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German Pages V, 124 [124] Year 2021
Vom Universum
Wolfgang Tschirk
Eine Geistesgeschichte der Physik
Vom Universum
Wolfgang Tschirk
Vom Universum Eine Geistesgeschichte der Physik 2. Auflage
Wolfgang Tschirk Wien, Österreich
ISBN 978-3-662-62063-2 ISBN 978-3-662-62064-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Ursprünglich erschienen bei Edition Va Bene, Wien, Klosterneuburg, 2006 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch SpringerVerlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © Vitaly/stock.adobe.com Planung/Lektorat: Iris Ruhmann Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhaltsverzeichnis
1 Von Himmel und Erde 1 2 Von der Kraft 15 3 Vom Licht 33 4 Von der Wärme 43 5 Vom Feld 57 6 Von den Quanten 67 7 Von Raum und Zeit 91 8 Von den Sternen 107 Namenregister 119
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Wer sehen will, dass die Erde rund ist, muss ein Stück in die Ferne blicken und ein wenig Geometrie anwenden. Um aber zu erfahren, dass Raum und Zeit sich krümmen, bedarf es einer Theorie, die seit ihrem Entstehen als Inbegriff des Schwierigen gilt und so surreal erscheint, dass viele sie noch immer nicht wahrhaben wollen. Trotzdem wissen wir heute das eine so gut wie das andere: Die Erde gleicht einer Kugel; ihre Bahn folgt den Krümmungen des Raumes und der Zeit. Diese beiden Erkenntnisse umrahmen zwei Jahrtausende Physik, und von ihr erzählt unser Buch. Da auch Physiker Menschen sind, erleben wir zugleich eine Geschichte vom Glauben, Zweifeln und Irren, von Siegen und Niederlagen, vom Aufeinanderprallen der Weltanschauungen und von den Grenzen der Erkenntnis. Uns Sterblichen zum Trost ist es nämlich selbst den Helden der Wissenschaft nicht vergönnt, auf geradem Weg ans Ziel zu kommen. Im sechsten Jahrhundert vor Christus wurde die Erde zum Ball. Für Thales von Milet, den „Vater der Philosophie“, war © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 W. Tschirk, Vom Universum, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9_1
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sie noch eine flache Insel inmitten eines unendlichen Meeres; für seinen Schüler Anaximander eine zylindrische Säule, frei im Raum schwebend. Pythagoras soll sie als Erster für eine Kugel gehalten haben; er hatte die Rundung des Erdschattens auf dem Mond und das Auftauchen von Schiffen am Horizont richtig gedeutet. Die Pythagoräer schufen ein Modell des Kosmos, in dem die Erde im Zentrum ruht, umgeben von den Sphären der Himmelskörper. Am nächsten steht ihr der Mond, dann kommen Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, die damals alle noch anders hießen. Den ewig unveränderlichen Hintergrund bildet die Sphäre der Fixsterne. Dabei blieb es für zweihundert Jahre, auch wenn Philolaos behauptete, im Zentrum des Universums brenne ein zentrales Feuer, zuinnerst umkreist von einer für den Menschen unsichtbaren „Gegenerde“, auf die erst unsere Erde und dann die übrigen Himmelskörper folgen. Wie kamen die Griechen zu diesen Ansichten? Es wird uns immer wieder beschäftigen, wie Physiker zu ihren Ansichten kommen, denn was die Leute glauben oder tun – das sind bloß Lexikonfragen; jedoch warum sie es glauben und tun: daraus werden die Dramen gemacht. Am Anfang stand die Beobachtung. Von Thales wird erzählt, er wäre einmal, als er die Sterne betrachtete, in einen Brunnen gefallen und daraufhin von einer Magd verspottet worden: Er solle, anstatt den Himmel zu erkunden, besser aufpassen, was vor seiner Nase auf der Erde passiert. Doch Beobachtung allein genügt nicht, und damit wenden wir uns Aristoteles zu, der im vierten Jahrhundert vor Christus lebte. Er hat das pythagoräische Bild des Kosmos übernommen und ihm nichts Wesentliches hinzugefügt; aber er hat es in einen theoretischen Rahmen gestellt. Da er zugleich der Erfinder der Logik war, ging er mit meist richtigen logischen Schlüssen vor, die ihn zu meist falschen Ergebnissen führten, was wiederum an seinen Prämissen lag.
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Diese lauteten erstens: Die vollkommene Gestalt ist die Kugel, zweitens: Die vollkommene Bewegung der Himmelskörper ist das Kreisen um die Erde als Zentrum der Welt, und drittens: Es gibt keinen leeren Raum. Damit war klar, dass die „Körper jenseits des Mondes“ Kugeln sind und auch der Kosmos eine ist. Die Träger der Himmelskörper sind ebenfalls Kugeln – Sphären – und bestehen aus einem Stoff, den Aristoteles Äther nannte. Die äußerste Sphäre trägt die Fixsterne und dreht sich einmal pro Tag um die Erde. Um zu erklären, warum die Sphären, die ja stoffliche Dinge sind, einander nicht in ihren Bewegungen stören, erdachte Aristoteles eine Mechanik gegenläufig drehender und neutralisierender Schichten zwischen ihnen, so dass sein Modell aus insgesamt 56 Schalen bestand. Ein Menschenalter nach Aristoteles tauchte das erste heliozentrische Weltbild auf. In der Frühzeit der griechischen Astronomie hatte Anaxagoras eingeräumt, die Sonne könne möglicherweise größer sein als der ganze Peloponnes – schon das war schwer zu glauben. Nun aber kam Aristarchos von Samos zu dem ungeheuerlichen Schluss, die Sonne sei 250mal so groß wie die Erde! Unter diesen Umständen lag es nahe, ihr die Rolle des bestimmenden Körpers zuzusprechen und sie in den Mittelpunkt der Welt zu stellen. Und siehe da: Wie von Zauberhand weggewischt war das Problem der wechselnden Helligkeiten der Planeten, das bis dahin den Astronomen Kopfschmerzen bereitet hatte: Wenn alle Planeten um die Erde als Zentrum kreisen, kann keiner ihr näherkommen oder sich von ihr entfernen. Dass uns dennoch jeder manchmal heller, manchmal dunkler erscheint, muss also an ihnen selbst liegen, und diese Erklärung verträgt sich schlecht mit der kosmischen Unveränderlichkeit. Kreist aber alles um die Sonne, so können die Entfernungen der Planeten von der Erde variieren und damit auch ihre scheinbaren Helligkeiten. Allerdings ergab sich sofort ein neues Problem: Wenn die Erde um den Mittelpunkt der Welt kreist, warum
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sehen wir dann die Fixsterne ewig in gleicher Perspektive? Müsste nicht die Erde einmal dieser, ein andermal jener Seite der Fixsternsphäre näherkommen? Hierauf gab Aristarchos zur Antwort, die Bahn der Erde sei, verglichen mit dem Kosmos, zu klein, als dass man diesen Effekt bemerken würde. Dennoch setzte sich seine Vorstellung nicht durch. Zu fremd war der Gedanke, die Erde triebe im Äther umher, anstatt an ihrem natürlichen Ort zu ruhen, und zu groß vielleicht auch schon die Autorität des Aristoteles, dessen geistiger Nachlass allmählich den Charakter einer Religion annahm. Man hatte inzwischen aber längst herausgefunden, dass die Planeten anders laufen, als alle Rechnungen ergaben. Ihre tatsächlichen Bahnen zeigen sich weit weniger gleichförmig, als man es von Kreisen erwarten musste. Manchmal bewegten sich die Himmelskörper zu schnell, dann wieder zu langsam, zeitweise sogar in die falsche Richtung. Selbst der eingefleischteste Aristoteliker musste zugeben, dass irgendetwas an der Theorie nicht stimmen konnte. Im zweiten vorchristlichen Jahrhundert endlich arbeitete Hipparchos von Nikaia die rettende Idee aus: Die Bewegung eines Planeten setzt sich aus mehreren Kreisen zusammen. Was bisher als Bahn des Planeten gegolten hatte, war nur die Bahn des Mittelpunktes eines kleineren Kreises, des sogenannten Epizykels; auf dem Epizykel erst lief der Planet tatsächlich um. Reichte auch das nicht aus, die Rechnung in Übereinstimmung mit der Beobachtung zu bringen, nahm man einen weiteren Epizykel um den vorherigen an. Zur Vollendung gebracht wurde Hipparchos’ System dreihundert Jahre später von Claudius Ptolemäus, dessen Namen es seither trägt: ptolemäisches Weltbild. In ihm hat das Himmelsgewölbe Kugelgestalt und dreht sich wie eine Kugel. Man kann das einerseits am Umlauf der Gestirne sehen und andererseits begründen dadurch, dass die Eigenschaft der leichtesten Bewegung von den ebenen Figuren dem Kreis, von den Körpern der Kugel zukommt. Der Äther aber besteht aus den feins-
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ten und gleichartigsten Molekülen, und ein solcher Körper muss zwangsläufig von der gleichmäßigsten Gestalt, nämlich der einer Kugel, sein. Hier lesen wir gestochen scharf Aristoteles’ Handschrift. Weiters ist auch die Erde kugelförmig. Sie nimmt die Mitte des Himmelsgewölbes ein und steht zu den Himmelskörpern im Verhältnis eines Punktes. Damit meinte Ptolemäus, sie sei im Vergleich zu den kosmischen Entfernungen winzig klein, womit er erklärte, warum uns der Sternenhimmel von jedem Ort aus gleich erscheint. Und die Erde ruht. Da sie im Zentrum der Welt steht, wird sie von allen Seiten her im Gleichgewicht gehalten. Würde sie sich fortbewegen, müssten sämtliche auf ihr befindlichen Körper von ihr weggerissen werden. Auch dreht sie sich nicht, denn würde sie das tun, müssten alle irdischen Körper hinter dieser Drehung zurückbleiben. Ptolemäus’ Argumente gründen sich zum Teil auf Beobachtungen wie jene des Auf- und Untergehens der Sonne und der Sterne, in der Hauptsache jedoch auf die theoretischen Grundsätze des Aristoteles. Über sein Leben wissen wir wenig; nicht einmal, ob er Grieche oder Ägypter war. Seine Arbeiten hat er in einem dreizehnbändigen Monumentalwerk zusammengefasst, das uns heute unter dem Namen Almagest bekannt ist und seinen Autor als umfassenden Denker zeigt. Überhaupt zerfiel die Wissenschaft der Antike nicht wie die heutige in Spezialdisziplinen: Aristoteles schrieb über Logik und Naturwissenschaft ebenso wie über Wirkung und Ziel des Musikunterrichtes, ferner über Politik, Rhetorik, Erkenntnistheorie und Ethik. Demokrit, der Hauptträger der antiken Atomlehre, schuf den Grundriss einer Kulturtheorie. Pythagoras und seine Schüler studierten die Welt der Ordnung und die Welt des Werdens, die Harmonie des Alls und die Harmonie der Töne, das Wesen und die Wirksamkeit der Zahl wie auch die Grundlagen einer gesunden Lebensweise, wo sie vor der Gier nach Überflüssigem warnten und maßvollen Genuss empfahlen. Gar
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nicht zu diesem Ratschlag passt es allerdings, dass Pythagoras einmal hundert Ochsen geopfert hat – aus Freude über die Entdeckung des Satzes vom rechtwinkeligen Dreieck, weswegen noch heute alle Ochsen vor der Wissenschaft zittern. Die Disziplinen waren weniger scharf umrissen als heute: Mathematik beinhaltete auch Zahlenmystik, Astronomie auch Sterndeutung; Mechanik war Technik, unter anderem zur Kriegführung, und nur in zweiter Linie Grundlagenforschung, und die Optik untersuchte sowohl die Natur des Lichtes als auch die körperlichen Vorgänge beim Sehen. ∗∗∗∗∗ Die Physik des Aristoteles und mit ihr das Weltbild des Ptolemäus überdauerten die Zeiten. Ein Jahrtausend nach Ptolemäus verband Thomas von Aquino beider Lehren mit dem christlichen Glauben zu einer Verfassung des Wissens, an der zu rütteln bis in die Renaissance hinein undenkbar gewesen wäre. Sie war über jeden Zweifel erhaben, denn alles gründete sich auf Überlieferung, nichts anderes wurde an den Universitäten gelehrt. Wissenschaft hieß: das geeignete Zitat in den antiken Werken finden und es passend auslegen; damit konnte man jedes Problem lösen. Für die Kirche war Aristoteles ein Geschenk. Angesichts ihres Glaubens an die Vollkommenheit des Himmels und die zentrale Stellung der Erde: was hätte ihr da Besseres passieren können, als dass die höchste irdische Autorität als unabhängiger Gutachter diesen Standpunkt untermauert? Im Hochmittelalter galt Aristoteles als „praecursor Christi in rebus naturalibus“, als Vorläufer Christi in Angelegenheiten der Natur. Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts war die Lage so festgefahren, dass ein junger Astronom namens Nikolaus Kopernikus, der als Domherr im Dienst der Kirche stand, seine Gedanken lediglich im kleinen Kreis mitzuteilen wagte. In Wirklichkeit hieß er übrigens Kopernik, doch legte er
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Wert auf die Endsilbe, denn man lebte in der Ära der latinisierten Namen: Ein gewisser Theophrast von Hohenheim wurde als Paracelsus bekannt, Kopernikus’ Schüler Georg von Lauchen gab sich den Namen Rhaeticus, und der Astronom Regiomontanus hieß bürgerlich Johannes Müller. Was hatte Kopernikus herausgefunden? Doch nur, dass man die Planetenbahnen einfacher beschreiben kann, wenn man die Sonne ins Zentrum stellt anstatt die Erde – das Gleiche also, das schon Aristarchos aufgefallen war. Ansonsten blieb er bei den alten Vorstellungen: Die Himmelskörper sind in Sphären gebettet und bewegen sich in Kreisen um einen Mittelpunkt. Da Kopernikus, wie seine Vorgänger, Kreise annahm, konnten seine Berechnungen wiederum nicht die tatsächlichen Umlaufbahnen ergeben. Somit war auch er gezwungen, Epizykeln zur Erklärung der Abweichungen einzuführen, wovon er 34 benötigte, während es bei Ptolemäus 80 waren. Als Kopernikus endlich, schon im hohen Alter, zu einer Publikation überredet werden konnte und seine Schrift De revolutionibus orbium coelestium 1543 erschien, hielt es der Herausgeber Osiander für angebracht, ihren Inhalt durch ein Vorwort abzuschwächen, um Kopernikus vor dem Zorn der Kirche zu bewahren. In dieser Präambel, die Osiander vermutlich ohne Kopernikus’ Wissen verfasste, werden die neuen Hypothesen als Rechenhilfen bezeichnet, die keinen Anspruch auf Wahrheit erheben würden. Er unterließ es, mit seinem Namen zu signieren, so dass jeder annehmen musste, die Passage stamme von Kopernikus selbst. Doch alle Vorsicht nützte nichts: Kopernikus’ System wurde von der Kirche verworfen, Luther erklärte ihn zum Narren, und sein Buch setzten sie auf den Index der verbotenen Schriften, wo es dreihundert Jahre lang blieb. Immerfort hatte man den Himmel mit bloßem Auge betrachtet. Der letzte bedeutende Astronom, der ohne Hilfsmittel auskommen musste, war Tycho de Brahe. Von seiner Sternwarte Uraniborg auf der dänischen Insel Hven aus trug
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er im Laufe von zwanzig Jahren eine Fülle an Aufzeichnungen zusammen. Seine letzten beiden Lebensjahre verbrachte de Brahe als Hofmathematiker Rudolfs II. in Prag, wo ihm ein Assistent zur Hand ging, der auf den Namen Johannes Kepler hörte und 1601 sein Nachfolger wurde. Kepler nutzte den Schatz, der ihm da unversehens in die Hände gefallen war: die umfassendste Sammlung von Planetenpositionen, über die je ein Astronom verfügt hatte. Sie führten ihn bald zu dem Schluss, dass die Planeten nicht auf Kreisen umlaufen. Konnte man sie mit ovalen, elliptischen oder sonstwie geformten Bahnen in Übereinstimmung bringen? Eine Planetenbahn berechnen war zu Keplers Zeit ein langwieriges Unterfangen, zumal keine mechanischen Hilfen existierten und grundlegende mathematische Methoden unbekannt waren. Es gab keine analytische Geometrie, keine Differential- und Integralrechnung und keine Logarithmentabellen. Gleichungen vierten Grades und darüber konnte man nur durch Probieren lösen, komplexe Zahlen waren noch nicht erfunden. Die Vorstellungen von Kräften und von Ursache und Wirkung entstammten entweder der aristotelischen Mechanik oder den mittelalterlichen Studien zum Magnetismus und waren eher der Mythologie zuzurechnen als der Physik. Begriffe wie Beschleunigung, Impuls, Drehimpuls und Energie waren widersprüchlich oder fehlten überhaupt. Kepler rechnete zehn Jahre lang, dann gab er seine Resultate bekannt: Die Planeten laufen in Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Das ist das erste keplersche Gesetz. Epizykeln waren überflüssig, die Planeten standen auch ohne sie dort, wo sie hingehörten. Jeder Planet wird schneller, wenn er der Sonne näherkommt, und zwar genau so viel, dass die gerade Verbindungslinie zwischen ihm und der Sonne in gleichen Zeiträumen gleiche Flächen überstreicht. Das ist Keplers zweites Gesetz. Später fand er noch ein drittes: Die Quadrate der Umlaufzeiten der
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Planeten sind proportional zu den dritten Potenzen ihrer mittleren Entfernungen von der Sonne. Begann, wie oft behauptet wird, mit Kepler die moderne Astronomie? Werfen wir dazu einen Blick auf das, was nicht in den Schulbüchern steht. Die keplerschen Gesetze haben sich bis heute als zutreffend erwiesen in demselben Sinn, in dem Newtons Mechanik, die ein Menschenalter später entstand, noch heute zutrifft: Die Werte, die sie liefern, stimmen mit jenen der Messungen fast völlig überein. Die Theorie jedoch, die Kepler seinen Gesetzen zugrunde legte, ist von vorn bis hinten falsch. So war er der Ansicht, die Planeten würden durch magnetische Kräfte in Bewegung gehalten, die entlang der jeweiligen Bahntangente wirkten. Er sah in seinen Entdeckungen den Schlüssel zum Bauplan der Welt, den Harmonices mundi, wie schon der Titel seines Opus magnum sagt. In seinem Jugendwerk Mysterium cosmographicum hatte er die platonischen Körper dazu benutzt, die Sphären der Planeten, von denen man damals sechs kannte, gegeneinander abzugrenzen. Da es genau fünf platonische Körper gibt, mussten genau sechs Planeten vorhanden sein, nicht mehr und nicht weniger: „Und siehe, somit ist die Zahl der Planeten erklärt.“ Der Traum von der Harmonie des Himmels beseelte ihn durch und durch, und von diesem Standpunkt aus müssen wir sagen: Kepler war der letzte nicht moderne Astronom: der letzte, der die Sphärenklänge hören konnte. Es scheint, als hätte Kepler zwar seine Berechnungen gewissenhaft geprüft, in seinen Theorien hingegen dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet. Doch bedenken wir die Zeit, in der er lebte, und die Bedingungen, die er, zusätzlich zum Fehlen aller physikalischen Grundlagen, vorfand: Seine Aufgaben als Hofmathematiker umfassten das Erstellen von Horoskopen, an die die Auftraggeber und vielleicht er selber auch glaubten. Keplers Mutter war zeitweilig der Hexerei angeklagt. Eine wissenschaftliche Schrift hatte mit Ehrenbe-
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zeugungen zu beginnen: „Den Erlauchten, Hochgeborenen, Edlen und Gestrengen Herren, Herrn Sigismund Friedrich, Freiherrn von Herberstein, Neuberg, Guttenhag, Herrn in Lankowitz, Erbkämmerer und Erbtruchseß von Kärnten, Rat Seiner Kaiserlichen Majestät und des Durchlauchtigsten Erzherzogs von Österreich; Hauptmann der Provinz Steiermark und den Herren N. N. der erlauchten Stände von Steiermark, den Hohen Fünfmännern, meinen Milden und Wohlwollenden Herren Gruß und Huldigung!“ (aus Keplers Mysterium cosmographicum). Kepler war auch ein begabter Techniker; in seine Lebenszeit fiel die Erfindung des Fernrohres durch den Holländer Jan Lippershey, und Kepler trug zur Entwicklung des Instrumentes bei, indem er einen heute nach ihm benannten Typ mit je einer Sammellinse als Objektiv und Okular erfand. Während Kepler das Teleskop kaum gebrauchte, eröffnete es seinem Zeitgenossen Galilei ungeahnte Ausblicke. Nach den Plänen von Lippershey hatte sich Galilei 1609 selbst ein Exemplar gebaut, und mit diesem machte er eine Entdeckung nach der anderen. Er sah, dass die Oberfläche des Mondes nicht, wie bishin angenommen, glatt ist, sondern von Bergen, Tälern und Kratern überzogen, und dass jene der Sonne Flecken zeigt, die sich mit der Zeit verändern. Mit solchen Feststellungen gewann man in der Kirche, die ja die Vollkommenheit des Himmels predigte, keine Freunde. Galilei bemerkte die Phasen von Venus und Merkur und zog aus ihnen den treffenden Schluss, dass die Planeten nicht von selbst leuchten, sondern ihr Licht von der Sonne erhalten und sich um diese bewegen. Er erblickte die Milchstraße als „eine Menge unzähliger Sterne, angehäuft in dichten Sternenscharen“. Die Bedeutung einer scheinbar nebensächlichen Entdeckung verstehen wir nur, wenn wir uns klarmachen, wie eng die mittelalterliche Auslegung des ptolemäischen Weltbildes war. Sie besagte nämlich nicht einfach: Alle Himmelskörper kreisen um die Erde, sondern:
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Sie kreisen um die Erde und um nichts sonst. Nun sah Galilei aber vier Himmelskörper den Jupiter umlaufen: Monde, die heute Io, Europa, Ganymed und Kallisto heißen. Seine Beobachtungen, die er in einer Schrift mit dem Titel Sternenbote niederlegte, erregten einiges Aufsehen, aber noch nahm man die Sache nicht so ernst. Erst als 1632 sein Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme erschien, krachte es. Bei diesen Weltsystemen handelt es sich natürlich um das geozentrische von Ptolemäus und das heliozentrische von Kopernikus, dem unverkennbar auch Galilei anhing. Zwar hatte er die Druckerlaubnis der Kirche eingeholt; dazu hatte er den Text durch ein Vorwort einleiten müssen, in dem das neue Weltbild als Hypothese hingestellt wird, von der der Verfasser sehr wohl wisse, dass sie falsch sei. Und er musste ein Schlusswort anfügen, das den gesamten Gedankengang des Werkes durch den Hinweis auf die Macht Gottes außer Kraft setzt. Dabei unterlief ihm ein folgenschwerer Fauxpas: Aus der Antike hatte man die Mode übernommen, philosophische Argumentation in Dialoge zu kleiden, die alle nach demselben Muster gestrickt waren. Da gibt es den Wissenden, der, als Stimme des Verfassers, den größten Teil des Gespräches bestreitet und am Ende immer recht behält, und den anderen, der entweder nur als Stichwortgeber fungiert oder ausdrücklich den Gegenstandpunkt vertritt. Letzterer steht, wie Theaitetos bei Platon oder Simplicio bei Galilei, dem Wissenden als ausgemachter Trottel gegenüber und kann froh sein, dass er kaum zu Wort kommt, weil er sich sonst noch mehr blamieren würde. Nun war es ohnehin nicht zu vermeiden, dass Simplicio, dessen Name schon sagt, was der Verfasser über ihn dachte, die Position der Kirche vertritt. Folgerichtig legte Galilei auch das Schlusswort ihm in den Mund. Dass aber der dumme Simplicio ein Argument ausspricht, welches von Papst Urban VIII. allerhöchstpersönlich stammt, das war zu viel. Vielleicht wäre Galilei ohne dieses Malheur ungeschoren davongekommen,
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trotz seiner Ansichten und seiner, vornehm ausgedrückt: diplomatischen Schwächen. So aber wurde er als beinahe Siebzigjähriger nach Rom zitiert, musste widerrufen und bekam Hausarrest für den Rest seines Lebens. Der Dialog landete für zweihundert Jahre auf dem Index; Galilei selbst wurde gar erst 1992 von Papst Johannes Paul II. rehabilitiert. ∗∗∗∗∗ Wie schon die Philosophen der griechischen Antike, so waren auch jene der Renaissance Universalisten. Kopernikus verbrachte sein Leben als Geistlicher wie als Forscher. Kepler war Mathematiker, Astronom, Astrologe und Erfinder eines Fernrohres; auch er hatte Theologie studiert. Galilei begann als Arzt und führte die Pulsmessung mit Hilfe eines Pendels ein. Später erfand er den Proportionalzirkel, ein Thermometer und einen automatischen Tomatenpflücker. Kepler und Galilei standen zeitweilig in Briefkontakt. Immerhin arbeiteten sie an einem gemeinsamen Thema, und andere Möglichkeiten zum Gedankenaustausch hatte man kaum. Die ersten wissenschaftlichen Gesellschaften waren entstanden: in Florenz um 1470 die Academia Platonica, in Rom 1498 die Academia antiquaria und 1603 die Accademia dei Lincei, in Neapel 1560 die Academia Secretorum Naturae, in Paris 1635 die Académie française; sie verkehrten jedoch nur sporadisch miteinander. Wissenschaftliche Zeitschriften gab es nicht. Der Buchdruck war zwar erfunden, aber noch wenig etabliert, und was nicht als Buch erschien, konnte nur durch Briefe verbreitet werden. Dabei halfen Vermittler wie der Mathematiker und Theologe Marin Mersenne, der als „Generalsekretär des gelehrten Europas“ mit seinen zahlreichen Kontakten die Beförderung von Nachrichten unterstützte. Andererseits war es nicht ratsam, zu viel an Erkenntnissen zu verraten, da die schwer überschaubare Forschungslandschaft Plagiate begünstigte. Zwei Wege
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gab es, sich vor Diebstahl zu schützen und dennoch nachzuweisen, dass man einem Problem als Erster beigekommen war. Als die Mathematiker Fior und Tartaglia um die allgemeine Lösung der kubischen Gleichung wetteiferten, versandte jeder von ihnen Briefe, in denen er dazu aufforderte, ihm Gleichungen zu übermitteln, deren Lösungen er postwendend retournieren würde; so konnte er den Besitz des Verfahrens nachweisen, ohne es dabei preiszugeben. Die andere Möglichkeit, von der auch Galilei Gebrauch machte, war die verschlüsselte Botschaft, das Anagramm: „Ich habe beobachtet, dass der höchste Planet dreifach ist“, schrieb er so 1610 an Kepler, nachdem er mit seinem Teleskop zwei Ausbuchtungen am Saturn wahrgenommen hatte. Fünfzig Jahre später teilte der Holländer Huygens auf die gleiche Weise seine Entdeckung mit, dass es sich dabei um einen Ring handelt: „Er ist umgürtet von einem dünnen, flachen Ring, der ihn nirgends berührt und der zur Ekliptik geneigt ist.“ Hatte Galilei anfangs, wenn er sein Fernrohr vorführte, noch beteuern müssen, dass dem Auge des Betrachters keine Trugbilder der Apparatur erschienen, so war dieses Misstrauen alsbald einer Euphorie gewichen. 1616 stellte der Jesuitenpater Zucchius das erste Spiegelteleskop vor und legte damit den Grundstein zur modernen Beobachtungstechnik, da Spiegel größere Durchmesser erreichen können als Linsen und dadurch tiefere Blicke in den Weltraum gestatten. 1675 wurde das Royal Greenwich Observatory erbaut; es sollte über dreihundert Jahre lang bestehen. Indessen zogen weiterhin die Sterne ihre Bahn, unbeeindruckt von den Versuchen der Menschen, ihnen ihr Geheimnis zu entreißen. Mochte auch Huygens den Ring des Saturns gesehen haben, Galilei die Monde des Jupiters und die Milchstraße mit ihren Abermillionen von leuchtenden Punkten, de Brahe sogar einmal einen Stern, der aufgeglüht war wie die Sonne und dann verloschen – eine Ahnung von der Größe dessen, was er da erblickte, hatte keiner von ihnen.
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Die Frage, wie sich die Himmelskörper bewegen, schloss immer auch jene ein, warum sie sich bewegen. Im Altertum wusste man aus Erfahrung, dass ein Körper sich bewegt, wenn er fällt, gestoßen oder gezogen wird, und zum Stillstand kommt, sobald man ihn in Ruhe lässt. Wer aber glaubte wirklich, Planeten und Sterne würden fallen, gestoßen oder gezogen werden? Aristoteles’ Körper jenseits des Mondes waren zwar in Schalen von Äther gebettet, an deren Bewegung sie teilhaben mussten, aber warum bewegte sich der Äther? Warum bewegen sich Körper überhaupt? Aristoteles unterschied die himmlischen Körper von den irdischen. Beiden schrieb er eine natürliche Bewegung zu, die sie von selbst ausführen. Für die himmlischen Körper ist das die Kreisbewegung, weil sie die vollkommenste ist; sie bewegen sich also kraft ihrer Natur ewig in Kreisen. Jeder irdische Körper hingegen besitzt einen natürlichen Ort: „unten“, falls er „schwer“ ist, „oben“, falls er „leicht“ ist; diesem Ort strebt er zu. Schwere Körper fallen daher nach unten, leichte steigen nach oben. Sonstige Bewegungen können nur © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 W. Tschirk, Vom Universum, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9_2
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durch eine Kraft erzwungen werden, und dazu bedarf es eines Kontaktes. Sogar ein Pfeil, der nach dem Abschuss ohne sichtbaren Antrieb weiterfliegt, tut das nur, weil die Kraft des Bogens auch die Luft in Bewegung versetzt hat, die ihn in der Folge anschiebt. Der Körper ist dabei umso schneller, je höher die Kraft und je geringer der Widerstand des Mediums, durch den er sich bewegt. Doppelte Kraft führt zu doppelter Geschwindigkeit, halber Widerstand ebenso: Geschwindigkeit ist Kraft dividiert durch Widerstand. Ohne Widerstand wäre jeder Körper, auf den eine Kraft wirkt, unendlich schnell. Da es ein Unendliches nicht gibt, kann auch kein leerer Raum, kein Vakuum, existieren, denn in einem solchen würde jeglicher Widerstand fehlen. Keiner dieser Behauptungen können wir heute noch zustimmen. Warum eigentlich? Sie beschreiben doch genau das, was wir allseits wahrnehmen! Ein welkes Blatt, ein Fallschirmspringer, ein Stein, der in tiefes Wasser fällt: jedes sinkt mit einer Geschwindigkeit, die abhängt von der Kraft, die zieht, also seinem Gewicht, und dem Widerstand der Umgebung. Wir wissen aber: Auch die Bewegung ohne Widerstand könnte in der Natur vorkommen, ohne dass der Körper deswegen unendlich schnell wäre. Ein Vakuum ist daher aus dem Blickwinkel der Mechanik möglich, während es Aristoteles auf ein Paradoxon geführt hätte. An diesem Beispiel sehen wir übrigens, dass ein Paradoxon keine Unmöglichkeit beschreibt, sondern nur einen Widerspruch zwischen zwei Aussagen, die man beide glauben will. Seit Galilei kennen wir zudem die fortgesetzte Bewegung ohne Widerstand: Sie läuft von selbst ab und erfordert keine Kraft; Aristoteles wäre so etwas undenkbar erschienen. Wenn wir aus der Philosophie des Altertums die aristotelische Lehre hervorheben, so deshalb, weil sie die spätere Entwicklung der Physik beeinflusst hat wie keine andere dieser Epoche. Auf den Alltag der Antike hat Aristoteles vermutlich weniger gewirkt als andere, stärker am Praktischen
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Orientierte. Archimedes, der ein Jahrhundert später lebte, schrieb Über schwimmende Körper und entdeckte den Auftrieb in Flüssigkeiten, das älteste noch heute gültige physikalische Gesetz. Er untersuchte das Problem des Gleichgewichtes und fand das Hebelprinzip, demzufolge die Produkte aus Kraft und Kraftarm einer Waage im Gleichgewicht auf beiden Seiten gleich sind; im Zuge dessen verwendete er den Begriff des Schwerpunktes. Er baute ein vielbestauntes Planetarium: eine rotierende Halbkugel, die die Bewegungen des Mondes, der Sonne und der Planeten darzustellen vermochte, und erfand die archimedische Schraube, eine Vorrichtung zur Bewässerung von Feldern. Er berechnete Oberflächen und Rauminhalte geometrischer Körper und nahm dabei Aspekte der Integralrechnung vorweg. Zur gleichen Zeit verfasste Philon von Byzanz ein neunbändiges Werk Über die Mechanik, in dem er alle Bereiche der antiken Technik darlegte: Wurfgeräte, Wasserräder, Zaubergefäße, aus denen nach Wunsch verschiedene Flüssigkeiten flossen, einen Automaten für die Waschungen beim Betreten des Tempels sowie den Bauplan eines Puppentheaters. Ktesibios, der als Begründer der Pneumatik gilt, erfand eine Wasserpumpe, eine mit Druckluft betriebene Wasserorgel und eine Wasseruhr. Trotz aller Erfindungsgabe der Griechen und ihrer Liebe zur Mathematik blieb ihre Physik spekulativ und mündete zum Teil in Gesetze, die sich bei sorgfältiger Prüfung als unhaltbar erweisen. Das kann eine Reihe von Gründen haben. Vielleicht ist einer davon die Volkstümlichkeit der griechischen Philosophie: Sie war eine öffentliche Angelegenheit, und ihre Vordenker hielten sich an Gegenstände und Begriffe des Alltags. Abstraktes, erfahrungsfernes Denken entsprach nicht dem Naturell des Publikums, und für professorenhafte Unverständlichkeit, wie sie heutzutage nicht nur toleriert, sondern geradezu als Beweis tiefen Denkens gedeutet wird, wäre man gnadenlos ausgezischt wor-
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den. Dazu kam ein handfestes Misstrauen dem Experiment gegenüber. Kein Grieche hätte ernsthaft angenommen, dass ihm die Natur ihr wahres Gesicht zeigt, wenn er sie mutwillig auf die Probe stellt. Das physikalische Labor war daher unbekannt. Und nicht zuletzt fehlte der Glaube an Naturgesetze, denen sich alles bis hin zum Nebensächlichsten unterwirft. Denn wenn es regnete, dann nicht wegen einer bestimmten Konstellation von Feuchtigkeit, Druck und Temperatur, sondern weil die Götter es so wollten; aber die Götter der Griechen waren launisch, hinterhältig und häufig untereinander zerstritten und konnten heute so und morgen anders entscheiden. Lässt man das bisher Gesagte Revue passieren, so erheben sich Zweifel, ob die antike Philosophie wirklich die legitime Vorläuferin der neuzeitlichen Physik ist, als die sie meist gesehen wird, oder ob sie nicht vielmehr Letzterer im Wege stand. Immerhin hatte die Renaissance enorme Aufräumarbeit zu leisten. Doch um gerecht zu sein: Man kann es Aristoteles schwerlich anlasten, dass nach mehr als tausend Jahren über seinem Namen ein dogmatisches Schema errichtet und mit Zähnen und Klauen verteidigt wurde. Auch hat sich die antike Wissenschaft nicht ausgesucht, welchen ihrer Ideen die Nachwelt den Vorzug geben würde. Die Wahl hätte auch auf Aristarchos und seinen heliozentrischen Kosmos fallen können anstatt auf Ptolemäus. Man hätte die Mechanik des Spätgriechen Philoponos vorziehen können, dessen Begriff des Impetus dem newtonschen Impulsbegriff entspricht; der in seinen Bewegungsgesetzen nicht mehr zwischen den Körpern des Himmels und der Erde unterschied, und der die Geschwindigkeit von der Differenz zwischen Kraft und Widerstand abhängig machte anstatt von deren Quotienten, was einen Fehler weniger enthält. Man hätte auch nur die praktischen Resultate übernehmen und das metaphysische Beiwerk beiseite lassen können. Doch dann wäre zweierlei verloren gegangen, ohne das sich die moderne
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Wissenschaft nicht denken lässt: die Hypothese der realen Außenwelt und der Glaube an deren Verständlichkeit. Es ist gar nicht so klar, dass es eine „Außenwelt“ gibt. Genau genommen kann ein Mensch nur seine Empfindungen feststellen und daraus schließen, dass er selber existiert: Das ist Descartes’ „Cogito, ergo sum“. Woher diese Empfindungen stammen, was sie verursacht, das können wir nur vermuten. Wir können an Bäume glauben und an die Sonne, weil unsere Eindrücke schwer zu erklären wären, würde „da draußen“ nichts sein. Aber schließlich sehen wir auch im Traum Dinge, die es nicht gibt. Wir können also auch glauben, dass nichts existiert als unsere Gedanken. Dieser Streit ist so alt wie die Menschheit, und wir werden ihn hier nicht entscheiden. Wir können aber sagen: Ohne die Vorstellung, es gäbe eine reale Außenwelt, hätte Physik nicht viel Sinn; und diese Vorstellung ist ein Erbe der griechischen Naturwissenschaft. Verwechseln wir die These nicht mit der Behauptung, wir würden die Außenwelt erkennen, wie sie ist. Laut Platon „liegt wirkliche Erkenntnis nicht in den Dingen“; aber zumindest gibt es diese Dinge. Platon hält sie allerdings für sekundär, denn das Primäre sind für ihn die Ideen, worunter er die Idealvorstellung eines jeden Dinges versteht. Viel später hat man den Begriff der Idee umgedeutet – Platon konnte sich ja nicht mehr wehren – und daraus jenen der mathematischen Idee oder des mathematischen Gesetzes gemacht. Wenn hinter den Erscheinungen mathematische Gesetze stehen, dann muss eine Ordnung walten und unserem Geist zugänglich sein, allen griechischen Göttern zum Trotz. Zusammengefasst: Es gibt eine reale Außenwelt, und wir können sie verstehen. Auf diesem Fundament ruht die Physik der Neuzeit. ∗∗∗∗∗
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Schwere Körper fallen schneller als leichte, da auf sie eine größere Kraft wirkt, so lautete ein unumstößliches Gesetz. Galilei brachte es mit einem Gedankenexperiment zu Fall, und das ging so: Lassen wir eine schwere und eine leichte Kugel zugleich fallen, wird nach dem Gesetz die schwere der leichten vorauseilen. Verbinden wir die beiden Kugeln mit einer Leine und lassen wir sie erneut fallen. Nun bilden sie zusammen einen Körper, der noch schwerer ist. Wird dieses Gebilde wirklich schneller fallen als die beiden einzelnen Kugeln zuvor? Das anzunehmen schien absurd. Natürlich war diese Überlegung kein Beweis; aber sie bot einen guten Grund zum Zweifeln und wies den richtigen Weg. Galilei jedenfalls zog den Schluss, dass alle Körper gleich schnell fallen, genauer gesagt: im Vakuum gleich schnell fallen. Nun kann man über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vakuums denken, wie man will; sicher ist, dass Galilei nie eines beobachten konnte. Wie kam er dann aber zu seiner Vermutung? Indem er den Vorgang des Fallens, ja, den der Bewegung überhaupt, gedanklich von dem des Aufgehaltenwerdens durch das umgebende Medium trennte. Die so erhaltene Bewegung war gar keine reale, sondern eine abstrakte oder, um mit Platon zu sprechen, die Idee der Bewegung. Abstrahieren heißt: in Gedanken alles weglassen, was nicht zum betrachteten Gegenstand gehört. Dabei das Richtige zu treffen, ist nicht immer leicht. So spielt es zwar bei der Untersuchung des freien Falles keine Rolle, ob der fallende Körper rot ist oder blau, kalt oder warm, elastisch oder plastisch; will man aber wissen, was geschieht, wenn er auf dem Boden aufschlägt, so ist die letztgenannte Alternative gerade die, auf die es ankommt. Mit Galilei begann die quantitative Physik. Auch Archimedes hatte messen und rechnen müssen, um zu seinen Gesetzen zu kommen – nun aber wurde alles gemessen und berechnet. Ein physikalisches Gesetz konnte nicht nur, es musste mathematische Form besitzen. Wer Bewegungen
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bestimmte, maß Orte und Zeiten. Die damaligen Uhren waren jedoch nicht geeignet, die kurzen Zeiten des freien Falles zu messen. Deshalb verfiel Galilei auf die Idee, Kugeln nicht frei fallen, sondern eine schiefe Ebene hinabrollen zu lassen. Er ging davon aus, dass das den Vorgang zwar verlangsamen, seinen Charakter aber nicht verändern würde, und hatte Glück mit dieser Annahme. Er stellte fest, dass die Kugeln in gleichen Zeitabschnitten gleiche Geschwindigkeitszunahmen erfahren, dass also, wie wir heute sagen, die Beschleunigung konstant ist. Dementsprechend ist die Geschwindigkeit proportional zur Zeit und der zurückgelegte Weg proportional zum Quadrat der Zeit, woraus folgt, dass ein geworfener Gegenstand eine Parabel beschreibt. Solche Gesetze ergeben sich nicht von selbst aus den Messwerten, sie müssen vielmehr hineinerfunden werden. Galilei hat auch gar nicht versucht, seine Gleichungen den Daten zu entnehmen, sondern sie probeweise aufgestellt, um dann im Experiment zu überpüfen, ob sie stimmen können. In der Tat ist das der einzig mögliche Weg zu einem empirischen Gesetz, wobei nicht jeder so weit geht wie der Mathematiker Gauß, der einmal gesagt haben soll: „Alle Formeln und Resultate sind fertig, nur den Weg muss ich noch finden, auf dem ich zu ihnen gelangen werde.“ Galilei sah nicht nur, dass ein Körper, der keinen Widerstand verspürt, unter der Einwirkung einer Kraft immer schneller wird, sondern auch, dass er Richtung und Geschwindigkeit beibehält, wenn keine Kraft auf ihn wirkt. Bis dahin war man überzeugt gewesen, er würde zur Ruhe kommen. Jeder Körper widersetzt sich also einer Änderung seiner Bewegung – und nicht, wie angenommen, einer Änderung seines Ortes. Das ist Galileis Trägheitsprinzip; unter der Trägheitsbewegung verstand er das Kreisen um den Erdmittelpunkt. Von ebenso großer Bedeutung ist sein Relativitätsprinzip, welches besagt, man könne durch kein Experiment herausfinden, ob man sich in einem ruhenden Zimmer
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befindet oder in der Kabine eines mit konstanter Geschwindigkeit fahrenden Schiffes, da sämtliche Gesetze, die in ruhenden Systemen gelten, auch in gleichförmig bewegten Systemen zutreffen. Ein in der Kabine fallengelassener Gegenstand trifft daher den Punkt am Boden, über dem er vor dem Loslassen hing. Nach Aristoteles müsste er hinter der Bewegung des Schiffes zurückbleiben und weiter hinten auftreffen. Erinnern wir uns daran, dass Ptolemäus mit genau diesem Argument die Bewegung der Erde bestritten hatte. War aber Galilei mit seinem Relativitätsprinzip im Recht, dann konnte sich die Erde bewegen, so schnell sie wollte, ohne dass man es auf ihr merkte. 1638, fünf Jahre nach der Verurteilung durch die Inquisition, veröffentlichte er seine Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenschaften. Da ihm verboten worden war zu publizieren, musste das Buch im Ausland erscheinen. Eine der beiden neuen Wissenschaften ist die soeben besprochene Kinematik. Die andere handelt von Materialfestigkeit und Vakuum und umfasst neben der Theorie auch Praktisches wie den Bau von Pumpen. Galileis Unterredungen zogen zwar nicht solchen Aufruhr nach sich wie seine Schrift über die beiden Weltsysteme, für die Naturwissenschaft waren sie aber ebenso bedeutend. Die Bezeichnung „Nuova scienza“ stand in der Folgezeit synonym für die Physik, wie man sie nunmehr verstand. Neu waren nämlich nicht nur Galileis Ergebnisse, sondern auch seine Methoden. Wenngleich er nicht alle beschriebenen Versuche tatsächlich ausgeführt hat – hin und wieder berichtete er von Resultaten, die gar nicht möglich sind –, legte er doch zumeist Wert darauf, dass seine Hypothesen die experimentelle Prüfung bestanden. Er hielt sich durchgehend an die mathematische Form der Darstellung, weil er überzeugt war, das Buch der Natur sei „in der Sprache der Mathematik geschrieben“. Seinen Stil kennzeichnet auch,
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dass er nicht nur, wie damals üblich, in Latein schrieb, sondern oft in lingua volgare, Italienisch. Galilei hat weniger über seine Verfahrensweise gesprochen als vielmehr nach ihr gehandelt. Das Gegenteil lässt sich von seinen Zeitgenossen Bacon und Descartes sagen. Gern werden die induktive Methode, also das Ableiten allgemeiner Gesetze aus Einzelbeobachtungen, und die Hinwendung zum Experiment Francis Bacon zugeschrieben, der kein Physiker war, sondern ein englischer Staatsmann und Philosoph. Mit seinen „Plus-Minus-Tabellen“ systematisierte er den Vorgang des Experimentierens und Vergleichens, indem er beispielsweise festzuhalten empfahl, welche Erscheinungen immer dann auftreten, wenn Wärme vorhanden ist, und andernfalls fehlen. So sollten sich Erkenntnisse erster Stufe erzielen lassen, deren Kombination sollte Erkenntnisse zweiter Stufe bringen und so weiter. Dieses Krämerdenken, das zu keinem einzigen brauchbaren Ergebnis geführt hat, brachte Bacon den Ruf eines Erneuerers der Naturwissenschaft; allerdings nur unter Leuten, die ihr ahnungslos gegenüberstehen, von ihren Aufgaben und Ergebnissen nichts wissen und zudem weder die Rolle des Schöpferischen noch jene der Mathematik begriffen haben. Andererseits vertrat Bacon die höchst sympathische Meinung, die Wissenschaft sei dazu da, das Wohlergehen der Menschen zu fördern: „Knowledge is power over nature for the benefit of mankind.“ Leider ist er ausgerechnet damit durchgefallen, und die ersten drei Worte seines Mottos – „Wissen ist Macht“ – geraten, sinnentfremdet interpretiert, zunehmend in Verruf. Es gehört heute zum Ehrenkodex der Wissenschaftler, und hier insbesondere der Physiker, dass ihre Tätigkeit ausschließlich auf Erkenntnisgewinn gerichtet und im übrigen zweckfrei sei. Selbst wenn man die Ethik außer Acht lässt, ist dieser Standpunkt fragwürdig. Den wissenschaftlichen Wert einer Arbeit kann man nämlich nicht nach ihrem Zweck beurteilen; wissenschaftliche Arbeit wird nicht dadurch schlechter, dass sie überhaupt
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einen Zweck hat, und nicht dadurch besser, dass sie zu nichts nütze sein soll. Den Gegenpol zu Bacon bildete René Descartes. Sein Ziel war ein Verfahren zum Auffinden sicherer Wahrheit. Deshalb setzte er an die Stelle der Induktion deren Umkehrung, die Deduktion, also den logischen Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere. Während jedoch in der Mathematik, die Descartes hier als Vorbild diente, die Prämissen logischer Schlüsse in Form von freien Annahmen vorliegen, ist das in den Erfahrungswissenschaften anders. Dort sind selbst die Prämissen nur erfahrbar, und so musste das cartesische System das gleiche Schicksal erleiden wie das aristotelische, weil es an der gleichen Stelle krankte. Descartes’ Bedürfnis nach Sicherheit der Erkenntnisse stand ein auffälliger Hang zur Verwendung mystischer Begriffe gegenüber. Er „bewies“ die Existenz Gottes durch die Überlegung, dass ein unvollkommener Geist wie der seine niemals die Idee vom vollkommenen Wesen, die er in sich fühlte, hervorbringen hätte können, wenn ein solches nicht wirklich existierte. Seine die Physik betreffenden Argumente waren von ähnlicher Art, und daher überrascht es nicht, dass sie ihn zumeist in die Irre führten. In seinen naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen finden sich teils richtige, teils falsche Stoßgesetze, eine Kosmologie, in der die Himmelskörper in wirbelförmigen Strömungen eines feinen Stoffes treiben, aber auch ein Trägheitsgesetz, das über jenes von Galilei hinausgeht, weil es die Trägheitsbewegung bereits als geradlinig ansieht. Descartes war so überzeugt von der Kraft des Verstandes, dass „selbst, wenn die Erfahrung das Gegenteil zu beweisen schiene, wir eher unserer Vernunft als unseren Sinnen Glauben schenken müssten.“ Ein Mitstreiter fand sich eine Generation später in dem Philosophen Spinoza, der, zutiefst beeindruckt von der Strenge der euklidischen Geometrie, sogar seine Ethik „more geometrico“ formulierte.
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Die deduktive Methode wäre als alleiniges Instrument der Naturwissenschaft untauglich; sie kann unser Wissen niemals erweitern, weil die Konklusion bereits in den Prämissen enthalten sein muss. Wir müssen bereits wissen, dass alle Raben schwarz sind, um folgern zu können, dass das auch für einen bestimmten Raben gilt. Aus diesem Grund gehen alle Erfahrungswissenschaften induktiv vor und nehmen den Verlust an Gewissheit in Kauf, den die mögliche Erweiterung des Wissens mit sich bringt. Wir können nämlich noch so viele schwarze und nur schwarze Raben beobachten – nie werden wir sicher sein, dass wirklich alle Raben schwarz sind. Wenn wir uns dennoch erlauben, aus einzelnen Beobachtungen allgemeine Gesetze abzuleiten, haben wir immer vor Augen, dass diese vorläufig sind und jederzeit durch die Erfahrung widerlegt werden können: Vielleicht begegnet uns eines Tages doch ein weißer Rabe. Gerade dieses Bewusstsein ist es, das im Regelfall den neuzeitlichen Physiker von dem des Altertums unterscheidet. Denn unser Glaube an unwandelbare Gesetze beinhaltet nicht seinen Glauben an unwandelbare Erkenntnis. Damit wir allerdings durch Beobachten der Natur etwas über sie lernen können, muss es in ihr eine Ordnung geben. Wir haben also mit Grund festgestellt: Auf den Glauben an eine Ordnung in der Welt ist die Physik angewiesen. ∗∗∗∗∗ Galileis Gesetze, nach denen Körper sich im kräftefreien Raum oder unter dem Einfluss einer konstanten Kraft bewegen, lassen die Frage nach dem Ursprung der Kraft unberührt. Der Engländer Robert Hooke war 1677 der Erste, dem eine Anziehung zwischen Körpern vorschwebte, die in Richtung ihrer Verbindungslinie wirken und mit dem Quadrat ihres Abstandes abnehmen sollte. Damit hatte er erstens recht und legte zweitens den Grundstein zu einem lebens-
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langen Prioritätsstreit mit Isaac Newton. Newton stritt sich mit Hooke auch noch über das Erstrecht an der Idee, Bahnen in radiale und tangentiale Komponenten zu zerlegen, mit dem Astronomen Flamsteed über Monddaten und später besonders heftig mit Gottfried Wilhelm Leibniz, einem deutschen Universalgelehrten, da beide die Erfindung der Infinitesimalrechnung für sich beanspruchten. Dabei hatten lediglich mehrere zur gleichen Zeit das Gleiche entdeckt, das überdies schon in der Luft gelegen war. Zum Beispiel kann man Galileis Bewegungsgleichungen nur mit Hilfe einer Differential- und Integralmethode exakt lösen. Newton entwickelte um 1665 ein solches Verfahren, Leibniz gelang das einige Jahre danach. Die heute gebräuchliche Variante geht auf die leibnizsche zurück; sie ist der newtonschen mathematisch gleichwertig, jedoch bequemer handzuhaben. Newton betrachtete die neue Mathematik nur als ein Hilfsmittel; worauf es ankam, das waren in erster Linie die Gesetze der Bewegung. Er übernahm Galileis Trägheitsprinzip, legte aber als Trägheitsbewegung ausdrücklich die geradlinige fest, und machte es zum ersten Axiom seiner Mechanik. Er fand heraus, dass die Änderung der Bewegung eines Körpers proportional zur einwirkenden Kraft ist und in deren Richtung erfolgt, wobei er unter Bewegung das Produkt aus Geschwindigkeit und Masse verstand, also den Impuls. Wir sprechen dieses zweite Axiom heute aus als: Kraft ist Masse mal Beschleunigung. Und schließlich setzte er als drittes Axiom, dass die Wirkungen zweier Körper aufeinander stets gleich groß und gegeneinander gerichtet sind. Was die Anziehungskraft zwischen den Körpern, die Gravitation, betrifft, so beließ es Newton nicht bei der bloßen Vermutung des invers quadratischen Abstandsgesetzes. Als der Astronom Halley die Frage aufwarf, was wohl die Bahn eines Körpers wäre, der einen festen Punkt umlaufen und von diesem angezogen würde, wobei die Kraft mit dem Quadrat des Abstandes sinken sollte, holte Newton seine Berechnungen
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aus der Lade: eine Ellipse. Und in der Tat fügten sich hier zwei Elemente zusammen, die unabhängig voneinander im Abstand von siebzig Jahren gefunden worden waren: die keplerschen Planetenbahnen und das newtonsche Kraftgesetz. Denn auch Keplers zweites und drittes Gesetz, den Flächensatz und die Beziehung zwischen Entfernung und Umlaufzeit, konnte Newton aus derselben Prämisse ableiten. Er nahm weiters an, die Gravitationskraft zwischen zwei Körpern sei proportional zur Masse eines jeden der beiden, und auch das bestätigte sich. Er stellte die praktisch bedeutsame Tatsache fest, dass kugelsymmetrische Körper nach außen wirken, als wäre ihre Masse im Schwerpunkt konzentriert; so kann man jeden solchen Körper als Punkt auffassen, was viel einfacher ist, als seine Ausdehnung zu berücksichtigen. Der Beweis dieses letzten Satzes war ein mathematisches Glanzstück, da er die damals unerhörte Berechnung eines dreifachen Integrals erfordert. Damit verfügte man zum ersten Mal über eine Mechanik, in der für alle Körper, himmlische wie irdische, ein und dieselben Gesetze gelten. Newton legte sie 1687 in seinem Hauptwerk Philosophiae naturalis principia mathematica dar, den mathematischen Prinzipien der Naturlehre, begleitet von Abhandlungen über die Bewegung gegen Widerstand leistende Medien, über Wellen in Luft und Wasser sowie über die zum Verständnis notwendige Arithmetik und Geometrie. Obgleich die Principia voll sind von schwierigen Gedankengängen und komplizierter Mathematik und daher selbst für Fachleute kaum lesbar, entfalteten sie außerordentliche Wirkung. Das lag an drei Dingen: ihrer Erklärungskraft, der Einfachheit ihrer Grundannahmen und ihrer Verbreitung in populärer Form. Alle bekannten Bewegungen freier Körper konnten mit noch nie dagewesener Präzision aus ihnen abgeleitet werden. Die Axiome waren simpel und in wenigen Worten und kompakten Gleichungen mitteilbar. Ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen der Principia
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gaben Voltaire und Émilie du Châtelet die Elemente der Philosophie Newtons heraus, eine leicht verständliche Darstellung, und entfachten damit in Paris einen Sturm der Begeisterung. Ein Graf Algarotti verfasste Il Newtonianismo per le dame, dessen Übersetzung ins Deutsche den Titel Newtons Welt-Wissenschaft für das Frauenzimmer erhielt. Neben den Principia verarbeitete Algarotti hierin auch das Spätwerk Newtons über das Licht und die Farben, was ihm unter anderem erlaubte, Ratschläge für das Schminken bei Tages- und Kerzenlicht anzubringen. So viele Antworten Newtons Theorie lieferte, so viele Fragen warf sie auf. Da gab es zunächst die mysteriöse Gravitation; sie sollte die Physik noch jahrhundertelang beschäftigen. Erstmals war das Prinzip der Fernkraft aufgetaucht, einer Kraft, die über Entfernungen wirkt, ohne Berührung, ja sogar ohne vermittelnden Stoff zwischen den Körpern. Sie war auch Newton selbst ein Rätsel: „Ich habe noch nicht dahin gelangen können, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaft der Schwere abzuleiten, und Hypothesen erdenke ich nicht.“ Das ist Newtons berühmtes „Hypotheses non fingo“, welches nicht besagt, dass er überhaupt keine Hypothesen aufstellen würde. Es bringt vielmehr, wie der Zusammenhang zeigt, zum Ausdruck, er erdenke keine Hypothesen, die nicht aus den Erscheinungen folgen. Aristoteles’ vollkommene Bewegung, Keplers magnetische Kräfte, Descartes’ Wirbel – das alles sind in Newtons Sinn Hypothesen, die nicht aus den Erscheinungen folgen, im Gegensatz beispielsweise zum Abstandsgesetz. Hier fühlen wir die Unmöglichkeit, Erfahrungstatsachen von Grund auf zu erklären. Denn gesetzt den Fall, es gäbe eine Erklärung für die Gravitation: Wie müsste diese beschaffen sein, damit sie nicht selbst wieder erklärt werden muss? Von Aristoteles über Descartes bis in unsere Tage: Noch nie ist es gelungen, die Naturerscheinungen auf erste Gründe zurückzuführen, die keiner Erklärung mehr bedürften. Es sei den Philosophen
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unbenommen, weiter nach ersten Gründen zu suchen. Der Physiker hingegen versteht unter der Erklärung einer Sache lediglich den Nachweis, dass sie aus denkbaren Voraussetzungen folgt. Die nächste Schwierigkeit war, dass das Trägheitsgesetz, mit dem Newtons Dynamik steht und fällt, nur unter speziellen Umständen gilt. Es besagt, dass ein sich selbst überlassener Körper entweder ruht oder geradlinig und gleichförmig weiterfliegt. In einem beschleunigten System ist das aber offenbar nicht der Fall, denn dort würde ein kräftefreier Körper die Beschleunigung nicht mitmachen. In einem sich drehenden System würde er hinter der Drehung zurückbleiben. Das Trägheitsgesetz gilt also nur in Systemen, die nicht rotieren oder sonstwie beschleunigt sind. Solche Systeme nennen wir Inertialsysteme, und nur in ihnen gelten die newtonschen Gleichungen. Man kann nun sagen: Ein System dreht sich relativ zu einem anderen, oder es tut das nicht. Um aber in einem absoluten Sinn sagen zu können, ein System drehe sich oder nicht, braucht man einen absoluten Raum als Bezug. Inertialsysteme sind dann solche, die im absoluten Raum ruhen oder sich dort geradlinig und gleichförmig bewegen. Zudem kommt in Newtons Gleichungen nur eine einzige Zeit vor, die überall und für alle Körper gleich, das heißt: absolut ist. Raum und Zeit müssen also von den Dingen unabhängig sein. Ein drittes Problem war die Masse. Genau genommen handelt es sich hier nicht um eine Eigenschaft, sondern um zwei, die in rätselhafter Weise verbunden sind. Einerseits ist die Masse jene Eigenschaft, durch die sich ein Körper der Bewegungsänderung widersetzt. Kraft ist Masse mal Beschleunigung schließt ja ein, dass für die gleiche Beschleunigung umso mehr Kraft nötig ist, je mehr Masse der Körper hat. Bezeichnen wir diese Eigenschaft daher als träge Masse. Andererseits gibt es eine schwere Masse, die dem Körper sein Gewicht verleiht. Und obwohl in Newtons System Trägheit
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und Schwerkraft nichts miteinander zu tun haben, erwiesen sich träge und schwere Masse eines Körpers stets als proportional zueinander, weshalb Newton sie durch geeignete Wahl des Proportionalitätsfaktors gleichsetzte und als eine einzige Eigenschaft behandelte. Abgesehen von diesen Grundlagenfragen war Newtons Lehre so schlüssig und überzeugend, dass sie inhaltlich wie methodisch die Richtung der Naturwissenschaft und auch des philosophischen Denkens vorgab. Der absolute Raum und die absolute Zeit erschienen Kant selbstverständlich; er zählte sie daher nicht zu den Erfahrungstatsachen, sondern zu den vor jeglicher Erfahrung vorhandenen Vorstellungen, ohne die gar keine Erfahrung möglich wäre. Eine Zeit lang hatte jede wissenschaftliche Abhandlung auszusehen wie das newtonsche Beispiel, und die Hoffnung, alle Erscheinungen der Natur würden sich auf mechanische Gesetze zurückführen lassen, hatte neue Nahrung erhalten. Dabei war Newton keineswegs ein so rationaler Geist, wie es seine zitierten Arbeiten vermuten lassen. So glaubte er, im Widerspruch zu seiner Ablehnung unbegründeter Hypothesen, dass die Ordnung des Universums „nur dem Ratschluss und der Herrschaft eines alles einsehenden und allmächtigen Wesens“ entspringen konnte und „eine geistige Substanz alle festen Körper durchdringt und in ihnen enthalten ist.“ Er weigerte sich manchmal jahrzehntelang, eine Entdeckung zu publizieren, und konnte es dann nicht ertragen, wenn ihm ein anderer zuvorkam. Zeit seines Lebens genoss er höchstes Ansehen. Bereits als Dreißigjähriger wurde er Mitglied der 1660 ins Leben gerufenen Londoner Royal Society und später deren Präsident. Die von der Royal Society herausgegebenen Philosophical Transactions, eine der ersten wissenschaftlichen Zeitschriften, avancierten zum bedeutendsten englischen Fachmagazin. In Paris gründete man 1666 die Académie royale des sciences, in Berlin 1700 die spätere Preußische Aka-
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demie der Wissenschaften, in weiterer Folge Gesellschaften in St. Petersburg, Stockholm, Edinburgh und Leipzig und 1845 die Physikalische Gesellschaft zu Berlin. Die erste namhafte deutsche Zeitschrift waren die ab 1799 edierten Annalen der Physik, die, bedingt durch den Aufstieg der deutschen Naturwissenschaft im neunzehnten Jahrhundert, lange als weltweit führendes Blatt galten. In England gab es die Annals of Philosophy und das interdisziplinäre Periodikum Nature, in Frankreich die Annales de chimie et de physique, das Journal de physique und die Comptes rendus, in Italien das Giornale arcadico di Scienze. Die Aufsätze darin trugen noch lange den Charakter von Briefen. So fielen beispielsweise in den Annalen der Physik erst um 1825 Anrede und Schlussfloskel weg. In der populären Literatur ist die Große Französische Enzyklopädie hervorzuheben, ein ursprünglich auf acht Bände angelegtes Werk, das von 1751 an erschien, immer umfangreicher, kunstvoller und luxuriöser wurde und bei seiner Fertigstellung im Jahr 1772 fünfunddreißig Bände umfasste. Mitbegründer und Herausgeber war der Philosoph Denis Diderot, unter den Mitarbeitern finden wir Voltaire und Rousseau, den Historiker und Staatstheoretiker Montesquieu und den Mathematiker d’Alembert, der auch das Vorwort verfasste. Etwa viertausend Abonnenten konnten und wollten sich die Enzyklopädie leisten. Beim Adel und im gehobenen Bürgertum war sie überaus beliebt, obwohl – oder möglicherweise: weil – ihre Autoren von Anfang an gegen staatliche und kirchliche Zensur zu kämpfen hatten. In den Salons las man aus ihr, und es galt als „malfaçon“, sie nicht zitieren zu können. Newton hatte die Dynamik der Massepunkte zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. Daneben gab es noch eine Reihe anderer Aspekte der Mechanik, wie die Theorien der starren und der deformierbaren Körper, der Gase und Flüssigkeiten sowie der mechanischen Schwingungen und Wellen. Sie alle wurden im achtzehnten und neunzehn-
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ten Jahrhundert in Angriff genommen, wobei man von der zunehmend leistungsfähigeren Mathematik profitierte. Napier hatte 1614 die ersten Logarithmentafeln veröffentlicht, Descartes und Fermat um 1635 den Grundstein zur analytischen Geometrie gelegt, und Leibniz und Newton, wie schon erwähnt, die Infinitesimalrechnung beigesteuert. Euler und Gauß entwickelten die komplexen Zahlen, Fourier die trigonometrischen Reihen, und Euler, Lagrange und die Brüder Bernoulli die Variationsrechnung. Den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichte die Mechanik im neunzehnten Jahrhundert mit den Arbeiten des Iren William Rowan Hamilton. Er benutzte zur Darstellung eines Systems von Körpern den Konfigurationsraum: einen abstrakten Raum mit so vielen Dimensionen, wie man Zahlen benötigt, um die Anordnung aller Körper festzulegen. Die Koordinaten des Konfigurationsraumes werden zur Aufgabe passend gewählt. So ist die Konfiguration eines starren Pendels, nimmt man Drehpunkt und Länge als gegeben hin, allein durch den Auslenkungswinkel bestimmt, da alles Weitere aus der Geometrie folgt; der Konfigurationsraum hat in diesem Fall nur eine Dimension. Bei komplizierteren Systemen besitzt er entsprechend mehr, doch stets wird der gesamte Systemzustand durch einen einzigen Punkt in ihm repräsentiert. Ändert sich der Zustand, so wandert der Punkt – das System beschreibt eine Bahn im Konfigurationsraum. Hamilton bewies, dass Systeme ohne Reibungskräfte nur solche Bahnen beschreiben, bei denen eine bestimmte Funktion der Koordinaten entweder ein Minimum oder ein Maximum annimmt. Dieses knappe Prinzip erlaubt die Lösung verschiedenster Probleme unter einem einheitlichen Formalismus von bestechender Eleganz. Darüber hinaus rückte das Ziel, die Physik aus wenigen Grundannahmen abzuleiten, erneut näher. Spätere Generationen sollten das HamiltonPrinzip in scheinbar so fernen Gebieten wie dem Elektromagnetismus und der Quantenphysik wiederfinden.
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Wie sehr die antike Wissenschaft den Menschen in den Mittelpunkt stellte, erkennen wir an ihrer Theorie des Sehens. Nicht die Gegenstände senden ihr Licht aus, sondern der Mensch „wirft ein Auge auf sie“, indem er ihnen Sehstrahlen entgegenschickt. Nach den Vorstellungen der Pythagoräer entspringen diese Strahlen dem Auge, erstrecken sich in gerader Linie und werden von den Gegenständen reflektiert. Die älteste uns bekannte Abhandlung über die Optik, um 300 vor Christus, verdanken wir Euklid, der die geometrischen Aspekte einschließlich der Perspektive in den Vordergrund hob. Aristoteles, für den es bekanntlich keinen leeren Raum gab, vermutete ein Medium zwischen Auge und Objekt, „das Durchsichtige“, welches die Strahlen zu leiten imstande ist. Wo es fehlt, herrscht Dunkelheit. Farben verändern das Durchsichtige und lassen es in unterschiedlicher Weise auf das Auge wirken, farblose Gegenstände sind für den Menschen unsichtbar. Den Sonnenstrahlen schrieb man unterstützende Wirkung zu, um die Tatsache zu begründen, dass man nachts schlechter sieht. Im zweiten © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 W. Tschirk, Vom Universum, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9_3
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nachchristlichen Jahrhundert entdeckte Heron die unendlich schnelle Ausbreitung der Sehstrahlen: Hebt man des Nachts den Kopf zum Himmel und öffnet dann die Augen, so nimmt man die Sterne augenblicklich wahr, obwohl die Strahlen erst den weiten Weg hin und zurück durchlaufen müssen. Er untersuchte die Reflexion mit Hilfe von Spiegeln, und Ptolemäus beschrieb die Brechung, also die Ablenkung der Strahlen beim Übergang zwischen Luft und Wasser oder Glas. Parallel zur Strahlentheorie hielt sich eine Zeit lang die Ansicht der Stoiker, derzufolge die Seele, die aus „Pneuma“ besteht, ein „Sehpneuma“ abgibt, das in der Pupille Wellen hervorruft. Diese breiten sich aus, werden vom Objekt zum Auge zurückgeworfen und erzeugen dort einen Druck, der die Wahrnehmung auslöst. Empedokles wiederum gab an, von den Gegenständen würden feine Teilchen ausströmen und den Lichteindruck bewirken. Kepler beschäftigte sich, als er sein Fernrohr entwickelte, mit der Lichtbrechung und der Theorie des Sehens. Galilei versuchte die Lichtgeschwindigkeit zu messen, blieb aber erfolglos, da er auf ihre Größe nicht gefasst war und daher über viel zu kurze Distanzen maß. Descartes erklärte, die Lichtempfindung sei dem Druck feiner wirbelnder Teilchen zuzuschreiben. 1664 hielt der Chemiker Robert Boyle fest, Licht bestehe aus kleinen Kugeln, den „globuli“, die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten das Auge treffen und uns so die Farben sehen lassen. Soweit diese frühen Beschreibungen das bloße Aufzählen von Fakten überstiegen, basierten sie auf Ad-hocHypothesen, die jeweils nur einen Teil der Erscheinungen zum Gegenstand hatten. Die erste vollständige Theorie des Lichtes entwickelte Christiaan Huygens, von dem schon als Entdecker des Saturnringes die Rede war. Huygens war selbst für barocke Verhältnisse ein Universalgenie. Mit zweiundzwanzig schrieb er eine Abhandlung über die Bestimmung der Kegelschnittflächen, drei Jahre später gab er den damals
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genauesten Wert für die Zahl π an. Er lieferte Beiträge zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, entwarf Linsen, baute Fernrohre und eine Pendeluhr, nahm astronomische Beobachtungen vor, erkundete Stoß, Pendel und Fliehkraft und war maßgeblich an der Organisation der Académie royale des sciences beteiligt. In seinem Nachlass fand man das Manuskript eines Science-fiction-Romans und die Skizze eines Verbrennungsmotors – nicht schlecht für einen, der eigentlich die Rechtswissenschaften studiert hatte. Am engsten verbunden ist Huygens’ Name mit der Wellentheorie des Lichtes. Von ihm stammt die noch heute verwendete Darstellung, wonach jedem Punkt einer Wellenfront eine Kugelwelle entspringt und die gemeinsame Einhüllende der Kugelwellen eine neue Wellenfront bildet. Mit einer so konstruierten Welle konnte er sowohl die geradlinige Ausbreitung des Lichtes als auch das Reflexionsgesetz, demzufolge Einund Ausfallswinkel gleich sind, auf rein geometrischem Wege erklären. Er fügte die Annahme hinzu, Licht pflanze sich in verschiedenen Stoffen verschieden schnell fort – wofür es zu jener Zeit nicht den geringsten experimentellen Hinweis gab –, und erklärte damit die Lichtbrechung: Denn schneidet eine Wellenfront die Grenzfläche zwischen zwei Stoffen, so befindet sie sich mit einer Seite in jenem Medium, in dem sie schneller vorankommt, mit der anderen dort, wo sie langsamer ist, und wird zur bremsenden Seite hin abgelenkt wie eine Kutsche, deren Rad in den Schlamm gerät. Huygens glaubte, das Licht bestehe aus Längswellen wie der Schall; der Stoff, in dem es sich ausbreitet, schwinge also in der Ausbreitungsrichtung vor und zurück. Da auch für ihn alle Naturphänomene auf mechanischer Wechselwirkung beruhten, war an eine Fortpflanzung ohne Medium nicht zu denken. Während Schall sich in allen Stoffen ausbreitet, muss das Licht ein eigenes Trägermedium besitzen, da es auch den leeren Raum überwinden kann, wie der Anblick von Planeten und Sternen beweist. Dieses Medium
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ist der Äther; er besteht aus feinen elastischen Kügelchen, durch deren Stöße die Welle weiterschreitet. Eine entgegengesetzte Theorie vertrat zur selben Zeit Newton. Schon als Zwanzigjähriger hatte er mit selbstgefertigten Instrumenten optische Versuche angestellt. Seine Aufnahme in die Royal Society verdankte er keiner seiner bahnbrechenden Leistungen, sondern dem Bau eines Spiegelteleskopes. Im Zuge seiner Bemühungen, die störenden Farberscheinungen an Linsenrändern zu beseitigen, stieß er auf den Zerfall weißen Lichtes, das an einem dreieckigen Glasprisma gebrochen wird, in ein Spektrum von Farben. Die Spektralfarben erwiesen sich ihrerseits als nicht mehr weiter zerlegbar, konnten aber wieder zu weißem Licht zusammengefügt werden. Dass weißes Licht offenbar aus farbigen Komponenten besteht, war keine geringe Überraschung. Nebenbei hatte Newton die farbabhängige Brechung erkannt und damit das Geheimnis des Regenbogens gelüftet. Alle diese Beobachtungen stellten lediglich neue Tatsachen fest, hatten jedoch mit seiner Auffassung von der Natur des Lichtes nichts zu tun, die sich stattdessen auf die altbekannten Eigenschaften – geradlinige Ausbreitung und Reflexion im gleichen Winkel – stützte. In Newtons Augen konnten diese gar nicht anders gedeutet werden, als dass das Licht ein Strom von Teilchen ist, die mit hoher Geschwindigkeit durch den Raum fliegen. Huygens, in dessen Wellenbild beide Eigenschaften ebenso gut Platz fanden, führte dagegen an, Licht könne schon deswegen nicht aus Teilchen bestehen, weil diese bei der Begegnung zweier Strahlen kollidieren würden und zwei Personen einander gar nicht zur gleichen Zeit sehen könnten. Huygens und Newton publizierten ihre einschlägigen Hauptwerke im Abstand von nur wenigen Jahren: Huygens 1690 sein Traité de la lumière und Newton 1704 die Opticks. Mit diesen beiden Büchern hob ein Streit an, in dem zeitweise die eine, dann wieder die andere Partei die Ober-
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hand erringen und der ein Vierteljahrtausend lang dauern sollte. Fürs Erste trug Newton den Sieg davon, nicht zuletzt aufgrund seines Namens und weil nur er für die Farben eine Erklärung liefern konnte, wenngleich diese mit der Frage, ob Teilchen oder Welle, gar nichts zu tun hatte. Inzwischen war man beim Bestimmen der Lichtgeschwindigkeit einen großen Schritt weitergekommen. Dem Astronomen Olaf Rømer war aufgefallen, dass die Jupitermonde nicht exakt zu den vorhergesagten Zeitpunkten hinter ihrem Planeten verschwinden, sondern zu früh, wenn die Erde beim Umlauf um die Sonne dem Jupiter nahe steht, und zu spät, wenn sie von ihm weit entfernt ist. Er führte diese Abweichungen auf die verschieden langen Wege zurück, die das Licht im jeweiligen Fall vom Jupiter zur Erde zurücklegen muss. Da der Durchmesser der Erdbahn bekannt war, konnte Rømer so die Lichtgeschwindigkeit berechnen. Ihren enormen, jenseits aller Vorstellungskraft liegenden Wert münzte Huygens sogleich zu einem „Beweis“ seiner Wellenlehre um: Derart schnelle Teilchen seien nämlich völlig ausgeschlossen; die Erregung des Äthers könne sich aber durchaus so rasch fortpflanzen, wie ja auch, wenn eine Reihe aneinanderliegender Kugeln an einem Ende einen Stoß erfährt, die Bewegung beinahe augenblicklich auf das andere Ende übertragen wird. Ein bemerkenswertes Resultat lieferte Pierre de Fermat zur Lichtbrechung. Der nach ihm benannte Grundsatz besagt, dass der Lichtstrahl von allen Wegen genau jenen nimmt, den er in der kürzesten Zeit durchlaufen kann. Das war das erste mathematisch formulierte Extremalprinzip und somit ein Vorläufer des Hamilton-Prinzips, das wir im vorigen Kapitel kennengelernt haben. Unter anderen Gesichtspunkten stand Goethes Farbenlehre, der er selber mehr Bedeutung zugemessen haben soll als seinen dichterischen Werken. Vor allem ging es Goethe um die Wirkungen der Farben auf das Auge, auf die er
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auch dort immer wieder zurückkam, wo er Licht und Farbe als physikalische und sogar chemische Erscheinungen besprach. Sein Text könnte der antiken Wissenschaft entstammen, an deren Denkweise er sich ganz und gar orientierte. Aus diesem Grund kam er auch um zweitausend Jahre zu spät und zeitigte auf die Physik, die längst einen anderen Weg eingeschlagen hatte, keine Wirkung. Wo sich Berührungen ergaben, lag er falsch, was ihm aber niemand mitteilte, weil man seinen Beitrag schlichtweg nicht zur Kenntnis nahm. Goethe war darüber so verärgert, dass er gegen die Wissenschaft im Allgemeinen und Newton im Besonderen ausfällig wurde, dessen Optik für ihn „ein künstliches, zusammenstudiertes, verschränktes, die Augen und das Urteil überraschendes, grundunwahres Hokus Pokus“ war. In diesen Worten schwingen der Zorn eines Mannes, der es nicht gewohnt ist, kein Gehör zu finden, und die Enttäuschung darüber, dass sein Denken, welches doch alles überblickte, was das Zeitalter an seelischen Inhalten hervorgebracht hatte, ausgerechnet vor der unbelebten Natur an eine Grenze gestoßen war. ∗∗∗∗∗ Hundert Jahre lang durcheilten die newtonschen Lichtteilchen den Raum. Dann kam der Engländer Thomas Young: ein Arzt, Maler, Musiker, Philologe und Physiker, der bereits mit einundzwanzig Jahren Mitglied der Royal Society war und später entscheidend zur Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen beitragen sollte, indem er am Stein von Rosette die phonetische Schreibweise entdeckte. Schickt man Licht einer Spektralfarbe durch ein kleines Loch, dann erzeugt es auf einem dahinter aufgestellten Schirm einen hellen Fleck. Das war bekannt und passte sowohl zur Teilchen- als auch zur Wellentheorie. Öffnet man nun ein zweites Loch knapp neben dem ersten, geschieht etwas Verrücktes: Es
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bildet sich nicht etwa ein zweiter Fleck, sondern der erste verschwindet und ein Muster aus hellen und dunklen Streifen entsteht. Stellen des Schirmes, die im ersten Versuch beleuchtet waren, bleiben auf einmal dunkel. Wie ist das zu erklären? Wenn zu einem Strom von Lichtteilchen ein zweiter hinzukommt, dann kann an keinem Ort weniger Licht sein als zuvor. Kommt hingegen zu einer Lichtwelle eine zweite hinzu, dann schon; denn dort, wo sich ein Berg der einen und ein Tal der anderen überlagern, löschen sie einander aus. Aus dem Abstand der Löcher zueinander und zum Schirm sowie der Breite der Interferenzstreifen berechnete Young im Jahr 1800 die Wellenlängen des sichtbaren Lichtes und fand, dass rotes Licht aus den längsten Wellen und violettes aus den kürzesten, nämlich halb so langen, besteht. Die Wellenlängen erwiesen sich als unsagbar klein. Dieser Umstand entkräftete ein Argument, das bisher zugunsten der Teilchenlehre gesprochen hatte, nämlich: dass es einen Schatten gibt. Während Schall, der ja eine Welle ist, mit Leichtigkeit die Gegenstände umläuft – wir können mit einem Menschen sprechen, der hinter einem Baum steht –, tut Licht das nicht. Wäre Licht eine Welle, so konnte man behaupten, müsste es ebenfalls hinter den Baum gelangen; der würde keinen Schatten werfen, und wir wären sogar in der Lage, unseren Gesprächspartner nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Besteht es aber aus Teilchen, so fliegen diese in gerader Linie am Baum vorbei, erscheinen also niemals direkt hinter ihm. Nun stellte sich dieser scheinbare Unterschied zwischen Schall und Licht als bloßer Effekt der verschieden langen Wellen heraus: Ein Baum erscheint dem Licht als ebenso großes Hindernis, wie der Mond für den Schall eines wäre; um kleine Hindernisse läuft aber auch das Licht herum. Wie Erwin Schrödinger bemerkt hat, rühren daher die Sonnenstäubchen auf dem Weg eines Lichtstreifens, der in ein dunkles Zimmer fällt, die Gegenlichträn-
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der zarter Gräser und Spinnweben und die Sichtbarkeit von Rauch und Nebel. Nachdem nun geklärt schien, dass Licht eine Welle ist, machte sich eine Generation von Forschern daran, seine sonstigen Eigenschaften zu studieren. Augustin Fresnel untersuchte Beugung und Interferenz und bestätigte die Vermutung Youngs, Licht sei eine Transversalwelle, schwinge also quer zur Ausbreitungsrichtung, womit sich das Phänomen der Polarisation erklären ließ. Fizeau und Foucault maßen die Lichtgeschwindigkeit in Luft, Wasser und anderen durchsichtigen Medien. Dabei zeigte sich, dass das Licht in den Stoffen gerade so viel langsamer ist, wie Fermat zwei Jahrhunderte vorher zur Begründung der Lichtbrechung angenommen hatte. Die Geschwindigkeit in Luft erwies sich als beinahe gleich groß wie jene im Vakuum. Mit der Wellentheorie des Lichtes trat ein neues Problem auf, das sich hartnäckig jeder Lösung widersetzte, nämlich das des Äthers. Wenn es eine Schwingung gibt, dann muss etwas da sein, das schwingt. Schon Huygens hatte sämtliche Eigenschaften der Lichtwelle auf mechanische Kräfte zurückgeführt, die zwischen den Teilchen des Äthers wirken. Durch die Entdeckung, dass es sich beim Licht um Transversalwellen handelt, waren die Dinge bedeutend komplizierter geworden, denn solche Wellen kommen nur in einem elastischen Festkörper vor. Wenn jedoch der Äther ein fester Körper ist – warum spürt man ihn dann nicht? Warum können die Himmelskörper ihre Bahnen ziehen, ohne von ihm aufgehalten zu werden? Diesem Dilemma entkam man zur Not durch die Annahme, der Äther verhalte sich gegenüber den unvorstellbar schnellen Bewegungen des Lichtes wie ein fester Stoff, gegenüber den langsamen der Körper jedoch nachgiebig, wie Pech, welches unter einem Hammerschlag in Stücke springt, sich selbst überlassen aber mit der Zeit zerfließt. Zwar stellte diese Verlegenheitshypothese niemanden zufrieden, doch sie war besser als gar keine.
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Im Laufe von Jahrhunderten hatten Experimentatoren und Theoretiker also eine Fülle an Befunden gesammelt, die den Wellencharakter des Lichtes entweder unzweifelhaft anzeigten oder zumindest nicht widerlegten. War damit die Theorie bewiesen? Wir haben schon gesehen, dass es unmöglich ist, sichere allgemeine Gesetze aus Einzelbeobachtungen zu gewinnen, einerlei, wie schlüssig diese sind – vielleicht lauert doch noch irgendwo ein weißer Rabe. Ist man aber einmal davon überzeugt, dass alle Raben schwarz sind, so wird man einen weißen Vogel im Zweifelsfall für eine Gans halten; und ebenso wird, wer immer nur nach Bestätigungen einer Theorie sucht, meistens nur Bestätigungen finden. Der Wiener Schauspieler, Schriftsteller und Kulturhistoriker Egon Friedell sollte den Nagel auf den Kopf treffen: „Theorien sind Überzeugungen; und Überzeugungen werden dadurch bewiesen, dass man sie hat.“ Friedell kritisierte allerdings Physik und Chemie über Gebühr streng; nannte er doch ihre Theorien „nichts als geistreiche Spielereien, deren Lebensdauer zu dem Ewigkeitsgehalt, mit dem sie sich zu brüsten pflegen, in lächerlichem Kontrast steht.“ Gerade diesen Ewigkeitsanspruch, der die Philosophie von Anbeginn bis heute und überdies sämtliche Religionen durchzieht, hat die Naturwissenschaft auf ihrem eigenen Territorium ausgerottet. „Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung ist der Physiker gar nicht so sicher, dass seine Behauptungen richtig sind“, stellte der ungarische Atomphysiker Károly Simonyi fest. Was das Licht betrifft, so schien die Angelegenheit Ende des neunzehnten Jahrhunderts entschieden. Doch der weiße Rabe lauerte; nur wo man ihn aufspüren würde, das hätte keiner zu träumen gewagt.
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Die Wärmelehre begann, kaum beachtet, als Randdisziplin, die sich mit der Erwärmung und Abkühlung von Körpern auseinandersetzte, und gipfelte in Aussagen von solcherTragkraft, dass die Physiker sogar in Gefahr gerieten, ihr Misstrauen gegenüber der Allgemeingültigkeit empirischer Gesetze aufzugeben. Zugleich veränderte sie die Vorstellung vom Wesen eines physikalischen Gesetzes und stellte den davor unbezweifelten Determinismus, die Lehre vom Vorherbestimmtsein aller Vorgänge der Natur, in Frage. Wie es dazu kam, werden wir in diesem Kapitel besprechen. Schon im Mittelalter unterschied man zwischen Temperatur und Wärmemenge. Was Temperatur ist, wissen wir alle – zumindest, solange uns keiner danach fragt. Gemessen wurde sie ab dem siebzehnten Jahrhundert auf Basis der Ausdehnung von Stoffen beim Erwärmen. Das erste geschlossene Thermometer, dessen Anzeige lediglich von der Temperatur abhängt und nicht wie die seiner offenen Vorgänger auch vom Luftdruck, stellte um 1640 Ferdinand II., Herzog von Toskana, vor. Kurz danach bauten Gelehrte der Accademia © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 W. Tschirk, Vom Universum, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9_4
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dei Lincei in Rom das erste Quecksilberthermometer. Bis ins achtzehnte Jahrhundert konnte man Temperaturen nicht in Zahlen ausdrücken und mit den Instrumenten lediglich zwischen wärmer und kälter unterscheiden. Das änderte sich mit der Einführung der ersten Skalen, bei denen man mittels zweier leicht herstellbarer Temperaturen Markierungspunkte festlegte. Die heute gebräuchlichste Skala geht auf den schwedischen Astronomen Anders Celsius zurück, der 1742 dem Schmelzpunkt des Wassers den Wert von null, seinem Siedepunkt jenen von hundert Grad zuordnete. Die zweite Größe, die Wärmemenge, war schwerer zu fassen. Ein Kilogramm Wasser lässt, wenn es sich abkühlt, seine Umgebung deutlich wärmer werden, als ein Kilogramm Eisen das tut. Dafür muss Wasser länger über einer Flamme stehen als Eisen, um eine bestimmte Temperatur zu erreichen. Offenbar führt die Flamme dem Körper etwas zu, das danach wieder entschwindet, und von welchem das Wasser mehr zu speichern imstande ist als das Eisen. Was war diese mysteriöse „Wärme“? Im Grunde lag hier die gleiche Frage vor wie jene nach der Natur des Lichtes, und man hatte zwischen ähnlichen Antworten die Wahl: Es konnte sich um einen Stoff handeln oder um eine Art von Bewegung, möglicherweise eine Schwingung. Wir sehen hier, wie jede Erklärung in der Physik zu neuen Fragen führt: Licht und Wärme konnten also Teilchen sein oder Schwingungen von Teilchen, Stoff oder Bewegung im Stoff. Aber was ist überhaupt ein Stoff? Was sind Teilchen? Nicht nur die moderne Physik operiert jenseits des Vorstellbaren, auch die klassische vor 1900 musste das tun. Wir haben uns an den Begriff des Stoffes gewöhnt, aber wer kann sagen, was wir darunter wirklich verstehen? Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, dass die Sonne immerfort Kraft auf die Erde ausübt, von der sie unausdenkbar weit entfernt ist, mit nichts als leerem Raum dazwischen; aber dass so eine Zauberkraft tatsächlich existieren soll, jagt jedem, der es begreifen will,
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Schauer über den Rücken. Und mit ein wenig Fantasie können wir in vielen Dingen, die uns ganz selbstverständlich erscheinen, Unvorstellbares entdecken. Nur wer gar keine Fantasie hat, der kann sich alles vorstellen. Im achtzehnten Jahrhundert waren die Begriffe, auf die es alle anderen zurückzuführen galt, jene des Körpers und der Bewegung, also die Grundbegriffe der Mechanik. Die Chemiker Black und Lavoisier dachten an die Existenz eines Wärmestoffes, den sie Caloricum nannten: eines Fluidums, dessen Teilchen von der gewöhnlichen Materie angezogen würden. Black prägte den Begriff der spezifischen Wärme: der Wärmemenge, die man einem Gramm eines Stoffes zuführen muss, um seine Temperatur um ein Grad zu erhöhen. Mit der Wärmestoffhypothese ließen sich bekannte Erscheinungen vereinbaren: die Wärmeleitung, über die Fourier eine Arbeit verfasste, oder die Kompression von Gasen ohne Wärmeaustausch, aus der Laplace eine Formel für die Schallgeschwindigkeit gewann. Unklar war, ob Caloricum wie die gewöhnlichen Stoffe ein Gewicht hatte oder nicht. Alle Versuche, ein solches festzustellen, schlugen fehl, so dass man annehmen musste, Caloricum wäre ein außerordentlich leichter oder überhaupt unwägbarer Stoff. Der in England lebende Waffentechniker Graf Rumford – er war gebürtiger Amerikaner und hieß bürgerlich Benjamin Thompson – machte sich Gedanken über die Hitze beim Bohren von Kanonenrohren. Anscheinend kann man durch fortwährende Reibung eine beliebig große Wärmemenge freisetzen, was sich schwer mit der Annahme eines Wärmestoffes verträgt, der ja schließlich einmal zur Neige gehen müsste. Rumford zog den Schluss, dass in Wirklichkeit die zum Bohren aufgewendete Arbeit in Wärme umgewandelt würde, und kam damit dem Zusammenhang zwischen mechanischer Energie und Wärme auf die Spur. Er konnte sogar grob angeben, wie viel mechanische Arbeit welcher Wärmemenge entspricht. Schon Leibniz hatte spekuliert, dass die lebendige
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Kraft – wir würden heute sagen: die Bewegungsenergie – weder erzeugt noch vernichtet werden könne. Wenn man nun annahm, Wärme sei nicht nur ein Umwandlungsprodukt, sondern eine Form mechanischer Energie, so deuteten Rumfords Ergebnisse auf eine Bestätigung dieser Vermutung hin. Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts galt es bereits als Tatsache, dass die Summe aus der potentiellen Energie eines freien Körpers (der Energie, die er aufgrund seiner Lage besitzt) und der kinetischen (jener, die von seiner Bewegung herrührt) konstant ist. Hebt man einen Körper hoch, erhöht man seine potentielle Energie. Lässt man ihn dann los, verliert er sie im Fallen nach und nach, gewinnt aber in gleichem Maße kinetische Energie und wird schneller. Nachdem er aber auf dem Boden aufgeprallt und liegen geblieben ist, hat er weder Höhe noch Bewegung. Leibniz’ Behauptung war nun, die Energie sei in die vom Aufprall betroffenen Teilchen gewandert, und Rumford zufolge sollten sich Körper und Aufprallort ein wenig erwärmen. Wenn sich das bewahrheitete, bliebe nicht die mechanische Energie, sondern die mechanisch-thermische Energie erhalten. Wem wir verdanken, dass ein Gesetz von der Erhaltung der Energie, welches sämtliche Energieformen einschließt, heute einen Grundpfeiler der Physik bildet, wird wohl ewig eine Streitfrage bleiben. Sicher ist nur: Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wiesen drei Forscher unabhängig voneinander die Umwandlung mechanischer in thermische Energie nach. Der Erste war der Arzt Julius Robert Mayer. Er sah fünf Hauptformen der Kräfte: die Fallkraft, die lebendige Kraft, die Wärme, den Magnetismus zusammen mit der Elektrizität und die chemische Kraft, sowie die Vorgänge, bei denen jeweils die eine in die andere umgewandelt wird. Beachten wir, dass zu seiner Zeit noch der Ausdruck „Kraft“ üblich war, wo man heute „Energie“ sagt, ein Wort, das Thomas Young zwar schon 1807 benutzt hatte, das aber noch nicht allgemein Verwendung fand. Mayer gewann, ausgehend von
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Beschreibungen der Gasausdehnung in der Literatur, einen Zahlenwert für das Verhältnis von mechanischer Arbeit zu Wärmemenge: das mechanische Wärmeäquivalent. Ein erster Artikel darüber wurde jedoch von den Annalen der Physik abgelehnt, denn die Annalen standen für eine „gesunde, hypothesenfreie Physik“, und in ihnen hatten nach Meinung des Herausgebers nur solide experimentelle Arbeiten etwas zu suchen, während die eingereichte Schrift lediglich als unphysikalische Spekulation zu werten wäre. Die Annalen der Chemie und Pharmazie nahmen Mayers Arbeit Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur an, doch von da weg vergingen beinahe zwanzig Jahre, in denen man ihn ignorierte, anfeindete und plagiierte, ehe seine Verdienste endlich gewürdigt wurden. Noch 1984 schrieb der PhysikNobelpreisträger Emilio Segrè, er könne einfach nicht glauben, dass Mayer großen Einfluss auf die Physik gehabt haben soll, denn „er war und blieb ein Dilettant.“ Ein Mann vom Fach war auch der Zweite nicht, der die Energieerhaltung entdeckte: James Prescott Joule, von Beruf Bierbrauer, hatte seine naturwissenschaftliche Ausbildung in Form von Privatunterricht genossen. Er maß das mechanische Wärmeäquivalent präzis und vertrat wie Mayer den Gedanken, dass die verschiedenen Formen von Energie, zu denen er auch das Licht zählte, ineinander umgewandelt werden können. Als Dritter griff Hermann von Helmholtz in das Geschehen ein: die Autorität der deutschen Physik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, vergleichbar Virchow in der Medizin. Wenige Jahre nach Mayer und Joule stellte Helmholtz, damals noch jung und unbekannt, in seiner Arbeit Über die Erhaltung der Kraft die Äquivalenz von Wärme und Energie fest, doch auch dieser Beitrag fand vor dem gestrengen Herausgeber der Annalen keine Gnade und musste als Privatdruck in Umlauf gebracht werden. Später, als Helmholtz sich einen Namen gemacht hatte, war er so fair, Mayer die Priorität an der Entdeckung einzuräumen. Die Redaktion
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der Annalen der Physik aber installierte einen theoretischen Beirat, der in Hinkunft solche Blamagen vermeiden helfen sollte. Der Satz von der Erhaltung der Energie wird auch als erster Hauptsatz der Wärmelehre bezeichnet. Aus ihm folgt, dass es keinen immerwährenden Antrieb geben kann, kein Perpetuum mobile, da jede Energiequelle endlich ist und Energie nicht aus dem Nichts geschaffen werden kann. Das Perpetuum mobile gehört zu den ältesten Technikträumen der Menschheit. Schon im Mittelalter gab es zahlreiche Entwürfe, und mit der Errichtung der gotischen Bauwerke gewann die Idee an praktischer Bedeutung. Da jedoch keine der Konstruktionen hielt, was ihr Schöpfer versprochen hatte, geriet die Sache immer mehr in Verruf, und zwar so sehr, dass man im achtzehnten Jahrhundert einen geistig verwirrten Menschen einen Perpetuummobilisten nannte. Ab dem Jahr 1775 nahm die Académie royale des sciences keinen diesbezüglichen Entwurf mehr an. Mit dem ersten Hauptsatz war zum praktischen Scheitern die theoretische Unmöglichkeit hinzugetreten, da man nun entweder an den Energiesatz oder an das Perpetuum mobile glauben konnte, nicht aber an beide zugleich, und sich die Naturwissenschaft für Ersteres entschieden hatte. Wie das Perpetuum mobile, so musste sich ab nun jede wissenschaftliche Hypothese einer Prüfung durch den Energiesatz unterziehen, und nur solche, die mit ihm vereinbar waren, wurden überhaupt weiter in Erwägung gezogen. Die Aussage des ersten Hauptsatzes, es seien nur solche Vorgänge in der Natur möglich, bei denen die Summe aller Energien konstant ist, bedeutet nicht, dass alle Prozesse, die dieser Bedingung entsprechen, möglich sind. Zum Beispiel geht Wärme von selbst immer nur vom wärmeren auf den kälteren Körper über und nie umgekehrt, obwohl die gesamte Wärmemenge in beiden Fällen konstant bleiben könnte. Hier musste noch eine Gesetzmäßigkeit verborgen liegen.
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Im Jahr 1824 veröffentlichte ein junger Franzose namens Sadi Carnot im Selbstverlag ein dünnes Buch über Dampfmaschinen, das weitgehend unbeachtet blieb. Darin hatte er ein abstraktes Modell der Maschine entwickelt: Ebenso wie ein Wasserrad durch Wasser angetrieben wird, das auf seine Schaufeln fällt, sollte eine Turbine durch Wärmestoff angetrieben werden, der von hoher Temperatur auf eine niedrigere fällt. Damit dieses „Fallen“ sanft und ohne Verluste geschehe und eine möglichst effiziente Verwertung der Wärme erlaube, muss die Wärme mit den kleinstmöglichen Temperatursprüngen übertragen werden; der gesamte Prozess muss daher aus einer Kette von thermischen Gleichgewichten bestehen. Infolgedessen ist er umkehrbar: Man kann die Maschine entweder so betreiben, dass sie einem heißen Wärmereservoir Wärme entzieht, einen Teil davon als mechanische Arbeit zur Verfügung stellt und den Rest in ein kaltes Reservoir ableitet; oder man kann sie umgekehrt betreiben, so dass sie Wärme aus dem kalten Reservoir holt und, zusammen mit der mechanischen Energie, die man in diesem Fall von außen einbringen muss, an das heiße abgibt. Die erste Betriebsart ist die der Dampfmaschine, die zweite verwenden wir heute in Kühlschränken und Klimaanlagen. Der Wirkungsgrad der Maschine, also das Verhältnis von mechanischer Arbeit zu transportierter thermischer Energie, hängt nur von den Temperaturen ab, und es spielt keine Rolle, ob der Prozess mit Wasserdampf oder einem anderen Stoff betrieben wird. Es kann keine Maschine geben, die dauerhaft einen höheren Wirkungsgrad hätte als die von Carnot erdachte; denn gäbe es eine, dann könnte man sie mit der umgekehrten Carnot-Maschine verbinden, wodurch ein Perpetuum mobile entstünde. Durch Glück fiel Carnots Buch neun Jahre nach seinem Erscheinen – Carnot war schon verstorben – dem Ingenieur Émile Clapeyron in die Hände, der seine Bedeutung erkannte und es vor dem Vergessenwerden bewahrte. Clapeyron
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ersetzte Carnots umständliche Beschreibung durch ein Diagramm, in dem Volumen, Druck und Temperatur verknüpft sind. Joule und der Ire William Thomson, der spätere Lord Kelvin, benutzten die carnotsche Wirkungsgradformel zur Festlegung einer Temperaturskala und fanden überdies heraus, dass Carnots Gleichung einen absoluten Nullpunkt bestimmt, also eine Temperatur, die nicht unterschritten werden kann. Was Carnot gezeigt hat, umschließt Folgendes: Weil Wärme nicht von selbst vom kälteren zum wärmeren Körper fließt, kann man sie nie zur Gänze in mechanische Arbeit umwandeln; bei jedem möglichen Prozess landet ein Teil von ihr im kalten Körper und ist dort für immer gefangen. Das ist der zweite Hauptsatz der Wärmelehre. Zur Vollendung gebracht wurde die Wärmelehre oder Thermodynamik, wie man zu sagen begann, vom Deutschen Rudolf Clausius. Seine Beiträge waren es, die aus ihr eine Wissenschaft mit eindeutigen Definitionen und klaren Grenzen machten. Er entdeckte eine physikalische Größe, die Entropie, die mit Wärmemenge und Temperatur zusammenhängt und in einem abgeschlossenen System niemals abnehmen kann; in der Tat bleibt sie gleich, solange nur reversible Vorgänge ablaufen, und nimmt bei irreversiblen Prozessen zu. So ließ sich der zweite Hauptsatz ausdrücken als: Die Entropie eines abgeschlossenen Systems bleibt gleich oder wächst an. Wir kennen heute eine Reihe von Formulierungen der beiden Hauptsätze. Welche Rolle der Thermodynamik zukommen sollte, zeigt am eindrucksvollsten der von Clausius stammende Wortlaut: „Die Energie der Welt ist konstant, und die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu.“ ∗∗∗∗∗
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Mit unseren Betrachtungen sind wir in eine Epoche geraten, die der heutigen schon sehr nahe stand. Um 1870 hatte die Philosophie kaum mehr etwas mit Naturwissenschaft zu tun. Mathematik, Physik und Chemie hatten sich getrennt und gegeneinander abgegrenzt, Astronomie war zu einer unabhängigen Wissenschaft geworden, die Astrologie dort gelandet, wo sie hingehört. Die Einzeldisziplinen der damaligen Physik finden wir auch heute noch fast unverändert in den Lehrbüchern. Ihre Protagonisten blicken uns bereits von Fotografien entgegen und sehen uns ähnlicher als ihre Vorgänger: Mayer ein friedfertiger Doktor, Helmholtz mit klarem Blick und preußischer Körperhaltung, William Thomson ein wohlerzogener junger Mann, als Lord Kelvin ein weiser Patriarch, Clausius der Professor mit ewiger Zornfalte auf der Stirn; keine Spur von den verklärenden Darstellungen eines Bacon, Kepler, Leibniz oder Newton. Anstelle wallender Perücken trug man kurzgeschnittenes Haar und Backenbart, über vierzig häufig einen Vollbart. Die Farbenpracht der Kleidung war schlichtem Dunkelgrau oder Schwarz gewichen; Vatermörder und Schleife, später einfacher Kragen und Krawatte obligat. In der frühen Neuzeit hatte die Wissenschaft zum großen Teil auf Liebhaberei beruht, wenige waren wie Kepler als Wissenschaftler angestellt gewesen. Nun war beinahe sämtliche Physik an den Universitäten konzentriert, wo es Institute mit festem Personalstand sowie Lehre und Forschung zu vorgegebenen Themen gab. Kirche und Hof hatten als Arbeitgeber ausgedient. Die Hochschulen versuchten einander mit ihren Labors zu übertrumpfen, wobei es unter anderem darauf ankam, wer die stärksten Batterien für die elektrischen Versuche besaß. Theoretische Physik war nahezu verschwunden, ihr Ruf durch die Spekulationen von Jahrhunderten zerstört. Deutschland nahm eine Vorrangstellung ein. Die übernationale Sprache der Physiker war nicht mehr Latein, Französisch oder Englisch, sondern
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Deutsch. Zu den Zentren zählten neben Cambridge, Glasgow und Paris nun auch Berlin, Zürich und Wien. Im Arkadenhof der Wiener Universität ist diese Zeit noch lebendig. Hundertfünfzig große Männer – und seit 2016 auch sieben große Frauen – wachen dort schweigend über jeden Schritt des Besuchers. Die prächtigste Statue zeigt, wie könnte es anders sein, einen Politiker, nämlich den Grafen Leo Thun-Hohenstein, Unterrichtsminister im Kaiserreich des neunzehnten Jahrhunderts und als Reformator des Bildungswesens im Lexikon zu finden. Bescheiden nimmt sich dagegen die Büste eines anderen aus, der alleine die österreichische Physik unsterblich gemacht hätte: Ludwig Boltzmann. Sein Name ist untrennbar mit der kinetischen Theorie verknüpft, welche die Wärme als Bewegung von Teilchen deutet, und daher auch mit der Umwälzung des naturwissenschaftlichen Denkens, die sie im Gefolge hatte. Robert Boyle, Edmé Mariotte und Joseph Louis GayLussac hatten festgestellt: Sperrt man Gas in einen Behälter konstanten Volumens, steigt beim Erwärmen sein Druck; hält man dagegen den Druck konstant, steigt beim Erwärmen das Volumen; hält man die Temperatur konstant, dann steigt der Druck, wenn das Volumen sinkt, und umgekehrt. Das alles wird verständlich, wenn man annimmt, das Gas bestehe aus durcheinanderfliegenden Teilchen, der Druck komme von deren Aufprall auf die Wände, und Wärme sei nichts anderes als Bewegungsenergie der Teilchen. Diese Vorstellung lässt sich auf Flüssigkeiten und feste Körper übertragen, womit die Wärmephänomene zu Bewegungseffekten werden. Nun wissen wir aber, dass alle Bewegungen auch rückwärts ablaufen können. Ein Ball kann von links nach rechts fliegen oder von rechts nach links, er vermag ebenso einen Hügel hinabzurollen wie – sofern er genug Schwung hat – hinauf, und die Erde könnte durchaus in der anderen Richtung um die Sonne laufen. Damit sollten auch alle Wär-
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meerscheinungen umkehrbar sein: Wie heißes und kaltes Wasser sich zu lauwarmem ver mischen, so sollte lauwarmes Wasser sich zu heißem und kaltem ent mischen können; Wärme sollte gleichermaßen vom kalten zum heißen Körper fließen wie umgekehrt. Solche Dinge geschehen aber nicht; wie der zweite Hauptsatz lehrt, kann ein Prozess, der die Entropie eines Systems erhöht, niemals umgekehrt und auch auf keinem anderen Weg zur Gänze rückgängig gemacht werden. Hier stand die Physik vor einem Rätsel, und es forderte dringend eine Lösung, wollte man nicht die kinetische Theorie der Wärme, die so verheißungsvoll begonnen hatte, über Bord werfen müssen. Der Mann, der diese Lösung fand, war Boltzmann. Er unterschied zwischen dem Makrozustand eines Systems, festgelegt durch Größen wie Volumen, Druck und Temperatur, und seinem Mikrozustand, der durch Ort und Impuls jedes einzelnen Teilchens gegebenen Konfiguration. Tauschen zwei Teilchen ihre Eigenschaften, entsteht eine neue Konfiguration, ohne dass sich der Makrozustand ändern würde. Jeder Makrozustand kann also durch enorm viele Mikrozustände realisiert werden. Kein Mikrozustand ist gegenüber den anderen in irgendeiner Weise ausgezeichnet; daher kann man annehmen, dass alle mit gleicher Wahrscheinlichkeit vorkommen werden. Dann ist ein Makrozustand umso wahrscheinlicher, je mehr Mikrozustände mit ihm verträglich sind. Boltzmann bezeichnete die Anzahl der Mikrozustände, die ein Makrozustand in diesem Sinne „besitzt“, als dessen thermodynamische Wahrscheinlichkeit. Wir sehen nun, warum sich heißes und kaltes Wasser zu lauwarmem mischen, aber nie das Umgekehrte passiert: Im lauwarmen Wasser bewegen sich schnelle und langsame Teilchen wild durcheinander, wofür es viel mehr Anordnungsmöglichkeiten gibt als für den entmischten Fall, in dem schnelle und langsame Teilchen fein säuberlich getrennt sind; der Makrozustand „lauwarm“ besitzt also viel mehr Mikrozustände als der Makrozustand
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„heiß und kalt getrennt“ und damit eine viel höhere thermodynamische Wahrscheinlichkeit. Ähnliches gilt für jeden Vorgang, der nur in einer Richtung abläuft: Der Endzustand ist immer thermodynamisch wahrscheinlicher als der Anfangszustand. Die Verbindung dieses Prinzips mit jenem von Clausius, dass Systeme nach höherer Entropie streben, hat Boltzmann in seiner berühmten Gleichung zum Ausdruck gebracht: Die Entropie ist proportional zum Logarithmus der thermodynamischen Wahrscheinlichkeit. Die thermodynamische Wahrscheinlichkeit ist nicht dasselbe wie die „normale“ Wahrscheinlichkeit; die beiden hängen aber so zusammen, dass ein Zustand mit höherer thermodynamischer Wahrscheinlichkeit auch im herkömmlichen Sinn wahrscheinlicher ist. Deshalb kann man den zweiten Hauptsatz der Wärmelehre aussprechen als: Jedes System strebt einen wahrscheinlicheren Zustand an. Diese Formulierung ist weit weniger mysteriös als jene, die mit der Entropie argumentiert, ja, sie ist geradezu banal. Denn was ist ein wahrscheinlicherer Zustand? Einer, der häufiger vorkommt. Damit besagt der zweite Hauptsatz: Es kommt das häufiger vor, was häufiger vorkommt. Aus dem empirisch gewonnenen Gesetz von Clausius ist also auf den ersten Blick eine Tautologie geworden: ein Satz, der sich aus logischen Gründen ergeben muss und nichts Neues besagt. Descartes hätte seine Freude; hier wäre nämlich zum ersten Mal gefunden, wonach er immer gesucht hat: ein notwendiges Naturprinzip, eine sichere Wahrheit. Ganz so ist es aber nicht, denn alles hängt an der Annahme gleich wahrscheinlicher Mikrozustände, und diese stellen die empirische Grundlage des Gesetzes dar. Darum bleibt auch der zweite Hauptsatz, obgleich noch heute als das verlässlichste aller Naturgesetze geschätzt, eine Erfahrungsaussage, die sich eines Tages als falsch erweisen kann. Bis dahin wird er alle Naturvorgänge regeln, aber in einem anderen Sinn, als man das von einem physikalischen Gesetz
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gewohnt war: nämlich nicht in deterministischer, sondern in statistischer Weise. Denn es ist ja nicht gänzlich unmöglich, sondern nur unwahrscheinlich, dass Wärme auch einmal vom kälteren auf den wärmeren Körper übergeht. Dass das in einem beobachtbaren Maß geschieht, ist allerdings extrem unwahrscheinlich – wir würden Millionen Jahre vergeblich darauf warten. So ist mit der Wärmelehre ein neues Element in die Naturwissenschaft getreten: das statistische Gesetz. Die kinetische Theorie hat also zu statistischen Aussagen geführt; sie leugnet aber nicht, dass sich das einzelne Teilchen in deterministischer Weise verhält. Tut es das, so können wir die Entwicklung eines Systems für alle Zeiten vorhersagen, wenn wir zu irgendeiner Zeit Orte und Impulse aller seiner Teilchen kennen – sie folgt aus diesen Anfangsbedingungen. Da nur bestimmte Entwicklungen vorkommen und andere so gut wie nie, kann es auch nur bestimmte Anfangsbedingungen geben, während alle anderen so gut wie ausgeschlossen sind. Ausgeschlossen ist insbesondere das zeitliche Spiegelbild der Wirklichkeit, nämlich jener Zustand, der aus einem realen dadurch hervorginge, dass sämtliche Teilchen den gleichen Ort und gleich große, aber entgegengesetzt gerichtete Geschwindigkeiten hätten. Denn das zeitliche Spiegelbild würde die Zeit rückwärts laufen lassen und bewirken, dass sich die Welt gerade auf die „unmöglichste“ Weise verhält. Der zweite Hauptsatz hat eine weitere verblüffende Konsequenz: Ist ein System einmal an seinem wahrscheinlichsten Zustand angelangt, dann wird es sich nicht mehr ändern. Das gilt auch für das Universum als Ganzes. In diesem Zustand gibt es keine Unterschiede mehr: Materie und Energie sind gleichmäßig verteilt, die Entropie hat ein Maximum erreicht, und buchstäblich nichts mehr geschieht. Wir sprechen hier vom Wärmetod des Universums, der, wenn die Thermodynamik recht behält, unausweichlich ist.
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Im achtzehnten Jahrhundert unterhielt man sich in gebildeten Kreisen nicht nur mit dem Lesen der Großen Französischen Enzyklopädie, sondern auch mit elektrischen „Experimenten“. Menschen ließen sich an Elektrisiermaschinen anschließen, bis ihnen Röcke und Haare zu Berge standen. Die Effekte, die man beobachtete, ohne auch nur das Geringste davon zu verstehen, beruhen auf Anziehung und Abstoßung. Es schien zwei Arten elektrischen Fluidums zu geben, die man als positiv und negativ bezeichnete. Körper, die mit verschiedenartigen Fluida geladen sind, ziehen einander an, während gleichartig geladene einander abstoßen. Der Erste, der diese Erscheinungen mathematisch beschrieb, war 1788 Charles-Augustin de Coulomb. Das nach ihm benannte Gesetz besagt, dass elektrisch geladene Körper einander mit einer Kraft anziehen oder abstoßen, die proportional zu ihren Ladungen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres Abstandes ist. Die Form dieses Gesetzes stimmt überraschenderweise mit jener der newtonschen Gravitationsregel überein, die allerdings nur anziehende Kräfte kennt. Neben © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 W. Tschirk, Vom Universum, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9_5
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der Elektrizität kam auch der Magnetismus in Mode, dem William Gilbert, Hofarzt der Königin Elisabeth von England, im Jahr 1600 eine Abhandlung gewidmet hatte. Trotz mancher Ähnlichkeiten nahm man Elektrizität und Magnetismus als verschiedene Naturkräfte wahr, denn elektrische Ladungen schienen keinerlei Wirkung auf Magnete zu haben und von ihnen auch nicht beeinflusst zu werden. Im Jahr 1800 entdeckte Alessandro Volta, dass zwei verschiedene Metalle, wenn sie in Kontakt geraten, unterschiedliche elektrische Kräfte hervorbringen – wir sagen heute: unterschiedliche Potentiale annehmen. Auf dieser Grundlage entwickelte er eine Säule aus übereinandergestapelten Paaren von Zink- und Kupferplatten, separiert durch in Salzwasser getränktes Leder, die es erstmals gestattete, Elektrizität in dosierter und dauerhafter Form freizusetzen, also: einen stetigen elektrischen Strom zu erzeugen. Auch die heutigen Batterien arbeiten nach dem Prinzip der voltaschen Säule. Mit ihr trat zur Elektrostatik, der Wissenschaft von den ruhenden elektrischen Ladungen, die Elektrodynamik hinzu, die sich mit den Effekten bewegter Ladungen befasst. Den ersten Hinweis auf eine Beziehung zwischen Elektrizität und Magnetismus fand Hans Christian Ørsted, als er 1820 sah, wie ein stromdurchflossener Draht eine Kompassnadel ablenkte, also eine magnetische Kraft ausübte. Ørsted war entweder ein altmodischer Mensch oder er sprach keine lebende Sprache außer Dänisch; jedenfalls verfasste er seine Mitteilung in Latein, das zu dieser Zeit kaum mehr ein Physiker verwendete. Dennoch löste sie eine Flut von Untersuchungen über den neuen „Elektromagnetismus“ aus, so dass noch im selben Jahr die ersten quantitativen Ergebnisse publiziert werden konnten. Vor allem in Frankreich fiel Ørsteds Entdeckung auf fruchtbaren Boden. Jean Baptiste Biot und Félix Savart fanden den Zusammenhang zwischen der Stromstärke, der Geometrie des Stromkreises und seiner magnetischen Wirkung. André Marie Ampère entdeck-
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te, dass ein stromdurchflossener Leiter nicht nur auf einen Magneten, sondern auch auf einen zweiten stromdurchflossenen Leiter wirkt: anziehend, wenn die Ströme in die gleiche Richtung fließen, und abstoßend andernfalls. Die umfangreichste Sammlung experimenteller Befunde sollte in den Jahren darauf in England zusammengetragen werden, und zwar von einem Chemie-Assistenten der Royal Institution namens Michael Faraday. Obwohl gelernter Buchbinder, hatte Faraday sich immer schon mehr für den Inhalt von Büchern interessiert als für deren Äußeres. Er hatte Abendvorlesungen an der jungen Royal Institution besucht, einer Einrichtung, die zur „Verbreitung und Anwendung der Wissenschaft für die Zwecke des täglichen Lebens“ gegründet worden war, und es war ihm geglückt, dort als Laborgehilfe aufgenommen zu werden und bald in den Rang eines Assistenten aufzusteigen. Faraday besaß keinerlei mathematische Bildung; eigenen Worten zufolge hat er nur einmal in seinem Leben eine mathematische Operation ausgeführt: als er an der Kurbel einer Rechenmaschine drehen durfte. Sein Experimentiertalent machte jedoch diesen Mangel wett; es bescherte ihm immensen Reichtum an wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Ruf, ein Genie zu sein. Faraday führte unzählige Versuche durch und hielt sie bis ins kleinste Detail in Zeichnungen und Worten fest. Am Ende seines Lebens umfasste sein Werk mehr als sechzehntausend Eintragungen, säuberlich nummeriert und von eigener Hand gebunden: über Elektrizität und Magnetismus, aber auch über Stahllegierungen, Chlor- und Kohlenstoffverbindungen, Verflüssigung von Gasen, optische Gläser und die Eigenschaften des Benzols. Will man eine einzelne Entdeckung Faradays hervorheben, so fällt die Wahl auf jene der elektromagnetischen Induktion im Jahr 1831. Inspiriert durch Ørsteds „Umwandlung“ von Elektrizität in Magnetismus stellte sich Faraday die Aufgabe, das Umgekehrte zuwege zu bringen: mittels
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Magnetismus elektrischen Strom zu erzeugen. Es gelang ihm schließlich, in einer elektrisch leitenden Schlinge einen Strom hervorzurufen, indem er sie über einen Stabmagneten schob; der Stromfluss hielt so lange an, wie der Magnet relativ zur Schlinge in Bewegung war. Anstelle des Magneten tat es auch eine stromdurchflossene Spule, die ja, wie Ørsted gezeigt hatte, selbst wie ein Magnet wirkt. Hier trat eine eigentümliche Symmetrie zutage: Ein sich veränderndes elektrisches Feld erzeugt ein Magnetfeld und umgekehrt. Wir lernen an dieser Stelle den Begriff des Feldes kennen. Ein Feld ist zunächst nichts anderes als die Eigenschaft des Raumes, auf einen dort befindlichen Körper eine bestimmte Wirkung auszuüben. So sagen wir, ein Ort befinde sich im Schwerefeld der Erde, wenn ein Körper, den man dorthin brächte, von dieser angezogen würde. Ebenso herrscht an einem Ort ein elektrisches Feld, wenn eine dort befindliche Ladung eine Kraft erfahren würde. Faraday stellte sich den Raum erfüllt von elektrischen und magnetischen Kräften vor und zeigte, dass diese zum Teil anders wirken, als man es gewohnt war: Denn die Schwerkraft wie auch die Anziehung und Abstoßung zwischen Magnetpolen oder elektrischen Ladungen wirken entlang der geraden Verbindungslinien der beteiligten Körper; die Kräfte der induzierten elektrischen und magnetischen Felder jedoch bilden Wirbel um das verursachende Element – den stromdurchflossenen Draht oder den bewegten Magneten. Faraday erschienen die Felder so real, dass er sie für einen Spannungszustand – den „elektrotonischen“ Zustand – der Materie hielt. Daher sah er in den elektrischen und magnetischen Kräften auch keine Fernwirkungen zwischen Körpern, sondern unmittelbare Einflüsse des Raumes auf die dort befindlichen Gegenstände. An die Aufgabe, die Gesetze hinter Faradays Ergebnissen aufzuspüren, wagte sich der Schotte James Clerk Maxwell: ein vielseitiger junger Mann, ausgezeichnet schon als Schüler für besondere Leistungen in der Mathematik, aber auch
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für seine Lyrik, später beschäftigt mit Gastheorie, boolescher Logik und der Stabilität der Saturnringe ebenso wie mit Moralfragen und dem Übersetzen von Vergil- und SophoklesTexten. Eine Zeit lang untersuchte er die Farbwahrnehmung einschließlich der Farbenblindheit, und im Dachgarten seines Hauses in Kensington entstand um 1860 das erste Farbfoto der Welt. Sein Name ist in den Grundgleichungen des Elektromagnetismus verewigt: den Maxwell-Gleichungen, angesichts derer sich Boltzmann zu Fausts Frage hinreißen ließ: „War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?“ Und in der Tat ist es kaum zu glauben – in einem System von vier einfachen Formeln stecken alle elektrischen und magnetischen Erscheinungen des leeren Raumes: Elektrische Ladungen erzeugen elektrische Felder; magnetische Ladungen gibt es nicht; sich ändernde elektrische Felder erzeugen Magnetfelder; sich ändernde Magnetfelder erzeugen elektrische Felder. Nimmt man drei weitere Formeln hinzu, ist auch der gesamte Elektromagnetismus der Materie erfasst. Das größte Wunder geschieht jedoch, wenn man die Gleichungen löst, also die konkrete Form der Felder berechnet. Es stellt sich nämlich heraus, dass unter gewissen Bedingungen Wellen entstehen, die mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum eilen und quer zur Ausbreitungsrichtung schwingen. Die Existenz elektromagnetischer Wellen konnte also behauptet werden, bevor diese jemals in Erscheinung getreten waren, einfach, weil sie sich als Lösungen der Maxwell-Gleichungen ergeben. Ihr experimenteller Nachweis gelang erst ein volles Jahrzehnt später, 1886, dem Deutschen Heinrich Hertz. Die elektromagnetischen Wellen ähnelten so sehr dem Licht, dass man Grund zu der Annahme hatte, Licht sei ebenfalls eine elektromagnetische Welle. So entstand eine Elektromagnetismustheorie des Lichtes, gekrönt durch die Arbeiten des Holländers Hendrik Lorentz, der die für Stoffe geltenden Maxwell-Gleichungen lösen und mit den Gesetzen der Optik in Verbindung bringen konnte. Folgerich-
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tig identifizierte man das bekannte Trägermedium des Lichtes, den Äther, mit dem „elektromagnetischen Äther“, den Maxwell angenommen hatte, noch ehe der Zusammenhang zwischen Licht und Elektromagnetismus offenkundig war. Nach wie vor jedoch war die Jagd auf diesen Äther nicht von Erfolg gekrönt. Die Franzosen Navier, Cauchy und Poisson, die Briten Green und Stokes sowie der Deutsche Neumann hatten sich ihr verschrieben. Aus der Lichtgeschwindigkeit hatte man einen Zusammenhang zwischen Dichte und Elastizitätskonstante des Äthers abgeleitet, mit dem Ergebnis, dass er entweder extrem leicht oder extrem steif sein musste oder sogar beides – falls er überhaupt existierte, denn durch ein konkretes Experiment überführt war er noch immer nicht. Dieser letzte Umstand weckte böse Erinnerungen, hatte man doch in der Vergangenheit mehrmals die Eigenschaften eines Stoffes ermittelt, ohne je von ihrem Träger eine Spur gesehen zu haben, bis sich dann jedesmal herausstellte, dass es ihn gar nicht gab. Das Phlogiston war so ein Fall gewesen, jener Stoff, von dem man ein Jahrhundert lang angenommen hatte, er würde bei der Verbrennung entweichen, ehe Lavoisier entdeckte, was da wirklich geschieht. Und vom Caloricum, dem vermeintlichen Wärmestoff, haben wir ja im vorigen Kapitel erfahren. Maxwell, verhaftet im mechanischen Denken wie alle Physiker seiner Zeit, ersann trotz allem konkrete Modelle der Kraftübertragung zwischen Ätherteilchen, um seine Gleichungen anschaulich zu begründen. Wie Albert Einstein später feststellen sollte, ist aber das Feld, losgelöst von jeglichem Medium, etwas Reales. Wir hatten es ursprünglich nur als bequeme Ausdrucksweise betrachtet für die Tatsache, dass Kräfte möglich sind; doch Einstein zufolge ist es für den modernen Physiker „nicht minder wirklich als der Stuhl, auf dem er sitzt.“ Die Wellen führen ein Eigendasein, sie lassen sich genauso gut verfolgen wie materielle Objekte, und sie bleiben auch
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dann erhalten, wenn der Vorgang, der sie erzeugt hat, zum Erliegen gekommen ist. Wir haben schon gesehen, wie mit der Einführung des Feldbegriffes an die Stelle der Fernwirkung die Nahwirkung tritt: Auf einen Körper wirkt nicht mehr ein anderer, entfernter, sondern der Raum selbst; und für diese Eigenschaft des Raumes ist der entfernte Körper verantwortlich. Elektrische und magnetische Wirkungen treten nicht überall gleichzeitig ein, sondern pflanzen sich mit Lichtgeschwindigkeit fort: Verschwände plötzlich eine von zwei Ladungen, die einander anziehen, so würde die andere davon erst nach einer gewissen Zeit etwas „merken“. Diese Auffassung der Kräfte zwischen entfernten Körpern war neu und völlig anders als jene von Newton und Coulomb. ∗∗∗∗∗ Durch Faraday hatte das Interesse der Allgemeinheit an der Naturwissenschaft in England einen Höhepunkt erreicht. Seine Freitagabend-Vorträge und die Weihnachtsvorlesungen vor gemischtem Publikum vermochten die größten Hörsäle bis auf den letzten Platz zu füllen. Ein Gemälde zeigt uns eine Veranstaltung aus dem Jahr 1856 mit dem Prinzgemahl Albert und dem Prinzen von Wales, dem späteren König Edward VII., im Auditorium. Auch Kinder kamen, um Faraday zu hören; ihnen erzählte er die Chemische Geschichte einer Kerze. Das neunzehnte Jahrhundert war das Zeitalter der industriellen Revolution. Sie hatte zunächst von der Entwicklung der Wärmekraftmaschinen profitiert, nun begann aber auch die Elektrizität eine Rolle zu spielen. Schon in deren Anfangstagen hatte Faraday auf die Frage eines Parlamentskommissärs, wofür denn seine Entdeckungen gut wären, geantwortet, er könne das zurzeit nicht sagen, sei aber sicher, man würde eines Tages dafür Steuern zahlen. Vermutlich traf
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seine Vorhersage früher ein, als er gedacht hatte. Die Berichte aus jener Epoche sind von einer Fortschrittsgläubigkeit erfüllt, die wir heute nicht mehr nachempfinden können. Zwar hatte die Physik stets eine enge Verbindung zur Technik gehabt: Archimedes war als Berater für Militärtechnik ebenso gefragt gewesen wie als Philosoph; Galileis Fernrohr hatte man in Venedig mehr wegen seiner Anwendung zur Sichtung feindlicher Schiffe geschätzt als aufgrund seines ursprünglichen Zweckes; und Carnots Theorie der Wärme fußte auf der Entwicklung der Dampfmaschine. Die Elektrizität übertraf jedoch alles Bisherige. Die Erfindungen des Telegrafen durch Sömmering 1809, der Glühbirne durch Göbel 1865, des Dynamos durch Siemens 1866, des Telefons durch Bell 1876, des Transformators durch Tesla 1891 und der drahtlosen Telegrafie durch Marconi 1894 sind Meilensteine der Ingenieurskunst. Wohnungen und Straßen erstrahlten im elektrischen Licht, Maschinen ersetzten da und dort die schwere Körperarbeit, Menschen sprachen in die Ferne, Nachrichten flogen über den Erdball. Der Glaube an die Befreiung des Menschen durch die Technik war grenzenlos. Die Physik als Grundlagenwissenschaft schien sich dem Ende zu nähern. Alle mechanischen Vorgänge ließen sich durch die newtonsche Theorie beschreiben, die Probleme des Lichtes und der Wärme waren gelöst, und dem Elektromagnetismus hatte Maxwell seine vollkommene, endgültige Form gegeben. Als ein junger Mann namens Max Planck sich 1874 nach einem Studienfach umsah, riet man ihm von der Physik ab, da alles Wesentliche auf diesem Gebiet schon gefunden und nichts grundsätzlich Neues mehr zu erwarten wäre. Hätte das zugetroffen, so wäre unser Buch hier zu Ende. Damit würden wir jedoch um den aufregendsten Teil betrogen: jenen, in dem die Physik das Licht zurückwirft auf unser Denken und wir begreifen müssen, dass vieles von dem, was wir für ausgemacht und unverrückbar halten,
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bloße Erfindung unseres Geistes ist. Platon hat das geahnt und in seinem Höhlengleichnis beschrieben: Von den Dingen sehen wir nur die Schatten. Dennoch kam es wie ein Erdbeben über die Wissenschaft, dass hinter dem Inbegriff des Beständigen, der Materie, etwas ganz und gar Flüchtiges, Unwirkliches steckt und ausgerechnet jene Wesenheiten, die Kant als aller Anschauung zugrunde liegend betrachtet hatte, in gleichem Maße Hirngespinste sind: der absolute Raum und die absolute Zeit.
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Alle Lehrbücher behaupten, die Urväter der Atomlehre seien Leukipp und sein Schüler Demokrit im fünften Jahrhundert vor Christus gewesen. Diesen zufolge waren die Körper aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt, den Atomen, die selbst nicht mehr unterteilt werden konnten. Es gab vier Sorten von Atomen: die schweren, trockenen des Gesteins, die schweren, nassen des Wassers, die leichten, kalten der Luft und die leichten, heißen des Feuers. Alle Stoffe waren Zusammensetzungen dieser Grundbausteine, und ebenso beruhten auf ihnen alle bekannten Qualitäten: Gewicht, Konsistenz, Farbe, Geruch und Geschmack. Man kann in dieser Lehre eine prophetische Vorwegnahme der modernen Physik sehen oder, um mit dem Atomphysiker George Gamow zu sprechen, einen wahr gewordenen Traum. Denn die Vermutung, es gebe nur die Atome und den leeren Raum, besaß nicht den geringsten naturwissenschaftlichen Hintergrund. Anders als die Astronomie der Griechen, die sich immerhin an der Beobachtung des Himmels orientierte, oder ihre Mechanik, die das Verhalten der irdischen Körper wiedergeben © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 W. Tschirk, Vom Universum, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9_6
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sollte, beruhte die Atomhypothese auf purer Spekulation. Dafür war unter anderem Demokrits Überzeugung verantwortlich, wirkliche Erkenntnis könne nur durch das Denken gewonnen werden und niemals aus den irreführenden, von der Wahrheit ablenkenden Sinneseindrücken. Wundern wir uns daher nicht, wenn große Teile der antiken Atomlehre mit der Realität nichts zu tun haben: die Haken und Schlingen beispielsweise, mit deren Hilfe die Atome der festen Körper aneinander haften; die Zusammensetzung der Metalle aus Stein- und Feueratomen, und dass Metalle umso stärker glänzen, je mehr von den Letztgenannten sie enthalten; oder dass die Seele zur Gänze aus Feueratomen besteht. Den ersten experimentellen Hinweis auf Atome erbrachte die Chemie. Lavoisier klärte um 1790 den Begriff des chemischen Elementes. Sein Landsmann Proust konstatierte, dass die Elemente in den chemischen Verbindungen in festen Gewichtsverhältnissen vertreten sind, der Engländer Dalton erweiterte diese Regel 1808 und ließ auch Vielfache dieser Gewichtsverhältnisse zu: So verbinden sich 7 Gramm Stickstoff mit 8 Gramm Sauerstoff (zu Stickstoffmonoxid), aber auch mit 16 Gramm Sauerstoff (zu Stickstoffdioxid). Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Moleküle der Verbindungen aus jeweils wenigen Atomen bestehen; im obigen Beispiel ein Molekül des Stickstoffmonoxids aus je einem Stickstoff- und einem Sauerstoffatom, hingegen ein Molekül des Stickstoffdioxids aus einem Stickstoff- und zwei Sauerstoffatomen. Dabei sind die Atome die kleinsten Bausteine der chemischen Elemente. Alle Atome eines Elementes gleichen einander, die Atome verschiedener Elemente unterscheiden sich. Wenn dem so ist, dann gibt es so viele verschiedene elementare Teilchen, wie es Elemente gibt; als Mendelejew 1869 sein Periodensystem aufstellte, kannte man ungefähr sechzig, und es wurden beinahe jedes Jahr mehr.
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In der Physik war es zuerst die kinetische Theorie der Wärme, die Anlass zum Glauben an kleinste Bausteine der Materie gab. Um 1860 begann man dann die Leuchterscheinungen zu studieren, die schon Faraday beobachtet hatte, wenn er in einer gasgefüllten Glasröhre eine elektrische Spannung zwischen zwei metallischen Polen erzeugte. Ist die Spannung hoch und der Gasdruck niedrig, so bildet sich ein Strahl vom negativen Pol, der Kathode, hin zum positiven Pol, der Anode. Diese Kathodenstrahlen besitzen Energie, denn sie sind in der Lage, dünne Folien bis zur Rotglut zu erhitzen. Da sie auch Impuls tragen – sie können ein Flügelrad in Drehung versetzen – und zudem im Magnetfeld abgelenkt werden, lag es nahe, in ihnen einen Strom von geladenen Teilchen zu sehen. Im Jahr 1897 maß der Engländer Joseph John Thomson ihre Ablenkung durch elektrische und magnetische Felder und stellte auf diese Weise fest, dass die Geschwindigkeit der Teilchen von der Spannung in der Röhre abhängt, ihre Masse und elektrische Ladung aber völlig unabhängig von allen Einzelheiten des Versuches sind, sogar vom Material der Kathode und dem Gas in der Röhre. Es schien sich bei den Kathodenstrahlen also um einen universellen Bestandteil der Materie zu handeln, Teilchen mit äußerst kleiner Masse und Ladung, für die George Stoney die Bezeichnung Elektronen erfand. Thomson baute auf den Elektronen das erste mathematisch untermauerte Atommodell auf. Da ihre Ladung negativ ist, muss der Rest des Atoms positiv geladen sein, denn die Atome als Ganzes sind elektrisch neutral. Thomson dachte sich das Atom ausgefüllt von positiver Ladung, in die die Elektronen eingebettet sind wie Rosinen in einen Kuchen, und die zusammengehalten wird von Kräften wie jenen, die auch den Tropfen einer Flüssigkeit zusammenhalten. 1896 stieß Henri Becquerel auf eine unbekannte Art von Strahlen, die das Element Uran aussendet und deren Intensität zumindest über Monate hinweg nicht nachlässt. Wie
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Becquerel feststellte, kam diese Emission nicht durch Einwirkung von außen zustande und war überdies unabhängig von der chemischen Verbindung, in der das Uran vorlag. Es musste sich daher um eine Eigenschaft des Uranatoms selbst handeln; er nannte sie Radioaktivität. Eine Studentin Becquerels, die Polin Marie Curie, wählte die Uranstrahlen zum Thema ihrer Doktorarbeit und untersuchte gemeinsam mit ihrem Ehemann Pierre die weiteren chemischen Elemente auf radioaktives Verhalten. Zunächst wurden die beiden beim Thorium fündig; 1898 wiesen sie die Radioaktivität sogar an Elementen nach, die bis dahin überhaupt unbekannt gewesen waren: Dem ersten von ihnen gab Marie in einem Anflug von Nationalstolz den Namen Polonium, das zweite nannte sie Radium. Zu guter Letzt fand ihr Mitarbeiter André Debierne im Jahr darauf das Actinium. Die unglaublichste Entdeckung jedoch machte der Neuseeländer Ernest Rutherford 1900. Er beobachtete, wie Thorium beständig „ein Gas oder einen Dampf“ abgab, und, ob es jemand glauben wollte oder nicht – dieses Gas war das Element Argon, das aus dem Thorium entstanden sein musste. Der uralte Traum der Alchimisten war Wirklichkeit geworden: die Umwandlung eines chemischen Grundstoffes in einen anderen. Für diese Entdeckung erhielt Rutherford den Nobelpreis, allerdings nicht den für Physik, sondern jenen für Chemie, was ihm zu seinem beträchtlichen Ruhm eine Portion Spott einbrachte; denn die Kollegen beglückwünschten ihn nun zu seiner „Umwandlung vom Physiker zum Chemiker“. Zusammen mit dem Franzosen Villard hatte Rutherford auch herausgefunden, dass radioaktive Elemente nicht nur eine, sondern drei Sorten Strahlung aussenden, die sie der Einfachheit halber als Alpha-, Beta- und Gammastrahlen bezeichneten. Rutherford konzentrierte sich auf die Erforschung der Alphastrahlen und identifizierte sie als positiv geladene Teilchen von etwa der Masse eines Heliumatoms. Da sie für eine direkte Beobachtung viel zu klein sind, musste
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er ihre Eigenschaften auf andere Weise erschließen; er bündelte sie zu einem schnellen Strahl und beobachtete dessen Bewegung – wie der Strahl im Magnetfeld abgelenkt wird oder dann, wenn er auf Materie trifft. Rutherford konnte zwar nicht die Teilchen selbst sehen, wohl aber die kleinen Lichtblitze, die sie beim Auftreffen auf einem Schirm erzeugten, und so ihre Flugbahn ermitteln. Dabei fiel ihm auf, dass beim Durchgang des Strahls durch eine dünne Metallfolie zwar die meisten Alphateilchen ihre Flugrichtung kaum ändern, einzelne jedoch extrem stark abgelenkt, ja sogar zurückgeworfen werden. Die Berechnungen hatten geringe Ablenkungen vorhergesagt, wenn die positiv geladenen Teilchen von den ebenfalls positiven Atomkörpern der Folie abgestoßen werden. Für Kräfte wie jene, die zu den tatsächlichen Streuungen führen, müssen die Ladungen auf äußerst kleinem Raum konzentriert sein und einander sehr nahe kommen. Die positive Ladung im Atom war also nicht diffus verteilt, wie Thomson gedacht hatte, sondern im Gegenteil extrem lokalisiert. Rutherford sprach daher von einem positiv geladenen Atomkern, der sehr viel kleiner ist als das Atom – in einem Atom groß wie ein Basketball nähme er nicht einmal den Raum eines Sandkorns ein. Nun konnten die Elektronen nicht mehr in die positive Ladung eingebettet sein, sondern mussten, um die Größe des Atoms zu rechtfertigen, sich in einigem Abstand vom Kern aufhalten. Dort können sie jedoch nicht bewegungslos verharren, da sie ja vom Kern angezogen werden. Es blieb Rutherford nichts übrig, als ihnen eine Bewegung um den Kern zuzuschreiben, ähnlich den Planeten, deren Bewegung um die Sonne der Schwerkraft das Gleichgewicht hält. Das rutherfordsche Atommodell von 1910 ähnelt daher einem Planetensystem: Um einen schweren Kern kreisen die Elektronen, dazwischen ist nichts. Die Materie besteht also beinahe zur Gänze aus leerem Raum.
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Damit taten sich zwei neue Schwierigkeiten auf. Erstens ist es völlig schleierhaft, wieso alle Atome eines Elementes gleich groß sind. Ein Planet könnte nämlich in beliebiger Ellipse das Zentrum umlaufen; Gleiches gilt für die Elektronen, die von dieser Freiheit aber allem Anschein nach keinen Gebrauch machen. Zweitens besagen die MaxwellGleichungen, dass beschleunigte Ladungen Energie abgeben. Die Elektronen müssten also langsamer werden und innerhalb kürzester Zeit in den Kern stürzen, was sie auch nicht tun. Der Däne Niels Bohr erfand 1913 eine abenteuerliche Hypothese, die beide Probleme zugleich lösen sollte: Er behauptete, es gebe im Atom nur bestimmte Bahnen, die den Elektronen erlaubt seien; dort können sie allerdings umlaufen, ohne Energie zu verlieren. Das seien jene Bahnen, für die das Produkt aus dem Impuls des Elektrons und der Weglänge eines Umlaufes ein ganzzahliges Vielfaches einer fundamentalen Größe ist, des von Max Planck gefundenen Wirkungsquantums. Es sollte nämlich ausgerechnet Planck, dem ein Vierteljahrhundert zuvor das Studium der „abgeschlossenen“ Physik beinahe ausgeredet worden war, vorbehalten sein, unbekanntes Terrain zu betreten. Im Jahr 1900 hatte Planck eine Formel gefunden, die das Spektrum der elektromagnetischen Strahlung eines schwarzen Körpers als Funktion seiner Temperatur angibt. Das Thema war deshalb wichtig, weil ein schwarzer Körper – ein Körper, der jegliche Strahlung absorbiert – auf jeder Frequenz die größtmögliche Strahlungsmenge abgibt und somit ein Bezugsystem für Strahlungsuntersuchungen darstellt. Zunächst konnte Planck seine Formel, die er mehr oder weniger erraten hatte, nicht begründen; erst eine Annahme, die so ziemlich allem widersprach, was man von der Physik zu wissen glaubte, lieferte ihm den Schlüssel: Die Teilchen des schwarzen Körpers dürfen Energie nicht in beliebigen Mengen aufnehmen und abgeben, sondern nur in Vielfachen eines bestimmten
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Quantums, und dieses muss proportional zur ausgestrahlten Frequenz sein. Der Proportionalitätsfaktor hat die Dimension von Energie mal Zeit – einer Größe, die man Wirkung nennt – und wurde alsbald als plancksches Wirkungsquantum bekannt. Planck selber bezeichnete diesen Ansatz als Akt der Verzweiflung und glaubte gar nicht an seine Realität. Gleichwohl begründete er mit ihm eine neue Wissenschaft: die Quantenphysik. Sie trägt diesen Namen, weil es zu ihren Grundlagen gehört, dass physikalische Größen nicht beliebige Werte annehmen können, sondern stets als Vielfache kleinster Einheiten, Quanten, auftreten. Noch Jahre verbrachte Planck auf der Suche nach einer Erklärung, die seinem konservativen Weltbild eher entsprochen hätte, doch es war zu spät: Die Geister, die er gerufen, wurde er nicht mehr los. Ganz so aus der Luft gegriffen hatte Bohr seine Atomvorstellung also nicht; immerhin war Plancks Quantisierung physikalischer Größen schon dreizehn Jahre bekannt. Bohrs Modell erklärte das Spektrum des Wasserstoffes: Schickt man Licht durch ein Gas, so fehlen Wellen bestimmter Frequenzen im Spektrum der austretenden Strahlung; sie werden vom Medium verschluckt. Erhitzt man das Gas, so dass es leuchtet, dann sendet es Licht mit genau diesen Frequenzen aus. Es gibt offenbar für jedes Gas ein charakteristisches Spektrum von Wellen, die je nach Versuchsanordnung entweder absorbiert oder emittiert werden. Wie der Schweizer Mittelschullehrer Balmer 1885 festgestellt hatte, hängen die Frequenzen im Wasserstoffspektrum über eine Formel zusammen, in der ganze Zahlen eine Rolle spielen. Diesen Umstand konnte Bohr mit seinem Atommodell begründen: Die erlaubten Bahnen repräsentieren Energieinhalte des Elektrons, die in ganzzahligen Verhältnissen zueinander stehen. Solange ein Elektron auf seiner Bahn bleibt, ändert sich seine Energie nicht, daher strahlt es auch nicht. Beim Übergang auf eine andere Bahn muss das Elektron gerade so viel Ener-
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gie aufnehmen oder abgeben, wie der Differenz der beiden Inhalte entspricht. Die passende Energiemenge, verkörpert als Licht der passenden Frequenz, wird somit absorbiert oder emittiert. Bohrs Berechnungen stimmten so exakt mit den Messungen überein, dass an seinem Modell etwas dran sein musste. Auch Arnold Sommerfeld, der nach Bohrs Methode die Spektren komplexerer Stoffe ermittelte, fand nicht die geringste Abweichung von den gemessenen Werten. Noch ein weiterer Gesichtspunkt war aufgetaucht, der gut zu den neuen Ideen passte. 1902 hatte Philipp Lenard Elektronen mittels Licht aus einer Metalloberfläche gelöst und dann ihre Energie bestimmt. Nach herkömmlicher Sicht hätte sie mit der Intensität des Lichtes zunehmen müssen. Stattdessen hängt sie davon überhaupt nicht ab, steigt aber erstaunlicherweise mit der Lichtfrequenz. Einstein äußerte dazu die Vermutung, Licht enthalte seine Energie in Form von Quanten, die zur Frequenz proportional seien. Trifft Licht auf ein Elektron und überträgt ihm ein Quantum Energie, so wird das Teilchen aus dem Metall gerissen und es wird ihm umso mehr Energie verbleiben, je höher die Frequenz des Lichtes war. Licht höherer Intensität löst lediglich mehr Elektronen aus dem Metall. Nach dieser Interpretation von Lenards Ergebnissen war Licht vielleicht doch keine Welle, sondern ein Teilchenstrom. Sollte Newton am Ende recht behalten? ∗∗∗∗∗ Die Frage nach der Natur des Lichtes war also wieder offen. Einerseits musste Licht eine Welle sein, denn anders ließ sich die Interferenz in Youngs Experiment nicht deuten. Andererseits musste Licht aus Teilchen bestehen, sonst könnte Lenard nicht zu seinem Resultat gekommen sein. Einstein wies mit seiner typischen Unbefangenheit den Weg aus diesem Dilemma: Im Vorwort zur Arbeit über die Licht-
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quanten merkte er an, die Wellentheorie eigne sich zwar zur Erklärung der rein optischen Phänomene wie Beugung, Reflexion und Brechung, aber die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes scheinen besser verständlich, wenn man unterstellt, die Energie sei nicht kontinuierlich im Raum verteilt, sondern körnig verstreut. Die alte Frage: Teilchen oder Welle? hatte also deswegen nie beantwortet werden können, weil sie falsch gestellt war. Licht ist weder Teilchen noch Welle, sondern ein Etwas, das beiderlei Eigenschaften besitzt und, je nach Betrachtung, die eine oder die andere Seite zeigt. Das ist ganz leicht einzusehen, wenn man einmal akzeptiert hat, dass die Begriffe Teilchen und Welle aus der Welt der „großen“ Dinge, der Körper und ihrer Schwingungen, stammen und dort als Abkürzungen für jeweils einen Komplex von Erscheinungen fungieren. Wendet man sie auf andere Bereiche an, so stößt man, wie mit jeder Analogie, irgendwann an eine Grenze. Insbesondere gibt es keinen Grund zu glauben, dass ein Objekt tatsächlich ein Teilchen oder eine Welle ist. Können wir uns mit der Aussage begnügen, Licht zeige unter diesen und jenen Bedingungen diese und jene Eigenschaften, oder ist es nicht vielmehr Aufgabe der Wissenschaft, zu ergründen, was die Dinge wirklich sind? Von diesem Ziel schien die Physik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts weiter entfernt als je zuvor: mit ihren mühevollen Versuchen, das Atom zu erklären, ihrer Überraschung angesichts der Doppelgestalt des Lichtes und ihrer Verzweiflungshypothese vom sprunghaften Charakter der Natur. Ihr Begriffsystem reichte nicht einmal mehr zum Niederschreiben dessen, was man nun im Experiment beobachten konnte, und ihre Erklärungen standen in krassem Widerspruch zu den etablierten Theorien. Im Zusammenhang mit dieser Situation liest man heute oft von der „Krise der Physik“. Ist es aber tatsächlich eine Krise, wenn sich Neues nicht sofort einordnen lässt? Verdient die Wissenschaft nur dann ihren Na-
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men, wenn sie schlüssig ist und frei von Widersprüchen? Was meinen wir überhaupt, wenn wir von Wissenschaft reden? Die meisten Schriften, die diese Frage stellen, beantworten sie nicht. Man lernt aus ihnen stattdessen, dass es Wörter wie „epistemologisch“, „phänomenalistisch“ und „aktualiter“ gibt und Leute, die nicht davor zurückschrecken, sie gehäuft zu verwenden. Es wird einem mitgeteilt, dass Wissenschaft sich durch ihre „Methode“ auszeichne, mit deren Hilfe sie ihrem „Zweck“ nachkomme, allgemeingültige Gesetze zu finden und überprüfbare Vorhersagen zu treffen; oder dass ihr Wesen darin liege, zu messen, was messbar ist, und das andere messbar zu machen, und dass jede Wissenschaft nur dort Wissenschaft sei, wo sie sich mathematisch gibt. Man kann hunderte Seiten über den Unterschied zwischen „Paradigmenwechsel“ und „kumulativer Forschung“ studieren und wird darin nichts weiter finden, als dass die Wissenschaft manchmal Sprünge macht und manchmal nicht. Man kann glauben oder bezweifeln, dass sie in der systematischen Anhäufung von Wissen bestehe oder im Stellen der richtigen Fragen oder ganz einfach in dem, was Wissenschaftler tun, ohne nähere Bestimmung. Man kann aber auch Glück haben und auf eine Antwort von Wert stoßen; ein Physiker hat sie gegeben: „Wissenschaft ist die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen.“ In diesem hundert Jahre alten Satz des Österreichers Ernst Mach steckt mehr Erkenntnistheorie als in den meisten Abhandlungen der Berufsphilosophen, und wie bei allen großen Ideen wundert man sich, warum man nicht selber draufgekommen ist. Machs Standpunkt ist zugleich der bescheidenste, den man sich vorstellen kann: Mit der Wissenschaft verändern wir nur die Art, in der wir über Dinge denken. Theorien ergänzen Beobachtungen und ersparen uns, jede Frage durch ein neues Experiment zu entscheiden. Auf den ersten Blick scheint Machs Aussage jener von Kant zu widersprechen, dass uns Urteile a priori gelingen, weil die Gegenstände sich nach unserer Erkenntnis richten und
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nicht umgekehrt. In Wirklichkeit vertragen sich die beiden wunderbar. Denn nach Kant richtet sich der Gegenstand als Objekt der Sinne nach unserem Anschauungsvermögen, was bedeutet: Wir erschaffen uns die Gegenstände selbst; und Mach zufolge sind alle Körper nur Gedankensymbole für Komplexe von Empfindungen. Die meisten Kollegen lieben Mach nicht. Zum einen lässt seine Lehre ihre Tätigkeit schwächer glänzen: Der Wissenschaftler entschlüsselt nicht den Bauplan der Natur; er findet nicht das Gesetz, das in ihr waltet, sondern bloß brauchbare Denkfiguren zu ihrer Beschreibung; jeglicher darüber hinausgehender Mutmaßungen sollte er sich enthalten – da bleibt in den Augen vieler ein ziemlich armseliger Beruf übrig. Zum anderen hat Mach selber durch Befolgen seines Credos eine maßgebliche Entwicklung der Physik verschlafen: Er lehnte die Atomhypothese ab, weil sie ihm nicht aus den Beobachtungen ableitbar und somit unnötig erschien. Erst als er gegen Ende seines Lebens die Lichtblitze der Alphateilchen erblickte, soll er sich seines Irrtums bewusst worden sein. Wir kommen um den Verdacht nicht herum, dass man die Krise der Physik im Nachhinein erdichtet hat, um der gedanklichen Wende, die zwischen 1900 und 1930 eingetreten war, einen dramatischen Anstrich zu verleihen. Denn von Krise ist immer nur die Rede in Erinnerungen, die lange danach zu Papier gebracht wurden. Vermutlich war die Physik damals nicht mehr und nicht weniger spannend, als sie immer ist, und von einer Krise weit und breit nichts zu spüren. Dafür weht dem Leser aus den Dokumenten jener Zeit Aufbruchstimmung entgegen. Es war eine Freude, die neue Physik zu betreiben, und zum inhaltlichen Erlebnis kam das gesellschaftliche: Man schloss sich zu Gruppen zusammen und diskutierte leidenschaftlich die verrücktesten Thesen. Um Rutherford in Cambridge, Sommerfeld in München und Bohr in Kopenhagen hatten sich regelrechte Schulen
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gebildet, diejenige um Max Born in Göttingen war im Entstehen. Während die Engländer unter dem Einfluss von Rutherford ihrer Tradition des Experimentes treu blieben, kam in Deutschland mit Planck die Theorie wieder zu ihrem Recht. Planck selbst hatte noch darüber geklagt, dass er in Berlin nur das Institut für theoretische Physik leitete und damit „ziemlich überflüssig“ war; bestand doch sein Reich lediglich aus einer Bibliothek und einem Lesezimmer, während die Experimentalabteilungen mit ihren Labors protzten und ihr Vorstand Herr über ein ganzes Arsenal von Instrumenten war. Die Entdeckung des Wirkungsquantums auf theoretischem Wege und die Erkenntnis, dass die neuen Beobachtungen nach Erklärungen riefen, ließen das Ansehen der Theoretiker steigen. 1911 fand in Brüssel die „Internationale Quantenkonferenz“ statt, einberufen und finanziert von Ernest Solvay, einem dreiundsiebzigjährigen Chemiker, den seine Erfindungen zu einem reichen Mann gemacht hatten. Sie markierte den Beginn einer Reihe von Tagungen, die unter dem Namen Solvay-Kongress zwischen 1911 und 1991 insgesamt zwanzigmal abgehalten wurden und zu denen die namhaftesten Physiker der Welt eingeladen waren. 1920 erschien die deutsche Zeitschrift für Physik und wurde zum Hauptorgan der Quantentheorie. Inzwischen hatte auch Amerika seine Physik organisiert und 1893 die noch lange bedeutendste amerikanische Zeitschrift, das Physical Review, sowie 1899 die American Physical Society aus der Taufe gehoben. ∗∗∗∗∗ Der Mann, der 1923 die Einheit von Licht und Materie erkannte und den Grundstein zu einer durchgängigen Quantenphysik legte, ist heute nur mehr Fachleuten ein Begriff: der Franzose Louis-Victor de Broglie. Nicht nur das Licht verliert sein Mysterium, wenn man bereit ist, ihm
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gleichermaßen Teilchen- wie Welleneigenschaften zuzugestehen; auch auf die Materie trifft das zu. Die Beziehung zwischen Energie und Frequenz, die für Lichtquanten gilt, ist auf beliebige Objekte anwendbar. Da Einstein bereits die Äquivalenz von Masse und Energie nachgewiesen hatte – wir werden im nächsten Kapitel darauf zu sprechen kommen –, konnte de Broglie jedem Objekt mit bekanntem Impuls eine Wellenlänge zuschreiben. Die Wellenlängen makroskopischer Körper stellten sich als so klein heraus, dass diese nie als Wellen in Erscheinung treten, sondern stets ihre Teilcheneigenschaften hervorkehren. Elektronen hingegen besitzen Wellenlängen, die zwar viel kleiner sind als jene des Lichtes, aber dennoch groß genug, der Beobachtung zugänglich zu sein. 1927 wiesen die Amerikaner Davisson und Germer und, unabhängig von ihnen, der Engländer George Paget Thomson auf experimentellem Wege den Wellencharakter des Elektrons nach, indem sie an ihm die typischen Wellenphänomene zum Vorschein brachten: Beugung und Interferenz. Erinnern wir uns an J. J. Thomson, der durch Kathodenstrahlversuche gezeigt hatte, dass das Elektron ein Teilchen ist; ihm war dafür der Nobelpreis zuerkannt worden. Sein Sohn G. P. Thomson erhielt nun die gleiche Auszeichnung für den Beweis, dass das Elektron eine Welle ist. Natürlich ist das Elektron, wie auch das Licht und überhaupt jedes Objekt, weder Teilchen noch Welle, sondern ein Zwitterwesen mit Eigenschaften beiderlei Geschlechts. Das war es, was de Broglie entdeckt hatte. Er erklärte damit die ein Jahrzehnt lang unverstandene Hypothese Bohrs, nach der Elektronen nur auf bestimmten Bahnen laufen können: Da das Elektron auch als Welle erscheint, kann es nur in bestimmten Zuständen existieren, weil es sich sonst selber auslöschen würde. Kreist es um einen Atomkern, so bildet sich nur dann eine stabile Schwingung aus, wenn die Kreisbahn gerade so lang ist, dass eine oder mehrere ganze Wellen des Elektrons hineinpassen. Damit waren Bohrs Elektronen-
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bahnen begründet. De Broglie fasste seine Theorie in einer Dissertation zusammen, die er 1924 der physikalischen Fakultät der Sorbonne vorlegte, womit er die Professoren gehörig ins Schwitzen brachte – keiner wusste, was er von alldem halten sollte. Erst nachdem Einstein eine Empfehlung abgegeben hatte, war man zur Annahme der Schrift bereit. Ob die Legende stimmt, Schrödinger hätte die Arbeit de Broglies mit der Bemerkung „Unsinn“ beiseite gelegt, wissen wir nicht. Jedenfalls kann es nicht dabei geblieben sein; denn es war Schrödinger, der 1926 über de Broglies Ideen eine umfassende Theorie errichtete: die Wellenmechanik. Er ging von der Parallelität zwischen Licht und Materie aus: Wie die geometrische Optik aus der Wellentheorie des Lichtes folgt, so musste die gewöhnliche Mechanik aus dem Wellenbild der Materie folgen. Dem Lichtstrahl in der geometrischen Optik entspricht die Teilchenbahn in der Mechanik; beides sind vereinfachte Darstellungen: In Wahrheit gibt es nur die Wellen. Schrödinger führte eine universelle Wellengleichung ein, deren Lösungen das jeweils Beobachtbare, also auch Teilchen, beschreiben. Da die Schrödinger-Gleichung nur für gewisse Energiewerte lösbar ist, ergibt sich die Quantisierung der Energie und damit die Menge der möglichen Zustände von selbst. Für das Wasserstoffatom beispielsweise erhält man genau die nach Bohr „erlaubten“ Energien. Nun entspann sich zwischen Schrödinger auf der einen Seite und beinahe allen seiner Kollegen auf der anderen ein Disput darüber, was denn die Wellenfunktion konkret bedeuten sollte. Für den Erfinder der Wellenmechanik gibt es keine Teilchen im strengen Sinn. Jedes Objekt ist eine Welle; an den Orten hoher Amplitude findet sich viel von ihm, an den anderen wenig. Die scheinbare Lokalisiertheit eines Teilchens folgt daraus, dass die Welle nur einen kleinen Raumbereich ausfüllt und überall sonst verschwindet. Schrödingers Kontrahenten sahen die Sache anders: Teilchen existieren, und die Wellen geben lediglich an, mit welcher Wahrscheinlichkeit
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an diesem und jenem Ort eines auftaucht. Die meisten Physiker deuteten also die Wellenfunktion statistisch, während Schrödinger seine Welle als etwas Reales ansah. Etwa zur gleichen Zeit entstanden zwei weitere Quantentheorien: die Matrizenmechanik von Werner Heisenberg, Max Born und Pascual Jordan sowie die Transformationstheorie von Paul Dirac. Heisenbergs Ziel war eine Theorie, die ausschließlich beobachtbare Größen verwenden sollte. Beobachten, also messen, konnte man zum Beispiel Energien; nicht jedoch Elektronenbahnen um den Kern, die somit stets ein spekulatives Element darstellten. Wechselt ein System von Teilchen seinen Zustand – wie ein Atom, bei dem ein Elektron von einem Energieniveau auf ein anderes springt –, so emittiert oder absorbiert es Strahlung, deren Frequenz von zwei Parametern abhängt, nämlich dem Anfangs- und dem Endzustand des Systems. Alle möglichen Frequenzen können daher in einem zweidimensionalen Schema, einer Matrix, dargestellt werden; Gleiches gilt auch für andere physikalische Größen wie Ort und Impuls, und die Beziehungen zwischen ihnen folgen den Rechenregeln für Matrizen. Gemeinsam mit Born und Jordan arbeitete Heisenberg diese Theorie aus; das Ergebnis war die berühmte „Dreimännerarbeit“. Dirac wiederum schuf die abstrakteste und allgemeinste Fassung, von der Schrödingers und Heisenbergs Ansätze Spezialfälle sind. Es dauerte nicht lange, da erkannte man die Beziehungen zwischen den drei Theorien. So verschieden Wellenmechanik, Matrizenmechanik und Transformationstheorie auch anmuten, so gegensätzlich die philosophischen Standpunkte, auf denen sie ruhen: sie führen zu identischen Resultaten, so dass man von einer Quantentheorie sprechen kann. Diese handelt nicht von Eigenschaften, sondern nur von Beobachtungen. Insofern verkörpert sie einen auf die Spitze getriebenen Positivismus: Es zählt nichts als das, was man beobachten kann. Sie sagt auch nicht das Ergebnis ei-
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nes Experimentes vorher, wie es die klassische Physik tut, sondern gibt ein Spektrum mehr oder weniger wahrscheinlicher Ergebnisse an. Das so eingeführte Zufallselement ist ein anderes als das der kinetischen Wärmelehre. Die Theorie der Wärme als Bewegung verwendet statistische Methoden, weil man praktisch nicht die Bahnen unzähliger Teilchen kennen kann und es auch gar nicht darauf ankommt; in der Quantenphysik hingegen ist es prinzipiell unbestimmt, wie ein Experiment ausgehen wird. Sie widerspricht damit dem Determinismus. Während die klassische Physik nicht ausschließt, dass man die Zukunft kennen könnte, da diese ein für alle Mal festgelegt ist, gibt es in der Quantenphysik für künftiges Geschehen nur Wahrscheinlichkeiten. Dieser Aspekt hat die schärfsten Kritiker auf den Plan gerufen; Einstein konnte sich nie damit anfreunden, dass „der Alte würfelt“, und ersann immer neue Gegenbeweise, in denen aber stets ein Fehler steckte. Als ebenso unfruchtbar erwies sich die Hypothese der verborgenen Parameter, derzufolge auch die Quantenvorgänge deterministisch sind und wir nur nicht alle Einflussfaktoren kennen. Die Abkehr vom Determinismus bedeutet jedoch nicht, dass mit der Quantenphysik die Kausalität aus der Wissenschaft verschwunden wäre. An Ursache und Wirkung können wir nach wie vor glauben; nur beziehen sich diese Begriffe nun auf Ereignisse von statistischer Gestalt. Die Quantenphysik hat noch eine Überraschung parat: Man kann nicht sämtlichen Größen zugleich beliebig genaue Werte zuschreiben. Das drückte Heisenberg in seinen Unschärferelationen aus: Misst man zugleich Ort und Impuls eines Teilchens, so sind beide Werte mit einer Unschärfe behaftet; das Produkt der beiden Unschärfen kann eine bestimmte Grenze nie unterschreiten. Je genauer man also weiß, wo ein Teilchen ist, umso weniger kann man über seinen Impuls sagen, und umgekehrt. Dasselbe gilt für Energie und Zeit: Die Energie eines Teilchens erfassen wir umso ge-
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nauer, je länger wir dazu brauchen. Dieser Umstand wird gern damit erklärt, dass die Messung der einen Größe den Wert der anderen verfälsche. Dann wäre aber die Unschärfe lediglich die ungenaue Kenntnis des richtigen Wertes. Die Wahrheit ist hingegen, dass ein Objekt nicht zugleich einen genauen Ort und einen genauen Impuls hat, und ebensowenig hat es zu einem exakten Zeitpunkt eine exakte Energie. Das folgt aus seinen Welleneigenschaften; denn je kleiner der Raum, in dem eine Welle lokalisiert sein soll, desto mehr Frequenzkomponenten muss sie besitzen und desto unbestimmter wird daher ihr Impuls sein; und je enger die Grenzen ihrer Energie, desto genauer muss ihre Frequenz feststehen und desto weiter erstreckt sich die Welle in der Zeit. Die „normale“ Welt nimmt vom Zufallscharakter der Natur und den Unschärferelationen keine Notiz. Denn das einzelne Teilchen unterliegt zwar dem Zufall; durch die Vielzahl der beteiligten Partikel erscheinen makroskopische Ereignisse jedoch deterministisch, wie man auch bei hundert Münzwürfen ungefähr zur Hälfte Kopf und zur Hälfte Zahl erwarten kann, obwohl man über den einzelnen Wurf gar nichts weiß. Und die Unschärfen der physikalischen Größen sind, verglichen mit deren typischen Werten, verschwindend klein. ∗∗∗∗∗ Rutherford hatte, wie schon besprochen, die Zusammensetzung des Atoms aus Kern und Elektronenhülle erkannt. Für den leichtesten Kern, jenen des Wasserstoffes, führte er die Bezeichnung Proton ein; es ist knapp zweitausendmal so schwer wie das Elektron und trägt eine positive, dem Betrag nach gleiche Ladung wie dieses. Der Kern des Heliums, des zweitleichtesten Elementes, ist komplizierter aufgebaut: viermal so schwer wie der Wasserstoffkern, aber nur doppelt positiv geladen. Man dachte zunächst, er bestünde aus vier
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Protonen und zwei Elektronen, was sowohl seine Masse als auch seine Ladung erklärt hätte. Das kann jedoch nicht sein: Denn befände sich ein Elektron im Kern, so wäre die Unschärfe seines Ortes sehr klein und daher die seines Impulses sehr groß. Das Elektron könnte also auch einen großen Impuls haben und wäre dann wegen seiner geringen Masse so schnell, dass es aus dem Kern entschlüpfen würde. Deshalb musste man eine dritte Sorte Teilchen annehmen, etwa so schwer wie die Protonen und elektrisch neutral. Tatsächlich fand James Chadwick so ein Objekt 1932 im Experiment; er nannte es Neutron. Der Heliumkern konnte nun aus zwei Protonen und zwei Neutronen bestehen, und auch die Kerne aller anderen Elemente konnten sich aus diesen beiden Partikeln zusammensetzen. Damit schien der Aufbau der Materie in den Grundzügen geklärt. Rund hundert Atomsorten – eine für jedes chemische Element, die künstlich erzeugten eingeschlossen – kommen durch Komposition von Teilchen dreierlei Art zustande. Jedes Atom besitzt einen Kern aus Protonen und Neutronen, der umgeben ist von Elektronen. Die meisten Kerne sind stabil; einige wenige zerfallen und senden dabei Strahlung aus, weshalb man sie als radioaktiv bezeichnet. Die chemischen Eigenschaften der Elemente werden durch die Elektronenhülle bestimmt. Die Elektronen befinden sich in diskreten Zuständen, die durch vier „Quantenzahlen“ charakterisiert sind, wobei, wie Wolfgang Pauli gezeigt hat, keine zwei Elektronen den gleichen Zustand annehmen. Pauli, der niemals halbe Erklärungen durchgehen ließ und deshalb als das Gewissen der Physik galt, war der Prototyp des theoretischen Physikers; angeblich brauchte er nur ein Labor zu betreten, und schon gingen dort alle Versuche schief. Ansonsten zeichnet sich die Quantenphysik durch ein besonders enges Zusammenspiel von Theorie und Experiment aus. Waren anfangs die Theoretiker gefordert, experimentelle Befunde wie die Strahlung des schwarzen Körpers und
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die Atomspektren zu deuten, so kehrte sich das mit der Zeit um: Der Wellencharakter des Elektrons wurde ebenso theoretisch vorhergesagt wie die Existenz des Neutrons, und beides nachträglich im Labor bestätigt. Die aufsehenerregendste Entdeckung jener Zeit geht auf einen Theoretiker zurück: Dirac fand 1928 eine Gleichung für das Elektron, deren Lösung zugleich ein zweites Teilchen gleicher Masse, aber positiver Ladung beschrieb. Zuerst vermuteten alle einen Fehler in Diracs Theorie; bis Carl Anderson 1932 das sagenhafte Positron in der kosmischen Strahlung entdeckte. Es ist kein Bestandteil der bekannten Materie, sondern ein Antiteilchen, ein Objekt von etwas, das man Antimaterie nennt. Wenn Antimaterie auf Materie trifft, zerstrahlen die beiden in einem Schauer von Energie – sie können also nie zusammen existieren. Soviel wir heute wissen, besteht unser Universum so gut wie ganz aus Materie, obwohl es ebensogut aus Antimaterie gebildet sein könnte, und es gehört zu den ungelösten Rätseln, warum das so ist. In rascher Folge wurden weitere Teilchen gefunden: das Photon, welches das Licht trägt und elektrisch neutral ist; das Neutrino, das Myon, das Pion und so viele mehr, dass man bald vom „atomaren Teilchenzoo“ sprach und genötigt war, die Vielfalt durch eine Klassifizierung in den Griff zu bekommen. Heute unterscheidet man zwischen Leptonen, den leichten Teilchen, Mesonen, den mittelschweren, und Baryonen, den schweren, sowie dem Photon, dem man eine eigene Klasse spendiert. Zu jedem elektrisch geladenen Teilchen gibt es ein Antiteilchen mit gleicher Masse und entgegengesetzter Ladung. Antiteilchen findet man in der kosmischen Strahlung; künstlich erzeugt sind sie äußerst kurzlebig, da sie den Kontakt mit gewöhnlicher Materie nicht überstehen. Um Teilchen zu erzeugen und zu beobachten, benötigt man technische Einrichtungen, die mit den Labors des neunzehnten Jahrhunderts nichts mehr gemein haben. Partikel laufen in kilometerlangen Röhren auf Kreisbahnen um. Sie
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werden dort auf enorme Geschwindigkeiten beschleunigt und zur Kollision gebracht, wobei sich aus den freigesetzten Energien neue Teilchen bilden. Deren Nachweis erfolgt aufgrund der Spuren, die sie in dampfgefüllten Kammern hinterlassen wie Flugzeuge ihre Kondensstreifen, oder durch Funkenentladungen entlang ihrer Bahn in einem elektrischen Feld. Kaum eine Universität könnte derartige Versuche finanzieren. Darum spielt sich die Teilchenphysik in übernationalen Forschungszentren ab, von denen es weltweit nur wenige gibt. Hatte noch vor hundert Jahren ein Einzelner Maßgebliches vollbringen können, so weist heute das Titelblatt einer zehn Druckseiten langen Publikation nicht selten fünfzig Autoren aus einem Dutzend Ländern aus, unter denen seit dem zweiten Weltkrieg die USA den Ton angeben. Erinnern wir uns an Rutherfords und Villards Einteilung der radioaktiven Strahlung in Alpha-, Beta- und Gammastrahlen. Alphastrahlen bestehen aus Heliumkernen, Betastrahlen aus Elektronen; Gammastrahlen sind energiereiches Licht, ähnlich den Röntgenstrahlen. Soweit war um 1930 alles klar. Die Betastrahlung zeigt jedoch eine merkwürdige Eigenschaft: Obwohl die beteiligten Atome zwischen wohldefinierten Zuständen wechseln und die emittierten Elektronen daher eindeutige Frequenzen haben sollten, beobachtet man ein kontinuierliches Spektrum, das auch Frequenzen enthält, die sich nicht aus den Energiedifferenzen ergeben. Entweder verletzte der Betazerfall die Energieerhaltung oder es musste ein weiteres Teilchen involviert sein, auf dessen Konto die fehlenden Energiemengen zu setzen waren. Als Enrico Fermi 1933 dieses Neutrino theoretisch beleuchtete, stieß er auf eine neue Kraft, zusätzlich zu den beiden Grundkräften der Natur, der elektromagnetischen und der Gravitation. Der Gedanke kam dermaßen aus heiterem Himmel, dass die Zeitschrift Nature Fermis Manuskript ablehnte. Es hatte jedoch Hand und Fuß: Eine dritte Kraft, die schwache
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Wechselwirkung, existiert tatsächlich. Kurz darauf erklärte Hideki Yukawa die Bindung zwischen den Teilchen des Atomkerns mit einer vierten Grundkraft, der starken Wechselwirkung. Im Gegensatz zu elektromagnetischer Kraft und Gravitation, die zwar mit steigender Entfernung abnehmen, aber nirgends ganz verschwinden, treten schwache und starke Wechselwirkung nur im Innersten der Atome in Erscheinung. Man entdeckte nicht nur immer mehr Teilchen, sondern ortete auch Regelmäßigkeiten in ihren Eigenschaften, die an das Periodensystem der chemischen Elemente erinnerten. Nun wuchs der Verdacht, dass die Elementarteilchen doch nicht so elementar wären, wie man zu Anfang geglaubt hatte. Waren sie vielleicht aus noch grundlegenderen Bausteinen zusammengesetzt? Nach einem Modell des Amerikaners Murray Gell-Mann aus den 1960er-Jahren besteht alle Materie aus zwölf Sorten von Objekten: sechs Leptonen und sechs weiteren Partikeln, die Gell-Mann auf den Namen Quarks taufte. So setzt sich, nach dem heute gültigen Standardmodell der Elementarteilchen, das Proton aus zwei u-Quarks und einem d-Quark zusammen, das Neutron aus einem u-Quark und zwei d-Quarks, während das Elektron selbst ein Lepton ist und daher elementar auch im neuen Sinn. Die Theorie kennt noch eine Reihe weiterer Teilchen, darunter das für die Schwerkraft zuständige Graviton, das sich aber vorläufig gut versteckt hält. Besondere Berühmtheit hat zuletzt das Higgs-Boson erlangt: Theoretisch vorhergesagt 1964 von Peter Higgs, konnte es jahrzehntelang nicht im Experiment gefunden werden, weil den Beschleunigern die nötige Energie fehlte; bis sich ab 2011 die Befunde verdichteten und es heute als gesichert gilt. Wenn wir den Ausdruck „Teilchen“ gebrauchen, dann reden wir immer von Objekten, die sowohl mit Teilchen- als auch mit Welleneigenschaften ausgestattet sind. Schrödinger zufolge ist der Teilchencharakter lediglich das Resultat
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einer Wechselwirkung zwischen zwei Wellenfeldern: dem des „Teilchens“ selbst und dem jenes Gebildes, das ihn zum Vorschein bringt, eines Messgerätes beispielsweise. Daraus folgt, dass ein Teilchen kein beständiges Ding ist; es hätte gar keinen Sinn zu sagen, man habe zweimal dasselbe Teilchen beobachtet, und ebensowenig kann man sagen, man habe zwei verschiedene gesehen: Teilchen kann man nicht im herkömmlichen Sinn abzählen. Im Kapitel über die Wärme haben wir festgestellt, dass eine neue Konfiguration entsteht, sobald zwei Teilchen ihre Zustände tauschen. Diese Zählung wird nach ihren geistigen Vätern Maxwell-BoltzmannStatistik genannt. Damit sie gilt, müssen die Teilchen unterscheidbar sein. Sind sie es nicht, gebrauchen wir die BoseEinstein-Statistik. Kann zusätzlich jeder Zustand nur von einem einzigen Teilchen besetzt werden, wie es das Prinzip von Pauli unter anderem für Elektronen fordert, dann wenden wir die Fermi-Dirac-Statistik an. Dass Elektronen keine gewöhnlichen Dinge sind, erkennt man aus dem Pauli-Prinzip. Woher nämlich „weiß“ ein Elektron, welche Zustände schon von anderen belegt und ihm daher verboten sind? In der makroskopischen Welt gibt es so etwas nicht; kein Satellit würde sich weigern, eine Umlaufbahn einzuschlagen, die schon ein anderer einnimmt. Elektronen verhalten sich aber, als wären sie überall gleichzeitig und wüssten über alles Bescheid. Deutlicher als jede andere Wissenschaft zeigt uns die Quantenphysik, dass alles und jedes das Produkt einer Theorie ist. Darin spiegelt sich die Position der idealistischen Philosophie: Es gibt nur die Ideen, und Materie ist eine Erscheinungsform der Ideen; was der materialistischen Sicht, Gedanken seien Erscheinungsformen der Materie, keineswegs widerspricht. Denn zur Verträglichkeit der beiden Standpunkte genügt es anzunehmen, dass außerhalb unseres Denkens etwas existiere und ihm zugrunde liege, und wir das, wodurch dieses Etwas auf uns wirkt, Materie nennen. Als Heisenberg beschloss, in seiner Theorie nur beobachtbare
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Größen zu dulden, ging er davon aus, dass vor der Theorie klar war, was eine beobachtbare Größe ist. Einstein sah es dagegen als Denkfehler an, so etwas vorauszusetzen, denn „erst die Theorie entscheidet, was man beobachten kann.“
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Wir haben im vorigen Kapitel die Hauptströmung der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts kennengelernt; sie schlug Generationen von Forschern in ihren Bann und wird noch heute mit ungeheurem Aufwand an Mensch und Material betrieben. Nun wenden wir uns einem nicht minder bedeutenden Zweig zu, der von außen betrachtet das Gegenteil darstellt, nämlich die Schreibtischarbeit eines einzelnen Mannes. Natürlich war auch dieser nicht ohne Vorgänger; wie jeder Mensch auf dem baut, was andere vor ihm geschaffen haben, errichtete er sein Gebäude auf dem von Newton und Maxwell abgesteckten Terrain. Um 1900 lagen mit der newtonschen Mechanik und der maxwellschen Elektrodynamik zwei Theorien vor, von denen jede in sich konsistent ist und beinahe sämtliche Erscheinungen, die in ihren Bereich fallen, präzise beschreibt. Sie passen aber aus zwei Gründen nicht zusammen. Erstens sind die Kräfte der Mechanik unabhängig von Geschwindigkeiten; wir kennen aus dem zweiten Kapitel das Relativitätsprinzip von Galilei, demzufolge man durch kein Experiment © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 W. Tschirk, Vom Universum, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9_7
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herausfinden kann, ob man sich in einem ruhenden Zimmer befindet oder in der Kabine eines mit konstanter Geschwindigkeit fahrenden Schiffes. Die Kräfte der Elektrodynamik hängen jedoch von der Geschwindigkeit ab, denn bewegte Ladungen erzeugen magnetische Felder, unbewegte nicht. Daraus folgt, dass die Elektrodynamik, im Gegensatz zur Mechanik, den Begriff der absoluten Ruhe kennt: Ein Körper ruht dann absolut, wenn er sich gegenüber dem Äther nicht bewegt. Während die newtonschen Gesetze in jedem unbeschleunigten System – Inertialsystem – gelten, gelten die maxwellschen nur im System des Äthers. Zweitens widerspricht die Art und Weise, wie man in der Mechanik Geschwindigkeiten berechnet, einem Prinzip der Elektrodynamik: Wenn ein Eisenbahnzug mit 70 Kilometern pro Stunde fährt und sich darin ein Fahrgast mit 5 Kilometern pro Stunde in Fahrtrichtung bewegt, attestieren wir dieser Person insgesamt 75 Kilometern pro Stunde, weil wir zu ihrer Geschwindigkeit die des Zuges addieren. Bewegte sich anstelle des Passagiers ein Lichtstrahl mit – vom Zug aus gesehen – Lichtgeschwindigkeit nach vorne, so wäre auch dieser für uns um 70 Kilometern pro Stunde schneller. Die Elektrodynamik besagt dagegen, dass Licht, unabhängig von der Geschwindigkeit seiner Quelle, immer gleich schnell ist. Diese Widersprüche gefielen dem fünfundzwanzigjährigen Albert Einstein gar nicht. Seiner Ansicht nach sollten in allen Systemen, in denen die mechanischen Gesetze gelten, auch die der Elektrodynamik wirksam sein; außerdem sollte sich das Licht im leeren Raum stets mit der gleichen, von der Bewegung seiner Quelle unabhängigen Geschwindigkeit fortpflanzen. Nach allem, was wir bisher erfahren haben, erscheinen diese Forderungen widersinnig. Nehmen wir einmal an, die Geschwindigkeit des Lichstrahls wäre die gleiche, einerlei, ob man sie vom fahrenden Zug oder vom Bahndamm aus beurteilt. Nun stellen wir uns vor, exakt in der Mitte eines Waggons flamme eine Kerze auf. Ihr Licht
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würde sich mit gleicher Geschwindigkeit in alle Richtungen ausbreiten, und zwar sowohl vom Zug als auch vom Bahndamm aus gesehen. Vom Zug aus gesehen würde es die vordere und die hintere Waggonwand zur gleichen Zeit erreichen; vom Bahndamm aus beurteilt jedoch nicht, denn während der Lichtstrahl unterwegs ist, bewegt sich die vordere Wand von seinem Ausgangsort weg, die hintere auf ihn zu. Wir müssen also entweder zugeben, dass die Lichtgeschwindigkeit von der Bewegung des beobachteten Systems relativ zum Beobachter abhängt, oder dass dies auf die Gleichzeitigkeit von räumlich getrennten Ereignissen zutrifft. Sehen wir nun, welche Streiche uns die Intuition spielen kann: Kein Mensch käme auf den Gedanken, dass zwei Ereignisse, die für ihn gleichzeitig stattfinden, für einen anderen hintereinander geschähen. Einstein jedoch erkannte, dass es keinen Beweis für absolute Gleichzeitigkeit gibt, während hinter der absoluten Lichtgeschwindigkeit eine ausgereifte Theorie stand. Wenn nun die Gleichzeitigkeit von der Bewegung abhängt, dann auch sämtliche Zeitspannen. Wenn zwischen zwei Ereignissen, vom Zug aus beurteilt, eine Sekunde vergeht, dann erscheinen sie vom Bahndamm aus um eine andere Zeitdifferenz getrennt. Ebenso verhält es sich mit räumlichen Entfernungen: Gegenstände erscheinen in gegeneinander bewegten Systemen verschieden groß. Basierend auf seinen beiden Voraussetzungen – die Elektrodynamik gelte in allen Inertialsystemen und das Licht sei immer gleich schnell – entwickelte Einstein eine „einfache und widerspruchsfreie Elektrodynamik bewegter Körper“, die noch mehr ist als das. Sie enthält Gleichungen, nach denen sich Ort und Zeit zwischen gegeneinander bewegten Inertialsystemen transformieren, und damit auch eine neue Mechanik. Die gleichen Formeln hatte 1904, ein Jahr vor Einstein, schon Hendrik Lorentz gefunden. Der Namensgeber der Lorentz-Transformationen hatte jedoch an der Existenz des absoluten Raumes und der absoluten Zeit
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festgehalten und die „lokalen“ Größen seiner Gleichungen als notwendiges Übel angesehen, als mathematischen Trick, nötig, um Rechnung und Beobachtung zur Deckung zu bringen. Nun hatte Einstein gezeigt, auf welcher physikalischen Grundlage diese Transformationen stehen. Aus Ortund Zeitumrechnungen folgen auch welche für Geschwindigkeiten: Vom Bahndamm aus wird die Geschwindigkeit unseres Fahrgastes ein wenig geringer erscheinen als die Summe aus seinem Gehtempo und dem Tempo des Zuges. Das alles ist so lange unentdeckt geblieben, weil die Körper, mit denen wir es immer zu tun haben, viel langsamer sind als das Licht und man unter diesen Umständen die Effekte kaum messen kann. Anders bei Geschwindigkeiten nahe jener des Lichtes: Dort werden die Abweichungen stärker und stärker und machen schließlich die Lichtgeschwindigkeit zu einer Grenze, die kein Körper, keine Welle und auch sonst nichts überschreiten kann. Im zweiten Teil seiner Arbeit, die 1905 in den Annalen der Physik erschien, wandte Einstein die LorentzTransformationen auf die Maxwell-Gleichungen an. Sofort verschwand aus diesen jegliche absolute Geschwindigkeit und damit auch die Vorstellung eines absolut ruhenden Systems. Bis dahin hatte man die Wechselwirkung zwischen einer elektrischen Ladung und einem Magneten so verstanden: Bewegt sich die Ladung, erzeugt sie ein magnetisches Feld und damit eine Kraft auf den Magneten; bewegt sich der Magnet, erzeugt er ein elektrisches Feld und damit eine Kraft auf die Ladung. Die Unterscheidung zwischen Ruhe und Bewegung war also zur Erklärung der elektromagnetischen Wechselwirkung notwendig gewesen. Nun zeigte sich das in einem anderen Licht: Es kommt nämlich nur auf die relative Bewegung von Ladung gegen Magnet an, und die „elektromotorischen“ und „magnetomotorischen“ Kräfte waren als reine Hilfsbegriffe ohne physikalische Realität entlarvt. Wenn es aber kein absolut ruhendes System gibt, so
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ist es mehr als fraglich, ob man noch einen Äther braucht. Gewiss, der Äther hatte anfangs als Medium gegolten, in dem die elektromagnetischen Schwingungen – und daher auch das Licht – sich durch mechanische Vorgänge ausbreiten; zuletzt jedoch sollte er nur mehr ein Bezugsystem definieren, von dem man sagen konnte, es ruhe. Nun stand er im Weg herum, denn wenn alle Inertialsysteme gleichberechtigt sind, kann nicht eines von ihnen den Äther beherbergen. Die Ätherhypothese war schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Misskredit geraten. 1887 hatten die Amerikaner Albert Michelson und Edward Morley versucht, die absolute Geschwindigkeit der Erde im Weltraum zu ermitteln, indem sie die Lichtgeschwindigkeit in verschiedenen Richtungen maßen. Ihre damals unbezweifelte Hypothese war gewesen, die Geschwindigkeit des Lichtes im ruhenden Äther wäre konstant und das Licht müsste daher in Richtung der Erdbewegung langsamer, in der Gegenrichtung schneller erscheinen, wie auch ein überholendes Auto langsamer erscheint als ein entgegenkommendes. Zu ihrer Verwunderung hatten Michelson und Morley festgestellt, dass sich das Licht auf der Erde in allen Richtungen gleich schnell ausbreitet. Das konnte nur dann der Fall sein, wenn die Erde im Äther ruhte, anstatt sich durch ihn hindurchzubewegen, was man aber schon lange zuvor ausgeschlossen hatte. Denn bereits 1728 war dem Astronomen James Bradley aufgefallen, dass man die optische Achse eines Fernrohres gegenüber der Einfallsrichtung des Lichtes ein wenig neigen muss, um den Einfluss der Erdbewegung auszugleichen, und das ließ sich nur mit einer Fahrt der Erde durch den Äther, wenn es ihn denn gab, erklären. Dank Einstein war das alles überflüssig geworden; man konnte den Äther, der die Physiker jahrhundertelang mit seinen Eigenheiten gequält hatte, endlich ad acta legen. Drei Monate nach seiner bahnbrechenden Arbeit publizierte Einstein einen kurzen Nachtrag, in dem er die Äqui-
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valenz von Masse und Energie aufzeigte. In seinen Worten lautet ihr Resümee: „Die Masse eines Körpers ist ein Maß für dessen Energieinhalt; ändert sich die Energie um L , so ändert sich die Masse in demselben Sinne um L/9 · 1020 , wenn die Energie in Erg und die Masse in Grammen gemessen wird.“ Das wurde später zur berühmtesten Formel der Welt, E = mc2 , welche besagt, dass einer Masse m eine Energie E entspricht, die das Produkt ist aus der Masse und dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit c . Bezeichnend für Einstein, dass er den Titel dieses Nachtrages als Frage formuliert hat: „Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?“, und den letzten Satz mit den Worten „Wenn die Theorie den Tatsachen entspricht“ beginnen lässt. Später schrieb er über seine Arbeit sogar: „Da ist kein einziger Begriff, von dem ich überzeugt wäre, dass er standhalten wird, und ich fühle mich unsicher, ob ich überhaupt auf dem rechten Weg bin.“ Denn er verstand viel zu viel von der Physik, um irgendetwas für sicher zu halten, und es ist ja das Vorrecht der kompletten Ignoranten, immer alles ganz genau zu wissen. Die Gleichung E = mc2 stand also in Einsteins Arbeit anders, als wir sie heute kennen. Überhaupt enthalten viele Originalarbeiten ihre Ergebnisse nicht in der Form, in der sie uns heute aus den Lehrbüchern entgegentreten. Wir können Keplers Gesetze aus seinen Werken nur erschließen, in Newtons Principia würden wir vergebens nach den vertrauten Formeln suchen, und die Maxwell-Gleichungen wurden erst Jahrzehnte später von Heaviside und Gibbs in ihre heutige Gestalt gebracht. Vor Einsteins Entdeckung, dass Masse und Energie ineinander umgewandelt werden können, hatte man gedacht, sowohl die Masse eines abgeschlossenen Systems als auch seine Energie blieben ungeachtet der in ihm ablaufenden Prozesse konstant. Diese beiden Erhaltungssätze verschmolzen nun zu einem einzigen, weil die Masse nichts anderes
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ist als eine Erscheinungsform der Energie. Das erklärt den sogenannten Massedefekt: Die Masse eines Atoms ist geringer als die Summe der Massen seiner einzelnen Teilchen, denn bei der Bildung des Atomkerns wird Energie frei, die dann als Masse fehlt. Wegen der immensen Größe der Lichtgeschwindigkeit entspricht schon einer kleinen Masse eine beträchtliche Energie, worauf die technische Nutzung der Kernenergie beruht. Einstein nannte den Grundsatz, dass es bei den physikalischen Erscheinungen nie auf absolute, sondern immer nur auf relative Bewegung ankommt, sein Relativitätsprinzip. Soviel wir wissen, tauchte das Wort „Relativitätstheorie“ zum ersten Mal 1907 in einem Aufsatz von Paul Ehrenfest auf. Im Jahr darauf schneiderte der Mathematiker Hermann Minkowski der Theorie ein elegantes Kleid: Er erweiterte den herkömmlichen dreidimensionalen Raum um eine zusätzliche Dimension, in der die Zeit eine Rolle spielt, und gelangte so zur vierdimensionalen Raumzeit. In dieser treten an die Stelle der gewohnten Orte und Zeiten Ereignisse, die durch gemeinsame Angabe von Ort und Zeit festgelegt sind. Die Aussage „ein Körper befindet sich zu dieser und jener Zeit an diesem und jenem Ort“ kann in einen Punkt in der Raumzeit übersetzt werden und die Bewegung eines Körpers in eine Linie, seine Weltlinie. In diesem Koordinatensystem erhalten die Lorentz-Transformationen eine besonders einfache Form. Minkowski huldigte seiner Idee mit den Worten: „Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren“, was wohl ein wenig übertrieben war. Seltsamerweise machte die Relativitätstheorie den Physikern lange zu schaffen, obwohl sie durch die Quantenhypothesen Kummer gewohnt sein mussten. Jedenfalls wurden Einsteins Ideen noch zögernder aufgenommen als die Quantentheorien. Hier trat zum Teil ein, worauf Max Planck einmal treffend hingewiesen hat: Ei-
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ne neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden, sondern vielmehr dadurch, dass sie allmählich aussterben. Einstein hatte in der Wissenschaft keine Anstellung gefunden und verdiente sein Geld immer noch als Patentprüfer. Nach 1905 aber war er ein Mann, von dem man in Physikerkreisen mit Hochachtung sprach. Das verdankte er nur in zweiter Linie der Relativitätstheorie; maßgebend für die Anerkennung, die er nun erfuhr, war seine im vorigen Kapitel erwähnte Lichtquantenhypothese, da sie den Gegenstand des konzentrierten Interesses betraf. 1909 erhielt er eine außerordentliche Professur in Zürich, womit endlich seine Universitätslaufbahn begann. Der unübliche Weg Einsteins zum Wissenschaftler hat zu der Legende geführt, er wäre ein schlechter Schüler gewesen und hätte seine genialen Züge außerhalb der Bildungsstätten entwickelt. Wahr ist daran seine Abneigung gegen den preußischen Schulbetrieb wie gegen alles, was nach Autorität oder gar Militär roch: „Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu Musik marschieren kann, dann hat er sein Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark völlig genügen würde.“ Der Tadel durch einen seiner Lehrer: „Ihre bloße Anwesenheit verdirbt mir den Respekt in der Klasse!“ spricht vielleicht gegen sein Benehmen, aber nicht gegen seine Leistung. Seine wissenschaftliche Begabung zeigte sich schon zur Schulzeit; er war in vielen Gegenständen unauffällig, in Mathematik jedoch hervorragend. Es ist ja ein – vermutlich von Schulversagern in die Welt gesetztes – Märchen, Genies wären durch die Bank in der Schule schlecht. Das Gegenteil ist die Regel. Maxwell war ein brillanter Schüler, Planck in allen Fächern überragend, Marie Curie und Rutherford schlossen mit Auszeichnung ab, Boltzmann, Bohr und Schrödinger waren stets Klassenbeste, Young, Hamilton und William Thomson galten als Wunderkinder. Auch Descartes, Voltaire, Kant, Hegel, Schopenhauer, Kierkegaard,
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Nietzsche und Freud rangierten zwischen sehr gut und ausgezeichnet. Dabei konzentrieren sich die frühen Leistungen keineswegs auf das spätere Erfolgsgebiet. Otto Hahn, Abitur mit Bestnoten in Turnen, Singen und Religion, errang den Nobelpreis für Chemie; und der Chemiker Alexander Borodin, Examen mit Auszeichnung, ist der Komponist der Polowetzer Tänze. ∗∗∗∗∗ Die Relativitätstheorie, wie wir sie bisher kennengelernt haben, leidet an einem Schönheitsfehler, der ihrem Schöpfer sehr wohl bewusst war: dem, dass sie nur für Inertialsysteme gilt. Wenn es keinen absoluten Raum gibt – welchen Sinn hat es dann, zwischen gleichförmig bewegten und beschleunigten Systemen zu unterscheiden? In Bezug worauf ist ein beschleunigtes System beschleunigt? In Bezug worauf kann man sagen, ein System drehe sich? Einer Hypothese von Mach zufolge wird die Trägheit jedes Körpers von den ihn umgebenden Massen bewirkt. So resultieren Fliehkräfte aus der Drehung nicht gegen einen absoluten Raum, sondern gegen die gesamte Materie des Universums. Damit verliert das Inertialsystem seine metaphysische Sonderstellung und wird zu einem empirischen Begriff. Einstein hatte die Naturgesetze so formuliert, dass sie in allen Inertialsystemen gelten. Nun keimte in ihm die Hoffnung, es sollte möglich sein, sie so auszudrücken, dass sie in allen Systemen gelten, unabhängig von deren Bewegung. Wiederum erscheint das bei erster Betrachtung aussichtslos. So besagt das Trägheitsgesetz, dass ein sich selbst überlassener Körper in Ruhe oder gleichförmiger Bewegung verharrt. In einem beschleunigten System gilt das offenbar nicht: Wenn ein Eisenbahnzug scharf bremst, dann ist es mit der Ruhe seiner Fahrgäste vorbei. Im Extremfall prallen sie gegen die Waggonwand, als würden sie von ihr angezogen. Das ist
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deswegen bemerkenswert, weil hier eine Beschleunigung auf die gleiche Weise wirkt wie ein Schwerefeld. Erinnern wir uns an das Rätsel der Masse aus dem zweiten Kapitel, nämlich dass es sich nicht um eine, sondern um zwei Eigenschaften handeln müsste: eine, die für die Trägheit, und eine zweite, die für die Schwere verantwortlich ist, und dass beide aus ungeklärten Gründen genau denselben Wert haben. Mehr brauchen wir gar nicht, um das folgenreichste Gedankenexperiment aller Zeiten zu verstehen: Man stelle sich eine Fahrstuhlkabine vor, die im Weltraum schwebe und dort gleichmäßig nach oben beschleunigt werde. Eine Person im Inneren könnte dann glauben, der Fahrstuhl befände sich in einem Schwerefeld – er hinge ruhig in seinem Schacht auf der Erde; und kein Experiment der Welt könnte das Gegenteil beweisen! Das brachte Einstein auf den Gedanken der Wesensgleichheit von Beschleunigung und Schwerkraft; zu jenen Überlegungen also, die sich nach zehnjähriger Arbeit 1915 in einer umfassenden Theorie von Raum, Zeit und Gravitation vollendeten, welche das Bild vom Universum revolutionieren und als allgemeine Relativitätstheorie bekannt werden sollte. Die Theorie von 1905 wurde nachträglich in spezielle Relativitätstheorie umbenannt, da sie, im Gegensatz zur allgemeinen, nur für den besonderen Fall von Inertialsystemen gilt. Fiele ein Lichtstrahl durch ein Seitenfenster in die Fahrstuhlkabine, so erschiene er aufgrund von deren Beschleunigung zum Boden hin gekrümmt. Daher sollte auch ein Schwerefeld in der Lage sein, Licht von seiner geraden Bahn abzulenken. Nun war ein Lichtstrahl von jeher das Paradebeispiel einer geraden Linie gewesen, weil er, nach dem Prinzip von Fermat, die rascheste und daher in homogenen Medien kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten wählt. Wenn ein Lichtstrahl unter Einfluss der Gravitation gekrümmt wird und dennoch die kürzeste Verbindung zweier Punkte bleibt – wie sieht dann der Raum aus, in dem sich
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das abspielt? Denken wir daran, dass nur in der Ebene die kürzeste Verbindung eine gerade Strecke ist; in gekrümmten Flächen ist auch sie gekrümmt, auf einer Kugel beispielsweise folgt sie einem Großkreis. Einstein ging daher von einer Krümmung der Raumzeit aus, die durch die Gravitation, mit anderen Worten: durch die Massen bewirkt wird. Wer sich nicht auf geradlinige Koordinaten beschränkt, der kann die Naturgesetze in eine Gestalt bringen, die in allen Systemen ihre Gültigkeit behält. Man muss sie dazu in beliebig geformten Koordinaten ausdrücken, die nach ihrem Erfinder Gauß benannt sind. Die These der allgemeinen Relativitätstheorie lautet in Einsteins Worten: „Alle gaußschen Koordinatensysteme sind für die Formulierung der allgemeinen Naturgesetze prinzipiell gleichwertig.“ Da in einer solchen Formulierung die Trägheitsbewegung nicht gleichförmig sein muss, widerspricht das Beispiel des bremsenden Zuges nicht mehr der Möglichkeit, Naturgesetze für beliebig bewegte Systeme aufzustellen. Zum ersten Mal war eine universelle, vom Bezugsystem unabhängige Form der Naturgesetze gefunden. Sie klärte das Rätsel auf, das wie ein Stachel im Fleisch der newtonschen Mechanik gesessen war, warum träge und schwere Masse eines Körpers immer gleich groß sind: weil sie dasselbe sind. Sie eliminierte die Fernwirkung aus der Mechanik, indem sie die Gravitation als lokale Eigenschaft der Raumzeit beschrieb. Es war nun nicht mehr nötig, von einer Anziehung zwischen zwei Körpern zu sprechen; jeder Körper folgt einfach den Krümmungen der Raumzeit, wie ein dahinrollender Ball seinen Weg dem Gelände anpasst. Sie erklärte auch die schon lange bekannte und nie verstandene Abweichung des Merkurs von seinem berechneten Weg: Der Merkur ist der Sonne so nahe und seine Raumzeit dadurch so stark gekrümmt, dass er sich von der newtonschen Ellipsenbahn messbar entfernt. Und mit dem Verschwinden des absoluten Raumes löste sich der
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alte Streit zwischen dem ptolemäischen Weltbild und dem kopernikanischen in nichts auf: Beide stimmen. Die allgemeine Relativitätstheorie ist derart mit mathematischen Schwierigkeiten gespickt, dass Einstein, obgleich selbst ein fähiger Mathematiker, die Hilfe seines Freundes Marcel Grossmann in Anspruch nehmen musste. Man benötigt eine ungewöhnliche Art von Geometrie, nämlich jene der gekrümmten Räume, die Bernhard Riemann 1854 entwickelt hatte, und Gleichungen, die vom Koordinatensystem unabhängig sind, wie sie die Tensorrechnung liefert. Nicht ohne Grund bemerkte Einstein: „Seit die Mathematiker über die Relativitätstheorie hergefallen sind, verstehe ich sie selbst nicht mehr.“ Aus mathematischer Sicht bildet den Kern der Theorie ein Satz von Formeln, die den Zusammenhang zwischen der Masseverteilung und der Geometrie der Raumzeit wiedergeben, die sogenannten Feldgleichungen. Auf ihre Lösungen werden wir im nächsten Kapitel zu sprechen kommen. Einen Aspekt allerdings nehmen wir hier vorweg, weil er die verschlungenen Wege beleuchtet, die die Erkenntnis zuweilen geht: Als Einstein 1917 dahinterkam, dass seine Gleichungen ein statisches Weltall – also eines, das sich weder ausdehnt noch zusammenzieht – nicht zulassen, erweiterte er sie um ein Größe, die er kosmologische Konstante nannte und die die Statik gewährleisten sollte; zu jener Zeit lag nämlich ein dynamisches Universum außerhalb jeder Vorstellung. Später, als die Expansion des Weltalls durch Beobachtungen bestätigt war, entfernte er diesen Term wieder, um ihn fortan „die größte Eselei meines Lebens“ zu nennen. Die Krümmung einer Kugelfläche entdeckt man, wenn man die Kugel von außen ansieht. Den Raum kann man nicht von außen betrachten; ist es dennoch möglich, seine Krümmung festzustellen? Zweidimensionale Wesen würden die Krümmung einer Kugeloberfläche, in der sie leben und die sie nicht verlassen können, feststellen, wenn sie die Win-
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kelsumme eines Dreiecks mäßen. In der Ebene beläuft sich diese auf 180 Grad; auf einer Kugel ist sie stets größer, und zwar umso deutlicher, je größer das Dreieck selbst ist. In einem Dreieck, dessen eine Ecke mit dem Nordpol der Erde zusammenfällt, während die beiden anderen am Äquator liegen, beträgt bereits die Summe der beiden Äquatorwinkel 180 Grad, da jeder von ihnen ein rechter ist. Es gibt aber auch Flächen, in denen Dreiecke kleinere Winkelsummen haben als in der Ebene. Unsere Flächenwesen könnten zweitens nachsehen, wie sich Umfang und Durchmesser eines Kreises zueinander verhalten. In der Ebene ist das Verhältnis immer durch die Zahl π gegeben. Auf einer Kugel hängt es von der Größe des betrachteten Kreises ab: Ist er klein im Vergleich zur Kugel, dann unterscheidet er sich wenig von einem in der Ebene; der Äquator allerdings ist nur mehr doppelt so lang wie sein Durchmesser, der auf der Erdoberfläche ja durch einen Pol geht. In anderen Flächen kann das Verhältnis größer sein als π. Mit diesen beiden Methoden – und noch einigen anderen – kann man die Krümmung einer Fläche „von innen“ sehen, und Gleiches gilt auch für den Raum. Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte kaum jemand Einsteins Arbeit an der allgemeinen Relativitätstheorie zur Kenntnis genommen. Das Interesse der Wissenschaft war ganz der Quantenphysik zugewandt, und die Öffentlichkeit kannte ihn nicht. Das änderte sich schlagartig durch die Nachricht, ein Team von Astronomen unter der Leitung des Engländers Arthur Eddington habe die Ablenkung des Lichtes im Schwerefeld tatsächlich beobachtet. Mit einem Mal war Einstein ein Star. Er hielt Vorträge in halb Europa, in Amerika und Asien, zu allem und jedem holte man seine Meinung ein, und „jeder Kutscher debattiert, ob die Relativitätstheorie richtig sei.“ Das geschah in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, die angefüllt waren mit Chauvinismus und nationalen Rivalitäten, und Einstein prophezeite, vielleicht im
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Scherz, vielleicht aber auch im Ernst: „Wenn ich mit der Relativitätstheorie recht behalte, werden die Deutschen sagen, ich sei Deutscher, und die Franzosen, ich sei Weltbürger. Erweist sich die Theorie als falsch, werden die Franzosen sagen, ich sei Deutscher, und die Deutschen, ich sei Jude.“ Hier irrte er. Damit man sich von ihm abwandte, musste seine Theorie gar nicht falsch sein, es genügte die bloße Behauptung. So erhob sich in Deutschland unter der Führung des Physikers Lenard eine Kampagne gegen die „jüdische Wissenschaft“. Als Hitler 1933 die Macht übernahm, befand sich Einstein auf einer Reise in die Vereinigten Staaten. Er sollte sein Heimatland nie wiedersehen. Ohrfeigen setzte es aber auch von anderer, unerwarteter Seite. Der deutsche Schriftsteller und Arzt Alfred Döblin empörte sich im Berliner Tageblatt über „die abscheuliche Relativitätslehre“ und hielt für die Nachwelt fest: „Die schreckliche Mißgeburt, die die Wissenschaft von heute uns als Natur demonstriert, hat nichts mit dem zu tun, was wir um uns sehen und wirklich erleben.“ Mochte Döblin sonst auch ein gescheiter Mensch gewesen sein – um diese Äußerung ist es nicht besser bestellt als um jede Kritik, die dem Unverständnis entspringt: Sie gleicht der Ansicht eines Buschmannes, für den seltsame Gestalten in verrückten Gewändern umherirren und komische Laute ausstoßen, wo andere sagen würden, es handle sich um eine Aufführung der Traviata. Wenn wir den Elektrodynamikaspekt der Relativitätstheorie beiseitelassen und nur die Mechanik betrachten, so sehen wir, was es heißen kann, dass eine Theorie durch eine andere abgelöst wird. Es wurde ja nicht etwa eine „falsche“ newtonsche Mechanik durch eine „richtige“ spezielle Relativitätstheorie ersetzt und später eine „falsche“ spezielle Relativitätstheorie durch eine „richtige“ allgemeine. Nach Machs Definition der Wissenschaft ist die eine Theorie so richtig oder falsch wie die andere; lediglich ihre Gültigkeits-
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bereiche sind verschieden. Solange Massen und Geschwindigkeiten klein sind, reicht die newtonsche Mechanik aus; man kann auch die einsteinschen Theorien verwenden, muss aber nicht. Bei großen Geschwindigkeiten benötigt man zumindest die spezielle Relativitätstheorie; man kann auch die allgemeine verwenden, muss aber nicht. Sind aber die Massen groß, dann führt kein Weg mehr an der allgemeinen Relativitätstheorie vorbei. Man kann sich fragen, ob es eine Theorie gibt, die noch allgemeiner ist. Der Gedanke drängt sich auf, weil Einstein zwar die Widersprüche zwischen Mechanik und Elektrodynamik beseitigt hatte, aber zwanzig Jahre danach eine ähnliche Lage entstanden war: Nun gab es mit der allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenphysik wieder zwei unverträgliche Lehren. Denn Einstein hatte die Fernkraft aus der Mechanik eliminiert und sämtliche Bewegungen auf die Geometrie der Raumzeit zurückgeführt; die Quantenphysik kennt jedoch weiterhin Kräfte, die über Distanzen wirken. Abgesehen davon waren zwar die raumzeitlichen Transformationen der Maxwell-Gleichungen durch die Relativitätstheorie geklärt, nicht aber die Natur der elektromagnetischen Kräfte. Also nahm Einstein diese Probleme in Angriff und suchte nach einer Theorie, die sämtliche Naturkräfte umfassen sollte. Nun war er eine Zeit lang in Gesellschaft; vielleicht hatte seine einzigartige Berühmtheit den anderen gezeigt, dass es sich lohnte, die Ideen dieses Sonderlings aufzugreifen. Doch einer nach dem anderen gaben seine Mitstreiter das Vorhaben wieder auf, als der Erfolg auf sich warten ließ. Nur Einstein hielt durch. Den Rest seines Lebens, fast vierzig Jahre, widmete er beinahe ausschließlich diesem Thema; schien der Lösung nahe, verkündete neue Formeln und zog sie wieder zurück, verlor das Interesse an der Quantenphysik, die er mitbegründet hatte, und den Kontakt zu seinen Kollegen. Man sagt, dass Einstein im Alter einsam war. Aber einsam war er immer schon gewesen: Als kleiner
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Patentbeamter hatte er seine ersten wegweisenden Schriften verfasst. Danach sich einem Problem zugewandt, das außer ihm keiner auch nur wahrgenommen hatte, und, während eine Armee junger Atomphysiker neues Land eroberte, in geistiger Abgeschiedenheit seine allgemeine Relativitätstheorie geschaffen, die Krone der Physik. Auf der Höhe seines Ruhmes hatte er sich, unterstützt einzig und allein von Schrödinger, gegen den Indeterminismus der Quantenphysik aufgelehnt und damit die erste Niederlage erlitten. Und über der Arbeit an seinem ewigen, nie erfüllten Traum, der einheitlichen Feldtheorie, holte schließlich auch ihn die Zeit ein. Aber da war er schon zur Legende geworden.
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Spätestens seit Newton nahm man an, das Universum wäre unendlich groß, unendlich alt und überall gleich dicht mit Sternen besetzt. Sehen wir nach, was sich daraus ergibt. Dazu denken wir uns, mit der Erde als Zentrum, eine Folge von Kugelschalen gleicher Dicke, eine die andere umhüllend, immer weiter in den Raum hinaus. Nun vergleichen wir zwei Schalen, deren größere den doppelten Radius der kleineren habe. Die größere besitzt das vierfache Volumen der kleineren, enthält also viermal so viele Sterne und sendet viermal so viel Licht aus. Da sie aber doppelt so weit entfernt ist, erscheint ihr Licht viermal so schwach; so fällt aus der größeren Schale gleich viel Energie auf die Erde wie aus der kleineren. Dieser Zusammenhang gilt allgemein: Aus jeder Schale erreicht uns gleich viel Licht. Wären unsere Annahmen richtig, dann gäbe es unendlich viele Schalen; unendlich viel Energie gelangte zur Erde – sie wäre unendlich heiß. Diesen Sachverhalt hat 1823 Heinrich Wilhelm Olbers aufgedeckt; er ist als Olbers’ Paradoxon bekannt. Hier muss etwas falsch sein, © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 W. Tschirk, Vom Universum, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9_8
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soviel ist sicher. Entweder ist das Universum nicht unendlich groß – dann gibt es nur endlich viele Kugelschalen; oder nicht unendlich alt – dann hat uns das Licht der fernen Sterne noch nicht erreicht; oder nicht gleichmäßig mit Sternen besetzt, sondern weit draußen ziemlich leer. Im Jahr 1894 bemerkte Hugo von Seeliger eine weitere Diskrepanz zwischen der Physik und den mutmaßlichen Eigenschaften des Universums: Ein homogener Kosmos, in dem die newtonschen Gesetze gelten, kann nicht statisch sein; er müsste sich durch die Gravitation zusammenziehen. Seeliger schlug ein neues Anziehungsgesetz vor, dem aber keiner traute. Erst die allgemeine Relativitätstheorie und die Astronomie des zwanzigsten Jahrhunderts sollten diese Widersprüche beseitigen. Damit aus den einsteinschen Feldgleichungen ein Weltmodell wird, muss man Annahmen treffen. Einstein selbst löste seine Gleichungen für den Fall gleichförmiger Verteilung der Massen und erhielt einen Kosmos endlicher Größe. Der holländische Astronom Willem de Sitter fand eine Lösung für ein materieloses Universum, was nicht so abwegig ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag; denn die durchschnittliche Dichte der Materie ist so gering, dass eine Kugel von der Größe der Erde im Mittel nur ein Hundertstelgramm Stoff enthält. De Sitters Raumzeit ist flach, da ja die Krümmung erst durch die Massen entsteht; sie dehnt sich jedoch aus, und das war 1917 eine enorme Überraschung, zumal noch keine einzige Beobachtung auf eine Expansion des Weltalls hinwies. Die heute gängigen Modelle des Kosmos folgen aus der 1922 vom Russen Alexander Friedmann getroffenen Annahme, die da lautet: Das Universum erscheint, im Großen gesehen, immer gleich, von welchem Ort aus und in welche Richtung man auch blickt. Das lässt drei Möglichkeiten zu: Erstens: Das Universum expandiert so langsam, dass die Gravitation ausreicht, die Bewegung aufzuhalten und es wieder zum Zusammenziehen zu zwingen; zweitens: Es expandiert so schnell, dass es
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die Anziehungskräfte überwindet, wobei seine Ausdehnung sich verlangsamt und mit der Zeit einem konstanten Tempo zustrebt; drittens: Das Universum dehnt sich immer weiter aus und nähert sich dabei einem Ruhezustand. Wir merken hier an, dass sämtliche Weltmodelle als einzige Kraft die Gravitation in Betracht ziehen. Obwohl wir vier Kräfte in der Natur kennen: Gravitation, elektromagnetische Kraft, schwache und starke Wechselwirkung, ist das gerechtfertigt. Da die Himmelskörper nach außen elektrisch neutral sind – ihre positiven und negativen Ladungen heben einander auf –, gibt es keine elektromagnetischen Kräfte zwischen ihnen; schwache und starke Wechselwirkung wiederum reichen nur über atomare Distanzen, nicht aber in die Ferne. Sobald wir hören, etwas dehne sich aus, denken wir an ein Zentrum dieser Ausdehnung; bläst man einen Luftballon auf, so entfernt sich alles von einem als fest angesehenen Mittelpunkt. Andererseits hat die Relativitätstheorie den absoluten Raum beseitigt und uns damit auch die Möglichkeit genommen, irgendeinem Punkt eine besondere Lage zuzugestehen. Wie Carl Friedrich von Weizsäcker bemerkt hat, ist es sogar irrig zu glauben, man könne zweimal hintereinander auf denselben Punkt im Raum zeigen. Diesem Widerspruch entkommen wir, wenn wir uns die Galaxien nicht in das Volumen des Luftballons, sondern auf seine Hülle gesetzt denken; dort entfernt sich beim Aufblasen jeder Punkt von jedem anderen, ohne dass einer von ihnen die Rolle eines Zentrums spielen müsste. Dieses Bild erlöst uns auch aus dem Konflikt, in den uns die Vorstellung eines endlich großen und dennoch grenzenlosen Universums gestürzt hat; denn die Hülle des Luftballons, auf der unsere „Galaxien“ sitzen, ist von endlicher Größe und hat trotzdem keine Grenzen. Wenn das Universum sich ausdehnt – wie hat es dann früher ausgesehen? Muss es nicht ganz klein gewesen sein? In
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Gedanken können wir seine mögliche Geschichte zurückverfolgen, indem wir in den Friedmann-Modellen die Zeit rückwärts laufen lassen – dann zieht sich das Universum bis auf einen Punkt zusammen. Der so errechnete Weltanfang ist als Urknall bekannt: Aus einem einzigen Punkt wurden Raum, Zeit und Energie, verkörpert in Strahlung und Materie, geschaffen. Sollte sich das wirklich so zugetragen haben, dann wären zwei Galaxien, die mit hoher Geschwindigkeit auseinandergeschleudert wurden, heute weit voneinander entfernt; hingegen zwei andere, die langsamer auseinanderflogen, heute noch näher beisammen. Daraus folgt umgekehrt, dass sich die Galaxien umso schneller von der Erde fortbewegen müssten, je weiter sie von ihr entfernt sind. Ob sich eine Galaxie von der Erde entfernt, kann man aber an ihrem Licht erkennen. Jede seiner Schwingungen müsste dann nämlich einen etwas weiteren Weg zur Erde zurücklegen als die vor ihr ausgesandte; sie bräuchte daher auch ein wenig länger, dadurch wäre die Frequenz des ankommenden Lichtes kleiner als die des ausgesandten und das Licht zum roten Ende des Spektrums hin verschoben. Diese Rotverschiebung wird umso deutlicher, je rascher sich die Galaxie entfernt. Nun müsste eine doppelt so weit entfernte Galaxie sich auch doppelt so schnell fortbewegen und ihr Licht daher eine doppelt so starke Rotverschiebung aufweisen. Im Jahr 1929 gelang es Edwin Hubble, genau diesen Zusammenhang zu messen: Die Rotverschiebung der Galaxien ist proportional zu ihrer Entfernung von der Erde. Hubbles Entdeckung stützt die Urknallhypothese. Zusätzlich gibt sie uns Gelegenheit, Alter und Größe des Universums zu schätzen: Weiß man nämlich, wie weit eine Galaxie entfernt ist und wie schnell sie entflieht, dann kann man erstens ausrechnen, vor wie langer Zeit sie ganz in der Nähe war, wie lange also der Urknall her ist, und zweitens, wie weit in dieser Zeit das Licht gereist ist; dort aber liegt die äußerste Grenze.
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Der Urknall strapaziert unser Vorstellungsvermögen gewaltig. Der Gedanke, all die riesigen Massen und Energien wären aus einem einzigen Punkt hervorgegangen, hat etwas ganz und gar Absurdes an sich. Eine solche Hypothese schreit nach Überprüfung. Und hier offenbart sich eine grundlegende Schwäche der Astronomie gegenüber allen anderen Gebieten der Physik: Sie kann nicht experimentieren. Eine astronomische Theorie kann man nicht im Labor überprüfen; wir müssen vorliebnehmen mit dem, was die Natur von sich aus bereitgestellt hat, und nur das können wir nach Belegen für oder gegen eine Theorie absuchen. Was den Urknall betrifft, kam hier ein Zufall zu Hilfe. Die Theorie sagt, dass von seiner enormen Strahlung noch ein Rest vorhanden sein müsste. 1964 bemerkten zwei Techniker der Bell Telephone Company, Arno Penzias und Robert Wilson, ein Rauschen in ihrer Antenne, für das sie keine Erklärung fanden. Was Generationen von Funktechnikern zur Verzweiflung trieb und noch immer treibt, nämlich geisterhafte Störsignale im Empfänger, sollte den beiden den Nobelpreis für Physik einbringen: Sie hatten die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckt, die von Theoretikern seit Jahren als Überbleibsel des Urknalls vorhergesagt worden war. Rotverschiebung, Größe und Alter des Universums, Hintergrundstrahlung, aber auch die Häufigkeiten der chemischen Elemente: Was der Urknall zur Folge gehabt hätte, passt gut zu dem, was wir heute beobachten. Deshalb bildet er die Basis des sogenannten Standardmodells des Universums. Andere, bei grobem Hinsehen plausiblere Theorien gab man dafür auf, allen voran das Steady-State-Modell von Bondi, Gold und Hoyle aus dem Jahr 1948, demzufolge der Kosmos, im großen Maßstab betrachtet, ewig gleich bleibt. Im vorigen Kapitel haben wir besprochen, wie man durch Messungen feststellen kann, ob man in einem gekrümmten Raum lebt und wie stark dessen Krümmung ist. Zwar ha-
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ben es die ungeheuren Dimensionen des Universums bisher nicht erlaubt, auf geometrischem Wege zu einer Aussage über seine Krümmung zu gelangen; Hubble hat jedoch ein kühnes Messverfahren vorgeschlagen, das erwähnt zu werden verdient, obwohl auch ihm bis dato der Erfolg versagt geblieben ist: In flachen Räumen nimmt das Volumen einer Kugel mit der dritten Potenz ihres Radius zu, in gekrümmten Räumen wächst es entweder langsamer oder schneller. Hubble schlug daher vor, von der Erde aus die Volumina riesiger Kugeln im Universum aus der Anzahl der in ihnen enthaltenen Galaxien zu ermitteln, was auf der bekannten Annahme einer homogenen Masseverteilung beruht: Ein doppeltes Volumen sollte auch doppelt so viele Galaxien enthalten. Der Radius einer Kugel ist gleich der Distanz zur entferntesten Galaxie, die noch in ihr liegt. Leider erfasst die heutige Technik kosmische Distanzen nicht genau genug, und so müssen wir uns bis zur messtechnischen Klärung der Geometrie des Universums noch ein wenig gedulden. Die homogene Materieverteilung, an die wir heute glauben, bedeutet natürlich nicht, dass der Stoff völlig gleichmäßig den Raum erfüllen würde. Wie wir wissen, hat er sich teils zu Körpern geballt – Sternen mit ihren Begleitern: Planeten, Asteroiden, Kometen, Brocken aller Größen –, teils zu gigantischen Gaswolken. Die Sterne sind zu Galaxien gruppiert und diese zu Galaxienhaufen. Der weitaus größte Teil des Raumes enthält nichts als die kosmische Strahlung. Doch auch die Galaxien selbst sind unvorstellbar leer; wären die Sterne klein wie Sandkörner, träfe man alle paar Kilometer einen an. Ein Stern ist eine Kugel aus überwiegend Wasserstoff und Helium, zusammengehalten durch die Massenanziehung. Dass er nicht unter seinem eigenen Gravitationsdruck kollabiert, dafür sorgt der Gegendruck der Strahlung aus den atomaren Vorgängen in seinem Inneren. Wie Bethe und Weizsäcker 1938 unabhängig voneinander vermuteten, wird dort beim Verschmelzen der Atomkerne
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Energie frei. In Gang gesetzt wird dieser Prozess durch die Hitze bei der Bildung des Sterns, wenn die Gravitation Gas und Staub verdichtet; zu Ende geht er, wenn Wasserstoff und Helium verbraucht sind. Dann nimmt die Schwerkraft überhand und drückt den Stern zusammen, bis die Abstoßung zwischen seinen Elektronen zu wirken beginnt. Wie es weitergehen kann, fand 1928 der Inder Subrahmanyan Chandrasekhar auf theoretischem Wege heraus, nämlich dass jeder Stern auf eine von drei Arten endet: Ist er höchstens um die Hälfte schwerer als die Sonne, wird er zum weißen Zwerg – einem Ball, vielleicht so groß wie die Erde, von dem ein Teelöffel Tonnen wiegt. Ist er schwerer, dann halten die Elektronen seinen Kollaps nicht auf; erst den Protonen und Neutronen kann das unter Umständen gelingen. Ein solches Gebilde, wir nennen es Neutronenstern, misst nur mehr wenige Kilometer im Durchmesser. Ist er selbst dafür zu schwer, muss er immer weiter zusammenfallen, weil seine Materie dem Druck der Gravitation nicht standhalten kann. Dabei können die gewaltigen Energien zu einem Ausbruch führen, einer Supernova: Der Stern schleudert seine Hülle in den Raum und leuchtet für kurze Zeit heller als eine ganze Galaxie – das war es, was Tycho de Brahe 1572 mit freiem Auge am Nachthimmel erblickt hat. Sein Kern kollabiert, wird immer kleiner und entzieht sich schließlich der Beobachtung: Ein schwarzes Loch ist entstanden. Ein schwarzes Loch heißt deshalb so, weil es alles einfängt, auch das Licht, und nichts von ihm entkommen kann. Je größer die Anziehungskraft eines Körpers, desto schneller muss ein Objekt sein, um ihm zu entfliehen. Die Gravitation in der Nähe eines schwarzen Loches ist aber so stark, dass sogar die Lichtgeschwindigkeit nicht ausreicht; denn ein schwarzes Loch ist meist eine riesige, auf kleinem Raum geballte Masse. Wenn sogar das Licht zu langsam ist und, der Relativitätstheorie zufolge, nichts schneller sein kann als dieses, dann muss alles, was nahe genug an ein schwarzen Loch
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herankommt, dort auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Deshalb wirkt ein schwarzes Loch nur durch seine Anziehungskraft, sonst aber in keiner Weise nach außen. Man kann es nicht sehen, keine Strahlung und auch sonst nichts von ihm empfangen – als existierte es nicht mehr in dieser Welt. Zwischen der Theorie der schwarzen Löcher und der Größe des Universums besteht ein faszinierender Zusammenhang. Man kann sagen, ein schwarzes Loch schließt den Raum um sich herum; es besitzt sein eigenes, privates Universum, und was einmal dort ist, bleibt für immer dort. Da die Materie eines schwarzen Loches so immens dicht ist, kann schon ein kleines Volumen von ihr den Raum schließen. Wäre sie weniger dicht, müsste ihr Volumen dazu größer sein. Und wäre sie so dünn verteilt wie die Masse in unserem Universum, dann müsste sie gerade so viel Raum einnehmen, wie unser Universum nach heutiger Vermutung tatsächlich einnimmt. Wenn das stimmt, schließt die Welt, die wir kennen, den Raum um sich herum und ist, von „außen“ gesehen, ein schwarzes Loch. ∗∗∗∗∗ Den Vorbehalt im letzten Satz: „Wenn das stimmt“ – das einsteinsche „Wenn die Theorie den Tatsachen entspricht“ – muss jeder Erfahrungswissenschaftler seinen Schlüssen voranstellen. Ob oder besser: inwieweit eine Theorie den Tatsachen entspricht, sagt uns die Beobachtung. Und da die Beobachter sich immer feinerer, höher entwickelter Technik bedienen, sagen uns ihre Daten heute mehr als gestern. Dabei bleiben Überraschungen nicht aus: In den FriedmannModellen wird die Ausdehnung des Universums durch die Schwerkraft gebremst. 1998 aber stellten eine Gruppe von Forschern um Saul Perlmutter und, unabhängig von ihnen, eine zweite um Brian Schmidt und Adam Riess fest, dass das
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Universum beschleunigt expandiert. Dieses Verhalten lässt sich durch eine neue Form von Energie erklären, die sogenannte dunkle Energie. In den Feldgleichungen beschrieben wird die dunkle Energie durch gerade jene kosmologische Konstante, die Einstein 1917 eingeführt und schon bald verworfen hatte und die sich nun durch die Hintertür der beschleunigten Expansion wieder Zutritt verschafft. Moderne Techniken machen eine Reihe von Tests der allgemeinen Relativitätstheorie möglich, und in allen Fällen stimmen die Resultate mit den Vorhersagen der Theorie überein: 1960 wiesen Robert Pound und Glen Rebka die gravitative Rotverschiebung des Lichtes nach, 1971 bestätigte ein Team um Irwin Shapiro die relativistische Verzögerung des Lichtes, und 2011 gaben Ignazio Ciufolini und Erricos Pavlis die erste zweifelsfreie Messung des Lense-ThirringEffektes bekannt, der Beeinflussung eines Satelliten durch die Rotation des Körpers, den er umläuft. Keine Entdeckung aber war so spektakulär wie die der Gravitationswellen, beinahe auf den Tag genau hundert Jahre nach Veröffentlichung der allgemeinen Relativitätstheorie. Aus Einsteins Gleichungen folgt, dass es solche Wellen gibt; aber auch, dass sie von sehr kleiner Amplitude sind, und Einstein selbst hielt sie für zu schwach für eine Beobachtung. Gravitationswellen werden von beschleunigten Massen erzeugt, beispielsweise von Doppelsternen, die um einen gemeinsamen Schwerpunkt kreisen. Wie Einstein schon 1916 feststellte, erzeugen selbst riesige, schnell rotierende Massen nur schwache Wellen, was den direkten Nachweis ein Jahrhundert lang unmöglich machte. Immerhin beobachteten Russell Hulse und Joseph Taylor 1974 ein rotierendes System zweier Neutronensterne, das beständig Energie verliert, und zwar gerade so viel, wie es gemäß Einsteins Theorie durch die Abstrahlung von Gravitationswellen verlieren müsste. Der erste direkte Nachweis gelang im September 2015 und wurde im Februar darauf der Welt vorgestellt. Die beobach-
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tete Welle entstammt einem Paar schwarzer Löcher von je dreißigfacher Sonnenmasse, die einander in immer kleiner werdendem Abstand immer rascher umkreisten und schließlich miteinander verschmolzen. Kurz vor dem Kollaps erreichte die Welle ihre maximale Amplitude: Die Metrik der Erde erfuhr eine relative Veränderung von 10−21 ; genug, um von zwei Detektoren in den USA bemerkt zu werden und die Krone der Physik mit einen weiteren Diamanten zu schmücken. Das Erscheinungsbild der Publikation zeigt, welchen Weg die Physik gegangen ist: Rund tausend Autoren aus über hundert Institutionen zeichnen eine acht Seiten lange Arbeit. ∗∗∗∗∗ In seiner Kurzen Geschichte der Zeit führt Stephen Hawking aus, dass unsere Welt deshalb so ist, wie sie ist, weil die Naturgesetze so sind, wie sie eben sind, und die Naturkonstanten jene Werte haben, die sie eben haben. Wäre zum Beispiel die Ladung des Elektrons nur ein wenig anders, könnten Sterne nicht Wasserstoff und Helium verbrennen; es gäbe dann kein Sonnenlicht. Das führt uns zu der Frage, warum die Natur gerade diese Gesetze erlassen hat und keine anderen. Lag es etwa in ihrem Plan, eine Welt zu erschaffen, in der es Menschen gibt? Ist gar alles Geschehen auf Zwecke ausgerichtet? Aristoteles war der Begründer dieses Gedankens: Alles Seiende ist bestimmt von seinem inneren Ziel; die Natur ist so, wie sie ist, damit wir Menschen existieren können. Brandon Carters anthropische Prinzipien wiederum besagen, ein von Menschen beobachtetes Universum müsse zwangsläufig so beschaffen sein, dass es Menschen geben kann. Ob die Naturgesetze zufällig sind oder das Abbild eines tieferen Zusammenhanges, darüber ist man sich nicht einig. Manche Physiker neigen zu der Annahme, die Gesetze könnten auch anders sein. Einstein hingegen vermochte sich
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„keine einheitliche und vernünftige Theorie vorzustellen, die eine Zahl enthält, die die Schöpferlaune auch anders gewählt haben könnte“, und Eddington meinte, alle Naturkonstanten müssten sich durch logisches Schließen ableiten lassen. Vielleicht ist aber die ganze Frage falsch gestellt: In seinem Buch Was ist Leben? warf Erwin Schrödinger das „beinahe lächerliche“ Problem auf, warum die Atome so klein sind, und kam zu dem – im Nachhinein selbstverständlichen – Schluss, die Atome sind nicht klein, sondern erscheinen uns nur klein, weil wir selber so groß sind; weil es eben vieler Atome bedarf, um Wesen zu bauen, die über solche Dinge nachdenken. Wir fragen also nur scheinbar nach der Beschaffenheit der Atome; in Wahrheit geht es einzig um unser Verhältnis zu ihnen. Da steigt der Verdacht auf, dass wir überhaupt nie von den Naturgesetzen reden, sondern immer nur von uns selbst. Wenn wir in einer Epoche leben, in der maßgebliche Wissenschaftler davon überzeugt sind, knapp vor einer alles umfassenden, alles erklärenden Theorie zu stehen, dann hat das einen simplen Grund: Es ist immer so. Schon die Philosophie des Mittelalters und die Physik um 1900 ließen kaum noch eine Frage offen; Erstere, weil sie alle Fragen verbot, und Letztere, weil sie die meisten noch gar nicht kannte. 1758 veröffentlichte der Jesuit Rudjer Boskovic eine Theorie, in der er den Aufbau der Welt aus einem einzigen Kraftgesetz ableitete. Über große Entfernungen sieht dieses aus wie das newtonsche; in kleinen Dimensionen jedoch wechseln sich anziehende und abstoßende Kräfte ab, wodurch Teilchen im gegenseitigen Gleichgewicht verharren und so die regelmäßigen Strukturen von Festkörpern bilden. Im neunzehnten Jahrhundert dachte man, die Mechanik würde in die Rolle einer „Theorie für alles“ schlüpfen. Dann wieder ruhten die Hoffnungen Einsteins und anderer auf einer einheitlichen Feldtheorie. Glashow, Georgi, Weinberg und Salam schufen ab etwa 1970 Elemente einer Vereinheitli-
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chungstheorie, die den Elektromagnetismus, die schwache und die starke Wechselwirkung vereinigt und nur vor der Gravitation kapituliert. Alle vier Grundkräfte unter ein gemeinsames Schema bringen soll die Superstringtheorie von John Schwarz und Michael Green aus den 1980er-Jahren, die umstrittenste von allen – die einen preisen sie als Nonplusultra, für Feynman war sie Unsinn, und laut Glashow gehört sie zur Theologie. Im Jahr 1980 hielt Hawking einen Vortrag, in dem er das Ende der Physik in Aussicht stellte. Er meinte damals, die Vereinheitlichungstheorie werde Ende des zwanzigsten Jahrhunderts fertig sein und alle Erscheinungen der Natur erklären. Hawking stellte sich damit in eine Reihe mit Michelson, der 1903 kundgetan hatte, die Grundtatsachen der Physik wären alle schon entdeckt; mit Born und dessen Prophezeiung von 1928, dass es mit der Physik, wie wir sie kennen, in einem halben Jahr vorbei sein würde; mit Corbino, der 1929 die jungen Physiker bedauert hatte, da keine großen Entdeckungen mehr zu erwarten wären. Wie wir wissen, haben sie sich alle geirrt, indem sie den eigenen Horizont für das Ende der Welt hielten. Doch vor der Frage, wann die Physik vollendet sein wird, steht jene, ob es je dazu kommen wird; und diese Frage müssen wir verneinen. Denn die Physik ist nicht eine Liste von Aufgaben, die man der Reihe nach abarbeitet, um am Ende einen Punkt zu machen, und nach ihren Theorien suchen wir nicht wie nach Ostereiern, die man alle einmal aufgestöbert haben kann. Theorien sind vielmehr Schöpfungen des Geistes, wie auch Kunstwerke Schöpfungen des Geistes sind. Die Physik wird an dem Tag zu Ende sein, an dem auch die Kunst zu Ende sein wird. Nicht dann, wenn es keine Theorie mehr zu finden gibt, kein Lied mehr zu schreiben und kein Bild mehr zu malen, sondern erst: wenn wir nicht mehr da sein werden.
Namenregister
A
Albert von England, 63 Alembert, Jean le Rond d’, 31 Algarotti, Francesco, 28 Ampère, André-Marie, 58 Anaxagoras, 3 Anaximander, 2 Anderson, Carl, 85 Archimedes, 17, 20, 64 Aristarchos, 3, 4, 7, 18 Aristoteles, 2–6, 15, 16, 18, 22, 28, 33, 116 B
Bacon, Francis, 23, 24, 51 Balmer, Johann Jacob, 73 Becquerel, Henri, 69, 70
Bell, Alexander Graham, 64 Bernoulli, Jakob, 32 Bernoulli, Johann, 32 Bethe, Hans Albrecht, 112 Biot, Jean-Baptiste, 58 Black, Joseph, 45 Bohr, Niels, 72–74, 77, 79, 80, 98 Boltzmann, Ludwig, 52–54, 61, 88, 98 Bondi, Hermann, 111 Born, Max, 78, 81, 118 Borodin, Alexander, 99 Bose, Satyendranath, 88 Boskovic, Rudjer, 117 Boyle, Robert, 34, 52 Bradley, James, 95
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 W. Tschirk, Vom Universum, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62064-9
119
120
Namenregister
Brahe, Tycho de, 7, 8, 13, 113 Broglie, Louis-Victor de, 78–80
C
Carnot, Sadi, 49, 50, 64 Carter, Brandon, 116 Cauchy, Augustin Louis, 62 Celsius, Anders, 44 Chadwick, James, 84 Chandrasekhar, Subrahmanyan, 113 Châtelet, Émilie du, 28 Ciufolini, Ignazio, 115 Clapeyron, Émile, 49 Clausius, Rudolf, 50, 51, 54 Corbino, Orso Mario, 118 Coulomb, CharlesAugustin de, 57, 63 Curie, Marie, 70, 98 Curie, Pierre, 70
D
Dalton, John, 68 Davisson, Clinton Joseph, 79 Debierne, André, 70 Demokrit, 5, 67, 68 Descartes, René, 19, 23, 24, 28, 32, 34, 54, 98 Diderot, Denis, 31 Dirac, Paul, 81, 85, 88 Döblin, Alfred, 104
E
Eddington, Arthur, 103, 117 Edward VII. von England, 63 Ehrenfest, Paul, 97 Einstein, Albert, 62, 74, 79, 80, 82, 88, 89, 92–105, 108, 115–117 Elisabeth von England, 58 Empedokles, 34 Euklid, 33 Euler, Leonhard, 32 F
Faraday, Michael, 59, 60, 63, 69 Ferdinand II. von Toskana, 43 Fermat, Pierre de, 32, 37, 40, 100 Fermi, Enrico, 86, 88 Feynman, Richard, 118 Fior, Antonio, 13 Fizeau, Armand Hippolyte, 40 Flamsteed, John, 26 Foucault, Jean Bernard, 40 Fourier, Jean-Baptiste Joseph, 32, 45 Fresnel, Augustin, 40 Freud, Sigmund, 99 Friedell, Egon, 41 Friedmann, Alexander, 108
Namenregister G
Galilei, Galileo, 10–13, 16, 20–26, 34, 64, 91 Gamow, George, 67 Gauß, Carl Friedrich, 21, 32, 101 Gay-Lussac, Joseph Louis, 52 Gell-Mann, Murray, 87 Georgi, Howard, 117 Germer, Lester Halbert, 79 Gibbs, Josiah Willard, 96 Gilbert, William, 58 Glashow, Lee Sheldon, 117, 118 Göbel, Heinrich, 64 Goethe, Johann Wolfgang von, 37, 38 Gold, Thomas, 111 Green, George, 62 Green, Michael, 118 Grossmann, Marcel, 102
121
Heron, 34 Hertz, Heinrich, 61 Higgs, Peter, 87 Hipparchos, 4 Hitler, Adolf, 104 Hohenheim, Theophrast von, 7 Hooke, Robert, 25, 26 Hoyle, Fred, 111 Hubble, Edwin, 110, 112 Hulse, Russell, 115 Huygens, Christiaan, 13, 34–37, 40
J
Johannes Paul II., 12 Jordan, Pascual, 81 Joule, James Prescott, 47, 50
K H
Hahn, Otto, 99 Halley, Edmond, 26 Hamilton, William Rowan, 32, 98 Hawking, Stephen, 116, 118 Heaviside, Oliver, 96 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 98 Heisenberg, Werner, 81, 82, 88 Helmholtz, Hermann von, 47, 51
Kant, Immanuel, 30, 65, 76, 77, 98 Kelvin, siehe Thomson, William Kepler, Johannes, 8–10, 12, 13, 27, 28, 34, 51, 96 Kierkegaard, Søren, 98 Kopernikus, Nikolaus, 6, 7, 11, 12 Ktesibios, 17
L
Lagrange, Joseph-Louis, 32
122
Namenregister
Laplace, Pierre-Simon de, 45 Lauchen, Georg von, 7 Lavoisier, Antoine Laurent de, 45, 62, 68 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 26, 32, 45, 46, 51 Lenard, Philipp, 74, 104 Leukipp, 67 Lippershey, Jan, 10 Lorentz, Hendrik, 61, 93 Luther, Martin, 7
Newton, Isaac, 9, 26–32, 36–38, 51, 63, 74, 91, 96, 107 Nietzsche, Friedrich, 99
O
Olbers, Heinrich Wilhelm, 107 Ørsted, Hans Christian, 58–60 Osiander, Andreas, 7
P M
Mach, Ernst, 76, 77, 99, 104 Marconi, Guglielmo, 64 Mariotte, Edmé, 52 Maxwell, James Clerk, 60, 62, 64, 88, 91, 96, 98 Mayer, Julius Robert, 46, 47, 51 Mendelejew, Dmitri, 68 Mersenne, Marin, 12 Michelson, Albert, 95, 118 Minkowski, Hermann, 97 Montesquieu, 31 Morley, Edward, 95 Müller, Johannes, 7
Paracelsus, siehe Hohenheim, Theophrast von Pauli, Wolfgang, 84, 88 Pavlis, Erricos, 115 Penzias, Arno, 111 Perlmutter, Saul, 114 Philolaos, 2 Philon, 17 Philoponos, 18 Planck, Max, 64, 72, 73, 78, 97, 98 Platon, 11, 19, 20, 65 Poisson, Siméon Denis, 62 Pound, Robert, 115 Proust, Joseph Louis, 68 Ptolemäus, Claudius, 4–7, 11, 18, 22, 34 Pythagoras, 2, 5, 6
N
Napier, John, 32 Navier, Claude Louis, 62 Neumann, Franz Ernst, 62
R
Rebka, Glen, 115
Namenregister
Regiomontanus, siehe Müller, Johannes Rhaeticus, siehe Lauchen, Georg von Riemann, Bernhard, 102 Riess, Adam, 114 Rømer, Olaf, 37 Rousseau, Jean-Jacques, 31 Rudolf II. von Deutschland, 8 Rumford, siehe Thompson, Benjamin Rutherford, Ernest, 70, 71, 77, 78, 83, 86, 98 S
Salam, Abdus, 117 Savart, Félix, 58 Schmidt, Brian, 114 Schopenhauer, Arthur, 98 Schrödinger, Erwin, 39, 80, 81, 87, 98, 106, 117 Schwarz, John, 118 Seeliger, Hugo von, 108 Segrè, Emilio, 47 Shapiro, Irwin, 115 Siemens, Werner von, 64 Simonyi, Károly, 41 Sitter, Willem de, 108 Solvay, Ernest, 78 Sommerfeld, Arnold, 74, 77 Sömmering, Thomas, 64 Spinoza, Baruch, 24 Stokes, George, 62
123
Stoney, George, 69
T
Tartaglia, 13 Taylor, Joseph, 115 Tesla, Nikola, 64 Thales, 1, 2 Thomas von Aquino, 6 Thompson, Benjamin, 45, 46 Thomson, George Paget, 79 Thomson, Joseph John, 69, 71, 79 Thomson, William, 50, 51, 98 Thun-Hohenstein, Leo, 52
U
Urban VIII., 11 V
Villard, Paul, 70, 86 Virchow, Rudolf, 47 Volta, Alessandro, 58 Voltaire, 28, 31, 98
W
Weinberg, Steven, 117 Weizsäcker, Carl Friedrich, 109, 112 Wilson, Robert, 111
124
Namenregister
Y
Z
Young, Thomas, 38–40, 46, 74, 98 Yukawa, Hideki, 87
Zucchius, Nicola, 13