Vom heimlichen Leben der Seele: Eine Einführung in die Frömmigkeit der deutschen Mystik [2., verb. Aufl. Reprint 2020] 9783112334966, 9783112334959

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Vom heimlichen Leben der Seele: Eine Einführung in die Frömmigkeit der deutschen Mystik [2., verb. Aufl. Reprint 2020]
 9783112334966, 9783112334959

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Vom heimlichen Leben der Seele Eine Einführung in die Frömmigkeit

der deutschen Mystik

von

Ulrich Altmann

Zweite, verbesserte

Auflage

Berlin 1939

Verlag von Alfred Töpelmann

Druck von Walter be Gruyter Rudolf Otto, Westöstliche Mystik S. 187. Sn Gegensatz zu Otto arbeitet Schomeruö, Meister Eckehart und Mänikka-Vaäagar, Gü­ tersloh 1936 sehr stark den Gegensatz Meister EckehartS zum biblischen Christentum heraus und versteht dessen Frömmigkeit als im Grunde

nicht christlich. Sch vermag Schomerus nicht zu folgen.

Einzeljüge mystischer Frömmigkeit

eine genaue Prüfung von Aussagen, wie etwa II, 202 da­ gegen hätte schützen sollen. Zum großen Teil beruht diese fälsche Auffassung darauf, daß in der Nachfolge Hermann

Büttners, von dem die am meisten verbreitete Ausgabe Meister Eckeharts und des Büchleins vom vollkommenen

Leben stammt, der geistesgeschichtliche Zusammenhang nicht beachtet wird, in dem die deutsche Mystik steht. Für sie

handelt es sich in der Nachfolge Augustins und der großen Scholastiker um die Frage, wie die Seele in das voll­ kommene Leben des dreieinigen Gottes ausgenommen und zur unmittelbaren Gotteserkenntnis gelangen könne. Zwei Möglichkeiten kennen hier, auch wieder in Augustins Nach­ folge, Scholastik und Mystik: Gott schenkt sich der Seele als alle anderen Inhalte überstrahlendes Erlebnis oder die Seele entdeckt in ihrer Tiefe Gott und hat alles zu beseiti­ gen, was nicht Gott ist. Aber in beiden Fällen ist Gott

immer etwas anderes als die Seele und nicht in seinem Dasein von ihr bedingt, wenn auch das Heilsziel die Ver­ gottung der Seele ist. Für den mystischen Gottesbegriff bedeutsam ist, baß sich in ihm religiöse und spekulative Interessen und Ideen mit­ einander verbinden. Namentlich bet Meister Eckehart, Tauler und dem unbekannten Verfasser des Büchleins vom vollkommenen Leben finden sich tiefsinnige und kühne Spekulationen über innergöttliche Lebensprozesse, über die sich in den drei Stufen „Gottheit", „Gott in der Ewigkeit"

und „Gottmensch" vollziehende Selbstdarstellung Gottes. Von Meister Eckehart und dem Büchlein vom vollkomme­ nen Leben wird geradezu von einem „werdenden Gott"

geredet, besonders ausgeprägt in der Predigt Von des

i. ©le Gottesvorstellung

Geistes Ausgang und Heimkehr (Meister Eckehart 1,162ff.; vgl. auch Büchlein vom vollkommenen Leben, S.46,48,51.) Hier sind für den heutigen Leser viele Mißverständnisse möglich, die für den Hörerkreis Meister Eckeharts und des unbekannten Frankfurters nicht oder kaum auflommen konnten. Die Rede vom „werdenden Gott" und von der Entgegensetzung von „Gottheit" und „Gott" erklärt sich aus dem philosophisch-scholastischen Verständnis der göttlichen Trinität, derzufolge die Persönlichkeit Gottes erst im Laufe des innertrinitarischen Prozesses aus dem Ursein Gottes, der „Gottheit", zutage tritt. Die Grundlage dieser Gedanken in der Scholastik ist der Augustinische Neuplatonismus'. 1 Die Eckehartsche Predigt Von des Geistes Ausgang und Heimkehr (1,162fr.) über Matthäus io, 28 enthält das oft zitierte und viel miß, deutete Wort: „Das Edelste, was am Menschen ist, ist das Blut." Ich gebe die ganze Stelle nach der Büttnerschen Ausgabe: „'Die euch töten wollen', ist nur das Blut und Fleisch an ihnen; und nur als dieses (d. h. als Fleisch und Blut) stirbt ein Mensch durch den anderen. Das Edelste, was am Menschen ist, ist das Blut — wenn es recht will. Aber auch daö Ärgste, was am Menschen ist, ist das Blut — wenn es übel will! Hat das Blut über das Fleisch die Oberhand, so ist der Mensch demütig, geduldig und keusch und hat alle Lugend an sich. Hat aber das Fleisch über das Blut die Oberhand, so wird der Mensch hochfährtig, zornig und unkeusch und hat alle Untugend an sich." Zum Verständnis füge ich zwei Stellen aus einer von Büttner nicht aufgenommenen Predigt nach der Ausgabe von Pfeiffer hinzu: „Die Söhne des Fleisches, deren Werk und Wandel nach dem Blute schmecket, deren Leben aus Sünde kommt, werden weder hier noch dort des Lageö Mitte gewinnen." „Was vom Fleische geboren ist, das ist Fleisch; was aber vom Geiste geboren ist, das ist Geist. Das Fleisch ist grob, der Geist edel, ihrer beider Natur ist ungleich und widereinander." Pfeiffer S. 369. Es stehen also Fleisch und Blut gemeinsam dem Geiste gegen, über. Daß sie ihm widerstreben, ist Folge der Sünde.

Einzelzüge mystischer Frömmigkeit

In diesen Spekulationen haben wir neuplatonisches Erb­

gut der deutschen Mystik vor uns. Sie kann den geistes­ geschichtlichen Zusammenhang mit Plotinr nicht verleug­

nen. Als sehr fraglich muß aber bezeichnet werden, ob der­

artige metaphysische Spekulationen für die praktische Fröm­ migkeit der Mystiker wirklich große Bedeutung gehabt ha­ ben, oder ob in ihnen andersartige geistige Interessen zum

Ausdruck kommen und ihre Befriedigung finden. Meiner­ seits möchte ich dies annehmen Wieder aufgelebt find diese Spekulationen der Mystik über innergöttliche Lebens­

prozesse dann bei Jakob Böhme, der über das Andere in Gott grübelt, und in der nachkantischen spekulativen Philoso­ phie. Vor allem für die religiöse Gedankenwelt Hegels und

Schellings, für ihre Idee von der Selbstentfaltung des Ab­ soluten ist der Einfluß dieser spekulativen, ans Theosophische grenzenden Gedankengänge Meister Eckeharts und seiner Nachfolger unverkennbar. Heute leben die Gedanken vom „Werden" Gottes, von seiner Selbstschöpfung und Selbst­ verwirklichung in der Seele, in der Philosophie des Un­ gegebenen 3 und auch bei Max Bergmann« wieder auf. 1 Siehe S. 17 s. r Rudolf Otto urteilt, daß Meister Eckeharts Mystik „nicht das Ergebnis einer zufällig mehr platonisch sich färbenden, obendrein mist* verstandenen Scholastik" sei. Vielmehr bediene sich bet ihm die ursprüng­

liche mystische Intuition der platonischen Gedankengänge und Begriff«, Erkenntnis und Seinslehre, um mit diesen sehr fragwürdigen Hilfs­

mitteln die ursprüngliche religiös-mystische Idee auszudrücken. Stehe

west-östliche Mystik ©. 48 s. u. ö. 3 Dgl. die bereits einmal erwähnte Schrift von H. Schwarz, Auf Wegen der Mystik, Erfurt 1924, ferner seine Religionsphilosophie Gott jenseits von Theismus und Pantheismus, Berlin 1928.

72

i. Die Gottesvorstellung

Es ist noch nicht lange her, daß niemand unter uns an

solchen Spekulationen Interesse nahm. Unter der Einwir­

kung der Theosophie und Anthroposophie, hat sich dies geändert. So sehr man vielleicht eine stärkere Ausgestaltung der christlichen Glaubenslehre nach der Seite des Weltan­ schaulichen und damit die Hineinnahme eines spekulativen Momentes für wünschenswert halten mag, — mit den Spekulationen der Mystik über innergöttliche Lebenspro-

jesse werden wir uns kaum sehr befreunden. Sie erscheinen uns geradezu als unfromm, weil sie einen Versuch darsiellen,

Gott ganz zu erfassen und sein Wesen völlig zu verstehe». Ein begriffener Gott aber ist nicht mehr Gott, wenigstens nicht der Gott lebendiger Religion. Gerade die neuesten Strömungen in der Theologie betonen

darum das Geheimnisvolle, Unbegreifliche, schlechthin Transzendente im Wesen Gottes stark. Mit ihren Speku­ lationen über die Selbstentfaltung -er Gottheit gerät die Mystik zu sich selber als Religion des irrational Geheimnis­ vollen in einen Gegensatz. Wir werden ihre spekulativen Gedankengänge ablehnen und zwar aus religiösen wie aus erkenntnistheoretischen Gründen. Gott können wir nur so weit erkennen, wie er sich uns offenbart. Sein an und für seiendes Wesen aber bleibt uns immer ein Geheimnis. Was Gott ist, wird in Ewigkeit kein Mensch ergründen. Doch will er treu sich jederzeit mit «ns verbünden.

C. F. Meyer. 4 Dgl. Max Bergmann, Die Entfinkung ins Wetselose. Seelen­ geschichte eines modernen Mystikers. Bresla« 1932. Bergmann wird

m. E. der christlichen Grundhaltung der deutschen Mystik nicht gerecht.

Cinjeljüge mystischer Frömmigkeit

2. Die Christusanschauung Den Hintergrund für die Christusanschauung der Mystik bildet die kirchliche Zweinaturenlehre. Demgemäß kommt Christus für die mystische Frömmigkeit in doppelter Weise

in Betracht: Als Gott und als Mensch. Der neuplatonische Einschlag der Mystik bringt es dabei

mit sich, daß für ihre Gedankenwelt in Anlehnung an den

Prolog des Johannes Evangeliums der metaphysische Lo­ goschristus die höchste Bedeutung gewinnt. Er ist als Gott Grund und Ziel der mystischen Einigung. Zugleich beftie-

digt er das philosophische Interesse, spekulativ in den Weltgrund einjudringen. Der Mensch, der das „Wesen" in

der Tiefe ergründen will, muß bis zum Logos vordringen, dem Urgründe der göttlichen Ideen. Der Lgos muß dem spekulierenden Frommen die gesuchte Erkenntnis gewähren, sie in ihm als göttliche Tat wirken. Und auch die Liebe, die

nach völliger Vereinigung mit dem höchsten Gute strebt, kommt erst im Logoschristus wirklich zur Ruhe. Dieser ist der Inbegriff alles Menschlichen, das Urbild der Mensch­ heit, ihr idealer Typ, mit und in dem die Existenz der Menschheit gegeben ist.

Ebenso wie bei der spekulativen Gotteslehre kann hier als fraglich erscheinen, ob diese Gedankengänge für die un­ mittelbare mystische Frömmigkeit von großer Bedeutung gewesen sind. Es sind wohl überwiegend Interessen des philosophischen Grübelns, die hier ihre Befriedigung suchen. Für die unmittelbare mystische Frömmigkeit spielt der Mensch Christus eine viel größere Rolle. Er ist daS Vorbild der vollkommenen, gottinnigen Lebensweise. „Sn dem

2. Die Christusanschauung

Leben Christi findest du fürwahr ein vollkommenes Muster aller Handlung, aller Ämter usw., wie du dich gegen Gott und was du dich wiederum ju Gott gegen dich gesinnt zu sein, versehen sollst. Da ergreife und findet Gott und dich selbst", sagt Sebastian Frank-. Zur Gottessohnschaft, die in Christus erstmalig zutage getreten ist, sollen alle Gläubigen

gelangen. Sie sollen christusförmige Menschen werden. „Christusförmig sein an Lieb, an Leben und Gebärden", wie Scheffler sagt, ist der höchste Gottesdienst und das Ziel des Lebens. Sm Frommen soll Christus geboren

werden. Der wahre Gottessohn ist Christus nur allein, Doch soll ein jeder Christ derselbe Christus sein. Cherub. Wandersmann V, 9. Mit einer kurzen Formel kann man etwa sagen, daß die Mystik an die Stelle des „Christus für uns" den „Christus

in uns" setzt. Nicht der Glaube an Christus ist für sie das Wesentliche, sondern die Verwirklichung des Christuslebens durch uns, die Geburt des Christus in uns. Diese ist keines­ wegs eigenes Werk des Frommen. Sie beruht auf einer schöpferischen Tat Gottes, darauf, daß er sein ewiges Wort in die Seele des Frommen hineinspricht, so daß es bei ihm zur Gottesgeburt in der Seele kommt. „Gott vollzieht in der Seele seine Geburt, gebiert sie in sein Wort; und die Seele nimmt es nur auf und bietet es weiter an die Kräfte in mannigfacher Weise: jetzt als Begehren, jetzt als gutes Vor­

haben, jetzt als Liebeswerke, jetzt als Dankesgefühl oder welchergestalt es sonst an dich kommt. Sein ist Alles und 1 Paradoxa S. 145.

Einzelzüge mystischer Frömmigkeit

gar nicht dein, was Gott so wirkt, und so nimm es als das

Seine", sagt Meister Eckehart (I, 98), auf dessen vier Pre­ digten Von der ewigen Geburt hier besonders verwiesen sei (1/ 75 ff«)« Bei dieser Anschauung sieht die Mystik die Erlösung nicht in der Aneignung des Verdienstes Christi oder wie es

sonst im Rahmen der kirchlichen Frömmigkeit ausgedrückt werden mag, sondern in der Geburt Christi in der Seele, in

der Verwandlung in sein Bild. „Christus muß in das Herz und muß in uns mit unserer Seele vereint werden, damit er in uns lebe" (Frank, Paradoxa S. 173). Die Erlösung ist weniger Vergebung der Sünden und Kraft zu einem

neuen, Gott wohlgefälligen Wandel in treuer Pflichterfül­ lung, als vielmehr Befreiung von dem Befangensein im Irdischen und wesenhafte Einigung mit Gott. Unverkenn­ bar leben in dieser Anschauung von der Erlösung neuplato­ nische Ideen und Stimmungen fort. Es fehlt hier, worauf früher schon hingewiesen worden ist', der ethische Einschlag. Wir haben es in der Mystik nicht mit einer ethischen, sondern mit einer naturhaft-metaphysischen Erlösungsidee zu tun. Wer die Chrisiusanschauung der Mystik und die Emp­ findungen, aus denen sie herausgewachsen ist, sich nicht an­ zueignen vermag, sollte sie doch nicht als unchristlich bezeich­

nen. Denn wir haben hier die Auswirkung des einen Zweiges der paulinischen Frömmigkeit vor uns. Paulus hat die christliche Heilserfahrung einmal als die Rechtferti­

gung des Sünders durch Gottes Gnade in Christus be­ schrieben und dadurch den Gegensatz der christlichen Hetls' Dgl. T. 54 ff.

2. Die Christusanschauung

erfahrung gegen den jüdischen Heilsweg ganz scharf ausge­ drückt. Aber der Apostel hat auch das Heil als ein Leben mit

oder in Christus, als geheimnisvolle Vereinigung mit dem Herrn, welcher der Geist ist, jv schildern gewußt. Die Re­ formatoren fanden ihre im Gegensatz jum Werkdienst und der Werkgerechtigkeit der mittelalterlichen Kirche stehende

neue religiöse Erfahrung in den paulinischen Ausdrücken von der Rechtfertigung des Sünders ausgesprochen. Dar­ um wurde diese gedankliche Ausprägung der christlichen Heilserfahrung in den Kirchen der Reformation herrschend. Die andere, auch auf Paulus und das Neue Testament zurückgehende, mehr mystische Beschreibung der Heilserfah­

rung als Leben in Christus, als Durchdrungen- und Vereintsein mit dem Geiste des Herrn, wurde weniger beachtet. Sie verschwand zwar nie völlig, wurde aber in den Kirchen der Reformation nur in Unterströmungen wirksam. Der Paulus, der an die Galater geschrieben hat: „Ich lebe, doch nun nicht ich; Christus lebt in mir" (Galater 2, 20), der Christusmysiiker Paulus ist lange im evangelischen Kirchentume vergessen gewesen. In der Mystik aber ist diese Seite seiner Frömmigkeit immer vorhanden gewesen. Wir

werden es nicht tadeln dürfen, wenn von verschiedenen Setten diese mystischen Spuren in der paulinischen und auch in der johanneische» Frömmigkeit hervorgehoben und stärker betont werden. Wir werden uns vielmehr dankbar der dadurch entstehenden Bereicherung der christlichen Frömmigkeit freuen müssen.

Vielleicht haben wir damit zu rechnen, daß sich auf evangelischem Boden zwei Formen des Christentums klarer als bisher ausgestalten: ein geschichtlich begründeter.

Siajeljüge mystischer Frömmigkeit

mit der reformatorischen Frömmigkeit zusammenhängen­ der Typ des Glaubens an Christus und eine mehr metaphysisch begründete Art des Christentums, die von der Mystik und dem deutschen Idealismus her beeinflußt ist und den Christus in uns, das christusförmige Leben als Ziel der persönlichen frommen Entwicklung betont. Ist diese zweite Form des Christentums auch nicht im strengen Sinne „kirchlich", so leistet sie doch dem gesamten Christentums einen höchst bedeutsamen Dienst: sie macht deutlich, daß das Verhältnis des Frommen zu Christus nie und nimmer rein historischer, sondern stets in irgend einer Weise metaphysischer Art ist. Denn Christus ist für den Frommen nicht ein Lehrer tiefer Lebensweisheit oder der Verkündiger göttlicher Geheimnisse, sondern die Verkörperung Gottes, die Darstellung des Ewi­ gen, Überzeitlichen, Göttlichen in menschlich­ irdischer Form und damit Spender und Bürge des religiösen Heils. Von der Beziehung der frommen Seele zu Christus gilt stets das schöne Wort Fichtes: „Nur das metaphysische, keineswegs aber das historische macht selig"-. Entsprechend heißt es bei Sebastian Frank: „Das Reich Gottes ist eine Kraft, nicht eine Predigt oder eine Wissenschaft von der Geschichte" (Paradoxa S. 271). 3. Die Jenseitsvorstellung An einem Fortleben nach dem Tode, wie es die Volks­ frömmigkeit sich wünscht und in den Farben eines gehobe­ nen und idealisierten Diesseits sich ausmalt, ist die Mystik 1 Fichte, Anweisung |um seligen Leben, Diederichssche Ausgabe S. 107.

78

z. Die Jenseitsvorstellung

wenig oder gar nicht interessiert. Sie erlebt das „Jenseits" in der Gotteserfahrung. Sie ersetzt darum die Vorstellung

eines ewigen Lebens nach dem Tode durch die andere der sich in der Zeit verwirklichenden Erfahrung des ewigen,

göttlichen Lebens und der Teilnahme an ihm. Die Mystik läßt an die Stelle einer jenseitigen Vollendung die gegen­

wärtige, mit Ewigkeitsgehalt erfüllte Teilnahme an der Seligkeit des göttlichen Lebens treten. Ich selbst bin Ewigkeit, wann ich die Zeit verlasse, Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse (1,12).

Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, So du nur selber nicht machst einen Unterscheid (I, 47). Der Weise, wenn er stirbt, begehrt tn'n Himmel nicht. Er ist juvor darin, eh' ihm das Herze bricht (V, 68). So heißt es im Cherubinischen Wandersmann des Ange­ lus Silesius. Diese mystische Jenseitsauffassung liegt auf der Linie des berühmten Wortes von Schleiermacher: „Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichlichkeit der Religion"'. Daß diese Jenseitsanschauung auch

die der älteren deutschen Mystiker ist, beweist zum Beispiel Meister Eckeharts Predigt Vom Schauen Gottes und von der Seligkeit (i, -rooff.). Ebenso ist noch besonders auf die tiefe Betrachtung Von Bereitung und seligem Ende zu verweisen (Büchlein vom vollkommenen Leben S. 31 ff.).

Wer die lediglich sinnbildliche Bedeutung aller Aus­ malungen und Beschreibungen des ewigen, jenseitigen ■ Echleiermacher, Reden 1. Auflage, Ausgabe von Rudolf Otto, G-ttinge» 1913 S. 68.

Ein-eljüge mystischer Frömmigkeit

Lebens erkannt hat, wird sich von der mystischen Ewigkeits­ erfahrung als einem Erlebnis der Fülle und des Ewigkeits­

gehaltes angezogen fühlen. Namentlich wird dies dort der Fall sein, wo das Geistesleben vom deutschen Idealismus her bestimmt ist. Einer seiner bedeutsamsten Vertreter, Fichte, zeigt sich auch hier als Ausläufer der deutschen Mystik, wenn er schreibt: „Nicht erst, wenn ich aus dem Zu­ sammenhänge der irdischen Welt gerissen sein werde, werde ich den Eintritt in die überirdische erhalten; schon jetzt ist sie mein einziger fester Standpunkt, und das ewige Leben,

das ich schon längst in Besitz genommen, ist der einzige Grund, warum ich das Irdische noch fortführen mag. Das, was sie Himmel nennen, liegt nicht jenseits des Grabes; es ist schon hier um unsere Natur verbreitet, und sein Licht geht jedem reinen Herzen auf"-. Oder Fichte schreibt in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters: „Die Religion erhebt ihren Geweihten absolut über die Zeit als solche und über die Vergänglichkeit und versetzt ihn unmittelbar in

den Besitz der einen Ewigkeit... 3n jedem Momente hat und besitzt er das ewige Leben mit aller seiner Seligkeit, unmittelbar und ganz.... Gibt es irgend einen schlagenden Beweis, daß die Erkenntnis der wahren Religion unter den Menschen von jeher sehr selten gewesen ..., so ist es der: daß sie die ewige Seligkeit erst jenseits des Grabes setzen und nicht ahnen, daß jeder, der nur will, auf der Stelle selig sein könne"-. Und Goethe schreibt in einem schönen Briefe vom 17.4.1823 an Auguste Stolberg die bedeut­ samen Worte: „Alles Vorübergehende lassen wir uns ge1 Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Reclam-Ausgabe S. isi. 2 Sämtliche Werke Band 7 S. 235*

z. Die Jenseitsvorstellung fallen; bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegen­ wärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit".

Es ist kein Wunder, wenn unter dem Einflüsse so bedeu­ tender Geister wie Goethe, Fichte und ähnlicher Denker

weithin die Ewigkeit nicht im Jenseits, sondern in der Zeit als Wertfülle des Daseins gesucht und erlebt wird. Genau

genommen haben wir es freilich nicht mehr mit einer Jenseitsvorstellung, sondern mit einer Umwandlung und Ver­ schiebung des Jenseitsbegriffes in den anderen eines inner­ zeitlichen, ewigen, weil mit Ewigkeitsgehalt erfüllten Lebens zu tun. Nebenbei mag darauf hingewiesen werden, daß sich

diese Verschiebung bereits im Johannes-Evangelium an­ bahnt.

Diese Vorstellung von der in der Zeit als Leben der Fülle

erfahrenen Ewigkeit wird freilich einer Ergänzung bedürfen durch den Gedanken einer alle Zeit überdauernden, weil ihrem Wesen nach unzerstörbaren Gemeinschaft mit Gott, die ewig ist wie Gott. Wo die Seele zu wirklicher Gemein­ schaft mit Gott gelangt ist, wird sie sich ihrer Ewigkeit auch in diesem Sinne bewußt. Wem der persönlich-geistige Gehalt seines Lebens mit

Gott zur lebendigen inneren Erfahrung geworden ist, wer in der Bildung zur geistigen Persönlichkeit Zweck und Sinn seines Daseins erfaßt hat, wird den sich in der Mystik in der Regel findenden Gedanken eines schließlichen Erlöschens der einzelnen, menschlichen Persönlichkeiten, die Anschau­ ung von einem Rückfließen und unterschiedslosen Aufgehen der Seelen in der Gottheit ablehnen. Statt dessen wird er

auf Grund innerer Nötigung von der Vollendung seines im irdischen Leben immer im Werden begriffenen Wesens

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Mitmann, Mystik

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Eintehüge mystischer Frömmigkeit

zu wahrer, geistiger Persönlichkeit überzeugt sein. Das letzte Bild, das bei einem solchen personalistischen Jenseits­ glauben vor uns auftaucht, ist das Reich Gottes als Ge­

meinschaft freier, vollendeter, persönlicher Geister, die in persönlicher Gemeinschaft mit Gott selig sind. Aber darin werden wir allemal der Mystik beipflichten, daß das ewige, selige Leben nach der Zeit nur herauswachsen kann aus dem

sich uns in der Zeit, im Gotteserlebnis und der Gemein­

schaft mit ihm, erschließenden Leben des Ewigkeitsgehaltes. 4. Himmel und Hölle

Nach dem bisher Gesagten wird niemand erwarten, daß es sich hierbei für die Mystik um irgendwie räumlich be­ grenzte Bezirke einer jenseitigen Welt handeln kann. Nicht einen Ort, sondern eine Art, eine Empfindungsweise des Seins, des innerseelischen Erlebens bedeuten für die My­ stiker Himmel und Hölle. Diese ist ein Bild für das Bewußt­ sein, Gott verloren zu haben, nichts mehr von ihm zu spüren. Die Himmelsvorstellung dagegen ist ein symbo­ lischer Ausdruck für die Gottesgemeinschaft, für die Teil­ nahme an Gottes Leben und das Ruhen in ihm. Mit beiden Begriffen ist eine Umsetzung aus dem Eschatologischen ins Psychologische, aus dem Gegenständlichen ins Empfin­ dungsmäßige vollzogen worden. Zur Verdeutlichung dieser Umsetzung mögen die beiden folgenden Zitate aus dem Büchlein vom vollkommenen Leben dienen: „Diese Hölle

und dieses Himmelreich sind beides gute sichere Wege dem

Menschen in dieser Zeitlichkeit, und wohl ihm, wenn er sie recht und gründlich kennen lernt!... Derweil er (der

Fromme) dieser Zeitlichkeit angehört, mag er gar oft aus

4. Himmel und Hölle

dem einen in das andere fallen." (S. 17 s.). „Nun ist der Mensch in dieser Zeitlichkeit zwischen Himmelreich nnd Hölle gestellt und mag sich kehren, zn welchem er will. Nämlich: je mehr Eigenwillen, desto mehr Hölle und Unseligkeit; und je weniger Eigenwillen, je weniger Hölle und näher dem Himmelreich. Und möchte der Mensch schon innerhalb

der Zeit von Eigenwillen nnd allem Eigentume sich reinlich scheiden, ein Lediger nnd Freier ans wahrem, göttlichem Lichte, nnd blieb' anch solches Wesens: ihm wäre das Him­ melreich gewiß" (S. 81 f.). Ganz ähnlich läßt Valentin Weigel in einem seiner Gespräche den Tod sagen: „Keiner

kommt in die Finsternis, er habe denn ans Erden in der Finsternis gelebet, nnd keiner kommt in das Licht, er habe denn ans Erden im Lichte gewandelt, d. h. in Christo. Die Seligen haben den Himmel in ihnen nnd sind im Himmel. Die Verdammten haben die Hölle in ihnen nnd sind in der

Höllen."' Es ist wohl keine Frage, daß diese dnrch die My1 Valentin Weigel, Gespräch vom wahren Christentum S. 202. Stehe auch die folgenden Ausführungen. Verwandt und doch ganz anders ist, was der Spiritist Carl du Prel sagt: wir müssen „zunächst immer bedenken, daß vom Diesseits und Jenseits nicht im räumlichen, sondern nur im subjektiven erkenntnistheoretischen Sinne die Rede sein kann. Kant hat gesagt, das Jenseits sei nicht ein anderer Ort, son­

dern ein anderer Zustand; Hellenbach sagt, Geburt und Tod seien ein Wechsel der Anschauungsformen, und diese zwei Aussprüche lassen sich

kurz und bündig in den Satz zusammenfassen: das Jenseits ist das anders angeschaute Diesseits. Die einem Wesen bewußten Beziehungen

zur Natur bilden sein Diesseits; die ihm unbekannten anderer Wesen, sowie die ihm unbewußten seiner selbst bilden das Jenseits. Es kann

also zahllose Diesseits und Jenseits geben, denn in der Natur sind zahl­ lose Beziehungen gegeben, gewiß auch zahllose Wesensreihen und wohl auch zahllose Lagen der Empfindungsschwelle, welche für jede Wesens6*

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Einjeljüge mystischer Frömmigkeit

stik vorgenommene Umsetzung der beiden Begriffe Himmel und Hölle aus dem Gegenständlichen ins Empfindungs­ mäßige für das moderne Bewußtsein notwendig ist. Him­ mel und Hölle als bestimmte Örtlichkeiten sind für uns unvorstellbar geworden, während sie als Ausdrücke für bestimmte seelische Zustände und Erfahrungen unseres Bewußtseins für alle Formen der Frömmigkeit bleibende Bedeutung behalten. Freilich werden wir in den Vorstel­ lungen von Himmel und Hölle nicht nur symbolische Aus­ drücke für die Erfahrungen der Gottesferne und der Gottes­ gemeinschaft während unseres irdischen, zeitlichen Daseins sehen, sondern zugleich sinnbildliche Beschreibungen für die aus den zeitlichen Erfahrungen herauswachsende Existenz­ form des ewigen, überzeitlichen Lebens-.

5. Die Stellung der Mystik zur Kirche

Das Ziel der Mystik ist das Erleben einer unmittelbaren Gottesgemeinschaft, eine das ganze Leben durchdringende Gottinnigkeit. Die Einstellung des frommen Gemütes ist durchaus individualistisch. Cs wäre daher denkbar, daß sich die Mystik gegen die Kirche völlig ablehnend verhielte und ihre Ordnungen und kultischen Bräuche verwürfe, reihe ein anderes Diesseits aus dem großen Naturganzen heraus­ schneidet". (Der Spiritismus, Reclam-Ausgabe S. 20s.). — Spiritis­

mus ist, wie früher gezeigt, ein Seitentrieb der Mystik.

1 In Strindbergs Nach Damaskus findet sich ebenfalls die Um­ setzung der „Hölle" ins Psychologische. Der schwedische Dichter hat es

wie wenige verstanden, der Unseligkeit der Gottesferne, dem Gefühl der „Verdammnis" Ausdruck zu verleihen. Es find auf seinem Lebens­

wege „Stationen", durch die er hindurch gemußt hat.

z. Die Stellung ;ur Kirche

Es ist dies jedoch nur bei einzelnen ganz extremen Mysti­ kern, z. B. bei Sebastian Frank und Kaspar von Schwenck-

feld der Fall. Die überwiegende Mehrzahl der Mystiker stellen sich freundlich zur Kirche, wollen ihre treuen Glieder sein und haben nicht selten bedeutende Ämter in ihr bekleidet

wie etwa Meister Eckehart, der den Posten eines Ober­ hauptes der deutschen Ordensprovinz der Dominikaner einnahm und ein gefeierter theologischer Lehrer in Köln

war. Aber auch bei der freundlichen Stellung zur Kirche werden alle Stücke der katholisch-kirchlichen Frömmigkeits­ pflege dem Ziele der mystischen Gemeinschaft mit Gott untergeordnet. Sie hören auf, vor Gott an und für sich

wertvolle Leistungen des Gehorsams zu sein. Sie werden lediglich als Hilfsmittel für die Stärkung des inneren Le­ bens, für die Förderung des Strebens nach Gottinnig­ keit gewertet. „Alle äußeren Werke sind darum eingesetzt und verordnet/chamit der äußere Mensch dadurch auf Gott gerichtet und zu geistlichem Leben und^guten Dingen ange­ leitet werde", sagt Meister Eckehart (1,99). Daneben heißt es dann gleich bei ihm: „Wenn sich der Mensch dagegen zu wahrer Innerlichkeit aufgelegt findet, so lasse er kühnlich alles äußere fallen, wären es auch solche Übungen, zu denen

du dich durch Gelübde verbunden hättest, von denen weder Papst noch Bischof dich entbinden könnten ... Mag ein Mensch sich noch so stark zu allerhand Dingen verbunden haben, kommt er in das wahre innerliche Erleben hinein, so ist er ihrer aller ledig" (1,100). Diese beiden Äußerungen von Meister Eckehart, die sich durch ähnliche Aussprüche

anderer Mystiker, namentlich Taulers, als gemeinsame Auffassung der mystischen Frömmigkeit nachweisen lassen,

8s

Eiazehüge mystischer Frömmigkeit

mögen genügen, um ihre Stellung zu kirchlichen Ordnungen und Gebräuchen zu kennzeichnen. Durch Askese, wie sie die Kirche fordert und übt, sucht sich der Mystiker von der Herr­ schaft der Welt, von der zerstreuenden Mannigfaltigkeit der äußeren Eindrücke zu befreien. Das Abendmahl wird gefeiert, um die Glut der Andacht zu steigern und die Kraft zur geistlichen Betrachtung zu fördern. Namentlich Taulers

Predigt Vom fruchtbaren und unfruchtbaren Genuß des Abendmahls (I, iz-rff.) ist in dieser Beziehung lehrreich.

Der Mystiker unterwirft sich der Kirche, erkennt ihre Lehren und Ordnungen an, aber „das geschieht nicht um der Au­ torität der Kirche willen, sondern weil man in ihnen das Mittel zu haben glaubt, um zum Leben mit Gott zu ge­ langen, um eigene Gedanken von dem Unendlichen, und die freiwillige Hingabe an dasselbe zu gewinnen"'. Diese ziemlich gleichgültige Stellung der Mystik zur Kirche bringt es mit sich, daß sie auch da, wo sie über die

Kirche und ihre Ordnungen hinausgewachsen ist, von revo­ lutionären oder auch nur reformatorischen Tendenzen frei bleibt. Sie nimmt die Kirche, wie sie ist, als gegeben hin, aber negiert für sich das aus dem weiten Gebiete kirch­

licher Lehren und Ordnungen, was nicht zu ihren Grund­ stimmungen und Grundabsichten paßt. Die Mystik wählt aus dem kirchlich Gegebenen und Gebotenen das aus, was sie zur Entfaltung ihres eigenen Wesens gebrauchen kann,

was zu ihr paßt. Damit setzt sie für sich und ihre Anhänger viel überlieferte Frömmigkeitsbräuche und Übungen prak­ tisch außer Geltung. 1 Reinhold Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 1913, 2. und 3. Auflage III, S. 562.

$. Die Stellung jur Kirche

Bei de« einjelnen Mystikern ist der Grad ihres Zusam­

menhanges mit dem kirchlichen Leben und des Verflochten­ seins in seine Ordnungen und Bräuche verschieden stark. Am tiefsten hängt Sense mit dem katholisch-kirchlichen Leben seiner Zeit jusammen. Die kirchlichen Festtage sind

ihm wichtig. Besondere Betrachtungen stellt er während der Messe an (1,24 s.). Er nimmt seinen Weg gern durch die Kirche am Sakrament vorbei (1,97) und hält vor diesem seine Andacht. Man kann bei ihm von einer besonderen Sakramentsmysiik reden-. Für Tauler dagegen hat die Kirche in der Hauptsache eine pädagogische Bedeutung für die noch nicht Vollkommenen, die noch nicht zum wahren Leben in Gott gelangt sind. Für den aber, der jum „Freunde Gottes" geworden ist, weil er das innere Wort in der Seele vernommen hat, haben die Kirche und ihre Ordnungen keine Bedeutung mehr. Sie brauchen die kirchlichen Sakra­

mente nicht mehr, weil sie diese stets innerlich-seelisch, auch unabhängig von ihrem äußeren Vollzüge genießen. Meister Eckehart erklärt: „Dies Nehmen und dies selige Genießen des Leibes unsers Herrn hängt nun keineswegs an dem äußerlichen Genuß: es genügt dazu auch ein geistiger Ge­ nuß, mit sehnendem Gemüt, in Hingabe und Andacht. Auch so kann man ihn so aufrichtig nehmen, daß man reicher wird an Gnaden als irgendein Mensch auf Erden. Das kann der Mensch verrichten tausendmal am Tage und mehr, wo immer er weile, ob er siech sei oder gesund. Nur muß man sich als zu einem Sakrament herzubegeben: nach Gebühr in weihevoller Stimmung und voller Inbrunst" 1 Ganz ausgeprägt begegnet uns Sakramentsmystik bei Hildegard von Biogen.

Einzeljüge mystischer Frömmigkeit

(II, 36). Ganz ähnlich urteilt Tauler, daß der geistige Sakramentsgenuß dem Frommen nie genommen werden könne (II, 58), so daß der äußere Vollzug nebensächlich wird. Trotzdem kann man nicht von Gleichgültigkeit oder Feindschaft gegen die äußere sakramentale Handlung sprechen. Dies wird ;. B. deutlich aus Taulers Predigt Vom inneren Genießen des Abendmahls und der Vor­ bereitung darauf (1,125). Dort heißt es: „Darum sollen alle Menschen, die Liebe und Begehren haben, zur höchsten Wahrheit zu kommen, sich so halten, daß sie oft und zeitig zu dieser lebendigen Speise gehen. Und wenn sie empfinden, daß sie Fortgang und Mehrung ihrer Liebe darin finden, ohne daß eine Unachtsamkeit oder Verkleinerung eintritt, dann ist es desto besser und nützlicher, je öfter sie es tun" (1,130). Nicht viel anders ist die Stellung der anderen Mystiker zur Kirche. Vielleicht am unkirchlichsien ist der un­ bekannte Verfasser des Büchleins vom vollkommenen Leben. Trotz aller äußeren Unterwerfung der Mystiker unter die Kirche und ihre Ordnungen wandelt die Art ihrer Fröm­ migkeit die Bedeutung der Kirche für den Frommen voll­

ständig. Sie hört auf, göttliche Heilsanstalt, die einzige Spenderin göttlicher Gnaden zu sein, außerhalb deren es es kein Heil gibt. Statt dessen erscheint sie lediglich als

Hilfsmittel zur Pflege wirklicher Frömmigkeit. Sie hat nur noch dienende, aber keine herrschende Bedeutung mehr. Sie soll nur, soweit äußere Einrichtungen mit ihren Ord­ nungen dies überhaupt können, das Erlebnis der Gottes­ gemeinschaft vorbereiten helfen. Aus der Herrin des Glau­ bens und der Spenderin ewiger Gnaden, die sie für die katholische Volksfrömmigkeit ist, ist die Kirche für den My-

5. Die Stellung zur Kirche stiker zur Dienerin des Frommen geworden, zu einem Hilfsmittel für die Erlangung der Gottinnigkeit. Der

Kreis gleichgesinnter „Gottesfreunde", nicht mehr die Großkirche ist es, der dem Mystiker die fromme Gemeinschaft ju gemeinsamer Andacht und Anbetung gewährt.

So hat die Mystik viel zur Erweichung des starren Kirchentums beigetragen. Es ist dies Vorzug und Fehler yr, gleich. In der Mystik tritt das eigene Erleben, in dem der Fromme seine dauernde seelische Befriedigung findet, in einen sich allmählich steigernden Gegensatz gegen die äußere

Kirchlichkeit. Dadurch hat sie das Heraufkommen der Re­ formation begünstigt und die Bedingungen für eine neue Frömmigkeit mit geschaffen, die das äußerlich-gesetzliche Kirchentum überwunden und an die Stelle der durch die Kirche als Heilsanstalt dinghaft vermittelten Gottesgnade die durch den Glauben persönlich erfaßte und angeeignete Gottesgemeinschaft gesetzt hat. Es ist kein Zufall, sondern Übereinstimmung in wichtigen Punkten des frommen Er­

lebens, wenn Luther von Tauler mannigfach angeregt und beeinflußt worden ist und das Büchlein vom vollkommenen Leben unter dem Titel einer Deutschen Theologie neu herausgegeben hat. Luther hat gefühlt, daß die Mystik ihm Wegbereitungsdienste geleistet hat. Aber in der Stellung der Mystik zur Kirche verrät sich doch auch ein empfindlicher Mangel: ihr Unvermögen, ein großes religiöses Gemeinschaftsleben, eine religiöse Volks­ und Kulturgemeinschaft zu schaffen. Davon ist bereits

früher1 die Rede gewesen, so daß es hier nur dieses kurzen Hinweises bedarf.

1 Stehe Seite 43 s.

Einzeljüge mystischer Frömmigkeit

6. Mystik und werktätige Nächstenliebe Gegen die Mystik wird oft der Vorwurf erhoben, sie pflege ausschließlich das fromme Gefühl und vernachlässtge

die tätige Nächstenliebe. Bei dem starken Streben der My­ stik nach Gottinnigkeit, ja nach dem Erlebnis der Vergot­ tung, sowie der unleugbar vorhandenen starken Betonung des Innenlebens ist ein solcher Vorwurf verständlich. Und

doch tut man der Mystik Unrecht, wenn man behauptet, sie vergesse die praktische Nächstenliebe über der Pflege des frommen Gefühls. Gewiß, finden sich in der Mystik weltflüchtige Stim­ mungen. Ihre Hauptvertreter haben hinter Klostermauern ein Leben stiller Zurückgezogenheit geführt. Trotzdem hat die mystische Frömmigkeit eine schlichte, praktische Moral

hervorgebracht, die sich ganz in Nächstenliebe und werk­ tätiger Barmherzigkeit auswirkt. „Der Zustand des Schau­ ens ist angelegt auf das Fruchtbarwerden im Wirken. 3m Schauen dienst du nur dir selber, in guten Werken aber dienst du den Vielen", sagt Meister Eckehart (1,94) und

bekennt sich dadurch zur Frömmigkeit schlichter Barm­ herzigkeit und Nächstenliebe. Wir verdanken ihm auch eine Predigt, in der er die tätige Martha über die beschauliche Maria stellt, in der man so gern das Ideal mystischer Fröm­ migkeit verkörpert sieht (II, 98—108). Gesund nüchtern klingt es, wenn Meister Eckehart an anderer Stelle einmal sagt: „Wäre einer in solcher Verzückung wie weiland Sankt

Paulus und wüßte einen siechen Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich achte es weit besser, du ließest von Liebe und Verzückung und dientest Gott in einer grö­ ßeren Liebe! Man braucht auch nicht Angst zu haben, daß

6. Mystik und werktätige Nächstenliebe

man der Gnade darüber verlustig gehe. Denn was man aus Liebe völlig lässet, das empfängt man um so herrlicher

zurück" (II, 19). Ebenso haben wir von Tauler eine Predigt, in der er nicht müde wird, Nächstenliebe in den mannigfachsten Äußerungen ihres Wesens zu fordern. In ihr heißt es

unter anderem: „Die wahre, göttliche Liebe, die du inwendig haben sollst, sollst du merken und wahrnehmen an der Liebe, die du auswendig zu deinem Nächsten hast, denn du liebst Gott nicht eher, als bis du merkst, daß du deinen Nächsten liebst" (II, 219). Unverkennbar liegt dies Wort auf der gleichen Linie mit dem „größten Gebot" Jesu (Markus 12, 29—31) und der Äußerung johanneischer

Frömmigkeit: „So jemand spricht: ,Jch liebe Gott', und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet?" (1. Johannes 4,20). An ein oben erwähntes Wort von Meister Eckehart erinnert es, wenn Tauler von einem Menschen sagt, der „sich dem Willen Gottes gelassen" hat: „Wenn nun der Mensch in diesem inwendigen Werke wäre, und Gott gäbe ihm dann, daß er das hohe, edle Ding lasse und sollte gehen, einem Kranken zu dienen, ihm vielleicht eine Suppe machen, das sollte der Mensch mit großem Frieden tun. Und wenn ich der Menschen einer wäre und sollte das dann lassen und sollte hiaausgehen zu predigen oder dergleichen zu tun, so könnte wohl geschehen, daß Gott mir gegenwärtiger wäre und mehr Gutes täte in dem äußerlichen Werke als vielleicht in sehr tiefem Schauen" (II, 68). Und in einer Unter­

weisung an Ordensschwestern sagt Tauler: „Ihr sollt

Einjeljüge mystischer Frömmigkeit

groß brüderliche Liebe untereinander haben und demütige

gegenseitige Unterwerfung in Liebe und Güte, niemals ein hartes und unfreundliches Benehmen gegeneinander, und nichts darf zwischen euch fallen. Ihr sollt euch in tu­

gendlichen Werken üben, in Liebe untereinander, und sollt liebreich wetteifern, euch gegenseitig dienstliche Werke zu tun, nicht nur untereinander, sondern jeder alten, schwachen Schwester sollt ihr das Werk und die Bürde fröhlich und gütig aus den Händen nehmen und für sie tragen" (II, 74). Leicht ließen sich diese Äußerungen vermehren. Aber aus ihnen ist schon zur Genüge deutlich geworden, daß die My­

stik nicht nur hohe und tiefe Gefühle der Gottinnigkeit kennt und ihre Seligkeit in der Teilnahme am ewigen, seligen Leben der Gottheit findet. Für sie ist daneben be­ deutsam die Betonung der schlichten Liebesgesinnung und der helfenden Tat. Sie weiß, daß alle Gottesliebe sich in der Nächstenliebe auswirken und betätigen muß. Die Mystik ist keineswegs „Gefühlsseligkeit", wie ihr oft vor­

geworfen wird. 7. Mystik und Berufsarbeit Es wäre durchaus verständlich, wenn die Mystik bei ihrer Wertschätzung des inneren Lebens sich gegen alles Wirken in der Welt und gegen alle Berufsarbeit ablehnend ver­ hielte, zumal ihre Hauptvertreter Mönche und Nonnen gewesen sind. Trotzdem ist dies nicht der Fall. Sense ur­

teilt: „Einer gerechten Beschäftigung ledig sein wollen, ist das gefährlichste Ledigsein, das man haben kann" (1,146). Nicht Ablehnung des äußeren Tuns, sondern seine Besee­ lung von innen her erscheint ihm als Folgerung aus dem

7- Mystik und Berufsarbeit

Leben der Gottinnigkeit. Ja dieses selbst wird durch Wirken und Schaffen gefördert, wenn das Tun aus rechter, inner­ licher Gesinnung erfolgt: „Wem auch die äußere Tätig­

keit innerlich wird, dessen Innerlichkeit wird innerlicher, als wenn nur das Innerliche innerlich wird" (1,145). Nicht anders ist die Stellung der übrigen Mystiker. Bei Tauler bahnt sich sogar die Auffassung der irdischen Be­ rufsarbeit als Gottesdienst an, die dann später von Luther

ausgenommen und weiter entwickelt worden ist. Gar nicht weltabgewandt und wirklichkeitsfremd klingt es, wenn Tauler sagt: „Wisset, manche Frau steht mitten in der

Welt und hat Mann und Kind, und mancher Mensch sitzt und macht seine Schuhe, und ihre Gottesgestnnung besteht darin, sich und ihre Kinder zu ernähren. Und mancher arme Mensch auf dem Dorfe geht misten und gewinnt sein Brötlein mit großer saurer Arbeit. Und diesen allen mag es geschehen, sie werden hundertmal besser fahren (als ihr), sie folgen eben einfältig ihrem Ruf" (II, 45 s.). Besonnen und nüchtern klingt ein anderes Wort: „So sollen die edlen Menschen, wenn sie sich des Nachts in dieser innerlichen Einkehr wohl geübt haben und des Morgens auch ein

wenig — so sollen sie dann weiterhin in gutem Frieden ihre Geschäfte tun, ein jeder, wie Gott es ihm fügt; und er soll dabei in den Werken auf Gott achtgeben, denn er sei sicher: einem jeden geschieht manchmal in diesem mehr Gutes als in jenem. Und das heißt uns St. Paulus: wir sollen

arbeiten mit den Händen, was sowohl dem Menschen selbst als auch dem Nächsten gut ist, wie es einer gerade nötig hat. Das sind die wahren Armen des Geistes, die sich selbst und das Ihre verleugnet haben und Gott folgen, wohin er sie

Einjehüge mystischer Frömmigkeit

habe» will, sei es zu ruhen, sei es zu wirken" (II, 68). Aller­

dings fügt Tauler dann hinzu, daß junge „anfangende" Leute sich zunächst mit besonderer Kraft dem inneren Leben,

der Innerlichkeit hingeben müssen, um darin Fortschritte zu machen. Aber gerade in der Verbindung dieser beiden Äußerungen zeigt der alte Meister der Gottinnigkeit seine seelsorgerliche Weisheit. Einen nahezu evangelischen Klang

hat das andere Wort Taulers: „Ihr sollt auch nicht denken, daß, wenn ihr des heiligen Geistes so wartet, euch dann

eure auswendigen guten Werke wie — Werke des Gehor­ sams, Singen, Lesen, Dienst an den Schwestern und Werke

der Liebe — am Empfang des heiligen Geistes hindern könnten. Nein, liebes Kind, so ist es nicht, daß man alle Dinge aufgeben und so warten müsse. Ein Mensch, der gern Gott liebte und im Sinne hätte, der soll alle Dinge aus Liebe tun, Gott zum Lobe, in rechter Ordnung, was auch auf ihn fallen mag, und wie Gott es ihm fügt, in Liebe, in sanftmütiger Güte und in friedlicher Gelassenheit, dir und deinem Nächsten zum Frieden. Die Werke hindern dich nicht, sondern die Unordnung in den Werken hindert dich. Die lege ab und habe Gott lauter im Sinne, in all deinen Werken, nicht anders. Und sodann gib viel auf dich selbst acht und hüte dein Gemüt, laß keine Unordnung hinzukommen und hüte deine Worte und deinen Wandel von außen, dann bleibst du zufrieden in all deinen Werken, und der heilige Geist wird zu dir kommen und in dir wohnen und Wunder in dir wirken" (II, 115). Nicht anders als die Stellung seiner beiden Schüler Tauler und Geuse ist die Meister Eckeharts zum Wirken

und Schaffen in der Welt. Auch er redet trotz seiner starken

7. Mystik und Berufsarbeit

Betonung der Konzentration und des inneren Lebens keineswegs der Untätigkeit das Wort. „Mitten in den Dingen", heißt es bei ihm, „muß der Mensch Gott ergreifen und sein Herz gewöhnen, ihn allezeit als einen gegenwär­

tigen zu besitzen im Gemüt, in der Gesinnung und im

Willen. ... Du sollst unter der Arbeit das gleiche Gemüt haben und eine gleiche Treue und gegen deinen Gott den

gleichen Ernst hegen" (II, 12). Von höchster Bedeutung für Meister Eckeharts Stellung zu Arbeit und Beruf, ja zum ganzen Leben in der Welt ist folgende Äußerung:

„Wer zurecht kommen will, dem muß je unter zwei Dingen eines geschehen: er muß Gott ergreifen und festhalten lernen in seiner Arbeit, oder er muß Welt und Werke über­ haupt lassen! Da nun der Mensch in diesem Leben nicht bestehen kann ohne Arbeit, diese vielmehr des Menschen Teil ist und von vielerlei Art, darum so lerne der Mensch, seinen Gott zu haben in den Dingen und ungehindert zu bleiben von Geschäft und Ort" (II, 15 s.). Dieser große

Fromme hat wohl gewußt, daß das Heil nicht iü der Welt­ flucht liegt, sondern in der inneren Freiheit von der Welt, in ihrer Überhöhung und der Überwindung ihrer Hem­ mungen durch die Gottesgemeinschaft. Darum bleibt auch für uns und unser Streben, die Seele im Getriebe der Arbeit und ihrer Hetze zu behaupten, Meister Eckeharts Wort richtungegebend: „Solches (nämlich Hingabe und scharfe Obacht auf das Innere) kann der Mensch nicht lernen durch Weltflucht, indem er von den Dingen flieht,

und sich in die Einsamkeit kehrt von der Außenwelt fort. Sondern er muß eine innerliche Einsamkeit lernen, wo und bei wem's auch sei: er muß lernen, durch die Dinge

Einzelzüge mystischer Frömmigkeit hindurchzubrechen, muß seinen Gott darinnen ergreifen und fähig werden, ihn sich in seinem Innern wirksam vor-

zubilden, als der nun eine Bestimmtheit unseres eigenen Wesens geworden" (II, izf.). So zeigt sich, daß in der deutschen Mystik keineswegs weltflüchtige, asketische Stimmungen die Oberhand haben. Es findet sich vielmehr in ihr eine durchaus positive Stel­ lung zum tätigen Leben. Es gibt für sie nicht die sonst so

beliebte Trennung: hier Arbeit, hier Religion. Sondern als Religion der Jnnenoffenbarung und des innerseelischen Erlebens des Göttlichen strebt sie darnach, die erfahrene

Gottesgemeinschaft in das Wirken und Schaffen von innen her hineinzutragen, die Arbeit zu beseelen, sie zu einem frommen Tvn zu machen. Daß diese Auffassung späterhin in der reformatorischen Auffassung des Berufs als Gottesdienst ihre Fortsetzung und Vollendung gefunden hat, ist deutlich. Ebenso aber auch, daß uns Heutigen, für welche die Arbeit vielfach seelenlos und darum zur Last geworden ist, die Mystik eine wertvolle Hilfe sein kann. Wir können von ihr wieder ler­ nen, „mitten in den Dingen Gott zu ergreifen" und „Gott zu haben mitten in den Dingen und ungehindert zu bleiben von Geschäft und Ort", um mit Meister Eckehart zu reden.

Der Heilsweg der Mystik Es ist schon früher darauf hingewiesen worden, daß

Hugo und Richard von St. Victor zuerst eine be­ stimmte Stufenfolge des mystischen Heilsweges herausgearbeitet haben'. Ihr Methodismus der Mystik, wie man es nennen kann, hat auf die Folgezeit stark eingewirkt, auch auf die Anschauungen der deutschen Mystik. Auch sie unter­

scheidet verschiedene Stufen auf dem Wege zu dem von ihr

ersehnten Heile. 3n der Hauptsache sind es drei, die als Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung be­ schrieben werden. Aber sie gehören ganz eng zusammen, bilden eine innerlich notwendige Einheit, so daß es im

Büchlein vom vollkommenen Leben heißen kann: „Man

muß sich gegenwärtig halten, daß niemand erleuchtet wer­ den mag, er sei denn zuvor gereinigt, geläutert und ent­ ledigt. Und niemand kann mit Gott vereinigt werden, er sei denn zuvor erleuchtet (S. 20). Ehe wir uns diesen Stufen des Heilsweges im einzelnen zuwenden können, muß etwas noch hervorgehoben werden. Die alten Mystiker sind keine Systematiker, sondern Prak­ tiker der Frömmigkeit gewesen. Darum finden sich bei ihnen keine geschloffenen Darstellungen des Weges, auf dem sie das Heil gefunden haben und auf dem sie ihre Schüler und Anhänger zur Erfahrung der seligen Vereinigung mit der Gottheit führen wollten. Am ehesten kann man in den Kapiteln 6, 7 und 8 des Büchleins vom vollkom­

menen Leben den Versuch zu einer systematischen Beschrei­ bung des mystischen Heilspfades und seiner Stufen sehen.

' Siehe Seite 20 f. 7

Altmann, Mystik

97

Der Heilsweg der Mystik

Je nach den Zielpunkten ihrer jeweiligen Rede, vielleicht auch Im Eingehen auf die besonderen Bedürfnisse ihrer

Hörer haben die großen Meister der Mystik bald diese, bald jene Stufe geschildert, näher gedeutet und die auf ihr sich einstellenden seelischen Zustände beschrieben. Wird dadurch die Rede der Mystiker lebendiger und anschaulicher, hört

man dadurch stets den Strom ihres eigenen Erlebens rauschen, so wird uns, zumal die Ausdrücke nicht immer in demselben Sinne gebraucht werden, dadurch die syste­

matische Darstellung des mystischen Heilspfades erschwert. Indem wir uns dies gegenwärtig halten, wenden wir uns seinen einzelnen Stufen zu.

i. Die Reinigung Bei ihr handelt es stch um die Befreiung der Seele von dem Befangensein im Irdischen, Äußerlichen sowie um die

Reinigung des Geistes von allem Weltlichen und Bos­ haften. Das Ziel formuliert Seuse mit den Worten: „Ein gelassener Mensch muß entbildet werden von der Kreatur, gebildet werden mit Christo und überbildet werden in der Gottheit (1,146). In derselben Richtung bewegt sich das schon früher zitierte Wort Meister Eckeharts: „Leer sein alles Erschaffenen, heißt Gottes voll sein, und Erfülltsein von dem Erschaffenen, heißt Gottes leer sein" (1,60). Von den Kreaturen, von allem Geschaffenen muß sich das Stre­ ben des Menschen fort und einzig auf Gott hinrichtea. Sich von allem Sichtbaren „abgeschieden" zu halten, ist

die Aufgabe. Denn „das abgeschiedene Herz steht aller Kreaturen ledig, ist gänzlich Gott unterworfen und steht in der höchsten Gleichförmigkeit mit ihm: darum ist es am

i. Die Reinigung

empfänglichsten für das Einfiießen Gottes" (Meister Cckehart 1,66). Der Zustand eines solchen abgeschiedenen oder ledigen Gemütes wird anderwärts folgendermaßen be­ schriebe»: „Was ist ein lediges Gemüt?Mnes, das nir­ gends womit beladen oder verworren ist, an nichts ge­

bunden, es nirgend auf seinen Vorteil absteht in der Welt, sondern ganz und gar in den liebsten Willen Gottes ver­ senkt ist, den eigenen aber aufgegeben hat" (Meister Ecke­

hart II, 8). Und den Lobpreis der Abgeschiedenheit fingt Meister Eckehart mit den Worten: „Darum ist die Abge­ schiedenheit das Allerbeste: denn sie reinigt die Seele, ent­

zündet das Herz und erweckt den Geist, sie gibt dem Be­ gehren Schnelle; sie übertrifft alle Tugenden: denn sie

macht uns Gott erkennen, sie scheidet das Kreatürliche ab und vereint die Seele mit Gott" (1,67).

Namentlich dieser Zug der Aufgabe des eigenen Willens, der Reinigung vom selbstischen Streben, ist besonders wichtig für die erste Stufe des mystischen Heilsweges. Denn der Eigenwille, der gegen Gottes Willen die irdischen Güter will und die Abkehr des Menschen vom Unwandelbaren

zum Wandelbaren bewirkt, ist das eigentliche Wesen der

Sünde, wie das Büchlein vom vollkommenen Leben immer wieder betont. Freilich ist Sünde hier weniger ein ethischer, als ein naturhaft-metaphysischer Begriff'. Der Mensch muß sich „entwerden" — „sei wohl geschieden von dir selbst" (Büchlein vom vollkommenen Leben @. 31) —, denn nur so kommt es in ihm zu der Reinigung des Ge­

mütes, welche die erste Vorbedingung für die Vereinigung * Über die „Sünde" in der Mystik stehe Seite 54 ff.

Der Heilsweg der Mystik

mit der Gottheit ist. Meister Eckehart rät darum: „Halte dich abgeschieden von allen Menschen, bleibe ungetrübt

von allen aufgenommenen Eindrücken, mache dich frei von allem, was deinem Wesen eine fremde Zutat geben, dich ans Irdische verhaften und Kummer über dich bringen

könnte, und richte dein Gemüt allezeit auf ein heilsames Schauen: bei welchem du Gott im Herzen trägst als den

Gegenstand, von dem deine Augen nimmer wanken! Was es sonst an Übungen gibt: Fasten, Wachen oder Beten,

die richte alle hierauf hin als zu ihrem Ziel, und habe ihrer nur so viel, als sie dich dazu fördern mögen; so erreichst du den Gipfel der Vollkommenheit" (l, 67 f.). 3m Streben nach der Reinigung sind wertvolle Hilfen häufige Beichte und Teilnahme am heiligen Abendmahle. Namentlich Tauler gibt hierzu mehrfache, höchst bedeut­ same Anweisungen'. Zur abschließenden Kennzeichnung

dieser Stufe des mystischen Heilsweges möge ein Wort aus dem Büchlein vom vollkommenen Leben dienen: „Die Reinigung geziemt dem anfangenden und büßenden Men­ schen und geschieht auf dreierlei Weise: mit Reue und Leid um die Sünde, mit unumwundener Beichte, mit vollkom­

mener Buße."1 Siehe besonders: Vom inneren Genießen des Abendmahls und der Vorbereitung darauf (I, 125ff.). Vom fruchtbaren und unfrucht­ baren Genuß des Abendmahls (I, iZ2ff.), Eine gute Lehre und Mah­ nung über die Beichte (ii, 78), Eine kurze Beichte (II, 79). 3 Diese Stelle fehlt in der von H. Büttner herausgegebenen Diede-

rtchsschen Ausgabe. Ich zitiere daher hier nach der Jnselausgabe (Deut­ sche Theologie) S. 114.

2. Die Erleuchtung

2. Die Erleuchtung

Sie geziemt dem zunehmenden Menschen und geschieht gleichfalls auf dreierlei Weise: in Zurückweisung der Sünde, in Übung der Tugend und guter Werke und im willigen

Erleiden von Ungemach und Widerwärtigkeit" (Deutsche Theologie, Jnselausgabe S. 114). Für diese Stufe ist die Nachfolge Christi besonders wichtig. Sie vermittelt dem Frommen, neue, bis dahin ungeahnte geistige und sittliche Erkenntnisse. In Christus ist Gottheit und Menschheit so vereinigt, daß Gott alles in seiner Menschheit wirkt, und diese ihn ganz gehorsam wirken läßt, ihn „leidet". Christus

nachfolgen heißt, dieses sein Leben in Armut und Demut in sich aufnehmen. Dadurch wird der Gehorsam, der in Adam verloren ging, in Christus aber vorhanden war, die bestimmende Macht im Leben des Frommen-. Dieser wird dadurch zum ganz gelassenen Menschen. Aber dies Ziel

erreicht nur, wer den Weg des Leidens Christi geht und den Eigenwillen vollkommen aufgibt. Darum bedarf es der eingehenden, betenden Meditation über das Leiden Christi. Bei Seuse besonders läßt sich studieren, mit welcher hin­ gebenden Glut und Leidenschaft, aber auch in Verbindung

mit welchen grausamen asketischen Selbstpeinigungen diese betende Versenkung in das Leiden Christi geübt wer­ den konnten Mit-Leiden, wirkliches Anteilhaben an und » Dgl. besonders das Kapitel „Adam und Christus" Im Büchlein

vom vollkommenen Leben S. 21 ff.

1 Siehe etwa aus Seuses Lebensbeschreibung den Abschnitt „Don dem elenden Kreuzgang, den er mit Christus tat, da man ihn hinaus­ führte in den Tod" (l, 29ff.). Ganz besonders ist aber auf sei» Büchlein

der Ewigen Weisheit zu verweisen, in dem die bedeutsame Betrachtung 101

Der Hetlsweg der Mystik

Mitfühlen mit den Schmerzen Christi und Stärkung im Willen zur Nachfolge Christi sind der Zweck dieser Medi-

tation. Die gemeinkirchliche Anschauung, daß Christi Leiden unsere vollkommene Gerechtigkeit bringt, wird durchaus anerkannt, wenn z. B. Sense sagt: „All mein Trost und all meine Zuversicht liegt gänzlich an deinen Leiden, an deiner Genugtuung und an deinem Verdienst." Aber daneben läßt er sich doch von Christus sagen: „Jeder Mensch zieht der Genugtuung nur so viel zu sich, wie er sich mir mit Mitleiden gleichet." Es ist ohne weiteres deutlich, daß in diesem Worte, zu dem sich mancherlei Parallelen anführen ließen, eine von der gemeinkirchlichen Auffassung abweisteht „Wie die Seele unter dem Kreuz zu herzlicher Reue und mildem Ver­

geben kommt" (II, izff.). Am bezeichnendsten für die Meditation über das Leiden Christi ist wohl die Betrachtung „Von unsäglicher Güte der Betrachtung des göttlichen Leidens" (II, $2fs.), in der Sense von der Ewigen Weisheit, Christus, die Anweisung empfängt: „Die Betrachtung meiner Marter soll nicht mit einem eiligen Darüberhiufahren, wenn man gerade mal Zeit und Gelegenheit hat, geschehen, sondern mit herz­ licher Liebe und mit einem klagenden Überdenken, sonst bleibt das Herz so von Andacht unberührt, wie der Mund von ungekautem Süßholz.

Kannst du mein Leiden nicht betrachten mit Augen, die ob der bitter­

lichen Not, die ich leide, weinen, so sollst du es dafür überdenken mit einem Herzen, das ob des fröhlichen Gutes, das du darin findest, lacht.

Kannst du aber weder lachen noch weinen, so sollst du es mir zu Lobe in der Dürre deines Herzens überdenken, und damit wirst du nicht we­ niger getan haben, denn als wenn du von Tränen und Süßigkeit überflössest, denn so wirkst du aus Liebe zur Tugend ohne Ansehen deiner (II, 54). Auch das Wort sei angeführt, das dem leidend und trostlos in seiner Zelle fitzenden Seuse von Christus zugerufen wird: „Was fitzt du hier? Steh auf und versenke dich in mein Leiden, so über­

windest du dein Leiden!" (II, 53).

2. Die Erleuchtung

chende Schätzung des Leidens Christi sich ausspricht. Nur das innere Mit-Leiden mit Christus erscheint als wertvoll, während von einer objektiven Heilsbedeutung des Leidens Christi nicht mehr die Rede ist.

Auf dieser Stufe des Heilsweges gewinnt überhaupt

alles Leiden, nicht nur das innere Mitleiden mit Christus, für den Frommen eine positive Bedeutung. Es wird als

Sendung Gottes aufgefaßt. Seine Aufgabe ist, den From­ men immer völliger von der Welt und dem Weltstvne ju befreien und sein Denken und Fühlen gänzlich auf Gott zu richten, wie namentlich Meister Eckehart in seinem Buche der Tröstungen' immer wieder ausführt. Im Leiden wird „das schnellste Tier gesehen, das zur Vollkommenheit

trägt" (Meister Eckehart 1,67). Aber dabei wird unter­ schieden zwischen selbstverschuldetem und von Gott geschick­ tem Leiden. Das eine ist Last, während das andere in der Kraft Gottes getragen und von ihm versüßt wird. Darum

sagt Meister Eckehart: „Leidest du um deinetwillen, immer tut dein Leiden dir weh und ist dir schwer zu tragen. Leidest du aber um Gott und für Gott, solch Leiden tut dir nicht

weh und ist dir auch nicht schwer. Denn Gott trägt die Last. Und fiel auf solchen (Leidenden) alles Leid auf einmal, das alle Menschen je gelitten, ja das alle Welt zusammen trägt: es täte ihm nicht weh und wär ihm auch nicht schwer. Denn Gott trägt die Last. .. Was der Mensch leidet um Gott und für Gott allein, das macht er ihm leicht und süß"

(II, 127s.). Tief und bedeutsam ist, was Geuse Christus, die Ewige Weisheit, sagen läßt: „Leiden ist vor der Welt 1 Siehe II, 51 ff. Gesondert erschienen als Jnselbüchlein Nr. szr,

103

Der Heilsweg der Mystik

eine Verworfenheit, ist aber vor mir eine unermeßliche

Würdigkeit. Leiden ist ein Löscher meines Zornes und ein Erwerber meiner Huld. Leiden macht mir den Menschen liebwert, denn der leidende Mensch ist mir ähnlich. Leiden ist ein verborgenes Gut, das niemand vergelten kann; und wenn ein Mensch hundert Jahre vor mir kniete um ein freundliches Leiden, es wäre unverdient. Es macht aus

einem irdischen Menschen einen himmlischen Menschen.

Leiden bringt der Welt Entfremdung und verleiht dafür mein beständiges Vertrauen. Es vermindert die Zahl der Freunde und vermehrt die Gnade. Der muß gänzlich von aller Welt verleugnet und verlassen werden, dessen ich mich freundlich anaehme. Es ist der sicherste Weg und ist der kürzeste und der nächste Weg. Sieh, wer es recht wüßte,

wie nützlich Leiden ist, der sollte es als eine wette Gabe von Gott empfangen" (II, 49). An anderer Stelle sagt er einmal: „Das edelste und das beste Leiden, das ist ein christförmiges Leiden" (1,116)1. Der Gedanke der Nachfolge Christi enthüllt sich auf der zweiten Stufe des mystischen Heilsweges als ein beherr­ schender Gedanke ihrer Frömmigkeit. Ihre großen Ver­ treter, namentlich Sense, haben die Liebe zu Jesus und die innige Hingabe an ihn gepflegt und den Sinn für sein irdisches Leben in einer Zeit lebendig gehalten, in der sonst daö Jesusbild der Evangelien fast ganz hinter dem Christus

des katholischen Dogmas verschwand. Die deutsche Mystik leitete ihre Anhänger an, in der Nachfolge Christi zu einem ' Man vergleiche etwa den Abschnitt „Wie Gisela mit Leiben stritt

in Agnes Günthers Dichtung Don der Hexe, die eine Heilige war. Oie Nachwirkung der Mystik scheint mir «nverkeaadar zu sein.

2. Die Erleuchtung

Leben des Gehorsams gegen Gott j» gelangen, nachdem

sie den Weg des Ungehorsams der Sünde erkannt und überwunden hatten. Es sind Worte von tief christlichem, wahrhaft evangelischem Klange, wenn Meister Eckehart sagt: „Christus hat viele Werke getan, bei denen ihm an geistiger, nicht an buchstäblicher Nachfolge lag! Man muß sich also Mühe geben, wie man ihm vernünftig könne

nachfolgen. Denn er hat mehr auf unsere Gesinnung sein Netz gespannt als auf unsere Werke. Immer müssen wir seinem eigentlichen Sinne folgen. Wie? Das mußt du

dir in jedem Falle besonders überlegen! Wie ich oft gesagt habe: ich achte ein geistiges Werk für viel förderlicher als

ein körperliches. Wie das? Christus hat vierzig Tage ge­ fastet. Darin folge ihm, indem du wahrnimmst, wozu du am leichtesten neigst: da entsage und halte dich in guter Hut. Das frommt dir mehr, dich unbekümmert zu erhalten, als ob du fastetest von aller Speise. So ist dir's manchmal

schwerer, ein Wort zu verschweigen, als ob man überhaupt schwiege von aller Rede, und fällt's einem manchmal schwe­ rer, eine kleine Schmähung, auf die nichts ankommt, zu vertragen, wogegen ein wuchtiger Schlag, auf den man sich eingestellt hat, einem leicht vorkäme. Schwerer ist es, allein zu sein unter der Menge als in der Einsamkeit; schwerer auf Kleines zu verzichten als auf Großes; oder ein geringes Werk zu vollbringen als eines, das man für bedeutend hält. So kann einer wohl unserm Herrn nach­ folgen nach dem Maße seiner Schwachheit und braucht,

ja darf nicht glauben, er reiche da nicht an" (II, 30). Don den Menschen, die auf der zweiten Stufe des mysti­ schen Heilsweges stehen, heißt es im Büchlein vom voll-

Der Heilsweg der Mystik

kommenen Leben: „Sie leben in selbstloser Unterordnung und Gehorsam gegen die ewige Güte, aus einer freien, in­

brünstigen Liebe" (S. 15). Den ganzen Reichtum inneren Lebens, der sich der Mystik in der Nachfolge Christi erschloß, enthüllt uns das Wort Meister Eckeharts: „Inwendig

sollen wir in jeder Hinsicht uns eingebildet haben in unsern Herrn Jesus Christus, so daß man in uns finde einen Ab­ glanz seiner Werke, seiner ganzen Gottesgestalt: wir müssen es in uns tragen, in so vollkommener Annäherung als nur möglich, sein ganzes Tun. An dir ist es nun, zu leisten, an ihm, zu empfangen: tu du dein Werk aus all deiner Ver­

sunkenheit, aus deiner innersten Gesinnung! Dazu gewöhne dein Gemüt zu aller Zeit, bis du in allem deinem Tun in ihm dich spiegeln darfst" (II, 32). An anderer Stelle schärft Meister Eckehart die Wichtigkeit der Nachfolge Christi seinen Hörern nachdrücklich ein mit den Worten: „Wir müssen uns gewöhnen, in allem unserm Tun und Lassen, Leiden und Leben uns hinaufzubilden in das Leben und die Werke

unseres Herrn Jesu Christi und allezeit nur ihn im Auge haben, wie er's nur immer auf uns abgesehen hat" (II, 27). Und Tauler mahnt nicht nur: „Drücke dich demütig unter sein Vorbild" (II, 10), sondern wertet die Nachfolge Christi außerordentlich hoch als Mittel, um über alle Hemmungen, Nöte und Schwierigkeiten des Lebens zu triumphieren: „Wider die mannigfachen Hindernisse hat uns der liebreiche Gott große Hilfe und Trost gegeben und hat uns seinen eingeborenen Sohn gesandt, damit sei» heilig Leben und seine große, vollkommene Tugend und sein Vorbild, seine Lehre und sein mannigfaltiges Leiden uns völlig aus uns selbst leite, und damit wir unser finsteres Licht

z. Die Vereinigung

in seinem wahren, wesentlichen Lichte auslöschen lassen"

(I, 49). Es sei daraufhingewiesen, daß wir ein besonders schönes Beispiel einer Meditation über das Leben Jesu bei Tauler

in der Betrachtung „Von der Einigung mit Gott im wortlosen Gebet" haben (1,73). Wenn es wahr ist, was Rudolf Eucken einmal gesagt

hat, —und man wird ihm schwerlich Unrecht geben können, — „Die Nachfolge Jesu war das Losungswort alles Stre-

bens jur Tiefe und jur Wahrhaftigkeit christlichen Lebens. Ihre geschichtliche Entwicklung verfolgen, das heißt die innere Geschichte des Christentums aufdecken", so zeigt die Betrachtung der zweiten Stufe des Heilsweges in der deutschen Mystik, daß ihr in der Geschichte der christlichen Frömmigkeit ein Ehrenplatz gebührt. Denn es ist ihr ernst mit der Nachfolge Christi. Diese gehört zu den großen, be­ stimmenden Hauptgedanken und treibenden Kräften in der deutschen Mystik.

3. Die Vereinigung „Die Vereinigung trifft die vollkommenen Menschen und geschieht auch in dreierlei Weise, das ist: in Reinheit und Lauterkeit des Herzens, in göttlicher Liebe und in Betrach­

tung Gottes -es Schöpfers aller Dinge" heißt es in der Deutschen Theologie (Jnselausgabe S. 114). Auf der Stufe der Vereinigung erlangt der Fromme, nachdem er von allem Irdischen, allen Vorstellungen, allem eigenen Wollen freigeworben ist, das Ziel seiner Sehnsucht: die Vereinigung mit der weiselosen, gestaltlosen Gottheit als dem höchsten Gute. Im Grunde der Seele wird der Sohn

Der Heilsweg der Mystik

Gottes geboren. Wie das Feuer sich in das Hol; gebiert und ihm seine eigene Natur und sein Wesen gibt, so wird der Mensch jetzt eins mit Gott, wird Gottes Sohn mit Christus, wie namentlich Meister Eckehart immer wieder ausführt. Der Fromme will nunmehr lediglich, was Gott will, denn Gott will in ihm. Seine Seele ist nicht mehr vom eigenen, menschlichen Willen erfüllt, sondern nur noch Gottes Wille regt sich in ihr. Er gelangt ferner jur völligen

Liebe zu Gott. Und in Gott liebt er alles andere. Ja der Fromme ist auf dieser Stufe des inneren Erlebens desselben Wesens mit Gott. Ein Wort Meister Eckeharts mag dies belegen: „Wenn dann die Seele von allem, was ihr ein Offenbares ist, fort, sich dem zukehrt, was darüber ist —

denn das bedeutet es: Bilder und Gestalten hinter sich lassen — so erhält sie Gleichheit mit der gestaltlosen Natur

Gottes, dessen eigentliche Gestalt nie einer Kreatur offenbar wird in diesem Leibe. Das ist der heimliche Zugang, den die Seele hat in die göttliche Natur. Denn wenn die Seele nichts mehr hat, worauf sie ruhe, dann ist sie bereit, einzudie gehen in Gottesebenbildlichkeit. Dies heißt es: ,als Nichts zum Nichts gehen, — zu dem Nichts der göttlichen

Natur; wohin niemand gelangen kann, er sei denn ent­ kleidet von aller geistigen Materie" (I, 148). Oder an anderer Stelle heißt es unter schließlicher Berufung auf die Heilige Schrift: „Gott bringt sein Ebenbild hervor in dieser Geburt: alles, was er ist, an Gewalt, an Wahrheit und an Weisheit, das gebiert er restlos in die Seele. Sankt Augustinus sagt: Was die Seele liebt, dem wird sie gleich;

liebt sie irdische Dinge, so wird sie irdisch, liebt sie Gott — so könnte man fragen: ,Wird sie dann Gott?' Spräche ich

z. Die Vereinigung

das, das klänge unglaublich für die, deren Sinn dazu ju schwach und die es darum nicht verstehen. Ich sage es nicht,

sondern ich verweise euch auf die Schrift, die da spricht: ,Jch habe gesagt, ihr seid Götter"' (Meister Eckehart I, 54). Diese Vereinigung mit Gott ist das eigentliche Ziel der Gottesfreunde oder der guten Menschen. Sie wird als

dauernder Zustand erstrebt, aber vielfach nur für schnell vorübergehende Augenblicke erreicht, auf die dann, be­ sonders stark bei Seuse, Mattigkeit und. Leere folgen. Trost bieten dann dem Frommen die Worte Christi und ihre andächtige Betrachtung, die Gewißheit von des Hei­ landes Nähe im Abendmahle, das dann besonders begehrt wird, sowie die Hoffnung auf neue Stunden der inneren Erhebung und der Vereinigung mit Gott. Da diese Stufe der Vereinigung das eigentliche Heilsjiel

der Mystik bildet, seien die auf ihr eintretenden seelischen

Zustände und Erfahrungen noch durch einige Worte der alten Meister der Versenkung verdeutlicht. Die tiefe Selig­ keit der Vereinigung der Seele mit der Gottheit als ihrem höchsten Gute schildern Meister Eckehart, Tauler und Seuse mit folgenden Worten: „O Wunder über Wunder, wenn ich denke an die Vereinigung, die der Seele da mit Gott zuteil wird! Er macht die Seele vor Freud' und Wonne aus sich selber fließen" (Meister Eckehart I, 113). „Die höchste Wonne, die dem Geiste zuteil wird, ist, wieder in das Nichts seines Urbildes zu zerfließen und — als Selbst — darin völlig verloren zu sein. Seine Wirksamkeit verliert der Geist da, aber nicht sein Wesen ... Doch hat da das bloße Wesen der Gottheit den Geist aus seinem Selbst

emporgezogen zu sich und ihn sich gleich gemacht, so daß

Der Heilsweg der Mystik nur noch ein Wesen erscheint: so völlig hat in dieser Der, einigung das göttliche Licht den Geist durchleuchtet und überstrahlt, daß er mit ihm leuchtet als dasselbe Licht. So verliert der Geist seine^Erscheinung, nicht sein Wese«: aber

der Gottheit^bloßes Wesen hat ihn in sich verschlungen, so daß nichts mehr von ihm übrig bleibt als der bloße Funke der Seele, der den Namen führt, das hohe Gemüt," (Mei­

ster Eckehart I, 143). „Es wird hier der wahre, wesentliche Friede geboren, der alle Sinne übertrifft. Und ein solcher Mensch wird derart in den wesentlichen Frieden versetzt, daß ihn hernach nicht leicht jemand entfrieden kann" (Tau­ lee II, 2yf)>. „Da sah er (Seuse) und hörte, was allen Zungen unaussprechlich ist: es war formlos und artlos und hatte doch aller Formen und Arten freudenreiche Lust in sich. Sein Herz war gierig und doch gesättigt, sein Sinn war lustig und wohlgestimmt, sein Wünschen hatte sich ge­ legt und sein Begehren war vergangen. Er starrte nur in den glanzreichen Widerglast, in dem er seiner Selbst und aller Dinge Vergessen trank. War es Tag oder Nacht — er

wußte es nicht. Es war vom ewigen Leben eine ausströ­ mende Süßigkett in gegenwärtiger siillstehender ruhiger Empfindung" (Seuse II, 10).

Diese Vereinigung der Seele mit der Gottheit auf der dritten Stufe des mystischen Heilspfades bringt dem Frommen die Vollendung, denn weil Gott in ihm

wohnt und durch ihn wirft, ist er mit allen Tugenden aus­ gestattet. Hier ist erreicht, was Meister Eckehart mit den Worten beschreibt: „Das Höchste, wozu der Geist es bringen

' Dgl. hierzu Paulus: „Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft" Phil. 4,7. HO

z. Die Vereinigung

kann in diesem Leibe, ist, daß er wohne in einem Zustande oberhalb aller Notdurft der Tugenden, wo der Seele alle Güte so zur Natur geworden ist, daß sie die einjelnen Tu­ genden nicht jeweils erst mit einem Anlaufe nehmen muß,

sondern wo sie alle, auch ungeübt, im voraus aus ihr

leuchten: wo die Tugend zu ihrem Wesensbestande gehört" (1,142). Wer diesen Zustand der Vereinigung der Seele mit der Gottheit erreicht hat, dem teilt sich durchdringende Er­

kenntnis mit, dem lichtet sich alles frühere Dunkel seines Lebens, der hat Ersatz für alle Sehnsucht und für alles Leid. „Nun, wo landen diese Leute? (nämlich die in der Nachfolge Jesu nach der Abgeschiedenheit streben)/Welches ist ihr Ende? Das besteht darin, daß der Herr in einer kurzen Stunde jählings — wie ein Blick — kommt und ihnen liebreich die verborgene Güte bringt: da, in dem wunder­

baren Lichte wird ihnen alles aufgetan, und die verborgene Wahrheit in den Blicken voll klaren Scheines, die in dem inwendigen Grunde geleuchtet haben. Dann wird ihnen

bekannt, wo und wie sie der Herr geführt hat durch die finsteren Wege, und wie er sie nun in das Licht gebracht, und hier entschädigt er sie für all ihr langes Warten und Leiden" (Tauler II, 14). Ganz ähnlich heißt es bei Meister

Eckehart: „Wenn einer empfindet, daß er Gottes Freund ist, ist er auch kurzerhand vergewissert über alles, was ihm gut ist und zu seiner Seligkeit gehört" (II, 26). Kurz und treffend charakterisiert das Büchlein vom voll­ kommenen Leben diese dritte Stufe des mystischen Heils­

weges: „Was ist das, die Vereinigung? Nichts anders, denn daß man als ein Bestimmungsbarer, Einiger, Zü­

rn

Der Hetlsweg der Mystik

sammengefaßter wahrhaft auch einig sei mit dem einigen,

ewigen Willen Gottes, oder auch: daß man jumal ohne Willen sei, und der geschaffene Wille geflossen in den ewigen Willen und darin verschmolzen und zunichte geworden, so daß dec ewige Wille allein daselbst will so Tun wie Lassen" (S. 41). Oder Meister Eckehart sagt: „O Wunder über Wunder, wenn ich denke an die Vereinigung, die der Seele da mit Gott zuteil wird! Er macht die Seele vor Freud' und Wonne aus sich selber fließen" (1,112). Die Erfahrungen und Erlebnisse dieser letzten Stufe des mystischen Heilsweges grenzen vielfach an die Ekstase. So schildert Seuse z. B. in Anlehnung an 2. Kor. 12, 2—4 eine Entrückung, die ihm zuteilgeworden ist. „Zur selben

Zeit hatte er (Seuse) eine sonderliche Bedrängnis von schwerem Leiden, das auf ihm lag. Und wie er so allein da­ stand, trostlos, und niemand bei ihm noch um ihn war, ward seine Seele im Leibe — oder war es außer dem Leibe? — verzückt. Da sah er und hörte, was allen Zungen unaus­ sprechlich ist: es war formlos und artlos und hatte doch aller Formen und Arten freudenreiche Lust in sich. Sein Herz war gierig und doch gesättigt, sein Sinn war lustig und wohlgestimmt, sein Wünschen hatte sich gelegt und sein Begehren war vergangen. Er starrte nur in den glanzreichen Widerglasi, in dem er seiner selbst und aller Dinge Vergessen

trank. War es Tag oder Nacht — er wußte es nicht. Es war vom ewigen Leben eine ausströmende Süßigkeit in gegen­ wärtiger stillstehender ruhiger Empfindung. Er sprach da­ nach: ,3st dies nicht das Himmelreich, so weiß ich nicht, was Himmelreich ist; denn all das Leiden, das man in Worte fassen kann, vermag billig die Freude nicht zu verdienen, 112

z. Die Vereinigung

wie man sie ewiglich besitzen soll'. Diese überschwengliche Entrückung währte wohl eine Stunde oder eine halbe. Ob die Seele im Leibe blieb, oder vom Leibe geschieden war, er wußte es nicht. Als er wieder ju sich selbst kam, da war ihm

ganz und gar wie einem Menschen, der von einer anderen Welt gekommen ist" (1,9s.)1. Ein anderes Mal findet fich bei Seuse der Ausruf: „Waffen, ich schwimme in der Gott­

heit wie ein Adler in der Lust!" (i, 156). Nicht selten finden wir auf dieser Stufe der mystischen Frömmigkeit ein visio­ näres Element. Namentlich ist dies bei den mystischen Nonnen der Fall, aber auch bei Seuse, der in seinem Emp­ finden etwas Weibliches hat. Bei diesen vifionären Erleb­ nissen handelt es fich etwa um Erscheinungen Christi, der Mutter Gottes, der Engel und der Heiligen, ja selbst des

Teufels. In der Verzückung vernimmt der Mystiker himm­ lische Stimmen, die ihm auf seine Fragen Antwort geben und etwaige Zweifel lösen. Vereinzelt hören wir auch von sog. Bilokationen, d. h. anscheinender Gegenwart eines Menschen an zwei verschiedenen Orten, Levitationen, d. h. Erhebungen über den Erdboden, und anderen wunder­ baren Erscheinungen, die in ähnlicher Form im Spiritis­ mus, diesem Absenker der Mystik, eine große Rolle spielen. Meister Eckehatt, der größte deutsche Mystiker, steht jedoch • Die Darstellung dieses Erlebnisses erinnert nicht nur stark an

2. Kor. i2, sondern eS finden fich auch Anklänge an RSm. 8,18 und

2. Kor. 4,17. Trotzdem wäre es falsch, an bewußte Nachahmung zu denken. Seine Erlebnisse kleiden fich für Seuse unwillkürlich in di« ihm

vertraute Sprache der Bibel als geeignetste Darstellung des Unsag­ baren. * Siehe im einzelne« Beispiele bet Buber a. a. O. 8

Altmann, Mystik

HZ

Oer Heilsweg der Mystik allen ekstatischen und visionären Erlebnissen mißtrauisch

gegenüber, wenn er sie auch nicht gerade ablehnt. In der

Nachfolge des Apostel Paulus' urteilt er: „Der einige Zu­

stand des Schauens ist angelegt auf das Fruchtbarwerden im Wirken. 3m Schauen dienst du nur dir selbst, in guten

Werken aber dienst du den Vielen" (I, 94). Oder er sagt geradezu in Ablehnung alles Gefühlsüberschwanges: „Ob sie sich's bewußt sind oder nicht, die immer nur auf,Stim­

mung' und große, Erlebnisse' aus sind, und nur diese an­ genehme Seite haben wollen: Eigenwille ist das, weiter nichts! Du sollst dich Gotte gänzlicher ergebe». Und da kümmere dich nicht, was er anfange mit seinem Eigen­ tum!" (II, 21). Schon fast reformatorisch klingt ein an­ deres Wort Meister Eckeharts,, Wer da wähnt, in Versun­ kenheit, Andacht, schmelzenden Gefühlen und sonderlichem Anschmiegen mehr von Gott zu haben als beim Herdfeuer oder im Stalle: da bist du nichts anderes, als ob du Gott nähmest und wickeltest ihm einen Mantel um das Haupt und stecktest ihn unter eine Bank" (1,127). Selbst bei Geuse finden sich einzelne Stellen, in denen er die Vollkommenheit

des sittlichen Willens über Visionen, Schauungen und Entzückungen stellt, so z. B. 1,158. Es zeigt sich darin die gesund nüchterene Art, die den großen deutschen Mystikern eignet. Worauf es Meister Eckehart und den anderen großen Frommen der deutschen Mystik ankommt, ist etwas ganz anderes als Ekstasen und Visionen, etwas ganz Inner­ liches und Zartes von der größten Geistigkeit: Die Lösung

und Befreiung der Seele von allen Banden des Endlichen und Irdischen, ihre Hinführung zur vollen inneren Einheit

1 1. Kor. 12,7.

z. Die Vereinigung

mit Gott. Diese erscheint bald als wirkliche Wesenseinigung, wobei dann die Grenze gegen den Pantheismus fließend wird, wenn auch das Weltgefühl der Mystik immer anders bleibt als bei diesembald als vollkommene Hingabe an Gott und tiefste persönliche Gemeinschaft mit ihm, bei welcher der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf ge­ wahrt bleibt. In der deutschen Mystik sind beide Erlebnisund Anschauungsweisen zumeist so innig mit einander ver­

woben, daß es äußerst schwierig ist, zu erkennen, welche überwiegt. Es ist dies um so schwerer genau festzustellen, als die Ausdrücke nicht selten zusammenfallen und man darauf angewiesen ist, den Stimmungsgehalt zu erfühlen. Aber gerade deswegen konnten und können die verschiedensten Richtungen der Frömmigkeit von der deutschen Mystik an­ geregt und befruchtet werden. Bei der Betrachtung des mystischen Heilsweges mag uns

mancherlei seltsam und befremdlich anmuten. Trotzdem werden wir Wilhelm Herrmann Recht geben müssen, wenn er sagt: „In der Fähigkeit, persönliches Leben zum Gegenstand der Betrachtung und Darstellung zu machen, bezeichnet sie (nämlich die Mystik) einen Höhepunkt, den der Protestantismus bisher nicht erreicht hat. Den My­ stikern des 14. Jahrhunderts war die Seele wirklich ein Wunder, das sie vor Augen sahen und dessen Reichtum an, zuschauen sie nicht müde wurden"-. Wir sind auf der Suche nach unserer Seele. Unter der Begeisterung für Kultur und Zivilisation, unter der Mühe 1 Siehe Seite 66 ff. »Wilhelm Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, Stutt­ gart «ad Berlin 1918 5. und 6. Aust. Seite ar.

Der Heilsweg der Mystik

und Arbeit für den äußeren Fortschritt und die Beherr­ schung der Außenwelt sowie der Oberfläche der Dinge war die Seele unsern Blicken entschwunden. Wir waren ge­ wohnt, nach außen ju leben, und wußten nichts oder nur

noch sehr wenig von der Herrlichkeit des inneren Lebens. Wir waren uns selber fremd geworden. Aber die schweren Erschütterungen, die über uns gekommen sind, habe» uns zum Erwachen gebracht. Unsere Wertschätzung der Dinge, der ganzen Außenwelt hat sich zu wandeln begonnen. Wir suchen nach mehr Inhalt für unser Leben, als uns die wechselnde, sich wandelnde Welt um uns zu geben vermag.

Wir suchen nach dem „Wesen", das uns mehr Ruhe und Kraft spendet, mehr Glück und Seligkeit als die fliehenden „Erscheinungen". Ins Innere des Gemüts suchen wir zu

spähen, um in ihm eine andere, reinere und bessere Welt zu entdecken. Wir streben nach Tiefe. Wir fühlen, wie unsere nns so fremd gewordene Seele wieder zu uns kommen will, und ahnen etwas von dem Reichtum und der Fülle des seelischen Lebens. In dieser Lage kann uns die Mystik wertvoll werden. Denn sie ist durch und durch seelenvolles Leben. In der Be­ schäftigung mit ihr kann unsere eigene Seele zum Er­ wachen, zur Entfaltung, zu Weite und Tiefe gelangen. Seelisches Leben entzündet sich an seelischem Leben, wächst

und erstartt an ihm. Wohl uns, wenn wir uns von der

Mystik den Dienst tun lassen, daß sie uns zur Entdeckung unserer Seele verhilft und in uns den Wunsch nach reicherer Entfaltung ihrer Lebensmöglichkeiten erweckt. Wer seiner Seele fremd geworden ist, ist damit zugleich auch Gott fremd geworden. Denn Gott und die Seele gezi6

z. Die Vereinigung

hören eng zusammen. Darum ist es kein Zufall, daß uns in der Zeit der Seelenlosigkeit Gott ftaglich geworden ist

und aufgehört hat, eine unbedingte Realität, ja die Reali­ tät zu sein. Aber seit wir wieder auf der Suche nach unserer Seele sind, gewinnt auch das Verlangen nach Gott immer

stärkere Kraft und Inbrunst. Wir sehnen uns, — mag es auch oft dunkel, unklar und verschwommen sein, — nach dem wirklichen, lebendigen Gott und nach seiner beseligen­

den Gegenwart in unserm Leben. Auch von hier aus kann die Mystik uns bedeutsam wer­ den. Denn sie zeigt immer wieder, „daß in ihr das all­ gemeine Ziel aller echten Religion sicher erfaßt ist. 3n der Religion sucht der Mensch nicht bloß Gottes Gaben, sondern Gott selbst. Was Gott geben kann ohne sich selber, tröstet die Seele nicht; die Seele ruhet nimmer, sie hätte denn alles durchbrochen, was nicht Gott ist"'. Sind die Kirchen vielen Suchenden verdächtig, — ob mit Recht oder mit Unrecht, bleibe außer Betracht; die Tatsache ist nicht zu bestreiten, — so daß sie sich scheuen, bei ihnen wegen einer Stillung ihrer Sehnsucht nach Gott, der tiefsten Sehnsucht ihres Herzens, zu fragen, so kann die Mystik hier helfend eintreten und die aufwachenden und hellhörig gewordenen Seelen zur Er­ fahrung Gottes und zur Seligkeit in ihm führen. Ein tiefes Wort Meister Eckeharts mag den Abschluß

unserer Betrachtung des mystischen Heilsweges bilden und vielleicht locken, ihn zu betreten: „Das Erkennen veredelt die Seele zu Gott hin, die Liebe eint sie mit Gott, und das wirkliche Erfühlen vollendet sie in @ott" (1,122). 1 Wilhelm Herrmann, a. a. D. Seite 22.

ii7

Der Heilsweg der Mystik

4. Hilfsmittel für den Heilsweg

Es bleibt uns noch übrig, die Hilfsmittel kurz zu betracht

ten, die der Mystiker benutzt, um seine Seele auf das Gotteserlebnis einzustimmen und sie ans den Pfad des Heils zu führen.

Auf den untersten Stufen mystischer Frömmigkeit finden wir nicht selten in dieser Absicht den Gebrauch von narko­ tischen Mitteln, die Verwendung von Musik zur Erregung des Gefühlslebens und Weckung des inneren Sinnes, — im Alten Testamente bei den Anfängen des Prophetentums finden wir dies z. B. 2. Könige 3,15, — sowie be­ stimmte körperliche Haltungen und Bewegungen. Es sei hier etwa an die Stellung des Pogi und an den Tanz der Derwische erinnert.

Die höhere, rein geistige Mystik dagegen, wie sie uns in den Schriften der deutschen Mystiker, aber nicht nur in ihnen, entgegentritt, verwirft derartige Mittel durchaus. Sie bedient sich zur Einstimmung der Seele auf das über-

weltliche, Göttliche rein geistiger Hilfen, unter denen die wichtigsten sind: die Einsamkeit und Stille, die Askese in Verbindung mit einer Hinwendung der Seele auf göttliche Dinge und dann besonders das Gebet. Namentlich dieses ist auf allen drei Stufen des Heilsweges für die deutsche Mystik von der höchsten Bedeutung. Freilich ist es in man­ cher Beziehung anders geartet als in den Religionen der geschichtlichen oder der Alloffenbarung. In diesen rückt leicht das Gebet um einzelne äußere Dinge in den Vorder­ grund. Nicht selten entwickelt sich gar eine veräußerlichte

Gebetspraxis, wie wir sie vom Rosenkranzbeten und de»

4. Hilfsmittel für den Heilsweg

buddhistischen Gebetsmühlen her kennen. Dem gegenüber betont die Mystik die innerliche Seite des Gebets und des Betens. Für die Mystik handelt es sich beim Beten um das

Suchen der Seele nach Gott selbst, nicht um das Begehren nach irgend welchen Gaben Gottes, um das Atmen in seiner Gemeinschaft, um das Erfülltwerden von seinem Leben. Auf die Frage, warum wir beten, fasten und gute Werke

tun, antwortet Meister Eckehart: „Darum, damit Gott in der Seele geboren werde und die Seele wiederum in Gott" (1,51). Freilich schätzt die Mystik nicht selten das äußere, formulierte, in klare Worte gefaßte Gebet gering gegen­

über dem inneren, schweigenden Gebet des Herzens, das keiner festen Formeln, keiner bestimmten Worte bedarf, sondern innerste, auf Gott gerichtete Stimmung und ein wortloses Hasten und Hängen der Seele an ihrem höchsten Gute ist. Das Gebet kann so zur „Abgeschiedenheit" werden, in welcher der Mensch nichts mehr von Gott begehrt, auch nicht, daß Gott ihm etwas abnehme. Der Fromme ver­ langt nur noch, „einförmig zu sein mit Gott" (Meister Ecke­

hart 1,6;). Oder es heißt geradezu: „In aufrichtiger Hin­ gabe wird nie erfunden werden ein ,ich will" so oder so, ,dies oder das", sondern nur: vorbehaltloser Verzicht auf das Deine. Daher auch im besten Gebet, das der Mensch beten kann, darf es so etwas nicht geben: ,gib mir diese Tugend, diesen Weg", nicht einmal: ,ja, Herr, gib mir dich selber" — oder,das ewige Leben", sondern: ,tzerr, gib mir

einzig, was du willst, und tu, Herr, was und wie du willst, in aller Weise!" Das übertrifft das erste wie der Himmel die Erde, und wenn man sein Gebet also verrichtet, so hat man wohl gebetet; ist man doch ganz und gar ausgegangen in

Der Heilsweg der Mystik

Gott in wahrem Gehorsam" (Meister Eckehart U, 7 s.). Sebastian Frank sagt einmal jur Kennzeichnung des echten Herzensgebetes: „die in Gott leben und weben, beten ofi, wenn sie den Mund nicht auftun und selbst nicht wissen, was sie beten. Denn weil das Gebet eine Erhebung des

Gemütes in Gott ist, und weil doch dieser (Leute) Gemüt in Gott zuckt, lebt und webt, muß notwendig all ihr Leben nichts als ein Gebet, Anbeten, Händeaufheben gegen Gott sein, ob sie gleich von außen ihren Mund nicht auftun, wie Moses (2. Mos. 14), oder äußerlich alllein mit Ge­ bärden und Händen beten, wie wieder Moses (2. Mos. 17). Denn der Mund, die Zunge oder die Hände beten nicht, sondern sind allein des Herzens Dolmetsch, das allein beten kann, und des inneren rechten Gebetes Ausbruch und Zere­ monie, also daß vor Fülle des Herzens der Mund übergeht und seines Herzens Brunst nicht genugsam avssprechen kann und etwa mehr mit Gebärden anzeigt, als er mit dem Munde ausspricht. Denn rechte, innige Andacht kann nie­

mand in Worte bringen.... Ja wenn Gott sich selbst nicht in uns bittet, so erhört er uns nicht, denn er will sich

allein ehren, hören, gewähren, lieben und loben" (Para­ doxa ©. 249 s.). Der Zusammenhang dieser Motte mit Römer 8,26—27 ist unverkennbar. Bezeichnend für die ungeheure Bedeutung, die das Gebet für die Mystik zu allen Zeiten gehabt hat, ist, daß in der nachreformatorischen katholischen Mystik, besonders bei der heiligen Therese, unter „Gebet" die mystischen Seelenstimmungen und Zu­

stände verstanden werden. Bei der großen Wertschätzung des schweigenden Gebetes in der Mystik sei über dieses noch etwas gesagt. Tauler

4- Hilfsmittel für de» Heilsweg

spricht seine Ansicht über das stille Herzensgebet mit den

Worten aus: „Das Gebet, das im Geist geschieht, über­ trifft unermeßlich alle äußeren Gebete. Denn der Vater begehrt solche Menschen, die ihn so anbeten, und alle andern Gebete dienen nur hierzu. Und was nicht hierzu dient, das laß kühnlich fahren" (1,164). Solch Gebet ist „nichts als eine Erhebung und ein stillschweigendes, gemütliches SichSehnen in Gott und zu Gott, daß mein ganzes Leben nichts denn ein Gebet ist, ein Seufzen und Schreien zu Gott, ... daß allein das Herz und der Geist in Wahrheit

beten" (Seb. Frank, Paradoxa ©. 205 s.). Und Meister Eckehart läßt uns die Art des mystischen Betens erkennen, wenn er sagt: „Das Gebet des Mundes hat die heilige Christenheit darum eingesetzt, damit die Seele gesammelt werde von den äußeren Sinnen, in denen sie sich zerstreut hatte auf die Mannigfaltigkeit der äußeren Dinge. Wenn sie dann zusammengefaßt wird in die oberen Kräfte (in Vernunft, Willen und Gedächtnis), so wird sie vergeistet.

Und wenn nun der Geist festhaftet an Gott mit ganzer Einung des Willens, so wird er vergottet. Dann allererst sieht er in der wahren Anbetung, wenn er kommen ist zu

seinem Ziel, zu dem er geschaffen ist. Wir sind aber einzig zu Gott geschaffen und demgemäß nach ihm gebildet! Wer es nicht bringt zu dieser Einung des Geistes mit Gott, der ist kein rechter geistlicher Mensch: ,Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten," (II, 149). Im Gegensatz zu allen Bittgebeten, die nicht selten zu einem Anbetteln Gottes um äußere Güter und Gaben werden, ist für Meister Eckehart und seine Gei­ stesverwandten das Gebet ein wortloses Hasten an Gott,

Der Heilsweg der Mystik

ein sich eins Fühlen und Wissen mit dem göttlichen Wille». Hier wird Gott nicht um irgendwelcher seinem Wesen

fremder Interessen willen gesucht, sondern hier hat „die Seele alles durchbrochen, was nicht Gott ist", und ruht aus in der Seligkeit des Gottesbesitzes, der für sie alles und ihr gänzlich genug ist. Hier klingt derselbe Ton religiösen Ur­

verlangens uns entgegen wie aus dem 7z. Psalme:„Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du

doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil." Bei dieser Losung der Mystik: „Gott allein" und „Gott genug" ist es nicht verwunderlich, wenn Seuse einmal die himmlische Weisung vernimmt „Es tönt besser in meinen Ohren ein innerliches Betrachten als ein Lob nur mit Wor­

ten, und ein herzliches Seufzen klingt besser als ein stolzes Rufen" (II, 95). Ganz besonders ist es Tauler, der nicht müde wird, den Lobpreis des stillen Herzensgebetes zu singen und es seinen Anhängern zur treuen Übung zu empfehlen. Be­

sonders bedeutsam ist hier seine Predigt Von der Einigung mit Gott im wortlosen Gebet, aus der eine Stelle ange­ führt werden mag: „Kehre dich in Wahrheit von dir selbst und von allen geschaffenen Dingen und richte dein Gemüt völlig hinauf zu Gott über alle Kreaturen in den tiefen Abgrund; darin versenke deinen Geist in Gottes Geist, in wahrer Gelassenheit aller deiner obersten und untersten Kräfte, hoch über allen Sinnen und allem Verständnis, in einer wahren Vereinigung mit Gott, innerlich im Grunde. Damit übertriffst du alle Weisen und alle Worte und Übungen, und da bttte bann Gott um alles, um das er

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4. Hilfsmittel für den HeilSweg

gebeten sein will, und was du und alle Menschen von dir begehren. Und wisse: so klein wie ein kleiner geringer

Heller gegen hunderttausend Mark Goldes ist, ist alles aus, wendige Gebet gegenüber diesem Gebet, das da eine wahre Einigung mit Gott ist und heißt, ein Versinken und Der, schmelzen des geschaffenen Geistes in den ungeschaffenen

Geist Gottes" (1,70s.)1. Die Mystik betet anders als die biblisch,prophetische

Frömmigkeit. Quillt für jene das Gebet aus der Sehnsucht nach Gott als dem höchsten Gute und vollendet es sich im wottlosen Hangen der zu volller Abgeschiedenheit gelangten Seele an Gott, so sind die Ausgangspunkte für das Gebet in der biblisch,prophetischen Frömmigkeit mannigfacher und sein Inhalt reicher, die gesamte seelische Haltung anders.

Aus jeder Not und Freude wendet sich hier der Fromme zu Gott. Sein Gebet umspannt alle menschlichen Lebensbe, ziehungen und gestaltet sich als Lob und Dank, als Bitte und Fürbitte, ja als hymnische Anbetung. Das Gebet in der biblisch,prophetischen Religion ist wirkliches Gespräch

mit Gott, dec als das große, heilige Du dem Frommen gegenüber steht *. 1 Das betende Schweigen findet flch nicht nur in der deutsche» My, stik. Es ist eine auch sonst in der Religionsgeschichte bekannte Trschei, »uag. Über den verschiedenen Sinngehalt, den das betende Schweigen

haben kann, unterrichtet gut G. Mensching, Das heilige Schweigen, Gieße» 1926.

1 Einen Einblick in den Reichtum des Gebetslebens der biblischen Frömmigkeit gewährt Friedrich Hauß, Biblisches Gebetbüchleia. Der Chor der biblischen Beter, die Gebetsanweisuagea «ad die Gebet« der Bibel, Berlin 1936.

ILZ

Der Heilsweg der Mystik

Auch das Beten in der reformatorischen Frömmigkeit ist anders als in der Mystik. Für Luther ist das Gebet Ant­

wort des Frommen auf Gottes Rede mit ihm in seinem

Wort. Seine Auslegung der Sieben Bußpsalmen, seine Kurze Auslegung des Vater unsers, sein Betbüchlein von 1522 und seine Schrift aus dem Jahre 1534 Wie man beten soll, für Meister Peter Balbierer zeigen die kraftvolle Art und den inneren Reichtum von Luthers Gebetsleben als eines lebendigen Gesprächs mit Gott-. Nicht anders ist es

bei den übrigen Reformatoren und den von der reformato­ rischen Frömmigkeit innerlich geprägten betenden Men­ schen So verschieden mystische, biblisch-prophetische und refor­ matorische Gebetshaltung sind, — sie können eine Verbin­

dung mit einander eingehen. Den Beweis dafür bilden die Gebetslieder Gerhard Tersteegens. Ich weise hier besonders hin auf das Pfingstlied O Gott, 0 Geist, 0 Licht des Lebens und das tiefinnerliche Jesu, der du bist alleine Haupt und König der Gemeine. Großer Reichtum und große Tiefe des Gebetslebens treten uns hier entgegen, wo mystische und biblische Frömmigkeit einen Bund miteinander ge­ schlossen haben. 1 Altmann, Wie Luther uns beten lehrt, Neuendettelsau 1938.

1 Als gutes Beispiel nenne ich Otto Dietz, Be-zel-Gebete. Gebete Hermann Dez-els gesammelt und herausgegeben, Nürnberg [1933]. Be»el ist ein Beter von großer Kraft und durchaus lutherischer Haltung

gewesen.

Mystik und geschichtliche Religion Wir vergegenwärtigen uns kurz den Gegensatz zwischen Mystik und geschichtlicher Religion, der im Vorangegan­

genen bereits mehrfach berührt worden ist. In dem einen Falle handelt es sich um eine geschichtliche Offenbarung Gottes, um ein Erleben und Erfassen des Ewigen in und über den geschichtlichen Lebenszusammenhängen, um eine Frömmigkeit, die das Göttliche in klaren Symbolen auf­ faßt und verehrt. Im anderen Falle dagegen haben wir es mit einer in der Seele erfolgenden, geschichtslosen und zeit­ losen Offenbarung des Göttlichen zu tun, mit einer Innen­

schau, um mit dem über alle Begriffe erhabenen, gestalt­ losen, weiselosen höchsten Gute geeint zu werden, das durch keinerlei Symbol veranschaulicht wird. Alle geschichtliche Religion ist soziale Religion. Ihr sind die Ordnungen des Gemeinschaftslebens wichtig und be­ deutsam. Darum werden diese von ihr geweiht. Die Fröm­ migkeit des Einzelnen wächst aus seinen persönlichen Lebens­ erfahrungen in der frommen Gemeinschaft heraus. Die geschichtlichen Religionen erzeugen bestimmte Formen des Gemeinschaftslebens. Sie schaffen einen „Kultus" und sie bilden eine „Kirche" als Ausdruck des ihren Anhängern ge­ meinsamen frommen Gesamtlebens. Anders dagegen die Mystik. Ihr fehlt das soziologische Moment. Sie ist reine Jndividualfrömmigkeit, die es höchstens zu kleinen Konventikeln gleichgestimmter Seelen, aber nie zu einer Kirche, einer umfassenden religiösen Ge­ meinschaft, bringt. Ebenso fehlt ihr ein wirklicher Kultus. Lediglich bei den Quäkern haben wir einen Ansatz zur Bil-

Mystik und geschichtliche Religio«

düng eines mystischen Kirchentums, bei dem freilich noch andere Einflüsse wirksam find. Hier findet sich auch eine Art Kultus, das „Sakrament des Schweigens", das ehrfürchtig-andachtsvolle Schweigen und Verstummen der feiernden Gemeinde vor der unaussprechlichen Heiligkeit

und Herrlichkeit Gottes'. Aber auch die Quäker bilden keine Kirche im Sinne einer großen religiösen Lebens- und Kulturgemeinschaft. Bei der Mystik dreht sich alles um Gott und die Seele, die Seele und ihren Gott. Der Gedanke, daß der Fromme auch ein Glied menschlicher Lebensgemein­ schaften ist, in denen er Rechte und Pflichten hat, die er von seinem religiösen Leben her durchformen und heiligen soll, so daß das Zeitliche vom Ewigen durchleuchtet wird, tritt daneben jurück. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieses Gegensatzes suchen sich Mystik und geschichtliche Religion ständig gegen­

seitig. Es ist, als hätte» beide ein Gefühl, eine Ahnung da­ von, baß sich erst in ihrer Vereinigung die Religion voll­ kommen darstellt. Dabei kennen wir die Mystik niemals als selbständige Religion für sich. Sie lebt vielmehr stets

auf dem Boden einer geschichtlichen Religion, sie mit ihrem

Geiste durchdringend und von ihr mannigfach gewandelt, ohne dabei in der Regel die vorhandenen Dogmen sowie

die kultischen und sozialen Einrichtungen grundstürzend zu ändern. Die Mystik kann sich mit jeder geschichtlichen Re­ ligion verbinden. Tatsächlich finden wir in alle» Religionen

der Erde mystische Einflüsse, Richtungen und Bestrebungen 1 Es sei hier nochmals auf das schon früher erwähnte Büchlein hingewiesen: 8. Violet Hodgkin, Schweigender Dienst, 1931.

i»6

Tübingen

Mystik und geschichtliche Religion

vor, wenn auch in verschiedenem Grade. Die ägyptische Religion, die in hohem Maße der geschichtlichen Bergan,

genheit des Volkes zugewendet und daneben stark kosmolo,

gisch interessiert ist, ist für die Mystik ein wenig günstiger Mutterboden. Das Gleiche gilt von der Religion der

arischen Perser mit ihrem Dualismus zwischen Gut und

Böse und ihrer Betrachtung der Welt als eines Kampf­ platzes zwischen guten und bösen Mächten, auf dem der

Mensch Partei ergreifen muß. Sm arischen Indien da­ gegen ist die Religion durchaus mystisch gestimmt. Sn der

griechischen Frömmigkeit haben wir in Pythagoras

und Plato eine starke Hinneigung zur Mystik, während die Gedankenwelt des Aristoteles im Gegensatz zu ihr steht-. Sn den Mysterien und dem Neuplatonismus, der freilich nicht als rein griechisch gelten kann, tritt dagegen

die mystische Strömung wieder in den Vordergrund. Am meisten hat sich die Religion Israels von der Mystik frei

gehalten. Aber auch hier hat sie in der Sekte der Essener

nicht ganz gefehlt. Da die Mystik sich niemals als ganz selbständige Religion, sondern immer nur als mehr oder

weniger starke Richtung oder Strömung in der Frömmtg, keit eines Kulturkreises findet, so wird geurteilt werden

müssen, daß sie zu gewissen Zeiten eine allgemeinere Be,

wegung werden kann, aber immer nur auf dem Unter, gründe einer bestimmten, geschichtlichen Religion erwächst. Es ist sogar möglich, Zeit und Umstände anzugeben, 1 Innerhalb desselben Volkes (Griechen; Plato, Aristoteles) «ab derselben Raffe (Perser und Inder) staden stch also mystische wie anti, mystische Strömungen. Eine rein rassische Betrachtungsweise der Erscheinungen des religiösen Lebens erweist sich daher als «ntureichenb.

Mystik und geschichtliche Religio» unter denen ein starkes Anschwellen der mystischen Strö­ mung und Bewegung auf dem Boden der geschichtlichen

Religionen einzutreten pflegt. Jedesmal dann, wenn das unmittelbare Frömmigkeitsleben im Dogma zu erstarren droht oder die geltenden religiösen Symbole nicht mehr als zutreffender Ausdruck des frommen Erlebens empfun­ den werden, weil eine Veränderung der ethischen Wert­ schätzungen und des philosophischen Denkens stattgefunden

hat oder ein Wandel des Lebensgefühls und der Welt­ anschauung eingetreten ist oder sich anbahnt: dann ist alle­ mal die Zeit für das Aufkommen einer mystischen Fröm­ migkeit erfüllt, dann läßt sich das Entstehen oder Erstarken mystischer Empfindungen, mystischer Erfahrungen und mystischen Denkens beobachten. Der heraufziehenden My­ stik fällt dann die Aufgabe zu, das starre Dogma zu er­ weichen, zu psychologisieren und umzudeuten, damit die noch vorhandene oder neuerwachende Frömmigkeit nicht in den versteinten Formen einstigen religiösen Lebens umkomme und ersterbe. So lehrt die Mystik, zwischen un­ zulänglich gewordenen Formen der Religion und dieser selbst zu unterscheiden. Sie erhält die Religion lebendig,

und läßt deren von allen sonstigen Werten grundverschie­ dene Eigenart der suchenden Seele wieder lebensvoll, frisch und ursprünglich zum Bewußtsein kommen, auch wenn bisherige religiöse Symbole bedeutungslos werden und alte Dogmen ihre Kraft verlieren. Nach dem Zusammen­ bruch religiöser Lebensformen ist die Myystik die Zuflucht des religiösen Erlebens, bis es diesem gelingt, neue sinn­ bildliche Formen für das von ihm erlebte Göttliche zu fin­

den und zu schaffen.

Mystik und geschichtliche Religion

Solche Zeiten, in denen die überlieferten religiösen Symbole dem frommen Erleben unzulänglich erscheinen und

daher von ihm gesprengt zu werden drohen, werden in der Regel mit wichtigen Wendepunkten im Leben eines größeren Kulturkreises zusammenfallen. Für den abendländischen Kulturkreis jedenfalls finden wir an solchen Wendepunkten ein starkes Vorherrschen mystischer Stimmungen und mystisch gerichteter Frömmigkeit, so in der Zeit vor Christi

Geburt, in der Zeit vor der Reformation, für welche die deutsche Mystik eine wichtige Vorbereitung gewesen ist, in der Romantik und wieder in der Gegenwart. Wir leben — das ist kaum zu verkennen — in einer Pe­ riode, in der fich eine Umstimmung und Umschichtung un­ serer Kultur anbahnt. Die bisherigen religiösen Ausdrucks­ formen und Symbole find für nicht wenige Menschen, die aus innerster Nötigung ihrer sehnsuchtsvollen Seele fromm sein möchten, leer und nichtssagend geworden. Man sucht — ob mit Recht, mag dahingestellt bleiben — weithin nach

neuen, unserm veränderten Denken, dem neuen Weltbewußtiein und der heutigen Welterkenntnis entsprechenden Ausdrucksformen für das religiöse Erleben. Darum ist es nicht verwunderlich, wenn in der Gegenwart die Fröm­ migkeit in steigendem Maße eine mystische Färbung auf­ weist urd eine ständig anschwellende mystische Welle durch unser Geistesleben hindurchgeht'. Die Mystik mit ihrer 1 Es sä j. D. auf die religiösen Bilder des Expressionismus hingewiese», wmn dieser auch teilweise wieder überwunden ist. Sie sind als Versuche j» verstehen, das „ganj Andere" darzustellen, bas „Nichts" ist

im Vergliche ju allen sonstigen Erfahrungsinhalte». Daher die „Un-

wirklichkei" der Darstellung. Siehe im übrigen auch Seite 15 f. 30 ff. 9

Altmmn, Mystik

Mystik und geschichtliche Religion

Jnnenschau und ihrer bild- und symbollosen Erfassung des Göttlichen als des „ganz Anderen", kommt dem reli­ giösen Bedürfnis zahlreicher religiöser Menschen unserer Tage entgegen, die in den überlieferten ftommen Sym­

bolen und Ausdrucksformen keine zutreffende Darstellung

ihres eigenen Erlebens mehr finden können. Auf etwas muß noch hingewiesen werden. Die geschicht­ lichen Religionen stellen sich alle als scharf umrissene, in

der Hauptsache ziemlich konstant bleibende Typen des from­ men Erlebens dar. Jede von ihnen hat ihr eigenes Gesicht,

ihre deutlichen, sie von anderen unterscheidenden Züge. Die Mystik aber weist zu allen Zeiten und auf dem Mutter­ boden der verschiedensten geschichtlichen Religionen über­ raschend gleichartige Züge auf-. Es ist erstaunlich, wie ähn­ lich z. B. Äußerungen buddhistischer und christlicher Mystiker klingen können, und Plotin, der heidnische Neuplatoniker,

ist Stammvater und Heiliger der christlichen Mystik. Es erscheint dies zunächst befremdlich, weil doch die Mystik ganz individuelle, aus eigenem, persönlichem Erleben quellende Religion sein will und auch wirklich ist. Aber in ihrem Prin­ zip liegt nicht Individuelles. Wie ihr die Gottheit lediglich das abstrakte höchste Gut und das ganz Andere ist, das Unfaßbare, von dem nur in negativen Ausdrücken ge­ sprochen werden kann, so löscht sie in der von ihr erstrebten Seelenverfassung, mag sie diese nun als Schweigen, Ab­ geschiedenheit, Nirwana oder sonst wie bezeichnen oder in

der Ekstase gipfeln lassen, alle individuellen Unterschiede und Besonderheiten aus. In der mystischen Frömmigkeit 1 Doch vgl. S. 24 f.

Mystik und geschichtliche Religion

aller Zeiten überwiegt das Gleichartige, in den geschicht­ lichen Religionen der Völker die Mannigfaltigkeit des reli­ giösen Erlebens. Will man Mystik und geschichtliche Religion miteinander vergleichen, so muß geurteilt werden, daß in der geschicht­ lichen Religion die größere religiöse Klarheit und Tatkraft, sowie reichere Mannigfaltigkeit der Ausdrucksmittel und

der Formen des religiösen Lebens, in der Mystik aber die zartere und tiefere religiöse Stimmung und Empfindung zu finden ist. Man kann vielleicht von einem Unterschied von lyrischer und heldenhafter Frömmigkeit sprechen, nur

darf man daraus keinen kontradiktorischen Gegensatz machen. Nicht ist auf der einen Seite die Wahrheit und auf der anderen der Irrtum. Wahrheit und Echtheit des reli­ giösen Lebens ist vielmehr bei beiden Formen der Fröm­ migkeit vorhanden. Je mehr sich beide durchdringen und

ergänzen, desto mehr erschließen sie gemeinsam die ganze Tiefe, Größe und Herrlichkeit der Religion.

IZI

Mystik und evangelischer Glaube Eine vollständige Darlegung der Beziehungen zwischen Mystik und evangelischem Glauben würde eine eigene Monographie erfordern und über den Rahmen des vor­ liegenden Büchleins weit hinausgehen. Hier kann es sich nur um eine kurze Aufweisung der Gegensätze und der Be­ rührungen zwischen beiden Arten der Frömmigkeit handeln. Der evangelische Glaube lebt von der Aneignung der geschichtlichen Offenbarung Gottes in Jesu Christus, wie sie von den Reformatoren verstanden und aufgefaßt wor­ den ist. In ihm herrscht die klare, lichte Stimmung des freu­ digen Vertrauens zu der in Christus offenbaren Gnade und Liebe Gottes vor. Die dunkleren Empfindungen des Erschauerns vor der Majestät Gottes und des Erbebens vor seinem „Zorn" sind zwar nicht geschwunden, aber sie schwingen nur mit, bestimmen das Gotteserlebnis nicht grundlegend. Evangelischer Glaube ist eine Form der ge­ schichtlichen Offenbarungsreligion, Abstandsfrömmigkeit, überwiegend rationale Religion des Gottvertrauens'. Auf den ersten Blick könnte es darum so scheinen, als ob der evangelische Glaube sich gegen die so ganz anders ge­ artete Mystik nur ablehnend verhalten könne und sie von seinem Erlebnis des Heiligen aus als religiöse Entartung empfinden müsse. Tatsächlich ist auch in der evangelischen Theologie von hervorragenden Vertretern derselben die Mystik völlig abgelehnt wordene Nicht selten kann man 1 Man denke etwa an Paul Gerhardts Lied „Befiehl du deine Wege".

2 So z. B. von Albrecht Ritschl, dem zweiten „Kirchenvater" der neueren evangelischen Theologie, und einem seiner bedeutendsten Schü-

Mystik und evangelischer Glaube

hören, sie sei ein Gift für die evangelische Frömmigkeit.

Gegen dieses Urteil wird man gewisse Bedenken haben können, ja haben müssen, und zwar aus historischen wie sachlichen Gründen. Bei Luther liegt ein historischer Zusammenhang seines

frommen Erlebens mit der Mystik klar zu Tage. Verschie­ dentlich ist er von Ta ul er beeinflußt worden und ist für die von diesem großen Frommen empfangenen Anregungen stets dankbar geblieben. Und im Jahre 1516, also kurz vor

seinem öffentlichen Auftreten, hat Luther das Büchlein vom vollkommenen Leben unter dem Titel einer Deutschen Theologie neu herausgegeben. Neben der Heiligen Schrift,

vor allem den paulinischen Briefen, und Augustin ist der

unbekannte alte Gottesmann, von dem dies Büchlein stammt, für Luther und sein inneres Erleben bedeutsam gewesen. Als er das Büchlein 1518 zum zweiten Male ausgehen läßt, schreibt er in der Vorrede dazu: „Und daß ich nach meinem alten Narren rühme, ist mir nächst der Biblien und St. Augustinus nit vorgekommen ein Buch, daraus ich mehr gelernt hab und noch lernen will, was Gott, Christus, Mensch und alle Dinge seien." Es ist kaum anzunehmen, daß Luther zwei Neuauflagen dieser alten ler Wilhelm Herrmann. In der heutigen Theologie ist die Stellung

von Karl Barth und Emil Brunner zur Mystik völlig ablehnend. Es fällt sogar bei Brunner einmal das Wort: „Sie (die Mystik) ist die Tochter der Magie und teilt mit ihr die Ehrfurchtslostgkeit" (Die Mystik und das Wort, Tübingen 1924, S. 387). Im Gegensatz hierzu haben wir die Magie als apokryphen Seitentrieb der Mystik verstanden. Stehe S. 12. — Albert Schweitzer urteilt: „Alle tiefe Religion ist Mystik

«ad sucht das Christentum als ethische Mystik zu verstehen (Das Chri­

stentum und die Weltreligionen, München 1925, S. 55).

Mystik und evangelischer Glaube

mystischen Schrift veranstaltet und sich in der Vorrede über

sie so lobend ausgesprochen hätte, wenn er nicht eine starke Verwandtschaft seines eigenen religiösen Erlebens mit dem gespürt hätte, was ihm aus Tauler und diesem namenlos überlieferten Büchlein entgegentrat. Um so mehr hat man

ein Recht zu diesem Urteil, als Luther das Büchlein vom

vollkommenen Leben nicht nur in der ersten Zeit seines öffentlichen Auftretens und in der Vorbereitung darauf geschätzt, sondern es bis an sein Lebensende lieb und wert gehalten hat-. Vielleicht wird man noch auf etwas anderes Hinweisen

dürfen. Bekannt ist, wie heftig Luther die Mystiker seiner Zeit als Schwärmer bekämpft hat-. Je näher sich aber religiöse Anschauungen ihrem Wesen nach stehen, desto heftiger pflegen auch kleine Gegensätze zwischen ihnen zum Austrage zu kommen, wie immer Familienfeindschaften die erbittertsten zu sein pflegen. Sollte die starke Gegner­ schaft Luthers zu den „Schwärmern" nicht darauf zurückzuführen sein, daß bei beiden eine gemeinsame, stark my­ stische Strömung des religiösen Erlebens vorhanden ist, von der die Schwärmer zu einer Verwerfung jeder äußeren religiösen Autorität, jeder äußeren, geschichtlichen Offen­ barung weiter schreiten und sich nur auf das „innere Licht"

der Offenbarung Gottes in der Seele verlassen, während Luther die äußere Offenbarung der Schrift neben, ja über 1 Die ost aufgestellte Behauptung, der junge Luther sei mystisch be­ einflußt gewesen, der alte Luther dagegen habe stch von der Mystik völlig abgewendet, ist heute nicht mehr haltbar. Siehe Erich Vogel­

sang, Lutherjahrbuch 1937.

2 Siehe S. 57.

Mystik und evangelischer Glaube

das innere Licht setzt, so daß ihm vorgeworfen werden

konnte, er habe statt des abgesetzten, römischen Papstes einen neuen, papiernen Papst aufgerichtet? Die schwierige Frage nach dem Verhältnis Luthers zur

Mystik ist in neuster Zeit mehrfach verhandelt worden-. 3m

Lutherjahrbuch 1937 hat Erich Vogelsang darüber zuletzt ausführlich und zusammenfassend geschrieben. Er stellt den

Gegensatz Luthers zur „ekstatischen und negativen Theo­ logie" heraus, wie sie vor allem das Kennzeichen der areopagitischen Mystik ist, zeigt aber doch auf der anderen Seite, wie starke Verbindungen zwischen dem jungen wie Hem alten Luther und der Mystik bestehen, so daß er geradezu sagt: „das tiefste Geheimnis des Glaubens zu beschreiben, gebraucht Luther Bilder der Mystik, die doch vom Wort her und im Gewissen ihren ganz eigenen Sinn bekommen."» Luther ist durch die Mystik hindurchgegangen, so möchte ich sagen, aber nicht bei ihr stehen geblieben. Er hat Gedanken und Stimmungen der Mystik in sich ausgenommen, aber ist über sie hinausgedrungen. Neben diese historischen Beziehungen zwischen Mystik und evangelischem Glauben treten mehr innerlich geartete.

Von Anfang an hat der evangelische Glaube auf den Zu­ sammenhang mit dem Urchristentums und dem Neuen Testamente Wert gelegt. Über die Tradition der katholi­ schen Kirche hinweg will er wieder direkt an die Schrift und an Christus anknüpfen. Aber im Neuen Testamente haben 1 Ich nenne nur H. Bornkamm, Protestantismus und Mystik 1934. Bornkamm, Eckhardt und Luther 1936, Karl Holl, Gesam­ melte Aufsätze I. 1 Siehe a. a. O. S. 53.

Mystik und evangelischer Glaube

wir, was heute auf Grund der neueren Forschungen nicht mehr verkannt werden kann, bei Paulus und Johannes eine Frömmigkeit stark mystischer Färbung. Und gerade diese beiden neutestamentlichen Schriftsteller sind von jeher die eigentlichen Hauptapostel des evangelischen Glaubens gewesen. Man wird also zum mindesten sagen dürfen, daß ein mystischer Einschlag in der Frömmigkeit, eine mystische Färbung derselben mit dem evangelischen Glauben keines­ wegs unverträglich sein kann.

Und ist nicht unser frommes Empfinden, Denken und Erleben, soweit es das Kreuz Christi umrankt, durchsetzt vom Schauer vor dem Geheimnisvollen, von dem Gefühle,

daß wir es hier mit etwas Unaussprechbaren, Unbegreif­ lichen, schlechthin Wunderbaren zu tun haben, dem gegen­ über eine rein rationale Deutung versagt und versagen muß? Gerade das Kreuz Christi und seine Bedeutung für die Frömmigkeit, die Anbetung vor ihm und die Versen­ kung in das, was es für uns bedeutet und uns zu sagen hat, läßt im evangelischen Glauben immer wieder mystische

Stimmungen und Gefühle entstehen. Können wir uns den evangelischen Glauben ohne diese Kreuzesmystik überhaupt denken?1 Aber noch mehr. Das für den lutherischen Typ des evan­ gelischen Glaubens grundlegende fromme Erlebnis findet seine lehrhafte Ausprägung in der Rechtfertigungslehre. Diese weist in der Darstellung durch Luther deutlich mystische Züge auf. Es ist dies auch nicht gut anders möglich, da es 1 Mancherlei mystische Empfindungen und Gedanken sind in den Passionsliedern unserer Kirche ausgesprochen. Siehe Altmann, Aus der singenden Kirche, Breslau 1936.

Mystik und evangelischer Glaube

sich beim Rechtfertigungserlebms durchaus um eine ge­ heimnisvolle, verstandesmäßig nie ganz zu fassende Er­ fahrung handelt: um die Rechtfertigung des Sünders, um seine Annahme zum Gotteskinde. Ebenso ist von der Mystik her stark beeinflußt Luthers Anschauung über den Glauben und das Wirken des Heiligen Geistes-. Der evan­ gelische Glaube ist eben keineswegs lediglich rationale Reli­ gion, sondern von einem nur zu ost unterschätzten mysti­ schen Einschläge durchwoben. Hat die lutherische Form der evangelischen Frömmigkeit in der Rechtfertigungslehre ihre gedankliche Ausprägung erhalten, so der reformierte Typ in der Lehre von der Er­ wählung, der Prädestination. Auch sie ist, so weit sie reli­ giös und nicht lediglich Ergebnis philosophischen Grübelns ist, nur auf einem völlig irrationalen Erlebnishintergrunde verständlich. Und nur das Mitschwingen dieses irrationalen, wunderbaren, sich allem wirklichen Begreifen entziehenden Erlebnismomentes erhält die Prädestinationslehre trotz aller Bedenken und Anstöße, die sie rational bietet, am Leben und in Geltung. 1 Vergleiche hierzu besonders Rudolf Otto, Die Anschauung vom Heiligen Geiste bet Luther, Göttingen 1898, S. 25—46. Diese Auf­

fassung hat freilich auch Widerspruch gefunden, so vor allem bei Heinzelmann, Glaube und Mystik, Tübingen 1927. Heinzelmann kommt schließlich zu dem Urteil: „Wer irgendwie Geist und Mystik verwechselt, verkennt das Wesen des neutestamentlichen Geistgedankens, wie ihn gerade Paulus und das Johannesevangelium verkündigt haben"

(a. a. O. S. 116). Und „Glaube und Mystik sind zwei verschiedene Wege, das große Sinnproblem des Lebens zu lösen. Sie folgen ver­ schiedenen Richtungen. Eine Gleichsetzung oder Verbindung ist ausge­

schlossen" (a. a. O. S. 126).

Mystik und evangelischer Glaube

Ganz kurz sei ferner darauf hingewiesen, daß auch in an­ deren Begriffen des evangelischen Glaubens mystische Stimmungen, Empfindungen und Erlebnisse mitschwingen,

so z. B. bei den inneren Erfahrungen, die durch die Worte Entsühnung, Erlösung, Versöhnung umschrieben oder besser angedeutet werden sollen'. Es kommt uns dies nur dadurch selten zum Bewußtsein, daß die dogmatische Be­

trachtung es liebt — freilich kann fie es in ihrer Darstellung kaum anders machen —, diese religiösen, irrationalen Er­ lebnisse und Erfahrungen in scharf umrissenen Begriffen auszudrücken, fie zu rationalisteren und zu ethisteren. Man muß sich viel mehr, als es zumeist geschieht, gegenwärtig

halten, daß dogmatische Begriffe nur Kürzungen, Siegel, schematische Darstellungen religiöser Erfahrungen sind, die immer etwas Irrationales an sich haben, in dem gerade das eigentlich Religiöse liegt. Auf zwei Lehrstücke der evangelischen Dogmatik sei noch besonders hingewiesen, die deutlich den Zusammenhang und die Berührung der Mystik mit dem evangelischen Glau­ ben, sogar in seiner lehrhaften Ausprägung, zeigen: ein­ mal die Lehre vom testimonium Spiritus sancti internum (vom inneren Zeugnis des heiligen Geistes), derzufolge neben die objektive Offenbarung Gottes in Natur, Heils­ geschichte und Bibel seine innere Bezeugung durch den 1 Man betont heute gerade hier wieder gern das lehrhafte Moment. Aber je mehr dies geschieht und man in der korrekten Lehre von der

Versöhnung oder von der Erlösung das Heil sieht, desto mehr ruft man,

— jum mindesten für weite Laienkreise — die Mystik herbei. Denn Er­ lösung will nicht gelehrt, sondern erlebt, Versöhnung nicht lehrhaft

dargestellt, sondern erfahre» werden.

Mystik und evangelischer Glaube

Geist in der Seele des Frommen tritt und diesem die sub­ jektive Gewißheit seines Heils bringt. Hier sehen wir die

mystische Form der göttlichen Jnnenoffenbarung als Lehr­

stück der orthodoxen evangelischen Dogmatik. Daneben ist auf die Lehre vom Heilsstande (ordo salutis) zu verweisen, deren eines Stück geradezu als unio mystica, als mystische Vereinigung mit Gott bezeichnet ist. Die Entstehung dieses Lehrstückes ist vor allem auf die Einwirkung eines Mannes

zurückjuführen, der auch sonst Hinneigung zur Mystik ver­ rät, nämlich des Johann Arndt. So sind mancherlei Berührungen und Beziehungen zwischen Mystik und evangelischem Glauben vorhanden, und zwar schon seit der Reformation. Darum wird der evangelische Glaube die Mystik nicht als ein ihm gefähr­ liches Gift zu betrachten und zu scheuen haben. Vielmehr kann die in ihm von jeher vorhandene mystische Strömung

eine zu starke Auswirkung des im evangelischen Glauben sich immer regenden Strebens nach Rationalisierung ent­ gegenwirken und so seine Erstarrung verhindern helfen-. 1 Gegenüber der heute vielfach beliebten schroffe« Gegenüberstellung von Glaube und Mystik, die einseitig den Gegensatz herausarbeitet, sei angeführt, was Hetnzelmann sagt, so sehr es auch ihm um den Unterschied zwischen Glauben und Mystik zu tun ist: „Es braucht wohl

nicht betont zu werden, daß diese Gegenüberstellung sich nur auf die reinen Wesenheiten Glaube und Mystik erstreckt. Sie gilt von Glaube

und Mystik, nicht von dem Glaubenden und dem Mystiker. Sie gilt von

den Wegen Glaube und Mystik, nicht von den Wanderern auf diesen Wegen. Sie gilt von der Richtung der Wege, nicht von ihrem

Verlauf. Da können sie sogar streckenweise zusammenlaufen. Das Leben hat gerade daran seine Eigentümlichkeit, daß es immer „unrein"

ist. Wer steht denn immer im Glauben, wer wird der Linie der Mystik nicht untreu?" Heinzelmann, a. a. O. ©. 127.

Mystik und evangelischer Glaube Erwachsen dem evangelischen Glauben heute aus dem modernen Weltbilde, der modernen Weltanschauung und dem modernen Lebensgefühle mancherlei Hemmungen und Nöte, die mehrfach gestreift worden sind, so kann ihm die Mystik helfen, dieselben zu überwinden und aus der gegenwärtigen religiösen Krisis neu gestärkt hervorjugehen. Darum wünschen wir eine Verbindung des evan­ gelischen Glaubens mit der Mystik, damit unsere Fröm­ migkeit beides in sich vereinige: die Ehrfurcht vor dem unbegreiflichen, geheimnisvollen Gotte, und das freudige Zutrauen zu ihm, das selige Ruhen in Gott und das kraft­ volle Wirken für ihn, die Erfahrung Gottes über uns und das Jnnewerden seines Lebens in uns.

Mystik und evangelische Kirche In Zeiten, in denen man meinen konnte, die Kirche er­

fülle ihre Aufgabe an der Volksseele ausreichend, wenn sie

objektiv die reine, rechte Lehre verkündige und die Sakra­ mente spende, bestand für die evangelische Kirche keine be­

sondere Nötigung, auf die Mystik einzugehen, sich mit ihr

auseinanderzusetzen oder gar von ihr zu lernen. Heute liegen die Dinge jedoch anders. Wir haben erkannt, daß es mit einer objektiven Darbietung der Heilsmittel keines­ wegs getan ist, daß die evangelische Kirche vielmehr ihren Gliedern gerade zur subjektiven Aneignung der Religion

verhelfen und ihnen für die Pflege ihrer persönlichen Fröm­ migkeit förderlich und dienstlich sein muß. Manches ist in

dieser Beziehung früher versäumt worden, daher die Un­ kirchlichkeit vieler wahrhaft religiöser Menschen: sie haben in ihren Nöten, Zweifeln und inneren Schwierigkeiten bei der Kirche zu wenig Verständnis, Förderung und persön­ liche Führung zum seligen Haben Gottes gefunden. Was sie sich an religiösem Leben bewahrt oder nach schweren Kämpfen wieder errungen haben, ist darum kirchenfremd

und unkirchlich geworden. Gerade im Blick auf die suchenden und kirchenfremd gewordenen Menschen unserer Tage, die doch religiös empfinden und christlich fromm sein wollen, scheint mir die evangelische Kirche wertvolle Anregungen von der Mystik empfangen zu können. Wenn sie sich gegen diese nicht ab­ lehnend oder gar feindlich stellt, sondern von ihr zu lernen sucht, was sie von ihr lernen kann, wird die evangelische Kirche selber davon Gewinn haben und ihren seelsorger-

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Mystik und evangelische Kirche

lichen Dienst an allen Gliedern unseres Volkes besser ver­ sehen können. Die Anregungen, welche die Mystik der evan­

gelischen Kirche geben kann, gehen vor allem auf zweierlei: auf die Gestaltung der Gottesdienste und auf die Pflege der persönlichen Frömmigkeit, auf die Seelenpflege und

Seelenführung. Än beiden Fällen sei angedeutet, inwiefern der Einfluß und die Einwirkung der Mystik für die evan­ gelische Kirche und ihr Leben bedeutsam und segensreich werden kann. In Laienkreisen wird oft darüber geklagt, daß die evan­ gelischen Gottesdienste zu nüchtern seien, als daß sie Herz und Gemüt befriedigen könnten. Es fehle ihnen an weihe­

voller Stimmung, an Andacht, an wirklicher Erfahrung der Gegenwart Gottes. Nicht selten gibt man der Vorherr­ schaft der Predigt die Schuld an diesem Mangel. Sie sei

vielfach zu lehrhaft, wende sich zu sehr an den Verstand, habe zu viel Ähnlichkeit mit einem Vortrage. Sie biete zu viel religiöse Weltanschauung und sei zu wenig Zeugnis der Gotteserfahrung und fördere darum zu wenig in der Gottesgemeinschaft. Sie bringe zu wenig Erbauung, nicht im Sinne von weicher Gefühlsseligkeit, darin tue sie des

Guten im Gegenteil nicht selten zu viel, sondern im Sinne der seelischen Erhebung, der Stärkung in der Gemeinschaft mit Gott'. Gewiß braucht man derartige Äußerungen, wie man

sie von gebildeten wie schlichten Laien ost hören kann, 1 Als beachtenswertes Beispiel für diese Beurteilung sei ein Wort aus einem Briefe Detlef von Liliencrons an den Frh. von Gecken­

dorff angeführtdie kahlen, weißen Wände, die monotonen Gesänge und die meist mehr als schreckliche Predigt können mich nicht fesseln."

Mystik und evangelische Kirche

keineswegs für unbedingt richtig zu halten. Manche Über­

treibungen, manche einseitige und schiefe Betrachtung läßt sich bei diesen und ähnlichen Urteilen leicht nachweisen. Aber es steckt in ihnen doch auch mehr als ein Körnchen

Wahrheit. Es fehlt dem evangelischen Gottesdienste, nicht immer, aber doch häufig, das Moment tiefer Innerlichkeit,

die Weihe wirklicher Andacht, echten Gebetes und wahrer Hingabe an die Welt des Ewigen und Göttlichen. Mit­ unter mag der Eindruck nicht ganz unberechtigt sein, daß in unsern Gottesdiensten wohl viel von Gott und Christus geredet wird, daß Gott aber nicht wirklich gegenwärtig,

Christus mit seinem Geiste nicht wirklich nahe ist, so daß die Feiernden nicht vom Gefühl seiner Nähe gepackt und überwältigt werden, nicht erkennen und wissen: Gott ist gegenwärtig. Man hat verschiedentlich der evangelischen Kirche geraten, sie solle zur Beseitigung dieses Mangels vom katholischen Kultus, seiner reichen Formenpracht und seinem Stim­ mungsgehalt lernen. So gut gemeint dieser Rat auch viel­ leicht ist, helfen kann er nicht. Denn was am katholischen Kultus anzieht und auf die Menge wie auf die einzelnen Seelen wirkt, ist das Außere, seine Pracht, die Gewänder

seiner Priester, seine Musik, seine Kerzen und sein Weihrauch.

Wollten wir das für die evangelische Kirche übernehmen, so wäre eine weitere Veräußerlichung unserer Gottesdienste zu befürchten. Was wir brauchen und wonach wir uns sehnen, ist aber gerade eine Verinnerlichung unseres Kultus, unserer Anbetung. Diese gewinnen wir nicht durch die Nach­ ahmung der katholischen Messe oder eine mehr oder weniger starke Anlehnung an sie.

i43

Mystik und evangelische Kirche

Hier können wir mehr von der Mystik und ihrer verinnerlichten Frömmigkeit lernen. Es ist oben auf die große Be­

deutung des Gebetes für die Mystik auf allen ihren Stufen hingewiesen worden'. Alle wirkliche Frömmigkeit ist Ge­

betsfrömmigkeit. Dann muß das aber auch in der Feier der frommen Gemeinde mehr zum Ausdruck kommen als es zumeist geschieht. Das Gebet muß das Herz des Kultus, des Gottesdienstes sein, darf aber nicht zu einem Anhänge desselben herabstnken. Jeder Gottesdienst muß ein Aus­ druck des in der Gemeinde herrschenden und sie durchwal­ tenden Gebetsgeisies sein. Wie dies im einzelnen durch­ zuführen ist, kann hier nicht gezeigt werden. Nur muß leider gesagt werden, daß unsere evangelischen Gemeinden und ihre Glieder in hohem Maße das Beten verlernt haben,

überhaupt nicht mehr wissen, was eigentlich beten heißt.

Diesem Mangel zu begegnen, ist eine der Hauptaufgaben der Kirche, für die sie bei der Mystik Hilfe finden kann. In der Reformationszeit hatte das Stillgebet, eine Pause während des Gottesdienstes zu stiller Sammlung

und ganz individuellem Beten der Teilnehmer an der Feier, in verschiedenen Kirchenordnungen seinen Platz. In Württemberg und auch sonst noch gelegentlich hat es sich bis heute erhalten, aber seine alte Bedeutung stark einge­ büßt. Man versucht heute von verschiedenen Seiten her,

diese Sitte neu zu beleben und für die Verinnerlichung unserer Gottesdienste fruchtbar zu machen, wie mir scheint, mit gutem Rechte und auch nicht ohne Erfolg. Dieses mystische Moment des Stillgebets r kann den Besuchern unserer Gottesdienste zum stillen Ausruhen in Gott und 1 Siehe S. n8ff.

- Siehe S. 120 ff.

Mystik und evangelische Kirche

zur Erfahrung seiner beseligenden Nähe verhelfen. „Der Herr ist in seinem heiligen Tempel. Es sei vor ihm still alle Welt", ruft der Prophet'. Und aus Tersieegens Liede klingt es uns entgegen:

Gott ist gegenwärtig; Lasset uns anbeten Und in Ehrfurcht vor ihn treten. Gott ist in der Mitten; Alles in uns schweige Und sich innigst vor ihm beuge. Wo die Gemeinden sich an das Stillgebet gewöhnt haben und zu dieser betenden Meditation wieder erzogen worden sind, möchten sie diese Augenblicke heiliger Stille in ihren Gottesdiensten nicht mehr missen1.

Kann so die Mystik zur Verinnerlichung des evangelischen Gottesdienstes beitragen, so sei in diesem Zusammenhangs

noch auf etwas anderes hingewiesen. Wir haben die Mystik als die Religion des Irrational-Geheimnisvollen kennen gelernt;. Die Gottheit ist ihr das Überweltliche schlechthin,

das ganz Andere. Und wo es überhaupt Religion gibt, lebt wenigstens etwas von diesem Gefühl des „Numinosen", wie es Rudolf Otto« nennt, der schlechthinnigen Anders­ artigkeit Gottes allem gegenüber, was wir sonst kennen. ■ Habakuk 2, 20.

2 Dgl. Altmann und Blümel, Stille j» Gott. Cin Buch von der

schweigenden Andacht. Breslau 1921. 3 Siehe S. 58 ff.

« Rudolf Otto, Das Heilige, Breslau 1917. Die eingehende Be­ schäftigung mit diesem bedeutsamen Buche kann jedem gebildeten relt-

giösen Menschen nicht nachdrücklich genug empfohlen werden. Jetzt 23.-25. Auflage, München, 1936.

10

Altmann, Mystik

145

Mystik und evangelische Kirche Von diesem Gefühl vermittelt aber der evangelische Gottesdienst nur wenig. Ein Grund dafür ist, daß unsere Kirchen vielfach ju hell, ju sehr mit dem Lichte des Tages oder menschlicher Kunstfertigkeit erfüllt sind, als daß in ihnen die Empfindungen des. Geheimnisvollen, Unwelt-lichen. Unirdischen und überweltlichen aufkommen können. Unsere Kirchen find vielfach ju sehr nüchterne Versamm­ lungsräume, zu wenig „Haus Gottes", Stätten, an und in denen das ganz Andere webt und waltet. Wie verschieden ist die Stimmung, die uns in den feierlichen, alten Domen der Väter mit ihrer Dämmerung umfängt, von der, die uns in den neuen, lichten, hellen Kirchen erfüllt! Wir brau­ chen für die Raumgestaltung wahrhaft fromme, aus dem Glauben lebende Architekten. Nur von frommen Menschen können „Sakralbauten" geschaffen werden, die als „Haus Gottes" wirken und für die Gott suchende oder in ihm lebende Seele eine Stätte der Andacht und der Begegnung mit Gott sein können. Wenn uns die Mystik besonders stark auf diesen irratio­ nal-geheimnisvollen, überweltlichen Zug der Religion hin­ weist, gilt es, davon für den Bau unserer Kirchen und ihre innere Ausstattung zu lernen. Wir werden das grelle Licht des Tages durch bunte Scheiben dämpfen und nach einem Helldunkel, nach einer „Dämmerung" streben, weil dieses der Erregung des frommen Gefühls und seiner Pflege förderlich ist.

Herr, rede du allein Beim tiefsten Stillesein Zu mir im Dunkeln

Mystik und evangelische Kirche

fingt der fromme Gerhard Tersteegen. Und in einem ande­ ren Liede preist er den Segen des andächtigen Schweigens im dunklen Heiligtume mit den Worten: Ich bin im dunklen Heiligtum,

Ich bete an und bleibe stumm. O ehrfurchtsvolles Schweigen! Der beste Redner sagt mir"s nicht. Was man hier ohne Reden spricht Durch Liebe und durch Beugen. Hier ist die stille Ewigkeit, Ein immerwährend sellges Heut; Dies Nun kann alles geben. Die Zeit vergeht mir süß und sacht—; Ich möchte beten Tag und Nacht, Bei Gott im Geiste leben. Wissen wir nicht vielleicht alle, wie anziehend gerade die

Abendgottesdienste im Winter sein können, in denen die Dämmerung mehr als sonst unsere Kirchen erfüllt und zur Stille vor Gott, zum ehrfurchtsvollen Schweigen vor ihm mahnt? — So find es mancherlei Anregungen, welche die evange­ lische Kirche von der Mystik für ihr gottesdienstliches Leben erhalten kann. Ihnen treten andere zur Seite, die fich auf die persönliche Seelsorge und Seelenführung beziehen. Auch über fie sei einiges gesagt. Es ist eine Tatsache, die man beklagen kann, aber als vorhanden anerkennen muß, daß das Vertrauen zur kirch­ lichen Seelsorge in den gebildeten wie den einfacheren

Mystik und evangelische Kirche

Schichten des Volkes erschüttert ist, nicht nur in den Groß­

städten, sondern auch auf dem flachen Lande. Wie es dahin gekommen ist, ist schwer zu sagen, braucht auch hier nicht weiter erörtert ju werden. Daß dem so ist, liegt für den, der sehen will, leider nur zu klar zu Tage. An Stelle der Pa­ storen sind andere Persönlichkeiten für den modernen Men­ schen zu Seelsorgern geworden. In erster Linie die Ärzte,

wie es bei dem engen Zusammenhänge zwischen Seele und Leib verständlich ist. Sie sind die Vertrauten von Männern und Frauen, von Vätern und Müttern geworden. Ihr Rat, ihre Hilfe wird nicht nur bei eigentlichen gesundheitlichen

Störungen in Anspruch genommen, sondern auch in Er­

ziehungsfragen, ja in den intimsten Angelegenheiten des persönlichen, seelischen Lebens begehrt. Und neben den Ärzten stehen für die unteren Kreise des Volkes die Sekten­ prediger und Evangelisten der Gemeinschaften, die freilich auch in den höheren Schichten viel Anhang haben, mit einem oft weit unterschätzten Einflüsse. Die gebildeten Kreise dagegen suchen Hilfe und Beratung für Fragen ihres inneren Lebens bei Männern wie dem verstorbenen Hein­ rich Lhotzky, Johannes Müller oder in den Zirkeln der Theosophen und Anthroposophen. An die evangelische Kirche, ihre Seelsorger und das, was sie etwa geben könn­ ten, denken nur wenige. Ihre Hilfe wird selten und fast nur aus den noch streng kirchlichen Kreisen in Anspruch

genommen. Daß das Vertrauen in die Seelsorge und Seelenführung der evangelischen Kirche gering geworden ist, lähmt ihre Wirkung auf das Volksleben außerordentlich und läßt die trotz allem, was man gegen sie sagen mag, doch in ihr

Mystik und evangelische Kirche

steckende religiöse Kraft nicht recht zur Geltung kommen.

Hier Wandel ju schaffen, muß sich die evangelische Kirche besonders angelegen sein lassen. Sie muß ihren seelsorger-

lichen Beruf sich bei allen ihren Betätigungen klar vor Augen halten und mit aller Kraft darnach streben, ihn voll zu erfüllen. Sie muß wirkliches Verständnis für die Su­

chenden in allen Ständen ausibringen und im Eingehen auf ihre mannigfachen Bedürfnisse sie zu der Erfahrung des ihr in Christus geschenkten göttlichen Heils zu führen sich be­ mühen. Die evangelische Kirche wird manches in der Aus­ bildung ihrer künftigen Diener ändern, sie bewußter zu Seelsorgern erziehen und sie besser für ihren Dienst an den Seelen ausrüsten müssen. Aber das alles kann und braucht hier nicht erörtert zu werden. Hier handelt es sich nur darum, anzudeuten, inwiefern die Mystik der evangelischen Kirche und ihren Dienern helfen kann, der Aufgabe der

Seelsorge und der Seelenführung, nach der das Bedürfnis immer stärker wird, besser gerecht zu werden und sie erfolg­

reicher zu lösen. Unbestreitbar ist, daß eine der wichtigsten Vorbedingun­ gen und Hilfen für eine erfolgreiche Seelsorge die Kenntnis des menschlichen Seelenlebens, vor allem aber der Psycho­ logie des religiösen Lebens ist. In unübertrefflicher Weise führt nun aber die Mystik in die Psychologie des religiösen Erlebens ein, läßt seine feinsten Regungen ahnend verstehen und deckt seine innersten Triebkräfte auf. Es sei nochmals auf das Wort Wilhelm Herrmanns hingewiesen, das bei seiner im allgemeinen ablehnenden Stellung zur Mystik doppelt beachtlich ist: „In der Fähigkeit, persönliches Leben zum Gegenstand der Beobachtung und Darstellung zu ma-

Mystik und evangelische Kirche

chen, bezeichnet sie (die Mystik) einen Höhepunkt ... Den

Mystikern des 14. Jahrhunderts war die Seele wirklich ein

Wunder, das sie vor Augen sahen und dessen Reichtum anzuschauen sie nicht müde wurden"'. Es ist kaum ein Zu­ fall, daß die beiden bedeutendsten Prediger der letzten Zeit, aus deren Predigten eine besonders tiefe Kenntnis deS seelischen Lebens in allen seinen Regungen, auch -en ge­ heimsten, spricht, Christian Geyer und Friedrich Rittelmeyer, durch die Mystik hindurchgegangen sind und viel

von ihr gelernt habens. So sollte die evangelische Kirche

sich viel allgemeiner den großen Schatz religiöser Erfahrung und der Psychologie des religiösen Erlebens, der in der Mystik zu finde» ist, nutzbar machen. Ihre seelsorgerliche Arbeit an den Suchenden könnte dadurch mannigfach be­ fruchtet und wirksamer gestaltet werden. Aber auch für

ihren Dienst an denen, die „mit Ernst Christen sein wollen", um mit Luther zu reden, für ihre Hinführung zu tieferer Gemeinschaft mit Gott könnte die evangelische Kirche bei der Mystik Anregung, Rat und Hilfe finden. Die Mystik vermehrt nicht nur in ungeahnter Weise

unsere Kenntnis der Psychologie der religiösen Erfahrung, sondern bietet auch direkt Anleitung zu frommem Erleben, Ratschläge für die Hinführung der Seele zu Gott und der

Seligkeit in ihm. Auch dadurch kann sie der Kirche und ihrer Arbeit Hilfsdienste leisten. Nicht als ob Menschen ein frommes Erleben schaffen und mit ihren Anstrengungen und Mitteln zustande bringen könnten. Das wäre ver1 Wilhelm Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott S. »3. 3 Vergleiche besonders die von beiden gemeinsam herauSgegebeue«

Prebtgtbänbe Gott «nd die Seele und Leben aus Gott. ISO

Mystik und evangelische Kirche

messen und «nfromm. Der Geist wirkt, wann und wie er will. Wir verfügen nicht über Gott und sein inneres Be­

gegnen mit uns. Alles religiöse Erleben ist Geschenk, ist Gnade Gottes. Das weiß die Mystik sehr gut. Aber fie weiß

auch, daß der Mensch sich auf den Empfang dieser Gnade rüsten, sich auf sie vorbereiten, auf sie warten kann. Man kann die Seele auf Gott einstimmen und Hindernisse für das fromme Erleben aus dem Wege räumen, wie man sich

auch gegen die Gnade verhärten und verschließen kann. Die Mystik gibt nun auf Grund ihrer reichen Gotteserfahrung Anleitung ju dieser inneren Zurüstung, zur Vorbereitung der Seele auf die Gegenwart Gottes und seines Heils, trotzdem sie weiß, daß Gott sich nicht herbeijwingen läßt, sondern daß es Gnade bleibt, wenn er der Seele begegnet. Sollte die Kirche die sich hier bietenden Hilfen für ihre Seel­ sorge gerade auch an innerlich geförderten Christen nicht dankbar begrüßen, sie ihrerseits erproben und sich von ihnen anregen und helfen lassen? Gewiß sucht die evangelische Kirche heute nach neuen Methoden der Seelsorge und beschreitet vielfach mit Erfolg neue Wege, wie z. B. die Freizeiten zeigen, die überall für die verschiedensten Gruppen und Stände der Gemeinden

veranstaltet werden. Nicht wenigen haben sie viel inneren

Gewinn und Segen gebracht. Um so mehr sollte versucht werde», von der Mystik für die Seelsorge zu lernen, nicht im Lehrhaften und Verstandesmäßigen stecken zu bleiben, was so leicht geschieht, sondern zu wirklicher Pflege des inneren, persönlichen, seelischen Lebens vorzudringen. Me­ ditation, Betrachtung, Versenkung als Hilfsmittel hierfür sind in der Mystik mit unendlicher Feinheit entwickelt. Mag 151

Mystik unb evangelische Kirche

auch manches von dem, was sie hier bietet und übt, für uns nicht in Betracht kommen, es bleibt doch noch viel, was die evangelische Kirche sich für ihre seelsorgerliche Arbeit mit Erfolg aneignen und jum Segen ihrer Glieder anwenden

und verwerten kann. Einen Versuch, die Anregungen der Mystik in der evangelischen Kirche für die persönliche Seelen­ pflege zu verwerten und Suchenden Anleitung zur Weckung

und Stärkung des religiösen Lebens zu bieten, stellt ein Büchlein von Wunderlich dar-. Wenn es auch nicht restlos alle Wünsche erfüllt, die man hier haben kann, so ist es als ein Versuch, die Mystik für die Pflege der persönlichen Frömmigkeit in der evangelischen Kirche unserer Tage

fruchtbar zu machen, hoch zu bewerten und dankbar hinzu­ nehmen.

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Religiöses Leben, wie es einst große und tiefe Geister unseres Volkes erfüllt hat, ist an uns vorübergezogen. Fromme Seelen aus der deutschen Vergangenheit haben uns die Tiefe ihrer Gottinnigkeit, ihre Verbundenheit mit Christus, den Reichtum ihres inneren Lebens und die

Seligkeit ihres „christförmig Werdens an Lieb, an Leben und Gebärden" enthüllt. Möge, was sie erlebt haben, uns inneren Gewinn und Segen bringen und mithelfen zu der religiösen Neubelebung und Verinnerlichung der Zukunft. 1 Ludwig Wunderlich, Die Stille vor Gott. Führer r» mystischer Verinnerlichung auf biblischer Grundlage für ernste Gottsucher. Leip, ,ig 1923.

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Geschichte der Alten Kirche Soeben erschien: Bd. 3. Die Reichskirche. Oktav. VIII, 346 S. 1938. Geb. 4.80

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