppen zu verwirklichen, denen das Menschsein abgesprochen wurde wie Irre und Taubstumme. Die Idee ihrer Bildsamkeit zum Vernunftgebrauch durch die Erweckung der Geisteskräfte durch Heilung bzw. im Falle der Taubstummen durch Befähigung zur Kommunikation zeigt die enge Verschränkung von erfahrungsseelenkundlichem und pädagogischem Diskurs im Rahmen der Menschen(er)kenntnisdiskussion, die auf eine Erweiterung der Grenzen der menschlichen Natur (gleich der Bildsamkeit) zielte. Die Bildsamkeitsunterstellung hatte, betont Tenorth, einen unmittelbaren Bezug zur Praxis, d.h. zur Erfindung und Entwicklung von Mitteln und Methoden der Kommunikation (Laut- und Gebärdensprache) unter Beteiligung der Behinderten selbst, die in methodisch-praktischer Hinsicht zu ,J^ehrern ihrer Lehrer" wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer Veränderung in der Theorie und Praxis der Sonderpädagogik. Medizinischphysiologische und empirisch psychologische Deutungsmuster der menschlichen Natur, die ein materielles Substrat für jegliches menschliches Verhalten und also auch für Abweichung behaupten, setzen sich im Menschendiskurs durch. Entsprechend wird die Idee einer universellen Bildsamkeit in der Pädagogik abgelöst durch einen neuen Bezugsrahmen die unterstellte pathologie des Kindes". Die pädagogische Deutungskompetenz beschränkt sich nun auf die empirische Beobachtung und Diagnostik der aktuellen Lernlage und der Anlagen des Kindes. Bildsamkeit wird wie Heilbarkeit im psychiatrischen Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Instrument der Abgrenzung zwischen Bildsamen und keiner pädagogischen Arbeit mehr werten Kindern, d.h. Bildsamkeit wird zum Urteil über Exklusion und Inklusion. Diese Klassifikation bestimmt jetzt auch die Praxis der Taubstummenbildung, u.a. die institutionelle Ausdifferenzierung von Schulen und Anstalten nach Begabten und so genannten Minderbegabten. -
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Doris Kaufmann
Die Annahme, Expertenwissen, insbesondere universitäres Wissen, setze sich einlinig und umstandlos in anwendungsbezogene Bereiche um, wird in dem Beitrag von RaphaellRosenbergerIPlatz gründlich korrigiert. Die Arbeitsgruppe hat in beeindruckender Weise unter Verwendung des Bourdieuschen Feldansatzes die vielgestaltigen Differenzierungslinien und wissensinternen wie externen sozialen und politischen Bedingungskonstellationen für die „Neufiguration wissenschaftlicher Konzepte in professionellen Verwendungsfeldern" aufgezeigt und damit einen innovativen Beitrag im Schnittfeld
Wissenschaftsgeschichte, Unternehmensgeschichte und Sozialgeschichte Bundesrepublik vorgelegt. Die Einführung und Etablierung psychologischer Eignungsdiagnostik in westdeutschen Großunternehmen zwischen 1950 und 1980 vollzog sich auf dem Hintergrund veränderter politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen für Theorie und Praxis betrieblicher Personalpolitik von der hierarchischen Betriebsgemeinschaft und stand in Wechselbeziehung zum Wandel in den zur Mitbestimmung vom Leitvorstellungen sozialpartnerschaftlichen Betrieb und von demokratischer Gesellschaft. Die handelnden Wissensträger verstanden sich im Falle der akademischen Disziplinen Psychologie und Soziologie als „Sozialingenieure der Demokratisierung" und Verwestlichung der bundesrepublikanischen Gesellschaft, während die im Professionsfeld Betrieb agierenden Betriebspsychologen und zumeist juristisch und betriebswirtschaftlich ausgebildeten Personalexperten sich dem Programm der Verbesserung der Arbeitsbeziehungen, z.B. im Sinne einer Änderung des Führungsstils und von praktischer Partizipation widmeten. Diese Diskurskoalition konnte jedoch überlagert von
der frühen
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werden durch einen internen nicht zuletzt auch durch betriebliche Traditionen bestärkten Widerstand der beiden an sich konkurrierenden innerbetrieblichen Expertengruppen gegen externe (universitäre) Ideen und Konkurrenten. Damit sei nur ein Beispiel für die in den Prozessen von wissenschaftlichem Ideentransfer wirksamen Diskurskoalitionen, Professionsstrategien und Konkurrenzen angedeutet, die von den Autoren in ihrem Beitrag entfaltet werden. Testverfahren zur Messung und Prognose von Arbeits- und Führungskompetenz wurden bei Auszubildenden und niedriger Qualifizierten angewandt. Sie stießen mit den standardisierten Verfahren der Vermessung von Kompetenz auf Widerstand bei den höher qualifizierten Fachleuten mit ihrem persönlichkeitsorientiertem Selbstverständnis ein Problemzusammenhang, dem ein etwas stärkeres Gewicht in der Darstellung hätte gegeben werden können. -
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Ausschreibungstext des Schwerpunktprogramms: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit
Ansätze
zu
einer neuen
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,Geistesgeschichte' A.
Zusammenfassung
Die herkömmliche ,Ideen- und Geistesgeschichte' verfügt gerade in Deutschland über eine lange Tradition, die jedoch seit vielen Jahrzehnten erstarrt ist. Ähnliche methodische und theoretische Innovationen, wie sie andere Bereiche der Geschichtswissenschaft auszeichnen, haben diese alte Teildisziplin nicht belebt. Es gibt jedoch in der internationalen Geschichtswissenschaft und in benachbarten Wissenschaftsdisziplinen ein breites Spektrum an kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die für eine Erneuerung der überkommenen ,Ideen- und Geistesgeschichte' genutzt werden können. Dies anzustoßen, ist das Hauptziel des Schwerpunktprogramms. Es kann dabei jedoch nicht um eine bloße Übernahme dieser Strömungen gehen, zumal diese in sich uneinheitlich und untereinander z.T. ohne Kontakt sind. Es geht vielmehr um eine erneuerte, sozial- und erfahrungsgeschichtlich gesättigte ,Geistesgeschichte', die es ermöglicht, die Wirkungsgeschichte von Ideen im Sinne von verhaltensprägenden ,Realitätsbildern' und .gedachten Ordnungen' zu untersuchen. Mit dem britischen Kulturhistoriker Peter Burke zu sprechen: Die „ruinöse Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, die die Gesellschaft ausklammert, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert", soll überwunden werden. Der Schwerpunkt kann nicht von vornherein auf eng definierbare Untersuchungsobjekte begrenzt werden, denn ,Geistesgeschichte', wie sie hier vorgeschlagen wird, meint vor allem eine spezifische Zugangsweise. Das Themenspektrum muss deshalb offen sein. Um jedoch den Gesamtrahmen so zu begrenzen, dass ein Gespräch zwischen den Teilnehmern an dem Schwerpunkt stimuliert wird, soll er um methodologische Leitfragen (B. 3.) und um drei Betrachtungsweisen ideengeschichtlicher Prozesse (B. 4.) zentriert werden: um ,Ideen' als Deutungssysteme und Denkstile (B. 4.1.), um ,Ideen' in Verbreitungs- und Kommunikationsprozessen (B. 4.2.) und um ,Ideen' in Wissens- und Wissenschaftsordnungen (B. 4.3.). Das Spezifikum des Schwerpunkts liegt somit in bestimmten methodologischen Anforderungen und bestimmten Perspektiven der Fragestellungen. Einige Gegenstandsbereiche, die sich in diesem Rahmen besonders aufschlussreich bearbeiten lassen, nicht als .Pflichtprogramm' näher erläutert werden zur Illustration -
(B. 4.4.)
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Ausschreibungstext
B.
Programm des Forschungsschwerpunktes
B.2. Ziele des Schwerpunktes Annäherungen an eine neue ¡Geistesgeschichte' -
Definitorische Annäherungen an den Begriff,Idee': Ideen sind weder bloßer Ausdruck gesellschaftlicher Interessen noch wirken sie losgelöst von diesen. In dem Forschungsschwerpunkt sollen Ideen daher als .gedachte Ordnungen' verstanden werden, die in dem Streben nach Sinndeutung der Wirklichkeit begründet und zugleich essentiell an der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeiten beteiligt sind. ,Gedachte Ordnungen' können als intellektuelle Leistungen entstehen, aber auch als „Allerweltswissen" (P. L. Berger/Th. Luckmann) in der konkreten Lebenswelt von Menschen; sie stillen deren Verlangen nach individuellem Sinn und nach gesellschaftlichen Ordnungsmaßstäben für Denken und Handeln. Dieser Ausgangspunkt knüpft an Max Webers berühmte Definition zur „Sozialrelevanz von Ideen" (M. R. Lepsius) an. Weber bezeichnet „Weltbilder" als „Weichensteller", die festlegen können, in welchen Bahnen sich das von Interes-
geleitete Handeln bewegt. Entscheidend ist, dass nach der subjektiven Bedeutung von Sinnentwürfen gefragt wird. Deshalb gelten als .Ideen' all jene Symbole, sprachliche Zeichen und Wissensbestände, die von Individuen oder Gruppen mit sinnhafter Bedeutung aufgeladen werden und so dazu dienen, die Komplexität von Wirklichkeit zu ordnen und Handeln zu ermöglichen. Fragen nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Ideen wären also vorrangig so zu stellen: Wie verhelfen .Ideen' Individuen oder Gruppen dazu, heterogene Erfahrungen in ein relativ einheitliches Wirklichkeitsbild zu integrieren und Daseinskontingenzen zu bewältigen? Wie tragen sie dazu bei, jenen Sinnkosmos zu erzeugen, ohne den Individuen oder Gruppen nicht dauerhaft handeln können? Ein solch weites Verständnis von ,Idee', konzentriert auf subjektiven Sinn', hat den Vorteil, sehr unterschiedliche Formen von Wissen einbeziehen zu können: religiöses Heilswissen ebenso wie identitätsverbürgendes Bildungswissen, Alltagswissen ebenso wie theoretisch komplexe wissenschaftliche Deutungsangebote und deren Popularisierung. Der Begriff ,Idee' darf deshalb in dem Schwerpunktprogramm nicht restriktiv auf bestimmte intellektuelle Traditionen bezogen werden. Als .Ideen' im Sinne von .Welt-' oder .Realitätsbildern' gelten vielmehr .gedachte Ordnungen' jedweder Art, ganz gleich wie sie begründet werden und welchen weltanschaulichen oder wissenschaftlichen Geltungsanspruch sie erheben. Um als ,Ideen' definiert werden zu können, müssen sie jedoch eine kommunizierbare Gestalt annehmen natürlich entsprechend den kulturellen Möglichkeiten der jeweiligen historischen Gesellschaft. sen
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Ausschreibungstext
Damit wird die Frage nach den äußerst vielfältigen gesellschaftlichen Funktionen von ,Ideen' bei der Wahrnehmung und Gestaltung von Wirklichkeiten angesprochen: ,Ideen' bestimmen individuellen Sinn und entwerfen kollektive Orientierungsmuster, sie formen Kristallisationskerne für Interessen und unterliegen damit ständigen Auseinandersetzungen um Einfluss und Macht, sie können etablierte Ordnungen verteidigen und neue fordern, Gesellschaften differenzieren und erneut reintegrieren. Und sie unterliegen einem ständigen inhaltlichen und funktionalen Wandel. Dieses Verständnis von ,Idee' ist hinreichend flexibel, um ältere und gegenwärtige Forschungsansätze aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen aufnehmen zu können. Vor allem aber ist es offen für die Suche nach neuen Forschungsstrategien, die möglicherweise den grenzenlos vielfaltig erscheinenden Prozessen der Entstehung und der gesellschaftlichen Diffusion von ,Realitätsbildern' und ebenso ihrer Ausrichtung auf bestimmte Interessen und Situationen besser gerecht werden als eingeführte Fragestellungen. Auch für unterschiedliche Untersuchungsmethoden ist diese Definition angemessen offen. Hermeneutische Verfahren dominieren zurzeit, doch quantifizierende Analysemethoden, etwa zur Auswertung serieller Quellen, sind ebenfalls erwünscht. Vor allem aber zielt diese Definition auf eine neue ,Geistesgeschichte', die ,Ideen' in ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit betrachtet und sich damit sozialgeschichtlich öffnet. B. 3. Leitfragen methodologische Anforderungen Untersuchungsraum Damit diese erwünschte Vielfalt nicht zur Beliebigkeit werden kann, muss den einzelnen Projekten allerdings konzeptuell und methodologisch eine besondere Qualität abverlangt werden. Dabei sollen drei Kriterien erfüllt werden: 1. Die Projekte müssen eine Verbindung herstellen zwischen der Analyse der Konstitution und Konzeption von Ideen einerseits und ihrer Wirkungsmächtigkeit in gesellschaftlichen Prozessen andererseits. 2. Die Projekte sollen explizit nach den methodischen Voraussetzungen fragen, ideelle Wirkungsanteile in komplexen Wirkungszusammenhängen zu ermitteln. Erwünscht ist, dass dabei im Schwerpunktprogramm nicht nur verbal-textuelle Verbreitungsformen von Ideen, sondern auch visuelle und dingliche Vermittlungen (z.B. Film, Denkmäler, öffentliche Architektur) betrachtet werden. Erhofft wird von dieser Pflicht zur methodologischen Reflexion in jedem einzelnen Projekt ein Gespräch zwischen unterschiedlichen Disziplinen, methodologischen ,Schulen' und erkenntnistheoretischen Positionen. 3. Allen Projekten ist aufgegeben, nach den Möglichkeiten zur Typologisierung von Konstitutionsbedingungen und Erscheinungsformen und -
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Ausschreibungstext
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nach intendierten wie nicht-intendierten Funktionen von .Ideen' zu fragen. Geachtet werden sollte auch darauf, wie sich neue, zunächst suboder gegenkulturell begrenzte Ideen gebildet haben und unter welchen Bedingungen sie sich durchsetzen und institutionalisiert werden konnten. Welche Kommunikationsmedien und Kommunikationsformen wurden eingesetzt? Wer waren die Träger dieser Ideen? Der Untersuchungsraum ist Europa. Vergleiche mit außereuropäischen Entwicklungen sind nicht ausgeschlossen. Im Zentrum muss dann jedoch der Vergleich stehen. Ausdrücklich erwünscht sind auch Studien zur Rezeptionsund Wirkungsgeschichte europäischer Ideen außerhalb Europas. Denn sie bieten die Möglichkeit, Besonderheiten und Gemeinsamkeiten der europäischen Entwicklungen präziser zu erkennen.
B. 4. Forschungsfelder Chancen und Grenzen einer erneuerten Ideen- und Geistesgeschichte zu bestimmen, ist den Projekten aufgegeben, die in dem Schwerpunktprogramm gefördert werden sollen. Das Programm selber kann nur einen Suchauftrag erteilen, wie er unter B. 3. definiert worden ist. Es wäre verfehlt, darüber hinaus bestimmte Themenbereiche vorzuschreiben und so den Forschungsrahmen des Schwerpunktprogramms inhaltlich eng festzulegen. Deshalb sollen hier zusätzlich zu den unter B. 3. erläuterten definitorischen und methodologischen Rahmenvorgaben als erwünschte Forschungsrichtungen -
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drei Aspekte einer spezifisch ideengeschichtlichen Betrachtungsweise genannt werden. Sie sollten in den Einzelprojekten innerhalb der Möglichkeiten des jeweiligen Themas im Mittelpunkt stehen: nur
B. 4.1. .Ideen' als Deutungssysteme und Denkstile Hier wird erneut der Kern des Schwerpunktprogramms angesprochen: die Frage nach der gesellschaftlichen Gestaltungskraft von ,Ideen'. Deutungssysteme und Denkstile verweisen auf die von ,Ideen' angestoßenen oder in sie mündenden Veränderungen von gesellschaftlichen Wahrnehmungsweisen, von Eigen- und Fremdbildern. Dabei kann es sich um politische Ideen handeln, die wie z.B. Nationsvorstellungen allmählich zu kollektiven Selbstbeschreibungen werden und lebensweltliche Identitätsvorstellungen umprägen können. Es kann auch um wissenschaftliche Deutungssysteme gehen, die wie z.B. biologische Erkenntnisse in alltägliche Wissensordnungen umgesetzt werden und so gesellschaftliche Wirkungen entfalten, die in den wissenschaftlichen Forschungen nicht angelegt oder intendiert sein müssen. Zu denken ist aber auch an Jdeen', die auf der Ebene des „AUerweltswissen" (Berger/Luckmann) soziale Veränderungen und kulturelle Wandlungen ein-
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Ausschreibungstext
fordern, begleiten und beschreiben. Dabei können sub- oder gegenkulturell begrenzte .Ideen' zu mehrheitsfähigen Orientierungsmustern werden. Mit diesen Hinweisen wird noch einmal deutlich
gemacht, dass der Begriff
,Idee' bewusst nicht auf intellektuell hochrangige Gedankengebäude verengt werden soll. Es wird vielmehr das gesamte Spektrum von Wissensordnungen zu den alltagsweltlichen angesprochen. Erwartet wird aber dies ist das zentrale Auswahlkriterium -, dass nach gesellschaftlichen Wirkungen gedachter Ordnungen' gefragt werden kann.
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B .4.2.,Ideen' in Verbreitungs- und Kommunikationsprozessen Ideen wirken durch Kommunikation. Deshalb ist die Frage nach ihren Verbreitungsformen und -wegen unverzichtbar. Im Mittelpunkt sollten die Formen von Kommunikation in modernen ,Massengesellschaften' stehen, deren Spezifika jedoch nur im Vergleich zu frühmodernen Gesellschaften erschlossen werden können. Gefragt werden soll nicht nur nach der sozialen, sondern auch nach der geographischen Reichweite bestimmter Verbreitungsformen. Daran wird sich erkennen lassen, in welchen Bereichen und in welchen historischen Phasen regionale, nationale oder gemeineuropäische Bezüge vorherrschten. B. 4.3. .Ideen' in Wissens- und Wissenschaftsordnungen Der Wissenschaft kommt im neuzeitlichen Europa eine Sonderrolle bei der Ausformung und Verbreitung, bei der Begründung und Kritik von ,Ideen' als ,Realitätsbildern' und gedachten Ordnungen' zu. Dieser Prozess der Verwissenschaftlichung' lässt es geboten erscheinen, ihn als einen eigenen Untersuchungsbereich in dem Schwerpunktprogramm auszuweisen. Denn gerade auch für ,Ideen' gilt, dass sie als Theoriebildungen im Kontext ihres je eigenen Entstehungszusammenhangs und ihrer spezifischen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte betrachtet werden müssen. Auch hier ist zu hoffen, dass ein Gespräch zwischen verschiedenen Teildisziplinen angeregt wird, das diesen neue Impulse geben kann. Wissenschaftsgeschichte meint hier nicht die Geschichte einzelner Wissenschaftsdisziplinen in engerem Sinn und auch nicht Theoriegeschichte in bestimmten Einzelbereichen. Es geht vielmehr um die Frage, welchen Anteil Theoriebildung bei der Entstehung und Institutionalisierung von Ideen in dem oben definierten Sinn hatte. Dabei sind nicht nur Theorien mit wissenschaftlichem Anspruch und in wissenschaftlichen Verwendungszusammenhängen gemeint, sondern auch der Gebrauch popularisierter theoretischer Versatzstücke als ,Alltagstheorien' in der politischen Öffentlichkeit oder in konkreten gesellschaftlichen Handlungsbereichen. Wissenschaftliche Theorien waren z.B. daran beteiligt, neue Ideen zur künftigen Gestaltung individueller Daseinsvorsorge und zur Entwicklung des Sozialstaats in die öffentliche
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Ausschreibungstext
Diskussion einzuspeisen und in staatliches Handeln umzusetzen. Ein anderes Beispiel ist die Rolle wissenschaftlicher Theorien im Prozess der Judenemanzipation, aber auch bei deren Widerruf. Solche komplexen Vorgänge wurden durch ,Ideen' im Sinne von ,Realitätsbildern' gesteuert, deren .Verwissenschaftlichung' einer wissenschaftsgeschichtlichen Analyse bedarf. B. 4.4. Beispielefür Themenfelder Die unter B.4.1.-3. skizzierten drei Aspekte spezifisch ideengeschichtlicher Betrachtungsweisen sollen das offene Forschungsfeld des Schwerpunktprogramms strukturieren, ohne es im Vorgriff thematisch einzuengen. Zur Illustration werden nun einige Beispiele für Themenbereiche gegeben, die aber darauf sei nochmals ausdrücklich hingewiesen keinen verbindlichen Themenkatalog für das Schwerpunktprogramm formulieren wollen: Einstellungen zu Modernität': Wie gesellschaftliche Krisen und staatliche Systemumbrüche von Menschen erfahren und verarbeitet werden, ist abhängig von verhaltenssteuernden .Realitätsbildern', die sich in Wertediskursen bilden. Von ihnen hängt in hohem Maße ab, wie die Menschen auf das Neue reagieren und ob sie dessen Chancen in ihren Lebenswelten nutzen können. Zu denken ist etwa an die Wahrnehmung und Bewältigung der tief greifenden Krisenerfahrungen, die verbunden waren mit dem Ende Alteuropas um 1800, mit den Revolutionen seit dem späten 18. Jahrhundert oder mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. In solchen Krisen entstanden Vorstellungen von Modernität, von denen abhing, wie Menschen mit .technischem Fortschritt', mit der neuen Bedeutung von Wissenschaft in der Gesellschaft, mit neuen Erfahrungen von wirtschaftlichem Wachstum, mit neuen Lebensstilen oder mit veränderten Konzepten von Geschlechterrollen umgingen. Von einer erneuerten .Geistesgeschichte' sind zu diesen Wertediskursen wichtige Einsichten zu ver-
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langen. Religiosität. Säkularisierung, Entchristlichung: Mit diesen Stichworten werden grundlegende Entwicklungsprozesse in der Neuzeit angesprochen, für deren Analyse die ,neue Geistesgeschichte', die angestrebt wird, un-
verzichtbar sein dürfte. Die französische .histoire des mentalités' hat für die Frühe Neuzeit bereits eine Reihe von Studien vorgelegt, in denen insbesondere serielle Massendaten ausgewertet wurden. Ergänzt um andere Methoden, müssen diese Studien bis in die Gegenwart fortgeführt werden, um z.B. erkennen zu können, welchen Formverwandlungen Religiosität unterliegt, wenn sie aus dem Gehäuse der Kirche auszieht. Konfessions-
spezifische Wissenskulturen, die spezifische Leistungskraft religiöser Ideen für die Erzeugung und Veränderung von handlungsleitenden .Weltbildern' (M. Weber) wären zu untersuchen. Auch bei diesen großen The-
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Ausschreibungstext
menbereichen ist ein Austausch zwischen Historikern, Theologen und Re-
ligionswissenschaftlern zu erwarten.
Eine ,neue Ideen- und Geistesgeschichte' muss auch die Historizität der Begriffe .Religiosität', .Säkularisierung' und .Entchristlichung' analysieren, denn sie sind als Kampfbegriffe im späten 18. Jahrhundert entstanden, so dass keineswegs sicher ist, mit ihnen die komplexen Prozesse des Wandels religiösen Bewusstseins, die sich seitdem vollziehen, erfassen zu können. Wirkungen von .Denkstilen': Die fundamentale Bedeutung von Ideen als verhaltensprägende Kraft wird unmittelbar einsichtig, wenn man bedenkt, dass im 19. und 20. Jahrhundert verschiedene ,Denkstile' genannt seien hier ,Ökonomisierung', .Soziologisierung', .Biologisierung' und neuerdings .Ökologisierung' des Denkens die Einschätzung gesellschaftlicher Verhältnisse und der Möglichkeiten, sie zu beeinflussen, grundlegend geprägt haben. Unter welchen Bedingungen es möglich wurde, biologistische .Realitätsbilder' in der Politik, aber auch in der Lebenswelt ,kleiner Leute' in konkretes Handeln umzusetzen und welche Faktoren dem entgegenwirkten, ist ein Frage, zu der eine erneuerte Geistesgeschichte über die bisherigen Arbeiten hinaus beitragen muss. Für die anderen .Denkstile' gilt dies ebenso. Internationale Vergleiche sind hier gefordert. Rechtsbegriffe und -Institutionen als Erscheinungsformen von Ideen: Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft vollziehen sich zwar auf unterschiedlichen Handlungsebenen, sind jedoch dadurch verbunden, dass sie textgebundene, aber von geistigen Vorstellungen getragene Ordnungsmodelle der sozialen Welt voraussetzen. Diese normativen Ordnungsmodelle stehen in Austauschverhältnissen mit der .realen', ihrerseits wieder geistig erfassten und interpretierten Welt. Sie können selbst in Legitimationskrisen geraten, können aber auch auf außerrechtliche Krisenphänomene, neue Denk- und Handlungskonventionen antworten. Historische und rechtshistorische Untersuchungen dieser Phänomene sind bislang meist separat durchgeführt worden, sei es weil die Historiker die eigentlichen Rechtsfragen mieden, sei es weil die Rechtshistoriker ihre Fragen aus dem historischen Kontext gelöst haben. In beiden Richtungen könnte das Schwerpunktprogramm innovativ wirken. -
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Schwerpunktprogramm „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit" Zusammenstellung der geförderten Projekte1 -
Thema
Antragsteller
Böhme, Dr. Britta fl-eipzig) Die Krechiver Basilianer. Ideen und Gemeinschaft
Doehring-Manteuffel, Prof. Dr. Anselm
(Tübingen) Drehsen, Prof. Dr. Volker
(Tübingen) Druwe, Prof. Dr. Ulrich
(Mainz)
Ellger-Rüttgardt, Prof. Dr. Sieglind (Berlin) /
Tenorth, Prof. Dr.
Heinz-Elmar (Berlin) Frevert, Prof. Dr. Ute
(Konstanz)
kriegsdeutschland (1920-1970) Kulturpraxis des neueren Protestantismus
Die Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende Die Erweiterung von Idee und Praxis der Bildsamkeit durch die .Entdeckung' der Bildbarkeit Behinderter. Analysen zur Ideen- und Wirkungsgeschichte der Bildbarkeit behinderter Menschen von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik
Untersuchungen geschlechterspezifischen Repräsentation und Sozialisation nationaler Orientierungen in Deutschland Amtliche Bildpropaganda im Ersten Weltkrieg. Untersuchung zur Produktion und Verbreitung von Ideen nationaler Nation und Geschlecht im 19. Jahrhundert. zur
Frevert, Prof. Dr. Ute
(Konstanz)
Identität in Deutschland
Gall, Prof. Dr. Lothar
O^rankfurt/M.) Graf, Prof. Dr. Friedrich
(Augsburg) Hardtwig, Prof. Dr. Wolfgang (Berlin) Wilhelm
Hardtwig, Prof. Dr. Wolfgang (Berlin)
Haupt, Prof. Dr. Heinz Gerhard (Halle/S.)
Hausen, Prof. Dr. Karin (Berlin) Hausen, Prof. Dr. Karin (Berlin)
Dienstorte bei der
Traditionsbestände sozialistischer und bürgerlicher Ordnungsideen und ihr Wandel von „Weimar" bis ins Nach-
Ideen- und Wirkungsgeschichte des politischen Leitbildes kommunaler „Eintracht" seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Gepredigte Tugend. Predigt als politisch-moralische Normenkommunikation im späten 18. Jahrhundert Nationalismus, Liberalismus und Bürgertum. Zur Sozialgeschichte nationaler Ideen in Deutschland und Frankreich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte der zwanziger Jahre Nationalistische Geschichtspolitik an den Volksschulen Preußens, Bayerns und des deutschsprachigen Österreichs im Vergleich, 1860 bis 1933/38 Der Ort des Nationalen in den Selbstthematisierungen deutscher Bildungsbürger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Ein Beitrag zur kulturellen Wirkungsgeschichte nationaler Vorstellungen Theorie und Praxis sozialer Hygiene in Deutschland 19001933. Zur Wirkungsmacht einer Idee bei der Konstruktion von Gesundheit, Körper und Geschlecht Von der Idee des Staatsfeindes zur Praxis der „Gegnerbekämpfung". Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer in Berlin 1933 bis 1945
Antragstellung
Geförderte Projekte
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Antragsteller
Thema
Hellmuth, Prof. Dr. Eckhart (München)
Tradition in der Defensive? .Konservative' Ideen und soziokulturelle Milieus in Großbritannien 1688 bis ca. 1900 Intellektuelle und Politik in der Entstehung der euro-
Hübinger, Prof. Dr. Gangolf (Frankfurt/O.) Klippel, Prof. Dr. Diethelm (Bayreuth)
päischen Massenkommunikationsgesellschaft (1890-1930) Strafrechtsdiskurs und Strafgesetzgebung. Die Umsetzung strafrechtlicher Ordnungsvorstellungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts
Untersuchungen zu Konstitution, Entwicklung und WirkMahling, Christoph-Hellmut (Mainz) samkeit zentraler Ideen der Neuen Musik Neue Musik in Darmstadt und ihre Rezeption in Musikwissenschaft und Musikpädagogik Münkler, Prof. Dr. Herfried .Ancient Constitution'. Englische Verfassungsdiskurse von Prof. Dr.
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(Berlin) Oesterle, Prof. Dr. Günter
(Gießen) Peter, Dr. Gerd /
Neuendorff, Prof. Dr. Hartmut ^Dortmund)
Raphael, Prof. Dr. Lutz (Trier)
Elisabeth I. bis zum .Revolution-Settlement' Ideenzirkulation und Herbartianismus. Diskursintegrativer und formalistischer Denkstil als Gegentypen kultureller Kommunikation zwischen Spätaufklärung und Ausgang des 19. Jahrhunderts Auswirkungen des Multimedia-Diskurses auf das Handeln und Verhalten in Wirtschaftsorganisationen
Intelligenzmessung und Prognose. Ideen und Praxis psychologischer Eignungsdiagnostik in westdeutschen Unter-
nehmen 1950 bis 1980 Ideen, Institutionen und politische Kultur: Die EuropäisieRisse-Kappen, Thomas (Konstanz) rung nationaler Identitäten im Ländervergleich Rücken, Prof. Dr. Die Diskussion zwischen deutschen und österreichischen Joachim (Frankfurt/M.) Juristen und Ökonomen im späten 19. Jahrhundert um eine soziale Gestaltung der Rechtsordnung Michael PD Dr. Der Schetsche, Antagonismus zwischen Wille und Trieb. Zur Wir(Bremen) /Lautmann, Prof. kungsmacht einer Idee, am Beispiel des Deutungsmusters Dr. Dr. Rüdiger (Bremen) vom Lustmord Schorn-Schütte, Prof. Deutungsmuster sozialer Wirklichkeit in der Frühen NeuDr. Luise (Potsdam) zeit: Die Política Christiana (16./17. Jahrhundert) Stammen, Prof. Dr. Wie lässt sich Gemeinsinn institutionalisieren? Die Idee des Theo (Augsburg) Common Sense und der englische Parlamentarismus im 18. Jahrhundert Stolleis, Prof. Dr. Michael Deutsche Völkerrechtswissenschaft im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts (Frankfurt/M.) Thamer, Prof. Dr. Bilder von Krieg und Nation. Zur Konstituierung von Hans-Ulrich (Münster) nationaler Identität durch Kriegsdarstellungen in PreußenDeutschland und Österreich (1859-1890) Thamer, Prof. Dr. Zwischen Radikalnationalismus und Menschheitspathos. Hans-Ulrich (Münster) Katholiken, Protestanten und die Bewertung der kolonisierten Völker im Deutschen Kaiserreich (1884-1913)
Prof. Dr.
Vollhardt, Prof. Dr. Fried- Verweltlichung der Wissenschaft(en). Bedingungen, Musrich (Gießen) /Danneberg, ter der Argumentation von typisierten Phasen wissenschaftProf. Dr.Lutz (Berlin) / licher Säkularisierung Schönen, Prof. Dr. Jörg
(Hamburg)
Autorinnen und Autoren Becker, Frank, PD Dr.: seit 1998 Privatdozent am Historischen Seminar der Universität Münster, Lehraufträge in Essen und Osnabrück, 2003 Gastdozent am DHI London, 2004
Professurvertretung in Münster
Danneberg, Lutz, Prof. Dr.: Fachbereich Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin
Dipper, Christof, Prof.
Dr.: Professor für Neuere und Neueste
Geschichte, Universität
Darmstadt
Föllmer, Moritz, Dr.: Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin; 2004/05 Gastwissenschaftler an der University of
Chicago
Günther, Dagmar: PD Dr. phil.: Privatdozentin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bielefeld, Referendarin für Französisch und Geschichte an einem Wuppertaler
Gymnasium
Hellmuth, Eckhart, Prof. Dr.: Professor für Westeuropäische Geschichte mit besonderer
Berücksichtigung der Frühen Neuzeit an der Ludwig Maximilians Universität München
Henze, Martina, Dr.: Externe Lektorin, Saxo-Institut der Humanistischen Fakultät, Universität
Kopenhagen
Hoeschen, Andreas: Wissenschaftlicher Mitarbeiter
am
Institut für Germanistik, Universi-
tät Gießen
Hoffmeister, Maren: cand. phil.; 2000-2003 Graduiertenkolleg „Körper-Inszenierungen"; Lustmord als Deutungsmuster (Diss.), erscheint 2005; Mitarbeit Ritual-AG im Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen"; Assoziiertes Mitglied im Interdisziplinären Zentrum für Historische
Anthropologie der Freien Universität Berlin
Hübinger, Gangolf: Prof.
Dr.: Professor für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit; Kulturwissenschaftliche Fakultät; Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Kaufmann, Doris, Prof. Dr.: Professorin am Institut für Geschichte, Universität Bremen Kesper-Biermann, Sylvia, Dr.: Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrstuhl für Recht und Rechtsgeschichte, Universität Bayreuth Klippel, Diethelm, Prof.
versität Bayreuth
Dr.: Lehrstuhl für
Bürgerliches
Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Uni-
Lange, Thorsten: Dr. phil.: Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt; Politikwissenschaft/Abteilung Politische Theorie, Universität Mainz Langewiesche, Dieter, Prof. Dr.: Ordentlicher Professor lung für Neuere Geschichte, Universität Tübingen
am
Institut für
Historischen Seminar, Abtei-
am Lehrstuhl für Neuere Geschichte des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin; seit 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte an der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg
Meissner, Andrea: 1999-2002 Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Autorinnen und Autoren
536
Müller, Helen, Dr. phil.: Leitung Unternehmensarchiv; Bertelsmann AG; Gütersloh Ottow, Raimund, Dr.: Dresden Platz, Johannes: Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Intelligenzmessung und Prognose", Fachbereich III Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier -
Pott, Sandra, PD Dr. phil. Dipl.-Pol.: Institut für Germanistik II, Universität Hamburg
Raphael, Lutz, Prof. Dr.: Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier Rosenberger, Ruth: Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Intelligenzmessung Prognose", Fachbereich III Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier
und
-
Schmidt, Martin: Wissenschaftlicher Mitarbeiter
am
Historischen Seminar der
Maximilians Universität München
Ludwig
Schneider, Lothar, PD Dr.: Institut für Neuere deutsche Literatur, Universität Gießen Schorn-Schütte, Luise, Prof. Dr.: Historisches Seminar, Universität Frankfurt/M. Schuster, Susanne, Dr.: Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität Augsburg Stammen, Theo, Prof. Dr.: Em. Ordinarius für Politische Wissenschaft, Universität Augs-
burg
Stolleis, Michael, Prof. Dr.: Direktor schichte, Frankfurt/M.
am
Max-Planck-Institut für
europäische Rechtsge-
Tenorth, Heinz-Elmar, Prof. Dr.: Professor für Historische Erziehungswissenschaft, Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Weiß, Matthias: Wissenschaftlicher Mitarbeiter HAB 0?rojekt bis 06/05) Zur Nieden, Susanne, Dr. phil.: Lehrbeauftragte am Zentrum für und Geschlechterforschung, Technische Universität Berlin
Interdisziplinäre Frauen-
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte wird sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung tragen. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse.
Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu er-
Die Reihe -
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forschen.
Die Reihe
Ordnungssysteme verfolgt einige
Themen mit besonderem Inter-
esse:
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den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.
Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kultu-
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rellen und politischen Kontexten. Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften. Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.
Band 1: Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998. 677 S. ISBN 3-486-56341-6 Band 2: Thomas Sauer
Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999.
VII, 326 S. ISBN 3-486-56342-4
Band 3: Gudrun Kruip Das „Welt"-„Bild" des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999. 311 S. ISBN 3-486-56343-2
Band 4: Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 3-486-56344-0 Band 5: Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 3-486-56455-2 Band 6:
Jin-Sung Chun
Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte" im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948-1962 2000. 277 S. ISBN 3-486-56484-6 Band 7: Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 3-486-56545-1
Band 8: Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969 2001. 488 S. ISBN 3-486-56559-1 Band 9: Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VIII, 445 S. ISBN 3-486-56581-8
Band 10: Martina Winkler
KarelKramáf( 1860-1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines
tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 3-486-56620-2
Band 11: Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002. 457 S. ISBN 3-486-56678-4 Band 12: Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002. 337 S. ISBN 3-486-56679-2 Band 13: Julia Angster
Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB
2003. 538 S. ISBN 3-486-56676-8 Band 14:
Weischer Das Unternehmen ,Empirische Sozialforschung' Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland 2004. X, 508 S. ISBN 3-486-56814-0
Christoph
Band 15: Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und 1949-1970 2004. 364 S. ISBN 3-486-56818-3
Integration
Band 16: Ewald Grothe Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900-1970 2005. 486 S. ISBN 3-486-57784-0 Band 17: Anuschka Albertz
Exemplarisches Heldentum Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen 2006. Ca. 512 S., 46 Abb. ISBN 3-486-57985-1
Band 1 S.Volker Depkat Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts 2006. Ca. 512 S. ISBN 3-486-57970-3 Band 19: Lorenz Erren Selbstkritik und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin 2006. Ca. 416 S. ISBN 3-486-57971-1
(1917-1953)
Band 20: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte 2006. 536 S. ISBN 3-486-57786-7
Europa der Neuzeit