Der neue Atheismus: Herausforderung für Theologie und Kirche 3534268784, 9783534268788

Ein 'neuer Atheismus', der offensive Kritik an jeglicher Form des Gottglaubens übt, hat seit einiger Zeit welt

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German Pages 256 [257] Year 2017

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Das Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus Oder: Inwiefern ist der neue Atheismus eine Herausforderung für ein undogmatisches Christentum?
Naturalistische Theologie Plädoyer für die Vereinbarkeit von liberalem Protestantismus und evolutionärem Humanismus
A-theisten im Ornat Kirchliche Verkündigung ohne persönlichen Gott?
Die materialistische Weltanschauung des neuen Atheismus Eine philosophische Auseinandersetzung (I)
Die materialistische Weltanschauung des neuen Atheismus Eine philosophische Auseinandersetzung (II)
Der fröhliche und der traurige Atheist Einige Erwägungen über Gott und die Welt in Auseinandersetzung mit Franz M. Wuketits und Herbert Schnädelbach
„Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel“ Neuer Atheismus und das Problem der Ethik
Das atheistische Gehirn Der Unglaube im Blickpunkt von Kognitions- und Evolutionsforschung
Hanns Eisler (1898–1962) Komponist – Sozialist – Atheist
Bewahrt das Geheimnis! Eine Predigt über 1Kor 4,1–5
Personenregister
Autorenverzeichnis
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Der neue Atheismus: Herausforderung für Theologie und Kirche
 3534268784, 9783534268788

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Werner Zager (Hrsg.)

Der neue Atheismus Herausforderung für Theologie und Kirche

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. Donau Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26878-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74235-6 eBook (epub): 978-3-534-74236-3

Inhalt

Vorwort

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Werner Zager Das Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus Oder: Inwiefern ist der neue Atheismus eine Herausforderung für ein undogmatisches Christentum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Martin Schmuck Naturalistische Theologie Plädoyer für die Vereinbarkeit von liberalem Protestantismus und evolutionärem Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Rössler A-theisten im Ornat Kirchliche Verkündigung ohne persönlichen Gott?

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80

Hans-Georg Wittig Die materialistische Weltanschauung des neuen Atheismus Eine philosophische Auseinandersetzung (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Michael Großmann Die materialistische Weltanschauung des neuen Atheismus Eine philosophische Auseinandersetzung (II) . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Wolfgang Pfüller Der fröhliche und der traurige Atheist Einige Erwägungen über Gott und die Welt in Auseinandersetzung mit Franz M. Wuketits und Herbert Schnädelbach . . . . . 154

6  |  Inhalt

Knut Berner „Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel“ Neuer Atheismus und das Problem der Ethik

. . . . . . . . . . . . . . . . 187

Michael Blume Das atheistische Gehirn Der Unglaube im Blickpunkt von Kognitions- und Evolutionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Pfüller Hanns Eisler (1898–1962) Komponist – Sozialist – Atheist Kerstin Söderblom Bewahrt das Geheimnis! Eine Predigt über 1Kor 4,1–5

Personenregister

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207

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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

Vorwort

D

er „neue Atheismus“ kann als Reaktion auf den Terroranschlag islamistischer Attentäter auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 verstanden werden. Er richtet sich aber nicht nur gegen die fundamentalistischen Ausprägungen der Religion, sondern auch gegen den Gottesglauben überhaupt. Der Begriff „neuer Atheismus“ begegnet erstmals in einem Artikel von Gary Wolf, der im November 2006 im „Wired-Magazine“ erschien. Darin ist von einer neuen „Kirche der Nichtgläubigen“ (church of non-believers) die Rede, womit deutlich wird, dass sich der neue Atheismus als „Quasi-Religion“ organisiert. Zu deren „Oberhäuptern“ zählen Richard Dawkins, Sam Harris, Daniel Dennett und Christopher Hitchens. In Deutschland wird der neue Atheismus vor allem von Michael Schmidt-Salomon öffentlichkeitswirksam propagiert, der als Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung in deren Auftrag das „Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur“ verfasste. Indem der neue Atheismus seine Religionskritik öffentlich sichtbar macht und es ihm gelingt, gerade auch jüngere Menschen mit akademischer Bildung anzusprechen, bedeutet diese Bewegung eine Heraus­ forderung für das heutige Christentum – in besonderem Maße für ein liberales und undogmatisches Christentum, das sich der Tradition der Aufklärung verpflichtet weiß. Diesem Buch liegen die Vorträge – einschließlich der Predigt – zugrunde, die im Rahmen der Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum vom 9. bis 11. Oktober 2015 im Evangelischen Studienwerk ­Villigst gehalten wurden. Die Tagung fand in Kooperation mit dem Evangelischen Studienwerk und der Evangelischen Erwachsenenbildung Worms-Wonnegau statt.

8  |  Vorwort

Der Bund für Freies Christentum versteht sich als ein Forum für ­offenen religiösen Dialog und ist ein Zusammenschluss überwiegend protestantischer Christen, die sich für eine persönlich verantwortete undogmatische, weltoffene Form des christlichen Glaubens einsetzen und dabei ein breites Spektrum von Auffassungen zu integrieren suchen (Geschäftsstelle des Bundes: Felix-Dahn-Straße 39, 70597 Stuttgart; Homepage: www.bund-freies-christentum.de). Die auf der Tagung gehaltenen Vorträge werden noch ergänzt durch Beiträge von Andreas Rössler und Martin Schmuck. Mein Dank gilt Dr. Thomas Brockmann für die Aufnahme des Bandes in das Programm der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und die gute Zusammenarbeit bei der Veröffentlichung. Ferner möchte ich mich für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen bedanken bei der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, dem Evangelischen Studienwerk Villigst und dem Bund für Freies Christentum. Schließlich danke ich meinem Sohn cand. theol. Raphael Zager sehr herzlich für die Erstellung der Druckvorlage und die Anfertigung des Personenregisters. Frankfurt am Main, im Oktober 2016

Werner Zager

Das Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus Oder: Inwiefern ist der neue Atheismus eine Heraus­ forderung für ein undogmatisches Christentum? Werner Zager

B

ereits über mehrere Jahrzehnte lässt sich bei uns in Deutschland ein zunehmender Säkularisierungsprozess beobachten. Weder hat die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR zu einer Stärkung der evangelischen Kirche beigetragen, die dabei doch eine maßgebliche Rolle gespielt hat, noch hat sich die angebliche „Wiederkehr der Religion“ in der kirchlichen Statistik positiv ausgewirkt. Vielmehr sprechen die ständig zurückgehenden Kirchenmitgliedschaftszahlen eine eindeutige Sprache. Wenn man auch gerne von Kirchenleitungsseite auf den sogenannten demographischen Wandel als den entscheidenden Faktor verweist, darf man sich aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jahr für Jahr eine erhebliche Anzahl von Menschen – wenn der Trend anhält, sogar mit ansteigender Tendenz – ihre Mitgliedschaft in einer der ­beiden großen Kirchen aufkündigt. Dabei fällt die Austrittsrate in der evangelischen Kirche noch etwas stärker aus als in der katholischen. Die Religion verliert von Generation zu Generation immer mehr an Bedeutung für den Einzelnen. Dies führt dann dazu, dass die Weitergabe des christlichen Glaubens kontinuierlich abnimmt.1

1 Vgl. Gert Pickel, Säkularisierung und Konfessionslosigkeit im vereinigten Deutschland, in: Reinhard Hempelmann / Hubertus Schönemann (Hg.), Glaubenskommunika-

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Wie empirische Untersuchungen ergeben, finden die Konfessions­ losen, die sich wohl selbst eher als religionslos bezeichnen würden, kein Interesse an eingehender Beschäftigung mit religiösen Fragen. Klären sie doch ihre Lebensprobleme innerweltlich. 2 Für sie dürfte stimmen, was Heinz Zahrnt schon vor über einem Vierteljahrhundert geschrieben hat: „In den meisten Fällen handelt es sich heute nicht um eine bewusst ­getroffene Entscheidung gegen Gott, sondern um die unbewusste Teilnahme an einer allgemeinen Zeitstimmung. Es ist kein theoretisch reflektierter und leidenschaftlich kämpferischer Atheismus mehr, sondern eher eine allgemeine säkulare Gleichgültigkeit, eine praktisch gelebte Gottlosigkeit.“3

Trifft dies auch nach wie vor weithin zu, so markiert das Auftreten des „neuen Atheismus“ doch eine Zäsur. Befürchtete Zahrnt 1989 noch, der Glaube der Christen an Gott erscheine den Zeitgenossen als so belanglos, „dass sie sich nicht einmal mehr an ihm stoßen“,4 üben die neuen Atheisten nicht nur im amerikanisch-englischen Bereich, sondern auch bei uns in Deutschland scharfe Kritik an jeglichem Gottesglauben – sei es in öffentlichkeitswirksamen Aktionen, Verlautbarungen oder Schriften. Wenn man dem neuen Atheismus aus theologi­scher und kirchlicher Sicht etwas Positives abgewinnen will, ist es dies, dass über den Glauben an Gott in unserer Gesellschaft wieder diskutiert wird. Andererseits stellt uns der neue Atheismus vor die Herausforderung, den christ-



tion mit Konfessionslosen. Kirche im Gespräch mit Religionsdistanzierten und Indifferenten (EZW-Texte Nr. 226), Berlin 2013, S. (11–36) 21–24; Andreas Fincke, Konfessionslos in Deutschland. Ein Erbe der Wiedervereinigung als Auftrag, in: EvOr 3/2015, S. 16 f.; Michael N. Ebertz, Der große Auszug. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik traten so viele Menschen aus der Kirche aus wie im vergangenen Jahr. Anmerkungen zu einer dramatischen Entwicklung, in: Publik-Forum Nr. 18/2015, S. 26–28. – S. auch die Prognose von Thomas Grossbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013, S. 184: „Verlängert man den Trend der vergangenen Jahre, dann wird um 2025 die Mehrheit der Bevölkerung keiner der christlichen Konfessionen mehr angehören.“ 2 Vgl. G. Pickel, Säkularisierung und Konfessionslosigkeit im vereinigten Deutschland, S. 35 f. 3 Heinz Zahrnt, Gotteswende. Christsein zwischen Atheismus und Neuer Religiosität, München / Zürich 1989, S. 33. 4 Ebd.

Das Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus  |  11

lichen Gottesglauben argumentativ gegen­über seinen Kritikern zu verantworten. Im Folgenden möchte ich zuerst das Religions- und danach das Theologieverständnis herausarbeiten, wie es in den einschlägigen Pu­ blikationen der neuen Atheisten anzutreffen ist. Dabei werde ich jeweils aus einer liberal-theologischen Sicht Stellung beziehen. In einem abschließenden Resümee sollen Konsequenzen aufgezeigt werden, die sich daraus für ein undogmatisches Christentum ergeben, wenn es sich auf die Herausforderung des neuen Atheismus einlässt.

1. Das Religionsverständnis des neuen Atheismus Wohl nicht zuletzt deshalb, dass die fernöstlichen Religionen nur zum Teil eine theistische Prägung aufweisen, gilt die Religionskritik des neuen Atheismus ausschließlich den drei monotheistischen Religionen: Judentum, Christentum und Islam. Im besonderen Fokus steht das Christentum, weil es sich dabei um die mehrheitlich vertretene Religion in den Staaten handelt, aus denen die neuen Atheisten kommen. Es folgt die kritische Auseinandersetzung mit dem Islam, der wegen des islamistisch motivierten Terrors als Bedrohung einer freiheitlichen und ­demokratischen Kultur beurteilt wird. Das Judentum kommt dagegen meist nur wegen der gemeinsamen Religionsurkunde des Alten Testaments zusammen mit dem Christentum in den Blick – es sei denn, dass sich die Kritik auf die religiös-fundamentalistischen jüdischen Kreise in Israel richtet. 1.1 Die monotheistischen Religionen

Richard Dawkins stellt in seinem Buch „Der Gotteswahn“ – der ­ursprüngliche englische Titel lautet: „The God Delusion“ – dem mit „Monotheismus“ überschriebenen Kapitel folgendes Zitat des amerikanischen Schriftstellers Gore Vidal voraus: „Das große unsagbare Übel im Mittelpunkt unserer Kultur ist der Monotheismus. Aus einem barbarischen bronzezeitlichen Text, der ­ unter dem Namen Altes Testament bekannt ist, haben sich drei men-

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schenfeindliche Religionen entwickelt: das Judentum, das Christentum und der Islam. Es sind Himmelsgott-Religionen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes patriarchalisch – Gott ist der allmächtige Vater –, und deshalb werden Frauen in den Ländern, die von dem Himmelsgott und seinen irdischen männlichen Vertretern heimgesucht waren, 2000 Jahre lang verachtet.“5

Was sogleich auffällt, sind der polemische Ton und die Neigung zu Pauschalurteilen, was dem wissenschaftlichen Ethos des sachlichen Differenzierens und der ruhigen Abwägung von Argumenten zuwiderläuft. Die drei monotheistischen Weltreligionen als „menschenfeindlich“ zu stigmatisieren, lässt sich nur erklären aus ungenügender Kenntnis von Geschichte, Entwicklung sowie ethischem Gehalt dieser Religionen und dem Unvermögen, sich mithilfe historisch-kritischer Methodik ein angemessenes Verständnis eines antiken Textes zu erschließen, für das der zeitgeschichtliche Kontext konstitutiv ist. Weiterhin ist es unverzichtbar, die sich über Jahrhunderte erstreckende Auslegungsgeschichte von Bibel und Koran zu berücksichtigen, in der die heiligen Texte immer wieder in einem neuen Licht gesehen und interpretiert worden sind. Dies reicht dann von Akzentverschiebungen über Entdeckung neuer Sinndimensionen bis hin zu theologischer Sachkritik. Die Behauptung, das Judentum, das Christentum und der Islam hätten sich aus dem Alten Testament entwickelt, gibt die Ahnungslosigkeit des Autors zu erkennen, die dieser hinsichtlich der Entstehungs­ prozesse dieser drei Religionen hat. Bestenfalls Stammtischniveau kann man der Äußerung zubilligen, das patriarchalische Gottesbild in Judentum, Christentum und Islam hätte eine 2000 Jahre lang währende Verachtung der Frauen zur Folge gehabt. Mag es noch angehen zu sagen, dass in den Anfängen die monotheistischen Religionen eine patriarchale Gesellschaftsordnung voraussetzen, das Frauenbild war jedenfalls vonseiten der Religionen keineswegs in Stein gemeißelt, sondern wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte. Um nur einmal die Frühzeit der christlichen Religion herauszugreifen, konnten einerseits in Kol 3,18 die 5 Zit. nach: Richard Dawkins, Der Gotteswahn. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel, Berlin 62007, S. 53 f.; Text im Original kursiv. – Zur Kritik von Dawkins’ atheistischen Thesen vgl. insbesondere Hubertus Mynarek, Die Neuen Atheisten. Ihre Thesen auf dem Prüfstand, Essen 2010, S. 17–217.

Das Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus  |  13

Frauen dazu aufgerufen werden, sich ihren Ehemännern unterzuordnen, während andererseits Paulus in Gal 3,28 proklamierte, dass in Christus Frau- oder Mannsein keinerlei Rolle spiele. In seinem im Auftrag der Giordano-Bruno-Stiftung verfassten „Manifest des evolutionären Humanismus“ interpretiert Michael SchmidtSalomon religionsgeschichtlich zutreffend die drei monotheistischen Weltreligionen als Offenbarungsreligionen.6 Problematisch ist dagegen deren weitere Charakterisierung als „ein dogmatisch-verbindliches und institutionell abgesichertes Aussagensystem, das auf universellen Wahrheitsansprüchen vermeintlicher ‚Gottheiten‘ oder ‚Propheten‘ beruht, d. h. auf ‚heiligen Sätzen‘, die bedingungslos geglaubt werden müssen, sich also systematisch dem Zugriff der kritischen Vernunft entziehen“7. Mag die Wendung von vermeintlichen Gottheiten und Propheten noch seiner atheistischen Position geschuldet sein, dagegen wird sein Versuch, das Wesen der betreffenden Religionen als dogmatisches, unhinterfragbares Lehrsystem zu deuten, ohne zwischen den Religionen selbst zu unterscheiden und vor allem ohne deren vielfältigen Ausprägungen zu berücksichtigen, dem geschichtlichen Tatbe­stand in keiner Weise gerecht. Es bleibt unberücksichtigt, dass Christentum und Judentum durch die Aufklärung hindurchgegangen sind, weshalb zumindest für liberale Christen und Juden in Glaubensfragen ein sacrificium intellectus, ein Opfer ihres Verstandes, nicht in Betracht kommt. Dass ein Philosoph, der über eine historische Bildung verfügen sollte, dies außer Acht lässt, verwundert einen schon. So frage ich mich, ob dies im Dienste der eigenen atheistischen Ideologie geschieht, um den Gegner besser bekämpfen zu können. Intellektuell redlich ist solches Verfahren sicher nicht. Voraussetzung für eine Religionskritik à la Schmidt-Salomon und Dawkins ist, dass man die fundamentalistische Variante einer Religion als die eigentliche Religion ausgibt. Nur so ist es möglich, religiöses Denken und wissenschaftliches Denken als konträr und einander ausschließend gegenüberzustellen. So heißt es bei Schmidt-Salomon:

6 Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 22006, S. 47. 7 A.a.O., S. 47 f.

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„Während in der Wissenschaft […] das Primat des besseren Arguments gilt, gilt in der Religion das Primat der Macht, welche im Falle der ­theistischen Religionen angeblich vom mächtigsten aller Herrscher, von ‚Gott‘, an seine irdischen ‚Stellvertreter‘ verliehen wurde.“8

Ist zwar die in diesem Satz enthaltene – gewiss einseitige – Kritik des früheren Katholiken am päpstlichen Primat verständlich, un­wis­sen­ schaft­lich ist es dagegen, ohne einen historischen Beleg zu behaupten, die Repräsentanten der übrigen monotheistischen Religionen und Konfessionen würden vergleichbare Wahrheitsan­sprüche vertreten. Schmidt-Salomon rechtfertigt seinen Ansatz damit, dass er unter Berufung auf Max Weber von Idealtypen ausgehe, die in der empirischen Wirklichkeit zwar nicht vorfindbar seien, aber „durch die Zuspitzung, die Konzentration auf das Wesentliche, ein besseres Verständnis kultureller Phänomene“ ermöglichten.9 Ein Indiz dafür, dass es sich hier um eine höchst problematische Konstruktion handelt, ist bereits die folgende in sich nicht stimmige Verwendung des Begriffs: Zum einen geht Schmidt-Salomon von drei Idealtypen aus: der ­„authentischen Religion“, die er mit dem Fundamentalismus gleichsetzt, als erstem Idealtyp, der „aufklärerisch gezähmten WeichfilterReli­gion“ oder „Religion light“ als zweitem Idealtyp, auf die er als dritten Idealtyp das „konsequent aufklärerische Denken“ bezieht.10 Zum anderen gilt ihm die fundamentalistische Religion als Rein- oder Idealtypus der christ­lichen Religion, von der er die „aufklärerisch gezähmte ‚Light-Variante‘“ abhebt.11 Mit dem Dogma, dass die fundamen­ talistische Variante einer monotheistischen Religion deren authenti­ sche Gestalt sei, macht man sich jedoch die Kritik am Theismus ent­ schieden zu leicht.

8 A.a.O., S. 54. 9 Siehe Michael Schmidt-Salomon, Wer den Schuss nicht gehört hat, sollte nicht von Fehlstart sprechen … Replik auf Joachim Kahls Kritik am Manifest des evolutionären Humanismus, in: Helmut Fink (Hg.), Was heißt Humanismus heute? Ein Streitgespräch zwischen Joachim Kahl und Michael Schmidt-Salomon, Aschaffenburg 2007, S. (51–69) 64. 10 S. ebd. 11 Siehe M. Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus (s. Anm. 6), S. 162.

Das Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus  |  15

1.2 Religion – ein Produkt der Evolution?

Entsprechend ihrem naturalistischen Ansatz unternehmen die neuen Atheisten den Versuch, Religion als ein Produkt der Evolution zu erklären. Schmidt-Salomon etwa bietet folgende Lösung für die Ent­ stehung von Religion an: „Evolutionsbiologisch lässt sich ‚Gott‘ als ein ‚ima­ginäres Alphatierchen‘ beschreiben, eine typische Primatenhirn-Konstruktion, die sich u. a. deshalb etablieren konnte, weil sie einigen Mitgliedern unserer Spezies deutliche Vorteile im Kampf um die Ressourcen verschaffte.“12

Indem man den Eindruck erweckte, mit einer höheren jenseitigen Macht in Verbindung zu stehen, hätte man „seine Stellung in der mensch­lichen Säugetierhierarchie aufbessern“ können.13 Dabei sei der Mensch „Opfer seiner überbrodelnden Phantasie“ geworden. SchmidtSalomon zufolge habe die Gotteshypothese Selektionsvorteile gebracht. Zu Beginn der kulturellen Evolution seien Religionen hilfreich gewesen, „um undurchschaubare Phänomene zu ‚verstehen‘ und den Gruppenzusammenhalt zu stärken“.14 Ob der Mensch bei der Ausbildung von Religion „Opfer seiner überbrodelnden Phantasie“ geworden ist oder aber Schmidt-Salomon selbst mit seiner naturalistischen Erklärung, das ist eine durchaus offene Frage. Bei Dawkins finden sich noch andere evolutionspsychologische Erklärungen15, die nicht weniger phantasiereich oder überzeugend sind wie die von seinem deutschen Mitstreiter. Mit Recht urteilt Ulrich Körtner: „Dawkin’s Mutmaßungen über die entwicklungsgeschicht­liche Entstehung der Religion sind ein Sammelsurium an Hypothesen, bei denen von vornherein feststeht, dass es sich bei jeder denkbaren Form von Religion prinzipiell nur um ein pathologisches Phänomen handeln kann. Entsprechend bedient sich Dawkins der Sprache der Virologie, wobei sich seine Erklärungsversuche auf seine umstrittene Theorie der Meme 12 A.a.O., S. 61 f. 13 S. a.a.O., S. 62. 14 S. ebd. 15 Vgl. R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 250–267.

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stützen, die in Analogie zu seiner nicht minder fragwürdigen Theorie des egoistischen Gens die kleinsten Bausteine der kulturellen Evolution sein sollen.“16

Im Sinne von Dawkins ist ein Mem nämlich ein Bewusstseinsgehalt, der von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. 1.3 Das Problem des religiösen Fundamentalismus

Das Entstehen des neuen Atheismus ist eine Reaktion auf das Erstarken des religiösen Fundamentalismus im öffentlichen Raum, wobei dem islamistisch motivierten Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 eine entscheidende Bedeutung zukommt. Daher richtet sich die Kritik der neuen Atheisten gegen jeglichen religiösen Fundamentalismus, der sich in Politik und Gesellschaft breitmacht. Und so erkennt mit gutem Grund Schmidt-Salomon „eines der bedrückendsten Probleme der Gegenwart“ darin, „dass sich religiöse Fundamentalisten jeder Couleur in aller Selbstverständlichkeit der Früchte der Aufklärung (Meinungsfreiheit, Rechts­staatlichkeit, Wissenschaft, Technologie) bedienen, um auf diese Weise zu verhindern, dass die Prinzipien der Aufklärung auf den Gel­tungs­bereich ihrer eigenen Weltanschauung angewandt wer­den.“17 Vom Standpunkt eines undogmatischen Christentums wird man solcher Kritik zustimmen können. Und auch darin wird man Schmidt-Salomon beipflichten, dass es eine Schicksalsfrage der Menschheit darstellt, ob es künftig gelingen wird, den Einfluss des religiösen Fundamentalismus einzudämmen.18 M.E. wird dies jedoch nur dann möglich sein, wenn der Nährboden, auf dem religiöser Fundamentalismus entstehen kann, ausgetrocknet wird. Und das ist wiederum abhängig von Politik, Wirtschaft und Bildung. Es erscheint mir aber durchaus fraglich zu sein, ob sich Schmidt-­ Salomon und seine Gesinnungsgenossen dieser Herausforderung wirklich stellen wollen. Denn dann müsste man doch darauf bedacht sein,

16 Ulrich H. J. Körtner, Neuer Atheismus, in: GlLern 28 (2013), S. (107–121) 116 f. 17 M. Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus (s. Anm. 6), S. 7. 18 Vgl. Michael Schmidt-Salomon, Keine Macht den Doofen! Eine Streitschrift, München / Zürich 2012, S. 44.

Das Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus  |  17

mit den liberalen Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Religionen zusammenzuarbeiten und gemeinsam für die humanen Werte der Aufklärung einzutreten. Nicht zielführend ist es dann, das europäische Christentum als eine „harmlose Pseudoreligion mit folkloristischem Charakter“ zu titulieren oder vom „seichten ‚religiösen Musikantenstadl‘ in Europa“ zu sprechen.19 Und so überrascht es nicht, wenn Schmidt-Salomon die Welt „inmitten eines sehr realen, globalen Kulturkampfes“ stehen sieht. Indem er der sogenannten „Religion light“, d. h. den liberalen Religionsrichtungen, ihre „Vermittlungsfunktion zwischen Aufklärung und Fundamentalismus“ abspricht, scheint nur eine gewaltsame Lösung dieses Kulturkampfes in Betracht zu kommen. Eine fatale Lösung! Wie viel aufgeklärter und humaner ist doch Hans Küngs Eintreten für eine „Koalition der Glaubenden und der Nichtglaubenden“20. Die drei Basissätze seines Projekts „Weltethos“ sind nach wie vor gültig: „kein menschliches Zusammenleben ohne ein Weltethos der Nationen; kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen; kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog unter den Religionen.“21 Und hier sind es doch gerade die liberal Denkenden und Glaubenden, die solche Dialoge befördern können. Schmidt-Salomons Behauptung halte ich für sehr gewagt: „Die Menschen neigen offenkundig immer mehr dazu, entweder auf konsequentere Weise zu glauben oder aber sich aufgrund rationaler Argumente konsequenter gegen den Glauben zu entscheiden.“22

Erstens ist die verwendete Terminologie nicht geklärt. Zweitens ist es problematisch, den Glaubensbegriff auf alle Religionen anzuwenden. 19 S. a.a.O., S. 43 f. 20 Hans Küng, Projekt Weltethos, München / Zürich 1990, S. 58–62. Dabei weist Küng auf den ersten Artikel der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 hin: „Alle Menschen werden frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen sich zueinander im Geiste der Brüderlichkeit verhalten.“ (a.a.O., S. 60) – Vgl. dazu zustimmend aus einer atheistischen Perspektive ­Joachim Kahl, Dialogische Aufklärung statt plattes Abbügeln. Erwiderung auf Michael Schmidt-Salomons Kritik an meinem Buch Weltlicher Humanismus, in: Helmut Fink (Hg.), Was heißt Humanismus heute? Ein Streitgespräch zwischen Joachim Kahl und ­M ichael Schmidt-Salomon, Aschaffenburg 2007, S. (41–50) 48. 21 A.a.O., S. 171. 22 M. Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus (s. Anm. 6), S. 164.

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Drittens fehlt jeder Nachweis. Aus seiner Behauptung zieht SchmidtSalomon dann den Schluss, man solle aufhören, „allzu große Hoffnungen auf das europäische Projekt einer ‚aufgeklärten Religion‘ zu ­setzen“23. Da, realistisch betrachtet, nicht zu erwarten ist, dass die Menschen weltweit innerhalb der nächsten Jahre und Jahrzehnte sich von ihrer ­jeweiligen Religion verabschieden und sich einem evolutionären Humanismus verschreiben werden, führt kein Weg an dem Projekt einer aufgeklärten Religion vorbei – nicht nur in Europa, sondern auch in den übrigen Erdteilen, wenn wir als Ziel eine friedliche, gerechte und humane Kultur anstreben. 1.4 Der Glaube des evolutionären Humanismus

Es ist nun interessant, dass Schmidt-Salomon in seinem im Jahr 2014 erschienenen Buch „Hoffnung Mensch. Eine bessere Welt ist möglich“ eine deutlich positivere Haltung ge­genüber einem aufgeklärten Glaubens- und Religionsverständnis einnimmt. Hatte er bisher Säkularisierung „vornehmlich als Verfallsprozess der Religion beschrieben“, da sie „mit der Zurückdrängung religiöser Wahrheits- und Machtansprüche verbunden“ sei, kann er jetzt durchaus „anerkennen, wenn Gläubige sie im Sinne eines ‚religiösen Fortschritts‘ interpretieren“. 24 So nimmt er folgende Differenzierung im Glaubensbegriff vor, die in direktem Zusammenhang mit dem Buchtitel steht: „erstens der rationale Glaube im Sinne von ‚Vermutung‘“, „zweitens der irrationale Glaube im Sinne eines ‚unbedingten Für-wahr-Haltens‘“ sowie drittens Glaube „im Sinne eines ‚hoffnungsvollen Vertrauens auf irgendetwas oder irgendjemanden‘“25. Bei dem dritten Glaubenstypus nimmt der Autor noch eine weitere Unterscheidung vor; und zwar stellt er einer rationalen eine irrationale Variante gegenüber, abhängig davon, „worauf sich die jeweilige Hoffnung richtet“.26

23 Ebd. 24 Siehe Michael Schmidt-Salomon, Hoffnung Mensch. Eine bessere Welt ist möglich, München / Zürich 2014, S. 317. 25 S. a.a.O., S. 92 f. 26 S. a.a.O., S. 93.

Das Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus  |  19

Der irrationalen Variante des dritten Glaubenstypus rechnet er die Religionen und die „Huma­nismen der Vergangenheit“ zu. Zwar komme diesen das Verdienst zu, „dass sie sich mit dem Ist-Zustand der Welt nicht zufriedengaben, sondern eine Perspektive anboten, die grund­ legende Besserung versprach“27. Ihr Problem sei aber gewesen, „dass sie ihre Hoffnungen auf Illusionen gründeten, die sie im Sinne eines irrationalen Glaubens […] dogmatisierten“. 28 Während sämtliche Religionen – mit Ausnahme des „ursprünglichen Buddhismus“ – sowie der klassische als auch der sozialistische Humanismus diesem Verdikt verfallen, wird allein dem evolutionären Humanismus das Prädikat „rational“ zugesprochen.29 Wie ist dies zu beurteilen? Während das Phänomen des Glaubens innerhalb des neuen Atheismus sonst durchweg als obsolet beurteilt wird, überrascht es schon, wenn hier erklärt wird, dass „keine Weltanschauung, die nicht voreilig vor der Irrationalität der Welt kapituliert“, „auf einen solchen Glauben an etwas verzichten“ könne – und deshalb auch nicht der evolutionäre Humanismus.30 Doch worin besteht der Glaube des evolutionären Humanismus? Es ist der „Glaube an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen“31. Das heißt: „Evolutionäre Humanisten vertrauen darauf, dass die Menschheit lebensfreundlichere, gerechtere Verhältnisse her­stellen kann, als wir sie heute vorfinden.“32 Schmidt-­ Salomon zufolge könne der evolutionäre Humanismus ohne einen Rückgriff auf das „Prinzip Hoffnung“ nicht aus­kom­men, womit er auf die marxistische Philosophie von Ernst Bloch anspielt, die von Jürgen Moltmann in seiner „Theologie der Hoffnung“ rezipiert wurde. Jedoch – und darauf legt der Sprecher der Giordano-Bruno-Stiftung größten Wert – gründeten die Hoffnungen des evolutionären Humanismus „nicht auf kulturellen Fiktionen, sondern auf empirischen Belegen“.33 Wie ist es nun um die empirischen Belege bestellt? Für den Glauben an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen beruft sich Schmidt-­ 27 Ebd. 28 S. ebd. 29 Vgl. ebd. 30 S. ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 S. a.a.O., S. 93 f.

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Salomon darauf, dass das altruistische Verhalten, also „Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Einfühlungsvermögen als Bestandteile unseres evolutionären Erbes bereits in unseren Genen liegen“34. Unabhängig davon, ob dies zutrifft oder nicht, zeigt jedoch die geschichtliche Erfahrung, dass die genetische Verankerung des Altruismus offenbar noch keine gewaltsam ausgetragenen Konflikte und kriegerischen Auseinander­ setzungen auf dieser Erde wirksam verhindert hat. Auf die Gene das Prinzip Hoffnung zu gründen, scheint mir wenig plausibel zu sein. Realistischer und zugleich überzeugender dürfte hier die Sicht ­A lbert Schweitzers sein, der sein Erkennen als pessimistisch, sein Wollen und Hoffen dagegen als optimistisch beurteilte35. Angesichts des gewaltigen Krisenszenarios unserer Zeit mit weltweitem Klimawandel, religiös aufgeladenem Terrorismus, immer neuen Kriegen und Flüchtlingsnot in bisher unbekanntem Ausmaß haben die folgenden Sätze Schweitzers aus dem zweiten Band seiner Kulturphilosophie nichts an Aktualität eingebüßt, sondern gelten in verschärftem Sinne: „Die Tatsachen rufen uns zur Besinnung, wie die Bewegungen des kenternden Fahrzeuges die Mannschaft auf Deck und in die Segel jagen. Schon ist uns der Glaube an den geistigen Fortschritt der Menschen und der Menschheit etwas fast Unmögliches geworden. Mit dem Mute der Verzweiflung müssen wir uns zu ihm zwingen. Alle miteinander wieder den geistigen Fortschritt des Menschen und der Menschheit wollen und wieder auf ihn hoffen: dies ist das Herumwerfen des Steuers, das uns gelingen muss, wenn unser Fahrzeug im letzten Augenblick noch vor den Wind gebracht werden soll. Fähig zu dieser Leistung werden wir nur in denkender Ehrfurcht vor dem Leben.“36

Auf der Linie eines interreligiösen und interkulturellen Dialogs liegt es, wenn Schmidt-Salomon schreibt: „Gelänge es, die progressiven Traditionen, die es in jeder Religion gibt, zu forcieren, könnte das aufklärerische Weltkulturerbe der Menschheit, 34 A.a.O., S. 99. 35 Vgl. Albert Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken (1931), in: ders., Gesammelte Werke (= GW), hg. v. Rudolf Grabs, Bd. 1, München 1974, S. (19–252) 249. 36 Albert Schweitzer, Kultur und Ethik. Kulturphilosophie Zweiter Teil. Olaus Petri Vorlesungen an der Universität Upsala (1923), in: ders., GW 2, München 1974, S. (95–420) 412 f.

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das […] von Menschen aller Zeiten und Kontinente hervorgebracht wurde (unabhängig davon, ob sie gläubig waren oder nicht), stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden.“37

Schmidt-Salomons Annäherung an die Religion geht sogar noch darüber hinaus, wenn er die Auffassung vertritt, dass der von ihm propagierte evolutionäre Humanismus das fördere, „was Religion bzw. Religiosität im positiven Sinn auszeichnet, jener ‚Sinn und Geschmack fürs Unendliche‘, von dem Friedrich Schleiermacher (1768–1834) einst gesprochen hat“38. Damit bezieht er sich auf Schleiermachers 1799 ursprünglich anonym herausgebrachte Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Ja, Schmidt-Salomon hält die Per­spektive des evolutionären Humanismus für „im höchsten Maße anschlussfähig“ an „die besten mystischen Traditionen“ der Weltreligionen.39 Ob er diese nicht etwas vorschnell für seine Sache vereinnahmt, müsste von Kennern des Zen-Buddhismus, des Advaita-Hinduismus, des Sufismus, der christlichen Mystik eines Meister Eckhart oder Nikolaus von Kues sowie des Pantheismus eines Baruch de S­ pinoza genauer diskutiert werden. Was die christliche Mystik etwa betrifft, bin ich skeptisch, ob sich Schmidt-Salomons naturalistisch-materialistische Weltanschauung damit verträgt. Ist doch danach das menschliche Ich nur eine „virtuelle Inszenierung“, basierend auf der „spezifischen Organisationsform eines Körpers“40. Sollte Schmidt-Salomon es mit seinem vorgelegten Entwurf einer evolutionär-humanistischen Ethik ernst meinen, müsste er sich allerdings von seinem Kinderbuch mit dem Titel „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen“41 distanzieren. Denn dieses „verrät einen aggressiven Stil der Religionsbekämpfung. Hier werden die drei monotheistischen Religionen und der Gottesglaube überhaupt in einem für Kinder verfassten Buch

37 M. Schmidt-Salomon, Hoffnung Mensch (s. Anm. 24), S. 318. 38 Ebd. 39 S. ebd. 40 S. a.a.O., S. 322. 41 Michael Schmidt-Salomon / Helge Nyncke, Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen, Aschaffenburg 2007.

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so diskreditiert, dass sie eine Abwehr gegen allen Gottesglauben und gegen die drei Religionen entwickeln sollen.“42

2. Das Theologieverständnis des neuen Atheismus Wie bereits beim klassischen Atheismus handelt es sich auch beim neuen Atheismus um einen weltanschaulichen Monismus, der nun auf der Grundlage der Evolutionsbiologie den grundsätzlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und religiöser bzw. philosophischer Weltanschauung verwischt. Die Gegenposition der christlichen Religion hat einmal Heinz Zahrnt prägnant herausgestellt: „Das Christentum dagegen hält, auch wenn es sich als ‚Religion‘ versteht, an der Unterscheidung zwischen Gott und Welt, Glauben und Denken, Wissenschaft und Weltbild, Physik und Mystik fest. Es tritt für die Vielheit der Wirklichkeit ein und verneint damit das Einheitsdenken des Atheismus […]. Es gibt zwar nur eine Wirklichkeit, aber diese eine Wirklichkeit ist vielschichtig und begegnet auf vielerlei Weise. Entsprechend zeigt sie verschiedene Aspekte und verlangt demgemäß verschiedene Zugänge und Methoden. Der Naturwissenschaftler geht anders mit der Wirklichkeit um als der Historiker und der Künstler wiederum anders; der Arzt sieht den Menschen mit anderen Augen als der Seelsorger und der Liebende die Geliebte wieder mit ganz anderen. Wir können die spannungsreiche Wirklichkeit, in der wir leben, nicht überwinden, wir können sie nur zusammenhalten. Dabei darf kein ­Aspekt übersehen, aber auch keine Methode verabsolutiert werden – über jeder Vereinseitigung geht die konkrete Fülle der Wirklichkeit verloren. Wer die Spannung endgültig überwinden zu können meint, maßt sich die Gebärde des Welterlösers an.“43

Es ist zwar nicht so, dass Richard Dawkins etwa ausschließt, es könne keine tief greifenden, sinnvollen Fragen geben, „die für alle Zeiten 42 Matthias Petzoldt, Was glaubt, wer nicht glaubt? Orientierungsversuche in einem unübersicht­lichen Terrain, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Atheistische Weltdeutungen. Herausforderung für Kirche und Gesellschaft (EZW-Texte Nr. 232), Berlin 2014, S. (9–28) 21. 43 H. Zahrnt, Gotteswende (s. Anm. 3), S. 67 f.

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a­ ußerhalb des Bereiches der Naturwissenschaft liegen werden“. Was er aber bestreitet, ist die Meinung, die Religion könne solche letzten Fragen beantworten.44 Christliche Theologie, die sich der Selbsterschließung Gottes in Jesus verdankt und ihr nachdenkt, muss sich jedoch solchen letzten Fragen nach dem Woher und Wohin, nach Schuld und Versöhnung, nach Tod und Leben stellen und um Antworten ringen. Sie begreift Religion und Naturwissenschaft – um mit Lars Klinnert zu reden – als „zwei komplementäre Perspektiven auf die eine Wirklichkeit“. Daher ist christliche Theologie „an einem konstruktiven Zusammenwirken von Glaube und Vernunft interessiert, weil sie Letztes und Vorletztes zu unterscheiden weiß, sich mithin der Tatsache bewusst ist, dass sie der unbedingten Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, immer nur unter den faktischen Bedingungen endlicher Welterfahrung nachspüren und gerecht werden kann“45. Nicht ein umfassendes Welterklärungsprogramm liefert christliche Theologie, vielmehr versucht sie, „in ganz alltäglichen Sinnerfahrungen von Liebe, Hoffnung, Trost, Vergebung, Befreiung, Erkenntnis und Glück“ Gottes verheißene Gegenwart zu entdecken und zur Sprache zu bringen.46 Die Antwort auf die Frage nach einem letzten Sinn von allem stellt sie Gott selbst anheim. 2.1 Bibelexegese

Mit dem aktuellen Stand der Bibelwissenschaften sind die neuen Atheisten zwar nicht vertraut, aber es kann doch zugestanden werden, dass ein Richard Dawkins über einige grundlegende Einsichten zur Entstehung der Evangelien verfügt. So erfahren wir bei ihm etwas holzschnittartig, aber von der Tendenz her durchaus zutreffend: „Seit dem 19. Jahrhundert haben Theologen überwältigende Belege dafür, dass die Evangelien keine zuverlässigen Berichte über die wirk­ lichen historischen Ereignisse darstellen. Alle wurden erst lange nach 44 Siehe R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 81 f . 45 Lars Klinnert, Besser leben ohne Gott? Der „neue Atheismus“ als bleibende Herausforderung für Kirche und Gesellschaft, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Atheistische Weltdeutungen. Herausforderung für Kirche und Gesellschaft (EZW-Texte Nr. 232), Berlin 2014, S. (29–51) 46 f. 46 Vgl. a.a.O., S. 48.

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dem Tod Jesu verfasst, und sie entstanden auch erst nach den Briefen des Apostels Paulus, in denen so gut wie nichts über die angeblichen Tat­ sachen aus dem Leben Jesu steht.“47

Auch informiert Dawkins seine Leserinnen und Leser darüber, dass die beiden Geburtsgeschichten Jesu im Matthäus- und Lukasevangelium zwar den aus Mi 5,2 für den Messias erschlossenen Geburtsort Bethlehem gemeinsam haben, ansonsten sich aber nicht zur Überein­stimmung bringen lassen.48 Auch habe die von Lukas berichtete im gesamten Römischen Reich durchgeführte Volkszählung zur Zeit von Jesu Geburt nicht stattgefunden, sondern nur eine Steuerschätzung in der Provinz Syrien erst im Jahre 6 n.Chr.49 Recht unkritisch verfährt Dawkins, wenn er sich unter Berufung auf einen Artikel von Robert Gillooly dessen weitgehend unzutreffende Behauptung zu eigen macht, dass folgende Motive der Jesusgeschichte in den Evangelien aus anderen Religionen des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens übernommen worden seien: „der Stern im Osten, die Jungfrauengeburt, die Anbetung des Babys durch die Könige, die Wunder, die Hinrichtung, die Wiederauferstehung und die Himmelfahrt“.50 Auf eine Diskussion im Einzelnen verzichte ich hier. Nur dies sei angemerkt, dass das Matthäusevangelium – und nicht das Lukasevangelium, wie es bei Dawkins heißt – eine Anbetung des Jesuskindes durch ­Magier kennt (erst die spätere christliche Überlieferung erklärt sie zu Königen). Und weshalb die Hinrichtung aus den Umweltreligionen übernommen worden sein soll, bleibt das Geheimnis von Dawkins. ­Bedeutete doch das Wort vom gekreuzigten Christus den Juden ein ­Ärgernis und den Griechen eine Torheit (vgl. 1Kor 1,23). Was den literarischen Zusammenhang der synoptischen Evangelien betrifft, rezipiert Dawkins offenbar die Zwei-Quellen-Theorie. Diese besagt, dass das älteste Evangelium das Markus­evangelium darstellt, das zusammen mit der sogenannten Logien- oder Redequelle dem Matthäus- und Lukasevangelium als Textbasis gedient hat.51 Dagegen ist es 47 R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 130. 48 Vgl. a.a.O., S. 131. 49 Vgl. a.a.O., S. 131 f. 50 S. a.a.O., S. 132 f. 51 Vgl. a.a.O., S. 136.

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schlichte Unkenntnis der neutestamentlichen Kanonsgeschichte, wenn Dawkins meint, die vier Evangelien seien „mehr oder weniger willkürlich aus einer größeren Zahl ausgewählt“52 worden. Und zu behaupten, der „einzige Unterschied“ zwischen den kanonischen Evangelien und dem Roman „The Da Vinci Code (Sakrileg)“ bestehe darin, „dass ­Sa­krileg eine moderne literarische Erfindung ist, während die Evangelien schon vor sehr langer Zeit erfunden wurden“53, ist nicht nur dreist, sondern zeugt auch von mangelnder geschichtlicher Bildung. Ähnlich wie Dawkins lassen ebenfalls die anderen neuen Atheisten „auch nur die Spur einer Ahnung von Wissen um das hermeneutische Problembewusstsein religiöser Traditionen vermissen“54. Dies zeigt sich z. B. in Schmidt-Salomons unsäglicher Interpretation des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, die darin gipfelt, dass Jesus hier dem „überwiegenden Teil der Menschheit“ eine „Art ‚jenseitiges Auschwitz‘ mit Engeln als Selektionären an der ‚himmlischen Rampe‘ in Aussicht“ gestellt habe55. Und bei Dawkins überrascht es nicht, wenn er das Gotteszeugnis der Bibel als irrelevant abtut, da sie „keinen zuverlässigen Bericht über die tatsächlichen historischen Ereignisse“ enthalte56. Die neuen Atheisten – und darin stimmen sie mit den christlichen Fundamentalisten überein – verkennen, dass die Bibel nicht einfach gleichzusetzen ist mit „biblischer Geschichte“, sondern eine Fülle von literarischen Gattungen aufweist – sei es nun ein Geschichtsbericht, eine ­Legende, eine Vision, ein Gleichnis, ein Bildwort, ein Sprichwort, ein Mythos, ein Prophetenwort und vieles andere mehr. Die Bibel ist, wie Gerd Theissen gezeigt hat, ein „polyphones Kunstwerk“: „In ihr finden wir vielfältige Stimmen, die z. T. einander widersprechen. Dennoch klingen sie zusammen. Manche Stimmen werden korrigiert, einige weitergeschrieben, andere zusammen mit ihrem Gegenteil tradiert. Das Ganze ergibt eine strukturierte Pluralität. Dazu klingen in 52 A.a.O., S. 134. 53 A.a.O., S. 137. 54 Klaus Müller, Atheismus als Gegenreligion. Die Gottesfrage als öffentlich-politisches Thema – und was Theologie daraus lernen kann, in: Magnus Striet (Hg.), Wiederkehr des Atheismus. Fluch oder Segen für die Theologie? (Theologie kontrovers), Freiburg i.Br. 2008, S. (29–56) 37. 55 Siehe M. Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus (s. Anm. 6), S. 51. 56 Siehe R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 136.

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der Bibel die Stimmen der Alten Welt nach: Längst vergangene Kulturen Mesopotamiens, Syriens und Ägyptens haben in ihr sichtbare und ­unsichtbare Spuren hinterlassen. Im Neuen Testament hören wir ferner die Stimmen einer Erlösungssehnsucht aus vielen jüdischen und heidnischen Gruppen. Diese Vielstimmigkeit findet ihre Fortsetzung in der Polyphonie der Wirkungsgeschichte.“57

Wenn die Bibel ein solches polyphones Kunstwerk ist, dann kann auch nur ein polyphones Verstehen ihr gerecht werden. Dabei kommt es ­darauf an, das Thema herauszuhören, das in der Vielfalt der Stimmen stets von Neuem variiert wird: der Bezug des Menschen zu Gott. Geben wir noch einmal Gerd Theissen das Wort: „Die Bibel ist Chance zur Dialogaufnahme mit Gott. Man findet diesen Dialog nie in reiner Form, sondern muss ihn aus einem Geflecht vieler Stimmen heraushören, auch zusammen mit Stimmen, die nur ein oberflächliches Zuhören als störende Nebengeräusche wahrnimmt. Man wird vielmehr immer wieder das Thema mal hier, mal dort hören. Je weniger überraschungsfrei seine Wiederkehr ist – auch in Durchführungen und Stimmlagen, in denen man das Thema nie vermutet hätte, umso überzeugender ist die Polyphonie des Gesamtstückes. Dabei wird im Neben­einander und Miteinander verschiedener selbständiger Stimmen immer auch eine Polyphonie der Bedeutung in jeder einzelnen Stimme hörbar. Jede Stimme ist für verschiedene Interpretationen offen. Alles Gehörte wird dadurch für verschiedene Deutungen offen – bis wir selbst lernen, in diesem Stück mit zu musizieren und in unserem eigenen Leben diese Musik weiter zu spielen.“58

2.2 Gottesverständnis

Wenn der neue Atheismus den Gottesglauben verneint, so müssen wir natürlich fragen, gegen welches Gottesverständnis er sich richtet. Es könnte ja sein, dass gegen einen Gottesbegriff polemisiert wird, von dem sich ein aufgeklärtes Christentum längst verabschiedet hat.

57 Gerd Theissen, Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik (Beiträge zum Verstehen der Bibel, Bd. 23), Berlin 2014, S. 21. 58 A.a.O., S. 63 f.

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Folgen wir Dawkins, so besagt die „Gotteshypothese“, mit der er sich kritisch auseinandersetzt, „es gebe in der uns umgebenden Realität eine übernatürliche Handlungsinstanz, die das Universum entworfen hat und es – zumindest in vielen Versionen der Hypothese – auch verwaltet und sogar mit Wundern eingreift, das heißt mit vorübergehenden Verletzungen seiner ansonsten erhabenen, unabänderlichen Gesetze“59. Es ist die theistische Gottesvorstellung nicht nur der Kreationisten und der Vertreter des Intelligent Design, sondern auch der konservativen Kreise in unseren Kirchen, die Dawkins bekämpft. Und von einer solchen müssen wir uns als aufgeklärte Christen lösen. Denn: „Die Vorstellung von einem Gott, der als ein persönliches, allmächtiges Wesen über der Welt und der Menschheit thront und sie von droben und draußen nach vorgesehenem Plan regiert, Gutes und Böses schickt, dabei auch in den Lauf der Welt und in das Leben des Einzelnen eingreift, besitzt keine Glaubenskraft mehr.“60

Mit Dietrich Bonhoeffer weiß sich übrigens Dawkins einig in der Ablehnung eines Lückenbüßergottes.61 Am 29. Mai 1944 hatte nämlich Bonhoeffer aus der Haft im Wehrmachtuntersuchungsgefängnis von Berlin-Tegel an seinen Freund Eberhard Bethge geschrieben: „Das Weizsäcker’sche Buch über das ‚Weltbild der Physik‘ beschäftigt mich noch sehr. Es ist mir wieder ganz deutlich geworden, daß man Gott nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Er­kenntnis figurieren lassen darf; wenn nämlich dann – was sachlich zwangsläufig ist – sich die Grenzen der Erkenntnis immer weiter hinausschieben, wird mit ihnen auch Gott immer weiter weggeschoben und befindet sich demgemäß auf einem fortgesetzten Rückzug. In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein.“62

59 R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 84. 60 H. Zahrnt, Gotteswende (s. Anm. 3), S. 84. 61 Vgl. R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 174. 62 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Christian Gremmels, Eberhard Bethge u. Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt (DBW 8), Gütersloh 1998, S. 454 f.

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Leider hat Dawkins den damit verknüpften theologischen Denkimpuls Bonhoeffers nicht kon­struktiv aufgenommen. Seine Kritik an einem supranaturalistischen und fundamentalistischen Gottesbegriff sollte ­ uns aber Mahnung sein, in Theologie und Kirche nicht allzu selbstverständlich und unreflektiert von Schöpfung, Erlösung, Offenbarung und Heilsgeschichte zu sprechen63. Leider verhält es sich häufig so, dass unser christliches Reden von und mit Gott einem veralteten Weltbild verhaftet bleibt und damit nicht anschlussfähig ist für naturwissenschaftliche Theorien von Kosmologie und Evolution. Das heißt nun nicht, dass seitens der Theologie ein völlig neues Gottesverständnis entwickelt werden müsste. Vielmehr gilt es mit Hans Kessler an eine solche christliche Tradition anzu­knüpfen, die „mit dem Wort Gott nicht ein von der Welt getrenntes, bloß im Jenseits sitzendes Wesen [meint], sondern eine total andere Dimension und Wirklichkeit, die nicht dort erst beginnt, wo die uns bekannten (4 oder 11) Dimensionen enden, sondern sie und alles (Raum, Zeit, Materie, Geist, Zufall, Notwendigkeit usf.) durchdringt und ihnen zugrunde liegt, allem ko-präsent, also ‚all-gegenwärtig‘ ist“64. Mit Immanuel Kant ist daran festzuhalten, dass die Realität Gottes weder bewiesen noch widerlegt werden kann.65 Da Gott kein Ding ist, handelt es sich hier um eine Fragestellung, die sich nicht vergleichen lässt mit der von Dawkins bemühten Pseudofrage Bertrand Russells, ob es eine Teekanne in der Erdumlaufbahn gibt oder nicht.66 Vielmehr geht es um die welt­anschauliche Entscheidungsfrage, „ob das Universum seinen Grund in sich selbst hat […] oder ob die Welt einen von ihr unterschiedenen (nicht: getrennten!) Grund hat“67. Die von den neuen Atheisten vertretene These, „man brauche Gott nicht, um Existenz und Beschaffenheit des Universums zu erklären“, verkennt, dass der Atheismus keine überzeugende Erklärung dafür hat, 63 Vgl. Thomas Schärtl, Neuer Atheismus. Zwischen Argument, Anklage und Anmaßung, in: StZ 226 (2008), S. (147–161) 156. 64 Hans Kessler, „Das Konzept Gott – warum wir es nicht brauchen“? Zu Burkhard Müllers re­spektablem Atheismus, in: Magnus Striet (Hg.), Wiederkehr des Atheismus. Fluch oder Segen für die Theologie? (Theologie kontrovers), Freiburg i.Br. 2008, S. (57–76) 58. 65 Vgl. a.a.O., S. 62. 66 Vgl. R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 74–78. 67 H. Kessler, „Das Konzept Gott – warum wir es nicht brauchen“? (s. Anm. 64), S. 62.

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dass überhaupt eine Welt existiert und nicht vielmehr nichts.68 Ebenso verhält es sich damit, „dass die grundlegenden physikalischen Naturkonstanten des Universums sich mit genau den Werten eingependelt haben, dass Leben und intelligentes Leben möglich wurde“69. Ist doch die Multiversum-Theorie, die eine Vielzahl von Urknallen und Universen annimmt, wodurch ebenfalls die Entstehung von Leben ermöglicht worden sei70, eine nicht verifizierbare Spekulation, die – selbst wenn sie zutreffen sollte – Gott als Urgrund eines solchen Multiversums nicht notwendigerweise ausschließt. Vollkommen haltlos ist daher die Dawkins’sche Behauptung: „Gott existiert mit ziemlicher Sicherheit nicht.“71 Hinzu kommt, dass aus biblischer Sicht die Existenz Gottes „gerade keine wissenschaftliche Hypothese“ ist, die sich mit rationalen Gründen wahrscheinlich machen lässt; „ihr kann vielmehr immer nur aus einer in personalen Vollzügen gründenden Gewissheit heraus ‚nach-gedacht‘ werden“72. Wie Charles Darwins Evolutionsgedanke nach dem Erscheinen seines Werks „On the Origin of Species“ (Über die Entstehung der Arten) von sieben liberalen anglikanischen Geistlichen anerkannt wurde,73 gilt es auch in unserer Zeit, die Evolutionstheorie theologisch zu integrieren. Dies ist möglich, wenn wir mit Wolfgang Achtner Schöpfung als einen offenen und kreativen Prozess verstehen, also nicht im Sinne einer göttlichen Blaupause, sondern einer creatio continua.74 2.3 Liberale Theologie

Neben der Verunglimpfung eines aufgeklärten, liberalen Christentums als „Religion light“ begegnen in den Veröffentlichungen der neuen Atheisten auch anerkennende Worte für eine liberale Theologie. So 68 Vgl. a.a.O., S. 68. 69 Ebd. 70 Vgl. R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 204–207. 71 A.a.O., S. 223. 72 L. Klinnert, Besser leben ohne Gott? (s. Anm. 45), S. 47. 73 Vgl. Wolfgang Achtner, Evolutionstheorie und Atheismus, in: Albert J. J. Anglberger / Paul Weingartner (Hg.), Neuer Atheismus wissenschaftlich betrachtet, Heusenstamm 2010, S. (71–100) 81. 74 Vgl. a.a.O., S. 85.

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kann Dawkins seine Wertschätzung für die beiden liberalen britischen Theologen und ehemaligen Bischöfe John Shelby Spong und Richard Holloway zum Ausdruck bringen. Eine Podiumsdiskussion, die er mit letzterem in Edinburgh führte, bezeichnet er als „eine der anregendsten und interessantesten Begegnungen“ seines Lebens75. Und Schmidt-Salomon lobt solche Theologen, die eine autonome Ethik vertreten und deren Normen allgemein einsichtig machen.76 Zugleich räumt er ein, dass es auch der „religiösen Übersetzung“ bedarf, „damit säkulare Normen […] für traditionsverhaftete Gläubige einsichtig werden“77. Eine Änderung seiner eigenen Haltung gegen­über einer liberalen Theologie deutet er mit seiner Schlussfolgerung an: „Deshalb sollten auch religionsfreie Menschen daran interessiert sein, dass Theologen ihre Quellentexte in entsprechender Weise auslegen (ein Punkt, den ich in den vergangenen Jahren, wie ich fürchte, nicht deutlich genug herausgestellt habe).“78

Die polemische und respektlose Ausdrucksweise von Dawkins ist gewiss oft schwer erträglich. Als Beispiel sei folgender Satz zitiert: „Aus ethischer Sicht ist Jesus gegenüber dem grausamen Ungeheuer aus dem Alten Testament ein großer Fortschritt.“79 Aber deswegen sollte man nicht darüber hinwegsehen, dass er in puncto neutestamentliche Exegese oft zu Einsichten gelangt, die sich mit einer undogmatischen, liberalen Theologie vertragen. Dawkins würdigt Jesus als einen der „großen ethischen Neuerer der Geschichte“80. Dies begründet er nicht nur mit der Ethik der Bergpredigt, sondern auch mit Jesu liberaler Haltung gegen­ über einzelnen 81 ­alttestamentlichen Vorschriften wie dem Sabbatgebot. Allerdings in 75 R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 328. 76 Vgl. M. Schmidt-Salomon, Hoffnung Mensch (s. Anm. 24), S. 317. 77 A.a.O., S. 318. 78 Ebd. – Im Unterschied zum neuen Atheismus weiß der sich selbst als „frommer Atheist“ verstehende Kenner der europäischen Philosophie- und Theologiegeschichte Herbert Schnädelbach die christliche Theologie als „die im Christentum selbst institutionalisierte Religionskritik“ und einen „Motor der abendländischen Aufklärung“ zu würdigen (s. Herbert Schnädelbach, Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen, Streitschriften, Frankfurt a.M. 2009, S. 9. 18). 79 R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 5), S. 346. 80 Ebd. 81 Vgl. a.a.O., S. 346 f.

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Sachen Familie übt Dawkins Kritik an Jesus, insofern dieser hier „fragwürdige Wertvorstellungen“ vertreten habe.82 Angesichts von Jesu afamiliärem Ethos, das sich aus seiner endzeitlichen Naherwartung erklären lässt, ist solche Kritik nur allzu verständlich. Wenn es auch historisch nicht zutrifft, dass erst Paulus die Lehre vom Sühnetod Christi entwickelt hat,83 wie Dawkins meint, mit seiner grundsätzlichen Kritik daran könnte er sich durchaus auf Theologen aus dem liberalen Lager berufen. So lehnt Dawkins die Übertragung der Sündenbock-Theorie auf die Deutung des Kreuzestodes Jesu ab, wonach ein Unschuldiger die Sünden der Schuldigen auf sich nimmt, was heutigem ethischen Denken zuwiderlaufe.84 Für dieses sei schon problematisch, Strafe als Vergeltung zu begreifen. Nicht zuletzt sei die ganze theologische Konstruktion dadurch hinfällig, „dass Adam, der angeblich die Erbsünde beging, in Wirklichkeit nie existiert hat“85. Wünschenswert wäre sicher, wenn sich Dawkins etwas eingehender mit der entsprechenden exegetischen Fachliteratur vertraut gemacht hätte. So ist schon störend, wenn er Paulus als Verfasser des Hebräerbriefs ausgibt86. Gegen den christlichen Glauben an die Auferstehung Jesu führt Schmidt-Salomon die Widersprüchlichkeit der neutestamentlichen Ostergeschichten an.87 Zu behaupten, dass die Mehrzahl der Theologen diese als „glaubwürdige Tatsachenbeschreibungen“ deutet, geht jedoch fehl. Mag auch in mancher Osterpredigt sich dieser Eindruck einstellen, die Pfarrerinnen und Pfarrer wissen es eigentlich von ihrer universitären Ausbildung her besser. Mit seiner These, dass es sich bei den Erscheinungen des Auferstandenen um eine „Wunschprojektion“ von Jesu Anhängern gehandelt habe,88 könnte sich Schmidt-Salomon auf solche liberale Theologen beziehen, die von subjektiven Visionen sprechen, ohne damit notwendigerweise zu behaupten, mit dem Tod sei für Jesus

82 S. a.a.O., S. 347. 83 Vgl. a.a.O., S. 349. 84 Vgl..a.a.O., S. 351. 85 Ebd. 86 Vgl. ebd. 87 Vgl. M. Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus (s. Anm. 6), S. 60. 88 S. ebd.

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alles aus gewesen.89 Die Heranziehung und Auswertung religionsgeschichtlicher Parallelen ist für die historisch-kritische Exegese eine unverzichtbare Methode – auch beim Verständnis der Ostertexte des Neuen Testaments. Aber Schmidt-Salomon ist den Nachweis dafür schuldig geblieben, dass diese „eine nachträgliche literarische Aufwertung einer Legende durch die Übernahme bekannter Fragmente der heidnischen Mythologie“90 darstellen. Der bloße Hinweis auf die Gottheiten einiger antiker Mysterienkulte ist hier völlig unzureichend.

3. Resümee Nach dem kritischen Durchgang durch das Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus möchte ich in Form einiger Thesen darlegen, inwiefern ein undogmatisches Christentum den neuen Atheismus als Herausforderung annehmen sollte. 1. Da der neue Atheismus bei seiner Bestreitung des Gottesglaubens sich vor allem auf die naturwissenschaftlichen Forschungen zur Kosmologie und Evolutionsbiologie bezieht, ist es für ein undogmatisches Christentum unverzichtbar, in diesem Bereich sich gründliche Kenntnisse über die wichtigsten Ergebnisse und maßgeblichen Theorien sowie über die damit einhergehenden weltanschaulichen Optionen zu verschaffen. 2. Damit muss sich die Bereitschaft verbinden, überkommene Glaubensgewissheiten in Frage zu stellen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie christlicher Glaube so zum Ausdruck gebracht werden kann, dass er mit moderner Naturwissenschaft kompatibel ist. 3. Ein undogmatisches Christentum wendet sich gegen ein kritikloses Hinnehmen von Biblizismus, Kreationismus und Exklusivismus inner89 Vgl. Werner Zager, Die Auferstehung Jesu in historisch-kritischer und psychologischer Per­spektive, in: ders., Jesus und die frühchristliche Verkündigung. Historische Rück­ fragen nach den Anfängen, Neukirchen-Vluyn 1999, S. 63–87. 90 Vgl. M. Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus (s. Anm. 6), S. 60.

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halb der Kirchen. Es begreift vielmehr das 500-jährige Reformations­ jubiläum als Ermutigung, „das immer wieder gefährdete Projekt einer kritischen Selbstaufklärung des christlichen Glaubens fortzusetzen“91. 4. Ein undogmatisches Christentum ist bereit zu einem ergebnisoffenen Dialog mit dem neuen Atheismus, sofern dieser in gegenseitigem Respekt vor der Meinungs- und Religionsfreiheit des Einzelnen geführt wird, was Bekehrungsfanatismus und diffamierende Urteile vonseiten des neuen Atheismus verbietet. 5. Ein solcher Dialog ist dann weiterführend, wenn die Partner bereit sind, eigene Positionen kritisch zu hinterfragen und sich dem besseren Argument zu öffnen. Dabei gilt es Schwächen der eigenen Argumentation nicht zu verdecken, sondern offenzulegen. 6. Undogmatisches Christentum und neuer Atheismus sollten sich über den Streit in der Gottesfrage hinweg der höheren Aufgabe verpflichtet wissen, in überzeugender Weise Menschen weltweit in allen Lebensbereichen für aufgeklärtes Denken und humanes Verhalten zu gewinnen. Voraussetzung dafür ist, dass der neue Atheismus auf jeglichen welt­ anschaulichen Totalitätsanspruch verzichtet, was sich für ein undogma­ tisches Christentum schon per definitionem von selbst versteht. 7. Um mit Jan-Heiner Tück zu sprechen: „Nicht nur der Glaubende muss durch das Purgatorium atheistischer Rückfragen hindurch; auch der Atheist sieht sein Credo der Rückfrage ausgesetzt, ob der Gott, den er verneint, nicht ein selbst fabriziertes Konstrukt ist.“92

91 L. Klinnert, Besser leben ohne Gott? (s. Anm. 45), S. 51. 92 Jan-Heiner Tück, Rebellion gegen Gott. Glauben, nicht mehr glauben zu können. Anmerkungen zu Pascal Merciers „Nachtzug nach Lissabon“, in: Magnus Striet (Hg.), ­Wiederkehr des Atheismus. Fluch oder Segen für die Theologie? (Theologie kon­trovers), Freiburg i.Br. 2008, S. (119–138) 135.

Naturalistische Theologie Plädoyer für die Vereinbarkeit von liberalem ­Protestantismus und evolutionärem Humanismus Martin Schmuck

Vorbetrachtungen: Wie liberal ist der liberale Protestantismus? Versucht man anhand von Stichproben1 einen ungefähren Überblick über die akademisch-theologische Auseinandersetzung mit dem ‚neuen Atheismus‘ zu gewinnen, so lässt sich konstatieren, dass eine kritische Frontstellung bzw. apologetisch-antinaturalistische Verteidigungs­ haltung dominiert. Dieser Befund ist einigermaßen erstaunlich, weil gerade ein der Aufklärung verpflichtetes liberales Christentum prima facie mehrere Gründe hätte, die naturalistische Weltanschauung und Religionskritik der ‚neuen Atheisten‘ bzw. ‚evolutionären Humanisten‘ zu begrüßen: a) Die Kritik des ‚neuen Atheismus‘ arbeitet sich wie die liberale Theologie2 an einem dogmatisch, d. h. zur Weltanschauung verhärteten Religions- und Glaubensverständnis ab, das in Gestalt von christlichem Fundamentalismus, Konfessionalismus und (Neo-) Orthodoxie (ver1 Vgl. beispielsweise Peter Strasser, Warum überhaupt Religion? Der Gott, der Richard Dawkins schuf, München 2008; Matthias Wörther, Kein Gott nirgends? Neuer Atheismus und alter Glaube. Orientierungen. Würzburg 2008; Richard Schröder, Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2008. 2 Ulrich Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S. 424: „Indem die Religion konsequent Abschied nimmt von allen Versuchen einer Welterklärung, befreit sie sich zu ihrem eigentlichen Wesen.“

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schiedenster Spielarten) die grundlegende Unterscheidung von Glauben und Wissen relativiert bzw. im Namen höheren Glaubenswissens Lücken und Grenzen des naturwissenschaftlichen Wissens meint festlegen zu können. b) Bereits Schleiermacher, der Begründer des liberalen Neuprotestantismus, hat das Verhältnis von Religion, Metaphysik und Moral so bestimmt, dass es sich um drei Zugangsweisen handelt, welche die eine Wirklichkeit des ‚Universums‘ in verschiedener Hinsicht thematisieren3. Religion geht es um die ‚Anschauung des Universums‘, deshalb „entsagt [sie] allen Ansprüchen auf irgend etwas, was … [Moral und Metaphysik] angehört“4. c)  Dementsprechend hat Schleiermacher die religiöse Rede von Gott konsequent als Ausdruck der ‚Anschauung des Universums‘ verstanden. Ob man sich ihrer bedient, das hängt dann allein „von der Richtung der Phantasie“5 ab. Gleichzeitig hat er sich – dem metaphysischen Erkenntnisstand entsprechend – für einen pantheistischen Glauben ohne ‚ewiges Leben‘ im Jenseits6 ausgesprochen. d)  Selbst die populären Vertreter des ‚neuen Atheismus‘ lehnen eine mystische Religiosität keineswegs ab. So gehört Albert Schweitzer zu jenen Personen, auf die sich der ‚evolutionäre Humanismus‘ der ­Giordano-Bruno-Stiftung ausdrücklich beruft7 – und auch Giordano Bruno kann schwerlich als irreligiös bezeichnet werden8. In seiner 3 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799], Stuttgart 1969, S. 50: Religion „begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. […] Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“ 4 Ebd. 5 A.a.O., S. 129 f. Vgl. a.a.O., S. 128: „Nun laßt uns höher steigen, dahin, […] wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Ein und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben als der gebildetste Polytheist?“ 6 A.a.O., S. 133: „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“ Vgl. a.a.O., S. 130 f. 7 Art. Evolutionärer Humanismus, URL: [6.12.2015]. 8 Art. Der Stiftungsname, URL: [4.12.2015].

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jüngsten Publikation beruft sich Michael Schmidt-Salomon, Vorsitzender der ‚Giordano-Bruno-Stiftung‘ und Hauptprotagonist der ‚neuen Atheisten‘ in Deutschland, ausdrücklich auch auf Schleiermacher9. Zu erwarten wäre aufgrund der genannten Punkte, dass ein liberales Christentum sich eindeutig profiliert und Brücken zum ‚neuen Atheismus‘ bzw. evolutionären Humanismus baut. Eine konfrontativ-apologetische Strategie hingegen verpasst diese Chance. Auch hierbei lässt sich eine Parallele zum jungen Schleiermacher ziehen, wenn er an der theologischen Ablehnung von Spinozismus und Pantheismus Kritik übt: „[…] das ist die alte Inkonsequenz, das ist das schwarze Zeichen der Unbildung, daß sie die am weitesten verwerfen, die auf einer Stufe mit ihnen stehen, nur auf einem andern Punkt derselben.“10

Zudem bestätigt die theologische Abwehrhaltung gegenüber dem ‚neuen Atheismus‘ den gängigen Ideologieverdacht gegenüber Religion und rückt schließlich das liberale Christentum wieder in die Nähe der evangelikalen Glaubensbrüder und -schwestern, von denen es sich ja auch innerkirchlich oft nur unzureichend abgrenzt11. Dass liberales Christentum deshalb vonseiten der evolutionären ­Humanisten misstrauisch betrachtet und als ‚Weichfilterchristentum‘12 abqualifiziert wird, darf somit auch als eine Folge der eigenen Inkon­ sequenz gewertet werden, die nicht in der Lage ist, die Liberalität des

9 Michael Schmidt-Salomon, Hoffnung Mensch. Eine bessere Welt ist möglich, München / Berlin 2015, S. 318: „[…] das, was Religion bzw. Religiosität im positiven Sinne auszeichnet, jener ‚Sinn und Geschmack fürs Unendliche‘, von dem Friedrich Schleier­ macher […] einst gesprochen hat, wird durch die Perspektive des evolutionären Humanismus keineswegs untergraben, sondern, wie wir noch sehen werden, in einer Weise gefördert, die im höchsten Maße anschlussfähig ist an die besten mystischen Traditionen, die sich über Jahrhunderte in den Weltreligionen entwickelt haben […].“ 10 F. Schleiermacher, Über die Religion (s. Anm. 3), S. 128. 11 Vgl. Wilhelm Gräb, Was bedeutet liberales Christentum im 21. Jahrhundert?, in: Werner Zager (Hg.), Liberales Christentum. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Neukirchen-Vluyn 2009, S. 14 f.: „Liberale Frömmigkeit kann sogar in Gestalt charismatischen Pfingstlertums und fundamentalistischen Wort-Glaubens praktisch werden. Dann jedenfalls, wenn dort auf die persönliche Überzeugungsgewissheit der Akzent gelegt wird, das je eigene Ergriffensein vom Geist Christi oder vom Wort Gottes, und nicht so sehr auf die Unterwerfung unter ein ekstatisches Ritual […] oder das Papier des Bibelbuchstabens gepocht wird.“ S. ferner a.a.O., S. 3–7. 12 Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 22006, S. 162–166.

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eigenen Standpunktes im Horizont des modernen Weltverständnisses allgemein verständlich zu machen. Dabei handelt es sich allerdings nicht nur um ein Vermittlungsproblem, sondern das Problem resultiert in letzter Konsequenz aus bestimmten ‚transzendentalidealistischen‘13 Prämissen des klassisch-liberalen Religionsverständnisses. Im Folgenden werde ich zunächst diese Prämissen kurz skizzieren. In einem zweiten Schritt werde ich die Stichhaltigkeit der aus diesen Prämissen resultierenden antinaturalistischen Denkformen vor dem Hintergrund der kritisch-rationalen Erkenntnistheorie des evolutionären Humanismus näher beleuchten. In einem dritten Schritt schließlich soll die ­Alternative eines konsequent naturalistischen Religions- und Christentumsverständnisses skizziert werden.

1. Die transzendentalphilosophischen und idealistischen Prämissen der liberalen Theologie Wie angedeutet scheint die im liberalen Christentum entwickelte Idee einer konsequenten Unterscheidung von religiösem Glauben und metaphysischem bzw. weltanschaulichem Wissen die Möglichkeit einer Vereinbarkeit beider zu eröffnen. Dieses Modell krankt jedoch schon immer an Umsetzungsproblemen. Bei Schleiermacher als dem ersten Hauptinitiator dieses Modells ist das bereits im Rahmen seiner frühen Schrift ‚Über die Religion‘ nachweisbar. Wenn Schleiermacher betont, Religion, Metaphysik und Ethik hätten den gleichen Gegen­stand, „nämlich das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm“, dann scheint mit diesem Monismus zunächst die konsequente Unterscheidung der verschiedenen Zugänglichkeiten abgesichert. Denn „soll sie [sc. die Religion] sich also unterscheiden, so muß sie ihnen [sc. Meta­ physik und Moral], ungeachtet des gleichen Stoffs, auf irgendeine Art entgegengesetzt sein; sie muß diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältnis der Menschen zu demselben ausdrücken oder bearbeiten, eine andere Verfahrensart oder ein anderes Ziel haben […].“14 13 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 455. 14 F. Schleiermacher, Über die Religion (s. Anm. 3), S. 42. Hervorhebungen von mir.

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Aber Schleiermacher übernimmt Spinozas Monismus nicht einfach, sondern lässt ihn durch die Transzendentalphilosophie Kants hindurchgehen.15 Die All-Einheit als Grund aller Einzelexistenzen darf nicht als positive Setzung der Metaphysik gelten, sondern wird als kantisches Noumenon dem Zugriff der theoretischen Vernunft entzogen.16 Spinozistisch bleibt nur der gegen Kant gewendete Gedanke, dass „die […] Voraussetzung eines bewußtseinstranszendenten Seins und damit einer objektiven Philosophie [unabdingbar]“17 sei. Kants transzenden­ tales Ideal Gottes beschreibt somit ungeachtet seines aus der Vernunftperspektive ‚problematischen‘ Charakters die an sich seiende Wirklichkeit. Im Ergebnis dominieren schon in den ‚Reden‘ Stellen, an denen Schleiermacher der Metaphysik die Zuständigkeit für das Universum als Ganzes abspricht18 und eine epistemische Abhängigkeit der ­Metaphysik und Moral von der Religion behauptet: „Und wie wird es dem Triumph der Spekulation ergehen, dem vollendeten und gerundeten Idealismus, wenn Religion ihm nicht das Gegengewicht hält und ihn einen höhern Realismus ahnden läßt […]?“19

Religion erscheint entsprechend als ‚erste Philosophie‘, welche das vereinigende Prinzip für Metaphysik und Moral liefert. 20 Damit erhält der religiöse Glaube eine Erkenntnisqualität, welche die theoretische Vernunft zu überbieten beansprucht und insofern mit ihr in Konflikt steht. Die Reichweite der Metaphysik wird zugunsten des religiösen Glaubens beschnitten, so dass dessen Gehalte als nicht diskursiv ausweisbar behauptet werden können:

15 Vgl. dazu Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin / Boston 2013, S. 7 und Teil II.5 bzw. Teil II.5.1. 16 A.a.O., S. 7, unter Berufung auf Schleiermachers frühe Spinoza-Manuskripte von 1793/94. 17 Ebd. 18 F. Schleiermacher, Über die Religion (s. Anm. 3), S. 51: „Die Metaphysik geht aus von der endlichen Natur des Menschen […]. Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen […].“ 19 A.a.O., S. 54. Vgl. a.a.O., S. 52 f.: „Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Ohne diese, wie kann sich die erste über den gemeinen Kreis abenteuerlicher und hergebrachter Formen erheben, wie kann die andere etwas Besseres sein als ein steifes und mageres Skelett?“ 20 A.a.O., S. 45 ff.

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„Die Idee des absoluten Seins als Identität von Begriff und Gegenstand ist also kein Wissen. […] Sie ist aber der transzendentale Grund und die Form alles Wissens.“21 „Die Idee der Gottheit, richtig gefaßt, ist auf dieser Seite [des Begriffs; M.S.] dasjenige, was nicht mehr gewußt werden kann, aber immer vorausgesetzt werden muß als die Identität von Denken und Sein.“22

Die Idee der Gottheit, der ‚transzendentale Grund‘ kann allerdings ‚im Gefühl‘23 erfasst werden 24. Im Endeffekt resultiert daraus die „These von der Unerkennbarkeit des Absoluten“25, die paradoxe These der Nichtverobjektivierbarkeit Gottes, die letztlich schon in Kants Bestimmung des transzendentalen Ideals als ‚Grenzbegriff‘ angelegt ist26. Bekanntlich steht schon die Philosophie Kants unter dem apologetischen Vorzeichen, „das Wissen auf[zu]heben, um zum Glauben Platz zu bekommen“27. Daraus resultieren bezüglich der Idee Gottes drei Thesen, denen philosophische Prämissen entsprechen und die in den verschiedensten Spielarten der (liberalen) Theologie und darüber hin­aus, beispielsweise in der dialektischen Theologie, immer wieder auftauchen: These 1 (Antirealismus bzw. Phänomenalismus): Naturwissenschaften beschäftigen sich nur mit Phänomenen, nicht mit der Wirklichkeit als solcher. Sie haben sich in den Grenzen der empirischen Erfahrung zu halten. Innerhalb dieser Grenzen kann klar zwischen zwei ‚Stäm-

21 Friedrich Schleiermacher, Dialektik, Bd. I (Dialektik 1814, das ‚Grundheft‘ nach Jonas), hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a.M. 2001, J, S. 87. Vgl. a.a.O., J, S. 86. Vgl. Ulrich Barth, Der Letztbegründungsgang der Dialektik. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, S. (353–385) 361. Vgl. F. Schleiermacher, Dialektik, J, S. 152: „Es ist wahr, wir konnten das höchste im Gedanken nicht vollziehen.“ 22 F. Schleiermacher, Dialektik (s. Anm. 21), J, S. 121. 23 A.a.O., J, S. 151. Vgl. a.a.O., J, S. 150. 24 A.a.O., J, S. 152: „Im Gefühl ist die im Denken und Wollen bloß vorausgesetzte absolute Einheit des idealen und realen wirklich vollzogen.“ 25 Jan Rohls, Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2002, S. 443. 437. 26 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781/1787], Hamburg 1993, A 255 B 310 f.; A 310 f. B 366 ff. 27 A.a.O., B XXX. Vgl. die Kritik von Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. II, München 91981, S. (761–900) 894, an der Transzendentalphilosophie als ‚Schleichweg‘ zu Gott. Vgl. auch Hans Albert, Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, Tübingen 1982, S. 174 f., Anm. 12.

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men‘ der Erkenntnis, Sinnlichkeit und Verstand, unterschieden werden. Naturwissenschaftliches Wissen bleibt daher beschränkt auf Einzel­ erkenntnisse; die Suche nach einer Einheitsper­spektive wäre bereits eine Grenzüberschreitung in Richtung Me­ta­phy­sik. These 2 (Bedingungs- und Grenzreflexion): Die Vernunft gerät auf dem Feld der Metaphysik zwangsläufig in Fehlschlüsse, Widersprüche und Inkonsistenzen, woraus in der theoretischen Gottesfrage eine PattSituation resultiert28. Die Wirklichkeit Gottes bzw. die Einheitsper­ spektive auf Wirklichkeit erschließt sich transzendentaler bzw. idealistischer Reflexion und bedarf als solche keiner Begründung. Andererseits (bzw. zugleich) ist die Gottesidee bzw. das Ideal der reinen Vernunft als ein paradoxer ‚Grenzbegriff‘ aufzufassen, sofern die ­noumenale gött­liche Wirklichkeit unerkennbar und alle vernünftigen Erfassungsver­suche daher problematisch bleiben. These 3 (Immaterialismus bzw. Idealismus): Die Wirklichkeit Gottes ist naturwissenschaftlichen Wissensbemühungen prinzipiell verschlossen, bzw. Gott kann im Zusammenhang naturwissenschaftlichen Wissens prinzipiell nicht vorkommen. Daher kann Gott (ebenso wie die Subjekteinheit des Ich) prinzipiell auch nicht als objektiver Gegenstand gedacht werden (Nichtverobjektivierbarkeitsthese). Hier ist demnach ‚transzendentale Reflexion‘ bzw. idealistische Spekulation in Form ‚ungegenständlichen Denkens‘ gefordert. In diesen Zusammenhang ­gehört auch Kants dualistische Unterscheidung von Sinnenwelt und intelligibler Welt. Dass diese von Kant herkommenden Denkvoraussetzungen bei Schleiermacher eine Rolle spielen, ist bereits ansatzweise gezeigt worden. Sie lassen sich auch bei Ernst Troeltsch, einem weiteren Hauptvertreter der liberalen Theologie, nachweisen. Ähnlich wie bei Schleiermacher erhält bei ihm die ursprünglich formal (‚als ob‘) gedachte transzendentale Reflexion metaphysische Qualität: „Indem ich die synthetische Funktion des […] [Apriori als synthetischer Einheitsfunktion; M.S.] im Aufbau der einheitlichen Persönlichkeit betone und damit diese […] auf einen hinter dem Ablauf der Seelennatur und ihres Wirkungszusammenhangs liegenden, jene Apri­oris ausstrah28 So paradigmatisch bei I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (s. Anm. 26), A 641 B 669.

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lenden Vernunftkern zurückführe, gelange ich zu der Metaphysik des noumenalen Charakters.“29

Troeltsch macht davon ausgehend Theismus, ‚prophetischen Personalismus‘, Idealismus, Dualismus und Antirationalismus stark, wodurch ihm die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem naturalistischen ‚Monismus‘ seiner Zeit offenbar von vornherein unnötig erscheint.30 Ähnliches gilt für Paul Tillich, der zwar den Theismus bekämpft, dies aber im Rückgang auf ein unerkennbares Absolutes (‚Gott über Gott‘31) bzw. einen unbedingten Grund des (transzendentalen) Selbstbewusstseins (‚was mich unbedingt angeht‘) leisten zu können meint.32 Auch der Skeptizismus des ‚protestantischen Prinzips‘ von Tillich, wonach jeder Versuch der Erfassung des Absoluten – und damit jeder Versuch einer Verobjektivierung – diesem äußerlich bleibt33, kann vor dem Hintergrund der transzenden29 Ernst Troeltsch, Das religiöse Apriori (1909), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 21922, S. (754–768) 758. 30 Ernst Troeltsch, Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums im Verhältnis zur modernen Philosophie (1910), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, a.a.O., S. (837–862) 842 ff. Anders Rudolf Otto, der der Ausein­andersetzung mit der ‚naturalistischen Weltansicht‘ eine eigene Monographie widmet, allerdings mit dem erklärten Ziel, die ‚Selbständigkeit und Freiheit des Geistes‘ und damit die ‚fromme […] Weltansicht‘ zu verteidigen (Rudolf Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 21909, S. 212; vgl. auch S. 225 ff.). 31 Paul Tillich, Der Mut zum Sein, in: ders., Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie (Gesammelte Werke, Bd. XI), Stuttgart 31982, S. (13–142) 136 f.: „Theismus in allen seinen Formen wird transzendiert in der Erfahrung, die wir absoluten Glauben genannt haben. Er ist das Bejahen des Bejahtseins ohne jemand oder etwas, das bejaht. Es ist die Macht des Seins-Selbst, die bejaht und den Mut zum Sein verleiht […]. Der Gott über Gott kann nicht beschrieben werden, wie der Gott aller Formen des Theismus beschrieben werden kann. Er kann auch nicht in mystischer Weise benannt werden. Er transzendiert sowohl Mystik als auch persönliche Begegnung, wie der absolute Glaube sowohl den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, wie den Mut, man selbst zu sein, transzendiert.“ 32 Paul Tillich, Religionsphilosophie, in: ders., Berliner Vorlesungen I (1919–1920), Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. XII, Berlin 2001, S. (333–584) 401 f.: „[…] das Sein [tritt ihm (d. h. dem Denken; M.S.)] als etwas entgegen, was von ihm und seinen Bedingungen schlechthin unabhängig ist. Während alles Seiende, alle Erscheinungswelt mit ihren Realitäten unter den Bedingungen des Denkens steht, steht das Denken selbst unter der Bedingung dieses […V]er­hält­n isses zum Sein. Das Seinserlebnis ist also zugleich Unbedingt­heitserlebnis, Erlebnis der unbedingten Realität, die nicht mehr gesetzt ist von Denkbestimmungen.“ Vgl. Christian Danz, Die Krise der Subjektivität und deren geschichtsphilosophische Überwindung. Über­ legungen zu Paul Tillichs frühem religiösen Sozialismus, in: Ingolf U. Dalferth / Philipp Stoellger (Hg.), Krisen der Subjektivität. Problemfelder eines strittigen Paradigmas (RPT 18), Tübingen 2005, S. (157–174) 159–163. 33 Paul Tillich, Protestantische Gestaltung, in: ders., Auf der Grenze. Eine Auswahl aus dem Lebenswerk, München 1987, S. (89–109) 97.

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talidealistischen Bedingungs- und Grenz­reflexion (siehe These 2) verständlich gemacht werden. Zur Illustrierung der genannten drei Thesen kann schließlich mit Rudolf Bultmann ein weiterer Protagonist liberaler Theologie im 20. Jahrhundert herangezogen werden. Bultmann ist insofern positiv hervorzuheben, als er nicht nur das naturwissenschaft­ liche Erkenntnisbemühen, sondern auch den Weltbildanspruch der Realwissenschaften vorbehaltlos anerkennt.34 Dennoch postuliert auch Bultmann Wirklichkeitsbereiche, die ‚ver­objektivierendem Denken‘ angeblich nicht zugänglich sind: „[D]ie Welt, die der Glaube erfassen will, [wird] mit der Hilfe der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt nicht erfaßbar […].“35 Dem entspricht bei Bultmann die These der ‚Nicht­ verobjektivierbarkeit Gottes‘, wie sie etwa in der Reflexion über die ­Paradoxie des ‚Redens über Gott‘ pointiert zum Ausdruck kommt36.

2. Die Aporien der antinaturalistischen Denkformen und die Plausibilität des Naturalismus Neben den bereits einleitend angedeuteten grundsätzlichen Problemen krankt die theologische Auseinandersetzung mit dem ‚neuen Atheismus‘ daran, dass sie vorwiegend an den tendenziell populär verein­ fachenden und polemisch zuspitzenden Publikationen der bekannten Protagonisten wie Dawkins, Hitchens, Harris, Onfray37 etc. an34 „[A]ll unser Denken“, so Bultmann, ist heute „unwiderruflich durch die Wissenschaft geformt.“ Den Versuch, dieses Weltbild zu hinterfragen, wertet Bultmann als „Aberglaube […] labile[r] Existenzen“, die „unter der Herrschaft von Schlagworten eine antiwissenschaftliche Stimmung“ verbreiten, ohne zu berücksichtigen, „in welchem Weltbild die Menschen faktisch leben“ (Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Pro­blem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung [1941], hg. v. Eberhard Jüngel, München 31988, S. 15 u. 16, Anm. 15). 35 Rudolf Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung (1924), in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 81980, S. (1–25) 4. Vgl. ders., Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925), in: a.a.O., S. (26–37) 26 f.: „Man kann über Gott sinnvoll so wenig reden wie man über Liebe reden kann. […] Also eine Psychologie der Liebe würde jedenfalls von allem anderen reden als von Liebe.“ 36 R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (s. Anm. 35). 37 Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 82007; Christopher Hitchens, Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet, München 2007; Sam Harris, Das Ende des Glaubens. Religion, Terror und das Licht der Vernunft, Winterthur 2007; Michel Onfray, Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muss, München 2007.

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setzt. Viel fruchtbarer wäre eine Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden wissenschaftstheoretischen, erkenntnistheoretischen und ­naturphilosophischen Überzeugungen, die weniger von den populären Protagonisten des ‚neuen Atheismus‘ selbst, sondern vielmehr von Fachphilosophen im Hintergrund entwickelt und bereitgestellt werden. Zu nennen sind etwa der Popperschüler und Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus in Deutschland, Hans Albert, der Kosmologe und Wissenschaftstheoretiker Bernulf Kanitscheider, der Biophilosoph und Mitverfasser einer materialistischen Metaphysik, Martin Mahner, der Wissenschaftstheoretiker und Mitbegründer der ‚evolutionären Erkenntnistheorie‘, Gerhard Vollmer, der Soziobiologe Eckhart Voland, der Marquard-Schüler und Vordenker eines ‚Hermeneutischen Naturalismus‘, Franz Josef Wetz, sowie Thomas ­Metzinger, prominenter Vertreter der modernen Philosophie des Geistes. Alle genannten Personen sitzen im Beirat der ‚neuatheistischen‘ Giordano-Bruno-Stiftung38. Betrachtet man die Denkvoraussetzungen der oben Genannten genauer, so ist besonders die Abkehr vom transzendentalphilosophischen und idealistischen Wissenschaftsverständnis hervorzuheben, welche insbesondere durch die Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus erfolgt ist. Im Folgenden sollen deshalb die antinaturalistischen Implikationen der oben beschriebenen drei Grundthesen transzendentalphilosophischen und idealistischen Denkens aus kritisch-rationaler Perspektive einer Kritik unterzogen werden. 2.1 Zu These 1 (Phänomenalismus und Antirealismus)

Der Kritische Rationalismus überwindet das der Philosophie Kants zugrunde liegende phänomenalistische bzw. empiristische Wissenschaftsverständnis dadurch, dass er Wissenschaft als hypothetisch-deduktives Verfahren versteht39. Wissenschaft geht danach nicht von ‚Sinnesdaten‘ aus, die induktiv verallgemeinert bzw. ‚auf Begriffe‘ gebracht 38 Art. Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung, URL: [4.12.2015]. 39 Dazu und zum Folgenden vgl. Karl R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 101994, Kap. I–V.

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werden, sondern beginnt mit allgemeinen Hypothesen, aus denen prüfbare Folgerungen deduziert werden können. Die Prüfung erfolgt nicht ‚an der Sinneserfahrung‘, sondern an singulären Basissätzen, die sich im Lichte der Theorie aus der Erfahrung ergeben und an denen die jeweilige ­Hypothese geprüft, d. h. bestätigt oder falsifiziert, nie jedoch verifiziert bzw. ‚bewiesen‘ werden kann. Hinzu kommen weitere nicht-empirische, d. h. rationale, Prüfungskriterien, wie interne und externe Konsistenz, Erklärungswert etc.40 Kants Lehre von den zwei Stämmen der Erkenntnis ist damit ebenso obsolet wie sein empiristischer Erfahrungsbegriff, sofern der Schwerpunkt wissenschaftlichen Denkens auf der kreativen Entwicklung von Erklärungshypothesen und ihrer argumentativen Überprüfung liegt. Es ist deshalb irreführend, den Kritischen Rationalismus als eine Variante des ‚Positivismus‘ bzw. des logischen Empirismus einzustufen. Vor allem impliziert der Kritische Rationalismus eine radikale Abwendung vom Begründungsdenken41, welches im Empirismus Humes zum Induktionsproblem führt42 und welches ein Haupt­ motiv für Kants ‚kopernikanische Wende‘ hin zu einem antirealistischen Wissenschaftsverständnis ist.43 Das bedeutet jedoch keinen „relativistische[n] Skeptizismus“44, vielmehr eröffnet der Kritische Rationalismus mit seiner Abkehr vom Begründungsdenken unter Beibehaltung des rationalen Prinzips der Kritik einen dritten Weg zwischen Skeptizismus und Dogmatismus45. Denn die Entkopplung rationaler 40 Gerhard Vollmer, Wissenschaftstheorie im Einsatz. Beiträge zu einer selbstkritischen Wissenschaftsphilosophie, Stuttgart 1993, S. 20 f. 41 Vgl. dazu Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 41980, Kap. I u. II. 42 Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf [1972], Hamburg 1993, Kap. 1. 43 Kants begründungstheoretische Intention ist es bekanntlich, der Physik „den sicheren Gang einer Wissenschaft“ zurückzugeben (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft [s. Anm. 26], B XII–XIV; vgl. U. Barth, Religion in der Moderne [s. Anm. 2], S. 417). Vgl. dazu auch Hans Albert, Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Per­spektive, Tübingen 1987, Kap. I u. II. Für das Begründungsdenken ­typisch ist auch die Frage, wie „die Anwendung von Mathematik auf Erfahrung […] erkenntnistheoretisch überhaupt möglich“ ist (U. Barth, Religion in der Moderne ­ [s. Anm. 2], S. 415) – eine Frage, die die projektierte Antwort, nämlich die problematische Unterscheidung von empirischem Realismus und transzendentalem Idealismus bereits vorauszusetzen scheint. 44 So die von U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 435, vorgenommene Einstufung der Methode von Hypothesenbildung und Bewährung. 45 Vgl. dazu William W. Bartley (III), Flucht ins Engagement (Übersetzung nach der 2. Aufl. 1984), Tübingen 1987, Kap. IV–V.

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Wahrheitssuche vom Streben nach sicherer Erkenntnis, d. h. der Wechsel vom Begründungsdenken hin zu einer fallibilistischen Methodologie kritischer Prüfung führt zu einer Wiedergewinnung der realistischen Perspektive in den Wissenschaften, d. h. zu einem ‚kritischen Realismus‘, „der bereit ist, die Ergebnisse der Wissenschaften […] als Resultate von Versuchen echter Erkenntnis der Wirklichkeit und damit als Bausteine unseres Weltbildes aufzufassen“.46 Mit der Wiedergewinnung des wissenschaftlichen Realismus kommt natürlich die transzendentalphilosophische Strategie in Bedrängnis, Gott epistemisch „im Rücken jenes Bewußtseins“47 zu verorten, von dem her sich die realwissenschaftliche Gegenstandswelt als ‚bloße Konstruktion‘ „aufbaut“, d. h. entweder im noumenalen Bereich der ‚Dinge-an-sich‘ wie bei Kant oder „als innerer Grund von Subjektivität“ wie im deutschen Idealismus. Selten wird bedacht, dass im Rahmen kritisch-rationaler Methodologie auch Kants These vom ideellen Charakter wissenschaftlicher Einheitsfunktion hinfällig wird48. Keinesfalls können die Realwissenschaften auf ein beziehungsloses Nebeneinander von Einzel- und Spezialergebnissen festgelegt werden. Denn das Streben nach einer Einheitsperspektive, nach einem letzten Gesetz, auf das sich alle anderen Gesetze mit Hilfe von Randbedingungen zurückführen lassen, ergibt sich aus der hypothetisch-deduktiven Methode49. Auch wenn die Vision einer auf strenger ‚methodologischer Reduktion‘ basierenden Einheitswissenschaft allein aufgrund des emergenten Charakters der verschiedenen realwissenschaftlichen Beschreibungsebenen nicht reali­ sierbar 50 ist , so illustrieren doch die zunehmende Interdisziplinarität, der Erfolg und die Verbreitung reduktionistischer Erklärungsansätze, sowie die physikalisch-kosmologische Suche nach einer ‚All Unifying T ­ heory‘

46 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), S. 219 f. 47 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 417. Dort finden sich auch die Folgezitate. 48 Zur idealistischen Weiterentwicklung dieser Einheitsperspektive bei Fichte und Schleiermacher vgl. U. Barth, a.a.O., S. 418. 49 Gerhard Vollmer, Was können wir wissen?, Bd. 2: Die Erkennt­n is der Natur, Stuttgart 1988, S. 168. 174; vgl. Martin Schmuck, Peirces ‚Religion of Science‘. Studien zu den Grundlagen einer naturalistischen Theologie (RPT 79), Tübingen 2015, S. 355 f. 50 Andreas Bartels, Grundprobleme der modernen Naturphilosophie, Paderborn 1996, S. 108 f. Vgl. G. Vollmer, Was können wir wissen?, Bd. 2 (s. Anm. 49), S. 168–177.

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(AUT) bzw. einer ‚Theory Of Everything‘ (TOE)51, dass die Einheitsperspektive nicht nur eine transzendentale Idee, sondern auch ein empirisches Forschungsprogramm darstellt, das sich aus der Methodologie der Realwissenschaften selbst ergibt.52 2.2 Zu These 2 (Bedingungs- und Grenzreflexion)

Weit verbreitet ist die durch Kant etablierte Annahme, mit dem Scheitern aller Gottesbeweise sei zugleich die Begrenztheit empirischer ­Vernunft erwiesen. Daraus wird der Schluss gezogen, die Gottesfrage sei theoretisch unentscheidbar, es läge also eine ‚Patt-Situation‘ vor, die dem Glauben bzw. transzendentaler Bedingungsre­flexion einen neuen Freiraum eröffne. Dies ist jedoch mit der kritisch-rationalen Wissenschaftsauffassung nicht vereinbar: Erstens bedeutet die kritisch-rationale Einsicht in den durchgehend theoretischen Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis in letzter Konsequenz die Abkehr von allen Versuchen eines allgemeinen Kriteriums der Abgrenzung von empirischer Wissenschaft und Metaphysik. Popper hat die Ansprüche des logischen Empirismus zurückgewiesen, ein ‚Sinnkriterium‘ zu formulieren, welches analog zum kantischen Wissenschaftsverständnis wissenschaftliche von metaphysischen Sätzen strikt zu unterscheiden erlaubt53. Während Popper ursprünglich noch an der Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium festhält54, erweitert spätestens Albert das Abgrenzungskriterium zum allgemeinen Kriterium der Kritisierbarkeit55. Damit sind sowohl metaphysische als auch ethische 51 Dan Kurth, Von der Prägeometrie zur Topologischen Komplexität, in: Walter Saltzer / Peter Eisenhardt u. a. (Hg.), Die Erfindung des Universums? Neue Überlegungen zur philosophischen Kosmologie, Frankfurt a.M. / Leipzig 1997, S. 247–293. 52 Gerhard Vollmer, Gretchenfragen an den Naturalisten, Aschaffenburg 2013, S. 52: „Im Grunde sind alle Naturwissenschaftler Programmreduktionisten: Sie versuchen, die Eigenschaften eines Gesamtsystems aus den Eigenschaften der Teilsysteme und ihrer ­Beziehungen zu erklären.“ 53 K. R. Popper, Logik der Forschung (s. Anm. 39), S. 9–14. 54 A.a.O., S. 14 ff. 55 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), Kap. II. Vgl. aber auch K. R. Popper, Logik der Forschung (s. Anm. 39), S. 254: „Später […] habe ich dann mein Abgrenzungskriterium erweitert zum Kriterium der Kritisierbarkeit: die empirischen Sätze oder Satzsysteme sind dann die, die durch Tatsachenberichte kritisierbar, also empirisch widerlegbar sind.“ Vgl. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), S. 40, Anm. 9.

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Aussagen als wissenschaftliche Aussagen prinzipiell zugelassen, ihre Gültigkeit entscheidet sich daran, ob sie kritisierbar sind und eine kritische, argumentative Prüfung bestehen56. Es ist daher ein Missverständnis, den Kritischen Rationalismus als metaphysikfeindlich einzustufen. Gerade diese Ausweitung der Reich­weite der Kritik führt jedoch dazu, dass die Annahme einer Grenze bzw. Selbstbegrenzung wissenschaftlicher Vernunft im kantischen oder empiristischen Sinne unplausibel wird. Kritische Rationalität ist grenzenlos,57 sie erhebt einen universellen Anspruch und bringt somit gegen die transzendentalphilosophische Kritik und den darauf aufbauenden Idealismus den ursprünglichen aufgeklärten, ‚starken‘ Vernunftbegriff wieder zur Geltung. Entsprechend bedeutet die eventuelle argumentative Nichtausweisbarkeit des Gottesgedankens automatisch dessen (vorläufiges) Scheitern und keine Krise der theoretischen Vernunft, keine ‚Patt-Situation‘. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Asymme­trie in der Beweislastverteilung: „Der Transzendenz-Skeptiker nimmt […] eine abwartende Haltung ein: er wartet, bis der Verteidiger einer außerweltlichen Ontologie seine guten Gründe vorbringt. Der Skeptiker ist dabei nicht gezwungen, Gründe für die Nichtexistenz der in Frage stehenden Seinsbereiche zu bringen. Solange es dem Verteidiger einer supranaturalen Einbettung des Kosmos nicht gelingt, einsichtige Gründe für diese ontologische Erweiterung zu bringen, wird sich der Skeptiker nicht überzeugen lassen.“58

Zweitens führt der im Kritischen Rationalismus wiedergewonnene Realismus dazu, dass eine transzendentalphilosophische oder idealistische Reflexion auf eine an sich seiende Wirklichkeit ‚hinter‘ den Realwissen56 K. R. Popper, Logik der Forschung (s. Anm. 39), S. 159, Anm. *2: „[…] manche metaphysischen Theorien [sind] rational vertretbar und trotz ihrer Unwiderlegbarkeit kritisierbar […].“ 57 Es kann gezeigt werden, dass der ‚Pankritische Rationalismus‘ selbstanwendbar ist und daher den universellen Anspruch auf Kritisierbarkeit aufrechterhalten kann. Vgl. dazu G. Vollmer, Wissenschaftstheorie im Einsatz (s. Anm. 40), S. 5–9. 141–160; W. W. Bartley, Flucht ins Engagement (s. Anm. 45), Kap. 5, Anhänge 4 u. 5. 58 Bernulf Kanitscheider, Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele. Grundzüge einer naturalistischen Philosophie und Ethik, in: Katholische Akademie in Bayern (Hg.), Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 1, 33– 34, 2003: URL: [2.1.2012], S. 2.

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schaften unplausibel wird59. Vielmehr haben wir Erkennt­nis von ‚Dingen an sich‘60. Zwar spielt bei Popper durch den fallibilistischen Vorbehalt allem ‚Vermutungswissen‘ gegenüber der Gedanke der Wahrheit als regulativer Idee eine Rolle61. Der kritische Realismus ist jedoch wie angedeutet darauf festgelegt, das für wirklich zu halten, was Gegenstand der momentan am besten bestätigten Hypothesen bzw. Theorien ist. Da zudem die Annahme einer Grenze theoretischer Vernunft wegfällt, wird auch die Konstruktion von ‚Grenzbegriffen‘ des Erkennbaren bzw. Unerkennbaren überflüssig. Dann ist die „Grenzreflexion“ auf das Unbegreifliche oder ‚Andere der Vernunft‘ eben kein „unvermeidliche[s] Denkproblem“62 mehr, sondern stellt vielmehr eine paradoxe Begriffsbestimmung dar, die der kritischen Prüfung von vornherein nicht standhalten kann: „Das Liebäugeln mit dem Skandalon, dem Paradoxon, der Antinomie als einem Positivum, das man bei Theologen verschiedenster Richtungen findet, zeigt meist in concreto an, wo sie mit ihrem Denken ins Gleiten geraten.“63

59 Vgl. Mario Bunge / Martin Mahner, Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft, Stuttgart 2004, S. 93 f. 60 Charles Sanders Peirce, Lowell-Lectures: What is Chance?, 1903, CP [= Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Volumes I–VI, hg. v. Charles Hartshorne u. Paul Weiss, Cambridge (Mass.) 1931–1935; Volumes VII+VIII, hg. v. Arthur W. Burks, Cambridge (Mass.) 1958. Electronic edition: Past Masters, Folio VIP electronic publishing, hg v. John Deely, 1994. (Zitierung in der üblichen Weise der Dezimalklassifikation nach Bandnummer und Nummer der Paragraphen- bzw. Absatzeinteilung)], 6.95: „Wir haben direkte Erfahrung von Dingen-an-sich.“ Vgl. C. S. Peirce, Some Consequences of Four Incapacities, 1868, CP, 5.311: „Es [das Ding-an-sich; M.S.] existiert als solches nicht. D. h. es gibt kein Ding, das in dem Sinne an-sich wäre, dass es nicht in Bezug auf den Verstand steht, obwohl die Dinge, die in Bezug auf den Verstand stehen, zweifellos, auch wenn man von dieser Relation absieht, existieren.“ Ähnlich dürften im Ergebnis auch M. Bunge/ M. Mahner, Über die Natur der Dinge (s. Anm. 59), S. 93 f., zu verstehen sein. Die realistische, korrespondenztheoretische Erkenntnistheorie der beiden Autoren wird deutlich in a.a.O., S. 211 f. Vgl. auch Hans Albert, Kritizismus und Naturalismus, in: ders., Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart 1984, S. 41. 61 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), S. 276 f. 62 Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin 2009, S. 328. 63 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), S. 136, Anm. 27. Ähnlich Nietzsches Kritik an der Metaphysik des Unerkennbaren: „[…] wer dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnisvollen an sich, das Fragezeichen selbst jetzt als Gott anbeten? […] Gesetzt dass alles, was der Mensch ‚erkennt‘, seinen Wünschen nicht genugtut, ihnen vielmehr widerspricht und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die Schuld davon nicht im ‚Wünschen‘,

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Drittens ist für das Wissenschaftsverständnis des Kritischen Rationalismus eine scharfe Unterscheidung zwischen der ‚Logik der Forschung‘ einerseits und ihrer Ermöglichungsbedingungen andererseits charakteristisch. Ersteres führt in einer ‚Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt‘ zu ‚objektiver Erkenntnis‘64, die entsprechend ganz abgelöst von ihren subjektiven Entstehungsbedingungen betrachtet werden muss. Methodologische Entscheidungen innerhalb der ‚Logik der Forschung‘ können daher nicht im Rekurs auf Subjektivität begründet werden. Beispielsweise gilt für die Auswahl von Basissätzen als Prüfungsinstanz: „[S]o ist es sicher richtig, daß der Beschluß, einen Basissatz anzuerkennen, […] mit Erlebnissen zusammenhängt – etwa mit Wahrnehmungserlebnissen; aber der Basissatz wird durch diese Erlebnisse nicht begründet; Erlebnisse können Entschlüsse, also auch Festsetzungen motivieren [vielleicht sogar entscheidend]; aber sie können einen Basissatz ebenso wenig begründen wie ein Faustschlag auf den Tisch.“65

Der Kritische Rationalismus leugnet dabei nicht, dass Wahrnehmung, Erfahrung, Glaube, metaphysische Überzeugungen als Voraussetzungen wissenschaftlicher Theoriebildung anzusehen sind. Ihnen wird ­jedoch lediglich eine heuristische Funktion zugeschrieben. Eine (Letzt-) Be­gründung durch Reflexion auf die Ermöglichungsbedingungen der Logik der Forschung ist im Kritischen Rationalismus nicht nötig; entsprechend kann auch keine transzendentale Erkenntnis ‚hinter‘ der objek­tiven Erkenntnis der Realwissenschaften ins Feld geführt werden. So liegt der wissenschaftlichen Suche nach einer TOE höchstwahrscheinlich eine vorwissenschaftliche Intuition der Einheit der Wirklichkeit zugrunde. Diese ‚regulative Idee‘ hat ihre Funktion jedoch nicht an einer Grenze empirischer Erkenntnis, da sie in der gegebenfalls gefundenen TOE ihre innerwissenschaftliche Entsprechung hat. sondern im ‚Erkennen‘ suchen zu dürfen! […] ‚Es gibt kein Erkennen: folglich – gibt es einen Gott‘: welche neue elegantia syllogismi! […]“ (F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral [s. Anm. 27], S. 894). 64 Zur Erläuterung dieser Begriffe vgl. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), vor allem Kap. 3. 65 K. R. Popper, Logik der Forschung (s. Anm. 39), S. 71; Hervorhebungen und Einschübe vom Autor.

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In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass aus Sicht des Kritischen Rationalismus Erfahrung, Intuition und Instrospektion grundsätzlich als direkte ‚Erkenntnisquellen‘ ausfallen. Hans Albert erläutert das dem Rekurs auf solche ‚Erkenntnisquellen‘66 zugrunde liegende ‚Offenbarungsmodell der Erkenntnis‘67 folgendermaßen: „Wenn das rationale Denken an letzte Gegebenheiten anknüpfen kann, die ihm durch eine Offenbarung irgendwelcher Art vermittelt werden, dann scheint der Rekurs auf sichere Gründe … geglückt zu sein, ohne daß mensch­liche Willkür im Spiel ist.“68

Dieses Erkenntnismodell ist mit dem Problem der Differenz von Genese und Geltung konfrontiert. So kann beispielsweise eine Interpre­ tation69 von Erfahrung nicht schon dadurch als gerechtfertigt bzw. zureichend begründet angesehen werden, dass sie sich aus Erfahrung ergeben hat bzw. von Erfahrungen herrührt. Entscheidend ist in jedem Fall die Frage, ob die resultierende Interpretation bzw. Hypothese kritischer Prüfung standhält. Daher ist beispielsweise das Verfahren von Rudolf Otto, aus einer (phänomenologischen) Analyse religiöser Erfahrung die Annahme ‚des Heiligen‘, ‚des Irrationalen‘, ‚des Unsag­ baren‘ als einer Wirklichkeit sui generis70, die keiner weiteren Rechtfertigung mehr bedarf, abzuleiten, als höchst problematisch anzusehen. Dabei liegt das Problem noch nicht einmal in dem Unterfangen einer phänomenologischen Analyse der Erfahrung als solcher, sondern im Fehlen einer kritischen Überprüfung ihrer Ergebnisse im Horizont unseres sonstigen Weltwissens. Dem entspricht, dass Otto ganz im Sinne des kritisierten ‚Of­ fenbarungsmodells der Erkenntnis‘ davon 66 Kritisch dazu Karl R. Popper, Von den Quellen unseres Wissens und unserer Unwissenheit (1963), in: ders., Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Tübingen 2000, S. 2–44. 67 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), S. 18. Es besteht „in der Lehre […], daß die Wahrheit offenbar ist, daß sie offen zutage liegt, und daß man nur die ‚Augen‘ aufzumachen braucht, um sie zu ‚schauen‘.“ 68 A.a.O., S. 19. 69 Ebd. 70 Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München 1987, S. 5: „Sie [sc. die Kategorie des Heiligen] hat als solche ein völlig artbesonderes Moment in sich, das sich dem Rationalen […] entzieht und das ein arrēton, ein ineffabile ist sofern es begrifflicher Erfassung völlig unzugänglich ist.“

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ausgeht, „daß wir im un­ mit­ tel­ baren Erleben Wahrheit und guten 71 Grund der Gewißheit besitzen“ . 2.3 Zu These 3 (Immaterialismus und Idealismus)

Der liberale Protestantismus hält sich – insbesondere im Blick auf den „römisch-katholischen ‚Notstand‘ in der Schöpfungskatechese“72 – viel darauf zugute, vom Glauben her keine Erkenntnisansprüche zu formulieren, die mit moderner Kosmologie und Evolutionstheorie im Konflikt stehen.73 Dies ist jedoch höchstens die halbe Wahrheit, denn in ­anderer Hinsicht ist auch der Neuprotestantismus nach wie vor nicht bereit, dem Naturalismus der Naturwissenschaften Rechnung zu tragen. Der systematische Theologe Ulrich Barth weist darauf hin, dass mit der theologischen Preisgabe der Kosmologie keineswegs „eine Bereinigung sämtlicher Streitpunkte zwischen Theologie und Natur­ wissenschaft“74 stattgefunden habe: „So hat sich anscheinend die Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaft nur verlagert, nämlich von der Kosmologie auf die moderne Evolutionstheorie und Neurowissenschaft.“

Diese Verlagerung stellt aber auch die scheinbar erreichte Beilegung des Konflikts auf dem Feld der Kosmologie in Frage – etwa dann, wenn der reduktionistische Zusammenhang der Komplexitätsebenen physika­ lischer, chemischer und biologischer Art bestritten wird, so dass erneut idealistische bzw. vitalistische Faktoren (Holismus, ‚Finalität und Selbstbezüglichkeit‘75, ‚organisierende Kraft‘76) zur Erklärung der emergenten Komplexitätsebenen der Natur bemüht werden – bis hin zum 71 R. Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht (s. Anm. 30), S. 226. 72 So das gleichlautende Kapitel in Friedrich Wilhelm Graf, Götter Global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2014, S. 191–194. 73 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 426: „Der aus der Aufklärung hervorgegangene kritische Neuprotestantismus beseitigt sämtliche Substitutions- und Konfliktmöglichkeiten zwischen Theologie und Physik durch die strikte Unterscheidung von wissenschaftlicher Erklärung und religiöser Sinndeutung. Der Gang geht also von der Integration über die Synthese zur Perspektivendifferenz.“ 74 Ebd. Dort findet sich auch das Folgezitat. 75 A.a.O., S. 439. 76 A.a.O., S. 440, spricht mit Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ von einer ‚bildenden Kraft‘ der Lebewesen im Unterschied von der bloß ‚bewegenden Kraft‘ einer Maschine.

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Rekurs auf einen immaterialistischen Informationsbegriff77, der der Argumentation des Intelligent Design gefährlich nahekommt78. Die ­ Anerkennung von ‚Hierarchien strukturaler und funktionaler Komplexität‘79 ist eben doch stärker als von Barth zugestanden mit der Anerkennung eines ontologischen Reduktionismus verbunden80, wonach „den Lebewesen keine anderen elementaren Substrate und keine anderen elementaren Wechselwirkungen zugrun­de liegen als den Prozessen der unbelebten Natur“81. Denn postulierte man für das Zustandekommen biologischer Strukturen zusätzliche nichtphysikalische Faktoren, dann wäre eben gerade die „höchst plausible […] Gültigkeit der Physik […] im Bereich der Molekularbiologie“82 nicht mehr ge­geben83. Nun will Barth trotz des Hinweises auf ein „ideelles Moment“84 in den naturwissenschaftlichen Gegenständen gar nicht darauf hinaus, „den Sachverhalt Geist […] im Objektbereich der Naturwissenschaft zu suchen“85. Er beschreitet vielmehr mit Kant den für den Neuprotestan77 A.a.O., S. 444. Zum informationstheoretischen Idealismus vgl. M. Bunge / M. Mahner, Über die Natur der Dinge (s. Anm. 59), S. 36 ff. Zur grundsätzlichen Problematik idealistischer Ausdeutungen naturwissenschaftlicher Konzepte vgl. Manfred Stöckler, Strukturgesetze und materiale Gesetze, in: PhN 37 (2000), S. (287–302) 297: „Materie kann nicht allein aus Strukturen zusammengesetzt sein. Es gibt keine Strukturen ohne Material.“ 78 Vgl. das von William Dembski postulierte ‚Gesetz von der Erhaltung der Information‘. Vgl. dazu Barbara Drossel / Gunter Schütz, Intelligent Design: Kann man Gottes Handeln wissenschaftlich fassen?, in: Evangelium und Wissenschaft, Jg. 28 (2007), H. 1, S. (2–23) 5 f.; abgedruckt in: Matthias Roser, Gott vs. Darwin. Umfassende Materialien zur Kontroverse „Evolution und Schöpfung“, Donauwörth 2009, S. 66. 79 B. Kanitscheider, Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele (s. Anm. 58), 1. 80 Gegen U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 444. 81 A. Bartels, Grundprobleme der modernen Naturphilosophie (s. Anm. 50), S. 107. 82 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 444. 83 Vgl. dazu Michael Esfeld, Einführung in die Naturphilosophie, Darmstadt 2002, S. 102; dort findet sich auch das Folgezitat: „Wenn die Gesetzesaussagen der Beschreibung auf der höheren, spezielleren Ebene eine Lücke füllen würden, welche die Beschreibung in den Gesetzesaussagen der Atomphysik ergänzt, dann wäre folgendes der Fall: Einige Bewegungen von Atomen wären in einer weitergehenden Weise gesetzmäßig determiniert, als es die Theorie der Atome zulässt – nämlich die Bewegungen, in denen die ­betreffenden Veränderungen makroskopischer Systeme bestehen. Das jedoch heißt: Die betreffende Theorie der Atome ist falsch.“ 84 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 444. 85 Im Rahmen der Erkenntnistheorie Kants ist dieser Weg durch die Unterscheidung zwischen empirischer Gegenstandswelt und der noumenalen Welt des Ding-an-sich verbaut. Jedenfalls kann man nicht den transzendentalphilosophisch erschlossenen Geist als Ermöglichung der evolutionären Dynamik postulieren, wenn diese Dynamik Gegenstand

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tismus charakteristischen subjektivitätstheoretischen Weg, ‚den Sachverhalt Geist‘ „gleichsam im Rücken“ der „epistemischen Zugangsweise“ der Naturwissenschaften, „nämlich am Ort des Erkennt­nis ermöglichenden Bewußtseins“ zu suchen86. Dabei ist ihm klar, dass Geist nicht im Sinne eines ontologischen Dualismus von ‚Ich und Gehirn‘ mit Interaktionen im Rahmen der quantenmechanischen Unschärfe plausibel gemacht werden kann, wie ihn der Neurophysiologe John C. Eccles noch vertreten hat87. Barths auf Geist und Selbstbewusstsein rekurrierender transzendentalphilosophischer Ansatz verlangt eine eingehendere Auseinandersetzung mit der von Konrad Lorenz initiierten evolutionären Erkenntnistheorie, die auf solche transzendentalphilosophische Setzungen dezidiert verzichtet. Barth propagiert dabei mit Recht eine strenge Unterscheidung zwischen normativer, geltungsbezogener und deskriptiver Erkenntnistheorie88. Es ist ihm auch zuzugestehen, dass die von Lorenz entwickelten Einlassungen in erkenntnistheoretischer Hinsicht problematisch sind. Beispielsweise kann man nicht die von informa­ tionsverarbeitenden Systemen erfasste ‚Umwelt‘ zu einem streng subjekt­ unabhängigen ‚Ding-an-sich‘ bzw. ‚Absoluten‘ hypostasieren, da auf diese Weise der dabei vorausgesetzten Möglichkeit biologischer Erkenntnis selbst jede Grundlage entzogen wird89.

einer empirisch-naturwissenschaftlichen Theorie ist. Dieser Problematik entgeht man auch nicht dadurch, dass man ähnlich wie Schelling den transzendental oder spekulativ erschlossenen Geist selbst evolutionistisch versteht. Seine Attraktivität verdankt ein ­solcher ‚evolutionärer‘ Geistbegriff in hohem Maße einer ungenauen und suggestiven Verwendung des Begriffs ‚Evolution‘, der eine Anschlussfähigkeit metaphysischer Konzepte an physikalische Kosmologie und Neodarwinismus vorgibt, die bei genauerer Betrachtung gar nicht gegeben ist. 86 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), 444f. 87 A.a.O., S. 445 f. Vgl. Karl R. Popper / John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München / Zürich 51996. 88 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 433 ff. Diese Unterscheidung zwischen Genese und Geltung ist Vertretern der evolutionären Erkenntnistheorie durchaus bewusst. Vgl. Thomas Sukopp, Naturalismus. Kritik und Verteidigung erkenntnistheoretischer Positionen, Heusen­stamm 2006, S. 276 f., gegen Willard Van Orman Quines ‚naturalisierte‘ Erkenntnistheorie. Vgl. auch Gerhard Vollmer, Was können wir wissen?, Bd. 1: Die Natur der Erkenntnis, Stuttgart 1985, S. 170. 89 Konrad Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, in: ders. / Franz M. Wuketits (Hg.), Die Evolution des Denkens. 12 Beiträge, München / Zürich 21984, S. (95–124) 97 ff.

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In dreierlei Hinsicht ist jedoch die Vorstellung einer einfachen Dichotomie zwischen (normativer) Erkenntnistheorie und deskriptiv-empirischer Theorie der Erkenntnis zu relativieren: Erstens enthält jede Erkenntnistheorie auch deskriptive Elemente, wenn beispielsweise von Subjekt und Objekt, von Erkenntniskonstruktion, von zwei Stämmen der Erkenntnis oder von Projektion die Rede ist, so dass empirische Fakten erkenntnistheoretisch relevant sein können90. Zweitens handelt es sich bei der Anwendung empirischen Wissens auf Fragen der Erkenntnis nicht um einen vitiösen Zirkel, wie immer wieder behauptet wird, sondern schlicht um die Selbstanwendung der Erkenntnis auf sich selbst, d. h. um einen virtuosen Zirkel, dem im Grunde keine Erkenntnistheorie entgehen kann91. Auch liegt kein Dogmatismus empirischer Erkenntnisse vor, wenn das Begründungsdenken durch das Verfahren kritischer Prüfung ersetzt worden ist, so dass wissenschaftliche Erkenntnis, die bei der Erklärung von Erkenntnis zur Anwendung kommt, lediglich den Status falliblen Vermutungswissens innehat92. 90 H. Albert, Kritik der reinen Erkenntnislehre (s. Anm. 43), S. 51: „[Oswald] Külpe hat darauf aufmerksam gemacht, daß Kant […] eine pro­blematische Voraussetzung gemacht hat, […] nämlich die, daß nichtanschauliche Denkobjekte unmöglich sind, daß also ‚das Denken nur Anschauliches‘ in den Formen des Verstandes zu erfassen vermag. Er selbst hat diese These ausdrücklich bestritten und zwar unter Heranziehung denkpsychologischer Untersuchungen, aus denen hervorgeht, daß man das Denken von Empfindungen und Vorstellungen durch die ‚Unanschaulichkeit der Vergegenwärtigung‘ und durch das ‚Bezogensein auf Gegenstände‘ unterscheiden kann.“ Albert zitiert hier Oswald Külpe, Immanuel Kant. Darstellung und Würdigung, Leipzig 21908, S. 41. 69, sowie ders., Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften, Bd. 1, Leipzig 1912, S. 137 ff. Zur nicht-begründungstheoretischen, realistischen Interpretation Kants bei Popper und Albert vgl. H. Albert, Kritizismus und Naturalismus (s. Anm. 60), S. 40 f. 91 Daher handelt es sich um eine voreilige Schlussfolgerung, wenn U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 437, urteilt: „Der Wechselwirkungsprozeß der Anpassung, aus dem die einzelnen Realitätsmuster der verschiedenen Arten hervorgehen sollen, setzt […] die Objektivität der Außenwelt immer schon voraus, könnte sie also auch niemals erklären.“ Vgl. auch die Folgepassage. 92 Deshalb zeugt es von Unkenntnis der kritisch-rationalen Wende in der Wissenschafts­ methodologie, wenn U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 437, an der evolutionären Erkenntnistheorie kritisiert, „daß ihr das Problem der Objektivität der Erfahrungswelt, aus der sie via Anpassung die Weltbildapparatur […] hervorgehen lässt, selbst nirgends zum Thema wird.“ Die Objektivität der zur Erklärung von Erkenntnis verwendeten realwissenschaftlichen Erkenntnis wird aber nicht unreflektiert gesetzt (wie Barth unterstellt), sondern kann angenommen werden aufgrund der bereits erfolgten kritischen Prüfung, aufgrund des erfolgreichen Bestehens dieser kritischen Prüfung (Bewährung), sowie aufgrund des Verzichts auf absolute Sicherheit bzw. Einräumung eines fallibilistischen Vorbehaltes.

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Drittens müssen die postulierten Erkenntnisprinzipien empirisch realisierbar sein (daran scheitert beispielsweise das phänomenologische Projekt einer vorurteilsfreien Wesensschau)93: „Durch Fakten kann man eben nicht nur zeigen, daß faktische Behauptungen falsch, sondern auch, daß Normen unanwendbar sind.“94 Problematisch an den Überlegungen von Lorenz ist somit nicht der Rückbezug erkenntnistheoretischer Überlegungen auf empirische Erkenntnisse über Erkenntnisprozesse, sondern allein das dabei zur Anwendung kommende erkenntnistheoretische Theoriedesign, welches auf die Relativierung menschlicher Konstitutionsleistungen bei der Erkenntnis und auf eine radikal erkenntnisunabhängige Wirklichkeit abhebt95 – im Übrigen beides erkenntnistheoretische Annahmen, die sich bereits empirisch kritisieren lassen. Dieser Befund ist wichtig, weil bezeichnenderweise die transzendentale Erkenntnistheorie ihrerseits dazu neigt, im ganz unvermeidlichen Rekurs auf deskriptive Aspekte wie Subjektivität etc. ebendiese Aspekte als nichtempirische Wirklichkeiten zu behandeln. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn aus dem erkenntnistheoretischen Umstand, dass sich realwissenschaftliche Erkenntnis der Syntheseleistung des mit Begriffen operierenden Verstandes verdankt, der Schluss gezogen wird, es trete „ein ideelles Moment in den erkannten Gegenstand“96. Wenn die Ontologisierung erkenntnistheoretischer Bestimmungen also offenbar gar nicht vermieden werden kann, dann sollten sich die ontologischen Schlussfolgerungen auch im Rahmen dessen halten, was empirische Erkenntnis an vorläufigen Resultaten vorzuweisen hat. Diese legen im genannten Fall die Annahme nahe, dass die Wirklichkeit der logischen Allgemeinheit von Theorien weniger in immateriellen Ideen, als in der Gesetzesstruktur der ‚Materie‘ genannten physikalischen ‚Elementargebilde‘97 besteht. Das ideelle Moment unserer Erkenntnis ver93 Vgl. die Husserl-Kritik in H. Albert, Kritik der reinen Erkenntnislehre (s. Anm. 43), S. 12 ff. 94 G. Vollmer, Was können wir wissen?, Bd. 1 (s. Anm. 88), S. 299; Hervorhebungen vom Autor. 95 K. Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen (s. Anm. 89), S. 97 ff. Vgl. U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 434. 436. 96 U. Barth, a.a.O., S. 444. 97 B. Kanitscheider, Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele (s. Anm. 58), 1. Dieser naturalistische Materiebegriff ist in diesem Zusammenhang dem

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dankt sich also der Tatsache, dass die Evolution erkenntnisbegabter Individuen in einem gesetzhaft strukturierten Kosmos stattgefunden hat. Auch bezüglich der Zentralkategorie des Bewusstseins gelingt es der transzendentalen Erkenntnistheorie offensichtlich nicht, an der strengen Deskriptiv-normativ-Dichotomie festzuhalten. Durch die strenge Trennung der Erkenntnistheorie vom empirischen Wissen wird das epistemische Bewusstsein zwangsläufig zur überempirischen Entität hypostasiert. Dass Barth Bewusstsein als ‚kognitive Instanz bloß funktionaler Art‘ bzw. als reine ‚spontane Aktivität‘98 beschreibt und somit jegliche ‚Existenzannahme‘99 bestreitet, liegt daran, dass er mit Kant das gegenständliche Denken auf die empirischen Wissenschaften beschränkt sieht. Dass jedoch im Rekurs auf Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein eine ‚Instanz‘, ein ‚Sein‘ bzw. eine ‚Gegebenheit‘100 postuliert wird, dürfte kaum von der Hand zu weisen sein. Darüber hinaus ist es höchst fraglich, ob sprachliche Darstellung ohne Bezugnahme auf ‚irgendetwas‘ überhaupt möglich ist. Selbstverständlich gibt es ‚nichtgegenständliche‘ Darstellungsformen, wie Symbole, Metaphern, Erzählungen etc.; das bedeutet jedoch nicht, dass diese keinen bestimmbaren Gegenstand haben. Die Nichtverobjektivierbarkeitsthese101 scheitert aus kritischrationa­ler Sicht bereits an der Darstellungsfunktion der Sprache102, sowie daran, dass nichtverobjektivierende Darstellungsformen durchaus durch verobjektivierende Darstellungsformen interpretiert werden können. Schließlich entsteht durch das Verständnis des ‚intentionalen Bewusstseins‘ als überempirischer Größe ein merkwürdiger Dualismus zwischen diesem und dem „bloß subjektiven innerpsychischen Geschehen […] seiner Träger“103. Das intentionale Bewusstsein tendiert da

in problematischer Weise als ‚Grenzbegriff‘ absoluter Bestimmungslosigkeit bestimmten Materiebegriff von U. Barth, a.a.O., S. 444, eindeutig vorzuziehen. 98 U. Barth, a.a.O., S. 454. 99 A.a.O., S. 453. 100 A.a.O., S. 454. 101 A.a.O., S. 454 f: „Reflexion kann ebensowenig wie die Ich-Vor­stel­lung vergegenständlicht werden, weil sowohl der Intentionalitätscharakter der Reflexionssphäre als auch der Spontaneitätscharakter des Reflexionsvollzugs eine Objektivierung ausschließen.“ 102 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), S. 143. 169, beruft sich hier wie viele Kritische Rationalisten auf Poppers Lehrer, den Psychologen und Sprachphilosophen Karl Bühler. 103 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 452.

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durch fortwährend dazu, sich in die empirische Individualität ebendieses Trägers aufzulösen, sei es als lebensweltlich ‚konkrete Subjektivität‘104, sei es als sozialpsychologisch relevantes Phänomen individueller Selbstdeutung105. Aus kritisch-rationaler Sicht lässt sich das Problem dadurch lösen, dass die Bestimmung der deskriptiven Anteile der Erkenntnistheorie wie ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ konsequent den empirischen Wissenschaften überlassen wird, während sich Erkenntnistheorie auf die Erkenntnis selbst, d. h. die verschiedenen Darstellungen (Wahrnehmungen, Deutungen, Theorien) und ihre formalen Beziehungen (Interpretation, logische Relationen, z. B. zwischen Theorie und Ableitung etc.), konzentrieren kann. Was im transzendental­philo­sophi­schen Ansatz als überempirische, nichtgegenständliche Aktivität, ‚Bewusstsein‘ genannt, geltend gemacht wird, wäre dann genau dieser (semiotische) Zusammenhang von Darstellungen verschiedenster Art, der in der Tat rein normativ-formal aufzufassen ist. Ein Vorteil dieses Lösungsansatzes besteht darin, dass der Gegenstandsbezug von ‚Bewusstsein‘, ‚Geist‘ bzw. Darstellung aus seiner Orientierung am individuellen Subjekt befreit wird: Subjektive Deutungsaktivität hat dann nicht mehr nur das Individuum, sondern im Prinzip das Ganze der Wirklichkeit zum Gegenstand. So wäre auch dem Anliegen des objektiven Idealismus besser entsprochen, die Einheit von transzendentaler Apperzeption und Ding-an-sich wieder herzustellen und damit die ‚Subjekt-Objekt-Spaltung‘ zu überwinden. Gerade aufgrund dieses Lösungsansatzes ist aus Sicht des Kritischen Rationalismus die alles entscheidende ‚transzendentalidealistische‘106 Annahme zurückzuweisen, Bewusstsein sei als konstitutive Bedingung für die Gültigkeit von Sätzen anzunehmen, es gäbe „bewusstseinsstrukturelle […] Wahrheitsbedingungen von Theorie überhaupt“107 im Sinne der These Kants: „Das: Ich denke“ müsse „alle meine Vorstellungen begleiten können“108. Hier findet genau jene Vermischung von 104 Dieses Zugeständnis erfolgt aufgrund von Heideggers Kritik an der transzendentalphilosophischen Bewusstseinsreflexion. Vgl. U. Barth, a.a.O., S. 455 f. 105 A.a.O., S. 456–459. 106 A.a.O., S. 455. 107 A.a.O., S. 452. 108 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (s. Anm. 26), AA III, B 132. Der Satz ‚A ist B‘ wäre dann mit Kant umzuformen in: ‚Dasjenige x, welches ich unter der Bestimmung A

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Genese und Geltung statt, die fälschlicherweise der evolutionären Erkenntnistheorie zur Last gelegt wird. Denn zwar scheint es durchaus evident zu sein, dass Erkenntnis de facto Bewusstsein benötigt. Die ‚Binnenlogik‘ dieser Erkenntnis kommt jedoch vollständig ohne Rekurs auf Bewusstsein aus. Das ist die Pointe von Poppers Lehre von der ‚objektiven Erkenntnis‘ bzw. seines Programms einer ‚Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt‘: Erkenntnis besteht nicht aus subjektiven Zuständen, sondern aus objektiven Problemen, die „durch die Methode der Vermutung und Widerlegung“ einer Lösung nähergebracht werden109. Zweifellos wird durch Bewusstsein Erkenntnis ‚aufgebaut‘110, dieser Sachverhalt geht jedoch nicht als überempirische ‚Struktur‘ oder als ‚erkenntnistheoretischer Begriff des Geistes‘111 in die Erkenntnis mit ein – sondern beschreibt im Grunde einen empirischen Vorgang an bzw. in empirischen Individuen. ‚Geist‘ kann man nach Popper nur die ‚Welt 3‘ der objektiven Probleme, Theorien und Argumente etc. nennen (zu der im Grunde alle Darstellungsformen gehören – auch „Gebete, Verträge, … Gedichte und Erzählungen“112), aber dies führt recht verstanden gerade nicht zu einem platonischen, transzendentalphilosophischen oder idealistischen Immaterialismus, da alle deskriptiven Aspekte der Erkenntnistheorie – sowohl der Gegen­ stand der Darstellungen ebenso wie die darstellenden Individuen und die ‚kulturellen Artefakte‘113 – einer empirischen Bestimmung uneingeschränkt offenstehen.

kenne, kenne ich auch unter der Bestimmung B‘ (U. Barth, Religion in der Moderne [s. Anm. 2], S. 453 f.). Zur Kritik an dieser subjektivitätstheoretischen Denkform vgl. Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, Tübingen 2003, S. 376–379. 109 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), S. 170. Vgl. a.a.O., S. 114: „Die herkömmliche Erkenntnistheorie mit ihrem Schwergewicht auf […] dem Wissen im subjektiven Sinne ist für die Untersuchung der wissenschaftlichen Erkenntnis irrelevant […]. Relevant für die Erkenntnistheorie ist die Untersuchung wissenschaftlicher Probleme und Problemsituationen, wissenschaftlicher Vermutungen (was für mich nur ein anderer Ausdruck für wissenschaftliche Hypothesen oder Theorien ist), wissenschaft­licher Diskussionen, kritischer Argumente und der Rolle von empirischen Befunden in Argumenten […] kurz die Untersuchung einer weitgehend autonomen Welt 3 objektiven Wissens ist für die Erkenntnistheorie von entscheidender Bedeutung.“ 110 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 453. 111 Ebd. 112 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), S. 163, nimmt hier zustimmend auf die stoische Sprachphilosophie Bezug. 113 M. Bunge / M. Mahner, Über die Natur der Dinge (s. Anm. 59), S. 167 ff.

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3. Grundlagen eines konsequent naturalistischen Verständnisses der christlichen Religion Die Konzeption einer konsequent naturalistischen Theologie kann an vier unterschiedlichen Aspekten einer kritisch-rationalen und naturalistischen Weltsicht ansetzen. Erstens (1) eröffnet der Kritische Rationalismus die Möglichkeit, die christlichen Deutungstraditionen als eine Form des vorwissenschaftlichen Alltagsverstandes zu würdigen. Zweitens (2) unterstützt die naturalistische evolutionäre Anthropologie die Auffassung des Menschen als homo naturaliter religiosus. Drittens (3) laden sowohl Poppers Betonung des ‚objektiven Geistes‘ als auch die Tendenz des Naturalismus zum Vorstoß ins Normative (evolutionäre Erkenntnistheorie114, Ethik115, Ästhetik116) dazu ein, die Religiosität des Menschen im Hinblick auf ihren Gegenstand genauer zu untersuchen, d. h. eine ‚evolutionäre Religionsphilosophie‘ zu entwerfen. Schließlich beinhaltet viertens (4) die naturalistische Interpretation einer evolutionären Religionsphilosophie sowohl eine Überprüfung derselben als auch eine weitere Vertiefung und Klärung des Gegenstandsbezugs von Religion. 3.1 Glaube und Alltagsverstand

Im Rahmen seiner Theorie ‚objektiver Erkenntnis‘ hat sich Popper wie angedeutet immer wieder gegen die ‚Glaubensphilosophien‘117 abgesetzt, die subjektiven Regungen wie Erfahrung, Intuition, Glaube etc. eine erkenntniskonstitutive Funktion einräumen. Darüber ist in seinen Ausführungen die Einsicht zu kurz gekommen, dass solche subjektiven Phänomene auch eine ‚objektive‘ Seite haben, sofern es sich um bestimmte Darstellungsformen handelt, die wiederum auch als solche, d. h. objektiv betrachtet werden müssen. Dies wird dadurch nahegelegt, dass der Kritische Rationalismus die Verwurzelung aller Wissenschaft 114 G. Vollmer, Was können wir wissen?, Bd. 1 (s. Anm. 88). 115 Gerhard Vollmer, Biophilosophie, Stuttgart 1995, S. 162–192. 116 Siehe z. B. Klaus Richter, Die Herkunft des Schönen – Grundzüge einer evolutionären Ästhetik, Mainz 1999. 117 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), S. 25.

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im Alltagsdenken betont – was damit zusammenhängt, dass er keinerlei Letztbegründungsansprüche mehr impliziert, die Suche nach einem archimedischen Punkt der Erkenntnis also ausfällt.118 Es ist die Methode kritischer Prüfung, die zu einer sukzessiven Revision und Verbesserung unserer Alltagsüberzeugungen führen soll: „Alle Wissenschaft und alle Philosophie ist aufgeklärter Alltagsverstand.“119 Unbestritten ist auch, dass alltagsweltlichen Erfahrungen, Glaubensüberzeugungen, Mythen, Intuitionen, metaphysischen Annahmen etc. eine wichtige heuristische Bedeutung für die Wissenschaften zukommt120. Popper scheint dem ­Begriff des ‚aufgeklärten Alltagsverstandes‘ jedoch eine szientistische Wendung zu geben, wonach der Alltagsverstand durch das Verfahren der Kritik sukzessive von der Wissenschaft abgelöst werde121. Zu überlegen wäre aber, ob dieser vagen, vorwissenschaftlichen Darstellung von Wirklichkeit nicht eine bleibende Bedeutung für das konkrete Leben zukommt, auch nachdem sie die Funktion der Wirklichkeitserklärung an präzisere wissenschaftliche Theorien hat abgeben müssen. Im Grunde ist leicht einzusehen, dass sich unsere ‚lebensweltliche‘ Wirklichkeitserfassung nicht unerheblich von der abstrakt-wis­ sen­ schaftlichen unterscheidet – ohne dass behauptet werden müsste, dass damit eine ontologische Differenz zwischen ‚Lebenswelt‘ und ‚Weltall‘122 gegeben wäre. Insbesondere sind wir existenziell in unserem Sinn- und Wertempfinden, in unseren lebensweltlichen, narrativen Wirklichkeitszugängen verankert, während niemand in dem abstraktunanschaulichen Weltbild der Naturwissenschaften wirklich ‚lebt‘. Jeder Versuch einer existenziellen Auseinandersetzung mit dem wissen-

118 A.a.O., S. 33 f.: „Wie kann etwas so Vages und Unsicheres wie der Alltagsverstand einen Ausgangspunkt abgeben? Meine Antwort ist: weil wir (anders als etwa Descartes oder Spinoza oder Locke oder Berkeley oder Kant) kein sicheres System auf diesen ‚Grund­ lagen‘ aufbauen wollen.“ 119 A.a.O., S. 34. 120 A.a.O., S. 138 f. 361. Vgl. K. R. Popper, Logik der Forschung (s. Anm. 39), S. 13: „… wir vermuten, daß wissenschaftliche Forschung, psychologisch gesehen, ohne einen wissenschaftlich indiskutablen, also, wenn man will, ‚metaphysischen‘ Glauben an [rein spekulative und] manchmal höchst unklare theoretische Ideen wohl gar nicht möglich ist.“ Vgl. K. R. Popper, Logik der Forschung (s. Anm. 39), S. 222 f. 121 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), S. 34 f. 122 Vgl. Franz Josef Wetz, Lebenswelt und Weltall. Hermeneutik der unabweislichen ­Fragen, Stuttgart 1994.

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schaftlichen Weltbild123 wird gezwungen sein, charakteristische Abblendungen im Hinblick auf die lebensweltliche Relevanz dieses Weltbildes vorzunehmen und dieses auch lebensbezogen zu deuten. Und umgekehrt werden solche lebensbedeutsamen Deutungen auch dann noch relevant sein, wenn sie ihren wissenschaftlichen Anspruch längst verloren haben. Genau an dieser Stelle könnte man eine Verbindung zu Bultmanns theologischem Programm der Entmythologisierung bzw. existenzialen Interpretation herstellen. Zwar kritisiert Albert an Bultmann mit Recht dessen „Trennung von Kosmologie und Existenz­ver­ständnis“124, allerdings neigt er selbst umgekehrt dazu, das lebens­welt­liche Existenzverständnis ganz „in eine[m] kosmologischen Kontext“ aufgehen zu lassen. Hier scheint unnötigerweise jede Unterscheidung zwischen Alltagserfahrung und Wissenschaft szientistisch eingeebnet zu werden. Erst die evolutionäre Erkenntnistheorie mit ihrer Unterscheidung der Darstellungsformen Empfindung, Wahrnehmung, Erfahrung und Wissenschaft125 liefert den evolutionsbiologischen Hinweis darauf, dass der alltagsweltliche common-sense die Verhältnisse im Mesokosmos widerspiegelt, d. h. jenes Bereichs mittlerer Dimensionen ‚jenseits‘ des Mikround Makrokosmos, der für die Spezies Mensch unmittelbar lebens- und überlebensrelevant ist126. Für das mesokosmische Denken in seiner Grundstruktur kann mit guten Gründen angenommen werden, dass ihm eine epistemische Eigenständigkeit zugesprochen werden muss. Diese geht sicher nicht so weit, dass mesokosmisches Denken immun wäre gegen wissenschaftliche Erkenntnisse. Dennoch ist nicht zu erwarten, dass sich alltagsweltliches Denken vollständig in wissenschaftliches Denken überführen ließe – selbst dann, wenn zugestanden wird, dass diese Überführung logisch möglich ist und die lebensweltlichen Ausdrücke ontologisch nicht mehr besagen können als die entsprechen123 Vgl. dazu Franz Josef Wetz, Hermeneutischer Naturalismus, in: Bernulf Kanitscheider / Franz Josef Wetz (Hg.), Hermeneutik und Naturalismus, Tübingen 1998, S. 101– 138. 124 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), S. 133. Zu Recht kritisiert ­A lbert, dass Bultmanns Existenzanalyse „jeden Bezug zur Kosmologie verloren hat“, so dass de facto aus einer Perspektivenunterscheidung eine ontologische Differenz wird. 125 G. Vollmer, Was können wir wissen?, Bd. 1 (s. Anm. 88), S. 33 ff. 126 A.a.O., S. 41–43. 77–84. 133–141.

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den wissenschaftlichen. So ist nicht zu erwarten, dass sich Ausdrücke wie ‚Wasser‘, ‚Sonnenuntergang‘, ‚Person‘ in pragmatischer Hinsicht ohne Weiteres durch die Ausdrücke ‚H2O‘, ‚Erddrehung relativ zum Sonnenschatten‘ und ‚einsichtsfähiges biochemisches System‘ ersetzen lassen. Dies scheint mir deswegen der Fall zu sein, weil die ‚lebensweltlichen‘ Ausdrücke genau die Mischung von lebensdienlicher Komplexitätsreduktion, Erfahrung und existenzieller Wertzuschreibung beinhalten, die von den ontologisch maßgebenden präziseren wissenschaft­ lichen Begriffen gerade nicht geleistet wird. Gehört zum Alltagswissen nur das, was aus wissenschaftlicher Per­ spektive prima facie als ‚normal‘ angesehen wird, oder lassen sich reli­ giöse Vorstellungen ebenso als Teil des Alltagsverstandes verstehen? ­Popper spricht immer wieder davon, dass der Alltagsverstand durch ‚Mythen‘ geprägt sei127. Gerade auch im Bereich der Heuristik geht der Kritische Rationalismus davon aus, dass unser Denken von einem „metaphysischen Glauben an [rein spekulative und; M. S.] manchmal höchst ­unklare theoretische Ideen“128 geprägt ist. Somit dürfte es ganz im Sinne des Kritischen Rationalismus sein, von einem ‚narrativ strukturierten‘ Alltagsdenken auszugehen, von dem auch religiöse Selbst- und Weltdeutungen nicht auszuschließen sind.129 Aus Sicht des Kritischen Rationalismus können wissenschaftliche Hypothesen u.U. als Präzisierung derjenigen Mythen bzw. metaphysischen Ideen, aus denen sie sich entwickelt haben, angesehen werden, so dass es nicht zu einer Ersetzung, Ablösung oder Eliminierung der ursprünglichen Mythen kommt. Dies dürfte weniger bei spezialwissenschaftlichen Entdeckungen130 als bei sehr grundsätz­ lichen, metaphysischen Intuitionen der Fall sein. So wird etwa der „unwissenschaftliche […], metaphysische […] Glaube […], dass es Gesetz­ mäßigkeiten gibt, die wir entschleiern, entdecken können“131, durch die 127 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), S. 86. 128 K. R. Popper, Logik der Forschung (s. Anm. 39), S. 13. 129 K. R. Popper, Vermutungen und Widerlegungen (s. Anm. 66), S. 374: „So wurde zum Beispiel das Kopernikanische System von einem neu­platonischen Kultus des Sonnenlichtes inspiriert, nach dem die Sonne wegen ihrer Würde ins ‚Zentrum‘ gehörte.“ 130 Beispiel wäre das Traumbild des Schlangen- oder Flammenkreises, welches Kekulé zur Entdeckung des Benzolrings führte, der oben genannte Zusammenhang zwischen neuplatonischem Sonnenkult und Kopernikanischer Physik, oder das Verhältnis zwischen antiker Götterwelt und der naturwissenschaftlichen Erklärung der Naturphänomene. 131 K. R. Popper, Logik der Forschung (s. Anm. 39), S. 223.

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Bewährung konkreter Gesetzeshypothesen nicht abgelöst und eliminiert, sondern im Gegenteil präzisiert und vertieft. Wie das Beispiel der ‚kosmischen Religiosität‘ Einsteins zeigt132, kann bereits mit dieser Intuition der Regelhaftigkeit des Universums der Gottesgedanke im Spiel sein. Genauso ist es denkbar, dass die metaphysische Intuition der Gesetzhaftigkeit des Universums durch die mythische Vorstellung des ‚über den Chaoswassern schwebenden Geistes‘ (Gen 1,1 f.) zum Ausdruck kommt. Vorausgesetzt ist dabei, dass diese mythischen und metaphysischen Vorstellungen konsequent als vage aufgefasst werden und dass man bereit ist, diese dann auch szientistisch im Rückgriff auf bestätigte Gesetzeshypothesen zu präzisieren – im Falle der Vorstellung ‚Gott‘ beispielsweise durch eine noch zu findende ‚Weltformel‘ (AUT bzw. TOE)133. Schließlich legt der Kritische Rationalismus nahe, den vorwissenschaftlichen, vagen Alltagsintuitionen durchaus einen Realitätsbezug zuzugestehen. Mindestens drei Argumente sprechen dafür: Erstens ist der wissenschaftliche Realismus selbst ein ‚Kind‘ des Alltagsverstandes, d. h., wir sind im Alltag Realisten und Popper bezeichnet es als ‚Skandal der Philosophie‘, dem nicht Rechnung zu tragen134. Zweitens gibt es einen engen heuristischen bzw. regulativen Zusammenhang zwischen dem vagen mythisch-metaphysischen Alltagsdenken und der Wissenschaft135, durch den sich die Realitätsvermutung bezüglich der erfolgreich geprüften Hypothesen auf diejenigen Ideen überträgt, welche ihnen zugrunde liegen. Für die Realitätsunterstellung bezüglich vager religiöser Vorstellungen sprechen drittens die einschlägigen soziobiologischen Religionstheorien. Denn zwar lässt sich Religion sicher stellenweise plausibilisieren durch die Annahme, dass ‚Realitätsverzerrung‘ in der Evolution Vorzüge bringt136. Andererseits dürfte sich zumindest auf 132 Albert Einstein, Religion und Wissenschaft, in: ders., Weltbild, hg. v. Carl Seelig, ­Zürich / Stuttgart / Wien 1953, S. 17–20; wieder abgedruckt in: Hans-Peter Dürr (Hg.), Physik und Transzendenz, München 1990, S. (67–70) 68 ff. 133 Näheres hierzu findet sich in Kap. 3.4. 134 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), S. 32 f. 135 Der Zusammenhang kann so weit gehen, dass Popper von ‚metaphysischen Forschungsprogrammen‘ spricht, in deren Rahmen Mythen bzw. metaphysische Ideen sogar ein direkt-wissenschaftlicher, d. h. er­kennt­n iskonstitutiver Charakter zugesprochen wird (K. R. Popper, Logik der Forschung [s. Anm. 39], S. 159, Anm. *2). 136 Volker Sommer, Die Vergangenheit einer Illusion: Religion aus evolutionsbiologischer Sicht, in: Eckhart Voland (Hg.), Evolution und Anpassung – warum die Vergangenheit

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lange Sicht in der Evolution die ‚realistischere‘ Deutungsalternative als die adaptiv günstigste Variante erweisen, so dass für die Religion die Realitätsvermutung gelten sollte. Die Plausibilität dieses Vorschlags hängt jedoch daran, dass Religion nicht fälschlicherweise im Sinne einer bestimmten (theistischen) Metaphysik präzisiert wird137. Wenn Voland beispielsweise mystische Religion soziobiologisch aus dem Bedürfnis nach Kontingenzbewältigung erklärt, dann ist es zumindest vorschnell, zu urteilen, es handele sich um den Glauben ‚an Fiktionen‘138. Gerade mystische Religiosität kann auch und gerade dann, wenn sie von ‚Gott‘ spricht, präzisiert werden als lebensweltliche ‚Endlichkeitsreflexion‘ im Hinblick auf den Grund bzw. das umgreifende Ganze der Lebenswelt. Dieses Ganze der Lebenswelt wiederum lässt sich bei weiterer naturwissenschaftlicher Präzisierung problemlos mit dem physikalischstrukturierten Universum identifizieren. Dass eine so verstandene Endlichkeitsreflexion alles andere als ein Klammern an metaphysische Fiktionen, sondern in höchstem Maße realitätsbewusst und -adäquat ist, dürfte auf der Hand liegen.



die Gegenwart erklärt, Stuttgart 1993, S. (229–248) 236: „Glauben kann Berge versetzen, lehrt das Neue Testament […]. Dies mag übertrieben sein. Offenbar ist es aber schwieriger, an nichts zu glauben, als irgendeiner Ansicht anzuhängen – und sei sie noch so absurd. […] Wenn Trugschlüsse die Gene eines Individuums mit größerer Wahrscheinlichkeit in die nächste Generation transportieren, wird die Selektion Körper und Gehirne favorisieren, die Trugschlüssen aufsitzen […]. Verzerren von Realität […] schafft häufig ein gutes Gefühl. Sich gut fühlen ist gesünder, und gesündere Leute leben länger, sind attraktiver für andere und pflanzen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit fort als nicht gesunde.“ 137 Charles Sanders Peirce, Brief an Lady Welby vom 23.12.1908, in: ders., Religionsphilosophische Schriften, hg. v. Hermann Deuser, Hamburg 1995, S. 534 ff., Anm. +3: „Ich kannte zum Beispiel einen Wissenschaftler, der die letzten Jahre seines Lebens der Lektüre theologischer Literatur widmete in der Hoffnung, dadurch zum Glauben an Gott zu finden, der aber nicht im mindesten zu einem Bewußtsein gelangte, auch nur den geringsten Glauben dieser Art zu haben; und dennoch versuchte er mit aller Leidenschaft weiterhin, gerade mit den falschen Mitteln seinen größten Herzenswunsch zu erfüllen. Er war nach meiner Auffassung ein leuchtendes Beispiel für den Glauben an Gott. Denn bezüglich der Welt der Erscheinungen von schlußfolgerndem Denken überzeugt zu sein, heißt zu glauben, daß sie durch Vernunft regiert werden, und das heißt: von Gott […].“ 138 Eckhart Voland, Homo naturaliter religiosus. Umrisse des soziobiologischen Arguments, in: Anton Bierl / Wolfgang Braungart (Hg.), Gewalt und Opfer. Im Dialog mit Walter Burkert, Berlin / New York 2010, S. (293–315) 298.

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3.2 Evolutionäre Religionsphilosophie

Die Einsicht, dass lebensweltliche Mythen und metaphysische Ideen vage, d. h. sich selbst nicht durchsichtig sind, lässt nach einer Theorie fragen, die den Gegenstandsbezug von Mythen und metaphysischen Ideen und die Art ihrer Bezugnahme auf Wirklichkeit klärt. Dass Mythen nicht nur in ihrer Genese, sondern auch in ihrem Gehalt bzw. ihrer Geltung einer besonderen wissenschaftlichen Aufklärung fähig und bedürftig sind, wird im kritisch-rationalen Verständnis durch den kritischen Realismus bezüglich aller Darstellungen nahegelegt. M.E. müsste sich von dieser Voraussetzung her eine spezielle hermeneutische Methode der Wirklichkeitserfassung im Rahmen des Kritischen Rationalismus etablieren lassen – auch wenn die Abwehrreaktionen von beiden Seiten diesem Unternehmen auf den ersten Blick wenig Aussicht auf Erfolg einzuräumen scheinen139. Aufgegeben werden müsste allerdings der (im schlechten Sinne theologische) Anspruch der Hermeneutik, ein von Konstruktionen freies „offenbar [M]a­chen“140 der „Sachen selbst“141 unter „Fernhaltung alles nichtausweisenden Bestimmens“142 leisten zu können. Aufgegeben werden müsste auch das (im schlechten Sinne metaphysische) Selbstverständnis einer Fundamentalontologie des Seins, welche sich einer kritischen Überprüfung an der Ontologie der Realwissenschaften bzw. deren ‚ontischer‘ Bestimmungen des Seienden ­kategorisch entzieht143. Anders gesagt: Die ‚vernehmende Vernunft‘144 139 Vgl. dazu Bernulf Kanitscheider / Franz Josef Wetz, Hermeneutik und Naturalismus, Tübingen 1998. Zur Abwehrhaltung des Kritischen Rationalismus gegen hermeneutische Ansprüche auf Wirklichkeitserfassung vgl. Hans Albert, Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 22012. 140 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 171993, S. 32. Vgl. dagegen H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), S. 18–24. 141 M. Heidegger, Sein und Zeit (s. Anm. 140), S. 34. 142 A.a.O., S. 35. 143 Vgl. a.a.O., S. 4: „Der Begriff ‚Sein‘ ist undefinierbar […]. ‚Sein‘ kann in der Tat nicht als Seiendes begriffen werden […].“ Sein wird so paradoxerweise mit Hegel bestimmt als das ‚unbestimmte Unmittelbare‘, wodurch es fraglich bleibt, wie eine Analytik des Daseins als Fundamentalontologie mit wissenschaftlichem Anspruch, die nicht umhin kann, Begriffe zu verwenden, möglich sein soll. Zur Abgrenzung dieser Fundamentalontologie von Anthropologie, Psychologie, Biologie vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit (s. Anm. 140), § 10. Zu dieser Kritik vgl. H. Albert, Kritik der reinen Hermeneutik (s. Anm. 139), S. 13 ff. 144 M. Heidegger, Sein und Zeit (s. Anm. 140), S. 34.

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kann nicht mit dem Anspruch auf Letztbegründung und Irrtumsfreiheit auftreten145 und sie kann keine Wirklichkeitsdimension (beispielsweise das Sein oder Dasein im Unterschied zum Seienden) setzen, die realwissenschaftlich prinzipiell unzugänglich sein soll. Einschlägige Analysen146 zeigen, dass im Mythos der Mensch nicht als ‚Wesen‘ mit Eigenschaften im wissenschaftlichen Sinne, sondern vor allem als ‚Sein und Werden‘ verstanden wird, d. h. als ‚Möglichkeiten realisierende Faktizität‘. Der Mensch und jedes Individuum (wenn man von Heideggers anthropozentrischer Engführung an dieser Stelle absieht) existiert in einem Horizont von Möglichkeiten, die direkt oder indirekt seine Möglichkeiten sind. Zum Charakteristikum jeder individuellen Existenz gehört die Realisierung oder Nichtrealisierung, das Erfüllen oder Verfehlen dieser Möglichkeiten: Der Mensch „verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit. Dasein ist je seine Möglichkeit.“147 Aus dieser Dynamik ergibt sich die Geschichtlichkeit jedes individuellen Daseins: „Das Dasein ‚ist‘ seine Vergangenheit in der Weise seines Seins, das, roh gesagt, jeweils aus seiner Zukunft her ‚geschieht‘.“148

Zusätzlich ist jedem Menschen bzw. jedem selbstbewussten, einsichtigen Wesen mit dem ‚Vorlaufen zum Tode‘149 die Möglichkeit aufgegeben, sich zum Ganzen der Welt als dem Horizont seiner Möglichkeiten zu verhalten. Erst hier entscheidet sich das wahre Selbstsein des Menschen: „Das ‚Wovor‘ der Angst ist […] das In-der-Welt-sein als solches. In ihr wird das Dasein auf sich selbst zurückgeworfen, befreit von der Herrschaft des Man und daher frei für sein Selbstseinkönnen.“150 145 Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), S. 18–24 Ausführungen zum ‚Offenbarungsmodell der Erkenntnis‘. Vgl. aber das Zugeständnis bei M. Hei­ degger, Sein und Zeit (s. Anm. 140), S. 36: „[…] die Schwierigkeit dieser [phänomenologischen; M.S.] Forschung besteht gerade darin, sie gegen sich selbst in einem positiven Sinne kritisch zu machen.“ 146 Neben dem hier referierten Heidegger könnte man auch Bezug nehmen auf die MimesisTheorie von Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung, Bd. I: Zeit und historische Erzählung, München 1988, S. 87–135. 147 M. Heidegger, Sein und Zeit (s. Anm. 140), S. 42. Das heißt jedoch gerade nicht, dass „Dasein […] daher nie ontologisch zu fassen [ist] als Fall und Exempel einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem“ (a.a.O., S. 42). 148 M. Heidegger, a.a.O., S. 20. 149 A.a.O., S. 262–266. 150 Peter Kunzmann / Franz-Peter Burkard / Franz Wiedmann, dtv-Atlas zur Philosophie, München 1991, S. 205.

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Es scheint mir evident, dass dieses Wirklichkeitsmodell mit Gewinn als hermeneutischer Schlüssel für die christlichen Deutungstraditionen und die aus ihr entwickelten dogmatischen Ideen verwendet werden kann. Das gilt insbesondere im Blick auf die bereits seit langem erfolgte überaus breite und vielfältige Rezeption der Philosophie Heideggers in der (evangelischen) Theologie, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann151. Soviel sei angedeutet, dass das Ganze der Welt, der ­Horizont der Möglichkeiten, an dem das Individuum zu sich kommt, mit Heidegger als ‚unheimliches Nichts‘152 gedeutet werden kann – oder aber mit Emanuel Hirsch und ausgehend von der christlichen Tradition als das Du Gottes153. Die Summe der individuellen Existenzen wäre dann als Welt, das Ganze der Welt bzw. der Horizont aller Existenzmöglichkeiten als Gott anzusprechen. Das Sein in der Eigentlichkeit bzw. das „Sein zum eigensten Seinkönnen“154 könnte mit der Christusidee bzw. mit dem mystischen ‚Sein in Christus‘ identifiziert werden etc. Es müsste allerdings die Möglichkeit eingeräumt werden, dass das existenzialontologische Deutungsschema auch auf andere (religiöse) Narrationen Anwendung finden kann. 3.3 Evolutionäre Anthropologie

Heidegger hat seine Existenzialontologie als von Anthropologie, Psychologie und Biologie unabhängiges Unternehmen gefasst. Wenn er aber andererseits so weit geht, der Existenzialontologie eine die genannten Wissenschaften und ihre Begriffsbildung fundierende Rolle zuzuschreiben,155 dann müsste er auch einräumen, dass sein Wirklichkeitsmodell von den wissenschaftlichen Folgeinstanzen her einer kritischen 151 Gerhard Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie. Beginn und Fortgang der ­Diskussion (TB 38), München 1967; Christof Landmesser / Andreas Klein (Hg.), Rudolf Bultmann (1884–1976) – Theologe der Gegenwart. Hermeneutik – Exegese – Theologie – Philosophie, Neukirchen-Vluyn 2010. 152 M. Heidegger, Sein und Zeit (s. Anm. 140), S. 276 f. 153 J. Rohls, Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart (s. Anm. 25), S. 545. 154 M. Heidegger, Sein und Zeit (s. Anm. 140), S. 188. 155 A.a.O., S. 13. 45. Vgl. a.a.O., S. 49 f.: „In der Ordnung des möglichen Erfassens und Auslegens ist die Biologie als ‚Wissenschaft vom Leben‘ in der Ontologie des Daseins fundiert, wenn auch nicht ausschließlich in ihr.“ Kritisch dazu H. Albert, Kritik der reinen Hermeneutik (s. Anm. 139), S. 7. 18–30.

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Prüfung unterzogen werden kann. Dabei geht es zunächst nicht um die Frage, ob das konzipierte Wirklichkeitsverständnis zutreffend ist oder nicht (vgl. dazu Punkt vier unten), sondern darum, ob es dasjenige ist, welches die ‚Lebenswelt‘, d. h. den ‚mesokosmischen‘ Alltagsverstand des Menschen, tatsächlich bestimmt. Daraus die Gültigkeit des existenzialontologischen Wirklichkeitsmodells abzuleiten, wäre zweifellos ein naturalistischer Fehlschluss. Doch könnte umgekehrt die Nichtakzeptanz des betreffenden Modells auf einen performativen Widerspruch hinauslaufen, wenn sich dieses Modell tatsächlich als ‚anthropologische Konstante‘ erweisen ließe. Mit dem nord­ame­ri­kanischen Philosophen Charles Sanders Peirce gesprochen: man sollte nicht versuchen, etwas zu bezweifeln, was man gar nicht bezweifeln kann156. Im Rahmen seines ‚Critical Common-Sensism‘ hat sich Peirce auf die Suche nach elementaren Vorbegriffen unseres ‚Glaubens‘, d. h. unserer lebensweltlichen Überzeugungen und Deutungen gemacht. Deren akritischer Status ist deshalb mit kritischer Rationalität vereinbar, weil die Vorbegriffe, die in diese Deutungen eingehen, naturgemäß extrem vage sind157. Als primäre vorbegriffliche Vorstellungen bzw. Erfahrungen macht er aus: eine Intuition von kosmischer Ordnung158, die Neigung zum Anthropomorphismus159, z. B. alle Dinge als handelnde Personen zu verstehen, sowie eine Disposition dazu, das Ganze des Lebens episodisch zu sehen, d. h. nach Ursprung und Werden der Individuen zu fragen. Alle drei Vorbegriffe sind nach Peirce biologisch verankert und daher als ‚Instinkte‘ ansprechbar. Die ersten beiden Instinkte werden durch ihren Bezug auf die elementaren Lebensfunktionen der Nahrungsbeschaffung und Fortpflanzung (‚feeding‘, ‚breeding‘) plausibel 156 Charles Sanders Peirce, What Pragmatism is, 1905, CP, 5.416: „Now that which you do not at all doubt, you must and do regard as infallible, absolute truth.“ 157 Dies ist die Kernidee von Peirces ‚Logik der Vagheit‘. Vgl. dazu M. Schmuck, Peirces ‚Religion of Science‘ (s. Anm. 49), S. 57 ff. 68. 90. 98. 274 ff. Kritisch dazu H. Albert, Kritik der reinen Hermeneutik (s. Anm. 139), S. 200 f. 158 Charles Sanders Peirce, Antworten auf Fragen über meinen Glauben an Gott, 1905, in: ders., Religionsphilosophische Schriften (s. Anm. 137), S. (287–313) 289. 159 Charles Sanders Peirce, Consequences of Critical Common-Sensism, 1905, CP, 5.536: „[…] I do not believe that man can have the idea of any cause or agency so stupendous that there is any more adequate way of conceiving it than as vaguely like a man. Therefore, who ever can not look at the starry heaven without thinking that all this universe must have had an adequate cause, can in my opinion not otherwise think of that cause half so justly than by thinking it is God.“

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und dienen als Ausgangspunkt für die ent­sprechenden Wissenschaften der Physik und Psychologie160. Den letz­ten Instinkt identifiziert Peirce als ‚Gottesinstinkt‘161. Er räumt ein, dass dessen biologische Funktion und Wissenschaftsorientierung nicht so offenkundig ist, wie die der beiden anderen. Seine Instinktivität besteht in der Fähigkeit des Menschen, „die Wahrheit durch Divination zu entdecken“162; dies kann man so verstehen, dass der Mensch auf den Ursprung163, das Werden und den ganzen Horizont des Lebens (‚living‘)164 bezogen ist, dass er einen ‚Sinn‘ für die Realität als Ganze hat, woraus sich wiederum die Motivation und die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Wahrheitssuche überhaupt ergibt. Diese Überlegungen Peirces zur Divination lassen sich mit zwei empirischen Befunden stützen. Zum einen kann man aus den Untersuchungen Andrew Newbergs zum sogenannten ‚Orientierungsfeld‘165 den Sachverhalt ableiten, dass menschliche Erfahrung von einer SelbstWelt-Unterscheidung bestimmt ist, die aber in der Phase ihres frühkindlichen Entstehens, in besonderen meditativen Zuständen166 und in eingeschränkter Form vielleicht auch im Alltagsbewusstsein offen ist 160 Zu den drei Instinkten vgl. Charles Sanders Peirce, Zusatz zu dem Artikel ‚Ein vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes‘, 1908, in: ders., Religionsphilosophische Schriften (s. Anm. 137), S. (359–367) 367. Vgl. Hermann Deuser, Gottesinstinkt, Tübingen 2004. 161 Dieser Begriff wird so nicht von Peirce verwendet, sondern stammt von H. Deuser, Gottesinstinkt (s. Anm. 160). Vgl. aber Peirces Bezugnahme auf ‚Gott, Freiheit und Unsterblichkeit‘ in: ders., Zusatz zu dem Artikel ‚Ein vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes‘ (s. Anm. 160), S. 366 f. 162 C. S. Peirce, Zusatz zu dem Artikel ‚Ein vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes, a.a.O., S. 367. 163 Charles Sanders Peirce, Ein vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes, 1908, in: ders., Religionsphilosophische Schriften (s. Anm. 137), S. (329–359) 334. 164 Charles Sanders Peirce, Kritik des Positivismus, 1868, in: ders., Religionsphilosophische Schriften (s. Anm. 137), S. 58: „Alle Menschen und alle Tiere lieben das Leben“. Vgl. ders., The Law Mind, 1892, CP, 6.157 = ders., Naturordnung und Zeichenprozess, hg v. Helmut Pape, Frankfurt a.M. 1991, S. 207: „[…] Beziehung auf die Zukunft ist ein wesentliches Element der Persönlichkeit. Wenn die Ziele einer Person schon explizit wären, so gäbe es keinen Raum für Entwicklung, Wachstum und Leben; und folglich gäbe es keine Persönlichkeit.“ 165 Aufgabe des Orientierungsfeldes ist „die Orientierung des Individuums im physikalischen Raum“ (Andrew Newberg / Eugene D’Aquili / Vince Rause, Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht, München 22005, S. 12). „Um diese wichtige Funktion zu erfüllen, muss das Orientierungsfeld zuerst eine klare und konstante Wahrnehmung der physischen Grenzen des eigenen Selbst erzeugen“ (a.a.O., S. 13). 166 A.a.O., S. 204 ff.

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für die Erfahrung umfassender Einheit167. Zum zweiten hat die Soziobiologie die Rede von der „Kontingenzbewältigung“168 aufgenommen und mit „mystische[r] Hingabe an religiöse Fiktionen“ in Verbindung gebracht. Auch mit diesen Stichworten wird die Erfahrung ‚des Unendlichen‘ angesichts des Bewusstseins der eigenen Endlichkeit als zen­ trales Thema des Alltagsverstandes im Allgemeinen und der ‚religiösen Fiktionen‘ im Besonderen herausgestellt. Es ist bemerkenswert, dass aufgrund solcher Überlegungen ausgerechnet naturalistische Denker wie Voland besonders deutlich an der Vorstellung der Religiosität als anthropologischer Konstante festhalten.169 Mit weiteren Argumenten auf der Grundlage der Verhaltensbiologie kann man m.E. die genannten empirischen Befunde stützen und gleichzeitig den Abstand zum skizzierten existenzialontologischen Wirklichkeitsmodell weiter verringern. Klassische Experimente belegen, dass der Mensch zusammen mit wenigen anderen Spezies zu einsichtigem Handeln in der Lage ist. Einsicht beruht auf der Fähigkeit, eine mentale Repräsentation von sich selbst und anderen in der Außenwelt anzufertigen170 und darin repräsentativ Handlungsalternativen im Hinblick auf ihr Problemlösungspotential durchzuspielen171. Einsichtiges Verhalten setzt die Fähigkeit zur Erinnerung und Antizipation voraus und ist dadurch notwendig mit Selbst-Bewusstsein und Zeitverständnis verbunden. Diese wiederum eröffnen die Möglichkeit, dass Menschen und andere selbst­ 167 „Würde das Orientierungsfeld sein Unvermögen, die Grenze zwischen Selbst und Außenwelt dingfest zu machen, so verstehen, dass eine solche Unterscheidung gar nicht existiert? In diesem Fall hätte das Gehirn gar keine andere Wahl: Es bliebe ihm nur die Wahrnehmung, dass das Selbst endlos und auf das Engste mit allem verbunden sei, was der Geist erfasst. Und diese Wahrnehmung würde sich überdies absolut und unzweifelhaft real anfühlen.“ „Es [sc. das Bewusstsein] würde die Realität als formloses Ganzes wahrnehmen und deuten, ohne Grenzen, ohne Substanz, ohne Anfang und Ende“ (a.a.O., S. 206). 168 E. Voland, Homo naturaliter religiosus (s. Anm. 138), S. 298. Dort finden sich auch die Folgezitate. 169 A.a.O., S. 293. 170 Einsicht erfordert „räumliche und zeitliche Vorwegnahme der Handlungsabläufe“. Sie setzt demnach „eine innere Repräsentation (ein inneres Bild) der Umwelt und ihrer Gesetzmäßigkeiten voraus“ (Art. Einsicht, in: Spektrum Lexikon der Biologie, Heidelberg 1999, URL: [4.3.2016]). 171 Art. einsichtiges Lernen, in: Spektrum Lexikon der Neurowissenschaft, Heidelberg 2000, URL: [4.3.2016].

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bewusste Wesen sich als geschichtliche und endliche Wesen in einem umfassenden Ganzen begreifen. Zeitbewusstsein und das Wissen um den Tod erzeugen Angst172, die wiederum durch Formen der mystischen Hingabe an das Ganze bzw. All-Eine, des ‚Zurücktretens von sich‘173 im Sinne einer Praxis der Kontingenzbewältigung reduziert werden kann174. Menschen gelingt es auf diese Weise, sich und ihr Dasein im Wortsinne realistischer einzuschätzen, was zumindest in diesem Fall durch die adaptive Funktion solcher Religionspraxis gestützt wird, die offenbar nicht auf ‚Realitätsverzerrung‘175 beruht. Insgesamt scheint daher im Rahmen der evolutionären Anthropologie ein Modell des menschlichen Wirklichkeitsverständnisses rekonstruierbar zu sein, welches dem in Punkt zwei entfalteten ‚existenzialontologischen‘ äußerst nahekommt. 3.4 Naturalistische Theologie

Das oben skizzierte Modell narrativer existenzieller Wirklichkeit im Allgemeinen bzw. christlich-religiöser Wirklichkeit im Besonderen muss mit dem Wirklichkeitsverständnis der Realwissenschaften kompatibel sein. Dies kann nur gelingen, wenn sich die qua Existenzanalyse beschriebene Wirklichkeit als perspektivische Abblendung und somit letztlich identisch mit derjenigen komplexeren Wirklichkeit erweist, welche von den Realwissenschaften beschrieben wird, d. h. wenn sich beide Wirklichkeitszugänge interpretierend aufeinander beziehen lassen. Hier liegt alles daran, dass ein Pluralismus der Wirklichkeits­ zugänge nicht mit einem Pluralismus der Wirklichkeit verwechselt wird, wie es in der Theologie notorisch der Fall ist176. Ein Pluralismus der 172 Der Mensch hat ein Zeitverständnis, d. h., er ist „in der Lage, sein Handeln vom Diktat aktueller Antriebe zu befreien und sich künftige Bedürfnislagen zu vergegenwärtigen. […] Folgenschwere Begleiterscheinungen des Zeitverständnisses sind spezifische menschliche Ängste vor Gefahren, der Ungewißheit, der Einsamkeit, der Zukunft und dem Tod.“ (Spektrum Lexikon der Neurowissenschaft, URL: [4.3.2016]) 173 Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 32006, 2. Teil. 174 E. Voland, Homo naturaliter religiosus (s. Anm. 138), S. 298. 175 Vgl. V. Sommer, Die Vergangenheit einer Illusion (s. Anm. 136), S. 236. 176 Vgl. Hans Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht, Kevelaer 22009, S. 81: „Die Wirklichkeit ist vieldimensional und aus mehreren Perspektiven zugänglich.“

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Wirklichkeit läuft nämlich auf die Behauptung hin­aus, Wirklichkeit sei als eine Art vieldimensionaler Kristall vorzustellen, wobei jedem Wirklichkeitszugang eine bestimmte ‚Dimension‘ entspreche. Dieses Wirklichkeitsverständnis beruht offensichtlich auf einer unreflektierten Ontologisierung der verschiedenen Wirklichkeitszugänge. Die Annahme, dass es Wirklichkeitsbereiche gebe, die über die realwissenschaftlich erfassbare Wirklichkeit hinausgingen, lässt sich jedoch vonseiten der Realwissenschaften nicht vernünftig rechtfertigen. Zudem setzt dieses Wirklichkeitsmodell voraus, dass jeder Wirklichkeitszugang seine je spezifische Wirklichkeitsdimension zum Gegenstand hat, woraus sich die Inkommensurabilität, d. h. die wechselseitige Nicht-Interpretierbarkeit aller verschiedenen Darstellungsformen ergäbe. Bereits einfache Alltagsbeispiele wie der rote Apfel, der sich kulinarisch, ökonomisch, physikalisch, biologisch, ästhetisch etc. zur Darstellung bringen lässt, ohne dass damit ein grundsätzlicher Wechsel des Gegenstandes vorgenommen wird, widerlegen jedoch diese Annahme177. Die Forderung einer szientistisch-naturalistischen Interpretation der existenzialen Interpretation des Narrativ-Religiösen legt sich von beiden Seiten her nahe: Gerade eine existenziale Thematisierung von ‚Sein‘, die mehr sein will als eine (konkurrierende) Metaphysik, muss sicherstellen, dass ihre Rede vom Sein nicht unter der Hand (wieder) zu einem Reden über das (im traditionellen Sinne) ‚höchste Seiende‘ wird. Das kann aber nur dann gelingen, wenn sich Reden über das ‚Sein‘ als Reden über Seiendes präzisieren bzw. interpretieren lässt. Heideggers Ausweg, man müsse eben fragen, „was positiv denn nun unter dem nichtverdinglichten Sein des Subjekts […] zu verstehen sei“178, kann nicht hinreichend sein, weil auch ein nichtverobjektiviertes Sein, welches von Seiendem kategorial unterschieden wird, damit automatisch als Wirklichkeit neben ­Seiendem zu stehen kommt – ganz zu schweigen davon, dass allein schon die Möglichkeit ‚nichtverobjektivierenden Denkens‘ höchst frag177 Daher ist auch die von Holm Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 22015, S. 23, im Rekurs auf Kutschera aufgestellte (Inkommensurabilitäts-) These zurückzuweisen, „[d]as psychologische [sic!] Vokabular, mit dem wir im Alltag uns selbst, unsere Erlebnisse, unsere Gedanken, unsere Wahrnehmungen und so weiter aus der Erste-Person-Perspektive beschreiben, [könne] nicht definiert oder begrifflich expliziert werden mit Hilfe des naturwissenschaftlichen Vokabulars“. 178 M. Heidegger, Sein und Zeit (s. Anm. 140), S. 46.

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lich ist179. Vonseiten der Realwissenschaften legt sich die Forderung nach einer konsequenten Kompatibilität von Existenzanalyse und realwissenschaftlicher Ontologie nahe, weil die naturwissenschaftliche Methodik wie bereits ausgeführt keine ontologischen Grenzziehungen bzw. ontologischen Erweiterungen über die naturwissenschaftlich thematisierbare Wirklichkeit hin­aus zulässt. Aus Sicht des Kritischen Rationalismus stellt jede Etablierung eines Dualismus bzw. einer ‚Zwei-Welten-Metaphysik‘ eine Immunisierung bestimmter Aussagenklassen, d. h. eine Beschneidung von Möglichkeiten der Kritik180, dar. Wenn somit vonseiten des Kritischen Rationalismus eine ‚Reduktion‘ der Wirklichkeit des Religiösen auf das realwissenschaftlich Fassbare gefordert wird, so kommt es entscheidend auf die Durchführung dieser ‚Reduktion‘ an. Sie kann nach dem bisherigen Gang der Untersuchung nicht darin bestehen, religiöse Darstellungen auf neurophysiologische Prozesse zurückzuführen. Dieses genetische Verfahren ist zwar in ­vielerlei Hinsicht aufschlussreich, verfehlt aber die (erkenntnistheoretische) Frage nach Gegenstand und Geltung der betreffenden religiösen Vorstellungen. Auch ist nachvollziehbar, dass eine religiöse Darstellung, die hermeneutisch als All-Einheits-Erfah­ r ung in Erscheinung tritt, nicht (nominalistisch) auf bestimmte Einzeldinge oder Prozesse reduzierbar ist, sondern nur auf das, was naturwissenschaftlich als das All-Eine, d. h. als der Horizont der Lebens­möglichkeiten, in Erscheinung tritt. Die Forderung nach einer naturalistischen Reduktion bzw. Interpretation geht vom ontologischen Naturalismus aus. Der ontologische ­Naturalismus ist eine Theorie über die Grundstruktur des Ganzen der realwissenschaftlich erschlossenen Wirklichkeit. Diese Theorie ist zum einen empirisch-synthetisch, d. h., sie fasst die Ergebnisse der Realwissenschaften zu einem Gesamtbild zusammen181. Zum anderen ist sie metaphysisch bzw. ontologisch, sofern es ihr in der Reflexion des 179 Vgl. dazu die Kritik von H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), S. 141 ff.; ders., Kritik der reinen Hermeneutik (s. Anm. 139), S. 13–18. 180 Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft (s. Anm. 41), Kap. V (Die Theologie und die Idee der doppelten Wahrheit), S. 124–128. 181 Bernulf Kanitscheider, Naturphilosophie und analytische Tradition, in: ders. (Hg.), Moderne Naturphilosophie, Würzburg 1983, S. (63–79) 77 ff.

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­ aturwissenschaftlichen Weltbildes um die begriffliche Bestimmung n der Grundelemente der Wirklichkeit geht – beispielsweise darum, ob und inwiefern Möglichkeiten, Faktizität, Prozesse, Eigenschaften, Naturgesetze, Allgemeines und Individuelles real sind und wie sie zusammenhängen.182 Der ontologische Naturalismus kann – unbeschadet der nicht unbeträchtlichen Variationsbreite, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann – auf die Kernthese des ontologischen Reduktionismus festgelegt werden: Sie besagt beispielsweise bezogen auf biologische Gegenstände, „dass den Lebewesen keine anderen elementaren Substrate und keine anderen elementaren Wechselwirkungen zugrunde liegen als den Prozessen der unbelebten Natur“183. „Entitäten und Beziehungen auf den höheren Schichten der Naturbeschreibung werden immer durch Entitäten und Prozesse auf der tieferen Ebene konstituiert: Kein elan vital, kein Weltgeist, kein Über-Ich treten als brute facts und in der Rolle eines deus ex machina auf.“184

Somit ist für den ontologischen Naturalismus die Vorstellung grundlegend, dass die Wirklichkeit als Stufenbau zunehmender Komplexität anzusehen ist, der auf der Grundlage physikalischer Basisentitäten errichtet ist: „Elementargebilde können Hierarchien von strukturaler und funktionaler Komplexität aufbauen.“185 Der damit gegebene „[o]ntologische […] Monismus“ ist dabei durchaus „mit strukturalem Pluralismus“ vereinbar. Geht man vom evolutionären Prozess der Komplexitätsentstehung aus, bietet sich für den ontologischen Reduktionismus bzw. Naturalismus die Bezeichnung „emergentistischer Materialismus“186 an. Aus ontologischer Perspektive ist zu ergänzen, dass mit der Komplexitätsentstehung auch neue naturgesetzliche Eigenschaften entstehen, während die Ermöglichung dieser Eigenschaften mit jenem ­fundamentalen Naturgesetz gegeben ist, welches die Faktizität der phy182 Vgl. z. B. Michael Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Frankfurt a.M. 2008; Alexander Bird, Nature’s Metaphysics. Laws and Properties, Oxford 2007; M. Bunge / M. Mahner, Über die Natur der Dinge (s. Anm. 59). 183 A. Bartels, Grundprobleme der modernen Naturphilosophie (s. Anm. 50), S. 107. 184 A.a.O., S. 108. 185 B. Kanitscheider, Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele (s. Anm. 58), 1. 186 M. Bunge / M. Mahner, Über die Natur der Dinge (s. Anm. 59), S. 89. 153.

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sikalischen Basisentitäten bestimmt187. Dem ‚strukturalen Pluralismus‘ entspricht dann ein „Eigenschaftspluralismus“188, während der ‚Monismus‘ ontologisch genauer als „Substanzmonismus“ zu bestimmen wäre. Der ontologische Naturalismus behauptet also, dass sich die Vielfalt der Wirklichkeit nach Komplexitätsstufen gliedert, die sich ihrerseits evolutionär aus einem physikalischen Einheitsgrund entwickelt haben. Dieser ‚Ermöglichungsgrund‘ aller Strukturen im Universum ist zugleich der Ursprung alles Wirklichen, sofern physikalische Kosmologie und Mikrophysik in der Suche nach der TOE bzw. AUT zusammen­ fallen. Dabei ist zu betonen, dass sich das konkrete physikalische Bild des Ursprungs bzw. Grundes gemäß der kritisch-rationalen Methodik der Realwissenschaften durchaus wandeln kann. Genausowenig wie ­realwissenschaftliche Argumente eine Letztbegründung darstellen, sind wissenschaftliche Theorien als Letzterklärungen aufzufassen189. Eine gegebenenfalls entdeckte TOE kann sich nachträglich als falsch erweisen; ebenso können nachträglich physikalische Befunde auftreten, die zur Suche nach noch grundlegenderen physikalischen Basisentitäten bzw. Gesetzen motivieren190. Die Stärke des naturalistischen Wirklichkeitsmodells besteht darin, dass es sich um eine Minimalontologie handelt, die sämtlichen Problemen eines Dualismus entgeht – sei dieser nun substanzmetaphysisch oder transzendentalphilosophisch begründet. Erstaunlicherweise tritt der Dualismus heute wieder verstärkt auf, ohne die eigenen massiven Schwierigkeiten zu reflektieren, aufgrund derer er im Mainstream der aktuellen Philosophie des Geistes nur eine untergeordnete Rolle spielt191. Wer kritisiert, der Naturalismus könne die Emergenz192 von ‚Ich-Sub187 M. Schmuck, Peirces ‚Religion of Science‘ (s. Anm. 49), Kap. 4. 188 M. Bunge / M. Mahner, Über die Natur der Dinge (s. Anm. 59), S. 148. 151. Dort f­ indet sich auch das Folgezitat. 189 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis (s. Anm. 42), S. 201 ff. 190 Bernulf Kanitscheider, Im Innern der Natur. Philosophie und moderne Physik, Darmstadt 1996, S. 97 f. 191 Bei Nagel nimmt er sogar die (ziemlich unklare) Form eines Pan­psychismus an. Vgl. Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 52014, S. 87 f. 93–97. 192 H. Tetens, Gott denken (s. Anm. 177), S. 26 f., arbeitet mit einem realwissenschaftlich nicht akzeptablen ‚starken‘ Emergenzbegriff. Vgl. dazu die Definition in M. Bunge / M. Mahner, Über die Natur der Dinge (s. Anm. 59), S. 78 f.

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jekten‘ nicht erklären, ignoriert entweder die oben erwähnten naturalistischen Untersuchungen zu einsichtigem Handeln, Symbolisierungs­ fähigkeit, Selbstbewusstsein etc. oder er hypostasiert die Darstellungsform der ‚Ich-Perspektive‘ zu einer immateriellen Entität und setzt damit genau das voraus, was er zunächst einmal plausibel zu machen hätte. Das Argument, mit der Ich-Perspektive sei eine Form des Wissens von sich selbst gegeben, so dass das naturwissenschaftliche Wissen als unvollständig entlarvt sei193, wird weder der Ich-Perspektive als Darstellungsform noch ihrem Inhalt gerecht: Erstens ist die Ich-Perspektive kein Wissen, sondern eine Erfahrung, die sich selbst gar nicht (voll) durchsichtig ist und daher nicht als vermeintliches ‚Erfahrungswissen‘ in den Diskurs der Realwissenschaften eingespielt werden kann. Zweitens stellt die Annahme, Gegenstand der Ich-Perspektive sei das (immaterielle) Ich selbst, eine subjektivistische Verkürzung dar, sofern nicht berücksichtigt wird, dass auch in der Ich-Perspektive des Alltagsverstandes die Wirklichkeit als Ganzes zum Gegenstand wird. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass die oben skizzierte Existenzialontologie durchaus offen ist für eine naturalistische Interpretation im soeben explizierten Sinn von ‚Naturalismus‘. Genauer kann gezeigt werden, dass die Existenzialontologie eine lebensweltliche Abblendung der naturalistischen Ontologie der Realwissenschaften darstellt. Dies soll im Folgenden kurz skizziert werden. Realwissenschaften haben in der Regel eine nomologische, d. h. auf die Gesetzesstruktur des Wirklichen bezogene Perspektive. Das Individuelle kommt zwar vor, insbesondere wenn es um die Erklärung ‚einmaliger‘ historischer Ereignisse geht, die von einer Vielfalt spezifischer Randbedingungen abhängen. Die lebensweltliche Sicht ist demgegenüber jedoch viel grundsätzlicher auf die (je eigene) Individualität fokussiert, wobei diese Sichtweise charakteristischerweise mit (nichtontologischen) Wert-, Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen an­ gereichert wird. Aus realwissenschaftlicher Sicht ist das Individuelle ein Fall, eine mögliche Realisierung einer allgemeinen Naturgesetzlichkeit, die sich wiederum auf den umfassenden Möglichkeitshorizont eines fundamen193 H. Tetens, Gott denken (s. Anm. 177), S. 21 ff.

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talen Naturgesetzes (‚Weltformel‘) zurückführen lässt. Auch das oben skizzierte existenziale Wirklichkeitsmodell re­f lektiert, dass die Individuen, seien sie menschlicher oder nicht-menschlicher Natur, in einen Zusammenhang eingebettet sind, der sich nicht nominalistisch als Gesamtmenge der Individuen beschreiben lässt. Alltagsweltliches Denken rekurriert jedoch weder auf die ‚wesenhafte‘ Feinstruktur der Individuen, noch auf Naturgesetze, weshalb der Aspekt der Hierarchie gesetzhaftbestimmter komplexer Strukturen lebensweltlich ausgeblendet bleibt. Was allerdings lebensweltlich relevant bleibt, ist die Einbettung jedes Individuums in einen Ermöglichungszusammenhang. An dieser Stelle kann die naturalistische Interpretation deshalb legitimerweise ­ansetzen. Der existenziell als Ursache und Grund jeder Individualität erfahrene umfassende Ermöglichungshorizont, der in der christlichen Religion als ‚Gott‘ angesprochen werden kann, ist aus realwissenschaftlicher Sichtweise nichts anderes als jenes Gesetz höchster Allgemeinheit ‚im Ur­knall‘194, welches auch heute noch als Gesetz der physikalischen ‚Elementargebilde‘195 allen im Universum vorkommenden komplexen Strukturen und deren Gesetzen zugrunde liegt. Das existenziale Wirklichkeitsmodell geht auch dort nicht über die realwissenschaftliche Sichtweise hinaus, wo es auf die charakteristische ‚Zukunftsoffenheit‘ und ‚Zeitlichkeit‘ des Individuums bzw. auf seine Nicht-Faktizität hinweist. Auch im realwissenschaftlichen Rahmen ist es evident, dass jedes Individuum nicht einfach faktisch gegeben ist, sondern sich in einem ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklungsprozess befindet. Bereits biologisch gesehen ist es völlig offen, welche genetisch möglichen Eigenschaften bzw. Dispositionen ein Individuum im Laufe seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der Um-

194 Die Tatsache, dass die Standardkosmologie von einer ‚Ursingularität‘ ausgeht, an der die physikalische Anwendbarkeit der quantenmechanischen Gesetze (Hamilton-Operator) problematisch wird (Unendlichwerden aller Parameter, Renormierungsverfahren), sollte m.E. nicht zu dem vorschnellen ontologischen Urteil führen, somit seien auch die fundamentalen physikalischen Gesetze im Urknall ungültig bzw. nicht real. Dies scheint mir schon deshalb inkonsistent, weil das Standardmodell, in dem der Urknall als Singularität beschrieben wird, die Gültigkeit der Gesetzesformeln von Allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenmechanik durchgängig voraussetzt. 195 B. Kanitscheider, Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele (s. Anm. 58), 1.

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welt realisieren wird196. Hinzu kommt, dass das Individuum noch nicht einmal an diese ‚Reaktionsnorm‘, d. h. die Grenzen des ihm genetisch Möglichen, gebunden ist. Als selbstbewusstes, d. h. zur symbolischen Repräsentation seiner Umwelt befähigtes Wesen, ist es in der Lage, sich nicht nur mit seiner eigenen Individualität, sondern auch mit anderen Individuen, ja sogar mit dem All-Einen der Wirklichkeit, d. h. mit dem Ursprung und Grund alles Wirklichen zu identifizieren – ein Vorgang, der m.E. zu Recht mit dem christlichen Glaubensbegriff in Verbindung gebracht werden kann.

Nachbetrachtung Abschließend sei darauf hingewiesen, dass eine naturalistische Theologie, obgleich sie auf einem ungewohnten erkenntnistheoretischen Boden errichtet ist, an vieles anknüpfen kann, was theologischerseits im Rahmen von Transzendentalphilosophie und Idealismus vorgedacht ­ worden ist. Vor allem ist die Idee der Einheitsfunktion als der zugleich religiös wie theologisch zentralen Perspektive hervorzuheben: „Religion ist ihrem transzendentalen Begriff nach das lebensweltliche Bewußtsein des Gegründetseins in unbedingter Einheit und des SichErfassens in Differenz.“197

Diese Definition und die damit gegebene theologische198 Zentralstellung der ‚Endlichkeitsreflexion‘ kann auch dann beibehalten werden, wenn man den transzendentalen Rahmen verlässt bzw. diesen Rahmen wie ausgeführt über den Begriff regulativer Ideen in eine Theorie alltags196 Dies gilt, sofern ein ‚Neodeterminismus‘ (M. Bunge/M. Mahner, Über die Natur der Dinge [s. Anm. 59], S. 99 ff.), der die Realität des irreduziblen quantenmechanischen ­Zufalls anerkennt, nicht auf die These universeller Prognostizierbarkeit aller Einzel­ ereignisse im Sinne des Laplace’schen Dämons festgelegt ist. 197 U. Barth, Religion in der Moderne (s. Anm. 2), S. 418. 198 U. Barth, a.a.O., S. 421, identifiziert den ‚Schöpfungsglauben‘, d. h. den religiösen Deutungsakt selbst und als solchen, als Endlichkeitsreflexion. Plausibler scheint mir jedoch, den Moment der Reflexion für das – dann theologisch zu nennende – Durchdenken des Schöpfungsglaubens zu reservieren, der für sich genommen nach Schleiermacher nichts anderes sein sollte als eine ‚einzelne Anschauung‘ (F. Schleiermacher, Über die Religion [s. Anm. 3], S. 126).

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weltlich-existenzial-heuristischer Wirklichkeitsdeutung überführt. An­ knüpfungspunkt für ein konsequent naturalistisches Theologiekonzept kann auch Schleiermachers Monismus und Spinozismus sein, sofern er seiner transzendentalphilosophischen Umarbeitung entkleidet wird bzw. sofern Schleiermachers ‚höherer Realismus‘ in einen kritischen Realismus überführt wird. Als methodischer Anknüpfungspunkt kann natürlich auch Schleiermachers ‚schneidende‘ Entgegensetzung von Anschauung bzw. Gefühl und Denken bzw. Wissenschaft/ Metaphysik dienen, die eine konsequente Komplementarität bzw. Kompatibilität der Perspektiven auf die eine Wirklichkeit nahelegt. Schließlich ist auch Bultmanns klares Votum für eine wissenschaftliche ­Weltanschauung aufzunehmen, d. h. die vermeintlich schwächste Voraussetzung seines theologischen Denkens, sowie sein Programm der Überführung der christlichen Deutungstraditionen in existenziale Begriffe. Allerdings müssten alle damit verbundenen Tendenzen zur methodischen und ontologischen Selbstabschottung gegenüber den Realwissenschaften ­ ausgeschieden werden. Der Preis einer Naturalisierung der Theologie ist entsprechend, dass die nicht nur bei Bultmann zentrale Idee der epistemischen ‚Unverfügbarkeit‘ Gottes aufzugeben wäre. Aber auch hierbei lässt sich an eine theologische Stimme anknüpfen: „In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein.“199

199 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 141990, S. 162 f. 185 f.

A-theisten im Ornat Kirchliche Verkündigung ohne persönlichen Gott? Andreas Rössler

1. „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“ (Dietrich Bonhoeffer 1931) Es mag widersinnig klingen, ist aber nicht aus der Welt: Es gibt ordinierte Geistliche, die von ihrer Kirche mit der öffentlichen Verkündigung der christlichen Botschaft beauftragt sind, und die ganz offen verkündigen und lehren, dass es Gott nicht gebe. Sie vertreten öffentlich ein „a-theistisches Christentum“ und stellen sich damit allem Anschein nach gegen die Grundlagen ihrer Kirche. Sicher haben auch sonst manche, die im Dienst ihrer Kirche in der Verkündigung und Unterweisung tätig sind, mit den Fundamenten des christlichen Glaubens ihre persönlichen Schwierigkeiten und suchen mit ihren Glaubenszweifeln oder ihrer deutlich abweichenden Überzeugung zurechtzukommen. Vielleicht verschweigen sie einfach bestimmte christliche Fundamentalartikel oder suchen sie umzuinterpretieren. Man sollte hier niemandem einen Atheismus unterstellen, der das selbst von sich weisen würde. Anders steht es mit den Geistlichen, die sich offen zu einem wie auch immer gearteten „Atheismus“ bekennen und sagen: „Es gibt keinen Gott“. Sie wollen „religiös ohne Gott“ sein1 und „atheistisch 1 Buchtitel von Norbert Scholl: Religiös ohne Gott. Warum wir heute anders glauben, Darmstadt 22011 (12010). – Der römisch-katholische Theologe Scholl gehört nicht in die Kategorie der „a-theistischen“ oder gar „atheistischen“ Geistlichen und Theologen.

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an Gott glauben“2. Sie verlautbaren das nicht nur in ihrer Verkündigung, sondern auch in theologischen Veröffentlichungen. Darum soll es im Folgenden gehen, an vier Beispielen: Paul Schulz, Anthony Freeman, Klaas Hendrikse, Ella de Groot. Es ist zu fragen, um was für einen Atheismus es sich jeweils handelt. Grundsätzlich ist zu unterscheiden (a) zwischen einem in sich abgerundeten weltanschaulich-philosophischen Atheismus, für den die Materie bzw. die Natur der letzte Daseinsgrund ist – man redet von „Materialismus“ oder „Naturalismus“ – und (b) einem nicht so weit gehenden ­„A-theismus“, der sich gegen einen aus früheren weltbildhaften Voraussetzungen überkommenen „Theismus“ richtet, bei dem sich Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung, Jenseits und Diesseits als zwei getrennte Wirklichkeiten gegenüberstehen. Ein derartiger „A-theismus“ ist in erster Linie eine Negation. Mit Dietrich Bonhoeffer stellt er fest: „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht.“3 Genauer gesagt: Gott ist kein Gegenstand wie andere Gegenstände, die „es gibt“. Gott gibt es nicht in der Weise, wie es den Bodensee oder einen bestimmten Menschen „gibt“. Der „Atheismus“ von amtierenden christlichen Geistlichen, die sich zur Parole „Gott gibt es nicht“ bekennen, ist im Allgemeinen kein grundsätzlicher weltanschaulicher Atheismus, sondern eher ein „A-theismus“, der sich vom herkömmlichen Theismus mit seinen dualistischen Voraussetzungen distanziert. Damit ist bei den christlichen A-theisten eine hermeneutische Bemühung zu erwarten, was sie dem überlieferten Begriff „Gott“ doch noch positiv abgewinnen können. Ferner ist bei ihnen nach ihrer elementaren positiven Botschaft zu fragen, die sie weitergeben wollen. Grundsätzlich kann man sagen: Wenn ein amtierender Geistlicher vom „A-theismus“ zum „Atheismus“ übergeht, wie das bei Paul Schulz und auch bei dem britischen Theologen Don Cupitt Schritt für Schritt der Fall gewesen ist, dann steht die neu gewonnene „positive“ Botschaft in ihrer Grundlage ganz im Gegensatz zu dem, was die christliche Botschaft vertritt. 2 Buchtitel von Dorothee Sölle: Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie, Olten / Freiburg i.Br. 1968. 3 Dietrich Bonhoeffer, Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, Berlin 1931, S. 94 = DBW 2, hg. v. Hans-Richard Reuter, München 1988, S. 112.

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Ob „A-theismus“ oder darüber hinaus „Atheismus“: in jedem Fall ist zu klären, was mit dem Wort (und der geglaubten Wirklichkeit) „Gott“ gemeint ist. Wovon reden wir, wenn wir in Zustimmung oder Ablehnung von „Gott“ reden? Im Anschluss an Paul Tillich hat das, was mit Gott gemeint ist, einen existenziellen und einen ontologischen Aspekt: Mit Gott ist erstens das gemeint, „was uns unbedingt angeht“, und zweitens geht nur das uns unbedingt an, „was über unser Sein und Nichtsein ­entscheidet“4. Unter Gott ist der tragende Grund und das Ziel von allem zu verstehen, die Quelle des Daseins, der Inbegriff der Wahrheit. Ist eben dies die Dimension Gottes bzw. des Göttlichen, dann ist weiterhin nach dem wahren Charakter dieses Göttlichen zu fragen. Ist dieses Göttliche, Absolute (a) als personal-transpersonaler Geist zu verstehen, als allumfassendes Bewusstsein, als kosmische Intelligenz und machtvoller Wille? Oder aber im Gegenteil (b) als unbewusst und willenlos? Und dann: wie verhält sich das so oder so verstandene Göttliche zu uns Menschen und zur Welt insgesamt? Darum geht der Streit. „Gott“ kann nicht ersatzlos gestrichen werden. Nach dem Profil, dem wahren Charakter des Absoluten, des Unbedingten ist zu fragen. In diesem Sinn schreibt Tillich: „Wirklicher Atheismus ist keine menschliche Möglichkeit, denn Gott ist dem Menschen näher als der Mensch sich selbst. Ein Gott kann nur im Namen eines anderen Gottes geleugnet und überwunden werden.“5

Die a-theistisch eingestellten christlichen Geistlichen heben sich von den Vertretern des „neuen Atheismus“ dadurch wohltuend ab, dass sie das kleine Einmaleins der theologischen Wissenschaft kennen und nicht im Blick auf die Bibel exegetische Unsinnigkeiten behaupten, die erst einmal aus dem Weg geräumt werden müssen, bevor man weiter miteinander diskutieren kann.6 So kann man in der Frage nach Gott gleich zur Sache kommen. Berührungspunkte der (untereinander durchaus verschieden denkenden) „A-theisten im Ornat“ mit der „Mainstream“-Verkündigung und

4 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 31956, S. 19 f. 21. 5 Paul Tillich, In der Tiefe ist Wahrheit. Religiöse Reden, 1. Folge, Stuttgart 51952, S. 122. 6 So wirft Paul Schulz den „neuen Atheisten“ großenteils theologische Inkompetenz vor: Paul Schulz, Atheistischer Glaube. Eine Lebensphilosophie ohne Gott, Wiesbaden 2008, S. 169, Anm. 28.

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dem theologischen Grundkonsens in den Kirchen gibt es an verschiedenen Stellen: Erstens besteht in der inhaltlichen Ethik weitgehend eine Übereinstimmung. Zweitens ist Jesus von Nazareth hier und dort erstrangiger Orientierungspunkt – in der „Gott-ist-tot-Theologie“ der 1960er und 1970er Jahre trat Jesus sogar, im Anschluss an die damalige theologische Christozentrik, großenteils an die Stelle Gottes. Drittens kann in der kirchlichen Theologie nicht bestritten werden, dass Gott kein Gegenstand neben anderen ist, kein Teil der messbaren Welt, keine „Person“ neben anderen Personen, dafür aber – wogegen sich die ­„A-theisten im Ornat“ meistens sperren – Grund allen Personseins. Viertens besteht Einigkeit darüber, dass „Gott“ – wenn man ihn einmal voraussetzt – nicht vor den eigenen Karren gespannt werden darf, der „Name Gottes“ im Sinn des biblischen Bilderverbots also nicht missbraucht werden darf. Fünftens muss auf beiden Seiten eingesehen werden, dass unsere Erkenntnis begrenzt bleibt. Sechstens ist ein „Fundamentalismus von links“ abzulehnen, der nur ein ganz altertümlichrechtgläubiges Christentum für authentisch christlich hält und alle hermeneutischen Bemühungen, die alte Botschaft neu auszulegen, von vornherein für Verwässerungen hält, ein solches angeblich ursprüng­ liches, markantes, kraftvolles, kantiges Christentum dann aber für völlig absurd erklärt.7 Eine gewisse Affinität gibt es speziell zwischen einem freisinnigen, freien, liberalen Christentum auf der einen und einem a-theis­ti­schen oder post-theistischen Christentum auf der anderen Seite. Erstens werden hier und dort Vernunft und Glaube als durchweg kompatibel verstanden. Niemals brauchen Christen ein „Opfer des Verstandes“ (sacrificium intellectus) zu bringen. Zweitens wird hier und dort in der Gottesfrage ein Supranaturalismus bzw. Interventionismus abgelehnt, nach dem Gott hin und wieder die von ihm selbst geschaffenen Ordnungen der Natur auf den Kopf stellen und auf diese Weise in das Weltgeschehen und das persönliche Dasein eingreifen bzw. einschreiten (inter­ venieren) würde. Drittens werden hier und dort autoritäre, doktrinäre

7 Dazu Klaas Hendrikse, Glauben an einen Gott, den es nicht gibt. Manifest eines atheistischen Pfarrers. Aus dem Niederländischen übertragen von Gabrielle Zangger-Derron, Zürich 2013 (niederländische Originalausgabe 2007), S. 42.

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Präsentationen der christlichen Botschaft abgelehnt. Glaube kann kein Fremdglaube und kein blinder Glaube sein. Glaube muss dem eigenen Empfinden, dem eigenen Wahrheitsgewissen, der eigenen Erfahrung entsprechen. Viertens ist hier und dort ein besonderes Augenmerk auf suchende, fragende Menschen gerichtet, auf Zweifler und Agnostiker. Sie haben ein Daseinsrecht in Christentum und Kirche.

2. Jean Meslier, der Erzvater der atheistisch eingestellten Geistlichen Ein Erzvater der atheistisch eingestellten christlichen Geistlichen ist der französische römisch-katholische Priester Jean Meslier (1664–1729).8 Allerdings hebt er sich von den in unserer Fragestellung ins Auge gefassten „a-theistischen“ christlichen Amtsträgern und Verkündigern an zwei Punkten ab: Erstens verfasste Meslier ein Testament, das er bis zum Lebensende geheim hielt und in dem er jeden Gottesglauben, Jesus und die Bibel, das Christentum und die Kirche radikal ablehnte – so radikal, dass der gewiss nicht kirchenfromme Philosoph Voltaire (1694–1778) 1761 das von ihm herausgegebene Testament Mesliers so zusammenstrich, dass vom Atheismus nichts mehr übrig blieb. Mesliers totale Ablehnung aller Religion, mit einem Wahrheitspathos vorgetragen, ist nicht nur metaphysisch, sondern auch ethisch begründet, weil die Religion Quelle unzähliger Übel sei. Die höchste Instanz ist für ihn das „Tribunal der unfehlbaren Vernunft“9. Einige wenige Kostproben aus der umfang­ reichen, mit Bibelstellen und Zitaten aus den Kirchenvätern gespickten Schrift mögen genügen: 8 Jean Meslier, Das Testament des Abbé Meslier. Die Grundschrift der modernen Religionskritik, hg. u. eingeleitet von Hartmut Krauss, Osna­brück 22005. – Zu Meslier: Georges Minois, Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (aus dem Französischen von Eva Moldenhauer), Weimar 2000, S. 309–341; Heinz-Robert Schlette, Art. Meslier, in: Karl-Heinz Weger (Hg.), Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Autoren-Lexikon von Adorno bis Wittgenstein, Freiburg i.Br. 1979, S. 233–235. – Der Originaltitel von Mesliers Schrift lautet: „Mémoire des pensées et des sentiments de Jean Meslier“. 9 J. Meslier, Das Testament des Abbé Meslier, a.a.O., S. 400.

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„Wisst also […], dass all dies, was in der Welt als Gottesdienst und Andacht feilgeboten und praktiziert wird, nichts als Irrtum, Täuschung, Einbildung und Betrug ist; alle Gesetze, alle Vorschriften, die im Namen und mit der Autorität Gottes oder der Götter erlassen werden, sind in Wahrheit nichts als menschliche Erfindungen.“10 „Alles, was man Euch für von Gott inspirierten Glauben zu halten zwingt, verdient noch nicht einmal menschlichen Glauben.“11 „Die Toten, mit denen zu gehen ich im Begriffe stehe, beunruhigen sich über nichts mehr, sie mischen sich nirgends mehr ein, sie kümmern sich um nichts. Ich werde daher dies hier mit dem Nichts beenden, auch bin ich kaum mehr als ein Nichts und werde bald nichts mehr sein.“12

Zweitens amtierte Meslier sein Leben lang als Dorfpfarrer relativ unauffällig, abgesehen von einem gescheiterten Versuch, in Fragen der ­Sozialethik – konkret: des Umgangs von Adel und höherem Klerus mit dem ausgebeuteten einfachen Volk der Bauern – wider den Stachel zu löcken. Hinsichtlich seiner Verkündigung und Lehre hielt er sich offensichtlich an die kirchlichen Vorgaben, wenn auch, wie ein Pfarrer einer Nachbarpfarrei 1783 berichtete, mit einem leisen, freilich von niemandem verstandenen Vorbehalt (einer reservatio mentalis): Meslier habe sich „in seiner Predigt bemüht, den christlichen Glauben nicht auf seine Verantwortung zu nehmen, indem er Formulierungen verwendete wie ‚die Christen sagen, die Christen wollen, die Christen glauben‘“.13 Man mag Meslier Heuchelei vorwerfen. Andererseits wäre er, hätte er seine wahre Überzeugung preisgegeben, in einem Zeitalter religiöser Intoleranz und kirchlicher Herrschaft mit höchster Wahrscheinlichkeit auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Den Ausweg eines Berufswechsels hat es für ihn wohl nicht gegeben. Vermutlich hat er die ­Kirchenlehre positivistisch dargeboten, ohne weitere Bemühung um Verstehen, was für ihn von seiner innersten Auffassung her ja auch vergebliche Liebesmüh’ gewesen wäre. Möglicherweise hat er manches für ihn allzu Anstößige einfach mit Schweigen übergangen, um es mit der Doppelgleisigkeit nicht allzu weit zu treiben. Aber das sind Vermutungen. 10 A.a.O., S. 85. 11 A.a.O., S. 87. 12 A.a.O., S. 402 f. 13 G. Minois, Geschichte des Atheismus (s. Anm. 8), S. 333.

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Kommt ein amtierender christlicher Geistlicher heute zu einer dezidiert atheistisch-naturalistisch-materialistischen Überzeugung, dann muss er, anders als Meslier, nicht um sein Leben fürchten. In einer Zeit großer Öffentlichkeit kann er dabei auch mit Medieninteresse rechnen. Freilich wird er sich nicht lange als Prediger und Seelsorger in seiner Kirche halten können, insbesondere wenn seine Auffassungen allzu weit vom gesamtkirchlichen Grundkonsens abweichen.

3. Paul Schulz: vom A-theismus zum Atheismus Der Hamburger Pastor Dr. Paul Schulz14 (Jahrgang 1937) machte in den 1970er Jahren deutschlandweit Furore, indem er sich öffentlichkeitswirksam zu einem Christentum ohne Gott bekannte. Ab 1970 war er Pastor in St. Jacobi. 1975 wurde ein Lehrbeanstandungsverfahren gegen ihn eingeleitet. Er wurde vom Dienst beurlaubt und für ein Jahr zu einem theologischen Aufbaustudium in München freigestellt. Am 1. November 1976 äußerte er sich in einem „Spiegel“-Interview zu ­seinen Auffassungen, und danach mehrfach in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Mit seinen Büchern „Ist Gott eine mathematische Formel?“ (1977) und „Weltliche Predigten“ (1978) gewann er erneut erhebliche Publizität. Am 19. März 1979 wurde er aufgrund eines Urteils der Spruchkammer der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) aus dem Pfarrdienst entlassen. Bald danach trat Schulz aus der Kirche aus. Er arbeitete in der freien Wirtschaft, unter anderem als Manager einer Bierbrauerei. 1995 gründete er eine private Seniorenakademie, die er seither leitete. Schulz lehnte als amtierender Geistlicher die Vorstellung eines „persönlichen Gottes“ ab. Das Gottesverständnis müsse mit dem jeweils zeitgemäßen Weltbild zusammenstimmen. Doch war das noch kein Abschied vom Gottesgedanken überhaupt. Die Basisformel „Gott ist“ 14 Paul Schulz, „Der Mensch löst sich auf“. SPIEGEL-Interview, in: Der Spiegel 45/1976 (1.11.1976), S. 118. 121; ders., Ist Gott eine mathematische Formel? Ein Pastor im Glaubensprozeß seiner Kirche, Reinbek bei Hamburg 1977; ders., Weltliche Predigten. 9 Texte des Hamburger Kirchenrebellen, Reinbek bei Hamburg 1978; ders., Atheistischer Glaube (s. Anm. 6). – Zu P. Schulz: Lutz Mohaupt, Pastor ohne Gott. Dokumente und Erläuterungen zum ‚Fall Schulz‘, Gütersloh 1979.

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markierte für ihn einen „übergeordneten Zusammenhang“.15 „Gott ereignet sich im Werden“ und „Gott ereignet sich im Leben“, lauteten seine Gottesdeutungen.16 Gott war, im klassischen theologischen Sinn, für ihn ein Ausdruck für den Urgrund des Daseins: „Gott ereignet sich vielmehr in den unabdingbaren physikalischen und chemischen Prozessen kosmischen Geschehens. Gott – das Absolute, das Unabdingbare, ereignet sich als Prinzip des Werdens, als Prinzip des Geschehens, als Prinzip des Wirkens. Gott – Urkraft, die unbedingt und ständig neu zur Gestalt drängt. Wie sich diese kosmische Urkraft entfaltet, wird durch die Naturgesetze erkennbar.“17

Klingt dieses Gottesverständnis, isoliert genommen, pantheistisch bzw. monistisch, als sei Gott mit dem Naturzusammenhang deckungsgleich, so fügt Schulz doch gleich noch einen weiteren Akzent bei: Gott ist das „Prinzip (der) Liebe“, wie Jesus Gott als Liebe verkündigt hat: „Gott – das Prinzip des Werdens ist das Prinzip der sich vervollkommnenden Liebe. Sie ist die Urkraft, die im Voranschreiten des Werdens die Vollkommenheit des Lebens schafft.“18

Freilich bringt Schulz die Urkraft des Daseins und das „Prinzip Liebe“19 nicht zusammen. Beides steht unvermittelt nebeneinander. Es heißt dann nicht: Die kosmische Intelligenz, der Seinsgrund hat sich uns als die Macht der Liebe und als der Wille der Liebe bekundet. Sondern: Da ist einerseits der „Zentralwert des Seins“: „Gott, das Absolute, ereignet sich beispielsweise in den mikro- und makrokosmischen Entwicklungsprozessen.“ Andererseits ist da die vom Menschen selbst entwickelte Ethik: „Der Mensch ist es, der die Werte, Normen und Gebote setzt und verantwortet.“20 Schulz will „im Sinne Jesu Gott als den Grundwert des Guten“ und als „die höchste Qualität unserer Menschlichkeit“21 bezeichnen.

15 P. Schulz, Ist Gott eine mathematische Formel? (s. Anm. 14), S. 23. 16 A.a.O., S. 30–35. 17 A.a.O., S. 31. 18 A.a.O., S. 35. 19 A.a.O., S. 55–70. 73 f.; ders., Weltliche Predigten (s. Anm. 14), S. 130. 155–157. 20 P. Schulz, „Der Mensch löst sich auf“ (s. Anm. 14), S. 118. 21 P. Schulz, Weltliche Predigten (s. Anm. 14), S. 132.

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Ein dritter Versuch in seiner Zeit als amtierender Geistlicher, Gott zu umschreiben, liegt in der Assoziation des Wortes Gott mit mensch­ licher Grenzüberschreitung bzw. Selbsttranszendierung: „Die einzige Beständigkeit in Gott liegt in der nicht endenden Aufforderung, über uns selbst hinauszuwachsen, über uns selbst hinauszudenken, über uns selbst hinauszustreben. Immer wieder müssen wir uns auf Gott hin in Frage stellen, unser Denken und Handeln überprüfen, immer wieder neu ansetzen.“22

Seine verschiedenen Versuche, zu deuten, was mit Gott gemeint ist, fasst er zusammen in der Umschreibung „Gott als konstanter Zentralwert durch alle Veränderung(en) hindurch“.23 Allerdings hält er diesen abstrakt formulierten, aber an die kirchliche Überlieferung anschlussfähigen Ansatz dann nicht durch, auch nicht in den „Hamburger zehn Geboten“24 in seinem dortigen zehnten Gebot: „Religion ist der Versuch des Menschen, im Leben Sinn zu finden. Du kannst dir Gott vorstellen als Höchstwert deines Lebens, um dir so die Fülle deiner Lebensmöglichkeiten bewußt zu machen.“25

Gott als „Höchstwert des Lebens“: das erinnert an Martin Luthers Auslegung des Ersten Gebots im Großen Katechismus von 1529: „Woran du nun dein Herz hängst und dich darauf verlässt, das ist ­eigentlich dein Gott.“ Bei Luther allerdings ist immer das Vorzeichen klar: Gott ist der Schöpfer aller Dinge und Wesen, der Grund und das Ziel von allem. Ferner ist bei Luther dieser „Höchstwert des Lebens“ entweder das, was uns unbedingt betrifft, ob uns das passt oder nicht, oder aber etwas Irdisches, das wir absolut setzen und das damit zu ­unserem Abgott, zu unserem Götzen wird. Bei Schulz dagegen ist der Höchstwert des Lebens etwas, das wir selbst setzen, ohne dass er das als angemessen oder unangemessen qualifiziert. Insgesamt bleiben die in sich durchaus ausbaufähigen Gottesumschreibungen von Schulz unklar und mehrdeutig. Vor allem führen sie bei ihm selbst nicht zur frohen Botschaft von einem uns zugesagten, uns aus 22 A.a.O., S. 132 f. 23 P. Schulz, Ist Gott eine mathematische Formel? (s. Anm. 14), S. 55. 73. 24 A.a.O., S. 245–254. 25 A.a.O., S. 247. – Zitiert in: P. Schulz, Atheistischer Glaube (s. Anm. 6), S. 175. 184. 187.

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freier Gnade geschenkten Daseinssinn. Gott ist für ihn auch in den ­letzten Jahren seines kirchlichen Dienstes nicht die sich uns in Güte zuwendende kosmische Kraft, geschweige denn die Ermöglichung eines Geborgenseins auch über den Tod hinaus. In einer Art Credo fasst Schulz seine resignativen Auffassungen vom Sinn des Daseins zusammen: „Ich habe mich zu der Einsicht bekannt, daß der Tod etwas Endgültiges ist. Daß also jedes Reden von Auferstehung, von Leben nach dem Tod, von einer Identität des Ich, die sich durch den Tod hindurch durchhält, immer deutlicher zu einer Hoffnung, zu einem Glauben, zu einem Bekennen wird – wider besseres Wissen. Ich habe mich zu der Einsicht bekannt, daß es keinen absoluten Sinn des Lebens gibt, der transzendent kontrolliert wird. Daß durchaus die Gefahr besteht, daß Leben in Wertlosigkeit, in Sinnlosigkeit umschlagen kann. Daß also Hoffnungslosigkeit keineswegs umfangen sein muß durch eine höhere Seinsqualität. Ich habe mich zu der Einsicht bekannt, daß es einen persönlichen Gott, der mich ständig hört, der mir hilft, mich sieht, mich begleitet als Realität so nicht gibt, sondern daß Gott vielmehr Ausdruck einer Hoffnung des Menschen ist, angesichts von Not und Versagen, von Ängsten und Schwierigkeiten über sich selbst hinauszukommen.“26

In seinem Buch „Atheistischer Glaube“ (2008) schlägt Schulz, der mit der Kirche längst nichts mehr zu tun hat, andere Töne an. Er bemüht sich jetzt nicht mehr um eine Umschreibung Gottes bzw. um eine eigene Deutung des Gottesbegriffs, sondern vertritt jetzt klipp und klar einen Atheismus, sogar im Sinn eines „atheistischen Glaubens“. Immerhin knüpft er noch an seine 30 Jahre und länger zurückliegende Zeit als Gemeindepastor an. Er leitet einige Kapitel dieses Buches mit Erinnerungen an Szenen aus seiner kirchlichen Tätigkeit ein. Vor allem schildert er mehrere Phasen eines „atheistischen Bewusstwerdungsprozesses“. 27 Dieser „Transformationsprozess aus einem offenbarten über einen ­erdachten Gott hin zu einem Denken und Leben ganz ohne Gott“28 ist seine eigene Geschichte, denn er selbst stammt aus einem „bewusst christlichen Elternhaus“, in dem die „traditionelle Frömmigkeit“ ge­ 26 P. Schulz, Weltliche Predigten (s. Anm. 14), S. 177. 27 P. Schulz, Atheistischer Glaube (s. Anm. 6), S. 188–191. 28 A.a.O., S. 188.

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pflegt worden ist.29 In den von ihm skizzierten sieben Phasen der Transformation vom kirchlich-orthodoxen Gottesglauben – bei ihm evangelisch-lutherisch, sogar mit altlutherischen Neigungen30 – zum Atheismus ohne Wenn und Aber beginnt das Abbröckeln des festgefügten Glaubens an Gott mit Zweifeln. „Der erste Zweifel ist bereits der erste Schritt der Trennung von Gott.“31 Hier ist keine Rede davon, dass Zweifel grundsätzlich zum Glauben gehört und dass der ernsthafte, ehrliche Zweifel einen Christen sogar fester im Glauben verankern kann. Es geht bei Schulz weiter mit selbstfabrizierten Gottesvorstellungen, bis man mit Ludwig Feuerbach zu der Einsicht kommt, dass jede Gottesvorstellung, jedes Gottesverständnis eine Eigenproduktion darstellt, eine Projektion auf einen imaginären Himmel. So ergibt sich ein uneingeschränkter Atheismus: „Wenn ich akzeptiert habe, dass mein eigener Gott gar kein eigenständiger Gott ist, sondern ganz allein die Projektion meiner selbst, dann muss ich den letzten Entscheidungsschritt zu mir selbst vollziehen. Dieser Schritt heißt: Ich kann aus mir heraus denken und leben – ganz ohne Gott.“32

Schulz versteht sich wie gesagt als religionsphilosophischer Gefolgs­ mann von Ludwig Feuerbach und seiner Projektionstheorie.33 Sein eigener „atheistischer Glaube“ ist ein Glaube an die Ergebnisse der Wissenschaft, ein Szientismus. Schulz akzeptiert nicht nur die Ergebnisse der Wissenschaft, was ein Christ genauso gut tun kann und soll, sondern er verabsolutiert diese Ergebnisse. Somit hat für ihn die Wirklichkeit keine Tiefendimension, sondern sie ist ihre eigene Tiefe: „Der rationale Wissensstand über die diesseitige Welt ist das Fundament für den atheistischen Glauben. Die Fülle des objektiven Wissens ermöglicht ihm, aufgrund von Tatsachen für sich selbst existentielle Entscheidungen zu treffen. Außerhalb seiner objektiven Erkenntnisse gibt es keine Wesenhaftigkeit, zumindest keine, die ihn in seinem Leben real tangiert. Leben ist dem Atheisten ohne jeden transzendenten Bezug.“34 29 P. Schulz, Weltliche Predigten (s. Anm. 14), S. 171. 30 Ebd. 31 P. Schulz, Atheistischer Glaube (s. Anm. 6), S. 188. 32 A.a.O., S. 189. 33 A.a.O., S. 176. 194. 196. 34 A.a.O., S. 113.

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An die Stelle Gottes tritt der Mensch. „Sein Gott ist dem Menschen – wie Feuerbach sagt – sein eigenes Wesen.“35 Der Mensch ist sein eigener Gott. Schulz beansprucht, „dass ich ab sofort den Mut habe, da, wo ich bisher immer Gott gesagt habe, jetzt Ich sagen kann und will.“36 So hat das „Prinzip Liebe“ nichts mehr mit einem wie auch immer verstandenen Gott zu tun, sondern es ist ausschließlich eine Sache des Menschen: „Statt Für mich ist Gott Liebe sage ich Für mich ist Liebe das Höchste. […] Ich muss für meinen höchsten Lebenswert nicht Gott berufen, sondern mich selber.“37

Der Mensch wird nach Schulz frei, indem er nicht mehr durch Gott fremdbestimmt ist: „Durch die Loslösung von Gott als der höchsten religiösen Autorität setzt sich der Mensch frei von der größtmöglichen Fremdbestimmung.“38 Nach Paul Tillich ist zwar die „Fremdbestimmung“ (Heteronomie) zu verwerfen, bei der uns Werte und Normen aufgezwungen werden, denen wir gar nicht innerlich zustimmen können. Demgegenüber brauchen wir in der Tat die Selbstständigkeit, die Selbstbestimmung (Autonomie). So können wir aus freier Einsicht, nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Die Autonomie für sich allein ist freilich eine Überforderung. Sie bleibt freischwebend und damit schließlich ohne Fundament, wenn sie nicht in der Theonomie gegründet ist, in der Verwurzelung in dem göttlichen Daseinsgrund, der uns näher ist, als wir uns selbst sind. Schulz dagegen fehlt von ­seinem Ansatz her die Selbstbescheidung vor einer höheren Instanz, die es mit dem Menschen und der Welt gut meint. Für ihn ist der Mensch der Macher seiner Welt – ungeachtet der hier lauernden Gefahren. Es ist hier nicht mehr weit bis zum Größenwahn: „Mit der Machbarkeit aufgrund neuester Erkenntnisse etwa in der Biogenetik erreicht der Mensch eine völlig neue Dimension seines Selbst­ bewusstseins. Er wird Schöpfer einer neu zu gestaltenden Welt und damit autonom handelnder Mensch.“39

35 A.a.O., S. 196. 36 A.a.O., S. 190 f. 37 A.a.O., S. 190. 38 A.a.O., S. 78; vgl. auch a.a.O., S. 50. 110. 39 A.a.O., S. 113.

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So bleibt im Atheismus von Schulz nur der Materialismus oder Naturalismus: „Realität als reine Diesseitigkeit, ein in sich geschlossenes holistisches Sein: Der Mensch steht in der und als Natur in einem kosmischen Gesamtzusammenhang.“40 Das bedeutet die Endgültigkeit des Todes: „Der atheistische Glaube anerkennt in letzter existentieller Konsequenz die Tatsache des absoluten Nichts.“41 Erstaunlich bleibt freilich, dass Schulz auch im Rahmen dieses unverblümten „atheistischen Glaubens“ immer noch von einer „Gottessehnsucht“ reden kann – wenn auch gleich wieder abgeschwächt: „Gerade weil es Gott nicht gibt, als jenseitiger Gott nicht erfahrbar wird, drückt sich die Gottessehnsucht des Menschen als wesentlicher Leitwert seiner selbst in seinem selbst erdachten eigenen Gott aus.“42

4. Anthony Freeman: vom liberalen zum radikalen Christentum Wie der Hamburger evangelisch-lutherische Pastor Paul Schulz artikulierte sich der britische anglikanische Priester Anthony Freeman (Jahrgang 1946) schon während seiner Dienstzeit dezidiert in a-theistischer Richtung. In seinem 1993 veröffentlichten Buch „God in us“43 nimmt er Abschied von einem außerhalb des Menschen angesiedelten Gott, einem Gott „out there“, der uns als übermächtiges und jenseitiges Wesen gegenübersteht, einem Gott als „objektiver Wirklichkeit“ (objective reality).44 Freeman will nicht auf den Begriff „Gott“ verzichten. Aber Gott ist für ihn nicht der „ganz Andere“, sondern er ist ganz in uns: „God in us“. Dies ist aber nicht im Sinn der Mystik gemeint, nämlich dass wir den göttlichen Urgrund als „Seelenfunken“ in uns erfahren können. Nach Freeman ist Gott ausschließlich im Menschen angesiedelt, als ein menschliches Produkt, als unsere eigene Kreation. So liegt der religionsphilosophische Ansatz von Freeman wie bei Schulz 40 A.a.O., S. 114. 41 A.a.O., S. 115. 42 A.a.O., S. 186; vgl. auch a.a.O., S. 195. 43 Anthony Freeman, God in us. A Case for Christian Humanism, London 1993 (51994).– Zu der Neuausgabe (updated edition), Exeter 2001, hat Bischof John Shelby Spong ein Vorwort geschrieben. 44 A. Freeman, God in us (s. Anm. 43), S. 40.

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auf der Linie von Ludwig Feuerbach, auch wenn er diesen nicht erwähnt. Zu Deuterojesajas Götzenkritik bemerkt Freeman: „Er glaubte, dass der Gott, dessen geistige Vorstellung und Botschaften er in seinem Geist selbst geformt hatte, wirklich ‚dort draußen‘ war, seine Anweisungen gab und seine Versprechen machte. Aber das war nicht der Fall. Es war ein geschaffener Gott, nicht mit menschlichen Händen gebildet, wohl aber durch menschliche Gedanken entstanden, aus mensch­lichen Worten. Jesajas Gott und der christliche Gott sind genauso menschliche Schöpfungen wie die Götzen Kanaans. Wenn ich also sage, dass Gott meine eigene Schöpfung ist – und zwar die Personifizierung meiner Ideale –, dann mache ich nichts Neues, sondern anerkenne nur, was schon immer der Fall gewesen ist.“45

Wie Schulz wurde auch Freeman seines Dienstes enthoben. 1972 zum Priester ordiniert, war er bis 1993 Gemeindepfarrer in Staplefield und wurde dann vom Bischof der Diözese Chichester, Dr. Eric Kemp, aus dem Gemeindepfarrdienst entlassen. Freeman blieb aber Priester der Church of England. Beruflich ging er in die Publizistik und wurde Geschäftsführender Herausgeber (managing editor) der Zeitschrift ­ „The Journal of Consciousness Studies“ sowie Redaktionsassistent (assistant editor) der Zeitschrift „Modern Believing: The Journal of Theological Liberalism“.46 Er ist im Ehrenamt assistierender Pfarrer (honorary assistant priest) in der Gemeinde St. Paul’s in Chichester. Freeman schrieb sein Buch kurze Zeit nach seiner „Bekehrung zu einem eigenen echten christlichen Glauben, als ich den Mut fand zu sagen: ‚Ich glaube nicht an Gott‘“.47 Diese „Bekehrungserfahrung“ (conversion experience) widerfuhr ihm 1992 auf einer Konferenz der 45 A.a.O., S. 27: „He believed, that the God whose mental image and messages he had formed in his mind really was ‚out there‘ giving orders and making promises, but that was not the case. He was a created God, made – not with human hands – but with human thoughts out of human words. Isaiah’s God and the Christian God are just as much human creations as the idols of Canaan. So by saying that God is my own creation – my ideals personified – I am doing nothing new, but only acknowledging what has always been the case“ [deutsche Übersetzungen von A.R.]. 46 Vgl. Art. The Emergence of Consciousness, URL: [4.3.2016]; Art. Modern Church: who we are, URL: [4.3.2016]. 47 A. Freeman, God in us (s. Anm. 43), S. 15: „I have said that my ‚conversion‘ to a genuine Christian faith of my own came about when I had the courage to say, ‚I do not believe in God.‘“

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Bewegung „Sea of Faith“48, die sich um den anglikanischen Theologen Don Cupitt (Jahrgang 1934) schart, der eine säkularistische, „nichtrealistische“ Ontologie und Sicht von Gott entwickelte.49 Für Cupitt ist der alles bedingende, selbstbewusste und willensstarke Gott tot. Gott ist zum Inbegriff menschlicher – selbstgeschaffener! – Werte, Ideale und Normen geworden, und insofern kann Gott als Perspektive für menschliches Handeln und Empfinden verstanden werden: „Der Mensch, der wahrhaft und ernsthaft an Gott glaubt, ist jemand, der eine besondere, mittelbare […] Art von Bewusstsein besitzt, ein Bewusstsein von sich, wie es von einem idealen und allgemeinen Standpunkt außerhalb des eigenen Selbst erscheint.“50 Cupitt fasst, zugleich für „viele Mitglieder der Bewegung ‚Sea of Faith‘“, sein „nicht-realistisches Verständnis des Christentums“51 als „minimalistische Version christlicher Theologie“52 so zusammen: „1. Gott ist das ‚religiöse Ideal‘ – das heißt ein einigendes Symbol unserer gemeinsamen Werte und Ziele des religiösen Lebens. 2. Der Gott der Christen ist Liebe – das heißt die christliche Spezifikation des religiösen Ideals weist der Liebe Gottes […] den höchsten Wert zu. 3. Wir sehen die Liebe in Jesus Menschengestalt annehmen – in den ­Geschichten von ihm und über ihn sowie in den verschiedenen be­ lehrenden und anderen Geschichten, die sich in der Folgezeit um ihn gerankt haben.“53

Freeman versteht sich als „Anglokatholik“54, und das bedeutet eine besondere Liebe zur Liturgie. Vor allem aber war er über zwanzig Jahre

48 Die „Sea of Faith“-Vereinigung (Sea of Faith Network) zählte 2004 weltweit etwa 2000 Mitglieder. 1999 waren es in Großbritannien etwa 700 Mitglieder, darunter 50 anglikanische und einige römisch-katholische Geistliche (vgl. Art. Sea of Faith, URL: [4.3.2016]). 49 Don Cupitt, Taking Leave of God, London 1980. – Ders., The Sea of Faith. Christianity in Change, London 1984. – Ders., Only Human, London 1985. – Ders., After God. The Future of Religion, New York 1997; dt.: Nach Gott. Die Zukunft der Religionen, Stuttgart 2001. – Don Cupitt, ordinierter anglikanischer Priester, ist seit 2008 kein „kommunizierendes Mit­glied der Kirche“ (communicant member of the church) mehr. 50 D. Cupitt, Nach Gott (s. Anm. 49), S. 116. 51 A.a.O., S. 167. 52 A.a.O., S. 168. 53 Ebd. 54 A. Freeman, God in us (s. Anm. 43), S. 75.

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lang, also fast seine ganze Amtszeit als Gemeindepfarrer, ein Anhänger der liberalen Theologie gewesen, die sich um eine Vermittlung von christlicher Überlieferung und modernem Leben, um ein Zusammenstimmen von Glauben und Wissenschaft bemüht.55 Seine „Bekehrungserfahrung“ führte ihn aber weg vom liberalen, hin zu einem „radikalen“ Christentum. Dieses hält die Religion „für eine durch und durch menschliche Schöpfung“56, während die liberalen Christen nach wie vor „hinter der menschlichen Aktivität die führende Hand eines supranaturalen Gottes“ glaubten.57 Eben an diesem Punkt zeigt sich ein gravierendes Defizit in der Argumentation von Freeman. Entweder ein supranaturaler und interventionistischer „God out there“, oder aber ein „God in us“, der nichts anderes ist als der Inbegriff unserer eigenen Werte und Ideale: das kann doch nicht allen Ernstes die einzige Alternative sein. Entweder ein Gott in einer Überwelt über unserer einen Welt, der von Zeit zu Zeit in das Weltgeschehen und das menschliche Leben eingreift und dabei die ­Naturordnungen über den Haufen wirft, oder aber eine von uns selbst geschaffene Daseinsperspektive, der wir das Etikett „Gott“ verpassen und die uns froh und frei sein lässt: das soll alles sein? Gott der „ganz Andere“, dem sich alles Dasein verdankt, in einer uns unbegreiflichen Weise der Hintergrund, die Tiefe, das Geheimnis unserer einen Welt; Gott als zugleich alles tragend, in sich bergend und zugleich überschreitend: diese transpersonale und panentheistische Sicht ist eine dritte Möglichkeit, die zugleich der religiösen und biblischen Überlieferung gerecht wird als auch mit kritischem, aufge­klärtem Denken zusammenpasst. Hier wird Gott als das Höhere verstanden, als die schöpferische Kraft vor und in allem, die kosmische Intelligenz, die Seinsmacht, von der wir ganz und gar abhängig sind und durch die wir gerade in dieser Abhängigkeit unseren Daseinssinn und unsere innere Freiheit finden. Hier besteht keinerlei Gegensatz zwischen Glauben und modernem Wissen, zwischen Religion und Vernunft. 55 A.a.O., S. 8 f. 56 A.a.O., S. 9: „It is to admit that religion is a purely human creation.“ 57 A.a.O., S. 10: „Liberals, while happy to learn more of our religious origins and developments, have still held that behind the human activity lies the guiding hand of a supranatural God.“

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Von dieser dritten Möglichkeit ist bei Freeman aber nichts zu finden. Wieso nicht? Seine Weichen hat er in die Richtung auf einen „Glauben ohne Gott“ gestellt, indem er Gott nicht mit der Schöpfung in Verbindung bringt. Freeman fragt nach der Ursache für die Existenz des Universums. Da wird traditionell Gott als der Schöpfer bekannt. Aber, so fragen laut Freeman schon die Schulkinder, wer hat dann Gott geschaffen? Die Antwort: Niemand, er ist einfach da. Nach Freeman braucht man dann Gott aber gar nicht als Erstursache der Welt, denn man könne genauso gut sagen: Niemand hat das Universum geschaffen, es ist einfach da.58 Freeman hat hier nur dann recht, wenn man Gott als einen Faktor neben anderen Faktoren versteht, als ein Wesen neben anderen Wesen, als eine Ursache neben anderen Ursachen. Da gilt dann Bonhoeffers Satz: „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht.“59 Ist Gott aber kategorial von der Welt verschieden, als Schöpfer gegenüber der Schöpfung, als die Ermöglichung, die Bedingung von allem, als die Tiefen­dimension in allem, dann kann man ihn nicht als Erstursache verrechnen. Ob Urknall oder ein Aufeinanderfolgen von Explosion und Kontraktion, Gott bleibt die Bedingung von allem, nicht bloß an einem Anfang, sondern dauernd. Die Schöpfung findet ständig statt (creatio continua). Was meinen wir, wenn wir „Gott“ sagen? Das Grundproblem bei Freeman ist, dass er Gott nicht mehr mit dem Dasein der Welt in ­Beziehung bringt – Gott als Grund und Ziel, als Ermöglichung und ­Bedingung von allem –, sondern ihn nur als den Inbegriff menschlicher Werte und Ideale sieht. Grund und Ziel von allem ist dann nur die Natur, der Kosmos selbst. Diesen „Naturalismus“ vertritt auch Freemans Lehrmeister Cupitt.60 Aus diesem Ansatz ergibt sich für Freeman: Jesus ist unser „Erlöser“ nur insofern, als er ethische Werte wie Liebe, Freude und Friede gelebt hat und repräsentiert.61 Der Heilige Geist ist nichts anderes als das Beste im menschlichen Geist.62 Soweit überhaupt von „Heil“ (salvation) zu reden ist, und zwar nur im Sinn einer diesseitigen Lebenserfüllung, stellt 58 A.a.O., S. 16 f. 59 D. Bonhoeffer, Akt und Sein (s. Anm. 3), S. 94 [112]. 60 D. Cupitt, Nach Gott (s. Anm. 49), S. 126–130. 61 A. Freeman, God in us (s. Anm. 43), S. 42. 62 A.a.O., S. 48 f.

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Freeman – im krassen Gegensatz zur reformatorischen Tradition – die Parole auf: „Wir haben unser Heil selbst zu erwirken“.63 Er meint damit im Grund: Wir produzieren die für uns wichtigen Werte selbst. Eine Hoffnung auf ein Sein bei Gott nach dem Tod gibt es nicht, weil Gott ja nichts anderes ist als der Inbegriff der von uns hergestellten Ideale und Werte. Die Parole „Jetzt ist ewiges Leben“64 hat durchaus einen biblischen Anhalt, ist aber im christlichen Glauben nur ein Aspekt neben dem anderen Aspekt, der Hoffnungsgewissheit bleibender Gemeinschaft mit dem immer größeren Gott. Es ist die Frage, ob Freemans „Christlicher Humanismus“ nicht in der Sinnlosigkeit endet, wenn das Leben keinen anderen Sinn hat als den, welchen wir ihm beilegen: „Die Welt hat keinen Sinn in sich selbst. Aber wir haben die Macht, ihr einen Sinn zu geben, durch den Wert und die Werte, die wir in sie hineinlegen.“65 Freeman hat ein seelsorgerliches Anliegen. Er will Suchenden, Fragenden und Zweiflern in der Kirche – freilich einer „freien“ Kirche – einen Ort des Austauschs bieten. Ihm bleibt die Kirche wichtig als Trägerin ästhetischer Werte wie Gottesdienst und als Vermittlerin moralischer Werte. Welche Rolle für ihn die Wahrheitsfrage spielt, wird nicht klar. Es sieht eher so aus, als denke er hier relativistisch, weil jeder seine eigenen Werte produzieren mag. Freeman vertritt mit seinem „radikalen Christentum“ eine postmoderne Beliebigkeit. Dieses radikale Christentum kann schließlich doch überhaupt auf das Christentum verzichten. Vor allem wird es niemanden neu für das Christentum gewinnen können, der von außen dazustoßen will. Wer gleich mit dem radikalen Christentum anfängt, wird den Kontakt zu Christentum und Kirche verlieren und ganz abspringen. Immerhin lässt Freeman bei diesem „Glauben ohne Gott“ eine gewisse Hintertür dazu offen, dass es doch anders sein könnte. Gelegentlich schränkt er seine atheistische Position durch einen erkennt­ nistheoretischen Agnostizismus ein, nach welchem unsere Erkenntnis der Transzendenz66, des Ganzen, des Absoluten, des Unbedingten immer beschränkt bleibt: 63 A.a.O., S. 41: „We have to work out our own salvation.“ 64 A.a.O., S. 58–71: „Now is eternal life.“ 65 A.a.O., S. 42: „It is true that the world has no meaning in itself. But we have the power to give it meaning by the value and values we put on it.“ 66 Ein von Freeman offensichtlich nicht verwendeter Begriff.

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„Es gibt nichts ‚außerhalb‘ – oder wenn doch, dann können wir darüber nichts wissen.“67 „Sollte es einen persönlichen Gott jenseits von Raum und Zeit geben und sollte dieser tatsächlich die Bibel als einzigartiges Medium seiner Selbstoffenbarung benutzt haben, so haben wir doch keine Möglichkeiten festzustellen, ob dies tatsächlich so ist.“68

Wieso macht Freeman, bei diesem Agnostizismus, dann überhaupt ganz bestimmte religiöse Aussagen affirmativer und negativer Art? Früher hatte er den traditionellen, „objektiven“ Gott als „Arbeitshypothese“ verwendet, jetzt dagegen, seit seiner religiösen Wende 1992, ist „die Nichtexistenz eines supranaturalen Gottes“ seine „Arbeitshypothese“69, von der er ausgeht: „Nahezu mein ganzes Leben habe ich ihn [sc. den traditionellen Gott] als Arbeitshypothese genutzt: Wenn ein solcher Gott existiert, dann folgt daraus dieses und jenes. Jetzt gehe ich vom entgegengesetzten Ende aus: Vorausgesetzt ein solcher Gott existiert nicht eigenständig, sondern ist nur eine menschliche Projektion, was dann?“70

5. Klaas Hendrikse: religiöser Atheist und Bundesgenosse der „Etwas-Gläubigen“ Der niederländisch-reformierte Pfarrer Klaas Hendrikse (Jahrgang 1947)71 schreibt 2007 klipp und klar: „Gott hat es nie gegeben; ein Gott, den es gibt, ist ein historisches Missverständnis.“72 Trotzdem hat er 25 67 A. Freeman, God in us (s. Anm. 43), S. 70: „There is nothing ‚out there‘ – or if there is, we can have no knowledge of it.“ 68 A.a.O., S. 21: „If there is a personal God beyond space and time, and if he has in fact chosen to use the Bible as a unique means of self-revelation, there is no means by which we can know that to be the case.“ 69 A.a.O., S. 82 f.: „Taking the non-existence of a supernatural God as our working hypothesis will lead to a more open and democratic form of church life.“ 70 A.a.O., S. 24: „But for nearly all my life I have used him [sc. the traditional God] as a working hypothesis: if such a God were to exist, then such and such would follow. Now I am working from the opposite end: suppose that such a God does not exist independently, but is just a human projection, then what?“ 71 K. Hendrikse, Glauben an einen Gott, den es nicht gibt (s. Anm. 7). – Hendrikses Buch „God bestaat niet en Jezus is zijn zoon“ [Es gibt keinen Gott und Jesus ist sein Sohn] (Amsterdam 2011) ist noch nicht in Deutsch verfügbar. 72 K. Hendrikse, Glauben an einen Gott, den es nicht gibt (s. Anm. 7), S. 44.

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Jahre als Pfarrer in der niederländischen Gemeinde Middelburg bis zum Ruhestand Mitte 2012 durchgehalten,73 nachdem er 2008 ein Amts­ enthebungsverfahren seiner Kirche erfolgreich überstanden hatte. Wie er in seinem Buch „Glauben an einen Gott, den es nicht gibt“ schreibt, ist Hendrikse immer schon „Atheist“ gewesen und als solcher aufgewachsen und erzogen worden. Im Alter von 23 Jahren nahm er zum ersten Mal an einem Gottesdienst teil.74 Nach dem Militärdienst, einem Wirtschaftsstudium an der Universität und beruflicher Tätigkeit bei Xerox, begann er mit dem Studium der Theologie. Er war neugierig auf „etwas von irgendwoher ‚Gegebenes‘“, über das einfache gläubige Christen „zu verfügen schienen“.75 Er war nach wie vor Atheist, und besonders das Fach Dogmatik bestärkte ihn in seinem Atheismus. Bei Vorlesungen des katholischen Pfarrers Dolf Coppes ging ihm „ein Licht auf, das seither nie mehr erloschen ist: Es ist doch möglich, man kann ein gläubiger Mensch, sogar ein Christ sein, ohne glauben zu müssen, dass es Gott gibt“76. Hendrikse verkehrte in den freisinnigen, liberalen Kreisen des niederländischen Protestantismus und war in den 1990er Jahren „Behördenmitglied der nationalen Vereinigung liberaler Protestanten“77. Er schreibt nichts davon, dass er sich von den freisinnigen Protestanten getrennt habe, auch wenn er hier „nur mühsam Anschluss finden“ konnte.78 Als theologisches Vorbild, mit dem er auch persönlich vertraut ist, nennt Hendrikse den Theologen Harry M. Kuitert,79 der von 1967 bis zu seiner Emeritierung 1989 Professor für Systematische Theologie an der Freien Universität Amsterdam gewesen ist.80 Er zitiert Kuitert etwa mit dem Satz „Aller Glaube kommt aus der Einbildung.“81 Damit ist gemeint: Alles Reden vom Göttlichen geschieht in mensch­lichen 73 A.a.O., S. 16. 74 A.a.O., S. 13. 75 A.a.O., S. 14. 76 A.a.O., S. 14 f. 77 A.a.O., S. 137. 186. 78 A.a.O., S. 137. 79 A.a.O., S. 70. 111. 122 f. 125. 140. 147. 163 f. 193. 80 In deutscher Übersetzung sind z. B. erschienen: Harry M. Kuitert, Ich habe meine Zweifel. Eine kritische Auslegung des christlichen Glaubens, Gütersloh 1993; ders., Kein zweiter Gott. Jesus und das Ende des kirchlichen Dogmas, Düsseldorf 2004. 81 K. Hendrikse, Glauben an einen Gott, den es nicht gibt (s. Anm. 7), S. 147.

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Vorstellungen, ob diese nun die Wahrheit empfangen haben oder sie nur konstruieren. Paradoxerweise sagt Hendrikse, einerseits gebe es Gott nicht, andererseits glaube er dennoch an Gott.82 Er versteht sich als „religiösen Atheisten“ und wiederholt es bis zur Ermüdung: „Ich glaube nicht, dass es Gott gibt, aber ich glaube dennoch an Gott.“83 Mit anderen Worten: „Man braucht nicht zu glauben, dass es Gott gibt, um an Gott glauben zu können.“84 Damit ist etwas Negatives und etwas Positives über Gott ausgesagt. Das Negative ist einfach die Feststellung: Der Theismus alter Schule, das Nebeneinander von Gott und Welt, der supranaturale Gott, welcher der natürlichen Welt gegenübersteht und auf sie einwirkt,85 das ist überholt. Gott „gibt es nicht“, denn „‚es gibt‘ passt nicht zu dem, was ich Gott nenne“.86 „Gott kann es unmöglich auf die gleiche Art geben, wie es einen Apfelkuchen gibt.“87 Das erinnert wieder an Bonhoeffers Satz: „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht.“88 Hendrikse plädiert für „ein Gottesbild, das von allen Theismen befreit ist: Gott gibt es nicht und er kann dadurch wieder Gott sein.“89� „Atheismus“ im legitimen Sinn ist für Hendrikse „Nicht-Theismus“, also nicht „einer, der in theistischer Manier an Gott glaubt als an ein personartiges Wesen“.90 Positiv versteht Hendrikse unter Gott etwas, was im Leben der Menschen geschieht, insbesondere zwischen den Menschen: „Darum wäre es besser, von Gott zu sagen, dass er geschieht, als zu behaupten, dass es ihn gibt. Oder vorsichtiger: dass Gott geschehen kann.“91 Diesen Grundsatz, „dass Gott nicht ist und dass es ihn nicht gibt, sondern dass er sich immer wieder erweisen muss“,92 findet Hendrikse im Alten Tes82 A.a.O., S. 15. 83 A.a.O., S. 36. 84 A.a.O., S. 25. 85 Zur Ablehnung eines göttlichen Eingreifens in das Geschehen: „Warum ließ Gott zu, dass dieses Kind überfahren wurde? Die Antwort ist Atheismus: Gott gibt es nicht.“ (a.a.O., S. 62) 86 A.a.O., S. 15. 87 A.a.O., S. 28. 88 D. Bonhoeffer, Akt und Sein (s. Anm. 3), S. 94 [112]. 89 K. Hendrikse, Glauben an einen Gott, den es nicht gibt (s. Anm. 7), S. 185. 90 A.a.O., S. 33. 91 A.a.O., S. 119. 92 A.a.O., S. 126.

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tament, speziell in den Geschichten von dem Gott, der in der Wüstenwanderung mit den Israeliten mitzieht. Die Selbstvorstellung Gottes in Exodus 3,14 („Ich werde sein, der ich sein werde“) deutet Hendrikse mit dem Satz „Geht, und ich gehe mit euch“.93 So versteht Hendrikse „Gott als ‚was mit Menschen mitzieht‘“94, „Gott als ‚das, was mitzieht mit Menschen, die unterwegs sind‘“95. Gott wird vom Himmel herabgeholt und im Leben der Menschen verortet: „Was ur­sprünglich unter ‚Gott‘ verstanden wurde, hat zu tun mit dem, was im Leben der Menschen geschieht.“96 Nach Hendrikse gilt, „dass man eigentlich nur sagen kann, dass Gott geschieht, nicht, dass es ihn gibt. Doch ohne Menschen geschieht nichts: kein Gott ohne Menschen.“97 Das ist entschieden anthropozentrisch. Bei Hendrikse entspricht der Losung „kein Gott ohne Menschen“ nicht auch umgekehrt die Losung „kein Mensch ohne Gott“. Es fehlen auch die Entsprechungen „kein Gott ohne die Natur“ und umgekehrt „keine Natur ohne Gott“. Gott bleibt nur auf die Menschen bezogen, als deren Deutungsmöglichkeit: „Gott ist nur dort, wo Menschen in Bewegung kommen.“98 „Gott verändert sich, weil wir uns verändern. Gott zieht sozusagen ein Leben lang mit dir.“99 „Wenn Gott geschieht, dann geschieht das nicht ohne die Menschen.“100 „Ohne menschliche Mitwirkung ist Gott nirgends.“101 Alle diese Aussagen gehen in dieselbe anthropozentrische Richtung: „Kein Gott ohne Menschen also.“102 Gott scheint schließlich nichts weiter zu sein als eine Funktion des Menschen, ein Etikett auf menschliches Miteinander, auf das man aber auch verzichten könnte. Hendrikse kann zwar Gott als die Vertikale im horizontalen menschlichen Zusammenleben bezeichnen, aber auch da ist nicht klar, was eigentlich gemeint ist: „Gott entzündet sich da gleichsam am Geschehen zwischen Menschen. 93 A.a.O., S. 47–49. 94 A.a.O., S. 118. 95 A.a.O., S. 86. 96 A.a.O., S. 46. 97 A.a.O., S. 86. 98 A.a.O., S. 47. 99 A.a.O., S. 112. 100 A.a.O., S. 119. 101 A.a.O., S. 120. 102 Ebd.

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[…] Gott ist die vertikale Dimension des horizontalen Geschehens zwischen Menschen.“103 Vielleicht will Hendrikse damit Gott als Inbegriff höchster ethischer Werte verstehen. Schließlich sei das Wort „Gott“ in Situationen außergewöhnlicher Hilfsbereitschaft entstanden.104 Hendrikse stimmt wie Schulz und Freeman der Projektionstheorie zu, die von Ludwig Feuerbach ausgearbeitet wurde: Es gilt nicht „Gott schuf den Menschen nach seinem Bild“, sondern umgekehrt: „Menschen haben sich Götter erschaffen.“105 „Mein Gott“106 ist ein Produkt meiner eigenen Einbildungskraft, und das ist nach Hendrikse gut so. Dem biblischen Bilderverbot „Du sollst dir von Gott kein Bildnis machen“ setzt der Calvinist Hendrikse entgegen: „Nein, halte nur fest an deinem eigenen Bild.“107 Mit dem biblischen Idolatrieverbot bzw. Götzenverbot fängt Hendrikse nichts an. Er lädt dazu ein, sich Bilder von Gott zu machen. Es ist ja auch richtig, dass man nicht anders als in von Menschen gemachten Bildern, Gleichnissen, Symbolen von Gott reden kann. Nur soll man im Sinn des biblischen Bilderverbots wissen, dass es Bilder sind, die hinter dem Gemeinten zurückbleiben, und dass nichts Irdisches verabsolutiert werden und so an die Stelle Gottes treten darf. Zu fragen ist aber, welche Bilder bzw. Gleichnisse da am ehesten angemessen sind und welche auf keinen Fall. Was meinen wir, wenn wir „Gott“ sagen? Auch in seinen positiven Deutungen Gottes bleibt Hendrikses Auskunft dazu dürftig und reichlich unbestimmt. Das liegt vor allem daran, dass er, wie Anthony Freeman, Gott gar nicht auf die Welt, den Kosmos, die Natur, die Schöpfung bezieht. Er schlägt „eine Art TÜV-Prüfung des eigenen Gottes­ bildes“ vor: „Man nehme das eigene Gottesbild und befreie es von allen Wörtern, denen die Idee eines Schöpfers oder höchsten Wesens anhaftet wie zum Beispiel ‚Urquell des Seins‘, von allen Termini, die sich Theologen ausgedacht haben, um Gott zu definieren, wie zum Beispiel ‚der Allgegen103 A.a.O., S. 123; vgl. auch a.a.O., S. 126. 104 A.a.O., S. 124. 105 A.a.O., S. 153 f. 106 A.a.O., S. 112. 107 A.a.O., S. 150.

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wärtige‘, von allen Ausdrücken, die mit einem ‚ist‘ verbunden sind, durch das Gott fixiert und unbeweglich gemacht wird, von allem, wovon der Verstand dir sagt, dass es nicht wirklich taugt, wie zum Beispiel, dass Gott mit ‚etwas Höherem‘ zu tun hat.“108

Damit wird freilich unter „Gott“ etwas ganz anderes verstanden als in der gesamten religiösen und philosophischen Überlieferung und auch im allgemeinen Bewusstsein. Wenn nach Hendrikse Gott nicht „Grund und Ziel aller Dinge“ ist,109 was dann? Man könne „ganz gut an Gott glauben“, ohne ihn „als Erklärung für den Ursprung“ nötig zu haben. Man könne „ganz gut leben in einer Schöpfung ohne Schöpfer“.110 „Wo keine Menschen sind, geschieht Gott nicht. Gott geschieht zum Beispiel nicht in der Natur, die sich weder um Gott noch um die Menschen kümmert.“111 Hendrikse meint: „Für die meisten Gläubigen jedoch hat der Glaube inzwischen mehr zu tun mit dem Leben selbst als mit der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Lebens.“112 Dabei muss sich doch beides gar nicht ausschließen: die Frage nach dem Ursprung von allem und die Frage nach unserer Lebensorientierung. Zudem wird Gott in der Theologie und in der Religion nicht im naturwissenschaftlichen Sinn als die Erstursache des Kosmos, als Veranlasser des Urknalls etwa, verstanden, sondern als die Bedingung und Ermöglichung von allem, was ist und was der wissenschaftlichen Forschung grundsätzlich zugänglich ist. Gott ist nicht ein Teil der Welt, sondern ihr Geheimnis, ihr Hintergrund. Das will Hendrikse aber nicht wahrhaben. So kann er sagen: „Es gibt kein Geheimnis hinter ­unserem Dasein. […] Unser Dasein selbst ist ein Geheimnis.“113 Damit allerdings vermag er Gott nicht als die Tiefendimension von allem zu verstehen. Ferner kann Hendrikse sagen: „Gott macht der Wirklichkeit nicht Konkurrenz, er ist ein Teil von ihr.“114 Damit begibt er sich in

108 A.a.O., S. 141. 109 A.a.O., S. 76. 110 A.a.O., S. 81. 111 A.a.O., S. 119. 112 A.a.O., S. 77. 113 A.a.O., S. 126. 114 A.a.O., S. 73.

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­ iderspruch zu seinem eigenen nicht-theistischen Ansatz, wonach es W einen Gott, den „es gibt“, nicht gibt. Hendrikse koppelt den Gottesgedanken vom ganzen Bereich der Schöpfung ab, und dabei nicht nur von der Entstehung des Kosmos, sondern auch von seinem Bestand und seiner Weiterentwicklung (im Sinn einer „creatio continua“). Damit ist sein Ansatz nicht anschluss­ fähig an den überwältigenden Teil der religiösen Tradition und Gegenwart. Was allerdings bleibt, ist der ethische Aspekt des Gottesgedankens. Diesem fehlt freilich mit dem Aspekt der Schöpfung auch das Fundament. Hendrikse sägt Gott den ethischen Ast ab, auf den er ihn gesetzt hat. Er schreibt: „Ich glaube nicht an Gott als den Schöpfer der Welt, wie sie ist. Ich glaube aber an Gott als das, was Menschen dazu treibt, aus dieser Welt eine bessere zu machen.“115 Wenigstens bleibt Hendrikse mit diesem ethischen Akzent der religiösen und christlichen Überlieferung verbunden. Allerdings lässt sich mit dieser Einseitigkeit eine gewisse Beliebigkeit nicht vermeiden. Zudem sieht er die ethische Forderung nicht von einer – von ihm ja abgelehnten – höheren Macht auf uns zukommen. Was ist es, „was Gott von uns verlangt?“ Hendrikse antwortet: „nichts“.116 Eine Gestalt der Kirchengeschichte, mit der Hendrikse nicht von ungefähr sympathisiert, ist Markion (90–ca. 160)117. Dieser unterschied zwischen dem unbekannten Gott der Liebe und dem Demiurgen, dem Schöpfer der unvollkommenen, ja dem Bösen verfallenen Welt. Der ethische Gott und der Schöpfergott haben bei Markion also nichts miteinander zu tun, während der Kirche alles daran liegt, den Schöpfer und den Erlöser als ein und denselben Gott zu verstehen. Gegen den strengen Monotheismus gerade der reformiert-calvinis­ti­ schen Tradition kritisiert Hendrikse an der Kirche, sie habe anders als die heidnischen „Griechen“ „unvereinbare Eigenschaften in einem Gott“ vereinigt.118 Gerade das war allerdings die Weichenstellung der gesamten christlichen Überlieferung, Glaubenspraxis und Glaubenslehre von Anfang an! 115 A.a.O., S. 108. 116 A.a.O., S. 66. 117 A.a.O., S. 61 f. 118 A.a.O., S. 60.

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Hendrikse koppelt den Gottesglauben vom Schöpfungsglauben ab und beschränkt ihn auf die menschliche Lebensweise zwischen Geburt und Tod. „Die Idee, dass die Entstehung des Kosmos und Gott etwas miteinander zu tun hätten“, hält er sogar für „Aberglaube“.119 Man könne „an Gott glauben, ohne zu erwarten, dass Gott etwas zu tun hat mit der Entstehung der Welt und der Menschen, und ohne zu hoffen, dass er nach dem Tod auch da sein wird. […] Was ursprünglich unter ‚Gott‘ verstanden wurde, wurde nicht in Verbindung gebracht mit der Frage, woher der Mensch kommt und wohin er geht, sondern mit dem eigentlichen Leben zwischen Geburt und Tod.“120 Glaube ist für Hendrikse also Lebenspraxis. „Glauben ist eine Art zu sein.“121 Aber welche? Glauben ist ein besonderer „Blick“.122 Aber welcher? „Gläubige […] nehmen die Dinge anders wahr, sie werden anders erfahren.“123 Aber wie? Der besondere „Blick“ des Glaubens ist für Hendrikse etwas, das man am ehesten als „Empathie“, als Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Einfühlsamkeit bezeichnen könnte: „Maßgebend für eine religiöse Haltung dem Leben gegenüber“ ist „die Verbundenheit mit dem, was uns umgibt“.124 Auf die Menschen bezogen, auf die „Erkenntnis der wechselseitigen Abhängigkeit“125 der Menschen: „Gott“ muss „dort sein, wo Menschen Anteil nehmen aneinander“.126 Schließlich bezeichnet Hendrikse das „Geschehen“ Gottes als „das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen“: „Gott kann geschehen als das ‚Außergewöhnliche im Gewöhnlichen‘. Es kommt manchmal vor, dass, was ‚gewöhnlich‘ zwischen Menschen geschieht, über die Menschen hinausweist: in Momenten, da sie ihre Insel verlassen und sich öffnen füreinander; da ihre Einsamkeit aufgebrochen, da ihr Leid geteilt wird. Wenn immer Gott irgendwo zu spü-

119 A.a.O., S. 64. 120 A.a.O., S. 49. 121 A.a.O., S. 89. 122 A.a.O., S. 88. – Vgl. den Philosophen Richard M. Hare, der den Glauben als einen „Blick“ verstanden hat. – Zu Hare: Friedo Ricken, Art. Hare, in: K.-H. Weger (Hg.), Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart (s. Anm. 8), S. 141–143. 123 K. Hendrikse, Glauben an einen Gott, den es nicht gibt (s. Anm. 7), S. 88. 124 A.a.O., S. 98. 125 Ebd. 126 Ebd.

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ren ist, wo dann, wenn nicht im Mitgefühl für andere lebende Wesen, in menschlicher Nähe?“127

Der alttestamentliche Gottesname „Schaddai“ ist nach Hendrikse ein „Erfahrungswort“ für „etwas, was mit und zwischen Menschen geschieht“128, und bedeutet nicht, anders als normalerweise vermutet, „allmächtig, gewaltig, etwas Großartiges, Überwältigendes“129. Konsequenterweise lehnt Hendrikse den Gesichtspunkt der Macht bzw. „Allmacht“ Gottes ab.130 Das Gottesbild müsse „von den Attributen der Allmacht, die ihm angehängt wurden, entrümpelt“ werden.131 Das heißt für ihn im Blick auf die Kirche: „Lieber keine Kirche als eine Kirche, in der wider besseres Wissen etwas Unmögliches [sc. die Allmacht Gottes] festgehalten wird.“132 Ebenso fällt die Hoffnung auf ein Sein nach dem irdischen Tod weg. Nach Hendrikse ist mit dem Tod „alles aus“.133 „Nach meiner Überzeugung ist der Tod das definitive Ende des Lebens.“134 Damit ist für ihn das Leben aber nicht ohne Sinn: „Aus biblischer Sicht muss das Leben nicht sinnlos sein, wenn – oder weil – es mit dem Tod endet. Ein gläubiges Leben hat offensichtlich kein anderes Ziel, als das Leben hier und jetzt lebbar zu machen und lebbar zu erhalten.“135

Wie Freeman lässt Hendrikse bei seiner atheistischen Position aber doch noch gewisse Hintertüren offen. So deutet er gelegentlich einen „Agnostizismus“136 an („man weiß es letztlich nicht“), mit dem er seinen eigenen dezidierten Atheismus leicht zurücknimmt. Etwa im Blick auf die Frage, was nach dem Tod kommt: „Auf die letzte Lebensfrage gibt es […] keine Antwort. […]. Die Reise geht ins Ungewisse.“137 Was immer Hendrikse negativ oder positiv, bestimmt oder vage über Gott geäußert hat – so kann er doch auch feststellen: „Gott ist und bleibt 127 A.a.O., S. 125. 128 A.a.O., S. 60. 129 A.a.O., S. 59 f. 130 A.a.O., S. 26. 33. 59–63. 131 A.a.O., S. 74 f. 132 A.a.O., S. 63. 133 A.a.O., S. 163. 134 A.a.O., S. 164. 135 A.a.O., S. 168. 136 A.a.O., S. 36 f. 137 A.a.O., S. 168 f.

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­ nbekannt.“138 Dazu passt, dass für ihn „Gott“ auf „Unsagbarkeit“ veru weist.139 „Gott ist ein Wort für nicht sagbare Erfahrungen.“140 Gott ist ein Wort, „das auf nicht in Worte zu fassende, nicht mitteilbare menschliche Erfahrungen verweist.“141 Hendrikse kann auch sagen, dass Gott etwas ist, das „über den Menschen hinausgeht“142, dass also „Gott den Rahmen des Menschlichen sprengt“.143 Hier klingt der Gedanke der Transzendenz und des Transzendierens an. Er kann Gott auch mit dem Gesichtspunkt der Befreiung in Verbindung bringen: „Der Name Gottes ist verbunden mit einer ‚Befreiung‘, die durch Menschen Gestalt annehmen muss.“144 Das ist ebenso eine Anschlussmöglichkeit an die christliche Überlieferung wie die Erfahrung, beschenkt zu sein: „‚Glauben‘ fängt vielleicht eben damit an: Mit dem Bewusstsein, dass das, was wirklich von Belang ist, uns gegeben wird.“145 Immer wieder bezieht sich Hendrikse auf den „Etwasismus“146 oder „Ietsismus“, ein aus den Niederlanden stammendes religiöses Phänomen, aus einem inzwischen stark säkularistischen Land, in dem nicht einmal mehr die Hälfte der Bevölkerung einer christlichen Kirche angehört. Die übrigen sind nicht durchweg Atheisten. Es gibt Angehörige anderer Religionen, Agnostiker und eben „Etwas-Gläubige“. Nach einer Untersuchung von 2004 machen die „Etwas-Gläubigen“ (die „Ietsisten“) in den Niederlanden 40 Prozent der Bevölkerung aus.147 Dort heißt die Bewegung „Ietsisme“, vom niederländischen Wort „iets“ (etwas). In der englischen Sprache wird das Phänomen als „Somethingism“ bezeichnet, sofern nicht „Ietsism“ als Fremdwort gebraucht wird. Es handelt sich um eine nicht organisierte Strömung, eine Denkweise, die davon ausgeht, dass es schon „irgend etwas Höheres geben muss“, man weiß nur nicht was. Die „Etwasisten“, wie sie Hendrikse beschreibt, „glauben schon, 138 A.a.O., S. 149; vgl. auch a.a.O., S. 141. 139 A.a.O., S. 144 f. 140 A.a.O., S. 110. 141 A.a.O., S. 144. 142 A.a.O., S. 119; vgl. auch a.a.O., S. 120. 143 A.a.O., S. 120. 144 A.a.O., S. 46. 145 A.a.O., S. 96; vgl. auch a.a.O., S. 14. 146 A.a.O., S. 17 f. 36 f. 109. 142–144. 175. 147 A.a.O., S. 143.

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dass es etwas gibt, bloß nennen sie es nicht Gott“.148 Hendrikses Beschreibung ist noch vager als die ganze Denkweise selbst, denn was soll das heißen: „Es gibt etwas?“ Natürlich ist „etwas Höheres“ gemeint, aber dies auszusprechen weigert sich Hendrikse, weil er eine „­ höhere Macht“ oder eben „etwas Höheres“ ablehnt.149 Die niederländische, in der Schweiz arbeitende Pfarrerin Ella de Groot150 charakterisiert die Ietsisten oder „Etwas-Gläubigen“151 so: „Vielmehr entdecken sie, dass es etwas gibt, das das Alltägliche übersteigt. Sie machen die Erfahrung von etwas Numinosem, das das eigene Leben erfasst und transzendiert.“152 Hendrikse identifiziert sich nicht mit den „Etwasisten“ oder „Etwas-Gläubigen“, aber er sieht sie als seine „Bundesgenossen“153: „Wenn Gott nicht jemand ist, was ist er dann? Kommt ihm dann ‚etwas‘ vielleicht näher als ‚niemand‘?“154 Der „Etwas-Glaube“ sollte ernst genommen werden als eine Möglichkeit, sich weder in der Negation mit einem Nicht-Theismus zu begnügen noch im bloßen Agnostizismus zu verharren oder gar einer völligen religiösen Gleichgültigkeit zu verfallen. Der „Etwas-Glaube“ setzt irgendeine höhere Macht voraus, die aber nicht weiter charakterisiert wird und so recht nebulös bleibt. Somit kann sich hier zu diesem Höheren keine persönliche Beziehung entwickeln. Doch kann die ­ christliche Verkündigung an diesen „Etwas-Glauben“ anknüpfen.

6. Ella de Groot: Nicht-Theismus und Theologie des Geistes Die niederländische evangelisch-reformierte Theologin Ella de Groot (Jahrgang 1958) lebt seit 1987 in der Schweiz. Dort arbeitet sie als Pfar148 A.a.O., S. 37; vgl. auch a.a.O., S. 17. 149 A.a.O., S. 141. 150 Ella de Groot, Gott – der Atem der Welt (Schriften zur Glaubensreform, hg. v. Hubertus Halbfas u. Klaus-Peter Jörns, Bd. 4), Gütersloh 2015. 151 A.a.O., S. 7–11. 152 A.a.O., S. 8; vgl. auch a.a.O., S. 9. – Im Internet findet man in „English Wiktionary“ folgende Definition des Ietsismus („Somethingism“): „An unspecified belief in some higher force.“ (URL: [25.2.2016]) 153 K. Hendrikse, Glauben an einen Gott, den es nicht gibt (s. Anm. 7), S. 144. 154 A.a.O., S. 143.

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rerin, 1999–2005 in Biglen, seit 2005 in Muri-Gümligen im Kanton Bern. Im epd-Wochenspiegel 29/2013 trat sie in einem Bericht mit der Überschrift: „Evangelisch-reformierte Pfarrerin: ‚Es gibt keinen Gott‘“ an die Öffentlichkeit. In einem Interview im Schweizer Radio SRF 2 Kultur hatte sie gesagt: „Alles, was wir über Gott sagen, ist unsere Fantasie, ist in unserem Kopf entstanden.“155 Wie ihr Buch „Gott – der Atem der Welt“156 (2015) zeigt, ist sie, im Unterschied zu Paul Schulz, Anthony Freeman und Klaas Hendrikse, trotz dieser provokanten Äußerung keine Atheistin, sondern lediglich A-theistin bzw. Nicht-theistin. Sie steht in der christlichen Überlieferung und nicht nur an deren Rand. In ihrer Landeskirche ist sie unangefochten. Ihr theologischer Lehrer, an den sie sich in ihrem Buch anschließt, ist der emeritierte Groninger Theologieprofessor Gijs D. J. Dingemans mit seiner Theologie des Geistes.157 De Groot hat das Anliegen, die christliche Botschaft besonders solchen Leuten zugänglich zu machen, die mit der herkömmlichen christlichen Vorstellungswelt und Sprache ihre Schwierigkeiten haben – wie sie selbst. Der christliche Glaube, so heißt es, bezieht sich auf Gott, und Gott wird als Person „im Himmel“ vorgestellt. Aber eben diese Vorstellungen sind ihr zweifelhaft geworden: „Kann es ein ‚Wesen‘, das wir Gott nennen, jenseits der Wirklichkeit, die ich mit meinen Sinnen erfahre, ‚wirklich‘ geben? Und greift dieser jenseitige, personale Gott dann in die Geschichte der Welt im Allge­ meinen und in mein Leben im Besonderen ein? Seit einiger Zeit kann ich diese Fragen immer weniger bejahen. Mir Gott als Person in einer an­ deren Wirklichkeit jenseits der von mir erlebten vorzustellen, fällt mir immer schwerer.“158

Sie sucht nach einem „neuen, nicht personalen Gottesbild“159 und will „die christliche Glaubenstradition in einer nicht-theistischen Sprache 155 epd-Wochenspiegel 29/2013. 156 S. Anm. 150. 157 E. de Groot, Gott – der Atem der Welt (s. Anm. 150), S. 11 f. –Gijs D. J. Dingemans, De stem van der Roepende. Pneumatheologie, Kampen 2005; ders., Sporen van de verborgen God. Een theologie van de Geest, Kampen 2010. 158 E. de Groot, Gott – der Atem der Welt (s. Anm. 150), S. 6 f. 159 A.a.O., S. 7.

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zur Geltung bringen“.160 Sie geht von den eigenen Erfahrungen aus. Diese spielen sich nicht in einer Überwelt ab, sondern in unserem irdischen, diesseitigen Dasein. Gott wird eben nicht erlebt als eine über­ irdische Person, die „aus der Distanz ‚vom Himmel herab‘ regiert“.161 Gott wird auch nicht erlebt als eine Macht, die in unsere Welt eingreift.162 Wohl aber erfahren wir durch den Geist Gottes – sie redet von der „Geistkraft“ – einen „göttlichen Einfluss auf die Welt“: „Verborgen, doch kräftig. Raum gebend und belebend. Erfahrbar, wenn man sich dafür öffnen kann. […] Es ist eine Kraft, die uns inspiriert, die eine Zugkraft zur Liebe ausübt.“163 De Groot greift selbstkritisch und klärend auf ihre heftig kritisierte Interview-Äußerung zurück, „Gott sei eine Fantasie“. Sie will das so verstanden wissen, dass wir unsere „authentischen Erfahrungen“ in „inneren Bildern“ ausdrücken, und diese sind „so wahr wie unsere Erfahrungen, so wahr, wie wir selbst wahr sind“.164 Von Gott können wir nur aus unseren Gotteserfahrungen heraus reden, und diese sind eben in Bilder, Gleichnisse, Symbole zu fassen. Ganz anders als Hendrikse gibt de Groot auf die Frage, was wir meinen, wenn wir „Gott“ sagen, eine Antwort auf der Linie der religiösen, christlichen und philosophischen Tradition, aber in einer nicht personalistischen, auch nicht pantheistischen, wohl aber panentheistischen Sprache: „Da ist ein Seinsgrund, der mich trägt, ein Mysterium, das mich umgibt, und das sich in mir und durch mich wie durch alles ­Lebendige entfalten will.“165 Dieser göttliche Seinsgrund hat, wie sie zustimmend Huub Oosterhuis zitiert, mit allem zu tun. Er wirkt in allem, also in der Natur und der Geschichte, aber „wohnen“ will er in den Menschen.166 Der göttliche Seinsgrund entfaltet sich als Geist, als „Geistkraft“, in Natur, Geschichte und persönlichem Leben. Die „Geistkraft“ wirkt „auf unterschiedliche Art in der Welt“: „Als göttliche Energie oder Kraft ist sie in 160 A.a.O., S. 10; vgl. auch a.a.O., S. 36. 161 A.a.O., S. 14. 162 A.a.O., S. 36 f. 163 A.a.O., S. 17. 164 A.a.O., S. 13. 165 A.a.O., S. 5 f. 166 A.a.O., S. 5.

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der Natur wirksam. Sie bringt das Leben hervor und ist zugleich das Leben selbst. Daneben zeigt sich die Geistkraft aber auch in der Geschichte der Menschen.“167 Die Geistkraft ist wirksam „im evolutionären Prozess. Die Kraft, die sich in der Evolution entfaltet, ist eine göttliche Kraft. Sie ist nicht selbst Gott, aber sie ist eine immanente Energie, die im Kosmos anwesend ist und sich kreativ entfaltet.“ Die Natur ist nicht Gott. „Aber die Natur zeigt die Spuren der göttlichen Kraft und Kreativität in der Weise, wie sie da ist und sich entwickelt.“168 Ferner „zeigen sich Spuren der Geistkraft in den Lebensgeschichten, im Handeln und im Dasein von Menschen“. Wir „haben die Möglichkeit, auf die göttliche Kraft zu antworten“.169 Kosmos und Geschichte, Natur und Mensch werden hier nicht gegeneinander ausgespielt, da „wir alle teilhaben an dieser kreativen Kraft des Geistes, die in Schöpfung und Geschichte Wirklichkeit wird“.170 Der göttliche Geist, die „Geistkraft“ inspiriert Menschen. Göttliche Energie strömt in uns ein.171 Dabei ist nicht so sehr auf die eigene „innere Stimme“ zu achten. Vielmehr ist Jesus der entscheidende Orientierungspunkt: „Im Leben und Wirken, in den Worten und im Schicksal Jesu wird die Geistkraft auf einzigartige Weise in der Geschichte sichtbar. Im Leben Jesu sind die Spuren der in die Zukunft ziehenden Kraft am deutlichsten erkennbar.“172

In der Gottesfrage unterscheidet de Groot zwischen Gott, wie er als Geistkraft erfahrbar wird, und dem immer größeren, allumfassenden Gott, der für uns unerkennbar bleibt. Diese Unterscheidung von verborgenem, unfassbarem, und offenbarem, uns zugewandten und zugänglichen Gott erinnert etwa an den Mystiker Meister Eckhart mit seiner Unterscheidung von „Gottheit“ (deitas) und „Gott“ (deus).173 167 A.a.O., S. 12. 168 A.a.O., S. 15. 169 Ebd. 170 A.a.O., S. 27. 171 A.a.O., S. 22. 172 A.a.O., S. 18. 173 Etwa in seiner „Opferstockpredigt“: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. u. übers. v. Josef Quint, München 1963 (51978), S. 271–273 (Predigt 26, „Noli timere eos“), bes. S. 273. Oder in der Predigt „Ave, gratia plena“, a.a.O., S. 256–261 (Predigt 23), dort S. 261.

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„Gott an sich können wir nicht erkennen, aber wir können Erfahrungen machen mit der göttlichen Geistkraft. Sie ist erfahrbar in Beziehungen, in der Liebe zu Menschen und zu der Wirklichkeit um uns herum. In der Natur ist diese Energie in der Dynamik und der Kreativität der Evolution lebendig. In der menschlichen Geschichte wirkt der göttliche Geist, indem er Menschen inspiriert und zur Liebe ruft. Geistkraft wirkt auf Emotionen, bewegt aber auch das Denken und die Rationa­ lität der Menschen.“174 Wir müssen uns „darüber im Klaren sein, dass wir Gott mit unserem Denken nicht wirklich erfassen können. Wäre das möglich, dann wäre Gott ein Objekt unseres Denkens, unserem Erfassen zugänglich. Was aber unserem Erfassen zugänglich ist, kann nicht Gott sein. So bleibt Gott immer Geheimnis und wir können nur in Kategorien von Erfahrungen, Erlebnissen und in Gleichnissen von ihm reden.“175

Was hält die unfassliche und die erfahrbare Seite Gottes zusammen? Etwa der Gesichtspunkt der Kraft, der Energie, die einerseits in allem wirkt, wirken muss, um alles zu ermöglichen und zusammenzuhalten, und die andererseits für uns ein Stück weit erfahrbar wird. Es ist eine Kraft, die wir nicht selbst erzeugen können, sondern die unser Dasein erst möglich macht und die lebensdienlich, heilsam in uns wirkt, sofern wir uns ihr nicht verschließen, und der wir uns mit den uns geschenkten Kräften zur Verfügung stellen können. Im Unterschied zu den anderen vorgestellten „A-theisten im Ornat“ ist de Groot theologisch nicht „radikal“, sondern „liberal“, freisinnig, reformorientiert eingestellt. Das zeigt sich eben an ihrem Gottesverständnis und ihrem Ansatz bei der Erfahrung. Es zeigt sich aber auch an vielen Einzelheiten: (a) Die göttliche Geistkraft „wirkt in allen Menschen, in allen Kulturen und in allen Religionen“.176 (b) Wir sind fähig, uns der göttlichen Geistkraft zu öffnen, „das Gute zu tun und damit auf den Ruf der Liebe zu antworten“, und „diese Fähigkeit der Durchlässigkeit für die Geistkraft haben alle Menschen in allen Religionen und allen Kulturen“.177 (c) Statt zu sagen, „dass in Jesus Gott Mensch 174 E. de Groot, Gott – der Atem der Welt (s. Anm. 150), S. 22; vgl. auch a.a.O., S. 14 f. 175 A.a.O., S. 12 f. 176 A.a.O., S. 12. 177 A.a.O., S. 23; vgl. auch a.a.O., S. 24 f.

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geworden ist“, spricht de Groot davon, „dass Jesus als Mensch […] von der göttlichen Geistkraft erfüllt war“, und das ist besser „Inhabitation“ (Einwohnung) als „Inkarnation“ (Fleischwerdung) zu nennen.178 (d) De Groot kritisiert die Vorstellung vom Sühnetod Jesu.179 Seinen Tod versteht sie als die „Konsequenz seiner Überzeugung“. Seine mächtigen Gegner wollten „den ihnen gefährlich werdenden Erneuerer aus dem Weg räumen“.180 (e) Die Auferstehung Jesu heißt für sie: „Seine kreative Kraft wirkt weiter in der Geschichte.“181 Das wird freilich auch für viele liberal eingestellte Christen zu wenig sein. Weitere Punkte einer liberalen Position sind (f) die freie Deutung von Taufe und Abendmahl – Taufe als Eingebundensein in die Schöpfung, Abendmahl als „das Gemeinschaft stiftende Teilen der Lebensgaben“182 – und (g) das Verständnis von Schuld und Gericht: das Gericht sprechen wir über uns selbst.183 Auch dies beides wird allerdings vielen theologisch liberalen Christen als doch etwas zu dünn vorkommen. (h) Kräftig liberal und dabei allgemeinchristlich konsensfähig ist schließlich der Gedanke, dass die göttliche Kraft zur Humanität führt.184

7. Herausgefordert von „a-theistischer“ Verkündigung in der Kirche: sieben Thesen (1) Zur Frage nach dem „persönlichen Gott“: Die zunehmende Entkirchlichung und Entchristlichung in Europa und Amerika verleiht den a-theistischen christlichen Theologen und Geistlichen eine gewisse Plausibilität in ihrem Bemühen, neu über Gott und damit über die Fundamente des christlichen Glaubens nachzudenken. Nicht-Theis­ mus bzw. A-theismus hat darin eine Berechtigung, dass Gott nicht Person ist im eingeschränkten Sinn einer von anderen Personen abgehobenen Person. Gott ist Grund allen Personseins und damit mehr und nicht 178 A.a.O., S. 18. 179 A.a.O., S. 10 f. 180 A.a.O., S. 20. 181 A.a.O., S. 21. 182 A.a.O., S. 26 f. 183 A.a.O., S. 24 f. 184 A.a.O., S. 34.

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weniger als Person. Gott ist transpersonal. Damit ist Gott als Bedingung alles Geistigen, alles Bewusstseins, alles Willens mehr als Geist, mehr als Bewusstsein, mehr als Wille. Dem Materialismus bzw. Naturalismus ist nicht ein in einem Jenseits angesiedelter himmlischer Herrscher entgegenzusetzen, sondern in panentheistischer (nicht pantheistischer) Weise Gott als tragender Grund von allem. (2) Zum Wirklichkeitsverständnis: Das alte Weltbild, das von mehreren Stockwerken ausging, der irdischen Welt, der Unterwelt und dem Himmel als der Überwelt, ist überholt. Es gibt nur die eine Wirklichkeit. Darin haben die nicht-theistischen, a-theistischen Christen recht. Die eine Wirklichkeit ist aber in unterschiedlichen Dimensionen zu sehen. Zur Wirklichkeit, wie wir sie wissenschaftlich beschreiben können, kommt ihre Tiefendimension, ihr Hintergrund, ihr Geheimnis. Diese Unterscheidung ist auch dann zu treffen, wenn materialistische bzw. naturalistische Atheisten die erfassbare Wirklichkeit mit ihrer eigenen Tiefe in eins setzen. Das ist ihre religiöse bzw. quasi-religiöse, monistische Entscheidung. Sie ist aber in keiner Weise vernünftiger als die christliche und überhaupt monotheistische Entscheidung, Gott nicht mit dem Kosmos gleichzusetzen, sondern Gott als die Ermöglichung, die Bedingung von allem, was ist, zu verstehen, als die Bedingung nicht nur der Materie, sondern auch des Geistes. (3) Zum Verhältnis von Gott und Schöpfung: Wenn wir „Gott“ sagen, meinen wir die Schöpferkraft, der sich alles verdankt und die alles trägt. Einige der „A-theisten im Ornat“ (beispielsweise Paul Schulz, Anthony Freeman und Klaas Hendrikse) wollen „Gott“ von der Schöpfung abkoppeln. Dann wird Gott eine Etikette für unsere Werte und Ideale, und das kann völlig beliebig werden. Was immer wir in Bezug auf Gott glauben: in erster Linie ist er die alles bedingende, tragende und überragende Schöpfermacht. Die „A-theisten im Ornat“ haben aber darin recht, dass damit kein Supranaturalismus und kein Interventionismus gemeint ist, wonach Gott von Zeit zu Zeit ins Geschehen oder ins einzelne Menschenleben in der Weise eingreifen würde, dass er die Naturordnungen außer Kraft setzen würde.

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(4) Zum Charakter Gottes: Der Dimension nach ist Gott das SeinSelbst, der Urgrund von allem, Ursprung und Ziel von allem, oder wie immer man das ausdrücken will. Damit ist aber noch nicht klar, was der wahre Charakter Gottes ist, wie wir also mit ihm dran sind. Was wir als Christen hier glauben können, ist eine Frage der Erfahrung, der Lebensweisheit und der Einsicht, und vor allem der Gottesbegegnungen, die uns in erster Linie aus der Geschichte des biblischen Gottesvolkes erzählt werden. Wichtig ist immer, dass wir es mit einem Gott zu tun haben, der uns näher ist als wir uns selbst, sodass das, was er von uns will, mit dem zusammenstimmt, wovon wir in unserem Gewissen auch überzeugt sind. Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes ist keine Fremdbestimmung (Heteronomie), sondern eine in der Gottesgemeinschaft (Theonomie) gegründete Eigenständigkeit (Autonomie). (5) Zur Unerkennbarkeit Gottes: Die „A-theisten im Ornat“ haben recht, wenn für sie zum Glauben ein Schuss Agnostizismus gehört. Gott ist immer größer (Deus semper maior) als alles, was wir begreifen können. Wir können nur tastend, in Bildern, gleichnishaft-symbolisch von ihm denken und sprechen. Gott bleibt unzugänglich, auch wenn er sich andererseits uns zuwendet. Beides gilt. (6) Zu den Defiziten „a-theistischer“ Verkündigungen: Bei der Lehre und Verkündigung der einzelnen „A-theisten im Ornat“ kann man vom christlichen Grundkonsens aus manches bejahen, insbesondere in der Kritik an kirchlicher Tradition und an einer Lehre und Verkündigung, die sich gegen Argumente der Vernunft und gegen Lebenserfahrungen verschließt und die leicht zu Zwängen führt. Vor allem finden sich auch viele stimmige ethische Einsichten. Ferner beeindruckt das Offensein für ehrliche Zweifler und für „Etwas-Gläubige“ (Ietsisten). Andererseits klingt manches vage, willkürlich und beliebig, wenn das Vorzeichen vor der Klammer fehlt, nämlich Gottes Schöpfersein und seine Zuwendung zu uns in Güte und Barmherzigkeit. Ohne dieses Vorzeichen bzw. Fundament wird der Glaube ausgedünnt. So fehlt weitgehend das Bewusstsein einer letzten Verantwortung vor einer ­höheren Instanz. Es fehlt auch meistens – ein besonders gravierender Mangel – die Hoffnung auf ein Sein bei Gott über den Tod hinaus. Mit

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dem Vorzeichen des immer größeren und damit verborgenen, aber zugleich auch uns zugewandten Gottes ist man selbst geborgen und kann das Gefühl der Geborgenheit auch vermitteln. Zugleich kann man es sich leisten, die Grenzen der eigenen und überhaupt der mensch­lichen Glaubenserkenntnis zuzugeben und somit bescheiden zu bleiben. (7) Zum Problem eines impliziten Atheismus: Die Herausforderung durch die „A-theisten im Ornat“ liegt für die Kirche besonders darin, nicht einem indirekten, praktischen Atheismus zu verfallen. Es muss gerade in einer Zeit schwindender Kirchlichkeit und Christlichkeit deutlich werden, welche Bedeutung Gott für unser Leben hat. Hier ­einige wenige Andeutungen: – Das Bewusstsein beschenkt zu sein. – Sich als Kind Gottes angenommen zu wissen. – Die Befreiung vom Zwang, den Sinn und Wert des eigenen Lebens selbst schaffen zu müssen. – Die Befreiung von Menschenfurcht, weil noch so mächtige Leute auch nur relativ sind. – In die Verantwortung für andere gerufen zu sein, mit den Gaben und Möglichkeiten, die man selbst bekommen hat. – Aus der Zuwendung Gottes, die uns besonders eindrücklich in Jesus als seinem einzigartigen Boten begegnet, Motivation und Kraft zum Guten zu nehmen. – Ehrfurcht vor dem Leben und der Wahrheit zu gewinnen, und zugleich Ehrfurcht vor dem Grund allen Lebens und aller Wahrheit. – Sich in Freude und Leid in Gott geborgen zu wissen. – Auch beim Scheitern und Versagen nicht verzweifeln zu müssen, weil man trotz allem bejaht ist. – Die eigene Vergänglichkeit aushalten zu können, weil man davon ausgehen darf, dass Gott es auch über den Tod hinaus mit uns recht machen wird.

Die materialistische Weltanschauung des neuen Atheismus Eine philosophische Auseinandersetzung (I) Hans-Georg Wittig

V

on dem tiefgründigen Dichter Jean Paul stammt der Satz: „Verzweiflung ist der einzige echte Atheismus.“1 Ich zitiere diesen Satz, um von vornherein klarzustellen, dass es hier um existenzielle Fragen geht, nicht um unverbindliche Meinungen. Schon vor zweihundert Jahren sah Jean Paul die Erschütterungen durch einen radikalen Atheismus voraus, z. B. in seiner „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“.2 Er selbst freilich glaubte an Gott – eine Möglichkeit, die ihm nicht zuletzt der Philosoph Kant erschlossen hatte.3 Ich erwähne das, weil die Fragen, um die es heute geht, im Prinzip so neu nicht sind. 1748, also in der Mitte des Aufklärungsjahrhunderts, lange vor Jean Paul, veröffentlicht der Materialist und Atheist Julien Offray de La Mettrie sein Buch „L’homme machine“: der Mensch als Maschine. Wenige Jahre später jedoch verfasst Jean-­Jacques Rousseau das „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“4, das von 1 Jean Paul, Dämmerungen für Deutschland (1809), in: ders., Werke, hg. v. Norbert Miller, München 31970 ff., Bd. V, S. 936. Vgl. Hans-Georg Wittig, Bildung zur „Heilig­ haltung des Lebens“. Jean Paul als Klassiker einer Pädagogik im Widerstand gegen die Zerstörung des Lebens, in: Pädagogische Rundschau, Jg. 48 (1994), S. (727–747) 733. 2 Jean Paul, Siebenkäs, in: ders., Werke (s. Anm. 1), Bd. II, S. 270–275. 3 Vgl. H.-G. Wittig, Bildung zur „Heilighaltung des Lebens“ (s. Anm. 1), S. 735. 740 f. 4 Jean-Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung, hg. v. Martin Rang, Stuttgart 1963, S. 536–639.

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Albert Schweitzer als „das eindrucksvollste und wohl auch schönste Dokument der Vernunftreligion“5 gelobt wird. Indem Rousseau dabei von einer selbstkritischen Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis ausgeht, bereitet er die entscheidende philosophische Wende bei Kant vor, und diese Wende ist für das Folgende zentral.6 Doch der Reihenfolge nach – ich halte mich an die Stichworte des ­Titels, vom Ende her beginnend. Um eine „Auseinandersetzung“ soll es gehen, nicht primär um eine Darstellung. In der hier gebotenen Kürze ist es unmöglich, die vielfältigen Nuancen dessen herauszuarbeiten, was „neuer Atheismus“ genannt wird. Michael Grossmann wird dazu anschließend Wichtiges nachholen,7 ich selber will versuchen, vorab einige Schneisen durch das Dickicht der Diskussionen und der fast unabsehbaren Literatur zu schlagen, und Sie einladen, einen Grundgedankengang mitzuvollziehen, über den dann zu sprechen sein wird. Nächstes Stichwort: Dieser Grundgedankengang soll „philosophisch“ sein, also weder theologisch noch religionswissenschaftlich. Einerseits geht er also nicht, wie es die Theologie tut, von tradierten Offenbarungen und heiligen Schriften aus, sondern fragt nach vernünftigen Gründen, die für oder gegen diese Traditionen sprechen. Wie ­lebenswichtig derlei Religionsphilosophie für die Akzeptanz von Theologie in einer säkularisierten Welt ist, scheinen die meisten Pfarrer immer noch nicht bemerkt zu haben, oft ahnen sie kaum, wie tief die Kluft zwischen ihnen und der modernen Welt ist. Um es von vornherein zuzuspitzen: Zwar ist Religion auf Offenbarungen, Visionen und sie tradierende Texte angewiesen, aber schon angesichts der Fülle konkurrierender Offenbarungsansprüche in den verschiedenen Religionen – Offenbarungsansprüche, die zudem oft inhaltlich absurd sind – kommen wir nicht umhin, sie kritisch zu beurteilen. Kurz: Jede Offen­ barung bedarf prinzipiell vernünftiger Legitimation. Deshalb wirkt 5 Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, in: ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. v. Rudolf Grabs, Bd. 2, Zürich 1974, S. (95–420) 214 f. 6 Vgl. Hans-Georg Wittig, Wiedergeburt als radikaler Gesinnungswandel. Über den Zusammenhang von Theologie, Anthropologie und Pädagogik bei Rousseau, Kant und Pestalozzi, Heidelberg 1970. 7 Siehe seinen Beitrag in diesem Band.

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sich der bloße „Offenbarungspositivismus“ eines Karl Barth, wie leidenschaftlich auch immer er vorgetragen sein mag, am Ende destruktiv aus, und deshalb ist es so wichtig, dass die katholische Tradition seit den „Kirchenvätern“ Verbindung zu philosophischer Reflexion gesucht hat8. Nicht um „Verkopfung“ der Religion geht es hier, aber um intellektuelle Redlichkeit, und diese ist zwar nicht hinreichende, aber doch notwendige Bedingung humaner Religion. Andererseits ist der hier angestrebte Grundgedankengang aber auch kein religionswissenschaftlicher, denn er liefert nicht einfach empirische Beschreibungen vorfindlicher Religion, sondern möchte durch Argumente überzeugen. Hierbei beginnen die Probleme schon mit der Terminologie – aufgrund ungeklärter und oft auch undisziplinierter Sprache reden wir allzu oft heillos aneinander vorbei. Über Atheismus z. B. können wir uns nur verständigen, wenn wir zuvor geklärt haben, was wir mit dem Wort „Gott“ meinen. Ist damit so etwas wie ein Ur­ grund unserer Welt gemeint oder aber „theistisch“ ein personaler, im Gebet ansprechbarer, handelnder Gott – oder gar beides? Insbesondere theistische Auffassungen eines handelnden Gottes sind es, die Atheismus provozieren. Ich möchte so vorgehen, dass ich zunächst den neuen Atheismus und Materialismus in aller Kürze kritisch erörtere, um beide dann in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

1. Vorläufige Kritik 1.1 Zum Atheismus

Es gibt einen entschiedenen Atheismus, der von der Nichtexistenz Gottes überzeugt ist, und einen zweifelnden Atheismus, der dem „Agnostizismus“ zumindest nahesteht, der im Blick auf die Grenzen mensch­ licher Erkenntnis sich jeder Antwort auf die Gottesfrage enthält. Es gibt einen militanten Atheismus (den man auch als „Antitheismus“ bezeichnen könnte), z. B. den von Richard Dawkins, der jeglichen Glauben an 8 Vgl. z. B. Wilhelm Kamlah, Christentum und Geschichtlichkeit, Stuttgart / Köln 21951.

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Gott für Unsinn hält, ja diesen „Gotteswahn“9 als verderblich ansieht, aber auch einen suchenden Atheismus wie denjenigen Ronald Dworkins, der an einen theistisch verstandenen Gott nicht glauben kann und deswegen für eine „Religion ohne Gott“ plädiert,10 und neben diesen ­Varianten gibt es weitere Spielarten.11 Angesichts der heute verbreiteten Formel einer „Religion ohne Gott“ ist aber weiterhin zu fragen, was wir unter Religion verstehen wollen. Wenn Religion die vertrauensvolle Verankerung im Ganzen der Wirklichkeit meint, dann schließt sie – neben der dankbaren Hinnahme des eigenen Lebens als Chance und der ihr entsprechenden ethischen Bewährung – auch die Hoffnung auf letzte Geborgenheit ein. Kann Religion dann wirklich getrennt werden von der Frage nach „transzendenter“ Wirklichkeit, also nach „Gott“? Ist Religion nicht „Gott-Vertrauen“, also mehr als bloßes Lebensvertrauen? Wir entgehen dem Gottesbegriff nicht – aber ist nicht schon die immer wieder gestellte Frage, ob es Gott gebe, falsch gestellt, sofern sie nämlich voraussetzt, mit Gott verhalte es sich wie mit irgend­einem Weltgegenstand neben anderen, der entweder existent sei oder eben nicht? Philosophisch gesprochen: Handelt es sich hier nicht um einen Kategorienfehler? Wenn dann freilich gesagt wird, Gott sei anders als die Welt, er gehe über sie hinaus: Wie ist das zu verstehen? Bevor ich von diesen Überlegungen her in den angekündigten Grundgedankengang eintrete, möchte ich auf die einfachere Frage nach der Militanz weiter Teile des „neuen Atheismus“ eingehen. Diese Schärfe ist historisch zu verstehen, nämlich als Antwort auf zunehmenden Fundamentalismus. Je katastrophaler unsere Weltlage wird, umso mehr Menschen werden sich in die vermeintliche Geborgenheit simplifizierender sektiererischer Gemeinschaften flüchten, damit aber die Lage ihrerseits verschlimmern. Das Erscheinungsbild heutiger Religionen ist ja weithin jämmerlich: Fundamentalismus, engstirnige Intoleranz, ja Gewalt­ 9 Richard Dawkins, Der Gotteswahn (The God Delusion, engl. Orig. 2006), Berlin 13 2014. 10 Ronald Dworkin, Religion ohne Gott (Religion without God, amerik. Orig. 2013), Berlin 2014. Dazu Hans-Georg Wittig, Religion ohne Gott? Eine Auseinandersetzung mit Ronald Dworkin, in: DtPfrBl 114 (2014), S. 714 f., und in: Freies Christentum. Auf der Suche nach neuen Wegen, Jg. 67 (2015), S. 9–13. 11 Vgl. z. B. Herbert Schnädelbach, Religion in der modernen Welt, Frankfurt a.M. 2009; Gregor Maria Hoff, Ein anderer Atheismus. Spiritualität ohne Gott?, Kevelaer 2015.

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bereitschaft blühen, zugleich müssen sich die schrumpfenden Gemeinden z. B. protestantischer Kirchen davor hüten, zu zahnlosen biblizistischen Grüppchen zu verkommen. Wer die von Michael Schmidt-­ Salomon sogenannten „Religioten“12 z. B. des US-amerikanischen „Bibel-Gürtels“ erlebt hat, dessen Empörung über so viel Irrationalismus und Nichtachtung kritischen Bewusstseins ist verständlich. Hier setzt z. B. Dawkins mit seinem Buch „Der Gotteswahn“ an. In der Sache ist seine zentrale Botschaft schlicht die, dass Darwins Theorie der Evolution mit ihren unzähligen kleinen Schritten von Mutation und Selektion die Annahme eines die Natur gestaltenden Gottes völlig überflüssig mache (wobei er die Entstehung von Leben aus der anorganischen Materie und die Entstehung von Seele und Bewusstsein als bisher unerklärte Fakten stehen lassen muss).13 Seine Angriffe auf fundamen­ talistische Exzesse aber (auch wenn sie polemisch einseitig vorgetragen werden) finde ich so wichtig, dass ich das Buch angehenden Pfarrern als Pflichtlektüre empfehlen möchte – wer mit solchen Angriffen nicht fertig wird, sollte vom Theologiestudium lieber Abstand nehmen. 1.2 Zum Materialismus

Dawkins repräsentiert zugleich diejenige „Weltanschauung“, der heute sehr viele Zeitgenossen und vor allem Wissenschaftler stillschweigend oder ausdrücklich anhängen. Nun kann die jahrhundertelange Diskussion zum Materialismus hier erst recht nicht nachgezeichnet werden – kritisch unterrichtet über ihren heutigen Stand z. B. Hans-Dieter Mutschler in seinem Buch „Halbierte Wirklichkeit. Warum der Materialismus die Welt nicht erklärt“ (2014), in welchem er u. a. heraus­ arbeitet, wie unscharf schon der Begriff der Materie sei.14 Im Blick auf unser Thema ist vor allem der „reduktionistische“ Charakter des Materialismus von Interesse: alle Wirklichkeit lasse sich redu12 Michael Schmidt-Salomon, Keine Macht den Doofen! Eine Streitschrift, München / Zürich 2012, S. 24 ff. 13 R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 9), S. 155 ff., insbes. S. 222 ff. 14 Hans-Dieter Mutschler, Halbierte Wirklichkeit. Warum der Materialismus die Welt nicht erklärt, Kevelaer 2014. Im Blick auf unser Thema stellt Mutschler fest, dass allein „fundamentalistische Strömungen […] von den Argumenten der Neuen Atheisten wirklich getroffen“ werden (S. 295 f.).

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zieren auf Materie, sie bestehe aus „nichts anderem als“ dieser, für Geist und Gott sei da kein Platz, Bewusstsein sei nur ein „Epiphänomen“, eine bloße Begleiterscheinung materieller Vorgänge im Gehirn. Wie selbstwidersprüchlich diese Behauptung jedoch ist, hat in brillanter Weise Hans Jonas in seinem Buch „Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?“ herausgearbeitet, wo er zur „Absurdität einer theorievernichtenden Theorie“ sagt: „Alle Theorie, noch die falscheste, ist ein Tribut an die Macht des Denkens“, das „frei nach Normen der Einsicht beurteilen kann“ und damit „überhaupt des Entschlusses zur Wahrheit fähig ist. Der Epi­ phänomenalismus behauptet aber die Ohnmacht des Denkens und damit die Unfähigkeit seiner selbst, unabhängige Theorie zu sein. In der Tat muss noch der extremste [sic] Materialist für sich als Denker eine Ausnahme behaupten, damit extremer Materialismus möglich sei.“15 Da sich Bewusstsein gemeinsam mit der Herausbildung materieller Strukturen entwickelt, ist davon auszugehen, dass von Anfang an mit Materie geistige Möglichkeiten verbunden sind. An dieser Stelle möchte ich Sie ganz besonders auf das kleine, aber extrem gehaltvolle Büchlein des alten Hans Jonas hinweisen: „Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung“16. Aus der Erfahrung unserer geistigen Möglichkeiten schließt er zurück: „Wir müssen also von der Schaffung […] einer noch geistlosen, aber mit der Möglichkeit des Geistes begabten Urmaterie ausgehen.“17 Und da Jonas voraussetzt, dass „die schöpferische Ursache von schlafendem Geist nur wacher Geist sein kann, von potentiellem Geist nur aktueller“18, erlaubt er sich die „kosmogonische Vermutung“ (die er als „Vernunftglauben“ bezeichnet): 15 Hans Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, Frankfurt a.M. 1981, S. 62 f. (Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu auch Marcus Knaup, Ein neues Naturdenken als Grundlage für die Ethik. Zur Aktualität von Hans Jonas, in: Imago Hominis, Bd. 21, H. 4, S. 287–302. Wie unreflektiert Naturalisten, Materialisten usw. in „performative Selbstwidersprüche“ geraten, zeigt immer wieder Vittorio Hösle auf. „Denn auch wenn die Vernunft aus der Natur erklärt wird, so ist es doch immer die Vernunft, die die Vernunft aus der Natur erklärt.“ (ders., Die Philosophie und die Wissenschaften, München 1999, S. 102 [im Original hervorgehoben]) 16 Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung, Frankfurt a.M. 1988; auch in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a.M. 1994, S. 209–255. Zu Jonas’ Bedeutung innerhalb der gegenwärtigen Philosophie vgl. Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, München 2013, S. 301–305. 17 H. Jonas, Materie, Geist und Schöpfung (s. Anm. 16), S. 49. 18 A.a.O., S. 39 f.

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„Also musste der schöpferische Urgrund, wenn er den Geist wollte, auch das Leben wollen […] – das Leben sowohl um seiner selbst willen als auch, durch die Seele, als Wiege des Geistes. So dürfen wir in gewissem Grade von der Heiligkeit des Lebens sprechen […].“19

Nicht nur in der Philosophie, auch in der Medizin und den Naturwissenschaften ist man längst dabei, sich mit unserem „klassischen Weltbild“ und insbesondere mit dem Materialismus auseinanderzusetzen. Als für unser Thema relevantes Beispiel möchte ich auf die Studien des Niederländers Pim van Lommel verweisen.20 Durch die Phänomene der Nahtodeserfahrungen und insbesondere der Außerkörperlichkeitserfahrungen sieht er sich genötigt, unter Rückgriff auch auf die Quantenphysik und letztlich auf Kant 21 weitreichende Hypothesen über nicht-lokales Bewusstsein zu entwickeln – sein Buch „Endloses Bewusst­sein“ möchte ich allen Interessierten ebenfalls empfehlen. Nach diesem ersten Blick auf die Probleme von neuem Atheismus und Materialismus möchte ich zu einer zweiten Stufe der Auseinandersetzung mit ihnen übergehen und die anfangs angekündigten Grund­ gedanken im Rest meines Vortrags wenigstens skizzieren. 22

2. Religionsphilosophischer Grundgedankengang 2.1 Metaphysische Offenheit

Neuer Atheismus und Materialismus sind die Antithese zu tendenziell fundamentalistischen Positionen in allen Religionen – jetzt geht es um die Frage nach einer höheren Synthese, also nach philosophisch trag­ fähigen Orientierungen humaner Religion. Dass beide Seiten – zum einen Fundamentalismus und Dogmatismus, zum anderen Atheismus

19 A.a.O., S. 56 f. Vgl. H.-G. Wittig, Bildung zur „Heilighaltung des Lebens“ (s. Anm. 1), S. 731. 20 Pim van Lommel, Endloses Bewusstsein, Düsseldorf 2007 (42011). 21 A.a.O., S. 305 f. 22 Als wichtige Ergänzung verweise ich auf meinen Text „Humane Religion als Hoffnungsanker zwischen religiösen Verirrungen und wissenschaftsgläubigem Atheismus“, in: Freies Christentum. Auf der Suche nach neuen Wegen, Jg. 65 (2013), S. 148–159.

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und Materialismus – mehr behaupten, als sie wirklich begründen können, hat in einer bis heute maßgebenden Weise Immanuel Kant (1724– 1804) gezeigt.23 Grundlegend ist seine Unterscheidung zwischen der Weise, wie die Welt uns „erscheint“, und der eigentlichen Wirklichkeit, die die Möglichkeiten menschlicher Sprache überschreitet und die er mit dem Notwort „Ding an sich“ bezeichnet. Um Sie zu dieser Unterscheidung hinzuführen, greife ich auf eine scheinbar einfache Anekdote zurück. Vor Jahrzehnten hielt an unserer Hochschule ein Naturwissenschaftler einen Vortrag und sagte, das Gras dort draußen „sei“ ja gar nicht grün, sondern es „erscheine“ uns nur so, weil bestimmte Lichtwellen von unseren Augen aufgenommen und im Gehirn verarbeitet würden, so dass wir dann die Farbqualität „grün“ empfänden; in Wirklichkeit handle es sich also um Lichtwellen. Nach seinem Vortrag sagte ich ihm, dem ersten Teil seiner Aussage könne ich zustimmen, dem zweiten nicht: das Licht „sei“ nicht Welle, sondern es „erscheine“ uns so, wenn wir von bestimmten physikalischen Instrumenten Gebrauch machten; selbstverständlich biete die Physik Erkenntnisgewinn mit ­vielen technischen Anwendungsmöglichkeiten, aber prinzipiell bleibe alle menschliche Erkenntnis der Wirklichkeit an die Art gebunden, wie diese der Struktur unseres Erkenntnisvermögens „erscheine“; das „dahinter“ liegende „Ding an sich“, das wir bei kausalem Denken als Ursache der Erscheinungen annehmen müssten (die ja kein „Schein“ im Sinne von Illusion sind), bleibe uns unerreichbar. Durch Reflexionen dieser Art werden wir der „Inselhaftigkeit“ unserer Erkenntnis inne. 24 In der Vorrede zur 2. Auflage der „Kritik der ­reinen Vernunft“ formuliert Kant den berühmten Satz: „Ich musste also 23 Vgl. u. a. die Bezugnahmen von Karl Jaspers, z. B. in: Einführung in die Philosophie, Zürich 41963, S. 77 f.; ders., Der philosophische Glaube, München 1948; ders., Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962. Zur Kritik aktueller Kritik an Kant vgl. die hervorragende Studie von Michael Grossmann, Wertrationalität und notwendige Bildung. Immanuel Kants praktische Philosophie in ihrer Bedeutung für eine heutige pädagogische Ethik, Frankfurt a.M. u. a. 2003. 24 Vgl. H.-G. Wittig, Humane Religion als Hoffnungsanker zwischen religiösen Verirrungen und wissenschaftsgläubigem Atheismus (s. Anm. 22), S. 151 f. – Zu Konrad Lorenz’ evolutionärer Erkenntnistheorie unter dem Titel „Die Rückseite des Spiegels“ von 1973 vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Rückseite des Spiegels, gespiegelt, in: ders., Der Garten des Menschlichen, München 1977, S. 187–205; dazu wiederum Vittorio Hösle, Tragweite und Grenzen der evolutionären Erkenntnistheorie, in: ders., Die Philosophie und die Wissenschaften (s. Anm. 15), S. 74 ff., hier S. 102 u. 226.

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das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“25, und er bezieht diesen Satz nicht nur auf „Schwärmerei und Aberglauben“, sondern auch auf „Materialism, Fatalism, Atheism“26. Einerseits können wir, wenn wir konsequent denken, die Fragen nach einer über die „Erscheinungen für uns“ hinausgehenden „Wirklichkeit an sich“ nicht unterlassen, und wir können kaum bezweifeln, dass eine solche „transzendente“ oder „meta-physische“ Wirklichkeit „ist“, ja dass sie die „eigentliche“ Wirklichkeit ist – diese Reflexion wendet sich gegen einen arroganten Atheismus, der „zuvielwissend“ behauptet, dass Gott erwiesenermaßen nicht existiere. Andererseits können wir diese Fragen, die wir doch stellen müssen, theoretisch nicht beantworten, wir können nicht wissen, was es inhaltlich mit dieser transzendenten Wirklichkeit auf sich hat – diese Reflexion wendet sich gegen alle Arten von ebenfalls „zuvielwissendem“ Dogmatismus und Fundamentalismus und ist wohl der beste Schutz gegen jeglichen religiösen Fanatismus, denn hier handelt es sich nicht um einen moralischen Appell, sondern um eine strenge, von jedermann nachvollziehbare Einsicht. Als erste These halten wir fest: Bei konsequentem Nachdenken müssen wir annehmen, dass der Welt, wie sie uns erscheint, eine transzendente, nämlich die eigentliche Wirklichkeit zugrunde liegt: anders als unsere Welt, für uns letztlich unergründlich. Nochmals Kant: „Das transcendentale Object, welches den äußeren Erscheinungen, imgleichen das, was der inneren Anschauung zum Grunde liegt, ist weder Materie noch ein denkend Wesen an sich selbst, sondern ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen […].“27

2.2 Annahmen über Gott

Nun die zweite Frage: Wie verhält sich diese transzendente Wirklichkeit zu unserem Wort „Gott“? Ist es angemessen, sie mit diesem tradi25 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (21787), in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. III, Berlin 1904, S. 19/B XXX. 26 A.a.O., S. 21/B XXXIV. 27 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (11781), in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin 1903, S. 238/A 379 f. – Vgl. auch Peter Kern / Hans-Georg Wittig, Notwendige Bildung, Frankfurt a.M. 1985, S. 122–126.

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tionsreichen Wort zu benennen? Wohlgemerkt: Nicht mehr um die verfehlte Existenzfrage, ob es Gott „gibt“, geht es, sondern um eine Einschätzungs- und Benennungsfrage. Freilich kommt dieser Benennungsfrage höchste Bedeutung zu, mit gutem Grund heißt es im „Vater­unser“: „Dein Name werde geheiligt“ … Zur Vorbereitung einer Antwort auf diese Benennungsfrage möchte ich in aller Kürze an das erinnern, was der anzunehmende Urgrund ermöglicht hat: Zumindest an einer einzigen Stelle des Universums ist auf wundersame Weise Leben entstanden. Leben braucht, um sich zu erhalten, wenigstens ein Minimum an „Wissen“ über das, was ihm schadet und was ihm nützt – in der Evolution war das weitere Wunder möglich, dass sich in Lebewesen eine seelische „Innenseite“ herausbildete und schließlich ein zunehmend bewussteres Streben nach „Wahrheit“. Damit der von instinktiver Regulierung weitgehend freigestellte Mensch bei der Gestaltung seiner Lebenswelt nicht Schiffbruch erlitt, musste der zweckrationale „Verstand“ durch die dem Ganzen verantwortliche „Vernunft“ ergänzt werden. Diese Verantwortlichkeit aber muss nicht drückendes „Gesetz“ bleiben, sondern kann „erfüllt“ und überboten werden durch eine „Liebe“, die zugleich die Bedingung weltweit gelingenden Miteinanderlebens ist und die über die Grenze des eigenen Lebens hinaus Hoffnung erlaubt, die Hoffnung darauf, dass die allumfassende Wirklichkeit letzt­lich gut ist. So möchte ich auf die gestellte Frage mit der zweiten These antworten: Selbstverständlich darf niemand gezwungen werden, das Wort „Gott“ zu gebrauchen, ich selbst aber halte es für angemessen, den Ermöglichungsgrund des Universums, darin des Lebens, darin der Wahrheitssuche, darin der Verantwortlichkeit, darin der Liebe, darin der Hoffnung „Gott“ zu nennen – einen Gott, der, weil er die Ermöglichung der Personalität einschließt, im Gebet ansprechbar ist. Natürlich ist das kein Beweis, aber doch ein Hinweis, der unser Staunen, ja unsere Ehrfurcht fördern kann – und fördern soll. Natürlich hebt diese Argumentation aus dem unermesslichen und unergründ­ lichen Weltgeschehen nur einen einzigen Entwicklungsstrang heraus, eine Goldader gleichsam. Natürlich gibt es in der Welt zugleich unendlich viel Zerstörung, Grausamkeit, Leiden – in der christlichen Tradition ist einer der wenigen, die dieser dunklen Seite vorbehaltlos ins Auge schauen, Albert Schweitzer. Aber diese eine Goldader lässt

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zugleich auf die ungeahnten Entwicklungsmöglichkeiten hoffen, die in dieser Wirklichkeit offenbar enthalten sind und die von Christen wohl mitgemeint sind, wenn sie vom „Reich Gottes“ sprechen. Und die Liebe ist ja nicht irgendeine Möglichkeit des Menschen neben beliebigen anderen, sondern, wie gesagt, Bedingung weltweit gelingenden Mitein­ anderlebens. Dass die Evolution uns diese Chance beschert, dass wir also nicht zum pausenlosen Krieg aller gegen alle verurteilt sind, dafür können wir gar nicht dankbar genug sein. Natürlich kann so nur reden, wer Liebe erfahren hat, wem sie also zunächst geschenkhaft widerfahren ist und wer dann versucht hat, liebend dieses Geschenk anderen weiterzugeben. Insofern hängt das je eigene Gottesbild auch von der je eigenen Lebenserfahrung ab. Wer hier durch bittere Defizite in seiner eigenen Entwicklung behindert oder verletzt wurde, ist nur ehrlich, wenn er sich gegen das Bild von Gott als Ursprung der Liebe wehrt. Das ändert aber nichts daran, dass Liebe die evolutionär entstandene Bedingung menschenwürdiger Zukunft ist – ohne sie werden wir uns zugrunde richten. 28 2.3 Kriterien humaner Religion

Damit komme ich zum dritten und letzten Thema des hier angebotenen Grundgedankengangs: Wie kann humane, von diesem Gottesverständnis her sich öffnende „Religion“ so gelebt werden, dass sie nicht in Dogmatismus, ja Gewalt abzugleiten droht, die erneuten Atheismus provozieren würden? Nochmals erweist sich Kant als hilfreich, nämlich mit seinen drei philosophischen Leitfragen, die im gegenwärtigen Zu­ sammenhang allerdings umzuformulieren und zu differenzieren sind: (a) Was können wir wissen? (b) Wie sollen wir leben? (c) Wie können wir leben? (d) Was dürfen wir hoffen? (Kants mittlere Leitfrage wird hier, inspiriert durch Wilhelm Kamlah, 29 aufgeteilt nach der „moralischen“ Seite des Handeln-Sollens und der „eudämonistischen“ Seite 28 In seinem Ansatz zu einer modernen „natürlichen Theologie“ greift auch Volker Gerhardt auf Kant zurück: ders., Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014, z. B. S. 95–110. 29 Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim / Wien / Zürich 1972.

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des Leben-Könnens; zudem wird die Intersubjektivität betont durch den Übergang von „ich“ zu „wir“.) Die Antworten auf die genannten Fragen machen die dritte These aus: 2.3.1 Selbstkritik menschlichen Wissens und Toleranz Was können wir wissen? Hier können wir an den ersten Grundgedanken anschließen: Die grundlegende Einsicht in die Möglichkeiten, aber eben auch Grenzen unserer Erkenntnis verhindert nicht nur Atheismus und Materialismus, sondern auch die Gefahr von Fanatismus und Intoleranz und ermöglicht erst echte Dialoge mit anderen Religionen oder religionsfernen Positionen. Zwar werden und können die verschiedenen, kulturell geprägten Bilderwelten der Religionen in all ihrem Reichtum bestehen bleiben, aber für ein künftiges tolerantes Miteinander­ leben auf diesem Globus ist die Einsicht entscheidend, dass es sich eben nur um Bilder handelt und nicht um Wahrheiten mit Ausschließlichkeitsanspruch. Diese Bilder und Symbole sind keineswegs alle gleichermaßen gut und angemessen, vielmehr sind sie – auch im Blick auf ihre existenzielle Bewährung – zu prüfen, eben deshalb sind Dialoge so wichtig: innerhalb der Religionen und zwischen ihnen. Ist damit aber nicht die unbedingte Verbindlichkeit religiöser Orientierung, auf die so lange so großer Wert gelegt wurde, verloren gegangen? Keineswegs, doch diese Unbedingtheit hat – entgegen so vielen Missverständnissen mit all ihren schrecklichen Folgen bis heute – ihren Platz an ganz anderer Stelle, nämlich im Bereich der eben genannten existenziellen Bewährung: Nicht auf irgendwelche Rechtgläubigkeit kommt es unbedingt an, sondern auf gelebte Mitmenschlichkeit, ja Mitgeschöpflichkeit (im Rahmen des Christentums: auf die Nachfolge Jesu). Damit aber wird die nächste Frage notwendig. 2.3.2 Goldene Regel und Ehrfurcht vor dem Leben Wie sollen wir leben? Auch hier ist Kant grundlegend, nämlich mit seiner Ethik, die freilich auszuweiten ist zur Ehrfurcht vor allem Leben im Sinne Albert Schweitzers.30 Hans Küng hat herausgearbeitet, 30 Vgl. Hans-Georg Wittig, Mitgeschöpflichkeit – grundlegende Beiträge Albert Schweitzers zu Selbstverständnis und Bildung des Menschen, in: Beiträge Pädagogischer Arbeit (hg. v. der Gemeinschaft Evangelischer Erzieher in Baden), Jg. 33 (1990), H. II, S. (44–70) 58.

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wie ein gemeinsames „Weltethos“ alle Weltreligionen verbindet, ja nicht nur sie, sondern alle Menschen guten Willens – die Ethik der Goldenen Regel ist auf vielfältige Weise auch nicht-religiös begründbar.31 Das Ernstnehmen der Goldenen Regel verhindert die Gefahr existenzieller Unterforderung, die sich bei Missverständnissen insbesondere der reformatorischen Rechtfertigungslehre einzuschleichen droht.32 Und ­ nicht nur auf Individualethik kommt es an, sondern darüber hinaus auf eine ihr entsprechende Gestaltung der Politik, heute also auf eine nachhaltige, weltweit lebensdienliche Entwicklung (sustainable development), auf die globale Förderung von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.33 Am heutigen Tage finden in Berlin große Demonstrationen gegen das verharmlosend sogenannte „Freihandelsabkommen“ TTIP statt – dass die Kirchen gegen diesen Angriff auf ­Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Nachhaltigkeit bisher nicht energischen Widerstand geleistet haben, werden sie noch bereuen.34 2.3.3 Gelöstheit und Liebe Wie können wir leben? Im Christentum verbinden die „Seligpreisungen“ in Jesu Bergpredigt Anspruch und Zuspruch: Wer sich den unbedingten Ansprüchen anvertraut, wird erfahren, dass sich ihm dadurch ungeahnte Chancen gelingenden, „heilen“ Lebens eröffnen. Die recht verstandene Rechtfertigungslehre ermöglicht eine „Gelöstheit“, die uns vor Überforderung schützt.35 Der immer hektischere, durch den Kapitalismus angetriebene „Wettlauf der Menschheit mit sich selber“ (Konrad 31 Vgl. Hans-Georg Wittig, Verbindliche Menschenrechte – verbindliche Menschenpflichten, in: Interkulturell (hg. v. der Forschungsstelle Migration und Integration der Pädagogischen Hochschule Freiburg), Jg. 1999, H. 1/2, S. 36–54. 32 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Die teure Gnade, in: ders., Nachfolge, hg. v. Martin Kuske u. Ilse Tödt (DBW 4), München 1989, S. 29–43; auch in: Lust an der Erkenntnis. Die Theologie des 20. Jahrhunderts, hg. u. eingeleitet von Karl-Josef Kuschel, München / Zürich 1994, S. 239–246. 33 Vgl. Hans-Georg Wittig, Education for Sustainable Development, in: Interkulturell (s. Anm. 31), Jg. 2004, H. 1/2, S. 283–308. 34 Vgl. Hans-Georg Wittig, Ehrfurcht vor dem Leben als Handelshemmnis – Was haben Albert Schweitzer und die „Freihandelslüge“ miteinander zu tun?, in: Albert Schweitzer Aktuell. Informationsblatt der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum Frankfurt a.M., September 2015. 35 Vgl. W. Kamlah, Philosophische Anthropologie (s. Anm. 29), S. 145–182; dazu P. Kern / H.-G. Wittig, Notwendige Bildung (s. Anm. 27), S. 81–93.

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Lorenz) lässt nach Chancen meditativer Ruhe suchen, nach vielfältigen spirituellen und mystischen Erfahrungen. Aber gerade Schweitzer ­betonte, dass sich diese Mystik nicht vom Rest der Welt abkapseln darf, sondern sich als gelöste „Liebe“ allem erreichbaren Lebendigen zuwenden soll. Dass sie dabei an innere und äußere Grenzen stößt, kann nicht ausbleiben. Deshalb lässt sich die Antwort auf die beiden Wie-Fragen nach dem Sollen und Können unseres Lebens wohl am besten zusammenfassen in dem bekannten Gebet: Gib mir die Gelassenheit, hinzunehmen, was ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, zu ändern, was ich ändern kann; und gib mir die Weisheit, beides von­einander zu unterscheiden! 2.3.4 Dankbares Vertrauen und Hoffnung auf die Güte des Schöpfers Was dürfen wir hoffen? Eine an den bisherigen Orientierungen ausgerichtete Lebensführung schützt wohl am besten vor Verzweiflung, indem sie unser Vertrauen darauf fördert, dass die natürliche Wirklichkeit, in der wir leben, letztlich eine sinnvolle ist, und indem sie uns dankbar sein lässt für die guten Chancen, die diese Wirklichkeit uns bietet. Trotz aller Mängel, die diese Wirklichkeit ebenfalls kennzeichnen, erlaubt ein solches dankbares Vertrauen wohl die behutsame Hoffnung auf die Güte des Schöpfers und damit auf eine letzte Geborgenheit auch im Tod und über ihn hinaus36. 2.4. Ausblick: Haus der Religionen

Die vier nur stichwortartig erörterten Fragen bauen aufeinander auf, sie verhalten sich – bildlich gesprochen – zueinander wie die Stockwerke eines Hauses: zunächst fundamentales Untergeschoss, dann dem alltäglichen Handeln geöffnetes Erdgeschoss, danach den Alltag durch Rückzugsmöglichkeiten für kontemplative Ruhe ergänzendes Obergeschoss und schließlich Dachterrasse mit Öffnung in die Weite. So gesehen stellen diese Orientierungen eine Art religionsphilosophischen Rohbau

36 Vgl. Hans-Georg Wittig, Sterben lernen – Philosophie angesichts des Todes, in: Werner Zager (Hg.), Tod und ewiges Leben, Leipzig 2014, S. 33–44.

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dar, der alle vorfindlichen Religionen aufzunehmen, aber auch zu strukturieren und nötigenfalls zu korrigieren vermag. Am wichtigsten ist jedoch, dass dieses Haus bewohnt wird. Glaube drängt zur Gestaltung des Lebens – und wenn ich alles hier Gesagte an einem einzigen Menschen exemplarisch verdeutlichen sollte, so würde ich Albert Schweitzer nennen. Die hier zur Überwindung von Fundamentalismus und Atheismus skizzierte Auffassung humaner Religion kann als Rekonstruktion der für Schweitzer charakteristischen Verbindung von Philosophie und Theologie verstanden werden.37 Während sonst oft leider nur die Fundamentalisten engagiert sind, die meisten „liberalen“ Christen hingegen lau und kraftlos bleiben, verbindet Schweitzer Liberalität im Denken und Glauben mit Engagement im Leben und Handeln auf einzigartige Weise.

37 Vgl. Hans-Georg Wittig, Albert Schweitzer als Wegbereiter einer zukunftsfähigen Kirche, in: DtPfrBl 112 (2012), S. 332–336, u. in: Freies Christentum. Auf der Suche nach neuen Wegen, Jg. 65 (2013), S. 44–54. Zur Zweistufigkeit des Gottesverständnisses von Albert Schweitzer verdanke ich Andreas Rössler den nachträglichen Hinweis auf wichtige Notizen in den „Werken aus dem Nachlass“: „Verstehe ich unter Gott den Urgrund des Seins, so habe ich sein Dasein weder zu erweisen noch zu bezweifeln, sondern einfach festzustellen, daß er ist […]. Die Frage ist nicht, inwiefern Gott existiert oder nicht existiert, sondern inwiefern der Urgrund und Inbegriff des Seins für mich etwas ist, zu dem ich ein geistiges Verhältnis habe […]. In dem Augenblick, wo ich zu ihm in ein geistiges Verhältnis trete und mich ihm hingebe, wird aus dem Urgrund und Inbegriff des Seins für mich Gott, d. h. ich verhalte mich zu ihm als geistiges Wesen zu einem geistigen Wesen. […] Die Frömmigkeit beginnt, wo ich zu dem Urgrund des Seins in ein geistiges Verhältnis trete. […] (Über Gott soll man nicht streiten, und wo klares Denken ist, da ist kein Streit. […]) […] Die wahre Relation mit Gott ist die Dankbarkeit – Bewegtsein (des Menschen) von dem, was er empfangen hat. […] Die Welt ist der Leib Gottes. Und ich will mit seiner Seele in Verbindung treten, eins werden. […] Ist wirklich erkannt, daß Gott die Liebe ist, zehrt diese Vorstellung von Gott alle andern auf […] – leuchtet von innen durch. […] Ach, die wahre Frömmigkeit hat eine Scheu vor den Worten der Frömmigkeit …“ Und zusammenfassend: „Erst für den Menschen, der fromm wird, indem er (in) ein geistiges Verhältnis zu dem Urgrunde des Seins tritt, ist der Urgrund des Seins Gott.“ ­( Albert Schweitzer, Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III, Erster und zweiter Teil, hg. v. Claus Günzler u. Johann Zürcher, München 1999, S. 411–415; Hervorhebungen im Original)

Die materialistische Weltanschauung des neuen Atheismus Eine philosophische Auseinandersetzung (II) Michael Großmann

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tellen Sie sich bitte vor, Sie und alle anderen Menschen wären heute Morgen aufgewacht und hätten alles vergessen. Der gesamte in der Vergangenheit aufgehäufte Wissensbestand wäre verloren und wir müssten uns diesen mühsam neu erarbeiten. Welches Wissen würden wir wieder erwerben und welches nicht? Dieses Szenario präsentiert uns Sam Harris1 – der neben Richard Dawkins, Daniel Dennett und Christopher Hitchens prominenteste Verfechter des neuen Atheismus. Seine Antwort: Die für das Überleben notwendigen Grundfertigkeiten würden sicher wieder erlernt, nicht aber die Inhalte des religiösen Lebens. Seiner durchaus plausiblen Überzeugung nach würden die einzelnen Religionen nicht in der Form eine Erneuerung erleben wie z. B. wissenschaftliche Wahrheiten. Daran könnte wohl auch die Lektüre der noch vorhandenen heiligen Schriften nichts ändern. „Das Problem“ – so Sam Harris – „ist, dass fast alles, was uns gerade heilig ist, es allein deswegen ist, weil es gestern für heilig gehalten wurde.“2 In der Tat ist der Verweis auf die Tradition ein denkbar schlechtes ­philosophisches Argument. Insofern ist Harris recht zu geben. Aber ob dieser Einwand uns erlaubt, Religion als Ganze zu verwerfen, soll hier 1 Sam Harris, Das Ende des Glaubens. Religion, Terror und das Licht der Vernunft, Winterthur 2007, S. 20 f. 2 A.a.O., S. 21.

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offenbleiben. Ich werde gegen Ende meines Aufsatzes darauf zurückkommen. Zunächst jedoch sollen die neuen Atheisten mit ihren Argumenten zu Wort kommen. Dabei machen sie unmissverständlich klar, dass sie nicht gegen ein Gottesverständnis kämpfen, das viele Naturwissenschaftler leitet. Richard Dawkins betont: „Der metaphorische oder pantheistische Gott der Physiker ist Lichtjahre entfernt von dem eingreifenden, wundertätigen, Gedanken lesenden, Sünden bestrafenden, Gebete erhörenden Gott der Priester, Mullahs, Rabbiner und der Umgangssprache.“3

Bei dem Gott, den sie ablehnen, handelt es sich also eher um jenen, den Theisten laut Norbert Hoerster mit Hilfe der folgenden sechs Eigenschaften definieren: „1. als einzig; 2. als ewig existent; 3. als körperlose Person; 4. als uneingeschränkt vollkommen; 5. als Ur­sprung der Welt; 6. als Erhalter und Lenker der Welt.“4

1. Kann Religion als Projektion entlarvt werden? Wie begründen die neuen Atheisten die Ablehnung dieses Gottesverständnisses? Ein Argumentationsstrang läuft auf den – in anderthalb Jahrhunderten doch etwas angerosteten – Gleisen der Feuerbach’schen Projektionstheorie. So führt etwa Sam Harris mit Blick auf das Christentum aus, das Paradies sei „detailgetreu das Abbild einer KaribikKreuzfahrt“5. Die Jenseitshoffnung des Islam vergleicht er gar mit einem „Freiluftbordell“6. Dawkins und Dennett identifizieren gewisse selektive Vorteile, die die Religion biete, vermuten jedoch andererseits auch, dass religiöses Gedankengut sich einem Parasiten gleich in unseren Gehirnen einnisten könnte.7 Beide sehen im menschlichen Denken eine Tendenz zum Dualismus am Werk, die sich in einer sogenannten „inten3 Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 72007, S. 33. 4 Norbert Hoerster, Die Frage nach Gott, München 2005, S. 13. 5 S. Harris, Das Ende des Glaubens (s. Anm. 1), S. 33. 6 A.a.O., S. 129. 7 Vgl. Daniel C. Dennett, Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen, Frankfurt a.M. / Leipzig 2008, S. 17 ff.

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tionalen Einstellung“8 manifestiere. Das bedeutet: „Wir sind biologisch darauf programmiert, Gebilden, deren Verhalten für uns wichtig ist, eine Absicht zu unterstellen.“9 Nehmen wir den Säbelzahntiger als ­Beispiel: Jener Urmensch, der diesem Tier gegenüber­stand und dessen Gebiss fasziniert wie ein Kunstwerk betrachtete, dürfte deutlich geringere Überlebenschancen gehabt haben als sein Zeitgenosse, der ihm die Absicht unterstellte, dieses Gebiss auch einsetzen zu wollen. Derartige Dispositionen wurden laut Dawkins und Dennett einfach generalisiert und auf das gesamte Universum übertragen. Religion erscheint somit als Neben- bzw. Abfallprodukt dieser Haltung.10 Was ist zu diesen Thesen anzumerken? Zunächst sei kurz erwähnt, dass die Theorie des intentionalen Standpunktes nicht über die Reichweite verfügt, die für eine umfassende Erklärung notwendig wäre, denn nicht jede Religion entspringt aus der Vorstellung, es müsse ein göttliches Wesen mit Absichten geben.11 Viel schwerer aber wiegt der Einwand, dass Theorien zum Entstehen religiöser Einstellungen aus naturoder sozialwissenschaftlicher Perspektive durchaus erhellend sein mögen, zu einer philosophischen Bewertung jedoch nicht das Geringste beitragen. Sollte dieser Anspruch trotzdem erhoben werden, läge ein sogenannter genetischer Fehlschluss vor, das heißt: die unzulässige Ansicht, aus dem Entstehen einer Theorie auf deren Geltung oder Nichtgeltung schließen zu dürfen. Um dies zu verdeutlichen, sei als beliebiges Beispiel die Relativitätstheorie gewählt. Sie hat meines Wissens ihren Ursprung in Einsteins Geistesblitz, der in der Frage besteht, wie es wäre, auf einem Lichtstrahl zu reiten.12 Es dürfte kaum zu bezweifeln sein, dass ein geübter Psychoanalytiker in der Lage wäre, in dieser Frage den Ausdruck eines infantilen Narzissmus zu entdecken. Doch was sagt das über den Wahrheits­ 8 A.a.O., S. 145. 9 R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 3), S. 256. 10 A.a.O., S. 239 ff. 11 Die Urform des Buddhismus z. B. ist als nicht-theistische Religion zu bezeichnen. Vgl. Katharina Peetz, Der Dawkins-Diskurs in Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften, Göttingen 2013, S. 196. 12 Albert Einstein selbst äußerte dazu: „Wenn man einer Lichtwelle mit Lichtgeschwindigkeit nachläuft, so würde man ein zeitunabhängiges Wellenfeld vor sich haben. So etwas scheint es aber doch nicht zu geben. Dies war das erste kindliche Gedankenexperiment, das mit der speziellen Relativitätstheorie zu tun hatte.“ (zit. nach: Ulrich Kilian / Rainer Aschemeier, Das große Buch vom Licht, Darmstadt 2012, S. 54)

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gehalt der Relativitätstheorie aus? Nicht das Geringste. Selbstverständlich ist damit nicht gesagt, die Relativitätstheorie und monotheistische Religionen stünden argumentationslogisch auf derselben Stufe. Und natürlich müssen wir David Humes Mahnung ernst nehmen, dass Theorien, die auf Wünschen beruhen, verdächtig sind13 – insbesondere, wenn es sich um allzu durchsichtige Fantasien handelt. Doch der Wunsch kann zwar Vater des Gedankens, aber nicht seiner Wahrheit oder Falschheit sein. Im Übrigen stellt es keine neue Einsicht dar, dass sich der Spieß auch umdrehen ließe, wenn die Existenz psychischer Bedürfnisse geltungstheoretisch relevant wäre. In diesem Falle könnte der Theist dem Atheisten einfach Franz Werfels wundervollen Satz entgegenhalten: „Der Durst beweist die sichere Existenz von Wasser.“14

2. Ruft Religion Gewalt hervor? Keiner weiteren Erwähnung bedürftig ist auch die Tatsache, dass die neuen Atheisten in ihrer Darstellung der Religionen keine Musterbeispiele für Fairness abgeben. Dass sie zur Schwarz-Weiß-Zeichnung neigen, machen bereits die Titel ihrer Bücher mehr als deutlich. In der Tat kontrastieren sie das Bild einer von Dummheit, Intoleranz und Gewalt getränkten Religion15 mit dem Porträt einer allein der reinen Wahrheits13 Vgl. David Hume, Über die Unsterblichkeit der Seele, in: ders., Die Naturgeschichte der Religion. Über Aberglaube und Schwärmerei. Über die Unsterblichkeit der Seele. Über Selbstmord, Hamburg 22000, S. (79–87) 86. 14 Franz Werfel, Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd, Frankfurt a.M. 1992, S. 324. 15 Als eines von unzähligen Beispielen dafür, dass diese Dummheit weit verbreitet ist und sich auch in den höchsten Ebenen der kirchlichen Hierarchie eingenistet hat, sei das Folgende erwähnt: Im Jahr 2009 wurde in Brasilien ein neunjähriges Mädchen mit Zwillingen schwanger, nachdem es von seinem Stiefvater vergewaltigt worden war. Die Ärzte, die das Mädchen behandelten, nahmen einen Schwangerschaftsabbruch vor. Aufgrund der allgemeinen körperlichen Konstitution des Kindes hatten sie um dessen Leben gefürchtet für den Fall, dass die Schwangerschaft angedauert hätte. Als diese Vorgänge öffentlich wurden, erklärte der Erzbischof von Recife sowohl die Mutter des Mädchens als auch die Ärzte für exkommuniziert. Seine Begründung: Die Sünde der Abtreibung wiege schwerer als die der Vergewaltigung. (Quelle: URL: [17.11.2015]) Auch wenn laut römisch-katholischem Kirchenrecht die Exkommunikation nach einer Abtreibung ipso facto eintritt: Wie kann ein derartiger theologischer Dogmatismus jegliche Form des Mitfühlens und selbstständigen Nachdenkens außer Kraft­

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suche verpflichteten, ausschließlich auf der Kraft des besseren Argumentes aufbauenden (Natur-)Wissenschaft. Doch wenn es legitim sein sollte, zwei Alternativen gegeneinander antreten zu lassen, indem man die triste Wirklichkeit der einen gegen die heroische Möglichkeit der ­anderen ausspielt: Könnten wir dann nicht auch einmal die Rollen tauschen? Könnte dann nicht auch ein Theist einen „neuen A-Szientismus“ propagieren? Der Tenor dieses Programms wäre dann in etwa der folgende: „Wie viel Leid hat die Naturwissenschaft schon über die Welt ­gebracht und wie viel Gutes demgegenüber die christliche Nächstenliebe?“ Sicher, ein derartiger Gegenangriff wäre möglich, erwiese sich jedoch als gefährlich, denn er könnte zur Folge haben, dass ein unparteiischer Beobachter beiden Angreifern recht gibt. Dennoch ist kaum von der Hand zu weisen, dass das Thema Religion nicht behandelt werden kann, ohne auf das Phänomen der Gewalt einzugehen. Die neuen Atheisten diskutieren diesen Zusammenhang in unterschiedlichem Maße16, doch sie zählen in ihren Abhandlungen all die Missetaten auf, die uns so sehr ins Gedächtnis eingebrannt sind, dass sie hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden müssen. Und sie betonen, dass es nicht nur die Auswirkungen dieser Taten sind, sondern der Geist, der hinter diesen Taten steht – ein Geist, für den die Umkehrung des bekannten Wortes Dostojewskis zu gelten scheint: „Falls es einen Gott gibt, ist alles erlaubt.“ Wie lassen sich derart wuchtige Angriffe parieren? Ein Theist mag versucht sein, auf all das Böse zu verweisen, das im Namen konkurrierender Weltanschauungen verübt wurde. Hierbei dürften jedem denkenden Menschen sofort die großen totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts mit ihrer jeweiligen Verwirklichung in grausamen Diktaturen einfallen. Doch müssen wir gleich auf diese Extremfälle verweisen? Birgt nicht auch unsere alltägliche hedonistisch-konsumistische Lebensweise

setzen? Es ist zu befürchten, dass es nie und nimmer gelingen dürfte, einem so verbissenen und verblendeten Menschen von einer anderen, dem gesunden Menschenverstand folgenden Sichtweise zu überzeugen. Robert Spaemann schreibt (ders., Moralische Grundbegriffe, München 41991, S. 19) Aristoteles – allerdings nicht ganz wortgetreu (vgl. Topik, 1. Buch, Kap. 11, 105a3) – die Aussage zu, ein Mensch, der die Ansicht vertrete, man dürfe die eigene Mutter töten, habe nicht Argumente, sondern Schläge verdient. Um wie viel mehr muss dies für einen Menschen gelten, der es für vertretbar hält, eine kindliche werdende Mutter zu töten. 16 Am eindrucksvollsten Christopher Hitchens und Sam Harris.

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das Böse in sich? Ob wir z. B. ein Smartphone erwerben, das aus Metallen besteht, die unter schlimmsten Bedingungen abgebaut werden, oder ob wir durch Fleischgenuss und Urlaubsflüge die Atmosphäre vergiften: Wir alle gehen über Leichen.17 Doch es wäre unredlich, von den eigenen Verfehlungen abzulenken, indem man auf die Sünden der anderen zeigt. Zudem ist hinlänglich bekannt, dass all diese Ideologien selbst quasireligiöse Züge tragen. Damit ist auch schon die fundamentale Schwierigkeit zu erahnen: Das in Religionen verborgene Maß an Gewalt zu extrahieren, dürfte allein deshalb ein vergebliches Bemühen darstellen, weil Religion und Quasireligion unentwirrbar mit der gesamten Geschichte der Menschheit verflochten sind. Ja, man kann noch weiter gehen: weil Gewalt der menschlichen Zivilisation inhärent ist. Ebenso meisterhaft wie wortlos drückt Stanley Kubricks Film A Space Odyssey diesen Zusammenhang aus: Nachdem eine Horde Vormenschen gelernt hat, einen Knochen als Werkzeug zu gebrauchen, besteht ihre erste Handlung darin, damit einen Artgenossen zu erschlagen. Durch den wohl berühmtesten Match Cut der Filmgeschichte wird die Bewegung des in die Luft geworfenen Knochens von einem durchs All schwebenden Satelliten weitergeführt. Für all den zivilisatorischen Fortschritt scheint zu gelten: Im Anfang war die Schandtat! In dieser Geburt der menschlichen Tragikomödie aus dem Geist der Gewalt liegt wohl begründet, dass Religion neben politischen, ökonomischen und biologischen Phänomenen nur einen Faden im 17 Das Instrument, das uns am besten dabei hilft, diesen Zusammenhang ins Abstrakte zu verlegen und damit zu verdrängen, ist das Geld. An dieser Stelle sei verwiesen auf Christina von Braun, Der Preis des Geldes, Berlin 32012. Von Braun schreibt in diesem Buch eine Kulturgeschichte des Geldes, die schon allein deswegen höchst lesenswert ist, weil die vielfältigen – ebenso erschreckenden wie faszinierenden – Bezüge zwischen christlicher Religion und Geldwirtschaft dargestellt werden. In Abgrenzung zu der gängigen Auffassung, nach dem Ende der Golddeckung beruhe die Stabilität der Währungen nur noch auf dem Glauben der ökonomischen Akteure an den Wert des Geldes (sog. fiat money), formuliert sie folgende Grundthese: „Ich behaupte, dass das Geld eine Deckung hat, ihrer auch bedarf und dass das, was man […] als die ‚letzte Deckung‘ bezeichnen könnte, der menschliche Körper ist. Was ich damit sagen möchte, ist sehr einfach: Unser Glaube ans Geld beruht auf der Tatsache, dass viele Menschen dran glauben müssen, wenn das Geld in eine Krise gerät.“ (a.a.O., S. 16) Wer sich diesen Gedanken in konzentriert-dramatischer Form vor Augen führen will, dem sei Friedrich Dürrenmatts mehr denn je aktuelle Tragi­ komödie Der Besuch der alten Dame empfohlen. Vor diesem Hintergrund wäre ernsthaft zu überlegen, ob wir die Bitte des Vaterunsers umformulieren sollten in „Vergib uns unsere Schulden!“

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­ eflecht von Mord und Totschlag darstellt. Von den Kreuzzügen bis G zum Islamischen Staat: Nie ist es Religion allein, die Gewalt hervorruft.18 Entschuldigt ist dadurch nichts. Ob es nun ein notwendiger oder ­zufälliger Zusammenhang sein mag: Menschen, die glauben, über eine unfehlbare Einsicht in die göttliche Wahrheit zu verfügen, scheinen in höherem Maße anfällig für Gewalt zu sein. Als vorläufiges Fazit bleibt an dieser Stelle nur, Odo Marquards bekannte Paraphrase des noch bekannteren Marx-Diktums auf den Gottesglauben zu übertragen: „Die Religionen haben die Welt nur verschieden verändert, es kommt aber darauf an, sie zu verschonen.“19

3. Wie weit reicht ein evolutionstheoretisch begründeter Naturalismus? Angesichts dieser zumindest potenziell engen Verbindung von Gottesglauben und Gewalt erscheint es merkwürdig, dass Dawkins und Dennett für ihre Religionskritik auf die Evolutionstheorie zurückgreifen. Denn diese zeichnet ein Bild der Welt, das an Grausamkeit nicht zu übertreffen ist. Ob Mammutbäume, die ihre Samen erst dann verbreiten, wenn zuvor ein Waldbrand die Umgebung verwüstet hat, oder Eisbärmännchen, die den Nachwuchs der eigenen Art wie eine Delikatesse verspeisen: Es ist ein brutaler Kampf ums Überleben, den Richard Dawkins mit der Metapher20 des „egoistischen Gens“ umschreibt. ­Seiner Ansicht nach lässt sich die Naturgeschichte am besten durch die Grundannahme erklären, dass genetische Information bestrebt ist, ihren eigenen Fortbestand zu sichern. Den Genen der Natur entsprechen in 18 Die vielfältigen, verwickelten Bezüge zwischen staatlicher Herrschaft (oder Ohnmacht), Gewalt (sowie ihrer Einhegung) und Religion werden ausführlich in geschichtlicher Perspektive dargestellt von Karen Armstrong, Im Namen Gottes. Religion und Gewalt, München 2014. Bücher wie dieses bewahren uns davor, unbesonnen Zuflucht bei plakativen Behauptungen zu suchen. 19 Siehe Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 4 1997, S. 13: „Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen.“ 20 Dawkins ist sich selbstverständlich darüber im Klaren, dass die Rede vom „Egoismus“ Wille und Bewusstsein voraussetzt und daher in Bezug auf Gene nur metaphorisch zu verstehen ist. Vgl. dazu K. Peetz, Der Dawkins-Diskurs in Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften (s. Anm. 11), S. 59.

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der Kultur die sogenannten Meme, d. h. sämtliche Formen von Gedankengut vom Kuchenrezept bis zur Quantentheorie. Meme sind also auch nichts anderes als evolutionäre Anpassungen: Sie liefern laut Dawkins lediglich ein mehr oder weniger nützliches Modell der Wirklichkeit.21 Damit ist für Dawkins die Entstehung aller Formen des natürlichen und kulturellen Lebens hinreichend erklärt. Aufgrund dieser Voraussetzungen hält er es für ausgeschlossen, dass das Universum das Ergebnis einer göttlichen Schöpfung sein könnte – schon allein deshalb, weil dann unweigerlich die Frage auftauchte, wer denn den Gestalter gestaltet habe. Sein Grundsatz lautet: „Jede kreative Intelligenz, die ausreichend komplex ist, um irgendetwas zu gestalten, entsteht ausschließlich als Endprodukt eines langen Prozesses der allmählichen Evolution.“22 Ein am Anfang stehender Gestalter stellt somit den Gipfel des Unwahrscheinlichen dar.23 Die Evolutionstheorie hat also die Hauptlast – vor allem der Dawkins’schen – Religionskritik zu stemmen und sie bricht unter diesem Gewicht zusammen. Denn erstens ist anzumerken, dass die Evolutionstheorie wie jede Wissenschaft keine Werte kennt, die den untersuchten Objekten als solchen zukommen würden.24 In der Evolution gibt es ein „Besser“ oder „Schlechter“ nur in Bezug auf die mehr oder weniger erfolgreiche Weitergabe des genetischen oder memetischen Codes. Streng genommen müsste also einem Evolutionstheoretiker der Erfolg der Religion genauso wertneutral erscheinen wie der jedes beliebigen anderen Denksystems bzw. Memplexes. Warum also die ganze Aufregung? Zweitens könnte ein evolutionstheoretischer Naturalismus auf sich selbst zurückgespiegelt werden: Zum einen auf die Weise, die HansGeorg Wittig bereits geschildert hat, 25 zum anderen durch folgende Überlegung: Wenn es neben egoistischen Genen ausschließlich egoistische Meme gibt, dann widerlegt er sich selbst. Denn wir müssten Dawkins und Dennett fragen, welches egoistische Kalkül wohl hinter ihren eigenen Ausführungen steckt. Eine derart hinterhältige Strategie 21 Vgl. R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 3), S. 517 f. 22 A.a.O., S. 46. 23 Vgl. a.a.O., S. 137. 24 Vgl. Hans-Dieter Mutschler, Halbierte Wirklichkeit. Warum der Materialismus die Welt nicht erklärt, Darmstadt 2014, S. 23. 25 Siehe seinen Beitrag in diesem Band.

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soll beiden jedoch nicht unterstellt werden.26 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie sich wie ihre Mitstreiter in der Tradition von Humanismus und Aufklärung sehen. 27 Von dieser Bastion aus bekämpfen sie Irrationalismus und Fundamentalismus – und kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, dass dieser Kampf gerechtfertigt ist. Aber was kann ihnen ihr Rüstzeug liefern? Die Naturwissenschaften sicher nicht. Hier seien drei Aussagen aufgeführt, die von den neuen Atheisten ohne Zweifel als grundlegend angesehen werden dürften: 1. „Es gibt eine Außenwelt.“28 2. „Es gibt konstante Naturgesetze.“29 3. „Im Diskurs sind wir verpflichtet, die Regeln der Argumentation zu befolgen.“30 Keine einzige dieser Aussagen ist ein naturwissenschaftlicher oder auf Naturwissenschaft beruhender Satz. Vielmehr handelt es sich hier – um eine verbreitete, auf Immanuel Kant zurückgehende Klassifizierung31 aufzugreifen – um synthetische Aussagen a priori, das heißt: um nichtanalytische und zugleich nicht-empirische Sätze, die notwendig gelten. Erfahrungswissenschaften setzen derartige Aussagen voraus, können sie aber selbst nicht begründen. Die neuen Atheisten wollen Gründe anführen, die Naturwissenschaften aber bringen nur Ursachen herbei. Genau hier – in der mangelhaften Unterscheidung zwischen Ursachen und 26 Genauer müsste man dann allerdings sagen: „Diese hinterhältige Strategie soll ihren Genen und Memen nicht unterstellt werden.“ Denn streng genommen sind Dawkins und Dennett laut ihrer Theorie nur nützliche Werkzeuge ihrer Gene und der von ihnen weitergetragenen Meme. 27 Manche der neuen Atheisten – z. B. Daniel Dennett – gehören zur Bewegung der sogenannten „Brights“. Die in diesem Wort enthaltene Lichtmetaphorik stellt eine bewusste Bezugnahme auf die Aufklärung dar. 28 Siehe Vittorio Hösle, Die Philosophie und die Wissenschaften, München 1999, S. 96, Anm. 69. 29 Diese Aussage ist nicht zu verwechseln mit der Formulierung eines bestimmten Gesetzes. Naturwissenschaftler setzen im Rahmen ihrer Forschungsarbeit immer schon voraus, dass es konstante Naturgesetze gibt, die die Natur beschreiben. Dass durch Induktion keine Naturgesetze zu gewinnen sind, wusste bereits Hume. Wie V. Hösle (a.a.O., S. 95 ff.) zeigt, reicht auch der Popper’sche Falsifikationismus nicht aus, die Konstanzerwartung zu begründen. 30 Auf dem Gedanken, dass diese Aussage nicht ohne einen performativen Selbstwiderspruch geleugnet werden kann, beruht die von Karl-Otto Apel begründete Transzendentalpragmatik. 31 S. dazu Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (21787), in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. III, Berlin 1904, S. 33 ff./B 10 ff.

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Gründen – scheint ihre Achillesferse zu liegen. Dawkins’ Argumentationskette bricht, weil er auf eine Vernunft zurückgreift, die sich nicht aus der Evolution herleiten lässt.32 Diese These sei am Beispiel des menschlichen Bewusstseins erläutert. Mancher Vertreter der Neurophilosophie – hier kann beispielhaft ­Thomas Metzinger angeführt werden – nimmt zwar an den Duellen der neuen Atheisten nicht selbst teil, kann aber als ihr Sekundant verstanden werden. Für Metzinger stellt das menschliche Bewusstsein lediglich eine Art Kulisse dar, die vom Gehirn zwecks Fitnesssteigerung errichtet wird.33 Die Erforschung des Bewusstseins scheint sich somit auf die physiologischen Vorgänge beschränken zu können. Aber gibt es nicht einen Unterschied zwischen den physikalisch-chemischen Prozessen, die z. B. beim Empfinden der Farbe Rot ablaufen, und dem, wie sich dieses Rot in uns anfühlt? Welche Rolle spielen diese subjektiven, qualitativen Eigenschaften von Erlebnissen, die sogenannten „Qualia“? Vielleicht lässt sich die Problemstellung am besten mit Hilfe eines ­jüdischen Witzes vor Augen führen34: 32 Rudolf Langthaler urteilt völlig zu Recht: „Es ist nicht zu übersehen, dass D[awkins] jene kritische methodische Selbstreflexion verweigert, die selbstbesonnene Naturwissenschaftler stets ausgezeichnet hat.“ (ders., Warum Dawkins ‚Gotteswahn‘ die Gottes­ thematik in grundsätzlicher Hinsicht verfehlt, in: ders. / Kurt Appel [Hg.], Dawkins’ Gotteswahn. 15 kritische Antworten auf seine atheistische Mission, Wien / Köln / Weimar 2009, S. [57–159] 81) 33 Er legt Wert darauf, „dass unser eigenes Gehirn zwar den Ego-Tunnel erzeugt, es aber trotzdem niemanden gibt, der im wörtlichen Sinne in diesem Tunnel lebt. […] Letztlich ist subjektives Erleben ein biologisches Datenformat, eine innere Form des Gegebenseins, eine hochspezifische Weise der Präsentation von Information über die Welt, bei der diese so erscheint, als wäre sie das Wissen eines Ego. In Wirklichkeit aber existiert so etwas wie ‚das‘ Selbst nicht.“ (Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel, Berlin 52012, S. 23) Es ist interessant, dass Metzinger munter über „Welt“ und „Wirklichkeit“ spricht, die wir doch seiner Auffassung nach überhaupt nicht als solche erkennen können. Auch er hat vermutlich nur ein normales menschliches Gehirn zur Verfügung. Woher weiß er dann, dass unser Wissen kein zutreffendes Bild der Welt enthält? Um diese Einsicht zu haben, müsste er Welt und Erkenntnis von außen miteinander vergleichen. Dazu dürfte – wenn überhaupt – nur ein göttliches Wesen in der Lage sein. 34 In Parenthese sei erwähnt, dass ein Phänomen wie der jüdische Witz – als Beispiel für die Tatsache, dass Menschen ihre eigene Religion auch mit Humor betrachten können, statt sich nur von ernstem Glaubenseifer leiten zu lassen – von keinem der neuen Atheisten auch nur eines Blickes gewürdigt wird. Wie viel wäre hier zu lernen: über die Spannung ­zwischen göttlichem Gebot und menschlicher Schwäche, zwischen Gelingen und Scheitern, zwischen Schönem und Schrecklichem. Carlo Schmid brachte es auf den Punkt: „Wenn ich meine Meinung über den jüdischen Witz in eine Formel zu kleiden hätte, die

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„Zwei Männer sitzen im Restaurant. Einer von ihnen ist blind.‚Willst du ein Glas Milch?‘, fragt der Sehende. ‚Beschreib mir doch einmal die Milch!‘, bittet der Blinde. ‚Milch – das ist eine weiße Flüssigkeit.‘ ‚Schön. Und was ist weiß?‘ ‚Nu – weiß ist zum Beispiel ein Schwan.‘ ‚Aha. Und was ist ein Schwan?‘ ‚Ein Schwan? Das ist ein Vogel mit einem langen krummen Hals.‘ ‚Gut. Aber was ist krumm?‘ ‚Krumm? Ich werde meinen Arm biegen, und du wirst ihn abgreifen. Dann wirst du wissen, was krumm heißt.‘ Der Blinde tastet sorgfältig den aufwärts gebogenen Arm des andern ab und sagt dann verklärt: ‚So, endlich weiß ich, wie Milch ist.‘“

Beim Versuch, den Kern dieses Witzes freizulegen, kann uns ein Gedankenexperiment weiterhelfen, das auf den australischen Philosophen Frank Cameron Jackson zurückgeht. Die einzige Protagonistin ist eine bedauernswerte junge Frau namens Mary. Sie ist eine Wissenschaftlerin, die ihr gesamtes Leben in einem schwarz-weißen Raum verbringt. Auch die Außenwelt kann sie nur über Fernsehmonitore verfolgen, die schwarz-weiße Bilder liefern. Beruflich beschäftigt sie sich mit der Neurophysiologie des Farbensehens. Das heißt: Sie kann genau erklären, wie physikalische Vorgänge im menschlichen Körper dazu führen, dass eine Person z. B. die Farbe Blau sieht und dies auch äußert – ohne jemals selbst eine Farbe gesehen zu haben. Die entscheidende Frage lautet nun: Was passiert, wenn Mary ihr Gefängnis verlässt? Lernt sie etwas Neues? Erwirbt sie also ein Wissen, das sie davor nicht besaß? Wie nicht anders zu erwarten, scheiden sich an dieser Frage die philosophischen Geister. Radikale Reduktionisten wie Daniel Dennett vertreten die Auffassung, dass Mary eben nichts Neues erfahre, das Konzept der Qualia somit zu verabschieden sei. Auch Metzinger sieht die Rede über Qualia als verzichtbar an. Er untermauert seine Position u. a. mit folgender Überlegung: Werden einer Versuchsperson zwei Tafeln gezeigt, die zwei kaum voneinander zu unterscheidende Töne einer Farbe zeigen, behauptet diese Person im Regelfall, zwei unterschiedliche einigermaßen in die Nähe des Wesentlichen treffen könnte, würde ich sagen, daß er immer wieder aufzeigt, daß gerade in einer am eindringlichsten mit dem Handwerkszeug der Logik begriffenen Welt die Gleichungen, die ohne Rest aufgehen, nicht stimmen können. Der jüdische Witz ist heiter hingenommene Trauer über die Antinomien und Aporien des Daseins.“ (Carlo Schmid, Geleitwort, in: Salcia Landmann, Jüdische Witze, München 291994, S. [7–9] 9)

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Farberlebnisqualitäten zu verspüren. Wird sie jedoch einige Tage später mit nur einer der Tafeln konfrontiert, kann sie nicht mehr sagen, um welchen der beiden Farbtöne es sich handelt. Die Rede über Qualia – so folgert Metzinger – sei somit unzuverlässig und durch die Messung physiologischer Vorgänge zu ersetzen.35 Um die Sache an dieser Stelle abzukürzen, sei zugestanden, dass auf dem Feld der Wahrnehmungen große Unsicherheiten bestehen. Aber damit haben wir den Raum des menschlichen Bewusstseins noch lange nicht durchmessen, ja, wir haben so noch nicht einmal dessen Eingangspforte erreicht. Worum es im Kern geht, soll mit einem weiteren bekannten Gedankenexperiment verdeutlicht werden: Stellen Sie sich bitte vor, dass Sie sich in größter Eile befinden und durch die Straßen Ihres Wohnortes hetzen. Dabei geraten Sie ins Stolpern und stürzen so unglücklich, dass Sie sich schwer verletzen. An ihrem Arm klafft eine lange und tiefe Schnittwunde. Sie wagen kaum hinzusehen; noch nie hat etwas so tief in Ihre Haut geschnitten. Aber Sie zeigen sich tapfer und betrachten die Wunde. Und was sehen Sie? Dort, wo Sie eigentlich Muskeln, Sehnen und Knochen vermuten, erkennen Sie Silikonpolster, Metalldrähte und Titanröhren. Nachdem Sie notdürftig versorgt wurden, begeben Sie sich in ein Krankenhaus und lassen sich röntgen. Ein furchtbarer Verdacht bestätigt sich: Sie sind ein Roboter! Sobald Sie den ersten Schock überwunden haben, forschen Sie nach und es stellt sich heraus, dass Ihren Eltern die Erfüllung ihres Kinderwunsches lange versagt geblieben war. Daher nahmen sie kurz vor Ihrer „Geburt“ an einem streng geheimen Projekt mehrerer Geheimdienste und Forschungsinstitute teil … Den Rest der Geschichte erspare ich Ihnen, um Ihnen stattdessen eine Frage zu stellen: Was würde sich für Sie angesichts dieser Erkenntnis in Ihrem Selbstverständnis ändern? Auf den ersten Blick natürlich vieles – vor allem wohl, was das Verhältnis zu Ihren Eltern angeht. Aber dann denken Sie vielleicht an Momente Ihres Lebens, in denen entscheidende Weichen gestellt wurden: – … als Sie sich in einer moralischen Zwangslage befanden und sich mutig oder auch nicht mutig zeigten, 35 T. Metzinger, Der Ego-Tunnel (s. Anm. 33), S. 81 ff.

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– … als Sie vor einem Kunstwerk standen, welches Sie ganz und gar in seinen Bann gezogen hat, – … als Sie zum ersten Mal bemerkten, dass Sie einen Menschen lieben. Hätten Sie in diesen Situationen nicht etwas Wahres, Schönes, Gutes erlebt – unabhängig davon, ob Sie ein natürliches oder technisch erzeugtes Wesen sind? Sie könnten als Robotermensch zwar nicht wie Shylock, der Kaufmann von Venedig, ausrufen: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“36 Aber vielleicht: „Wenn ihr mich liebt, freue ich mich dann nicht?“ oder „Wenn ihr mit mir diskutiert, argumentiere ich dann nicht?“ Wären diese rhetorischen Fragen nicht ein Beleg dafür, dass es für Sie ein „richtiges Leben im falschen“ gäbe? Worauf dieses Szenario zielt, ist Folgendes: Unser Bewusstsein beruht zwar auf einer materiellen Basis, doch prinzipiell ist es völlig gleichgültig, woraus diese Basis besteht und ob sie uns vollständig determiniert.37 Der erfahrungswissenschaftlich geprägte Raum- und Zeitbegriff bringt uns hier nicht weiter. Denn wir bewegen uns – um mit Thomas Nagel zu sprechen – „im Raum der Gründe“38, in einem Innenraum, den man vielleicht als „Argumentationsraum“ oder „logischen Raum“39 bezeich36 Der Kaufmann von Venedig, III/1, in: William Shakespeare, Sämtliche Werke, Bd. 1, Berlin / Weimar 1989, S. 419. 37 Das Bewusstsein ist – obwohl es ganz und gar verschieden von ihm ist – fest mit dem Körper verbunden. Warum sollten die Bewusstseinsvorgänge also nicht lückenlos kausal determiniert sein? Wer eine nicht-naturalistische Position vertritt, braucht sich vor diesem Gedanken nicht zu fürchten: Gründe und Ursachen bleiben verschieden; es wird nur Wert auf die Feststellung gelegt, dass die Einsicht in Gründe bzw. das Verstehen von Gründen verursacht ist (vgl. V. Hösle, Die Philosophie und die Wissenschaften [s. Anm. 28], S. 35). In aller Deutlichkeit ist zu betonen, dass die Konfliktlinien „Materialismus vs. Idealismus“ und „Determinismus vs. Indeterminismus“ nicht parallel zueinander verlaufen, dass man also kein Materialist sein muss, wenn man den Determinismus vertritt – zu einer theistischen Philosophie passt der Determinismus ohnehin besser als der Indeterminismus. Die weit verzweigte Diskussion über Kausalität und Willensfreiheit kann an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise reflektiert werden. Betont sei hier aber, dass es kein fruchtbarer Gedanke ist, Freiheit als das Vermögen zu betrachten, jederzeit völlig unvorhersehbar handeln zu können. Vielmehr ist mit Vittorio Hösle (ebd.) festzuhalten: „Die freie Person ist nach einem tiefen Verständnis von Freiheit nicht die Person, für deren Handlungen keine Rechenschaft abgegeben werden kann; die freie Person ist die Person, die den besten Gründen folgt.“ 38 Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013, S. 124. 39 Analog könnte auch von einer „logischen Zeit“ oder „Argumentationszeit“ gesprochen werden. Denn im reflektierenden Abwägen von Gel­t ungsansprüchen interessiert ja nicht der „äußerliche“ Zeitpunkt bzw. Zeitraum, zu bzw. in dem sich eine Einsicht ergibt. Vielmehr steht der innere Zusammenhang der Argumente im Zentrum. So ist es auch zu erklä-

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nen sollte. Wie auch immer wir ihn nennen: Er ist von der natürlichmateriellen Welt ganz und gar verschieden.40 Dass reduktionistische Ansätze diesen Raum nicht begreifen können, liegt daran, dass er nicht der je meinige ist, sondern ein Raum, der als intersubjektiver über allen Einzelpersonen schwebt.41 Würden damit nicht bereits wieder Assoziationen in Richtung Materialismus hervorgerufen, könnte man das Bewusstsein mit einer Wolke vergleichen, in der die individuellen Standpunkte lediglich einzelnen Wassertröpfchen ähneln. Oder sollten wir doch besser Friedrich Hölderlin zu Rate ziehen? „Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt, Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander.“42

„Seit ein Gespräch wir sind“ – das heißt: Als bewusste Wesen erfahren wir in ethischen, ästhetischen und erkenntnistheoretischen Zusammenhängen immer wieder einen Geltungs-An-Spruch: Wir sprechen an und wir werden an-gesprochen! Dieser An-Spruch ist ein absoluter, er kann nicht ohne Selbstwiderspruch relativiert werden. Denn wer beispielsweise leugnet, dass es Wahrheit gibt, erhebt mit dieser Leugnung gerade einen Wahrheitsanspruch. Wer die Existenz jedweder unbedingt verpflichtender Normen bestreitet, kann auch dies nur, indem er grund­ legende Regeln der Kommunikation akzeptiert usw. Ebenso würden wir ren, dass uns mancher Gedanke längst verstorbener Philosophen als gegenwärtig erscheint, während auf der anderen Seite viele der heutzutage vorgebrachten Theorien geradezu als ein Zurückdrehen der Zeit empfunden werden können. 40 Vor diesem Hintergrund wird klar, warum der Naturalismus nicht die richtigen Antworten gibt: Weil er die falschen Fragen stellt! Die Verfechter naturalistischer Ansätze mögen sich aktuell und modern fühlen (obwohl auch sie nur Argumente wiederholen, die seit der Antike vorgebracht werden). Auf sehr viel höherem Reflexionsniveau stand jedoch bereits vor mehr als hundert Jahren Edmund Husserl: „Wie Erfahrung als Bewußtsein einen Gegenstand geben oder treffen könne, wie Erfahrungen durch Erfahrungen sich wechselseitig berechtigen oder berichtigen können, und nicht nur sich subjektiv aufheben oder sich subjektiv verstärken; wie ein Spiel des erfahrungslogischen Bewußtseins objektiv Gültiges, für an und für sich seiende Dinge Gültiges besagen soll; […] das alles wird zum Rätsel, sowie die Reflexion sich darauf ernstlich richtet.“ (Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1981, S. 20) 41 Siehe dazu Matthias Kettner, Was macht Gründe zu guten Gründen?, in: Peter Janich (Hg.), Naturalismus und Menschenbild (Deutsches Jahrbuch für Philosophie, Bd. 1), Hamburg 2008, S. (257–275) 257 f. 42 Zu lesen im zweiten Versentwurf zur Friedensfeier: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. I, Darmstadt 1998, S. 361.

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nicht sinnvoll argumentieren, wenn wir z. B. sagen würden: „Ich vertrete diesen Standpunkt, weil ich durch meine DNA dazu determiniert bin.“ Oder „Ich erhebe einen Wahrheitsanspruch, weil mir meine psychische Disposition keine andere Wahl lässt.“ Wer argumentiert, muss begründen – und Begründungen sind nicht Teil der Natur.43 „Das Subjekt“, so Ludwig Wittgenstein, „gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.“44 Dies nicht begriffen zu haben, ist m.E. das größte Versäumnis der neuen Atheisten. Laut Dawkins gibt es nichts außerhalb der physikalischen Welt.45 Als eifriger Verfechter eines naturalistischen Monismus muss er einen Theismus ablehnen, den er nur als dualistisch begreifen kann.46 Seiner Ansicht nach bleibt uns also nur die Wahl zwischen einem Materialismus und dem Glauben an einen Gott, der als Uhrmacher oder als Baumeister47 arbeitet. Doch – um es mit Karl Kraus zu sagen: „Es gibt Dinge, die sind so falsch, dass noch nicht einmal das genaue Gegenteil richtig ist.“ Beide von Dawkins angebotenen Alternativen sind zu verwerfen, denn Geist ist nicht irgendeine Substanz neben der Materie, sondern er bildet die Form derselben. Schon Leibniz hat betont, dass es sinnlos wäre, in den Gehirnwindungen den Gedanken zu suchen. Dort gibt es keinen Ort, an dem sich ein „Ich-Modul“48 befände, denn „der Geist ist kein Ding hinter den Dingen, sondern die Art der Dinge zu sein“49. Wenn wir der These zustimmen, dass das Bewusstsein eines Individuums immer nur als Element eines übersubjektiven Geistes verstanden werden kann, und wenn dieser Geist einen absoluten Maßstab in Bezug auf Geltungsansprüche anlegt, dann stellt es keine abwegige Idee dar, diese übersubjektive Vernunft mit Gott zu identifizieren. Somit können wir auch sagen: „Gott ist kein Ding hinter der Welt, sondern die Art der Welt zu sein.“ 43 Siehe wiederum T. Nagel, Geist und Kosmos (s. Anm. 38), S. 147: „Die allgemeine moralische Wahrheit […] ist nichts als sie selbst.“ 44 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1989, S. (7–85), 68 (5.632). 45 Vgl. R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 3), S. 25 f. 46 Vgl. a.a.O., S. 250. 47 Vgl. K. Peetz, Der Dawkins-Diskurs in Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften (s. Anm. 11), S. 126 ff. 48 H.-D. Mutschler, Halbierte Wirklichkeit (s. Anm. 24), S. 34. 49 A.a.O., S. 37.

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4. Welche Folgerungen ergeben sich aus diesen Überlegungen? 1.  Wenn von der Existenz einer Geistsubstanz nicht sinnvoll gesprochen werden kann, sollte m.E. konsequent darauf verzichtet werden, göttliche Eingriffe in den Weltlauf zu unterstellen. In dieser Hinsicht kann den neuen Atheisten gern zugegeben werden, dass Wundergläubigkeit ein fruchtloser Gedanke ist.50 Ebenso leer dürfte die Hoffnung sein, Gott durch Gebete zur Änderung des Weltgeschehens bewegen zu können. Ambrose Bierce brachte diese Fehlformen mit seiner aphoristischen Definition auf den Punkt: „Beten heißt darum bitten, dass die Gesetze des Universums zugunsten eines einzelnen, nach eigenem Geständnis unwürdigen Bittstellers aufgehoben werden.“ Als Fehlform erscheint diese Art von Gebeten, weil es demgegenüber sehr wohl sinnvolle Formen gibt, die als Versuch verstanden werden sollten, sich mit einem auf Intersubjektivität angelegten Absoluten in Beziehung zu setzen. So wusste sich etwa Dietrich Bonhoeffer „von guten Mächten wunderbar geborgen“ und blickte in größter Tapferkeit seinem furchtbaren Ende entgegen. Vor dem Hintergrund dieser Fragilität verbietet sich auch der Rückgriff auf das Konzept des Intelligent Design: Wenn wir uns vor Augen führen, dass es in den letzten 2,4 Milliarden Jahren der Erdgeschichte zu mindestens fünf Massenaussterben kam, die jeweils einen Großteil der vorhandenen Lebensformen hinwegfegten51, dann spricht bereits empirisch nichts für diese Theorie.52 50 Vielmehr gilt: Das größte aller Wunder ist, dass es keine Wunder gibt. Ein Gott, der eine gesetzmäßig verfasste Natur im Sein erhält, erscheint mir um ein Vielfaches verehrungswürdiger als ein Gott, der zu ständigem Eingreifen und Nachjustieren genötigt ist. Selbstverständlich muss unterschieden werden zwischen der Vorstellung von Wundern im Sinne von „den Naturgesetzen zuwider laufenden Ereignissen“ und im Sinne von „naturwissenschaftlich (zunächst) nicht erklärbaren Ereignissen“. Letztere sind möglich – man denke nur an Spontanheilungen bei schweren Krankheiten etc. In Bezug darauf von Wundern als göttlichen Eingriffen zu sprechen, erscheint mir jedoch als geradezu gotteslästerlich. Denn eine derartige Vorstellung beinhaltet ja, dass Gott eingreifen kann, die schlimmsten Geschehnisse in der Geschichte – wie Auschwitz oder Hiroshima – aber nicht verhindern wollte. Dies ist ein unerträglicher Gedanke. 51 Das nächste, welches das Ende des Anthropozäns einleiten wird, dürfte sich bereits in Vorbereitung befinden. 52 Wie sollen wir uns einen göttlichen Designer als vollkommen und allmächtig vorstellen, wenn er ständig neue Entwürfe realisiert, nur um diese dann wieder in den Müll zu werfen? Wäre Gott als ein solcher Konstrukteur zu verstehen, dann müsste man ihm wohl – mit Woody Allen – vorwerfen, zu wenig aus seinem Talent gemacht zu haben.

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Doch trotz – und zugleich auch wegen – dieser Katastrophen gibt es uns in diesem Universum, was die gerade getroffene Feststellung, es gebe keine Wunder, in einem wichtigen Punkt korrigiert: Dass wir existieren, erscheint angesichts all der Umstände, die zusammenkommen mussten, um unser Leben zu ermöglichen, als ganz und gar wunderbar – eine Erkenntnis, die zum Staunen führt und uns 2.  zu der Forderung bringt, die Frage „Wie kann es sein, dass es uns gibt?“ nicht vorschnell als sinnlos abzutun. Unweigerlich stoßen wir hier auf das sogenannte „anthropische Prinzip“. In seiner schwachen Variante besagt es, dass wir das Universum betrachten können, weil es die Eigenschaften hat, die unser Entstehen als Betrachter ermöglichen. Bringt uns das weiter? Greifen wir an dieser Stelle auf ein letztes prominentes Gedanken­ experiment zurück: Nehmen wir an, Sie seien von einem Psychopathen entführt und in eine riesige Halle verschleppt worden. Mitten in dieser Halle befindet sich ein fest mit dem Boden verschraubter Stuhl, an den Sie der Entführer kettet. Unter dem Stuhl befindet sich eine Bombe, deren Zündmechanismus verbunden ist mit einer Unmenge Glücksspielautomaten, die den übrigen Raum der Halle einnehmen. Nun erklärt Ihnen der Psychopath, er werde in wenigen Sekunden alle diese Automaten zeitgleich in Gang setzen. Der Zündmechanismus der Bombe sei so konstruiert, dass er sie nur dann nicht detonieren lasse, wenn alle diese Automaten in ihren Sichtfeldern das gleiche Symbol anzeigten. Er – oder ein ebenfalls verschleppter Notar – versichert Ihnen, dass die Automaten nicht manipuliert wurden, dass also der Zufall über Leben und Tod entscheiden wird. Sie können sich ausrechnen, dass Ihre Überlebenswahrscheinlichkeit bei ungefähr eins zu x Milliarden liegen dürfte. Der Mann setzt den Mechanismus in Gang und verlässt die Halle. Die Walzen der Automaten rotieren, bleiben eine nach der anderen stehen und siehe da: Alle zeigen das gleiche Bild. Sie sind gerettet! Verwundert reiben Sie sich die Augen und fragen den eben zurückgekehrten Urheber, wie etwas derart Unwahrscheinliches geschehen könne. Er antwortet Ihnen: „Was soll daran merkwürdig sein? Wären Sie tot, könnten Sie diese Frage doch gar nicht stellen!“ Würden Sie sich mit dieser Antwort zufriedengeben? Sie ist nichts anderes als eine etwas bizarre Variante des anthropischen Prinzips. Es bringt uns dazu, über die Tatsache nachzu-

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denken, dass wir als das Universum betrachtende Wesen existieren, weil nun einmal die entsprechenden Bedingungen für unsere Existenz erfüllt sind – so unwahrscheinlich sie in ihrer Kombination auch sein mögen. Dieser Gedanke mag einleuchten, aber wird damit irgendetwas erklärt? Völlig zu Recht hält Thomas Nagel fest: „Man zeigt nicht, dass etwas keine Erklärung verlangt, indem man darauf aufmerksam macht, dass es eine Bedingung der eigenen Existenz ist.“53 Auf das eben vorgestellte Gedankenexperiment bezogen: Wenn Sie fragen „Wie kann es sein, dass ich noch lebe?“, dann muss Ihnen die oben genannte Antwort Ihres Peinigers leer erscheinen. Mit Aussagen wie „Es war in der Tat Zufall; ich kann es mir selbst nicht erklären“ oder „Natürlich waren die Automaten manipuliert, ich wollte Ihnen nur Angst einjagen“ könnten Sie wenigstens dahingehend etwas anfangen, dass Sie diese weiter prüfen könnten und so vielleicht einen Erkenntnisgewinn davontragen würden. Unabhängig von derartigen Kausalerklärungen er­scheint das anthropische Prinzip bestenfalls als tautologisch. Dawkins sieht diesen Mangel an Erklärungskraft durchaus. Die Lösung, der er zuneigt, bezeichnet er als „das anthropische Prinzip der ‚Milliarden Planeten‘“54. Plausibel erscheint ihm weniger eine parallele als eine serielle Form des Multiversums55 – also eine Art kosmologische Evolution aufeinander folgender Universen. Zuzugestehen ist ihm, dass die Vorstellung eines göttlichen Designers als Alternative zu dieser ­Theorie weitaus unwahrscheinlicher wäre. Doch auch die Idee des Multiversums stellt nur eine Ad-hoc-Lösung dar; es gibt unabhängig vom Bedürfnis ihrer Verfechter nach Erklärungen keine Indizien bzw. Argumente für die Existenz von Paralleluniversen. Ohnehin gilt: Wollten wir angesichts der Frage, warum es überhaupt etwas gibt, eine Antwort finden, „müßte unsere Erfahrung“ – wie David Hume betonte – „die Entstehung von Welten umfassen“.56 So bleibt an dieser Stelle wohl allein das Verstummen. Spinoza sah in der Rede vom Willen Gottes nur das „Asyl der Unwissenheit“57 – mit dem Gedanken der kosmologischen Evolution im Multiversum dürfte es sich ähnlich verhalten. 53 T. Nagel, Geist und Kosmos (s. Anm. 38), S. 139. 54 R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 3), S. 198. 55 Vgl. a.a.O., S. 205. 56 David Hume, Dialoge über natürliche Religion (1779), Stuttgart 1981, S. 34. 57 Benedictus de Spinoza, Die Ethik mit geometrischer Methode begründet (1677), in: ders., Werke, lateinisch und deutsch, Bd. 2, Darmstadt 41989, S. (84–557) 153.

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Ist damit auch die Theologie zum Schweigen gebracht? Meiner Überzeugung nach nicht. Denn wenn wir von einem die Natur formenden, absolute Geltungsansprüche untermauernden Geist ausgehen können, dann bleiben 3. im Wesentlichen zwei Möglichkeiten einer rationalen Metaphysik: die in diesem Band bereits von Hans-Georg Wittig erwähnte kantische Position oder ein auf den Schultern von Platon, Hegel oder Schelling stehender objektiver Idealismus: Das Absolute wäre zu denken als eine sich selbst begründende, also reflexive, auf Intersubjektivität angelegte Struktur, die als formendes Prinzip der Natur fungiert. Vor diesem Hintergrund ließe sich die These, dass es keinen Gott gibt, als falsch zurückweisen. Für diesen objektiven – oder: absoluten – Idealismus sprechen gute Gründe. Auch wenn hier der Raum für eine weitergehende Argumentation zu seinen Gunsten fehlt58, sei doch wenigstens skizzenhaft erläutert, wie er verteidigt werden kann: Der Grundgedanke des objektiven Idealismus besteht darin, dass es Denknotwendigkeiten gibt, denen eine „ontologische Valenz“ zukommt. Mit anderen Worten: dass wir die Welt in einer bestimmten Weise denken müssen und – hier liegt der Unterschied zum kantisch geprägten subjektiven Idealismus – dass die Welt so ist, wie wir sie erkennen. Dass es grundlegende Denknotwendigkeiten gibt, wurde bereits oben mit Blick auf synthetische Aussagen a priori erwähnt. Diese notwendigen Sätze sind mittels reflexiver Argumente zu begründen.59 Nun ließe sich einwenden, dass diese Denknotwendigkeiten die Wirklichkeit nicht zu treffen vermögen, dass wir also unsere ­Begriffe einer letztlich unerkennbaren Welt nur überstülpen. Doch wer 58 Einen guten Zugang bietet z. B. Vittorio Hösle, Einstieg in den objektiven Idealismus, in: ders. / Fernando Suárez Müller (Hg.), Idealismus heute. Aktuelle Perspektiven und neue Impulse, Darmstadt 2015, S. 30–49. 59 Wer diese Aussagen bestreitet, muss sie immer schon voraussetzen, widerspricht sich also selbst. Aus diesem Widerspruch kann man sich im Übrigen nicht dadurch befreien, dass man einfach verbietet, dass sich Aussagen auf sich selbst beziehen. Denn bereits die Aussage „Keine Aussage darf sich auf sich selbst beziehen“ führt in einen Widerspruch: Ihre Wahrheit begründet ihre Falschheit und umgekehrt. Siehe dazu Vittorio Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München 1994, S. 169, Anm. 30. Ferner Bernd Brassel, System der idealen Logik, in: V. Hösle / F. Suárez Müller (Hg.), Idealismus heute (s. Anm. 58), S. (111–135) 123 f.

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so spricht, setzt stillschweigend bereits voraus, die eigentlich unerkennbare Welt erkannt zu haben: Wie könnte er sonst wissen, dass unsere Begriffe sie nicht adäquat erfassen?60 Auch die Auffassung, unsere Erkenntnisse über die Welt seien nur „Interpretationen“, lässt sich so widerlegen, denn auch sie macht den ungehinderten Blick auf das, was es zu interpretieren gilt, erforderlich.61 Im Rahmen eines absoluten Idealismus wird Gott als objektive Vernunft verstanden. Diese „ist der Inbegriff aller apriorischen Wahrheiten, die das Sein der Welt bestimmen und von dem endlichen Denken im Rückgang auf sich selbst erfaßt werden.“62 Führen wir uns vor dem Hintergrund dieser Definition noch einmal die eingangs in Anlehnung an Norbert Hoerster erwähnten klassischen Eigenschaften des Göttlichen vor Augen, dürfte es in Bezug auf die erste (Einzigkeit), zweite (Ewigkeit), vierte (Vollkommenheit) und fünfte (Ursprünglichkeit) keine Reibungspunkte geben. Mit Blick auf die sechste Eigenschaft ist anzumerken: Die objektive Vernunft erhält und lenkt die Welt in dem Sinne, dass es eine Tendenz des Universums geben muss, sich selbst zu reflektieren, d. h. vernünftiges Leben hervorzubringen.63 Problematisch erscheint die dritte Eigenschaft: Inwiefern 60 Es lässt sich darüber streiten, ob dieser Vorwurf auch Immanuel Kant gemacht werden kann. Mit Blick auf die von ihm vorausgesetzten, nicht erfahrbaren „Dinge an sich selbst betrachtet“, geht z. B. Hösle davon aus, Kant habe „eine eigene Welt unerkennbarer Entitäten anzunehmen […], über die er nichtsdestoweniger Aussagen machen muß“ (V. Hösle, Die Philosophie und die Wissenschaften [s. Anm. 28], S. 37). Mit Otfried Höffe ist aber dem Missverständnis vorzubeugen, es handle sich bei den Dingen an sich selbst betrachtet um eine „Hinterwelt“. Er schreibt über den Begriff, er sei „ein methodischer und, anders als häufig angenommen, kein metaphysischer Begriff, kein dogmatischer Rest“ (Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 1996, S. 133). 61 Einen ausführlichen Argumentationsgang liefert Vittorio Hösle, Begründungsfragen des objektiven Idealismus, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Philosophie und Begründung, Frankfurt a.M. 1987, S. 212–267. 62 V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie (s. Anm. 59), S. 208. 63 Die Fragilität dieses Prozesses sollte dabei aber stets beachtet werden. Es ist zuzugeben, dass der objektive Idealismus Gefahr läuft, ein allzu harmonisches Bild der menschlichen Geschichte zu zeichnen. Doch da Gott als Inbegriff der Wahrheit verstanden wird und die Macht der Wahrheit eben nicht auf strategischem Kalkül bzw. totaler Kontrolle beruht, beinhaltet die Entäußerung des Göttlichen in die Welt hinein immer ein Wagnis. Niemand hat das konziser und eindrücklicher ausgeführt als Hans Jonas in Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (Frankfurt a.M. 1987). Er führt aus: „Im Anfang, aus unerkennbarer Wahl, entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich

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können wir diese absolute Vernunft als Person begreifen und ansprechen? In meinen Augen überschreiten wir hier die Grenze zur Mystik. Wie auch immer: Der objektive Idealismus zeigt eine derart große Affinität zur christlichen Religion, dass man ihn als die Philosophie bezeichnen kann, die das Christentum auf den Begriff bringt. 4.  Wird Theologie damit auf Philosophie reduziert? Ist Religion nicht mehr als eine didaktisch reduzierte Metaphysik? Hatte Nietzsche recht, als er sagte: „Christentum ist Platonismus fürs Volk“64? Keineswegs. Religion besitzt gegenüber Philosophie einen Mehrwert, der darin liegt, dass wir als Menschen ohne die großen und kleinen Erzählungen nicht sein können. Max Frisch hat einmal geschrieben: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, […] oder eine ganze Reihe von Geschichten.“65 Das bedeutet aber auch: Jeder Mensch lebt in diesen Geschichten – und diese Geschichten sind wiederum verwoben mit der Geschichte im Ganzen. Die Religionen erzählen uns Geschichten, die sie für das Leben ihres Gottes halten. Wir selbst sollen diese Geschichten mit unserem Leben füllen. Nicht alle dieser Geschichten sind wertvoll; wir benötigen vernehmende Vernunft, um zu entscheiden, welche wir als sinnvolle verstehen können. Die Frucht, welche uns die Religion reicht – oder besser: reichen sollte –, besteht also aus Dreierlei: aus dem harten metaphysischen Kern, dem Fleisch der Geschichtlichkeit und der sichtbaren Schale des Handelns ihrer Anhänger. Damit verfügt Religion gegenüber der Philosophie über einen erweiterten Wahrheitsbegriff, der Geschichtliches mit Notwendigem verknüpft. An dieser Stelle komme ich auf Sam Harris’ eingangs präsentierten Gedanken eines totalen Gedächtnisverlustes zurück. Eines verschweigt Harris: Gäbe es diese vollständige Amnesie, würden wir auch

zurück; kein unergriffener und immuner Teil von ihr blieb, um die umwegige Ausformung ihres Schicksals in der Schöpfung von jenseits her zu lenken, zu berichtigen und letztlich zu garantieren.“ (S. 15 f.) 64 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), Stuttgart 1991, S. 4 f. – wohl in Anlehnung an Schopenhauer, der die Religion als „Metaphysik des Volks“ bezeichnete (Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Bd. 2 (1851), in: ders., Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Bd. X, Zürich 1977, Kap. 15: Ueber Religion, § 174, S. 360). 65 Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt a.M. 1966, S. 74.

Die materialistische Weltanschauung des neuen Atheismus  |  153

all die Menschen, die wir lieben, nicht mehr erkennen – und doch kann man mit Fug und Recht behaupten, dass diese Liebe alles andere an Wert übertrifft.66 Wissen und Liebe wären also die beiden Leitsterne, denen wir folgen sollten67, und wenn sie uns eine metaphysische Heimat bieten will, müsste eine Religion, die durch das Fegefeuer der Streitigkeiten gegangen ist, – ihr Gottesbild mit weniger, aber dafür deutlicheren Strichen zeichnen, – ihre Geschichten mit anderem Akzent erzählen, – ihr Handeln mit größerer Vorsicht gestalten. Einem Mann wie Richard Dawkins wird zwar niemand bescheinigen, dass seine Stärken in der geisteswissenschaftlichen Sphäre lägen.68 Doch ganz am Ende seiner Streitschrift zeigt er ein gewisses hermeneutisches Feingefühl, indem er lobend auf zwei Theologen eingeht, die er ausdrücklich „kultiviert“ nennt: Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer. Mit Blick auf deren Theologie führt er aus: „Wenn nur eine solche verfeinerte, nuancierte Religion vorherrschen würde, sähe die Welt sicher besser aus, und ich hätte ein ganz anderes Buch geschrieben. Aber die traurige Wahrheit lautet: Eine derart zurückhaltende, anständige Religion ist zahlenmäßig nicht der Rede wert.“69

Ich möchte mit Blick auf das liberale Christentum ergänzen: „… aber immerhin: Es gibt sie!“

66 Nicht ohne Grund wird Offenbarung in der gegenwärtigen Theologie nicht mehr in­ struktionstheoretisch als Wissen, sondern kommunikationstheoretisch als Beziehung verstanden. 67 Insofern ist Sam Harris voll und ganz zuzustimmen, wenn er betont: „Vernunft ist nichts Geringeres als die Hüterin der Liebe.“ (ders., Das Ende des Glaubens [s. Anm. 1], S. 197) 68 Vgl. K. Peetz, Der Dawkins-Diskurs in Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften (s. Anm. 11), S. 154. Wie bereits erwähnt, ist Dawkins’ Rede von egoistischen Genen und Memen metaphorisch zu verstehen. Die lange Geschichte des Lebens, die er auf diese Weise erzählt, kann somit auch als ein Mythos im besten Sinne verstanden werden – als Schilderung eines Geschehens, die nicht wortwörtlich zu verstehen ist, aber dennoch eine tiefe Wahrheit enthält. Das ist kein Mangel oder Fehler. Vielmehr dürfte es gar nicht anders möglich sein, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften in eine allgemein verständliche Sprache zu übertragen, als auf symbolische Rede zurückzugreifen. 69 R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 3), S. 525. Eher kritisch äußert sich allerdings Harris: „Tillich verfeinerte […] die ursprüngliche Bedeutung des [Glaubens-]Begriffs bis zur Unkenntlichkeit“ (ders., Das Ende des Glaubens [s. Anm. 1], S. 65).

Der fröhliche und der traurige Atheist Einige Erwägungen über Gott und die Welt in Auseinandersetzung mit Franz M. Wuketits und Herbert Schnädelbach Wolfgang Pfüller

S

eit kurzem ist die Rede von einem „neuen Atheismus“. Was an diesem Atheismus neu ist, kann hier dahingestellt bleiben.1 Und dies, zumal wir es im Folgenden mit zwei recht unterschiedlichen atheistischen Positionen zu tun haben werden, die zumindest in ihren Begründungen wenig gemein haben. Folglich stellt sich weniger die Frage, inwiefern diese Positionen neu sind, vielmehr eher die, inwiefern sie beide als atheistisch zu bezeichnen sind. Nun kann diese Frage begreiflicherweise nicht vorab beantwortet werden. Immerhin mögen einige Präzisierungen dessen, was man unter Atheismus verstehen kann bzw. sollte, dem besseren Verständnis der 1 Gerhard Lohfink, Der neue Atheismus. Eine kritische Auseinandersetzung, Stuttgart 2013, sieht gar nichts Neues. S.E. werden nur die alten Argumente (aus dem 19. Jahrhundert) „neu aufgewärmt und derzeit vor allem mit Evolutions-Biologie und moderner Hirnforschung garniert“ (S. 12). Auch Wolfgang Klausnitzer und Bernd Elmar Koziel, Atheismus – in neuer Gestalt?, Frankfurt a.M. 2012, vermögen kaum Neues zu erkennen. Jedenfalls ist die Zielrichtung der Argumentation die altbekannte: Man will „den Glauben an einen personalen Gott im Sinne des Monotheismus“ ausschließen (S. 18). Indes weisen sie darauf hin, dass der „neue Atheismus“ kein einheitliches Phänomen ist und eine beträchtliche Spannweite besitzt (S. 41). Dies veranlasst Gregor Maria Hoff dazu, von „neuen Atheismen“ zu reden. Vgl. ders., Die neuen Atheismen. Eine notwendige Provokation, Kevelaer 2009. Dabei entdeckt er zwar einiges Neues, was aber eher peripher sein dürfte: „eine andere Argumentationsperspektive, ein anderer Ton, ein verändertes areligiöses Beziehungsmuster“ (S. 86), eine „veränderte Anordnung der Gedanken“ (S. 113).

Der fröhliche und der traurige Atheist  |  155

beiden Positionen dienlich sein. Natürlich geht es in jedem Fall um die mehr oder weniger entschiedene Ablehnung des Gottesglaubens; fraglich aber ist, wie das gemeint ist. Hierzu bietet Hermann Josef Schmidt vier „basale Unterscheidungen“ an. Atheismus kann danach bezogen sein (1) auf „einzelne abgelehnte Gottesvorstellungen wie beispielsweise auf Zeus oder Wotan“, (2) „auf alle (nur denkbaren) Gottesvorstellungen“, (3) darüber hinaus auf „jede nur denkbare weitere Form von Religion (wie beispielsweise sog. gottlose Religionen)“ und schließlich im weitesten Sinn (4) auf „jedwede Form potentieller Religiosität (wie beispielsweise mystischer)“2. Die von Schmidt vorgenommenen Unterscheidungen dürften hilfreich sein, wenngleich sie natürlich gegebenenfalls weiterer Präzisierungen bedürfen. Dagegen ist die von ­Ulrich Neuenschwander gegebene Definition zwar präziser, jedoch womöglich zu eng gefasst. Neuenschwander definiert zunächst: „Atheismus ist die Auffassung von der Suffizienz des innerweltlichen Seins.“ Das besagt dann genauer, dass das „rein inner­weltliche Sein“ nicht „von einem überweltlichen Sein“ umgriffen sowie in ihm geborgen ist; „dass dieses uns hier greifbare Seiende das Letztwirkliche ist, das in sich selbst besteht“; „dass all das, was untrennbar mit der Religion verbunden ist, nämlich die Existenzialien des Heiligen, des Gefühls des Überweltlichen, des Göttlichen oder wie man es nennen will, als sinnlos dahinfallen“; schließlich und zugespitzt „dass keinerlei Wesen existiert, das die Bedingungen des innerweltlichen Seins übergreift, oder also, banal ausgedrückt, was den Kern des Atheismus ausmacht, dass es ­keinen Gott gibt“.3 2 Hermann J. Schmidt, In vielerlei Hinsicht ist zwar fast jeder Atheist, doch allzu wenige gestehen sich das ein. Für mehr Offenheit in weltanschaulich relevanten Fragen und für Entkrampfung zeitgenössischer Atheismusdiskussionen, in: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Jg. 17 (1/2010), S. (86–114) 91 f. 3 Ulrich Neuenschwander, Der moderne Atheismus, in: ders. / Werner Zager, Gott denken angesichts des Atheismus, Neukirchen-Vluyn 2001, S. (1–64) 6 f. Es handelt sich hierbei um die Veröffentlichung einer Vorlesung, die Neuenschwander erstmals 1966 gehalten hat. Seine Überlegungen zum Wandel des Atheismus vom 19. zum 20. Jahrhundert sind ebenfalls interessant; vgl. a.a.O., S. 43–59. Dabei könnte vom 20. zum 21. Jahrhundert wiederum ein Wandel festgestellt werden. All dies muss indes hier beiseite bleiben. – Ebenso kann die von John Clayton in religionsphilosophischer Hinsicht für zweckmäßig gehaltene Unterscheidung zwischen spekulativem und therapeutischem Atheismus hier auf sich beruhen, auch wenn besonders Franz M. Wuketits letzteren nicht selten bedient. Vgl. John Clayton, Art. Atheismus III. Religionsphilosophisch, in: RGG 4 1, Tübingen 1998, Sp. (877–879) 877.

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Zu eng könnte diese Definition deshalb sein, weil sie auch Formen des Pantheismus als Atheismus begreifen müsste, was zwar möglich ist, aber doch fragwürdig sein dürfte. Wie dem jedoch auch sei: Für die folgenden Erwägungen scheinen sowohl die Distinktionen von Schmidt wie auch die von Neuenschwander aufschlussreich zu sein. Denn, wie erwähnt, haben wir es bei den Positionen von Franz M. Wuketits und Herbert Schnädelbach vor allem mit auffallend unterschiedlichen Begründungen von Atheismus zu tun, die auch für das jeweilige Verständnis natürlich nicht ohne Belang sind. Dabei scheint Wuketits eher ein Verständnis zu vertreten, wie es Schmidt unter (4) gekennzeichnet hat, während Schnädelbach sich dem Verständnis bei Neuenschwander annähert. Zunächst sollen jedenfalls die beiden Positionen in ihrer Unterschiedlichkeit analysiert und daraufhin kritisch beurteilt werden (1. und 2.). Dabei wird sich zeigen, dass der Atheismus Schnädelbachs weitaus tiefgründiger ist als der von Wuketits. Dennoch fordern beide Atheismen zu kritischen Erwägungen heraus, die zentrale Probleme religiöser Positionen betreffen. Diese Erwägungen aber sind das eigentliche Ziel der folgenden Untersuchung (3.).

1. Der fröhliche Atheist: Franz M. Wuketits 1.1 Theoretischer Atheismus: Die Wissenschaften und ihre ausreichende Erklärungskraft

Für Franz M. Wuketits scheint es völlig klar zu sein: Die Wissenschaften im Allgemeinen und die Evolutionstheorie im Besonderen erklären alles, was zu erklären ist. Was immer wir von der Welt verstehen können – und wir verstehen freilich (noch) längst nicht alles –, verstehen wir durch die eminente Erklärungskraft der Wissenschaften und durch nichts sonst. Religiöse Erklärungsversuche demgegenüber sind nicht nur überflüssig und somit obsolet, sondern mehr noch irreführend und folglich strikt abzulehnen. Dagegen ist wissenschaftliche Erklärung und Aufklärung dringend geboten. Dieser Aufgabe hat sich Wuketits in zahlreichen, vor allem populärwissenschaftlichen Schriften („Sachbüchern“) gewidmet. Darin schreibt er über Wahrheit,

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­ illensfreiheit, Moral, Religion u. a.m. – vor allem aber über WissenW schaft und Evolution. Besonders die biologische Evolutionstheorie mit ihren unleugbaren Erkenntnisgewinnen erübrigt nach Wuketits jeglichen Gottesglauben, denn sie führt folgerichtig zum Naturalismus bzw. – wie er es gelegentlich auch nennt – wissenschaftlichen Materialismus. „Biologische Erkenntnisgewinne und wissenschaftlicher Materialismus gehen Hand in Hand. Für Gott bleibt dabei jedenfalls kein Platz.“4 Oder: „Darwins Theorie der natürlichen Auslese liefert die Basis für die (rationale) Erklärung aller Phänomene des Lebenden. Sie ist eine der wichtigsten Säulen der naturalistischen Philosophie, eines Weltbildes, das von der (begründeten) Erwartung getragen wird, dass es in der Natur stets mit rechten Dingen zugeht, und wir mithin des Rückgriffs auf wie auch immer geartete geheime Kräfte nicht bedürfen.“5

Dementsprechend ist eine „religiöse Weltdeutung“ mit einer „(natur-) wissenschaftlichen Erklärung der Welt“ unvereinbar. „Wem an einem geschlossenen, in sich stimmigen Weltbild gelegen ist, muss sich zwischen Wissenschaft und religiösem Glauben entscheiden.“6 Nach allen heute zur Verfügung stehenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aber ist jeglicher religiöser Glaube eine Illusion.7 Diese Behauptungen begründet Wuketits vor allem dadurch, dass er Phänomene, auf die sich die (christliche) Religion traditionell besonders berufen hat, evolutionstheoretisch erklärt. Ich erläutere dies an den Beispielen der Willensfreiheit und der Moral. Was zunächst die so traditionsreiche wie immer wieder umstrittene Idee der Willensfreiheit betrifft, so hält Wuketits sie trotz zahlreicher gegenteiliger Annahmen für eine wissenschaftlich erwiesene Illusion. Den Erweis erbringt diesmal nun nicht die Evolutionstheorie, sondern die moderne Hirnforschung. Denn danach ist es „plausibel, dass jeder einzelne Willensakt von Vor4 Franz M. Wuketits, Was glauben Atheisten? Leben, Moral und Sinn in einer gottlosen Welt, in: Anton Grabner-Haider / Franz M. Wuketits, Atheismus oder Kulturchristentum? Zwischen Dialog und Kooperation, Neu-Isenburg 2014, S. (9–70) 29. 5 Franz M. Wuketits, Darwins Kosmos. Sinnvolles Leben in einer sinnlosen Welt, Aschaffenburg 2009, S. 16. 6 A.a.O., S. 21. 7 Vgl. Franz M. Wuketits, Was Atheisten glauben, Gütersloh 2014, S. 138.

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gängen im Gehirn bestimmt wird, die wir so wenig rational kontrollieren können wie die Herzschlagfrequenz oder den Harndrang“8. Zwar dürfte Plausibilität kein sehr starkes Argument sein, aber man sollte diese Formulierung hier nicht allzu genau nehmen. Denn für Wuketits ist vollkommen klar: „Was auch immer ein Mensch denkt, fühlt, plant, will – es wird von seinem Gehirn bestimmt.“9 Obgleich also für die Widerlegung der Idee der Willensfreiheit die moderne Hirnforschung maßgeblich ist, trägt die Evolutionstheorie gleichwohl ihrerseits einiges zur Erklärung dieser lang andauernden Illusion bei. Illusionen können nämlich demnach durchaus nützlich für das Überleben sein, um das es in der Evolution zuerst und zuletzt geht. Und in dieser Hinsicht erweist sich der Mensch als überaus „illusionsbedürftiges Lebewesen“. Denn angesichts einer teilnahmslosen, sinnlosen, ja sinnwidrigen Wirklichkeit, in der er sich vorfindet, können ihm gewisse (nicht zuletzt religiöse) Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche über manche Widrigkeiten seines Lebens hinweghelfen. Dass wir uns also, obwohl objektiv unfrei, subjektiv als frei erleben können, mindert das Gefühl, angesichts der unendlichen Dimensionen der Wirklichkeit ohnmächtig einem undurchschaubaren Geschehen ausgeliefert zu sein.10 Im Unterschied zur Willensfreiheit ist die Moral selbstverständlich keine Illusion, aber genau wie jene ist sie das Resultat der sozialen Evolution und nicht etwa vom Himmel gefallen bzw. religiös gesprochen „von Gott gegeben“. Das heißt: „Gott ist für die Moral eine überflüssige Hypothese.“11 Moralsysteme sind evolutionär zu erklären als Systeme, die der Stabilität, dem Zusammenhalt der Gruppe und mithin letzt­lich dem Überleben dienen. Natürlich sind demgemäß Normen und Werte alles andere als absolut, vielmehr relative Regularien, ohne die das menschliche Zusammenleben und Überleben nicht funktionieren würde. „Nicht weil Gott es uns geheißen hat, kooperieren wir und helfen anderen, sondern weil wir umgekehrt auf die Hilfe anderer angewiesen sind und eine Gemeinschaft ohne diese ‚Tugenden‘ nicht funktionieren 8 Franz M. Wuketits, Der freie Wille. Die Evolution einer Illusion, Stuttgart 2007, S. 38. 9 A.a.O., S. 86. 10 Vgl. a.a.O., S. 7. 40. 120. 11 F. M. Wuketits, Was Atheisten glauben (s. Anm. 7), S. 104.

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würde. Wäre es anders, hätte sich moralisches Verhalten in der Evolution erst gar nicht entwickelt – und es hätte sich in unserer Spezies nicht universell ausgebreitet.“12

Daraus ergibt sich als moralische Lebensweise ein kluger, besonnener Egoismus, während ein reiner Altruismus, also das völlig selbstlose Handeln, angesichts der menschlichen Natur illusionär ist und bleiben muss. Zwar mag es hin und wieder Asketen oder auch Heilige geben, „aber sie sind nicht repräsentativ für eine Spezies, die sich geradezu ­aggressiv auf diesem Planeten ausgebreitet hat“.13 Denn „Selbstverleugnung, Selbstaufopferung, reine Pflichterfüllung, Bescheidenheit, Askese und anderes mehr gehören nicht zu unserer biosozialen Grundausstattung.“14 Ein besonnener Egoist demgegenüber, der ebenso wie die Anderen möglichst lang und angenehm leben möchte, weiß, dass er dazu genau diese Anderen braucht. Wuketits’ moralisches Leitbild ist demgemäß der zufriedene Egoist bzw. Individualist. Dieser isoliert sich keineswegs von den Anderen, kooperiert vielmehr mit ihnen zum gegenseitigen Vorteil und wird ihnen jedenfalls gemäß der „Goldenen Regel“ keinen Schaden zufügen, wie er ebensolches auch von ihnen erwartet. Das führt schließlich zur folgenden ethisch-moralischen Leitlinie: „Wenn sich jeder einzelne Mensch mit sich selbst darauf einigt, dass sein eigenes Leben für ihn den obersten Wert darstellt (was ja der biologischen Erwartung entspricht und daher nicht sehr schwer fallen dürfte), dann bedarf er keiner wie auch immer gearteten höheren moralischen Instanz. Findet er Zufriedenheit – um nicht zu sagen: Glück – in seinem Leben, wird er die anderen in Ruhe lassen und ihnen ein zufriedenes Leben gönnen, zumindest, solange er von ihnen seinerseits in Ruhe ­gelassen wird.“15

Nach alledem versteht es sich fast von selbst, dass schließlich auch die Religion insgesamt von Wuketits evolutionstheoretisch erklärt wird. 12 A.a.O., S. 108. 13 F. M. Wuketits, Der freie Wille (s. Anm. 8), S. 30. 14 Franz M. Wuketits, Wie viel Moral verträgt der Mensch? Eine Provokation, Gütersloh 2010, S. 172. 15 A.a.O., S. 140. – Vgl. auch a.a.O., S. 168: „Der moralische Individualist ist ein Egoist, der aber auch die anderen Egoisten akzeptiert und sich in Gemeinschaft mit ihnen wohlfühlt.“

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Auch sie ist nicht von Gott gegeben, hat sich vielmehr entwickelt und brachte wie andere Illusionen16 gewisse „Anpassungsvorteile“ mit sich. Genauer: „Die Disposition zum religiösen Glauben hat sich deshalb entwickelt, weil sie nicht zuletzt der Stabilität von Sozietäten dient.“17 Freilich, Illusionen können zwar leicht erklärt werden, erklären aber umgekehrt selbst nichts. Und genau deshalb ist Religion überflüssig, denn sie erklärt aufgrund des mittlerweile erreichten Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse nichts (mehr). Wenn also „die Phänomene der Natur, die Vielfalt der Lebewesen, ihre Entstehung und Entwicklung einer (natur-)wissenschaftlichen Erklärung prinzipiell zugänglich sind […], dann werden Religionen als ‚Welterklärungen‘ obsolet“.18 Dabei gibt sich Wuketits seinerseits keineswegs der Illusion hin, dass Religionen bzw. Religiosität in ­ naher oder auch ferner Zukunft ganz verschwinden werden. Denn religiöse Bedürfnisse wie Geborgenheit, Hoffnung auf eine „höhere Ordnung“, der Glaube an eine insgesamt sinnvolle Welt sind zutiefst in der menschlichen Spezies verwurzelt. Hingegen wird der Atheist zwar leicht auf irgendwelche Illusionen verzichten können, nicht aber auf Hoffnungen und Sehnsüchte verzichten müssen, die jedoch nur innerhalb der evolutionären Wirklichkeit, nicht etwa darüber hinaus erfüllt werden können. „Er weiß, dass die komplexe Welt, in der er lebt, von Naturgesetzen bestimmt wird, die im Einzelnen freilich so verwickelt sein können, dass sie eine unmittelbare Erklärung nicht zulassen. Die Annahme ‚höherer Mächte‘ aber liefert erst recht keine Erklärung.“19

16 Neben der Willensfreiheit gehört für Wuketits auch die Idee der Wahrheit zu den Illusionen. So heißt es: „Unser Gehirn wurde in der Evolution nicht dazu geschaffen, ‚die Wahrheit‘ über diese Welt herauszufinden, sondern bloß, seinem ‚Träger‘ ein Überleben in ihr zu ermöglichen. Führt man sich vor Augen, dass jede einzelne Organismenart auch ihren spezifischen kognitiven Zugang zu der sie umgebenden Welt hat, dann nimmt man leicht Abschied von der Idee, dass es so etwas wie die Wahrheit überhaupt geben könne.“ (F. M. Wuketits, Darwins Kosmos [s. Anm. 5], S. 115) 17 F. M. Wuketits, Der freie Wille (s. Anm. 8), S. 45. 18 Franz M. Wuketits, War Charles Darwin ein Atheist?, in: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Jg. 17 (3/2010), S. (25–34) 33. 19 F. M. Wuketits, Was Atheisten glauben (s. Anm. 7), S. 159.

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1.2 Praktischer Atheismus: Ohne Gott sinnvoll leben in einer sinnlosen Welt

Dass Darwins Evolutionslehre der Teleologie den Garaus gemacht habe, wurde bereits im 19. Jahrhundert beispielsweise von Friedrich Engels konstatiert. Davon ist auch Wuketits überzeugt. Allerdings besagt dies nicht, dass in der Natur wie besonders im menschlichen Leben einiges zweckmäßig erscheinen mag. Es besagt jedoch, dass diese Zweckmäßigkeiten weder ursächliche Bedeutung für die Evolution besitzen noch gleich gar auf die Welt insgesamt projiziert werden dürfen. Daher ist Wuketits auch vorsichtig, wenn es etwa darum geht, von einem Fortschritt in der Evolution zu sprechen. Sicher ist eine Zunahme von Komplexität zu beobachten; sicher mag man auch in bestimmter Hinsicht von höher entwickelten Lebewesen sprechen. „Dennoch ist der Evolutionstheoretiker gut beraten, von der Idee eines durchgehenden Fortschritts in der Evolution Abstand zu nehmen. Die Evolution kennt keine Absichten und Ziele, und es ist kein Gesetz auszumachen, das eine Höherentwicklung automatisch erzwingt.“20

Und was heißt schließlich Höherentwicklung? Am Ende zählen in der Evolution doch nur die besseren oder schlechteren Überlebensvoraussetzungen. Gleichwohl wurde gerade die Evolutionslehre laut Wuketits gern mit der Idee des Fortschritts verknüpft, und zwar sowohl auf der organischen wie vor allem auf der soziokulturellen Ebene. Diese Idee aber hält er für einen Überrest religiöser Illusionen. Natürlich ist sie erklärlich aus der stetigen menschlichen Suche nach Sinn, die eine sinnlose Welt einfach nicht zu akzeptieren vermag. Allein, diese Suche muss erfolglos bleiben. Und die Evolutionstheorie sollte sich hüten, einen Sinn der Welt gleichsam durch die Hintertür wieder einzuführen: „Ich denke, daß jede Evolutionstheorie, die mit Fortschritt operiert, die Ideen von der Höherentwicklung und Vervollkommnung zuläßt, die Teleologie nicht wirklich verabschieden kann.“ Denn wenn man Fortschritt nicht nur im Blick auf bessere Überlebensbedingungen, vielmehr als Höher20 Franz M. Wuketits, Evolution. Die Entwicklung des Lebens, München 32009, S. 52 f.

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entwicklung und Vervollkommnung begreift, „dann sieht man sich gezwungen, zumindest im Geheimen an Absichten zu denken, der Teleologie diskreten Zutritt in die eigene Gedankenwelt zu gewähren“. 21 Nein, die Menschen müssen sich damit abfinden, in einer sinnlosen Welt zu leben. Die Evolution verläuft ohne Sinn und Ziel als ein sehr komplexer, chaotischer Vorgang, obwohl manches im Nachhinein als gerichtet erscheinen mag. Es gibt keinen intelligenten Plan und schon gar keinen intelligenten Planer. Abgesehen davon, dass dies keine wissenschaftliche Erklärung wäre, spricht dagegen vor allem das Aussterben vieler Arten, „meines Erachtens das stärkste Argument gegen jegliche Idee eines intelligenten Planers“.22 Ja, langfristig ist in der Evolution nur eins sicher: das Aussterben jeder Organismenart. Angesichts dessen dürfte es sich endgültig verbieten, von Fortschritt und Sinn der Evolution oder gar der Welt zu reden. Dass die Evolution kein Ziel hat und wir in einer sinnlosen Welt leben, heißt für Wuketits nun aber nicht, dass unser begrenztes, mehr oder weniger rasch vorübergehendes Leben ebenfalls sinnlos bleiben muss. Im Gegenteil, er plädiert entschieden für ein sinnvolles Leben in und trotz einer sinnlosen Welt. Dabei bezieht er die Möglichkeit sinnvollen Lebens allerdings allein auf das Individuum, nicht etwa auf die menschliche Spezies. Diese nämlich scheint eher die bisherigen Katas­ trophen der Naturgeschichte zu übertreffen. So kann man sie im Blick auf das Maß der Zerstörungen, das sie in ihrer ziemlich kurzen Evolution verursacht hat, gar als die (bisher) größte Naturkatastrophe bezeichnen.23 Und dieses wahrlich verheerende Ausmaß an Zerstörungen geschieht eigentümlicherweise angesichts dessen, dass es die Menschen eigentlich besser wissen könnten. „Die Gratwanderung auf dem Zickzackweg der Evolution war stets für alle Arten mit großem Risiko verbunden. Es ist bemerkenswert, daß Homo sapiens, der dieses Risiko erkennt, nichts tut, um es ein wenig zu verkleinern, sondern im Gegenteil dieses Risiko drastisch erhöht.“ 21 Franz M. Wuketits, Evolution ohne Fortschritt. Aufstieg und Niedergang in Natur und Gesellschaft, Aschaffenburg 2009, S. 109. 22 F. M. Wuketits, Darwins Kosmos (s. Anm. 5), S. 74. 23 F. M. Wuketits, Evolution ohne Fortschritt (s. Anm. 21), S. 181; das folgende Zitat: a.a.O., S. 190.

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Obwohl Wuketits also von der menschlichen Entwicklung nichts Gutes erwartet, möchte er die Einzelnen in der ihnen gegebenen, knapp bemessenen Zeit zu einem sinnvollen Leben ermutigen. Letztlich geht es nämlich dem Atheismus gar nicht um eine theoretische Widerlegung der Existenz Gottes – was auch nicht möglich ist, „denn was sich nicht beweisen lässt, kann auch nicht widerlegt werden“. Nein, es geht um eine atheistische Lebenspraxis, die davon ausgeht, dass wir „ohne Gott in mancher Hinsicht ein besseres Leben führen können als mit dem Glauben an seine Existenz“. 24 So muss der atheistisch lebende Mensch Gott nicht angesichts der natürlichen und moralischen Übel rechtfertigen (Theodizee), hat keine Veranlassung, Religionskriege zu führen, kann seinem Forscherdrang freien Lauf lassen, lebt moralisch angemessener im Sinne eines gesunden Egoismus und Hedonismus und muss keinen Sinn suchen dort, wo er nicht zu finden ist. Der gottlose Mensch findet den Sinn seines Lebens in sich selbst, nicht in einem sinnlosen Universum. „Nur halbwegs günstige Rahmenbedingungen in unserem Leben vorausgesetzt, sind wir Menschen in der Lage, uns an vielem zu erfreuen, auch über vieles zu lachen und mithin durch unser eigenes – wenngleich begrenztes – Wirken einem sinnlosen Universum die Stirn zu bieten.“

Dazu gehört schließlich, dass wir den Tod als natürliche Grenze unseres Lebens akzeptieren können, statt auf ein imaginäres Jenseits zu hoffen.25 So brauchen uns die unüberschreitbaren Grenzen unseres Lebens durchaus nicht in die Verzweiflung zu treiben, im Gegenteil: Wir können das Leben umso mehr lieben und es in allen seinen Facetten zu ­erleben versuchen. Dazu gehören Genuss und Freude auf der einen, Leid und Tod auf der anderen Seite. Die „Aussicht auf den eigenen Tod braucht also keinem Menschen das Leben zu vergällen. […] Worauf es ankommt, ist, aus dem Leben hier und jetzt, selbst bei eingeschränkten Möglichkeiten, so viel heraus­zu­ holen, dass man in jedem Augenblick zumindest sagen kann: ‚Nun ja, eigentlich hat sich’s gelohnt.‘“26 24 F. M. Wuketits, Was glauben Atheisten? (s. Anm. 4), S. 12. 25 Vgl. a.a.O., S. 15–59; Zitat: a.a.O., S. 47. 26 F. M. Wuketits, Was Atheisten glauben (s. Anm. 7), S. 152.

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1.3 Unbekümmerter Atheismus: Kritische Bemerkungen

Um es so unumwunden wie unpolemisch zu sagen: Die Argumentation von Wuketits erscheint nicht eben tiefgründig. 27 Sein theoretischer Atheismus ist schwach begründet, sein praktischer Atheismus allzu unbedarft. Was zuerst den theoretischen Atheismus betrifft, so halten selbst einige prominente „Unglaubensgenossen“ von Wuketits dessen Position für falsch, ohne ihn direkt zu nennen. Hans Albert etwa meint, man verwechsele die Erkenntnisebenen, wenn man das Problem der Existenz Gottes allein aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse lösen wolle: „Das Problem der Existenz Gottes ist ein metaphysisches Problem, also kein Problem, das sich allein auf Grund von Resultaten der wissenschaftlichen Forschung lösen lässt.“28 Des weiteren konstatiert Norbert Hoerster speziell im Blick auf die begrenzte Reichweite der Evolutionstheorie: „Einige Atheisten vertreten heute die Auffassung, die moderne Evolutionstheorie habe den Gottesglauben widerlegt. Diese Auffassung ist falsch. Widerlegt hat die Evolutionstheorie, falls zutreffend, den speziellen Schöpfungsbericht der Bibel über die Entstehung der Welt, keineswegs aber die philosophische Annahme, dass die Welt letztlich von einem Gott erschaffen wurde, der die Entstehung des Lebens und seine Evolution bis hin zur Entstehung des Menschen schon mit dem Schöpfungsakt selbst geplant und dabei die (noch leblose) Materie entsprechend programmiert hat.“29

Und Herbert Schnädelbach schließlich sieht in einem Naturalismus, der die Philosophie aufgrund der (Natur-)Wissenschaften für über­flüssig hält und folglich meint, „dass die Evolutionsbiologie ge-

27 Wie weit das am überwiegenden Sachbuchcharakter seiner Ausführungen liegt, kann hier dahingestellt bleiben. 28 Hans Albert, Richard Schröders Kritik des neuen Atheismus. Ein kritischer Kommentar, in: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Jg. 17 (1/2010), S. (170–188) 186. 29 Norbert Hoerster, Was können wir wissen? Philosophische Grundfragen, München 2010, S. 106 f. An einer Stelle spezifiziert Wuketits übrigens selbst seine Behauptung, die moderne Evolutionstheorie habe die Schöpfungslehre widerlegt, in Bezug auf Genesis 1: „Die Vorstellung einer einmaligen Schöpfung der Erde und der Lebewesen ist mit der Evolutionstheorie nicht vereinbar.“ (F. M. Wuketits, Evolution [s. Anm. 20], S. 16)

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nüge, um sämtliche Rätsel des menschlichen Erkennens und Handelns aufzu­lösen“, einen Rückfall ins 19. Jahrhundert.30 In der Tat argumentiert Wuketits auch sonst allzu unbekümmert. So scheint es ihm entgangen zu sein, dass aus der (evolutionären) Entstehung verschiedener Phänomene wie Moral oder Religion für die Gültigkeit ihrer Ansprüche überhaupt nichts folgt. Zugespitzt gesagt: Sollten Moral und Religion, sollten die Ideen der Willensfreiheit sowie der Wahrheit aufgrund damit verbundener günstiger Überlebensper­ spektiven für die Menschen entstanden sein, können die damit erhobenen Geltungsansprüche gleichwohl berechtigt sein. Sicher können Illusionen Überlebensvorteile mit sich bringen. Ob sie aber in der Tat Illusionen darstellen, entscheidet sich keineswegs an ihrem evolutionären Nutzen. Oder will Wuketits die Wissenschaften ebenfalls als Illusionen einstufen, da sie ja ebenfalls evolutionär entstanden sind und entsprechende Überlebensvorteile mit sich bringen? Ebenso scheint Wuketits entgangen zu sein, dass man einem naturalistischen Fehlschluss aufsitzt, wenn man (moralische) Normen schlicht aus (evolutionären) Fakten ableitet.31 Außerdem können wir spätestens seit Schopenhauer wissen, dass Moral predigen zwar leicht, Moral begründen aber schwer ist. Ich habe demgegenüber bei Wuketits den Eindruck, dass er viel eher Moral predigt, als dass er sie irgend stichhaltig begründet – wobei ich hier dahingestellt lassen darf, ob seine Predigt eher gut oder schlecht ist. In jedem Fall ist die evolutionäre Erklärung dafür, dass eine atheistische Moral möglich ist, keine Begründung für eine solche Moral. 30 Herbert Schnädelbach, Was ist Philosophie? Über das Handwerk des Philosophen, in: ders. / Heiner Hastedt / Geert Keil (Hg.), Was können wir wissen, was sollen wir tun? Zwölf philosophische Antworten, Reinbek bei Hamburg 22011, S. (9–29) 13. Vgl. auch a.a.O., S. 14: „Die Naturalisten, die die Naturwissenschaften als die wahre Philosophie präsentieren, gehen in der Regel auch dazu über, deren Ergebnisse zu verallgemeinern und sie zu einem neuen, modernen Weltbild zusammenzufügen. Damit ahmen sie nur nach, was die Forschungswissenschaftler einst [sc. im 19. Jahrhundert; W.P.] dem Systemidealismus vorgeworfen hatten, nämlich sich von der wirklichen Forschungspraxis zu entfernen, sich über sie zu erheben, um sie dann ‚von oben‘ zu bevormunden.“ 31 Vgl. dazu Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, München 2013, S. 147–164, bes. 157: „Auch heute herrscht an naturalistischen Moralvorstellungen kein Mangel; sowohl die Evolutionstheorie wie die Genetik gelten vielfach als wissenschaftliche Grundlagen einer modernen Moralbegründung. Im Widerstand dagegen können die Philosophen wissen, dass sie mit der Kritik am Naturalistischen Fehlschluss über ein wirksames Gegenargument verfügen.“

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Wohlgemerkt will ich damit nicht behaupten, dass eine solche Begründung nicht möglich sei, dass Moral vielmehr – wie verschiedentlich und fälschlich behauptet wird – nur religiös begründet werden könne.32 Schließlich sei hier kritisch bemerkt, dass die Reduktion von Ideen wie Gott, Gerechtigkeit, Wahrheit auf ihren evolutionären Nutzen oder Nachteil bei Wuketits kaum gelungen sein dürfte, ja gar nicht gelingen kann. Denn diese Ideen greifen, obwohl evolutionär entstanden, weit über das vom Überleben geprägte biologische Leben hinaus. Und sie sind völlig unabhängig davon, ob die Individuen (kurzfristig) überleben oder die Menschheit (langfristig) überlebt. Das gilt ebenso von der Idee der (selbstlosen) Liebe, der es nicht um irgendwelche Überlebensvorteile geht, sondern um die Ausbreitung von Frieden, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit – durchaus nötigenfalls auch auf Kosten des Über­ lebens. Sind diese Ideen aber nicht gerade das, was das Besondere, mehr noch das Herausragende des Menschseins in der Evolution ausmacht? Gewiss sind „Heilige“ alles andere als repräsentativ für die „durchschnittlichen“ Menschen. Aber sind sie nicht gerade repräsentativ für das Besondere, Herausragende des Menschseins, und sind sie nicht als solche eine entscheidende Inspirationsquelle für Religion – weit ab von evolutionärem Nutzen? Das aber dürfte das eigentlich Erstaunliche sein: Dass die Evolution solche Ideen und solche Menschen hervorgebracht hat, die weit über sie hinausgreifen. Natürlich darf man daraus keine Schlüsse auf einen intelligenten Schöpfer und Planer der Welt ziehen; aber die bloße Tatsache darf man doch feststellen. Und man wird auch fragen dürfen, ob die etwas trotzig klingende Behauptung Wuketits’ von einem sinnvollen individuellen Leben ohne Gott in einer sinnlosen Welt irgend plausibel sein kann. Denn wenn das Individuum nicht auf ein „ewiges Leben“ hoffen darf, stellt sich nicht nur die Frage nach dem Wert seines moralischen Handelns;33 es stellt sich auch die Frage, ob Selbsttötung nicht 32 Nebenbei bemerkt: Der immer wieder einmal angeführte Satz Dostojewskis (aus „Die Brüder Karamasow“): „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt“, gilt weder im Blick auf die Begründung noch im Blick auf die Umsetzbarkeit von Moral. Er gilt aber im Blick auf den Wert der Moral. Denn warum sollen Menschen moralisch sein, wenn doch all ihr Tun und Lassen schließlich nichtig ist, keinen „ewigen“ Wert hat? Es ist dies die Frage, die Kant mit dem praktischen Postulat der Existenz Gottes beantwortet hat. 33 S. Anm. 32

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die sinnvollere Alternative zu einem Leben ohne Gott wäre. Diese Frage, für Camus seinerzeit die entscheidende philosophische Frage in einer gottlosen Welt, stellt sich für den Hedonismus von Wuketits freilich nicht. Insofern kann das eingangs Gesagte auch als Fazit gelten: Wuketits’ Argumentation gegen den Gottesglauben ist ebenso flach und folglich wenig überzeugend wie sein Plädoyer für eine atheistische Lebensweise.

2. Der traurige Atheist: Herbert Schnädelbach 2.1 Kulturkritik: Jenseits des Christentums

Herbert Schnädelbach hat mit einem im Mai 2000 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschienenen Artikel für viel Aufsehen und mehr oder weniger heftige Debatten gesorgt. Darin analysiert er „Die sieben Geburtsfehler einer altgewordenen Weltreligion“ im Sinne einer kulturellen Bilanz des Christentums nach 2000 Jahren.34 Er betont, dass er keine theologische Kritik liefern wolle, sondern eine kulturelle Bilanz der Wirkungsgeschichte des Christentums.35 Nun, diese Bilanz fällt verheerend aus. Denn einerseits sind die unleugbaren Segenswirkungen des Christentums gerade nicht die des Christentums, sondern die von Individuen, die „ihre Kraft stets aus den biblischen Beständen bezogen, die gar nicht spezifisch christlich sind, sondern jüdisches Erbe: z. B. das Liebesgebot.“36 Andererseits haben sich die „positiv prägenden Kräfte“ des Christentums „längst erschöpft oder sind übergegangen in die Energien eines profanen Humanismus“.37 Geblieben sind die sieben Geburtsfehler, die das Christentum nur dann beheben kann, wenn es sich selbst aufhebt.38 Denn diese sind nicht bloß „zeitbedingte Abirrungen“ 34 Vgl. zum Folgenden Herbert Schnädelbach, Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer altgewordenen Weltreligion. Eine kulturelle Bilanz nach 2000 Jahren, in: ders., Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen, Streitschriften, Frankfurt a.M. 2009, S. 153–173, sowie die dazugehörige „Nachschrift 2009“, a.a.O., S. 174–176. 35 Vgl. a.a.O., S. 174 f. 36 A.a.O., S. 153. 37 A.a.O., S. 173. 38 Vgl. a.a.O., S. 153.

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von seinem vermeintlich „heilen Kern“, entspringen sie doch dem Neuen Testament selbst.39 Die sieben Geburtsfehler sind: die Lehre von der Erbsünde, die Lehre von der Rechtfertigung als blutigem Rechtshandel, der Missionsbefehl, der Antijudaismus, die Eschatologie im Sinne der Johannesapokalypse, die Übernahme des Platonismus mit seiner Entwertung des „Diesseits“ sowie seiner Leibfeindlichkeit, schließlich der Umgang mit der historischen Wahrheit. Ich kann und muss Schnädelbachs scharfe Kritik hier nicht im Einzelnen ausführen, zumal sie in verschiedener Hinsicht stark zu bezweifeln sein dürfte. So ist es natürlich kaum durchführbar, eine Jahrtausende alte Religion mit ihren geradezu unendlichen Ausdifferenzierungen auf bloße sieben Grundmotive zu reduzieren.40 Und natürlich ist es fragwürdig, eine alte Religion auf ihre alten Ursprünge zu reduzieren. Diese und andere Einwände, mögen sie allenfalls berechtigt sein, würden jedoch nach Schnädelbach gleichwohl verkennen, dass das Christentum kulturell abgewirtschaftet hat: „Ich habe den Eindruck, dass das verfasste Christentum sein tatsächliches Ende längst hinter sich hat, aber ohne dies bemerkt zu haben.“41 Und wenn man dagegen etwa den modernen, aufgeklärten Protestantismus als Weiterentwicklung des Christentums anführen möchte, so muss man vielmehr konstatieren, dass sich darin „die christliche Religion weitgehend selbst abgeschafft hat“. Dieser Glaube ist längst in eine diffuse Religiosität abgeglitten, in „eine Art subjektiven Gestimmtseins (Stichwort ‚Spiritualität‘) mit einer neuerdings wieder attraktiven Erlebnisqualität“.42 „Was ist im Glauben als individueller Sinnstiftung, als Gefühl der Geborgenheit oder des Vertrauens in den Zusammenhang zwischen Ich und Welt denn noch spezifisch christlich?“ Von daher ist Schnädelbach „fest überzeugt, dass das traditionelle Christentum den Prozess der abend39 Vgl. Herbert Schnädelbach, Nicht bloß zeitbedingte Abirrungen vom heilen Kern des Christentums, in: Robert Leicht (Hg.), Geburtsfehler? Vom Fluch und Segen des Christentums, Berlin 2001, S. (161–170) 166. 40 Von christlichen Kritikern wurde Schnädelbach diese Reduktion denn auch wiederholt vorgehalten. Vgl. bes. die Beiträge von Eberhard Tiefensee, Arnold Angenendt, Hans Maier und Klaus Tanner in: R. Leicht (Hg.), Geburtsfehler? (s. Anm. 39). ­Natürlich wurde ihm auch vorgeworfen, dass er besonders die Erbsünden- und Rechtfertigungslehre wie auch die Eschatologie falsch verstanden habe. 41 H. Schnädelbach, Der Fluch des Christentums (s. Anm. 34), S. 173. 42 A.a.O., S. 138.

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ländischen Aufklärung langfristig nicht überstehen wird, und wo es weiterlebt, wie in der katholischen Dogmatik oder in den fundamentalistischen Sekten, fordert dies den Preis der Aufopferung der kritischen Vernunft, das sacrificium intellectus“.43 Die Zeiten des Christentums sind also für Schnädelbach vorbei; „die Quellen unserer religiösen Vergangenheit sprudeln nicht mehr. Das jüdisch-christliche und antike Erbe ist im aufgeklärten Humanismus unserer Tage angetreten und abgegolten. Das hat nichts mit Undankbarkeit oder gar Respektlosigkeit zu tun: Die profane Moderne ist unser Schicksal. Wir leben jenseits des Christentums.“44 Und wenn Christentum mit Religiosität gleichgesetzt wird, so wird es zur bloßen kulturellen Garnierung, „auf die die meisten Zeitgenossen ohnehin leicht verzichten“. Dementsprechend leben wir in der westlichen Kultur „faktisch in einer neuheidnischen, epikureisch gestimmten Kultur“, „in der auch die meisten, die sich noch Christen nennen“, faktisch-praktisch als Atheisten leben.45 2.2 Frommer Atheismus: Glaube und Wissen

Schnädelbachs Kulturkritik richtet sich, wohlgemerkt, nicht gegen die Religion überhaupt, sondern zunächst gegen das Christentum. Dennoch scheint er seine Kulturkritik zur Kritik an der Religion überhaupt zu erweitern, indem er sie als Glaubenskritik fortführt.46 Dabei ist Glaube für ihn eine vollkommene Gewissheit, an der nichts zu mindern ist, eine Evidenz, die keinen Zweifel kennt. Glaube ist also ganz da oder andernfalls nicht da. Es geht demnach beim religiösen Glauben nicht zuerst um bestimmte Glaubensvorstellungen bzw. -inhalte, sondern um ein das menschliche Leben insgesamt bestimmendes Grundvertrauen. Das heißt: Der religiöse Glaube (fides, faith) darf nicht kognitivistisch missverstanden werden. Er ist kein Fürwahrhalten (opinio, belief), das eine bloße Wahrscheinlichkeit von mehr als 0,5 bean­sprucht. Demgemäß kennt er auch keine Grade, „denn niemand betet zu einer Gottheit, 43 A.a.O., S. 176. 44 A.a.O., S. 127; folgendes Zitat: a.a.O., S. 138. 45 H. Schnädelbach, Nicht bloß zeitbedingte Abirrungen vom heilen Kern des Christentums (s. Anm. 39), S. 168. 46 Vgl. zum Folgenden bes. H. Schnädelbach, Der Fluch des Christentums (s. Anm. 34).

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von deren Wirklichkeit er nur zu 51 % überzeugt ist“.47 Folglich kann dieser Glaube nur als Ganzer verloren gehen, nicht schrittweise durch Argumente entkräftet werden. Das bedeutet freilich wiederum nicht, „dass hier kognitive Elemente keine Rolle spielen. Erfahrungen können den Glauben erschüttern, und umgekehrt muss man auch hier etwas für wahr halten können, um darauf […] vertrauen zu können.“48 Und gerade die Offenbarungsreligionen erheben ja auch „kognitive Geltungsansprüche“, das Geoffenbarte ist sprachlich verfasst, der Gott der Offenbarung befiehlt die Mitteilung des Geoffenbarten an andere, „und so kommen Urteile, Sätze, Aussagen, Behauptungen ins Spiel, die sämtlich die Eigenschaft haben, wahr oder falsch sein zu können“.49 Somit scheint die Unterscheidung zwischen Glauben als vollkommener Gewissheit, die dafür nur subjektiv ist, und Wissen, das ungewiss und fallibel ist, dafür aber transsubjektiv, nicht ganz leicht durchführbar. Gleichwohl ist Schnädelbach an einer scharfen Unterscheidung sichtlich interessiert. In dem Sinne meint er: „Glauben (fides, faith) und Wissen verhalten sich wie Gewissheit und Gewusstes, also wie ein subjektiver Zustand und ein objektiver Besitz zueinander. Von unserem Wissen, von dem wir annehmen, dass es aus wahren und gerechtfertigten Überzeugungen (beliefs) besteht, können wir nur in seltenen Fällen erwarten, dass es gewiss ist; in der Regel müssen wir uns mit wahrscheinlichem und fehlbarem Wissen zufrieden geben. Der religiöse Glaube hingegen besteht aus Gewissheiten, die kein Wissen bereitzustellen vermag.“50

Freilich ist eins klar: Wissen beruht auf Vernunft und diese ist wesentlich kritisch, nicht zuletzt selbstkritisch. Dementsprechend gilt grundsätzlich, „dass Vernunft und Kritik zusammengehören, dass also die Vernunft in ihrem Wesenskern kritisch ist und dass unkritische Vernunft auf faktische Unvernunft hinausläuft“.51 Dabei zielt die kritische 47 A.a.O., S. 83 f. 48 A.a.O., S. 84. 49 A.a.O., S. 94 f. 50 Herbert Schnädelbach, Mit oder ohne Gott? Religion im Streit der Meinungen, in: ders. / H. Hastedt / G. Keil (Hg.), Was können wir wissen, was sollen wir tun? (s. Anm. 30), S. (229–247) 238. 51 Herbert Schnädelbach, Vernunft, Stuttgart 2007, S. 14.

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Vernunft stets auf, wie gesagt fehlbares, Wissen, will folglich nicht dem Skeptizismus verfallen, der über den beständigen Zweifel nicht hinauskommt.52 Demzufolge liegt Schnädelbach sehr daran, dass die Philosophie als Anwältin der kritischen Vernunft sich weder in unkritischen Spekulationen verliert noch sich in eine Einzelwissenschaft hin­ein auflöst. Nein, Philosophie darf und soll durchaus ein in seinem Kern­ bestand wenig umstrittenes Wissen geltend machen. Dieser ihr eigener Wissensbestand „hat sich in der neueren Philosophiegeschichte im ständigen kritischen Dialog mit dem Tradierten herausgebildet. Ein solches Fundament einer jeden fruchtbaren Debattenkultur“ macht die Philosophie, „sofern die Philosophen nicht in den Bereich letztlich privater Weltanschauungen oder der Literatur auswandern, zu einer wissenschaftlichen Disziplin“.53 Wissen als der „Inbegriff wahrer, gerecht­ fertigter Überzeugungen“ ist, wie erwähnt, transsubjektiv, kommunizierbar, jederzeit diskutabel, d. h. aber auch immer fehlbar. „Wissen ist fehlbar, aber das ist kein Grund, auf den Wissensbegriff zu verzichten. Dies begründet die Differenz zwischen Skeptizismus und Fallibilismus, die häufig übersehen wird.“54 Vermutlich ist es Schnädelbachs Berufung auf die kritische Vernunft und das ihr zu verdankende Wissen als entscheidende Auszeichnung des Menschseins, die ihn zum Atheismus geführt hat. In jedem Fall ist sein Atheismus kein konfessioneller, der mit dem Bekenntnis auftritt: Ich glaube, dass es Gott nicht gibt. Einen solchen Atheismus hält er für einen Rückfall ins 19. Jahrhundert.55 Dagegen gesteht der Atheist im Sinne Schnädelbachs nur seinen Unglauben: Ich glaube nicht, dass es Gott gibt. Dieser Atheismus ist zeitgemäß, denn „Atheismus ist hierzulande schon lange nicht mehr primär Gegenglaube oder Antikonfession, sondern das, was das Wort besagt: ein Leben ohne Gott, Gott­ losigkeit als ein Nichtglauben, als Irreligiosität“.56 Und sofern ein solcher Atheist seinen Glauben verloren hat, mag er dies sehr wohl als Verlust 52 Vgl. a.a.O., S. 78. 53 H. Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann (s. Anm. 31), S. 15. 54 A.a.O., S. 30 f. 55 H. Schnädelbach, Der Fluch des Christentums (s. Anm. 34), S. 53. 79. 56 H. Schnädelbach, Mit oder ohne Gott? (s. Anm. 50), S. 240.

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empfinden, daher also „vielleicht sogar ein frommer Atheist [sein], der nicht anders kann, als das, was er nicht hat, ernst zu nehmen und seinen Verlust zu bedauern“.57 Da der Glaube dem frommen Atheisten abhanden gekommen ist, weiß er jedenfalls genau, was er nicht hat. Und „das unterscheidet ihn vom gelebten Atheismus der meisten Zeitgenossen, in dem die Gottesfrage gar nicht mehr vorkommt“.58 Seine Gemütslage ist daher zwiespältig: Auf der einen Seite ist das kindliche Bedürfnis nach Geborgenheit und tröstender Hoffnung nicht ganz zum Schweigen zu bringen, aber auf der anderen Seite steht das unabweisbare Erfordernis des „illusionslosen Erwachsensein-Müs­sens“.59 „Natürlich fällt es uns schwer, uns mit der Immanenz der profanen Welt zufriedenzugeben […], aber steht uns die Transzendenz nur deswegen offen, weil es gut wäre, wenn sie uns offen stünde? […] In der profanen Welt müssen wir erwachsen sein, und das heißt einsehen, daß Dinge nicht allein deswegen existieren, weil wir sie nötig haben.“60

Aus all diesen Gründen meint Schnädelbach, sich vom Gottesglauben verabschieden zu müssen, auch wenn das für ihn alles andere als ein leichter Abschied ist. 2.3 Bekümmerter Atheismus: Kritische Bemerkungen

Im Vorwort zu seinem Buch Religion in der modernen Welt bezeichnet sich Schnädelbach selbst als einen „nachdenkliche[n], irreligiöse[n] Sympathisant[en] der Religion“61. Nicht verwunderlich also, dass ­Joachim Kahl ihm einen „nostalgischen Atheismus“ attestiert, der den Glaubensverlust emotional noch nicht verarbeitet und sich insofern noch nicht konsequent genug von der Religion abgenabelt habe.62 57 H. Schnädelbach, Der Fluch des Christentums (s. Anm. 34), S. 55. 58 A.a.O., S. 81. 59 A.a.O., S. 80 f. 60 H. Schnädelbach, Nicht bloß zeitbedingte Abirrungen vom heilen Kern des Christentums (s. Anm. 39), S. 170. – Diese Sätze erinnern übrigens auffallend an analoge Formulierungen Freuds in seiner religionskritischen Schrift Die Zukunft einer Illusion. 61 H. Schnädelbach, Religion in der modernen Welt (s. Anm. 34), S. 9. 62 Joachim Kahl, Aktuelle Atheismus-Debatten. Ein strukturierender Überblick, in: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Jg. 17 (3/2010), S. (115–122) 120.

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Demge­gen­über wird Schnädelbach aber auch bescheinigt, dass sein Atheismus tiefgründiger sei als der aggressive neue Atheismus von Dawkins & Co., und er wird als solcher in der Tradition Nietzsches verortet, nicht in der Tradition von Feuerbach. Im Unterschied zu diesem nämlich habe er „ein scharfes Bewusstsein von dem, was fehlt, wenn Gott nicht existiert oder sein Tod im Sinne Nietzsches eingetreten ist“.63 Und nach der treff­lichen Charakteristik von Magnus Striet nehmen fromme Atheisten wie eben Schnädelbach in der Nachfolge Nietzsches „Gott, den Gott der Bibel, zu ernst, als dass sie ihm noch glauben könnten, da die Erfahrung dagegen steht. Und sie sind zu altmodisch humanistisch, als dass sie nach dem Tode Gottes nun dem Götzen belangloser Fröhlichkeit opfern könnten.“64 Insofern ist Schnädelbach als frommer zugleich ein trauriger Atheist. Und als solcher verdient er weder Mitleid noch Kritik, sondern vor allem Respekt, da er sich der Tragweite seiner irreligiösen Entscheidung sehr klar bewusst ist. Dass er seinen Glaubensverlust emotional noch 63 Ulrich H. J. Körtner, Neuer Atheismus, in: GlLern 28 (2013), S. (107–121) 117 f. – Auch U. Neuenschwander, Der moderne Atheismus (s. Anm. 3), hält Nietzsches Atheismus für den tiefsten, wobei er sich auf den Text über den Tod Gottes aus Die fröhliche Wissenschaft bezieht. Dagegen sei der Atheismus von Feuerbach, Marx und Engels flach. „Diese haben nie etwas von Gott begriffen. Gott war ihnen nie Gott.“ (S. 33) Tiefer als Nietzsche hingegen habe niemand gegraben. „Das 20. Jahrhundert hat über ihn hinaus fast nur noch das Phänomen gebracht, dass man nun, trotzig oder resigniert, sich zu dem Nihilismus bekannte, den Nietzsche mit solcher Leidenschaft zu überspielen versuchte.“ (S. 38) Ob sich Schnädelbach zum Nihilismus bekennt, weiß ich nicht. Was ich dagegen weiß, ist, dass er einen frohgemuten wissenschaftlichen Materialismus à la Wuketits weit von sich weisen würde und dass sein Ton eher resigniert als trotzig klingt. 64 Magnus Striet, Sorgen mit dem lieben Gott. Die Atheismusdebatte gewinnt wieder an Gewicht, in: ders. (Hg.), Wiederkehr des Atheismus. Fluch oder Segen für die Theologie? (Theologie kontrovers), Freiburg i.Br. 2008, S. (99–118) 115. Auch einige vorhergehende Sätze Striets seien wegen ihrer Prägnanz wenigstens anmerkungsweise zitiert: „Schnädelbach streitet sich für seinen Atheismus nicht um die Existenz oder Nichtexistenz Gottes. Er weiß, dass dieser Streit ergebnislos bleiben wird. Aber, obwohl damit die Möglichkeit Gottes theoretisch offenbleibt, folgt Schnädelbach Nietzsche. Dieser kon­statiert nur das Ende einer Glaubenstradition und rekonstruiert den Atheismus der europäischen Aufklärung als Folge eines christlichen Gebotes: dem der Wahrhaftigkeit.“ Und weiter: „Der Glaube kommt nachdenklichen Menschen nicht leichtfertig abhanden, wie Nietzsche schreibt. Er verschwindet wohl eher deshalb, weil die Enttäuschung über die Gottlosigkeit Gottes, seine immer wieder erfahrene Abstinenz der Welt gegenüber, den Glauben an sich selbst zerbrechen lässt. Die nachfolgende Konsequenz ist die menschliche Gottes­ abstinenz. Der einstmals geglaubte Gott stirbt einen langsamen Tod. Und unter Tränen verbietet sich der Mensch schließlich den Glauben an diesen Gott, freilich untröstlich bleibend, weil er weiß, welchen Gott er nicht mehr glauben kann und was dies für den Menschen bedeutet.“ (S. 114)

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nicht verarbeitet und sich folglich noch nicht konsequent von der Religion gelöst hat, wie ihm Kahl vorwirft, hängt in dieser Perspektive genau damit zusammen, dass er sich der Tragweite des erlittenen Verlustes im Unterschied zu Kahl bewusst ist. Mithin vertritt Schnädelbach eine respektable Gegenposition zum religiösen Glauben, die sowohl rational wie emotional als gleichwertig gelten darf.65 Gleichwohl scheint mir seine Charakterisierung des religiösen Glaubens im Unterschied zum fehlbaren Wissen fragwürdig zu sein. Denn die Gewissheit des Glaubens dürfte doch insofern von der Evidenz zu unterscheiden sein, als sie durchaus nicht vollkommen, vielmehr eher fragil ist, da der Zweifel in mehr oder weniger großem Maße zum Glauben gehört. Gewissheit (certitudo) bedeutet keineswegs Sicherheit (securitas) – wie ­bereits in der theologischen Tradition gesehen wurde. Wer dagegen behauptet, in seinem Glauben zu 100 % gewiss zu sein, täuscht sich über sich selbst und/oder ist dem Fanatismus verfallen. Selbst also wenn es im Unterschied zu konkreten Glaubensvorstellungen nur um ein elementares Grundvertrauen in eine göttliche Wirklichkeit geht, muss ich ein wie immer rudimentäres Verständnis dieser Wirklichkeit haben. Dieses anfängliche Verständnis aber ist fallibel, und viel mehr noch sind dies meine konkreteren Glaubensüberzeugungen.66 Insoweit scheint mir Schnädelbachs Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen nicht plausibel zu sein. Dennoch hat er recht, wenn er dem falliblen Wissen eine andere Erkenntnisqualität zumisst als den ebenfalls falliblen Glaubensüberzeugungen. Ich kann dies hier nicht weiter ausführen,67 verweise indessen immerhin darauf, dass die Glaubensüberzeu65 Eine weitere gleichberechtigte Position dürfte der Agnostizismus sein, der ja ebenfalls als eine Variante des Atheismus begriffen werden darf. Ich kann das hier nicht weiter ausführen, sondern verweise nur auf die Artikel von Horst Herrmann, Meine agnostische Sicht auf den Atheismus, in: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Jg. 17 (3/2010), S. 264–276, und Gerhard Engel, Vorüberlegungen zu einem Neuen Agnostizismus, in: a.a.O., S. 277–293. 66 Schon dass ich von einer göttlichen Wirklichkeit, nicht von Gott rede, bezeichnet ein gewisses (transpersonales, transmaskulines) Verständnis dieser Wirklichkeit, das alles andere als vollkommen gewiss ist. Und wer wie ich jahrzehntelang über verschiedenste Glaubensüberzeugungen eingehend re­f lektiert hat, wird sich kaum darüber hinwegtäuschen können, wie sehr sich diese Überzeugungen gewandelt haben bzw. mindestens wandeln können, mithin alles andere als vollkommen gewiss waren und sind. 67 Ich habe mich seinerzeit in meiner damals leider aus ideologischen (DDR) bzw. finanziellen (BRD) Gründen nicht gedruckten Dissertation ausführlich mit dieser Frage befasst:

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gungen durchgängig auf einer prinzipiell umstrittenen Grundentscheidung für eine wie auch immer konkreter gefasste göttliche Wirklichkeit beruhen, was für das Wissen nicht zutrifft. In einem Punkt allerdings möchte ich Schnädelbach entschieden widersprechen. Und das betrifft seine These, wonach das Wesentliche einer Religion allein in ihren Anfängen zu suchen ist. Denn das ist keineswegs der Fall, da sich Religionen vielmehr gewöhnlich in Ausein­andersetzung mit den unterschiedlichsten Herausforderungen weiter entwickeln – und dies keinesfalls, wie Schnädelbach mindestens zum Teil zu insinuieren scheint, nur zum Schlechteren. So darf man etwa die Lehre von der Erbsünde, eine bestimmte Form der Rechtfertigungslehre, die apokalyptische Eschatologie, den Missionsbefehl, den Antijudaismus sowie den Umgang mit der historischen Wahrheit (ganz zu schweigen vom Platonismus) durchaus nicht nur als Geburtsfehler, sondern zumindest ebenso als (Kinder-)Krankheiten des Christentums begreifen, die jedenfalls von einem liberalen Christentum längst überwunden sind. Und dass der moderne Protestantismus für Schnädelbach nichts mehr zu bieten hat, was spezifisch christlich ist, wäre, wenn es denn so wäre, schon gar kein Einwand. Denn die Religionen haben sich im Laufe ihrer mehr oder weniger langen Entwicklungen nachgerade selbstverständlich vermischt, so dass etwa diverse, zugegeben oft wenig reflektierte Synkretismen oder sehr genau reflektierte mehrfache Religionszugehörigkeiten mittlerweile keine Seltenheit mehr sind. Natürlich darf und muss man solche Entwicklungen philosophisch-theologisch kritisieren.68 Aber man darf m.E. energisch bestreiten, dass solche Entwicklungen eo ipso nichts als den Verfall von Religionen bezeichnen.69 Daher dürften schließlich auch die Zukunftsaussichten der Religionen im Allgemeinen Wolfgang Pfüller, Zum Problem der Wissenschaftlichkeit der Theologie. Kritische Erörterung der theologisch-wissenschaftstheoretischen Positionen G. Sauters und W. Pannenbergs, Diss. theol. Halle/Saale 1979. 68 Vgl. Wolfgang Pfüller, Atheistische Spiritualität – Patchwork-Religiosität – Mehr­ fache Religionszugehörigkeit. Stichworte zur Situation säkularisierter, multireligiöser Gesellschaften, in: Werner Zager (Hg.), Liberale Frömmigkeit? Spiritualität in der säkularen und multireligiösen Gesellschaft, Leipzig 2015, S. 149–169. – Insoweit nehme ich es Schnädelbach übrigens nicht ab, wenn er behauptet, dass er mit seiner scharfen Kritik an den Geburtsfehlern des Christentums nur eine kulturkritische Bilanz ziehen wollte, jedoch keine theologische Kritik intendierte. 69 Darauf weist zu Recht auch Thomas Schärtl hin: Neuer Atheismus. Zwischen Argument, Anklage und Anmaßung, in: StZ 133 (2008), S. 147–161. „Nur wenn man der Reli

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wie die eines vernünftigen Christentums im Besonderen nicht gar so trübe sein wie von Schnädelbach prognostiziert, zumal die westliche Kultur nun wahrlich nicht das Maß aller Dinge ist.

3. Weitergehende Erwägungen über Gott und die Welt Die bisherigen kritischen Erwägungen zu den atheistischen Positionen von Franz M. Wuketits und Herbert Schnädelbach erbrachten recht unterschiedliche Resultate. War der fröhliche Atheismus von Wuketits auf der Grundlage seines Naturalismus bzw. wissenschaftlichen Materialismus eher als oberflächlich einzuschätzen und daher entschieden zurückzuweisen, so erschien demgegenüber der traurige Atheismus Schnädelbachs auf der Grundlage der kritischen Vernunft als gleichwertige, respektable Gegenposition zum religiösen Glauben. Gleichwohl enthalten beide Positionen m.E. wichtige Herausforderungen für den religiösen Glauben, denen im Folgenden im Rahmen des hier Möglichen weiter nachgegangen werden soll.70 Ich lasse mich dazu von drei hauptsächlichen Gründen leiten, die Hans Albert für seinen Atheismus anführt.71 Wie bereits erwähnt, hält Albert das Problem der Existenz Gottes zu Recht für ein metaphysisches, also außerwissenschaftliches, nicht für ein wissenschaftliches Problem. Dennoch lassen sich s.E. auch metaphysische Auffassungen kritisch prüfen – und auch darin wie auch im Blick auf die folgenden drei Kriterien würde ich ihm zustimmen. Danach ist die Behauptung der Existenz Gottes im Blick auf (1) ihre Konsistenz, (2) ihre Kohärenz und (3) ihre Erklärungskraft zu ­prüfen. Nach Albert scheitert diese Behauptung auf der ganzen Linie.

gion die Fähigkeit zur Entwicklung einräumt und bereit ist, die Entwicklung des historischen und hermeneutischen Bewußtseins, die Entwicklung von Theologie insgesamt als legitime Entwicklung anzuerkennen, die gerade zu einer volleren und tieferen Form von Religion geführt hat […], wird man der Geschichte der christlichen Religion wirklich gerecht.“ (S. 157) 70 Es würde demgegenüber den Rahmen sprengen, wenn ich mich hier auch nur mit den anti-theistischen und pro-atheistischen Standardargumenten auseinandersetzen wollte, wie sie W. Klausnitzer / B. E. Koziel, Atheismus – in neuer Gestalt? (s. Anm. 1), S. 150–160, prägnant zusammengefasst haben. Einiges davon wurde allerdings bereits in den kritischen Bemerkungen zu Wuketits und Schnädelbach diskutiert. 71 Vgl. H. Albert, Richard Schröders Kritik des neuen Atheismus (s. Anm. 28), S. 186.

Der fröhliche und der traurige Atheist  |  177

Denn (1) ist sie inkonsistent, da sie das Theodizeeproblem nicht zu lösen vermag; (2) ist sie inkohärent, da sie mit den Resultaten der modernen Wissenschaften nicht vereinbar ist und (3) lässt sich mit ihr nichts erklären, d. h., die Hypothese der Existenz Gottes ist entbehrlich. Albert führt seine Behauptungen an der angeführten Stelle nicht weiter aus, verweist vielmehr auf seine anderen theologiekritischen Schriften. Darauf einzugehen, würde hier zu weit führen.72 Ich verwende vielmehr seine kritischen Einwände als Impulse für meine weitergehenden Erwägungen. 3.1 Gott

Will man die Behauptung der Existenz Gottes prüfen, muss man wenigstens ein anfängliches Verständnis von Gott haben, das dann gegebenenfalls im Laufe der Prüfung weiter präzisiert wird. Begreiflicherweise ist dieses Verständnis gerade bei Vertretern atheistischer Po­si­­tio­nen vor allem ein theistisches. Während nun bei Wuketits und Schnädelbach das Gottesverständnis eigentümlich vage bleibt, hat Norbert Hoerster dieses Verständnis mit wünschenswerter Klarheit und Präzision expliziert. Er geht demnach von einem monotheistischen bzw. theistischen Gottesbegriff aus, da dieser sowohl die religiöse wie die philosophische Tradition „unserer eigenen abendländischen Gesellschaft“ bestimmt. Danach hat „Gott“ folgende sechs Merkmale: 1) einzig, 2) ewig existent, 3) körperlose Person, 4) uneingeschränkt vollkommen, 5) Ursprung der Welt, 6) Erhalter und Lenker derselben.73 Nach Hoerster lässt sich die Existenz dieses Gottes weder durch die traditionellen Gottesbeweise, noch durch Verweis auf seine Offenbarung, noch auch durch seine Unersetzbarkeit für die Moral oder den Sinn des 72 Ich habe mich in meiner in Anm. 67 genannten Arbeit ausführlich mit Albert auseinandergesetzt. Vgl. auch Wolfgang Pfüller, Konsequenter Kritizismus? Zum Rationalitätskonzept Hans Alberts, in: KuD 27 (1981), S. 58–80. 73 Norbert Hoerster, Die Frage nach Gott, München 2005, S. 12 f. – In ähnlicher Weise versteht André Comte-Sponville, Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott, Zürich 2009, S. 86, unter „Gott“ in der Tradition der abendländischen Philosophie „ein ewiges, spirituelles und transzendentes (außerhalb und über der Natur stehendes) Wesen, das bewusst und willentlich das Universum erschaffen hat. Er gilt als vollkommen, allgütig, allwissend und allmächtig.“

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mensch­lichen Lebens begründen.74 Dabei gesteht er grundsätzlich zu, dass die Existenz Gottes „in einem sehr strengen Sinn“ weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Wenn man freilich die Frage von Beweis und Widerlegung in einem weniger strengen Sinn versteht, sondern als Frage, ob es ausreichend rationale Gründe gibt, an die Existenz Gottes zu glauben, oder ob dies nicht der Fall ist, dann ist die Existenz Gottes Hoerster zufolge allerdings widerlegt. Dazu kommt ein weiterer, sehr wichtiger Punkt, „der von Theisten gern übersehen wird. Derjenige, der die Existenz von X behauptet, und nicht derjenige, der die Existenz von X bezweifelt oder auch bestreitet, trägt für sein Urteil die Begründungslast.“75 Diese Last aber vermag der Theismus nicht zu tragen – ganz abgesehen von den Argumenten gegen die Existenz Gottes, die unter dem Stichwort der Theodizee zu verhandeln sind. Bevor wir zur Problematik der Theodizee kommen, stellen sich zunächst zwei Fragen: 1. Ist der klassische Theismus mit seiner personalen Gottesvorstellung noch zu halten? 2. Was ist zum Problem der Begründungslast zu sagen? 1. Nach Hoerster könnte etwa auch ein Wesen existieren, das nur die Merkmale 1, 2 und 5 erfüllt. Freilich wäre dieses Wesen nicht Gott im theistischen Sinn; Hoerster redet daraufhin von einem „göttlichen Wesen“.76 Ist aber nicht die theistische, personale Gottesvorstellung in der Tat zu anthropomorph? Auch Magnus Striet hält den Glauben an einen personalen Gott, der handelnd in das Weltgeschehen eingreift oder dies zumindest könnte, für zutiefst fragwürdig. Und er verweist auf fernöstlichen Religionen ohne solche Gottesvorstellungen, auf pantheistische und monistische Auffassungen, die sich „deutlich einfacher mit dem enormen kosmologischen und evolutionstheoretischen Wissen der Gegenwart verbinden“ ließen. Freilich erscheint ihm der Preis einer Aufgabe der personalen Gottesvorstellung offenbar doch zu hoch:

74 Vgl. dazu N. Hoerster, Die Frage nach Gott (s. Anm. 73), S. 18–86. – Ich kann das nicht im Einzelnen verfolgen, möchte aber immerhin darauf hinweisen, dass Hoerster vorbildlich klar und präzise argumentiert und dass ich ihm in seiner Argumentation weitgehend zustimmen kann. 75 A.a.O., S. 114. 76 Vgl. a.a.O., S. 13 f.

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„Wenn kein Gott ist, der dem Menschen als ein ansprechbares ‚Du‘ begegnen will, der dem Menschen Freund sein will, so wird es auch keine Rettung der menschlichen Individualität über den Tod hinaus geben.“77

Diese Verbindung zwischen personaler Gottesvorstellung und mensch­ licher Individualität erscheint plausibel. Nur ist fraglich, ob der gewiss traditionsreiche Gedanke der „Rettung der menschlichen Individualität über den Tod hinaus“ ebenso plausibel ist, und ob nicht der Preis einer anthropomorphen Gottesvorstellung seinerseits zu hoch ist, d. h., ob nicht deren Probleme zu groß sind. Das kann ich hier nicht weiter diskutieren.78 2. Sicher hat Hoerster insoweit recht, als die, die eine Position vertreten, begründungspflichtig sind. Und er hat m.E. auch darin recht, dass die Argumente für die Existenz Gottes, verstanden im theistischen Sinn, eher schwach sind. Jedoch ist dazu zunächst zu bedenken, dass die mangelnde Überzeugungskraft der Argumente durch den in Frage stehenden Gegenstand bedingt ist; es handelt sich eben bei der Frage nach der Existenz Gottes – mit Hans Albert zu reden – um ein metaphysisches, kein wissenschaftliches Problem. Sodann ist fraglich, ob sich die (naturalistische, materialistische) Gegenposition besser begründen lässt. Denn wie aus der wissenschaftstheo77 M. Striet, Sorgen mit dem lieben Gott (s. Anm. 64), S. 116f. – Im selben Band plädiert auch Klaus Müller in zwei Artikeln nachdrücklich gegen ein personales, allzu anthropomorphes Gottesbild für ein panentheistisches Gottesverständnis; vgl. ders., Atheismus als Gegenreligion. Die Gottesfrage als öffentlich-politisches Thema – und was die Theologie daraus zu lernen hat, S. 29–56, hier bes. S. 49; ders., Gottes Zorn, der Menschen Eifer und die theologische Vernunft. Zu Peter Sloterdijks affektanalytischer Gotteskritik, S. 77–97, hier bes. S. 79 f. und S. 87–89. Schließlich befürwortet auch Hans Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht, Kevelaer 2009, gerade im Hinblick auf das Verhältnis von Schöpfung und Evolution ein panentheistisches Gottesverständnis: „In dieser Perspektive ist und geschieht der gesamte kosmische Prozess (die Schöpfung) in Gott, in Gott von Gott begründet (‚geschaffen‘). Alles kommt schon immer in der unendlich aufgespannten Weite Gottes vor. Es gibt überhaupt kein Außerhalb Gottes, nichts und niemand kann aus ihm herausfallen.“ (S. 130) Aber für Kessler ist nicht nur alles in Gott, Gott ist auch seinerseits in allem, wenngleich in verschiedenem Maße; im geringsten Maße in allen Geschöpfen, in höherem Maße in Menschen, „die ihn einlassen“, will heißen in glaubenden Menschen, in höchstem Maße in Jesus von Nazareth (vgl. S. 138–143). Auf diese bemerkenswerten Überlegungen werde ich noch zurückkommen. 78 Vgl. Wolfgang Pfüller, Interreligiöse Perspektiven. Studien zur Religionstheologie und zur Komparativen Theologie (Interreligiöse Begegnungen, Bd. 10), Berlin 2012, S. 205–224; ders., Das Gottesverständnis im interreligiösen Dialog. Ein Testfall Komparativer Theologie, in: Werner Zager (Hg.), Glaubwürdig von Gott reden. Im Gespräch mit Paul Tillich, Leipzig 2012, S. 85–107.

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retischen Diskussion im Anschluss an Thomas S. Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen zu lernen war, ist eine Theorie nicht schon durch ihre mehr oder weniger großen Probleme widerlegt, sondern dadurch, dass sie durch eine überzeugendere Alternative ersetzt werden kann, die sich dann auch durchsetzt. Dies ist indes im Blick auf die Frage der Existenz Gottes keineswegs der Fall, wie nicht nur die jahrtausendealten Diskussionen zeigen, sondern auch und vor allem erkenntniskritische Überlegungen.79 Damit sind wir beim Problem der Theodizee. Hoerster hat die Problematik vorbildlich klar und präzise erörtert.80 Zunächst stellt er klar, dass der Atheist mit den Argumenten gegen die Existenz Gottes nicht „die Existenz schlechthin jedes göttlichen Wesens“ leugnet, vielmehr nur die „eines göttlichen Wesens, das sowohl allmächtig als auch allgütig ist, mit anderen Worten: die Existenz Gottes. Angesichts der unbezweifelbaren Übel in der Welt hält er ein Weltbild unter Einschluss der Existenz Gottes für in sich widersprüchlich und damit für irrational.“81 Denn der Theist vermag nicht zu zeigen, dass Gott nur Übel will bzw. zulässt, die eine „logisch zwingende Voraussetzung für die Herbeiführung höherer, die Übel an Wert übertreffender Güter sind“.82 Das aber müsste er zeigen, denn dass die unbezweifelbaren, teilweise verheerenden Übel lediglich eine tatsächliche Voraussetzung für höhere Güter sind, ist kein überzeugendes Argument, da Gott in seiner Allmacht auch andere Bedingungen bzw. Naturgesetze hätte schaffen können, zumal er deren verheerende Folgen in seiner Allwissenheit vorausgesehen hat.83 Wohlgemerkt, logisch Unmögliches kann man auch von Gott nicht erwarten. Er kann – um nur das bekannte Gedankenspiel anzuführen – keine so schweren Steine machen, dass er sie selbst nicht heben kann. Aber Hoerster zufolge hätte „ein sowohl allmächtiger als auch allgütiger Gott“ sehr wohl eine Welt mit weniger verheerenden Übeln (wie Krebs, Malaria, Erdbeben, Tierleid) schaffen können. Gegen ­diesen 79 Ich darf hierzu nochmals auf meine in Anm. 67 genannte Arbeit verweisen. 80 Vgl. N. Hoerster, Die Frage nach Gott (s. Anm. 73), S. 87–113; s. auch neuerdings ders., Wer hat die Beweispflicht für die Allgüte Gottes?, in: DZPh 63 (2015), S. 742–752. 81 N. Hoerster, Die Frage nach Gott (s. Anm. 73), S. 88. 82 N. Hoerster, Wer hat die Beweispflicht für die Allgüte Gottes? (s. Anm. 80), S. 746. 83 Vgl. a.a.O., S. 744–746.

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Einwand helfen jedenfalls sämtliche Verteidigungsstrategien der Theisten nichts.84 Und was die moralischen Übel anbelangt, so ist es doch sehr die Frage, ob das vermeintlich hohe Gut der Willensfreiheit die exorbitanten Folgen menschlicher Bosheit über­wiegt.85 Nach alledem zieht Hoerster folgendes Fazit: „Alles in allem geht kein Weg an der Feststellung vorbei, daß jedenfalls auf dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens die Existenz eines ebenso allmächtigen wie allgütigen göttlichen Wesens angesichts der vielfältigen Übel der Welt als äußerst unwahrscheinlich gelten muß.“86

Auch wenn Hoerster das Argument nicht diskutiert, wonach Gott zwingend keine vollkommene Welt schaffen konnte, da er sich nicht selbst verdoppeln konnte; auch wenn unsere Welt (zwingend?) nur in Gegensätzen zu funktionieren scheint:87 Es bleibt das Ausmaß des (menschlichen und tierischen) Leids. Gegenüber diesem bitteren Tatbestand bleibt auch Holm Tetens in seiner sorgfältigen Verteidigung des Theismus ratlos. Er muss zugestehen, dass es für den Theismus eine schwere Hypothek bedeutet, die Frage nach dem Ausmaß des Leidens unbeantwortet lassen zu müssen.88 Gleichwohl führt der Gedanke von Tetens weiter, wonach die naturalistische Gegenposition keine bessere Alternative zum Theismus zu bieten vermag. Denn natürlich stellt sich dem Naturalismus nicht das Problem der Theodizee, da er die Existenz Gottes verneint. Aber ebenso natürlich stellt sich ihm das Problem des verheerenden Leidens. Und davor bleibt er genauso ratlos wie der Theismus. „Mit Blick auf das Theodizee-Problem herrscht ein Patt zwi-

84 N. Hoerster, Die Frage nach Gott (s. Anm. 73), S. 93 ff. 85 A.a.O., S. 102 ff. – Außerdem ist das Argument der Willensfreiheit, das vor allem die Vertreter einer „free will defense“ bemühen, schon insofern schwach, als die bloße Tatsache der Willensfreiheit schon seit Jahrhunderten umstritten ist und aller Voraussicht nach auch bleiben wird. Vgl. dazu oben die kritischen Bemerkungen zur einschlägigen Auffassung von Wuketits. 86 A.a.O., S. 113. 87 Zu diesen u. a. Argumenten vgl. Wolfgang Pfüller, Theologie als Theiologie. Annäherungen an eine religiöse Theorie in christlicher Perspektive, Frankfurt a.M. u. a. 1998, S. 149–160. Ich habe dort allerdings selbst noch auf dem Hintergrund der Vorstellung von Gott als Schöpfer argumentiert. 88 Vgl. Holm Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015, bes. S. 55–79. Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich Andreas Rössler.

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schen Naturalismus und Theismus. Es ist mehr als nur ein Patt der Argumente, es ist ein Patt tiefer Ratlosigkeit.“89 Die Frage ist nun nochmals, ob nicht vor allem wegen des Problems der Theodizee das theistische Gottesverständnis verabschiedet werden muss. Und das heißt dann nicht nur, dass man sich von einem anthropomorphen, personalen Gottesverständnis trennen muss. Es heißt mehr noch, dass man auch ein dementsprechendes Verständnis Gottes als des Schöpfers der Welt zumindest in Zweifel ziehen muss. Lässt sich, so­gleich zugespitzt gefragt, die Welt nicht denken als raumzeitlich unendlich und ohne göttlichen Ursprung bzw. Urheber, ohne dass dadurch das Verständnis der göttlichen Wirklichkeit Wesentliches einbüßt? Sicher, nicht nur Hans Kessler würde Letzterem entschieden widersprechen. Er hält jedenfalls den Schöpfungsglauben für fundamental „für Bibel und Christentum“. Denn, so Kessler, wie soll man andernfalls „noch an ein Heil von Gott her glauben, an ein göttliches Wirken, an Versöhnung und Erlösung, an Rettung auch der Toten, an eine Gerechtigkeit und an Vollendung, wenn man redlich keine Instanz mehr annehmen kann, die das Ganze der Welt und unseres Daseins begründet, die Ur-Grund, Halt und Ziel von allem ist?“90 Hiermit spricht Kessler m.E. die entscheidende Frage an, nämlich die Heilsfrage. Denn (zumindest den meisten) Religionen geht es doch keinesfalls in erster Linie um die Frage nach dem Ursprung der Welt bzw. deren Ende, sondern vor allem um die Frage nach dem Heil für die Menschen und die außermenschliche Welt. Das kann man eindrücklich an der buddhistischen Überlieferung studieren, nach der Buddha die Fragen nach Ur­ sprung und Ende als spekulativ und sekundär unbeantwortet lässt, um sich vielmehr der Heilsfrage zuzuwenden. Und selbst noch in den theistischen Tendenzen des Mahayana-Buddhismus wird die Annahme eines Schöpfergottes verneint, nicht zuletzt eben mit Hinweis auf die 89 A.a.O., S. 79. – Freilich muss man sich gerade hinsichtlich dieser Patt-Situation klar­ machen, dass angesichts des teilweise verheerenden Leidens der Naturalismus keinerlei ­Heilsperspektive für die Menschen (oder gar für die Tiere) zu eröffnen vermag. Einen fröhlichen Atheismus kann man angesichts dessen wohl nur mit Scheuklappen vertreten, einen traurigen freilich durchaus sehenden Auges. Der Theismus kann demgegenüber eine entsprechende Heilsperspektive zwar erhoffen, nicht jedoch begründen, da sein Gottesverständnis zutiefst widersprüchlich bleibt. 90 H. Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht (s. Anm. 77), S. 13.

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Theodizee-Problematik.91 Reicht es also im Blick auf das Heil der Menschen sowie der außermenschlichen Welt nicht aus, die göttliche Wirklichkeit als die alles umfassende und alles durchdringende Heilsmacht zu begreifen,92 ohne sie zugleich als Ursprung der Welt begreifen zu müssen? Denn wieso soll die ja als qualitativ von der unendlichen raumzeitlichen Wirklichkeit unterschieden begriffene ewige göttliche Wirklichkeit nicht in der Lage sein, Heil für die Menschen sowie die außermenschliche Welt zu bewirken, auch wenn sie diese Welt nicht geschaffen hat? Freilich könnte man daraufhin gemäß der Anselm’schen Maxime („Gott“ ist das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann) fragen, ob ein Gott, der die Welt geschaffen hat, nicht größer sei als einer, der sie nicht geschaffen hat. Indes muss man sich dann wieder klarmachen, dass die göttliche Allmacht nicht ungerichtet, vielmehr auf das Heil gerichtet ist. Sie muss also vor allem als Heilsmacht verstanden werden. Und ob angesichts dessen ein Gott, der diese Welt mit ihren in der Tat exorbitanten Grausamkeiten und Verheerungen geschaffen hat, „größer“ ist als eine göttliche Wirklichkeit, die als alles umfassende und durchdringende Heilsmacht verstanden wird, scheint mir sehr die Frage zu sein. Natürlich muss diese Frage weiter diskutiert werden. Festgehalten werden darf aber in jedem Fall, dass durch die atheistische Herausforderung einschließlich vor allem der TheodizeeProblematik das theistische Gottesverständnis gravierend erschüttert sein dürfte. 3.2 Die Welt

Nachdem es in 3.1 um die Konsistenz des Gottesverständnisses vor allem in Anbetracht des überaus gravierenden Problems der Theodizee ging, bleiben noch die Fragen nach der Kohärenz sowie der Erklärungskraft der Behauptung der Existenz Gottes. Zur Frage der Kohärenz wurde bereits einiges unter 1.3 ausgeführt, was hier nicht wiederholt 91 Vgl. Johann Figl, Art. Atheismus I. Religionswissenschaftlich, in: RGG 4 1, Tübingen 1998, Sp. (873–875) 874. 92 Hierin würde sowohl das panentheistische (alles in Gott) wie auch das pantheistische (Gott in allem) Verständnis der göttlichen Wirklichkeit aufgehoben. Vgl. Anm. 77 zu Kessler.

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werden muss, sondern nur noch einmal pointiert werden soll. Folglich ist noch einmal festzuhalten, dass ein recht verstandener Theismus (und mehr noch ein rechtes Verständnis der göttlichen Wirklichkeit) nicht gegenüber den (recht verstandenen, d. h. nicht ihre Grenzen überschreitenden) Wissenschaften inkohärent ist, sondern nur gegenüber einem Naturalismus, der sich fälschlich als Wissenschaft geriert. Holm ­Tetens hat recht, wenn er den Naturalismus als Metaphysik einstuft. Denn dieser behauptet s.E. nicht nur: Es gibt die durch die Wissenschaften zureichend erkennbare Erfahrungswelt. Sondern: „Es gibt nur die durch die Wissenschaften erkennbare Erfahrungswelt.“ Damit aber stellt er „wie jede Metaphysik“ eine Behauptung „über das Ganze der Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr“ auf.93 Darüber hinaus ist nochmals zu unterstreichen, dass sich wissenschaftliche und theologische bzw. metaphysische Aussagen auf unterschiedlichen Ebenen bewegen und daher, sofern sie ihre jeweilige Reichweite nicht überschreiten, gar nicht inkohärent sein können. Denn wissenschaftliche Aussagen „erklären ein endliches Faktum durch ein anderes und dieses wieder durch ein anderes: eine unabschließbare Bewegung“. Damit aber verbleiben sie in jedem Fall „innerhalb der Welt bzw. innerhalb einer weltartigen Entität“.94 Demgegenüber ist das „Ganze der Welt, ihr erster Ursprung, ihr letztes Ziel und ihr Sinn nicht Gegenstand der empirischen Forschung. Daher sind nicht die naturwissenschaft­ lichen Theorien Widerpart des Glaubens, sondern die atheistischen, naturalistischen oder reduktionistischen Menschen- und Weltbilder.“95 93 H. Tetens, Gott denken (s. Anm. 88), S. 21. – Hansjörg Hemminger, Und Gott schuf Darwins Welt. Der Streit um Kreationismus, Evolution und Intelligentes Design, Gießen 2009, behauptet sogar eine Ähnlichkeit zwischen atheistischem Naturalismus und fundamentalistischem Kreationismus. Und dies insofern, als beide Positionen „die unerforschliche Größe des Schöpfergottes auf das reduzieren, was sie in Sätzen menschlicher Sprache denken können – die einen, um den klein gedachten Gott als unnötigen Zusatz aus ihrem Weltbild zu eliminieren, die anderen, um den klein gedachten Gott in ihr Weltbild einbauen zu können“ (S. 162). Dieser sicher nicht ganz unproblematische Satz zeigt immerhin einmal mehr, wie wichtig das Gottesverständnis in der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus (und dem Kreationismus) ist. 94 H. Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht (s. Anm. 77), S. 99 f. 95 H. Hemminger, Und Gott schuf Darwins Welt (s. Anm. 93), S. 183. Auf die Kohärenz „zwischen einem naturwissenschaftlichen und einem christlichen Weltbild“ sowie auf die unterschiedlichen Ebenen von theologischen und naturwissenschaftlichen Aussagen weisen auch W. Klausnitzer / B. E. Koziel, Atheismus – in neuer Gestalt? (s. Anm. 1), S. 262 f., hin.

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Bleibt die Frage der Erklärungskraft des Theismus. Natürlich kann er den Ursprung der Welt nicht erklären – wenn man darunter eine wissenschaftliche Erklärung versteht. Die Frage ist aber auch hier wieder die nach einer überzeugenderen Alternative. Und die kann der Naturalismus zweifellos nicht bieten. Denn er kann ebenfalls nicht erklären, warum überhaupt eine Welt existiert, warum diese gegebenenfalls einen Anfang hat oder eben nicht. Diese Fragen mit einem Schöpfergott zu beantworten, ist zwar eine traditionsreiche Möglichkeit, besagt aber letztlich auch nur, dass man keine allgemein verbindliche Erklärung hat. Und wenn man sich vom theistischen Gottesverständnis verabschiedet, um die göttliche Wirklichkeit allein als die alles umfassende und durchdringende Heilsmacht zu verstehen, erübrigt sich der Versuch, den Ursprung der Welt zu erklären. Was aber erklärt der Gottesgedanke dann? Nun, seine spezifische, nur ihm eigene Möglichkeit ist es, für die Menschen und die außermenschliche Welt eine Heilsper­ spektive zu eröffnen. Und das ist dann genau die Perspektive, die die Religionen seit je eröffnen möchten. Natürlich kann man diese Perspektive aus naturalistischer Sicht für illusionär halten. Man sollte aber nicht meinen, aus dieser Sicht eine ebensolche Perspektive eröffnen zu können. Dann nämlich wird der Naturalismus, so fröhlich er sich geben mag, unweigerlich flach und unbedarft. Demgegenüber ist der traurige Atheismus, der sich darüber klar ist, dass er keine Heilsperspektive zu eröffnen vermag, durchaus tiefgründig und prinzipiell dem religiösen Glauben ebenbürtig.

Schluss: Ein akademisches Problem? Abschließend bleibt die Frage, ob es sich bei dieser Auseinandersetzung mit den Atheismen von Wuketits und Schnädelbach nicht lediglich um ein akademisches Problem handelt, das praktisch weitestgehend irrelevant ist. Ist nicht ein theoretischer Atheismus eher marginal, während ein praktischer Atheismus zum Massenphänomen geworden ist? In dem Sinne meint auch Herbert Schnädelbach, dass die im Westen neuerdings lebhafte Religionskritik eigentlich obsolet sei, während schlichter Religionsverfall an der Tagesordnung sei:

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„Die meisten Zeitgenossen sind keine Christen mehr, aber sie wissen gar nicht, warum sie es nicht mehr sind und was das Christentum einmal bedeutete.“96

Und an anderer Stelle: „Was wir leben, nannte Ludwig Feuerbach praktischen Atheismus. Der wird aber nicht mehr begleitet von religiöser Symbolik und Rhetorik wie im 19. Jahrhundert, denn er ist so praktisch geworden, dass ‚Atheismus‘ selbst schon nicht einmal mehr ein Thema ist […]. So ist unsere Kultur nicht nur postchristlich, sondern auch postatheistisch.“

Nun mag diese kultursoziologische Diagnose durchaus zutreffen, wenngleich ich sie für verkürzt halte.97 Dennoch dürfte es sich spätestens an der Auseinandersetzung um das Gottesverständnis und besonders um die Theodizee-Problematik gezeigt haben, dass es im Vorigen um alles andere als um ein akademisches Problem zu tun war. Denn es ging zuerst und zuletzt um die Heilsfrage – wie ich sie abgekürzt ­genannt habe.98 Diese Frage aber ist nicht nur die entscheidende Frage im Blick auf die Religion und das Gottesverständnis; sie treibt die ­Menschen zudem seit Jahrtausenden um und tut dies auch heute sowie in absehbarer Zukunft, gleichviel ob die „westlichen“ Gesellschaften als postchristlich, postatheistisch oder als postsäkular charakterisiert werden. Deshalb ist m.E. nicht nur der praktische Atheismus ein Massenphänomen, sondern viel mehr noch Religion, Religiosität und Spiritualität. Und das gilt nicht nur global, sondern auch in Europa und Nordamerika. Gewiss sind diese Phänomene allesamt (also auch der praktische Atheismus!) ziemlich diffus, was aber in einer säkularen, multireligiösen Gesellschaft gar nicht anders sein kann. Umso wichtiger ist eine in klarer und präziser Argumentation geführte Auseinandersetzung um die Gottesfrage, wie sie hier versucht wurde und deren unverminderte Aktualität nicht zuletzt der „neue Atheismus“ unterstreicht.

96 H. Schnädelbach, Der Fluch des Christentums (s. Anm. 34), S. 34; folgendes Zitat: a.a.O., S. 123. 97 Vgl. meine in Anm. 68 genannte Arbeit. 98 Wie vielfältig und vielschichtig diese Frage ist, habe ich zu zeigen versucht in: Wolfgang Pfüller, Heil-werden im Ganzen. Eine Studie zum Begriff des Religiösen, Frankfurt a.M. u. a. 1999.

„Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel“ Neuer Atheismus und das Problem der Ethik Knut Berner

1. Rechtfertigung der Gottlosen: Theologische Zugänge zum Problem der Ethik Jede Auseinandersetzung mit alten und neuen Formen des Atheismus kann nur davon profitieren, dass nach Einsicht des christlichen Glaubens alle Menschen von Hause aus Atheisten sind. Geht es im Evangelium um die Rechtfertigung des gottlosen und gerade nicht des tugendhaften Menschen, dann ist damit zugleich die Absage an ein harmloses Menschenbild formuliert: Unbeschadet der empirisch zugänglichen graduellen Unterschiede in der religiösen Musikalität, des verschieden ausgeprägten Sinns und Geschmacks für das Unendliche, der mehr oder weniger indifferenten, agnostischen oder streitbaren Einstellungen zur Frage nach der Existenz eines höheren Wesens ist im Kern festzuhalten, dass Menschen Gott gegenüber keine gleichgültige, neutrale Position einnehmen. Intendiert und praktiziert wird vielmehr in aggressiver Weise die Negierung des Göttlichen; anders gesagt, der Mensch will im tiefsten Inneren nicht, dass Gott Gott ist, sondern möchte usurpatorisch selber diesen Platz einnehmen. Das Vorzeichen vor der Klammer, innerhalb derer das ganze Spek­ trum des Religiösen zu finden ist, lautet mit den Worten des Heidelberger Katechismus: ‚Ich bin von Natur aus geneigt, Gott und meinen

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Nächsten zu hassen‘.1 Zu erinnern ist ferner daran, dass die ersten Christen von ihren Zeitgenossen als Atheisten bezeichnet wurden, da sie aufgrund der exklusiven Verehrung ausgerechnet des gekreuzigten und auferstandenen Christus als zweiter Person der Trinität alle anderen Götter ablehnten. Hinzu kommt die epistemologische Irritation, die Hans Blumenberg so in Worte fasst: „Wo der Sendling des Vaters, der Bote aus einer anderen Welt gesprochen hat, muß jede Überzeugung, seine Botschaft verstanden zu haben, ein frommes Mißverständnis sein. […] Anders gesagt: Keiner hätte es jemals mit diesem Jesus aushalten können, hätte er die Zumutungen verstanden, die in seinen Worten und Forderungen enthalten waren. Man hielt es nur aus mit ihm, wenn man ihn nicht verstand und indem man sich der schönen Täuschung überließ, man habe ihn verstanden und dem Verstandenen genügt.“2

Die fundamentaltheologische Einsicht, dass kein Mensch von sich aus Gott näher ist als ein anderer, noch es auch nur sein möchte, evoziert als anthropologische Konsequenz, dass es ausschließlich an der Wirksamkeit Gottes liegt, ob ein Mensch an ihn glaubt und im Vertrauen an ihn sein Leben führt. Sicherlich gibt es mehr oder weniger günstige biographisch-kulturelle Bedingungen dafür, ob und wie ein Mensch ­religiös geprägt wird, und natürlich gibt es verschiedenste religions­ pädagogische Modelle, Praktiken und Bestrebungen, um ein Erwachsen­ werden mit Gott zu forcieren bzw. in späteren Jahren den Glauben zu vertiefen oder neu zu begründen. Jedoch ändert dies nichts daran, dass im Horizont des menschlichen Existierens als simul peccator et iustus alles an Gottes Aktivität liegt, was der grundständigen und gewollten ­Sündenverhaftung entgegensteuert, und der Mensch also rein passiv den Glauben von dem Gott empfängt, den er als in sich verkrümmter Mensch nicht einmal begehrt. Das Letzte, worauf man sich etwas einbilden darf, ist der eigene Glaube. Wie das Leben, das in jedem Moment und also jetzt erlöschen kann, so ist auch der Glaube stets fragil und kann zu jeder Zeit verloren gehen. 1 Antwort auf Frage 5 des Heidelberger Katechismus. 2 Hans Blumenberg, Notizen zum Atheismus. Aus dem Nachlaß, in: Neue Rundschau, Jg. 118 (2007), H. 2: Atheismus, S. (154–160) 154 f.

„Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel“  |  189

Nimmt man die Aussage ernst, dass alle Menschen von Hause aus Gottlose sind und sein möchten sowie im tiefsten Inneren und als Folge davon ihren Mitmenschen keineswegs wohlgesonnen sind, so hat das für die Ethik markante Konsequenzen. Die erste und wichtigste besteht darin, dass es sich bei unserer oft behaupteten Kompetenz zur Unterscheidung von Gut und Böse um keine tatsächliche, sondern nur um eine angemaßte handelt. Gut und Böse definitiv zu unterscheiden, ist allein Gottes Angelegenheit. Und zwar deshalb, weil niemand gut ist als Gott allein (Mk 10,18) und weil das Böse sich immer wieder gerade darin als böse erweist, dass es in aller Regel erst erkannt wird, wenn es schon zu spät ist und über sich selbst täuscht, weil es sich vorzugsweise im Gewand des vermeintlich moralisch Richtigen versteckt. Es macht seine Niedertracht aus, dass es sich an die guten Hoffnungen, edlen Projekte und besten Absichten des Menschen andockt und so vom selbst definierten Guten zehrt, etwa von der Werteorientierung, die fälschlicherweise für ein solides Fundament menschlichen Zusammenlebens gehalten wird. Es darf nicht vergessen werden, dass die Nationalsozialisten auch eine Wertegemeinschaft3 waren und ihre Verbrechen mit moralischen Argumentationen zu recht­fertigen suchten. Aus unserer Zeit wären etwa die moralischen Orientierungen von AlQaida4, aber auch von ihren Gegnern zu nennen, die dem Terror und der oft nicht minder verheerenden militanten Gegenreaktionen die ­Legitimationsbasis liefern. Schurken sind leicht zu identifizieren, und wer sich vorschnell selber auf der Seite des Guten verortet, kann individuell oder kollektiv leichteren Gewissens seine Vernichtungsaktionen durchführen. Nun wäre Ethik per se ein sinnloses Unterfangen, wenn Menschen sich nicht erfolgreich bemühen würden, in perspektivischer Begrenztheit das Richtige, das Falsche und das Erlaubte voneinander zu unterscheiden. Wäre das von vornherein aussichtlos, dann müsste jeder und jede tagtäglich um sein oder ihr Leben bangen – was sie auch müssen –, weil es keine verlässlichen Regeln gäbe, die Menschen voreinander 3 Vgl. z. B. Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a.M. 2010. 4 Anschauungsmaterial z. B. in Gilles Kepel / Jean-Pierre Milelli (Hg.), Al-Qaida – Texte des Terrors, München 2006.

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schützen. Diese Regeln und die damit zusammenhängenden Güterabwägungen und normativen Standardisierungen hochzuhalten, weiterzuentwickeln und in gewissem Maße auch interkulturell ihre Einhaltung einzufordern bzw. zu erzwingen, das ist für das Zusammenleben essentiell. Ich halte es aber für ebenso selbstverständlich, damit nicht einen naiven Philanthropismus zu verbinden. Eine Prinzipienorientierte Ethik steht immer vor dem Problem der moralischen Motivation. So lässt sich etwa an das diskursethische Modell von Jürgen Habermas5 die Frage stellen, warum sich Menschen überhaupt von ihren eigenen Interessen freimachen und für die Berücksichtigung der Perspektiven und Anliegen aller Anderen interessieren sollen, was die Grundvoraussetzung für die intersubjektive Erarbeitung und Etablierung (neuer) moralischer und auch rechtlicher Normen darstellt. Ein ähnliches Problem stellt sich bereits bei Kant. Denn selbst wenn es eine Achtung vor dem formal inhaltleeren moralischen Gesetz und ­seinem irreduziblen Anspruch an uns gibt, so ist doch die Lust an und Möglichkeit zur Maximenprüfung und damit der Einhaltung der Erfordernisse kategorischer Imperative schon dadurch begrenzt, dass die Maximenbildung im Letzten unerforschlich ist und der Wille zur Moralität zwar vorhanden sein mag, aber mit der Unlust zu seiner Umsetzung einhergehen kann, weil der Mensch krummes Holz6 ist und leichter Prinzipien formuliert, als sich im Konfliktfall an sie zu halten. Angesichts der Entscheidungsschwierigkeiten etwa in bioethischen Debatten bei der ­Interpretation des Tötungsverbotes oder der Frage der Legitimität von Gewaltanwendung gegen IS-Terroristen ist es plausibel, davon auszugehen, dass es im Kern ausschließlich moralische Dilemmata gibt, bei denen Richtig und Falsch nie sauber zu separieren sind. Was nicht davon zu ­dispensieren vermag, sich den Anstrengungen der Suche nach Kriterien, die for the time being Gültigkeit haben, zu widmen. Eine Utilitaristische Ethik entkommt den genannten Problematiken ebenfalls nicht. Die Frage, was im Interesse und zum Nutzen der größtmöglichen Zahl der avisierten Beteiligten ist, vernachlässigt nicht nur 5 Vgl. dazu Knut Berner, Gesetz im Diskurs. Konsequenzen theologisch-philosophischer Wirklichkeitsdeutung, Neukirchen-Vluyn 1997. 6 Vgl. dazu Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, Frankfurt a.M. 1992.

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den Minderheitenschutz, sondern steht in der Gefahr, Interessen häufig nur zu postulieren (etwa bei Komapatienten) und rationalistische Präferenzen (Kommunikationsfähigkeit) zu verabsolutieren, ohne die zugrunde liegenden anthropologischen Annahmen argumentativ auszuweisen. Für Dieter Birnbacher etwa steht es ohne nähere Begründung fest, dass der wohlerwogene Suizidwunsch eines terminal Kranken zu berücksichtigen und ethisch akzeptabel ist, während die Gesinnung eines „Bankrotteurs, der sich durch Suizid der Verantwortung entzieht, weniger vorbildlich [sei] als die eines buddhistischen Mönchs, der dadurch gegen den Vietnamkrieg protestiert“7. Die Frage ist aber virulent, auf welcher Basis manchen Interessen der Vorzug vor anderen gegeben wird. Und eine Ethik, die am Glück der größtmöglichen Zahl orientiert ist, muss sich schon mit der These konfrontieren lassen, dass die Menschen im Grunde gar nicht glücklich sein wollen. Zumal das Glück für die Einen sich häufig mit dem Unglück Anderer paart bzw. dieses als Resultat mit sich bringt. Probleme bereitet auch die Situationsethik, deren sympathischer Grundsatz ‚Liebe und tue, was Du willst‘ die Existenz vorhandener und zu entwickelnder Normen schlicht ignoriert und sich zudem nicht hinreichend darüber Rechenschaft ablegt, dass Menschen einerseits häufig die nicht leiden können, die sie lieben, und es andererseits auch Tötung aus (vermeintlicher) Liebe gibt, wie Michael Hanekes Film ‚Liebe‘ eindrucksvoll vorführt. Situationen sind immer mehrdeutig, und die Ethik tut gut daran, der im Spannungsfeld von Emotionalität und Rationalität agierenden und daher zum Diffusen und gelegentlich sogar zur Grausamkeit bei der Anpassung Anderer an eigene Wunschbilder tendierenden Liebe nicht die Suche nach dem Königsweg auf­ zubürden. Anstehende ethische Entscheidungen werden gerade von Außenstehenden häufig umsichtiger in den Blick genommen als von den Betroffenen, die aufgrund enger gefühlsmäßiger Bindungen akut vermindert urteils- und handlungsfähig sein können. Fazit: Ethik ist für das menschliche Zusammenleben unabdingbar, jedoch darin prekär, dass sie bei der Prüfung existierender und Ent7 Dieter Birnbacher, Suizid und Suizidprävention aus ethischer Sicht, in: ders., Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt a.M. 2006, S. (195–221) 207.

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wicklung neuer Normen nicht von einer moralischen Motivation zur situationsadäquaten Applikation derselben ausgehen kann. Und selbst wenn diese vorauszusetzen wäre, ist angesichts der Komplexität von Lebensverhältnissen noch die feinste Kasuistik damit überfordert, der Verborgenheit des Menschen und seiner Nichtdurchsichtigkeit gerecht werden zu können. Menschen tun, was sie tun, nicht allein und nicht einmal immer primär in reflektierter Weise. Auf der anderen Seite ist der mächtige Einfluss ethisch-normativer Regeln auf das Selbstbild und die Verhaltensbewertung nicht zu bestreiten. Der Beitrag theologischer Ethik kann darin bestehen, im Diskurs die taken-for-granted assumptions, die oft verschwiegenen impliziten anthropologischen Grundannahmen zu thematisieren und die Frage: ‚Was sollen wir tun?‘ mit der Frage ‚Wer sind wir bzw. wer wollen wir sein?‘ zu verknüpfen. Ferner kann sie auf der Einsicht bestehen, dass das Gute absconditer ist und aufgrund der prinzipiellen Asozialität des sündenverhafteten Menschen nicht auf dessen natürliche Neigungen zu humanen Verhaltensweisen sich selbst und Anderen gegenüber gesetzt werden darf. Ethik hat nicht mit der moralischen Integrität des Menschen zu rechnen, erschöpft sich jedoch auch nicht in Schadensbegrenzung. Sondern gerade weil sie damit rechnet, dass der Nächste immer auch Feind ist bzw. werden kann, zielt sie darauf ab, Verhältnisse so zu gestalten, dass sie der Menschwerdung aller Menschen zugute kommen, ohne dass dieses Gute sich verselbstständigen und handhabbar werden darf. Dafür sind Erfindungsregeln des Zuvorkommenden wie das Liebesgebot hilfreich und somit das Insistieren auf der Bedeutung von Imaginationen wie derjenigen vom Traum vom Frieden, die ihre Kraft daraus ziehen, „Rivalität in Regeln [des Miteinanders; K.B.] zu überführen“.8 Das irritierende Unvermögen, im Letzten nicht beurteilen zu können, ob das gelebte Leben das richtige Leben ist, teilen Christen mit allen anderen Menschen – auch mit Atheisten.

8 Joachim von Soosten, Feindesliebe. Konstellationen einer Grenzmoral, in: Torsten Meireis (Hg.), Gewalt und Gewalten. Zur Aus­übung, Legitimität und Ambivalenz rechtserhaltender Gewalt, Tübingen 2012, S. (203–224) 222.

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2. Lernen vom Vampir: Grundpositionen des neuen Atheismus Der neue Atheismus ist ebenso wenig wie der alte ein einheitliches Phänomen. Zu unterscheiden sind die Indifferenten, die Agnostiker und der ‚fromme Atheist‘9, der Gott nicht leugnet, aber den Glauben an ihn nicht hat, weil er ihm abhandengekommen ist. Er weiß, was er verloren hat, bekämpft den Glauben nicht, sondern gesteht zu, dass es in ihm um absolute Gewissheiten geht, während Menschen sich im Bereich des Wissens mit fehlbaren Wahrscheinlichkeiten10 zufriedenzugeben haben. Ebendies wird von den radikaleren Spielarten des neuen Atheismus geleugnet, die für eine Überwindung der Trennung von Wissenschaft und Glauben plädieren und Argumente für die jeweiligen Grundorientierungen fordern, was ein verheißungsvoller Ansatz für naturwissenschaftlich-theologische Diskurse sein könnte. Allerdings wird vom neuen Atheismus jede Form des Gottesglaubens per se abgelehnt bzw. vehement bekämpft. Deshalb, weil Religion als naiv und gefährlich angesehen wird, da sie ethisch verwerfliche Handlungen legitimiere und absurde Welterklärungen biete, die vor den Einsichten Darwins nicht bestehen könnten. Präferiert wird eine monistische Weltsicht, die die Evolutionstheorie verabsolutiert und in naturalistischer ­Manier nur das als Argument gelten lässt, was naturwissenschaftlich plausibilisiert werden kann. Gelegentlich finden sich allerdings statt ­Argumenten eher Geschmacksverwirrungen, so wenn Sam Harris meint formulieren zu müssen: „[…] infolge der jüngsten Fortschritte auf dem Gebiet des genetischen Engineerings wissen wir, dass fast jede Zelle in deinem Körper ein potenzieller Mensch ist. Jedes Mal, wenn du dir die Nase kratzt, hast du einen Holocaust an unzähligen potenziellen Menschen verübt.“11

Bezüglich der Beurteilung religiöser Praktiken und theologischer Lehren kommen Differenzierungsmöglichkeiten zwischen Natur und

9 Vgl. Herbert Schnädelbach, Der fromme Atheist, in: Magnus Striet (Hg.), Wiederkehr des Atheismus. Fluch oder Segen für die Theologie?, Freiburg i.Br. 2008, S. 11 ff. 10 Vgl. a.a.O., S. 18. 11 Sam Harris, Brief an ein christliches Land. Eine Abrechnung mit dem religiösen Fundamentalismus, München 32007, S. 53.

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Schöpfung nicht in den Blick, ein Denken von der Selbstidentifikation Gottes aus oder die Wertschätzung einer Perspektivenvielfalt, die auch narrative und metaphorische Interpretationen zulässt, werden als antiquiert abgelehnt. Stattdessen wird von Richard Dawkins in merkwürdiger Allianz12 mit seinen Erzfeinden, den Kreationisten, behauptet, dass Glaube und Wissen denselben Deutungsanspruch haben, wobei der Autor im Nachwort zu seinem Buch ‚Der Gotteswahn‘ eingesteht, dass er die Lektüre theologischer Bücher gar nicht für notwendig gehalten habe. Der monistische Ansatz ist religionstheoretisch defizitär, weil er nichts Neues mitzuteilen hat. Dass die Bibel nicht von Gott geschrieben wurde und heterogene Schriften enthält, ist seit Jahrhunderten bekannt. Auch wird die Bibel genauso wörtlich genommen wie bei den diagnostizierten Gegnern, wobei jeder Sinn für Hermeneutik und symbolische Interpretation offenkundig fehlt. Ebenso hat die Einsicht nichts Originelles, dass im Namen der Religion vielfach Gewalt ausgeübt wird, was aber noch nicht rechtfertigt, jeglichen Gottesglauben zu pathologisieren. Erkenntnistheoretisch erscheint es als problematisch, sich ausschließlich und unbefangen an der Natur zu orientieren, als hätte es Kants Einsicht, der zufolge wir zum ‚Ding an sich‘ keinen Zugang erlangen können, nie gegeben und als wäre nicht die Natur ‚unser Modell von ihr‘.13 Wie aus der Geschichte des Sozialdarwinismus eigentlich bekannt sein müsste, ist es mit beträchtlichen Schwierigkeiten behaftet, wenn aus der Annahme, es gäbe eine Erkenntnis der Natur an sich, Folgerungen für die Ethik abgeleitet werden. Schmidt-Salomon verstrickt sich hier in Widersprüche, weil er einerseits zwar naturalistische Fehlschlüsse vom Sein auf das Sollen ablehnt,14 andererseits in naturalistischer Manier sein Prinzip Eigennutz zu fundieren sucht und die Frage 12 So zu Recht Friedrich-Wilhelm Graf, Der „liebe Gott“ als blutrünstiges Ungeheuer. Richard Dawkins und Christopher Hitchens – ein biologistischer Hassprediger und ein liberaler Skeptiker greifen in ihren Büchern die Religion an, in: M. Striet (Hg.), Wiederkehr des Atheismus (s. Anm. 9), S. (21–28) 26. 13 Vgl. Valentin Braitenberg / Inga Hosp (Hg.), Die Natur ist unser Modell von ihr, Hamburg 1996. 14 Vgl. Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 22006, S. 94 ff.

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nach dem moralischen Sollen durch die ethische nach dem Können15 ersetzt. Das Fairnessprinzip soll einen Ausgleich zwischen den Interessen bringen und so Humanität in den Grenzen des naturgemäß Möglichen befördern. Fairness bedeutet aber in der Regel, jemandem Chancen zu geben und ihn bei der Realisierung sich selbst zu überlassen; Ethik im Sinne der zuvorkommenden und im Scheitern unterstützenden Hilfestellung ist damit schwerlich kompatibel. Auch fällt auf, dass im neuen Atheismus die Goldene Regel stets in ihrer negativen Form – also als Beachtung des Vermeidbaren – angeführt wird. Das setzt voraus, dass alle Menschen Schmerz und Leid in gleicher Weise erfahren, und ist sinnvoll, wenn es um die Vermeidung von Übelzufügungen geht. Die positive Fassung16 jedoch intendiert die aktive Suche nach dem zu Fördernden unter Berücksichtigung der Schwachen und ermöglicht z. B. das Bemühen um Befähigungsgerechtigkeit, während die an der Ökonomie der Gegenseitigkeit orientierte Ethik des neuen Atheismus sich eher auf die Durch­set­zungsstrategien der egoistischen Gene konzentriert und danach fragt, welches Verhalten sich bei der Arterhaltung auszahlt. Einig mit den neuen Atheisten in der Ablehnung jedes Gottesglaubens,17 aber auf einem ungleich höheren Niveau als diese, hat zwar schon Friedrich Nietzsche seine Aversionen gegen das Christentum naturalistisch-lebensphilosophisch eingebettet, sie aber zu einer konsequenteren Moralkritik zugespitzt, weil die Moral die Imagination verderbe: „Moral als grundsätzliche Verschlechterung der Phantasie, als 15 A.a.O., S. 102 f. wird deshalb gefolgert: „Wir müssen keineswegs in antinaturalistischer Weise unterstellen, dass Hitler, Stalin, Konstantin der Große oder Papst Innozenz III. sich aus ‚freien Stücken‘ zu ihren Untaten entschlossen haben, um diese ethisch verurteilen zu können“. 16 Vgl. dazu Christofer Frey, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, S. 144 ff. – Peter Henkel, Ach, der Himmel ist leer. Lauter gute Gründe gegen Gott und Glauben, Berlin 32010, S. 155, gesteht ein, dass die negative Fassung der Goldenen Regel nicht für jeden Einzelfall taugt und nicht die Reichweite des Universalisierungsanspruches zu ­erfüllen vermag. 17 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, München / New York 1980, S. (163–252) 225: „Das ist es nicht, was uns abscheidet, dass wir keinen Gott wiederfinden, weder in der Geschichte, noch in der Natur, noch hinter der Natur, – sondern dass wir, was als Gott verehrt wurde, nicht als ‚göttlich‘, sondern als erbarmungswürdig, als absurd, als schädlich empfinden, nicht nur als Irrthum, sondern als Verbrechen am Leben.“

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‚böser Blick‘ für alle Dinge“.18 Christlich motivierte Moral ist in dieser Per­spektive besonders schädlich, eine Lüge19, weil sie gegen die natürlichen Instinkte opponiert und den Übermenschen negiert, der sich dadurch auszeichnet, dass er nicht eine egalitäre Wertorientierung prä­ feriert, sondern sich von den ‚Niedrigen‘ absetzt und seine natürlichen Rechte in Anspruch nimmt: „Niemand hat heute mehr den Muth zu Sonderrechten, zu HerrschaftsRechten, zu einem Ehrfurchts-Gefühl vor sich und seines Gleichen, – zu einem Pathos der Distanz … […] Das Christenthum ist ein Aufstand alles Am-Boden-Kriechenden gegen das, was Höhe hat: das Evangelium der ‚Niedrigen‘ macht niedrig.“20

Im neuen Atheismus wird hingegen eine Ethik gelehrt, die zwar auch jenseits von Gut und Böse21 angesiedelt sein will, weil das Böse nur als ein Konstrukt interpretiert wird, mit dem man Gegner identifiziert, um sie besser vernichten zu können, die aber grundsätzlich – anders als Nietzsche – von einem freundlichen Menschenbild ausgeht, in dem Güte, Großzügigkeit und Altruismus allen Menschen gegenüber Platz hat und empfohlen wird. Zwar wird evolutionsbiologisch davon ausgegangen, dass wir alle Egoisten sind, weil die genetische Entwicklung jeder Spezies sich nur am Erfolg für die Nachkommen 22 und also an Populationsstrategien der Replikatoren orientiert. Für den Aufbau einer humanen Gesellschaft bietet das zunächst wenig Anschauungsmaterial, weshalb in einem epistemologisch-biologistisch fragwürdigen Analogieschluss parallel zur Wirksamkeit der Gene von sogenannten Memen ausgegangen wird. Diese werden als ‚Einheiten der kulturellen Vererbung‘ vorgestellt, als mentale Konstrukte, die ebenso einem natürlichen Selektionsprozess unterliegen wie die Gene, sich ebenso reifizieren und durchsetzen oder überwunden werden.

18 A.a.O., S. 194. 19 Vgl. a.a.O., S. 224: „Moral: jedes Wort im Munde eines ‚ersten Christen‘ ist eine Lüge, jede Handlung, die er thut, eine Instinkt-Falschheit, – alle seine Werthe, alle seine Ziele sind schädlich, aber wen er hasst, was er hasst, das hat Werth.“ 20 A.a.O., S. 218. 21 Vgl. Michael Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, München 42014. 22 Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, München 2007, S. 355.

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Religionen gehören wie alle Kultur zu solchen konkurrierenden Memen, und dem egoistischen Gen kann durch die kulturelle, ebenfalls als natürlich definierte Selektion so begegnet werden, dass es zu einem Ausgleich kommt und humane Werte die Pläne23 der Gene zu durchkreuzen vermögen. Es ist unschwer zu erkennen, dass damit die biologistische Fixierung verlassen wird, vom erbarmungslosen Kampf der egoistischen Gene kann der Mensch nur befreit werden durch Überwindung seiner biologischen Natur mittels einer kulturellen Selbsterlösung. Die Spannung zwischen genetischem Egoismus und moralischen Wünschen wird also einerseits behauptet, andererseits direkt wieder eingezogen, indem unter dem – bei den Religionen verteufelten – Objektivierungsmechanismus für Natur und Kultur dasselbe Selektionsschema zugrunde gelegt wird und für die Orientierung bezüglich der kulturellen Erfordernisse wiederum der Blick in die Natur empfohlen wird. Lernen können wir nämlich vom Tierreich. Dawkins vergleicht uns mit Motten und insbesondere mit Vampiren, deren Verhalten den Blick dafür schärfen soll, dass ‚nette Kerle‘24 als erstes ans Ziel gelangen können. Als hätte es Thomas Nagels Aufsatz ‚Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?‘25 – in dem m.E. überzeugend nachgewiesen wird, dass wir niemals einen Zugang dazu haben können, wie es sich anfühlt, ein Tier zu sein – nie gegeben, wird umstandslos empfohlen, vom Vampir sozialverträgliches Verhalten zu lernen: „Vampirfledermäuse lernen, bei welchen Individuen in ihrer sozialen Gruppe sie sich darauf verlassen können, dass Schulden (in Form von 23 Vgl. a.a.O., S. 38: (Wer wie ich) „eine Gesellschaft aufbauen möchte, in der die einzelnen großzügig und selbstlos zugunsten eines gemeinsamen Wohlergehens zusammenarbeiten, kann er wenig Hilfe von der biologischen Natur erwarten. Laßt uns versuchen, Großzügigkeit und Selbstlosigkeit zu lehren, denn wir sind egoistisch geboren. Laßt uns verstehen lernen, was unsere eigenen egoistischen Gene vorhaben, denn dann haben wir vielleicht die Chance, ihre Pläne zu durchkreuzen – etwas, das keine andere Art bisher jemals angestrebt hat.“ 24 Vgl. a.a.O., S. 382: „Wenn wir aber Mythen brauchen, so könnte uns das Verhalten der Vampire eine ganz andere Moralgeschichte lehren. Für diese Fledermäuse ist nicht nur Blut dicker als Wasser. […] Vampire könnten die Vorhut eines beruhigenden neuen Mythos bilden, eines Mythos des Teilens, der gegenseitigen Zusammenarbeit. Sie könnten den wohltuenden Gedanken verkünden, daß – selbst mit egoistischen Genen am Ruder – nette Kerle als erste ans Ziel gelangen können.“ 25 Vgl. Thomas Nagel, Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?, in: ders., Letzte Fragen, Hamburg 32012, S. 229–250.

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hochgewürgtem Blut) zurückgezahlt werden und welche Individuen Betrüger sind. Die natürliche Selektion begünstigt Gene, die das Individuum in Beziehungen mit ungleich verteilten Bedürfnissen und Gelegenheiten dazu veranlassen, etwas zu geben, wenn es dazu in der Lage ist, und sonst um etwas zu bitten. Außerdem begünstigt sie auch die Neigung, sich an Verpflichtungen zu erinnern, Groll zu hegen, Tauschbeziehungen zu überwachen und Betrüger zu bestrafen, die zwar nehmen, aber nicht geben, wenn sie an der Reihe sind.“26

Mit der Hinwendung zum Tierreich wird einerseits jegliche Form des Speziesismus abgelehnt – Menschen sind nicht prinzipiell höher gestellt als andere Arten –, andererseits die Religionskritik dahingehend forciert, dass es keinerlei Glaubens an ein höheres Wesen bedarf, um ethische Werte zu begründen. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass sich das Prinzip Eigennutz mit ethischem Handeln verbinden lässt, weil wir auch ohne Gott nicht einfach schrankenlose Hedonisten 27 seien und weil es sich eben lohne, dem Guten nachzustreben. Dabei wird nicht nur davon ausgegangen, es sei evident, was mit dem Guten gemeint und wie es zu erreichen sei. Sondern propagiert wird zusätzlich ein durchaus naives Menschenbild, in dem z. B. mit sentimentaler Attitüde auf das natürliche Mitleid28 mit anderen rekurriert wird, ohne sich auch nur ansatzweise die Ambivalenz des Mitleidens klarzumachen, die darin besteht, dass Mitleid diskursethisch gesehen eine Form der Herabwürdigung des Anderen sein kann und sich etwa dann tödlich 29 auszuwirken vermag, wenn die Bemitleidenswerten aus der Menschheit herausdefiniert werden. Flankiert von der Prämisse, dass wir in einem freundlichen Universum und auf einem freundlichen Planeten leben,30 bedarf es nach Dawkins’ Lesart überhaupt keiner besonderen Moralbegründung, denn

26 Richard Dawkins, Der Gotteswahn. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel, Berlin 6 2007, S. 301. 27 Vgl. a.a.O., S. 315. 28 Vgl. a.a.O., S. 307: „Wenn wir einen unglücklichen Menschen weinen sehen, müssen wir einfach Mitleid empfinden (auch wenn dieser Mensch nicht mit uns verwandt ist und ­unsere Hilfe nicht vergelten kann).“ 29 Vgl. Klaus Dörner, Tödliches Mitleid. Zur Sozialen Frage der Unerträglichkeit des ­Lebens, Neumünster 2007. 30 Vgl. R. Dawkins, Der Gotteswahn (s. Anm. 26), S. 199.

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„[…] in der Frage, was wir tatsächlich für richtig und falsch halten, besteht eine überraschend weitreichende Übereinstimmung. Dieser Konsens steht jedoch in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Religion. […] In unserer Mehrzahl fügen wir anderen nicht unnötig Leid zu; wir glauben an die freie Meinungsäußerung und treten selbst dann dafür ein, wenn wir mit dem Inhalt der geäußerten Meinungen nicht einverstanden sind. Wir bezahlen unsere Steuern, wir betrügen nicht, morden nicht, begehen keinen Inzest, tun nichts, das wir auch von anderen nicht erleiden wollen.“31

Die lange Liste aufdringlicher Problematiken von Naturkatastrophen, Tsunamis, Kriegen, Krankheiten, kollektiver und individueller Schick­ salsschläge, die traditionell noch die Rede von der besten aller Welten tangierte und immerhin zur differenzierenden Rede vom Malum metaphysicum, Malum physicum und Malum morale führte, wird hier zugunsten einer rundum optimistischen Schau eingezogen. Kein Platz für Reflexionen zur Pathetik des Elends. Dass es Konsens auch in falschen Überzeugungen geben kann, wird ebenso wenig problematisiert wie die Sicht vom ehrlichen, wohlmeinenden Bürger, die von der Fehlbarkeit des Menschen, dem nie ganz vermeidbaren Leben in der Unwahrhaftigkeit und dem Vorhandensein des Zweckwidrigen vollständig ab­ strahiert. Die Entproblematisierung zwischenmenschlicher Konflikt­ lagen und moralischer Dilemmata lastet es den ‚Religiösen‘32 allein an, wenn ethische Probleme erzeugt werden, die nur scheinbar solche sind, etwa die Sterbehilfe oder der assistierte Suizid. Die im Sinne des naturalistischen Monismus Vernünftigen haben solche Pro­bleme nicht, auch deshalb, weil sie unbekümmert den ‚Stand der Zivilisation preisen‘ sowie einer Fortschrittsideologie frönen, die die Verbesserung der Verhältnisse von der eigenen Art erwartet und sich darin schon weit ent­ wickelt sieht: Denn „[…] im 21. Jahrhundert sind die meisten von uns ­einander viel näher, und wir sind den Menschen aus dem Mittelalter, aus der Zeit Abrahams und noch aus den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts weit voraus“.33

31 A.a.O., S. 364 f. 32 Vgl. a.a.O., S. 494. 33 A.a.O., S. 367.

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Solche intellektuell bedrückend schlichten Statements lassen nicht nur ein Gespür für die Zwiespältigkeit menschlicher Nahbeziehungen vermissen, die Richard Sennett34 so präzise herausgearbeitet hat. Sie offenbaren auch ein Verharren in träumender Unschuld, da die ­Fortschrittsgeschichte der Gewalt im 21. Jahrhundert mit seinen asymmetrischen Kriegen, eklatanten Gewaltexzessen, Hungersnöten und ­Migrationserfahrungen sowie insgesamt seinen anthropologisch-systemischen Konfliktpotentialen gänzlich aus dem Blick geraten ist. Orientierung angesichts ethischer Herausforderungen, wie sie etwa durch das Internet und die anonymisierten Beschämungspraktiken durch den ‚virtuellen Pranger‘35 entstanden sind, kann diese Fixierung auf Nahbeziehungen nicht bieten. Während Dieter Birnbacher 36 immerhin der christlichen Ethik ein bedenkenswertes Dilemma attestiert und als ein ethisches Problem festhält, dass sich religiöse Gemeinschaften partikular orientieren (müssen) und die Vernunft auf Universalisierbarkeit drängt, begnügt sich Dawkins mit der nicht näher begründeten These, dass die ‚meisten von uns‘ sich ja näher gekommen sind – was immer das bedeuten mag mit Blick auf die Fernstehenden, die in anderen Kulturen und Kontexten missachtet und gefoltert werden. Evolutionskulturelle Vermutungen scheinen hier die Notwendigkeit der Begründung und Anwendung universaler ethischer Normen obsolet machen zu wollen. Vom Ansatz her weiterführender für ein Gespräch mit christlichethischen Modellen ist das Insistieren von Michael Schmidt-Salomon auf der Notwendigkeit einer Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit. Erstere ist seiner Ansicht nach eine Illusion, da Menschen von genetischen und anderen arkanen Determinanten be34 Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M. 1993. 35 Vgl. dazu Jennifer Jacquet, Scham. Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls, Frankfurt a.M. 2015, v. a. S. 136 ff. 36 Vgl. Dieter Birnbacher, Das Dilemma der christlichen Ethik, in: Edgar Dahl (Hg.), Die Lehre des Unheils. Fundamentalkritik am Christentum, Hamburg 1993, S. 144–155. – Der nicht immer unbegründete Vorwurf a.a.O., S. 150: „Mit emphatischen Leerformeln wie ‚Verantwortung‘, ‚Humanität‘, ‚Menschenwürde‘ oder ‚Gerechtigkeit‘ werden rhetorische Erfolge eingeheimst, ohne daß ernstlich darangegangen würde, diese Begriffe inhaltlich zu differenzieren und zu konkretisieren“, trifft jedoch gerade auf atheistische Lehren á la Dawkins zu.

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stimmt sind und sich daher subjektiv nicht anders verhalten können, als sie es jeweils tun. Moralische Verantwortung eines Mörders ist daher nicht gegeben, auch Hitler und Stalin mussten aufgrund ihrer Voraussetzungen, ihres Werdeganges und ihrer Sinnkonzepte zu Mördern werden. Letztere, also die Handlungsfreiheit, ist aber im ethisch-juristischen Sinne dennoch gegeben, denn „wir alle können nichts dafür, dass wir so sind, wie wir sind“,37 können und müssen aber trotzdem im Sinne einer objektiven Verantwortung für Fehler einstehen und aus ihnen lernen, um zu wachsen, das echte Freiheitsgefühl38 zu leben und zu einer Leichtigkeit des Seins zu finden. Diese besteht darin, anstelle einer als unrealistisch disqualifizierten Orientierung an metaphysischen Setzungen von Gut und Böse, die für Schmidt-Salomon nur der Markierung von Feinden dienen, zwischen Wohl und Wehe zu unterscheiden, sich und anderen das eigene Sosein zu vergeben und auf der Suche nach einem sinnerfüllten Leben in einen wachstumsfördernden Flow zu geraten, einer inneren Harmonie, die sich entspannt mit der Ungerechtigkeit der Welt abfindet und sich ­zugleich am Fairnessprinzip orientiert. Anstatt einem fatalen Mem­plex zu folgen, der sich an der Sündhaftigkeit des Menschen festmacht, wird empfohlen, mit Logik und Empirie vorhandene Sinnkonzepte zu prüfen und Schuldkomplexe hinter sich zu lassen, um dem „Paradigma der Unschuld“39 entsprechend zu leben. Fazit: „Nach dem Abschied von der Willensfreiheit wird das hedonistische Leben leichter, da der Genuss der Sinnlichkeit nicht mehr durch etwaige Schuldgefühle gehemmt wird. […] Das Projekt des sinnerfüllten Lebens wird unterstützt, da auch diejenigen, die sich von der Idee von Schuld und Sühne befreit haben, ihr Leben in den Dienst einer ‚höheren Sache‘ stellen können. […] Die Chancen auf ein aktives Leben werden gestärkt, da Menschen, die vergleichsweise geringe Versagensängste haben, eher bereit sind, sich jenen wachstumsfördernden Herausforderungen zu stellen, aus denen Flow-Erlebnisse resultieren.“40 37 M. Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse (s. Anm. 21), S. 209. 38 Vgl. a.a.O., S. 200 ff. 39 Vgl. a.a.O., S. 301: „Wer das Paradigma der Unschuld verinnerlicht hat, der wird auch in den hartnäckigsten Feinden von Freiheit und Gerechtigkeit Menschen sehen – nicht Dämonen.“ 40 A.a.O., S. 238.

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Aus christlicher Perspektive wird man es einen Fortschritt nennen dürfen, wenn die Freiheit des Menschen nicht in der Weise überdimensioniert wird, dass davon ausgegangen wird, wir seien ständig in der Lage, uns selber zu durchschauen und handelnd zu verändern. Die Sinnhaftigkeit eines möglichst umfassenden Verzeihens speist sich tatsächlich aus der Einsicht in die menschliche Undurchsichtigkeit, die gegen einen hypertrophen Moralismus und für das Führen eines Lebens mit beschränkter Haftung41 zu markieren ist. Dies ist gerade gegen Tendenzen geltend zu machen, auch die Kirche primär als Wertegemeinschaft zu profilieren. Wenngleich die Fragen42 zu stellen sind, woher die Freiheit genommen werden kann, sich selber und anderen zu vergeben, inwiefern es Unverzeihliches gibt und ob es überhaupt immer angemessen ist, um Vergebung zu bitten oder sie zu gewähren. Dass der Mensch in seinem Willen zunächst einmal irreduzibel gebunden ist und daher zur Freiheit befreit werden muss, ist Kernsatz der reformatorischen Ethik. Allerdings ist dies nicht als Selbstbefreiung möglich, und es gilt im Übrigen auch für die Handlungsfreiheit und die Suche nach dem Guten, dass es sich um Passivitätsaktivitäten 43 handelt – da Gott allein gut ist, verdanken sich alle guten Werke seiner Initiative am sündigen Geschöpf. Wenngleich klar ist, dass eine atheistische Position diese Einsicht nicht zu teilen vermag, so erscheint es doch als allzu einfach, wie Schmidt-Salomon sich den Abschied von der Moral zugunsten einer Ethik der entspannten Beziehungen vorstellt. Wenn Lebenslust, Racheverzicht und der gute Gebrauch der Handlungsfreiheit so leicht zu lernen sind, wie der Autor suggeriert, dann stellt sich die Frage, warum Menschen töten, sich das Vergeltungsdenken behauptet und es zudem merkwürdige Phänomene gibt, die zum propagierten Altruismus aus Eigennutz nicht recht passen wollen: Kant spricht von „einem Hange,

41 Vgl. Knut Berner, Leben mit beschränkter Haftung. Studien zur Systematischen Theologie, Leipzig 2008. 42 Vgl. dazu Knut Berner, Vergeben und Vergessen – Zwillinge von Gottes Gnaden. ­Konsequenzen evangelischer Rechtfertigungslehre, in: DtPfrBl 10/2013, S. 557–562. 43 Vgl. Infolf U. Dalferth, Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des ­Menschen, Tübingen 2011, S. 72.

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denjenigen zu hassen, dem man verbindlich ist, worauf ein Wohltäter jederzeit gefaßt sein müsse“,44 sowie davon, dass „es im Unglück meines besten Freundes etwas gibt, was mir nicht ganz mißfällt“.45 Dass auch ohne Rekurs auf die christliche Lehre von einer irreduziblen Fehlbarkeit des Menschen46 gesprochen werden muss, die (Handlungs-)Freiheit immer problematisch bleibt, weil man – nach Auskunft des Atheisten Sartre47 – zu ihr verurteilt ist, das Fairnessprinzip zur Benachteiligung derer führt, denen gerade keine Chancen gegeben werden, und die intendierte Leichtigkeit des Seins sowie die probate Glücksorientierung vielleicht daran scheitern könnten, dass die Menschen gar nicht glücklich sein wollen – all das findet in Schmidt-­ Salomons Easy Living-, Easy Going-Konzept keinerlei Beachtung. Gespeist aus einem unreflektierten Naturalismus und gepaart mit einem naiven Urvertrauen in Logik und Empirie, das insofern selber ein Zeugnis für das Paradigma der Unschuld darstellt, als der Verfasser von erkenntnisleitenden Interessen und epistemologischen Prämissen anscheinend noch nie gehört hat, wird eine Ethik auf der Basis eines allzu harmonischen Menschenbildes zu etablieren versucht. Der schlichte Appell, sein Leben nach eigenem Gutdünken zu führen und mit Blick auf sich und andere zwischen Wohl und Wehe zu unterscheiden, vergisst über lauter Rekursen auf unser aller angebliches ‚Können und Müssen‘48 die Beantwortung der Frage, wie es sein kann, dass die Natur ein Wesen hervorspielte, das die eigenen und fremden Lebensgrundlagen so hartnäckig, systematisch und nicht selten vorsätzlich zerstört.

44 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (21794), in: ders., Werke in zehn Bänden (Studienausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel), Bd. 7, Darmstadt 1983, S. (645–879) 681. 45 Ebd. 46 Vgl. Paul Ricoeur, Die Fehlbarkeit des Menschen, Freiburg i.Br. / München 21989. 47 Vgl. aus reformatorischer Sicht Max J. Suda, Der Begriff der Freiheit nach Martin Luther und Jean-Paul Sartre. Ein Vergleich, in: Friederike Nüssel (Hg.), Theologische Ethik der Gegenwart. Ein Überblick über zentrale Ansätze und Themen, Tübingen 2009, S. 137–163. 48 Vgl. die Aufzählung in M. Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse (s. Anm. 21), S. 310 f.

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3. Ethik für alle Menschen: Schlussthesen 1.  Ethik hat als eine ihrer vordringlichsten Aufgaben darauf abzuzielen, dass kein Mensch diskriminiert und diffamiert wird, welcher welt­ anschaulichen Überzeugung er oder sie auch anhängt. Dies ist nicht nur ein rechtsstaatliches Gebot, sondern mehr noch im Sinne des christlichen Glaubens, der davon ausgeht, dass Gott nie nur mein Gott ist, sondern ebenso der aller anderen Menschen, ob sie an ihn glauben oder nicht. In diesem Sinne geht es um das Einüben einer Dialogfähigkeit, in der alle Deutungsansätze, Prämissen, Überzeugungen, Natur-, Menschen- und Gottesbilder artikuliert werden dürfen und unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Voraussetzungen der Beurteilung durch andere ausgesetzt werden. Wahrheitssuche erfordert zunächst einmal die Bereitschaft, die jeweils andere Seite anzuhören und nicht vorschnell zu verurteilen. 2.  Der christliche Glaube kann vom Gespräch mit dem neuen Atheismus lernen, ethische Positionen nicht dezisionistisch zu markieren, sei es durch Reminiszenzen an das Naturrecht, Schöpfungsordnungen, eine kulturell etablierte Moralmatrix oder einen unmittelbar zugänglichen Willen Gottes. Er kann ferner von seinen eigenen Voraussetzungen aus dazu beitragen, die Ambivalenz des Religiösen mit zu bedenken. Zum einen aufgrund der auch im vermeintlich säkularen Zeitalter zu diagnostizierenden „Wiederkehr der Götter“49, zum anderen aufgrund der Skepsis gegenüber selbstgemachten Gottesbildern, eingedenk der Aussage des frühen Karl Barth: „Religion kann man niemandem wünschen oder anpreisen oder zur Annahme empfehlen“.50 3.  Der Positionierung neuer Atheisten kann es zugute kommen, wenn sie sich nicht nur auf fundamentalistische Religionsvertreter kaprizieren, sondern die Religionen von ihren eigenen Voraussetzungen ernst nehmen, wozu auch die Wahrnehmung der erheblichen Differenzen in den Menschen-, Gottes- und Schriftverständnissen gehört. Das Chris49 Vgl. dazu Friedrich-Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der ­modernen Kultur, München 22004. 50 Karl Barth, Der Römerbrief (Bearbeitung von 1922), Zürich 131984, S. 241.

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tentum ist keine Religion der Tugendhaften, sondern lehrt die Recht­ fertigung des Gottlosen. Das muss die Kirche allerdings selber gegen Tendenzen zur Moralisierung im Inneren immer wieder neu ausbuch­ sta­bie­ren lernen und öffentlich erkennbar machen. Erkenntnistheoretisch wäre im Gespräch mit dem neuen Atheismus vor allem zu bedenken, dass es keine unmittelbaren Zugänge zur Natur gibt und geben kann, die sich orientierende Vernunft geschichtlichen Wandlungsprozessen unterliegt und der Zivilisationsprozess aufgrund der Verquickungen mit alten und neuen Formen von Barbarei in ethischer Hinsicht nicht als Fortschrittsgeschichte beschrieben werden kann. Ein wesentlicher Beitrag des christlichen Glaubens dazu ist die Einsicht, dass das Richtige und das Falsche nicht auf der Hand liegen, sondern mühsam angesichts neuer Herausforderungen separiert und in Kriterien überführt werden müssen, ohne dass es letzte Gewissheiten über gelingende Lebensvollzüge geben kann und geben muss. 4. ‚Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel‘. Angesichts der vom neuen Atheismus vorgenommenen Entproblematisierung des Ethischen bleibt es eine Aufgabe, das Konstrukt der damit avisierten moralisch-ethischen Integrität zu hinterfragen und die postulierte Menschenfreundlichkeit zu entzaubern. Menschen bedürfen nach Einsicht des christ­ lichen Glaubens der Befreiung durch ein Außerhalb ihrer selbst, damit sie gnädig mit anderen und mit sich selber umgehen. Und: Was ist das Ziel, an das die ‚netten Kerle‘ zuerst kommen? Bessere Chancen bei der Arterhaltung? Vorteile im sozialen Leben? Steigerung des Prestiges und der Macht? Das Telos müsste genauer definiert werden, denn es ist zunächst einmal subjektiv-kontingent, während die normative Ethik einen intrinsischen Verallgemeinerungsanspruch hat. Und wenn dem christlichen Glauben aufgrund seines eigenen Deutungsarsenals die anthropologische These vom Prinzip Eigennutz nicht fremd ist, muss geklärt werden, was denn ethisch daran ist, wenn naturalistisch imprägnierte Zielvorstellungen erreicht werden. Wer hat die Deutungshoheit über Ziele und wem kommt es zugute, wenn diese erreicht werden? Und mit welchen Mitteln? Die alte Lehre von den Handlungen mit doppelten Wirkungen kann daran erinnern, dass gerade das ethisch Legitimierte sich unter der Hand negativ auswirken kann.

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5.  Vom (neuen) Atheismus kann sich das Christentum positiv dazu herausgefordert fühlen, sich an der Suche nach einer Ethik für alle Menschen ohne metaphysische Setzungen zu beteiligen. Diese hat aber nur dann Realisierungschancen, wenn Identitätsfragen, Menschenbilder und erkenntnisleitende Prämissen im Diskurs thematisiert werden. Sowohl für Begründungs- als auch für Anwendungsdiskurse spielen die anthropologischen Grundannahmen und in der Praxis die leiblich-geistig-seelischen Bedingungen, unter denen Menschen leben, eine zentrale Rolle. 6.  Schließlich: So gewiss der vom neuen Atheismus behauptete Konsens bezüglich dessen, was gut und schlecht ist, hinterfragt und letztlich zurückgewiesen werden muss, so gewiss ist es eine ethische Aufgabe von zunehmender Dringlichkeit, sich mit Themen- und Konfliktfeldern auseinanderzusetzen, die nicht personalisiert werden können und die aufgrund ihrer Tendenz zur Verselbstständigung aus dem Blick zu geraten scheinen, gerade dann, wenn als Orientierungsgröße Naturprozesse herangezogen werden: Geldkreisläufe, Waffengeschäfte, Drogenund Organhandel, Erleichterungen und Kränkungen durch den Einsatz von Maschinen, Computerkriminalität, Umweltzerstörungen etc. Mehr als die probate Lehre vom legitimen Hedonismus kann das Insistieren auf einem Leben mit beschränkter Haftung dazu anleiten, Freiheit des Menschen mit Zwängen und positiver wie negativer Passivität zusammenzudenken. Verantwortung muss nicht bestritten, aber darf auch nicht überdimensioniert werden, so gewiss diejenigen Problematiken eher zunehmen dürften, die sich den Beurteilungs- und Einflussmöglichkeiten der Individuen entziehen. Nach Einsicht des christlichen Glaubens liegt es letztlich nicht am Menschen, ob das eigene Leben gelingt bzw. die Welt erhalten wird oder nicht. Es liegt aber auch nicht an blinden genetischen Selektionsprozessen. Sondern an dem Gott, der in religiösen Vorstellungen und Bildern nicht aufgeht, als das Geheimnis der Welt51 im Verborgenen wirkt und sich selber als Liebe definiert hat. Auch wenn diese Sicht nicht alle teilen wollen oder können.

51 Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 41982.

Das atheistische Gehirn Der Unglaube im Blickpunkt von Kognitionsund Evolutionsforschung Michael Blume

1. Das Leid der Yeziden und die Theodizee-Frage Lassen Sie mich eingangs vom Yezidentum berichten – einer monotheistischen Religionsgemeinschaft mit etwa einer Million Angehörigen. Etwa sieben Zehntel leben noch im Irak, bereits mehr als ein Zehntel in Deutschland. Diese global gesehen eher kleine Religionsgemeinschaft hat schon Dutzende, oft blutige Verfolgungskampagnen durch ihre ­Tapferkeit und ihren Kinderreichtum überlebt. In der Türkei ist das ­kurdischsprachige Yezidentum bereits fast erloschen, doch der jetzige Völkermord im Irak und in Syrien durch den selbsternannten „Islamischen Staat“ mit massenhaften Ermordungen, Zwangskonvertierungen und der Versklavung von Frauen und Kindern übersteigt alles, was diese Gemeinschaft in den letzten Jahrtausenden durchleben musste. Aus der Sicht jeder rationalen und liberalen Theologie wäre hier wohl zu fragen: Wieso lässt Gott das zu? Wieso lässt Er zu, dass Hunderttausende Menschen nur aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit – ihres Glaubens an Ihn – diskriminiert, verfolgt, ja ermordet werden? Und wieso lässt Er zu, dass Sein Name millionenfach von Dieben, Mördern und Vergewaltigern missbraucht wird, die sich bei ihrem schändlichen Tun auf Gott, den Koran und den Propheten berufen? Und wo war Er, als in der Geschichte auch europäische Christen gegen Andersglau-

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bende – wie gegen Juden – und untereinander – wie im Dreißigjährigen Krieg – solche Massaker angerichtet haben? Aus dieser Perspektive der Theodizee wäre es wohl völlig verständlich, wenn sich Hunderttausende vom religiösen Glauben abwenden würden. Und tatsächlich brodelt es gerade auch unter jüngeren Muslimen, die zunehmend kritisch nach dem Versagen der islamischen Geistlichen und der heuchelfrommen Ölmonarchien fragen und sich mit den üblichen Rechtfertigungsversuchen und Verschwörungstheorien nicht mehr zufrieden geben wollen. Und wie es auch im Anmeldefaltblatt zu dieser Tagung heißt, „kann“ auch der sogenannte „neue Atheismus“ als „Reaktion auf den Terror­ anschlag islamistischer Attentäter auf das World Trade Center am 11. September 2001 verstanden werden. Er richtet sich aber nicht nur gegen fundamentalistische Ausprägung der Religion, sondern auch gegen den Gottesglauben überhaupt.“ Zugleich aber beobachten wir im Angesicht von Leid und Krise eine massive Rückkehr zu den Religionen und Ritualen. Das religiöse Oberhaupt, der Baba Sheikh, hatte im Yezidentum klassisch eine eher zeremonielle Rolle als Hüter der Rituale, die weltliche Macht lag zuvörderst in der Familie des Mir („Prinzen“). Doch im Angesicht der brutalen Gewalt und Angst erleben wir einen Zustrom der Menschen zum Heiligtum nach Lalisch, eine neue Vergewisserung der eigenen Wurzeln und eigenen Gemeinschaft und eine Sehnsucht nach den Ritualen, Symbolen und nicht zuletzt dem Segen der Geistlichen. Und indem der Baba Sheikh bewusst auch jene Frauen und Kinder preist und segnet, die zwangskonvertiert wurden und denen sexuelle Gewalt angetan wurde, hinterfragt er alte Traditionen und Ehrbegriffe. „Not lehrt beten“ wissen der Volksmund und die empirische Religionssoziologie, doch dieses „aus der Not geborene“ Beten enthält auch stets den Keim der Reform. Zeiten der Krisen sind auch immer wieder Phasen von religiösen Aufbrüchen, ja Neugründungen gewesen.

2. Religiosität als eine Fähigkeit menschlicher Gehirne Religiosität in traditionellen wie auch neuen Formen, religiöser Fundamentalismus, ja Extremismus und Atheismus sind verschiedene und je-

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weils natürliche Ausprägungen des Denkens und Glaubens, die unsere menschlichen Gehirne hervorbringen. Und die Forschungen zu der Frage, warum und wie sie das tun, haben in den vergangenen Jahrzehnten und Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht – und machen sie weiter. In einem ursprünglichen Sinne eröffnet wurde die Frage nach der Evolution und Kognition von Glauben und Unglauben dabei von einem Theologen, von dem Sie sicher schon manches gehört haben: Sein Name war Charles Darwin. Ja, Darwin hatte in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Studien­ abschluss erworben; den eines Bachelors in anglikanischer Theologie, immerhin als Zehntbester seines Jahrgangs. Und in seinem zweiten Hauptwerk zur Evolution des Menschen von 1871 hat er ganz selbstverständlich auch ganze Unterkapitel, Definitionen, Vergleiche und Vorschläge zur Entwicklung des Gottesglaubens formuliert. Für Darwin war völlig klar, dass auch Religiosität ein schlüssig erforschbarer Teil unserer Natur und Naturgeschichte sein musste, wenn die Evolutionstheorie zutreffen sollte. Und wenn sich schon nicht alle seiner religionsbezogenen Thesen als empirisch haltbar erwiesen haben, so doch sehr viele. Aber es dauerte leider länger als ein Jahrhundert, bis ausreichend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich wieder auf die interdisziplinären Spuren dieser Fragestellung machten. Heute erscheint fast im Monatsrhythmus ein neues, meist bemerkenswertes Buch rund um diese Forschungen, finden jährlich mehrere spezialisierte Kongresse statt und erscheint mit „Religion, Brain & Behavior“ sogar ein eigenes Fachjournal dazu. Früher hätte man hierbei von einem „Paradigmenwechsel“ gesprochen und tatsächlich fluten neue Studien und Erkenntnisse in einem solchen Ausmaß über uns herein, dass wir kaum damit hinterherkommen, sie zu erfassen und interdisziplinär fruchtbar zu machen. Religiosität und Spiritualität – die wir später genauer definieren werden – treten als natürliche Bestandteile von Gehirnfunktionen in den Blickpunkt der Forschung. Sie erweisen sich dabei als ebenso flexibel und formbar wie zum Beispiel die Sprachfähigkeit und vor allem die Musikalität, die in verschiedenen Lebensphasen und -situationen auch ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen kann. Auch in Darwins eigenem, religiösem Leben entdecken wir beispielsweise erhebliche Schwankungen und Entwicklungen: Nach der Prä-

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gung durch eine früh verstorbene, religiöse Mutter und einen freidenkerischen Vater finden wir im frühen Erwachsenenalter eine starke, nahezu fundamentalistische Hinwendung zum Glauben, gefolgt von einer langen Phase religiöser Skepsis im Dialog mit seiner lebenslang christlichen Gattin. Gerade auch vor dem Hintergrund des qualvollen Todes mehrerer seiner Kinder tendierte Darwin zunehmend zu einem Agnostizismus, ohne der Religion die Existenzberechtigung abzusprechen. Insbesondere die noch immer zu hörende Auffassung, nach der sich ein wissenschaftliches Verständnis von Evolution und ein aufge­klärter Gottesglaube ausschließen sollten, hielt er zeitlebens für „absurd“. Entsprechend widersetzte sich Darwin auch Vereinnahmungsversuchen von Religionskritikern – darunter schon damals auch einer deutschsprachigen Delegation! –, die freilich nach seinem Tod bis zum heutigen Tag weitergingen. Und in seinem letzten Lebensjahr begeistert sich der bedeutendste Gelehrte des 19. Jahrhunderts dann auch noch für ein Buch, das die Vereinbarkeit von wissenschaftlichem und religiösem Glauben nicht nur behauptet, sondern zeitgemäß beschreibt: „The Creed of Science“ von William Graham.

3. Hatte Charles Darwin ein „religiöses“ oder ein „atheistisches“ Gehirn? Weder – noch. Wie die allermeisten von uns hatte er ein Gehirn, das in verschiedenen Lebensphasen zu religiösen, spirituellen und magischen Erfahrungen in der Lage war, Ereignisse aber auch rational re­f lektierte und mit buchstäblich schmerzhaften Widersprüchen etwa der Theodizee-Frage rang. Und da er – als Rentier aus dem Erbe seines Vaters und seiner Frau – ein Leben lang existenziell gesichert leben konnte, setzte auch bei ihm ein erwartbarer Trend zur Säkularisierung ein: Keine Not lehrt Nicht-mehr-Beten. Doch neben dem Beten (der Religiosität) können wir auch die Meditation und also Spiritualität in den Blick nehmen. Studien zeigen Schwerpunkte von Hirnfunktionen, die bei spirituellen Erfahrungen

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umfassender Einheit gedämpft sind. Denn das ist eben die heute zunehmend verwendete Arbeitsdefinition von Spiritualität: die Fähigkeit zu Entgrenzungserfahrungen, zur Aufweichung oder gar Aufhebung der Ich-Umwelt-Abgrenzung. Spiritualität kann dabei religiös konnotiert sein, muss dies aber nicht. Sie können sich, beispielsweise im Ritual, eins mit der Gemeinde oder gar der Gottheit erfahren; aber ebenso ganz ohne Bezug zu höheren Wesen als eins mit dem Fußballverein, dem Wald oder dem materiellen Universum. Im hohen Alter beklagte Darwin, die spirituell-religiöse Erfahrung nicht mehr erfassen zu können, die ihn als jungen Erwachsenen beim Anblick des brasilianischen Regenwaldes ergriffen hatte. Ebenso beschreibt der deutsche Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon in seinem explizit gegen religiöse Lehren gerichteten Buch „Jenseits von Gut und Böse“ eine erhebend-beglückende, spirituelle Erfahrung, die ihm vor vielen Jahren unvermittelt passiert sei. Freilich habe er lange gebraucht, darüber sprechen und schreiben zu können, habe er doch mit negativen Reaktionen seiner humanistischen und atheistischen Umgebung rechnen müssen. Inzwischen sei die Zeit aber reif, so SchmidtSalomon, um für eine nichtreligiöse Spiritualität einzutreten, ja zu werben: Zumindest bei jenen Menschen, denen sich solche Erfahrungen durch Veranlagung, durch Übung oder beides erschlössen. Und tatsächlich gehört zu den bislang erfolgreichsten Büchern zur Spiritualität in Deutschland das lesenswerte „Meditation für Skeptiker. Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst“ von Ulrich Ott.1 Nicht nur Religiöse, sondern auch Atheistinnen und Atheisten können ganz ohne Bezüge zu höheren Wesen meditieren und durch Übung – bisweilen aber auch spontan – spirituelle Erfahrungen machen.

4. Religiosität ist eine soziale Erfahrung Häufig miteinander verbunden, aber doch auch selbstständig zeigt sich die Hirnaktivität im Kontext von Religiosität, schon bei Darwin defi1 Ulrich Ott, Meditation für Skeptiker. Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst, München 2010.

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niert als Fähigkeit zur Wahrnehmung überempirischer Akteure, umgangssprachlich: höherer Wesenheiten. Im – sowohl privat wie ge­ meinschaftlich geübten – „Umgang“ mit geglaubten Wesenheiten wie Ahnen, Geistern, Engeln und Gottheiten werden wesentlich die gleichen sozialen Kognitionen in frontalen Hirnregionen aktiviert, die auch beim Umgang mit anderen Menschen tätig sind. Während wir die Spiritualität mit der Tätigkeit der Meditation verbunden finden, kennen alle religiösen Traditionen das Gebet – die verehrende, bittende Ansprache der geglaubten Wesenheiten. Eine britische Studie fand beispielsweise bei den untersuchten Gläubigen eine hohe Aktivität frontaler, sozialer Kognitionen beim Sprechen eines persönlichen Gebetes, bereits deutlich weniger beim Nachvollzug des standardisierten Ritualgebetes, dem mit Erinnerungen verbundenen Vortragen eines Kinderreimes – und am wenigsten bei der Formulierung von Wünschen an den Weihnachtsmann. Nun ist aber definitionsgemäß auch der Weihnachtsmann ein über­ empirischer Akteur: An seine Existenz kann man nicht nur glauben, er ist sogar für Wünsche empfänglich, die ihm auf mündliche oder schriftliche Weise angetragen werden – und die er bisweilen sogar erfüllt! Doch glauben die erwachsenen Probanden nicht oder nicht mehr an die reale Existenz des Weihnachtsmanns – deswegen fällt die kognitive Aktivität entsprechend schwächer aus. Oder anders formuliert: Erst durch den kulturell geformten Glauben an bestimmte höhere Wesen – und den ebenso kulturabhängigen Nichtglauben an Andere – erschließen sich Menschen eine Erweiterung ihrer sozialen Welt, die sie wiederum mit anderen Glaubenden zu Netzwerken und Gemeinschaften verbindet.

5. Interdisziplinäre Fortschritte im Verständnis von „Religion“ Entsprechend fügen sich auch die Befunde der Paläoarchäologie zu denen der heutigen Neuro- und Kognitionsforschung – ein schönes Beispiel dafür, wie sich die Befunde verschiedener Wissenschaftsdisziplinen gegenseitig erklären, ergänzen und stützen können. Weder unsere heutigen nahen Verwandten – die Schimpansen – noch unsere sehr

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frühen Vorfahren wie Homo erectus verfügten über ein ausge­prägtes Stirnhirn; und entsprechend finden wir bislang bestenfalls Rudimente religiösen und spirituellen Verhaltens (und auch diese sind umstritten). Kaum aber begannen Homo sapiens und Homo neanderthalensis, ein ordentliches Stirnhirn auszureifen, begannen sie auch, religiöses Verhalten – wie etwa Bestattungen, später mit Jenseitsgaben – zu ­zeigen. Und es ist selbstverständlich kein Beweis, aber vielleicht doch ein in­teressantes Indiz, dass tatsächlich die verschiedensten religiösen Traditionen dem Stirnhirn besondere Bedeutung zumessen: Hier auf der Stirn bindet der Jude seine Gebetskapsel, erhält die Christin den Kreuzessegen, berührt die Muslimin den Boden gen Mekka wie auch der Sikh das Tuch, das die Heilige Schrift trägt, zeichnet die Hinduistin das dritte Auge und erfährt der Buddhist die Erleuchtung. Und erfreulich ist natürlich, dass wir heute das Miteinander von Gehirnaktivitäten und kognitiven Funktionen auch immer tiefer erforschen können – wenn die ikonengleich verwendeten Gehirnscans auch oft mehr Eindeutigkeit vorgaukeln, als eigentlich schon besteht. Durch die wissenschaftliche Beschreibung einerseits, in Grenzen aber auch durch die bewusste Selbstbeobachtung bekommen wir so ein sich langsam vertiefendes Bild von der Emergenz unserer bewussten „WahrNehmungen“. Die beiden kognitiven Hauptmodule, auf deren Basis Religiosität entsteht, sind inzwischen gut bekannt. Die Hyper-Agency Detection (HAD) – deutsch: die Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit – die uns beim Anblick von Punkten und Strichen unmittelbar ein Gesicht erkennen lässt: J Die meisten von uns werden aufgrund ihrer sozialen Kognitionen zudem nicht nur ein Gesicht erblickt, sondern dieses zudem als nichtbedrohlich, ja als freundlich lächelnd eingeordnet haben. Wir haben damit aufgrund weniger symbolischer Anhaltspunkte eine spontane Theory of Mind (TOM), deutsch: eine Annahme über ein anderes Bewusstsein, gebildet. Die evolutionären Grundlagen von HAD und TOM auch als Grundbausteine von Religiosität hat bereits Charles Darwin vermutet und umschrieben, ebenso wie ihre Evolutionsgeschichte: Wesenheiten sind für Überleben und künftige Fortpflanzung sehr viel relevanter als

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Nicht-Personalitäten. Es war und ist beispielsweise vielfach günstiger, hin und wieder einen Busch für einen Bären zu halten – als ein einziges Mal einen Bären für einen Busch! Daher entwickelte sich die HAD als Nebenprodukt bei Tieren und Menschen. Ebenso war und ist es für Überleben und Fortpflanzung förderlich, schon aus wenigen Anzeichen schnelle und begründete Annahmen über die Absichten anderer – also TOMs – ableiten zu können.

6. Von Nebenprodukten zu Exaptationen Evolutionär gesprochen handelt es sich bei HAD und TOM also um Nebenprodukte kognitiver Grundfunktionen, die dann zum Beispiel in der Religion neue, Überleben und Fruchtbarkeit fördernde Funktionen angenommen haben – sogenannte Exaptationen. Wer mag, kann also durchaus darüber spekulieren, ob die Evolution von Religiosität und Spiritualität womöglich erst an ihrem Anfang steht. Wie stark und schnell diese neuronalen und kognitiven Tendenzen aber auch heutige kulturelle Traditionen formen, lässt sich sehr schön am Buddhismus zeigen – einer ursprünglich rein spirituellen und nichttheistischen Tradition. Der Buddha selbst durfte in den ersten Jahrhunderten nach seinem Tod nicht bildlich dargestellt werden, galt er doch als ins Nirwana eingegangen und also final erloschen, damit auch nicht mehr anbetbar. Doch in der kulturellen Realität meldeten sich schnell auch die religiösen Sehnsüchte der Menschen, die die Erleuchteten gerne als überempirische Akteure suchen und mit ihnen Beziehungen eingehen wollten. Und so begegnete uns am Rande einer Tagung in Wuppertal in einem thailändischen Restaurant ein kleiner Schrein, in dem eine Statue des Buddha nicht nur mit Kerzenopfern verehrt wurde, sondern ihm auch Nahrung und Wasser zur Verfügung gestellt wurden. Auf meine Frage, warum die Dame des Hauses den Erleuchteten so aufgestellt habe, dass er in den Schankraum des Restaurants blicke, antwortete sie lächelnd: „Wenn der Buddha schaut, benehmen sich die Gäste besser!“ Die heutige, empirische Forschung gibt der Wuppertaler Buddhistin ausdrücklich recht: Der Glaube daran, von anderen Wesen beob­achtet

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zu werden, ja, sogar in einer Beziehung mit ihnen zu stehen, bestärkt das Befolgen kulturell erlernter Regeln. Nun wissen Sie also, warum uns die überempirischen Akteure von den frühesten Ahnenschädelkulten mit Sekundärbestattungen über die riesigen Totempfähle und Statuen späterer Theismen bis zum heutigen Monotheismus immer anschauen. Mehr noch: Ob im alten Ägypten, in den heutigen Weltreligionen oder der Freimaurerei – wo immer Menschen das Göttliche auf nur noch ein Symbol zusammenfassen wollten, begegnete ihnen die Urerfahrung des schauenden Auges. Indem die Gottheit uns schaut, gewinnt sie Einfluss auf unser Verhalten. Heno- und Monotheismus, der Glaube an eine höchste oder auch einzige Ausprägung des Göttlichen, sind also nicht – wie Kritiker gerne behaupten – fehlgeleitete wissenschaftliche Hypothesen oder nicht überprüfbare Glaubenssätze (englisch: beliefs). Sie haben ihre Wurzeln vielmehr in Beziehungserfahrungen (englisch: faith), die in Bestattungsund später Opferbräuchen ab dem Mittelpaläolithikum greifbar werden und sich bis in die Neuzeit hinein kulturell weiter entwickeln.

7. Religiosität fördert (im Durchschnitt) Kooperationsund Reproduktionserfolg Und schon in den Bestattungen – im steinzeitlichen Europa übrigens auch durch Homo neanderthalensis im heutigen Südfrankreich vor etwa 70.000 Jahren belegt – wird ein weiterer, wichtiger Aspekt deutlich: Der Glaube an höhere Wesenheiten verknüpft die Menschen zu regelhaft kooperierenden Gruppen und eröffnet auch den Glauben an jenseitige Welten und Zeiten, die die begrenzte Weltzeit (lateinisch das Saeculum) übersteigen. Vor und neben der Theodizee waren und sind Menschen mit der Frage der Anthropodizee konfrontiert – warum sie dieses oft beschwerliche Leben überhaupt bestehen, ja es sogar auch noch an Kinder weitergeben sollten. Eine Gottheit kann gebieten, dass Kinder ein Segen seien: „Seid fruchtbar und mehret Euch!“ Aber bis heute haben atheistische Weltanschauungen darauf keine allgemein überzeugende Antwort gefunden und tendieren entsprechend zum gemeinschaft­ lichen und demografischen Verebben.

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Bemerkenswert ist dabei, dass sich diese Lebensfragen schon sehr früh abzeichnen und wir über Jahrzehntausende hinweg praktisch alle Symbolisierungen des Übermenschlichen in weiblicher Form, den sogenannten „Venus-Figurinen“, finden – die zudem erkennbar mit Aspekten von Geburt und Fruchtbarkeit verbunden sind. Und tatsächlich verkünden auch noch antike Traditionen der Religion und Philosophie einen urmütterlichen Grund allen Lebens, der sich sinnigerweise im Begriff des „Materialismus“ (von Mater-ia, lateinisch „Mutterstoff“) erhalten hat. Zugespitzt ließe sich formulieren, dass der atheistische ­Materialismus das uralte Wissen um die Personalität von Mutterschaft verdrängt: Unser Leben wird uns nicht nur durch „Etwas“ geschenkt, sondern vor allem durch „Jemanden“. Und für Glaubende verliert es sich auch nicht im „Nichts“, sondern strebt über den Tod hinaus „Jemandem“ entgegen. Was nach philosophischer Spitzfindigkeit aussieht, bedeutet kognitiv und emotional sehr viel. So stimmen praktisch alle Evolutionsbiologen darin überein, dass sich die evolutionäre Fitness über den Reproduk­ tionserfolg ermitteln lässt. Doch ich bin noch nie einem von ihnen begegnet, der daraus die Pflicht abgeleitet hätte, selbst möglichst viele Kinder zu haben. Unter den Amish oder orthodoxen Juden sieht die Sache schon ganz anders aus. Von einem „Etwas“ lassen wir uns nichts sagen, von einem „Jemand“ unter Umständen schon! Erst mit dem jungsteinzeitlichen Aufkommen von Territorialkon­ flikten und Agrarwirtschaft tritt zu der Urmutter auch ein Sohn, später Partner und Herrscher, bis hin schließlich zum heutigen, männlich konnotierten Monotheismus eines Schöpfers. Das Christentum hat mit der Lehre der „Gottesmutter“ (Mater Dei) Maria in Gestalt einer armen Frau jüdischen Glaubens wie auch mit dem Symbol der „Mutter Kirche“ als „Braut Christi“ die verschiedenen Stadien dieser uralten Entwicklung in sich aufgenommen. Auch noch im Koran wird Maria als Meryem nicht nur als einzige Frau namentlich genannt; nach ihr ist sogar eine Sure benannt, wie auch in der Selbstbezeichnung der Gemeinschaft als „umma“ das arabische Wort für Mutter (umm) enthalten ist. Laut Darwin bildet der religionsgeschichtlich späte Glaube an eine einzige Gottheit, die Gutes gebietet und Böses verbietet, übrigens „die höchste Form“ der Religion.

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8. Ein neues Verständnis auch des (häufiger männlichen) „atheistischen Gehirns“ Und so kommen wir tatsächlich zu einem besseren Verständnis des „atheistischen Gehirns“ und können die Befunde von der Neurowissenschaft über die Archäologie und Anthropologie bis zur Religionssoziologie zunehmend empirisch gesichert verknüpfen. Wir können zum einen nachvollziehen, warum sich, erstens, in der Bejahung religiöser Glaubenswelten weltweit ein „Gender Gap“ abzeichnet, also Frauen im Durchschnitt etwas religiöser sind als Männer: Religiosität baut auf sozialen Kognitionen auf, die bei Frauen durch Geburt und Erziehung im Durchschnitt etwas stärker ausgeprägt sind als bei Männern. Gerade auch Forschungen im Bereich von Asperger und Autismus, die als Störungen sozialer Kognitionen massiv häufiger bei Jungen als bei Mädchen auftreten, haben aufgezeigt, dass neben der Erziehung eine unreduzierbare Rolle der Genetik und Hormone besteht. Unsere geistigen Fähigkeiten als Homo sapiens bildeten sich gerade auch im Umgang mit Säuglingen heraus, deren lange Kindheit nur durch gemeinschaftliches Aufziehen („Cooperative Breeding“) zu organisieren war: Wir mussten sozial werden, um Kultur und Ansätze von Klugheit ausprägen zu können. Und auch wenn es manchem Dogmatiker nicht gefallen wird: Viel spricht dafür, den Menschenfrauen eine entscheidende, wenn nicht gar eine begründende Rolle in der Formation der frühesten, noch altpaläolithischen Religionen zuzuerkennen. Auch heute noch wird der Großteil des ehrenamtlichen Engagements wie auch der religiösen Prägung der Kinder in Kirchen und Religionsgemeinschaften von Frauen organisiert. Dagegen weisen die Führungsgremien beispielsweise der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung einen Frauenanteil auf, der sich nicht weit von dem des Vatikans bewegt. Und ausschließlich oder dominant von Männern getragene Kultgemeinschaften vom römischen Mithras bis zu neuzeitlichen UFOGruppen haben sich bislang nirgendwo auf Dauer durchsetzen oder auch nur stabil erhalten können. Der zweite Aspekt stand am Anfang dieses Vortrages und ist auch der empirisch stärkste: In Zeiten der Not suchen wir Menschen instinktiv nach Verbündeten, dann gerne auch in höheren Welten. Zeiten hoher

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existenzieller Sicherheit gehen dagegen mit einem durchschnittlichen Abschmelzen erst des religiösen Engagements und damit ver­bunden der religiösen Erfahrung bis hin zur gesellschaftlichen „Sä­kularisierung“ einher. Die alte Klage, nach der Wohlstand und Sicherheit zu einem „Vergessen Gottes“ führen, hat empirisch einigen Gehalt!

9. Wie „neu“ ist der „neue Atheismus“? Entsprechend erweist sich der sogenannte „neue Atheismus“ im deutschsprachigen Raum weder als besonders neu noch als besonders eindrucksvoll. Schon in der Friedens- und Aufschwungphase am Ende des 19. Jahrhunderts begeisterten sich Hunderttausende für die religionskritischen Schriften des Biologen Ernst Haeckel, der das baldige Ende der Kirchen verkündete. Haeckels Bücher erschienen in Millionenauflagen, von ihm ließ sich sogar Reichskanzler Bismarck eine Ehrendoktorwürde verleihen und ein Freidenkerkongress in Rom rief ihn zum „Gegenpapst“ aus. Doch auch schon die damaligen „Monisten“ diskutierten ihre niedrigen Geburtenraten, und inmitten von zwei Weltkriegen und einer Wirtschaftskrise gerieten sie so vollständig in Auflösung und Vergessenheit, dass heute auch Gelehrte den aktuellen Wohlstands-Atheismus für wirklich neu oder gar bedrohlich halten. In der heutigen Zeit können wir den enormen Einfluss existenzieller Sicherheit beispielsweise im Vergleich post-sozialistischer Gesellschaften beobachten: Während die Einführung der bundesdeutschen Rechtsstaatlichkeit und Sozialversicherung die neuen Bundesländer vor einer Wiederkehr der Religionen „bewahrte“, erfolgt nicht nur in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion eine massive Rückkehr in die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Auch der jahrzehntealte Widerstand der Amish oder jetzt der gesamten US-Rechten gegen die Ausweitung von Sozial- und Krankenversicherungen in den USA wird so schlüssig erklärbar – sie ahnen zu Recht, dass die Steigerung existenzieller Sicherheit eben doch auch zur Schwächung von religiösen Traditionen und zum Schrumpfen von Familien beitragen wird. Als dritten Aspekt ist die frühkindliche Erziehung zu benennen, die ganz analog zur „musikalischen Frühförderung“ funktioniert. Wo

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Menschen schon im Kindesalter den Umgang mit höheren Wesen erlernen und einüben, können sie ihr ganzes Leben lang auf diese Prägungen zurückgreifen und haben eine höhere Chance, „religiös musikalisch“ zu bleiben. Und schließlich besteht, viertens, tatsächlich eine Spannung zwischen unseren rationalen und sozialen Kognitionen. Gott funktioniert nicht als wissenschaftliche Hypothese, sondern als Grundlage von sozialen Beziehungen. In Experimenten reicht schon das Lesen analytisch-religionskritischer Texte, um religiöse Selbsteinschätzungen zu drücken und auch Studierende der Theologien können das rationale Analysieren des eigenen Glaubens durchaus als Anfechtung erfahren. Religion ist ebenso wenig von vornherein „vernünftig“, wie sie von vornherein „gut“ ist – sonst bräuchte es weder wissenschaftliche Theologien noch Verbände wie den Bund für Freies Christentum, die um die kulturelle Verbindung des Wahren und Guten immer wieder ringen, auch in der Abwehr von allzu radikalen Vereinfachern aller Seiten.

10. Fehlt atheistischen Gehirnen etwas? Auf Basis dieser und vieler weiterer Befunde bezeichnete ein Kollege aus der Kognitionsforschung einmal Religiosität als „Allzweck-Ko­ operationswerkzeug“. Tatsächlich könnte man daraus also voreilig schließen, den Atheisten „fehle halt etwas“. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn obgleich es stimmt, dass religiöser Glaube „soziale Gemeinschaften“ von Gemeinden bis zu Familien stiftet und stärkt, bedeutet „sozial“ eben keineswegs automatisch „universal“. Unsere sozialen Kognitionen sind im Vergleich zu unseren Primatenverwandten sehr weit, aber keineswegs unbegrenzt entwickelt. Wir können beispielsweise im Gegensatz auch zu Schimpansen einen Bus voller Fremder besteigen, ohne in einen eskalierenden Blutrausch zu verfallen oder unser Kind in einen Kindergeburtstag unter Nichtverwandte geben, ohne damit rechnen zu müssen, dass es dort körperlich angegriffen und vielleicht gar zerfleischt werden wird. Doch auch wir kennen Gefühle der Fremdenangst und Überforderung und tendieren schon

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vorbewusst dazu, uns in möglichst „sichere“ Netzwerke aus Gleichen und Gleichgesinnten zurückzuziehen. Religionen greifen diese Tendenzen auf, indem sie nicht nur durch Gebete und Gottesdienste, sondern auch durch Opfer-, Kleidungs-, Zeit- und Speisegebote soziale Innenwelten und Gemeinschaften schaffen, die sich nach außen abgrenzen. Wir können also über religiöse Vergemeinschaftungen beispielsweise großartige karitative und künstlerische Werke wie Hospitäler, Schulen, Kunst- und Bauwerke schaffen; aber ebenso Rechtfertigungen für Gewalt, Extremismus und Menschenverachtung. Die bemerkenswerten Hilfswerke der Quäker – der einzigen Religionsgemeinschaft, die je den Friedensnobelpreis erhielt – oder auch der fried­fertige Kinderreichtum der Old Order Amish baut auf denselben sozialen Kognitionen auf wie der damalige Blutrausch der Kreuzritter oder die heutige Brutalität des sogenannten „Islamischen Staates“.

11. Sind Religion und Spiritualität denn „immer gut“? Auch die spirituellen und religiösen Erfahrungen sind keineswegs so eindeutig positiv, wie es ein aufgeklärter Liberalismus vielleicht gerne hätte. Jeder ernsthaft Meditierende kennt auch Erfahrungen der Verwirrung und mitunter gar der bedrohlichen Ich-Auflösung, weswegen sich gewachsene spirituelle Traditionen weltweit in Ordensgemeinschaften und Lehrer-Schüler-Verhältnissen organisiert haben. Der innere Weg ist mitunter auch ein gefährlicher Weg! Ebenso kann eine religiöse Beziehungserfahrung eben nicht nur durch Liebe und Dankbarkeit geprägt sein, sondern ebenso durch Furcht und Angst. In der christlichen Tradition kennen wir die Unterscheidung von „Drohbotschaft“ und „Frohbotschaft“ – und empirische Studien deuten leider darauf hin, dass beispielsweise die Furcht vor der Hölle menschliches Verhalten stärker beeinflussen kann als der Glaube an einen niedlichen, „lieben Gott“, der am Ende des Tages irgendwie für alles Verständnis hat. Es war wiederum Darwin, der zu Recht darauf hinwies, dass die Toten und die frühen Geister eben keineswegs als gut und liebevoll wahrgenommen wurden und werden, sondern als Be­ drohungen, die man durch Opfergaben und das Beachten von Tabus

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besänftigen musste. Auch noch beispielsweise die Götter der griechischen Antike waren zwar oft leidenschaftlich und unterhaltsam, aber keineswegs immer gut und vorbildlich. Noch einmal sei an das Darwin’sche Diktum erinnert, wonach die Vorstellung einer einzigen und moralisch guten Gottheit eine sehr späte und „höchste“ Form der Religionsentwicklung darstelle. Oder anders formuliert: Analog zur Sprachfähigkeit wird man Spiritualität und Religiosität nicht einfach als „gut“ und Atheismus nicht einfach als „defizitär“ abtun können. Gerade auch „weil“ sich Religiosität in Krisen und Kriegen verstärkt, kann sie auch wie ein Brandbeschleuniger wirken, der besonders enge und intolerante Gruppen befördert. Größere Zusammenhänge – wie Staaten – drohen dann in Konfessionskonflikten zu zerreißen und Religionen zeigen ihre ebenfalls existente, radikale Gewalt befördernde Seite: „Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich Dir den Schädel ein!“ Umgekehrt ist die Existenz eines höheren Anteils von erklärten Atheistinnen und Atheisten ein starker Beleg dafür, dass eine Gesellschaft ein hohes Ausmaß an individueller Freiheit, auch rationaler Bildung und existenzieller Sicherheit erreicht hat. Auch ein religiöser Mensch sollte sich darüber freuen können, in Zusammenhängen zu leben, in denen das Ob und Wie von religiösem und spirituellem Leben durch innere, intrinsische Entscheidungen und nicht durch bedrängende Ängste und äußere Zwänge bestimmt wird. Und zumindest solange es noch ein globales Bevölkerungswachstum gibt, sehe ich auch kein Argument, irgendjemandem niedrige Geburtenraten vorzuwerfen.

12. Deskriptive Hirnforschung und normative Deutung Den Traum von der von allen Zweiflern „reinigenden“ Katastrophe samt Endkrieg dürfen wir Hollywood überlassen und uns darüber freuen, in Gesellschaften zu leben, in denen Religion(en), Vernunft und Wissenschaften in einen lebendigen Austausch treten können. Jesus wusste schon, warum er in seinem berühmtesten Gleichnis Lk 10,25–37 ausgerechnet den vermeintlichen „Ketzer“ – den Samaritaner – als beispielgebend, ja gebotserfüllend vorstellt, den vermeintlich Rechtglau-

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benden und Priester jedoch scheitern lässt: Wo sich Menschengruppen – auch religiöser Art – selbst zu „den Besseren“ erklären, geraten sie meist schon wieder auf dem abschüssigen Weg zum Schlechteren. So stehen wir also nun zum Abschluss dieses Vortrages vor der Frage, was vom „atheistischen Gehirn“ zu halten sei. Ich finde diese Frage in den zwei Titeln des gleichen Buches des Neurowissenschaftlers ­A ndrew Newberg trefflich zusammengefasst: Dem durchschnittlich religiöseren, englischsprachigen Publikum wurde das Buch als „WHY GOD WON’T GO AWAY – Warum Gott nicht fortgehen wird“ verkauft. Im durchschnittlich existenziell gesicherteren und also religionskritischeren, deutschsprachigen Kontext wurde das identische Werk dagegen unter dem Titel „Der gedachte Gott“ vermarktet! Hier wird wunderbar deutlich, dass die empirische Erforschung und weltanschauliche Deutung des gleichen Sachverhalts zwei Paar Schuhe sind. Dem Atheisten können die Befunde der Neuro- und Kognitionswissenschaft als Bestätigung der Annahme erscheinen, dass wir Menschen uns höhere Wesen und Gottheiten nur „einbilden“. Und die Glaubende kann sich gleichzeitig ebenso darüber freuen, dass die atemberaubende Komplexität dieses Universums und der Evolution des Lebens darin uns auf einen grandiosen Pilgerweg zu Gott und Seinen Wahrheiten führt, zum „Punkt Omega“ nach Teilhard de Chardin. Sowohl das „atheistische“ wie das „religiöse Gehirn“ bilden natür­ liche Ausprägungen der Möglichkeiten unserer Nervensysteme. Es wird immer von den Veranlagungen und persönlichen Prägungen einerseits, den existenziellen Erfahrungen und Entscheidungen in einer mehr oder weniger sicheren Umgebung andererseits abhängen, ob und wie wir unsere Religiosität ausprägen. Diese biologische und kulturelle Vielfalt und Flexibilität hat es unserer Spezies ermöglicht, sich über Jahrzehntausende hinweg in schnell wechselnden Umwelten zu behaupten. Auf den vermeintlich „neuen Atheismus“ wird schon aufgrund seiner Männerdominanz und seines Kindermangels ein „ganz neuer“ und dann ein „ganz, ganz neuer Atheismus“ mit ebenso überschaubarer Geltungsdauer folgen – wie es Michael Schmidt-Salo­mon bereits vor Jahren formulierte: „Der neue Atheismus ist vielleicht nicht tot, aber er riecht schon irgendwie komisch!“2 Umgekehrt verfügt aber auch keine einzelne Kirche oder Religionsgemeinschaft über eine Ewigkeitsgarantie.

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Persönlich sehe ich keinen Grund dafür, mir zu wünschen, dass diese lebens- und erkenntnisspendende Vielfalt aus verschiedenen re­ligiösen und weltanschaulichen Traditionen grundsätzlich überwunden werden sollte. Stattdessen sehe ich darin weitere Chancen, dass wir uns selbst und unsere jeweiligen religiösen oder atheistischen Impulse gerade auch mit Hilfe der Wissenschaft besser verstehen und reflektieren, damit auch klügere Entscheidungen für unser Zusammenleben und unsere Zukunft treffen können. Konkret würde mich neben der weiteren, bereits täglich geschehenden Vertiefung der neuro- und kognitionspsychologischen Er­kenntnisse rund um Spiritualität, Religiosität und Magisches Denken vor allem interessieren, wie genau Sprache und Symbole, Narrative und Mythen unsere individuellen und gemeinschaftlichen Identitäten beeinflussen. Hier ist unser Verständnis noch deutlich zu gering, sind die disziplinären Gräben noch nicht durch ebenso mutige wie überzeugende Brückenschläge überwunden, wie wir sie in Fragen der Evolutions- und Kognitionsforschung zur Religion derzeit erleben. Insbesondere den jüngeren Kolleginnen und Kollegen möchte ich daher Mut machen, über das derzeitige „Paradigma“ noch hinauszuwachsen!3

2 Michael Schmidt-Salomon, Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus? Vortrag auf der Tagung „Neuer Atheismus und moderner Humanismus“ am 25.4.2008 in Berlin; URL: [7.3.2016]. 3 Es sei noch auf folgende Literatur hingewiesen: Justin L. Bartlett, Born Believers. The Science of Children’s Religious Beliefs, New York 2012; Michael Blume, Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theologe, Freiburg i. Br. 2013; ders. / Rüdiger Vaas, Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt – Die Evolution der Religiosität, Stuttgart 3 2011.

Hanns Eisler (1898–1962) Komponist – Sozialist – Atheist Wolfgang Pfüller

Einleitung. Hanns Eisler: Leipziger? Wiener? Berliner? Weltbürger? Dass der seinerzeit weit bekannte und heute weitgehend in Vergessenheit geratene Komponist Johannes Eisler, der sich selbst Hanns nannte, ein Leipziger war, wird man kaum sagen können. Denn zwar wurde er dort 1898 geboren, aber bereits 1901 verließ die Familie Eisler Leipzig in Richtung Wien. Immerhin, eine entscheidende Prägung Eislers wurzelt in Leipzig: seine Affinität zur Arbeiterbewegung. Eislers Mutter nämlich, Ida Maria geb. Fischer, stammte aus Leipzig, war eine Fleischerstochter und ihr Einfluss auf die Kinder war nach Eislers eigenen Worten enorm: „Das heißt, wir wurden selbstverständlich aufgezogen als Menschen, die zu der Arbeiterbewegung zu stehen haben. Das war eine Familienangelegenheit, also gar keine höhere Erkennt­nis.“1 1 Nathan Notowicz, Wir reden hier nicht von Napoleon. Wir reden von Ihnen! Gespräche mit Hanns Eisler und Gerhart Eisler, übertragen und herausgegeben von J. Elsner, Berlin 1971, S. 29. A.a.O., S. 28 verweist Eisler darauf, dass der Vater seiner Mutter Sozialist und als solcher „ein begeisterter Verehrer von August Bebel“ war. – Die beiden Geschwister Eislers waren Elfriede (*1895) und Gerhart (*1897). Elfriede nannte sich später Ruth Fischer, erlebte einen ebenso steilen Aufstieg wie Absturz als KP-Funktionärin und wurde nach leidvoller Geschichte zur militanten Antikommunistin, die 1948 gar ihre beiden Brüder bei der US-Behörde als Kommunisten denunzierte. Gerhart durchlief als KPFunktionär eine wechselvolle Geschichte, bevor er schließlich in der DDR beim Rundfunk eine leitende Funktion innehatte; die beiden Brüder waren übrigens zeitlebens freundschaftlich verbunden.

Hanns Eisler (1898–1962)  |  225

Der Vater, Rudolf Eisler, der aus Wien kam, war in den 1890er Jahren nach Leipzig gegangen, um bei Wilhelm Wundt zu promovieren. Dort lernte er Ida Maria Fischer kennen und lieben, und ihre drei Kinder wurden dort geboren. Aber wie gesagt: Bereits 1901 zog die Familie nach Wien, hier wuchs Hanns Eisler auf und empfing seine entscheidende Prägung als Komponist. Schon vom sprachlichen Idiom her müsste man Eisler also vor allem einen Wiener nennen, zumal er die längste Zeit seines Lebens in Wien lebte. Dennoch ging er bereits als junger Komponist, der für sein op. 1 eben den Kunstpreis der Stadt Wien erhalten hatte, nach Berlin, in das er nach dem Exil schließlich zurückkehren sollte. „Berlin […] ist, als Eisler 1925 übersiedelt, die kulturell und politisch facettenreichste europäische Metropole. Berlin ist vor allem Mittelpunkt der deutschen Arbeiterbewegung, der sich Eisler jetzt bewußt zu nähern ­beginnt.“2

Dass Berlin nicht nur durch die deutsche Arbeiterbewegung, sondern auch durch die Begegnung mit Ernst Busch sowie vor allem Bertolt Brecht für Eisler bedeutsam wurde, wird uns noch beschäftigen. Dass Eisler Berlin nach nur acht Jahren verlassen musste, lag an seiner Vertreibung durch das Naziregime. Nach unsteten Jahren zwischen der UdSSR und den USA, zwischen Dänemark und Spanien, verbrachte Eisler schließlich zehn Jahre im US-amerikanischen Exil zwischen New York und Hollywood. So gesehen, aber auch wegen seiner sonstigen vielfältigen Reisen und seines kosmopolitischen Denkens darf man Eisler allemal einen Weltbürger nennen; einen Weltbürger freilich, der seine entscheidenden Wurzeln in Leipzig, Wien und Berlin hatte.

1. Komponist 1.1 Wien 1901–1925

Eisler fühlte sich früh zur Musik hingezogen. Während er nur ungern ins Jesuiten-Gymnasium ging und dieses schon mal schwänzte, um auf der Jesuitenwiese im Prater seiner zweiten Leidenschaft, dem Fußball2 Albrecht Betz, Hanns Eisler. Musik einer Zeit, die sich eben bildet, München 1976, S. 39.

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spielen, zu frönen, war seine andere Leidenschaft die Musik. Autodidaktisch eignete er sich das Klavierspiel an und begann zu komponieren. Nach dem Krieg, zu dem er 1916–1918 als Soldat eingezogen wurde, nahm er zunächst kurz Kompositionsunterricht (Kontrapunkt) am Wiener Konservatorium, der ihn aber nicht recht befriedigte. So entschloss er sich auf Anraten, um Unterricht bei dem renommierten Lehrer und Komponisten Arnold Schönberg zu ersuchen. Dieser nun nahm ihn nicht nur in seine Kompositionsklasse auf, sondern unterrichtete den ziemlich mittellosen jungen Mann zudem kostenlos. Das Verhältnis Eislers zu Schönberg war nicht nur das eines Schülers zu seinem Lehrer, sondern mehr noch das eines Sohnes zu seinem Vater. Schönberg unterstützte Eisler materiell, indem er ihm Arbeiten beim Musikverlag Universal-Edition Wien vermittelte; er sorgte maßgeblich dafür, dass Eislers Klaviersonate op. 1 bei diesem renommierten Verlag erscheinen konnte und er dort einen Vertrag über mehrere Jahre erhielt. Und auch wenn die Spannungen zwischen den beiden eigenwilligen Komponisten zunahmen, Schönberg Eisler für renitent hielt und dieser sich sowohl sozial wie kompositorisch weit von seinem Lehrer entfernte: „Noch in einem Brief vom ­Januar 1945 nennt der alte Arnold Schönberg als seine bedeutendsten Schüler […] Alban Berg, Anton von Webern, Hanns Eisler.“3 Eisler seinerseits hat Schönberg zeitlebens als Lehrer und Komponist hoch verehrt, und zwar auch dann, als das nicht gerade opportun war. So schrieb er 1954 anlässlich des 80. Geburtstages Schönbergs in der DDR, in der dieser eher als bürgerlich-dekadent galt, dass „Schönberg einer der größten Komponisten nicht nur des 20. Jahrhunderts war. Seine Meisterschaft und Originalität sind erstaunlich, sein Einfluß war und ist enorm. Seine Schwächen sind mir lieber als die Vorzüge mancher anderer. Aus der Geschichte der Musik ist er nicht wegzudenken. Verfall und Niedergang des Bürgertums: gewiß. Aber welch eine Abendröte!“4 Dabei sah Eisler auch den Komponisten Schönberg keinesfalls unkritisch. Die Zwölftontechnik etwa wollte er nur im passenden Fall ange3 Stephan Hermlin, Nachwort, in: Hanns Eisler, Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht, Leipzig 1975, S. (420–424) 422. 4 Hanns Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig 1973, S. 231. – Man bedenke, dass Eisler dies im Folgejahr der sogenannten Faustus-Debatte schrieb, in der er massiven Vorwürfen wegen Formalismus und Pessimismus ausgesetzt war. Ich komme noch darauf zu sprechen.

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wendet wissen, also nicht so unflexibel wie von Schönberg, dessen Musik er überdies zu einseitig auf den „Grundton des äußersten Schmerzes“ gestimmt sah.5 Vor allem aber verstanden sich Lehrer und Schüler überhaupt nicht in gesellschaftlichen Fragen. Schönberg hielt Eislers Neigungen für den Sozialismus für die Träumereien eines armen jungen Mannes: „Wenn Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben zwei an­ständige Mahlzeiten am Tag haben werden und drei gute Anzüge und etwas ­Taschengeld, dann werden Sie auch den Sozialismus sich abgewöhnen.“6 Eisler wiederum hielt Schönberg zwar für einen musikalischen Revolutionär, aber für einen sozialen Kleinbürger. Über gesellschaftliche Fragen sowie über die dementsprechenden Fragen der Funktion der Musik hatte Schönberg s.E. „einen normalen Spießbürgerstandpunkt. Das setzt ihn nicht herab. Das sind die Klassengrenzen auch großer Leute.“7 In diesem Sinne wandte sich Eisler entschieden gegen Schönbergs elitäres Kunstverständnis. Dessen Grundsatz: „Wenn es Kunst ist, ist es nicht für die Menge! Und wenn es für die Menge ist, dann ist es nicht Kunst“, stand Eislers Bestreben diametral entgegen, Musik für eine breite ­Öffentlichkeit zu schreiben, ohne dabei die Möglichkeiten moderner, vor allem von Schönberg initiierter Musik aufzugeben.8 Eins stand jedenfalls für Eisler schon früh fest: Kunst im Allgemeinen und Musik im Besonderen ist nicht um ihrer selbst willen da, sie hat vielmehr eine soziale Funktion und Aufgabe. Das hat Eisler, der bekanntlich ein hoch reflektierter, sowohl philosophisch wie literarisch außerordentlich gebildeter Musiker war, so unablässig wie nachdrücklich zum Ausdruck gebracht. Ich verdeutliche dies nur an wenigen Beispielen. So äußert er gegenüber Hans Bunge: „Glauben Sie mir, der Begriff des Ablieferns, des Boten, der läuft und noch eine Botschaft zu bringen hat, ist für mich seit meiner Jugend 5 Vgl. a.a.O., S. 231–244. Vgl. auch den kundigen Aufsatz von Günter Mayer, Arnold Schönberg im Urteil Hanns Eislers, in: ders., Weltbild – Notenbild. Zur Dialektik des musikalischen Materials, Leipzig 1978, S. 349–383. – Im Übrigen schätzte Eisler vor allem den Schönberg der mittleren, atonalen Periode. 6 Zit. bei N. Notowicz, Wir reden hier nicht von Napoleon (s. Anm. 1), S. 41. 7 A.a.O., S. 42. 8 Vgl. Friederike Wissmann, Hanns Eisler. Komponist. Weltbürger. Revolutionär, München 2012, S. 60 f. Von dort habe ich auch den pointierten Satz Schönbergs entnommen. 9 H. Eisler, Gespräche mit Hans Bunge (s. Anm. 3), S. 196.

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e­igentlich die größte Idee, die ich von der Arbeiterbewegung gelernt habe. […] Irgendwas machen, was nützlich ist, das man abliefern kann.“9

Und bereits 1927 kritisiert er die moderne Musik wie folgt: „Die Zersetzung der bürgerlichen Kultur drückt sich am stärksten von allen Künsten in der Musik aus. Trotz aller technischen Finessen läuft sie leer, denn sie ist ideenlos und gemeinschaftslos. Eine Kunst, die ihre Gemeinschaft verliert, verliert sich selbst.“10

Weiter notiert er 1937 zur Lage der modernen Komponisten: „Um gegen den Verfall der Musik zu kämpfen und sich eine neue Technik, einen neuen Stil und damit eine neue Hörerschaft zu erobern, muß sich der moderne Komponist aus seinem luftleeren Raum wegbegeben und sich einen sozialen Standort suchen.“11

Ganz in diesem Sinn wird moderne Musik nur dann eine Zukunft haben, wenn ihr neuer Stil „sowohl Einfaches als auch Kompliziertes darstellen kann. Wann man aber einfach oder komplizierter darstellen muß, darf nicht von der Willkür des Komponisten abhängen, sondern wird durch die Funktion eines Musikstückes, durch seinen Inhalt, kurz, durch den sozialen Auftrag, den der Komponist zu erfüllen hat, bestimmt.“12

Vor allem von dieser sozialen Funktion der Musik her rührt die Vielgestaltigkeit der Kompositionen Eislers. Albrecht Dümling fasst dies treffend wie folgt zusammen: „Um Eislers Musik bewerten und einschätzen zu können, ist deshalb immer der historische und gesellschaftliche Rahmen zu berücksichtigen, in dem sie stand oder stehen sollte. Da Eisler für sehr unterschiedliche Musiker komponierte – für professionelle Ensembles und Solisten, aber auch für Klavierschüler oder Arbeitersänger – und für sehr unterschiedliche Kontexte – für Avantgardekonzert, Film, Theater, Massenveran­ staltung oder Demonstration –, ist seine Musik so vielgestaltig.“13 10 H. Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik (s. Anm. 4), S. 42. 11 A.a.O., S. 128. 12 A.a.O., S. 145. 13 Albrecht Dümling, Entscheidend ist die Funktion. Hanns Eisler und die Musik, in: Hanns Eisler. Mensch und Masse / Individualist – Collectivist, hg. v. Michael Haas u. Wiebke Krohn im Auftrag des Jüdischen Museums Wien, Wien 2009, S. (117–125) 117.

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1.2 Berlin 1925–1933

Aufgrund seiner Einsicht in die soziale Funktion der Musik und angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen wandte sich Eisler zunehmend von der reinen Musik sowie dem bürgerlichen Konzertbetrieb ab und einer angewandten Musik zu, die für die anstehenden sozialen Kämpfe zweckmäßig sowie für deren Protagonisten, nämlich die Arbeiterbewegung, fasslich und brauchbar sein sollte. Die dementsprechende Devise lautete: Heraus aus dem bürgerlichen Konzertsaal auf die Straßen! Hinein in die Kneipen, Kabaretts, Arenen, in das Radio, den Film! Es ging um Musik, die die Massen ergreift und mitreißt, um kämpferische Musik. Das aber war vor allem Vokalmusik, es waren leicht einprägsame Lieder, die nicht nur von den Arbeiterchören vorgetragen, sondern auch von den Massen mitgesungen werden konnten. Bereits in Wien hatte Eisler – wie übrigens zuzeiten auch Schönberg und Webern – verschiedene Arbeiterchöre geleitet. Sein neues Auf­ gabenfeld aber sah er ab 1925, sicher auch inspiriert durch seinen Bruder, im Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung: in Berlin.14 Und 1927 vollzog Eisler, wiewohl nicht Parteimitglied, sozusagen offiziell den Schritt hin zur proletarischen Sache – wie übrigens viele andere be­ deutende Künstler dies in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre taten, so Bertolt Brecht, John Heartfield, Erwin Piscator, Johannes R. Becher, Anna Seghers.15 Die soziale Aufgabe der Musik war also gegeben: der Kampf gegen soziale und politische Ungerechtigkeit, gegen Armut, Unterdrückung, für eine sozialistische Revolution, für die 1917 die russische Oktoberrevolution Maßstäbe gesetzt hatte. Und wie kein Zweiter hat Eisler diese Aufgabe mit der ihm eigenen, nachgerade unerschöpflichen Energie ­angepackt, und zwar theoretisch wie praktisch. Seine bedeutendsten Mitstreiter waren dabei sicher Bertolt Brecht als Dichter auf der einen und Ernst Busch als Sänger auf der anderen Seite. Auf letzteren 14 Die folgende Mitteilung Jürgen Scheberas ist an dieser Stelle erwähnenswert: „Damals waren im Deutschen Arbeiter-Sängerbund (DAS) nicht weniger als 440.000 (aktive und passive) Mitglieder vereint – eine heute fast unvorstellbare Zahl.“ (Jürgen Schebera, Hanns Eisler. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten, Mainz u. a. 1998, S. 50) 15 Vgl. a.a.O., S. 48.

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komme ich gleich zu sprechen, indem ich die musikalischen Anliegen und Wirkungen Eislers etwas ausführlicher erläutere. Natürlich konnte Eisler viele kompositorische Möglichkeiten, die durch die avancierte Musik Schönbergs erschlossen worden waren und die er selbst in seinen frühen Liedern sowie Klavier- und Kammermusikwerken angewendet hatte, für die von ihm anvisierten Aufgaben nur in reduzierter Form benutzen. Die Musik musste vereinfacht werden, ohne verflachen zu dürfen, ohne zu der von Eisler gern als solche bezeichneten „Schundmusik“ zu werden. Eingängige Musik zu schreiben, die dennoch nicht zum Kitsch verkommt, vielmehr hohes musikalisches Niveau hält, war das Ziel. Aufgrund dessen stand für ihn die „angewandte Musik“ im Vordergrund; reine Musik „ohne Worte, ohne thea­ tralische Vorgänge, ohne konkrete Anlässe“ hielt er zumindest zu dieser Zeit für eine vergangene Form bürgerlicher Musik.16 „Die revolutionäre Arbeitermusikbewegung knüpft auf einer höheren Stufe an die primitivsten Methoden der Musik wieder an, sie hat keine technischen Produktionsmittel und so muß sie sich der natürlichen bedienen: des Gesanges als primitivstes musikalisches Produktionsmittel. Dieser für den bürgerlichen Fachmann scheinbare Nachteil schlägt um in einen ungeheuren Fortschritt der allgemeinen Musikentwicklung der Menschheit: Die Musik-Produktion und -Konsumption wird aus einer Angelegenheit für Kenner und Fachleute zu einer allgemeinen menschlichen Sache.“17

Die Wirkung, die Eisler mit dieser Musik in den 1920er und 1930er Jahren erzielte, war ganz offensichtlich enorm und nicht zuletzt auf die 16 Vgl. Manfred Grabs, Hanns Eisler. Kompositionen – Schriften – Literatur. Ein Handbuch, Leipzig 1984, S. 12 f. – Vgl. in dem Zusammenhang auch Eislers Ablehnung der Konzertform. Er schreibt 1931: „Die Konzertform, die sich im Zeitalter der Bourgeoisie ausbildete, ist für die Zwecke der revolutionären Arbeiterschaft unbrauchbar. Sie kann nur unverbindliche Genüsse bieten und den Hörer passiv machen.“ (Hanns Eisler, Musik und Politik. Schriften 1924–1948, Leipzig 21985, S. 114 f.) Dass Eisler dem Konzert zumindest später wieder einen, wenn auch nicht hervorragenden Stellenwert beimaß, belegen u. a. seine Bemerkungen in: H. Eisler, Gespräche mit Hans Bunge (s. Anm. 3), S. 152. 17 H. Eisler, a.a.O., S. 180. In dem Zusammenhang kann Eisler das Kampflied auch als „das eigentliche Volkslied des Proletariats“ bezeichnen, das in der neuen Zeit das aus dem Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts stammende Volkslied der Bauern, Handwerker und Kleinbürger beerbt. Vgl. H. Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik (s. Anm. 4), S. 107.

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­ irkungsvolle Darbietung durch Eisler am Klavier und den kongenialen w Schauspieler und Sänger Ernst Busch zurückzuführen. Dafür stehe das folgende Beispiel: Manfred Grabs schildert, indem er einen Zeitungsbericht heranzieht, sehr eindrücklich die Attraktivität eines Auftritts von Eisler und Busch auf einem Volksfest im Berliner Lunapark im Mai 1932: „Berg- und Talbahn, Rumbatreppe, Eisbuden, Musikkapellen, Gespensterbahn, Avusrenner, Vorführungen von Luftakrobaten und Kraftmenschen und viele andere Attraktionen schlugen Zehntausende in ihren Bann. ‚Als dann aber Eisler und Ernst Busch auf dem Podium erschienen, da ließen selbst die Allerbegeistertsten die Rutschbahn im Stich und stellten sich vor dem Musikpavillon auf‘, hebt die Zeitung ‚Welt am Abend‘ (30.5.1932) in Fettdruck hervor. ‚Der Beifall wurde zum Sturm, immer wieder wurden Zugaben verlangt. […] Als dann das Kampflied erscholl ‚Arbeiter, Bauern …‘, da tat die vieltausendköpfige Menge mit, sang mit, wippte im Takt des Liedes, – war ein großer begeisterter Strom. Da fühlte man: Hier sind nicht irgendwelche Vergnügungsparkbesucher, hier ist eine große, einige Gemeinschaft, – hier ist heute das rote Berlin!‘“18

Und Eisler selbst berichtet in bewegten Worten über ein Konzert bei den Internationalen Brigaden in Spanien im Januar 1937: „Um fünf Uhr Nachmittag begann pünktlich eines der eigentümlichsten Konzerte, denen ich beigewohnt habe. Auf der Bühne sangen die Freiwilligen. Ein Teil von ihnen war verwundet. […] Im Zuschauerraum saßen Freiwillige und Spanier. Erschütternd war der wilde Hunger nach einem kulturellen Leben. […] Es war eine wirklich ergreifende Veran­ staltung. Schön wurde nicht gesungen, die Stimmen waren heiser durch die große Kälte in den Stellungen. Aber es wurde frisch gesungen, und so wurde begeistert gesungen. […] Für mich als Komponisten war es der lehrreichste Abend, denn er zeigte wieder, wie notwendig die Musik und wie wichtig sie sein kann in den großen Kämpfen um eine neue Welt.“19 18 M. Grabs, Hanns Eisler (s. Anm. 16), S. 9 f. – Vgl. auch die Bemerkung von J. Schebera, Hanns Eisler (s. Anm. 14), S. 66: „Neben den nächtlichen Kabarettvorträgen aber wurden bald Auftritte vor Arbeiterpublikum zur wichtigsten ‚Bühne‘ von Busch und Eisler, erstmals am 3. November 1929 im Zirkus Busch […] und ab 1930 dann immer öfter, in kleinen wie großen Sälen, vor einem Publikum von einigen hundert Menschen bis zu 20.000 Besuchern im Sportpalast.“ 19 H. Eisler, Musik und Politik (s. Anm. 16), S. 396.

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Die „Kampfmusik“, die neben einstimmigen Massenliedern mehrstimmige, zum Teil durchaus anspruchsvolle Chorlieder und von Schauspielern vorzutragende, am ehesten dem Chanson vergleichbare Lieder bzw. Balladen umfasste, betrachtete Eisler selbst als vorübergehende Zeiterscheinung. Sie hatte ihre wichtige Funktion in den Kämpfen der 1920er und 1930er Jahre. In der Rückschau erscheint sie als „ein herausragendes Beispiel einer intendiert politischen Musik, die gleichermaßen unmittelbar wirksam, eingängig, populär und – gemessen am Genrehintergrund des ‚politischen Liedes‘ – musikalisch neuartig war“. 20 In dieser Weise versuchte Eisler in der damaligen Zeit, seinen sozialen Auftrag als Komponist und Musiker (Pianist, Dirigent) zu erfüllen. „Die Dynamik, mit der sich Eislers Kampflieder ab 1929 verbreiten, hängt mit der großen Krise unmittelbar zusammen. […] Der Widerhall ist international: wie die Krise der Weltwirtschaft und wie – umgekehrt – die Hoffnung, den Sozialismus bald international aufzubauen. Ihr geben die Kampflieder Ausdruck.“21 1.3 Exil 1933–1948

1933 beginnt für Eisler eine unruhige Zeit. Dass er als Sohn eines jüdischen Vaters und zu allem Überfluss als Kommunist einer der ersten ist, der Deutschland verlässt, ist alles andere als verwunderlich. Dass er sich nach einer fünfjährigen Wanderzeit trotz mancherlei Querelen schließlich für zehn Jahre in den USA niederlässt, gibt schon eher zu Fragen Anlass. Gleichwohl kam für Eisler – wie übrigens auch für Brecht – ein Exil in der Sowjetunion offensichtlich nicht in Betracht. Zwar bewundert er vieles an diesem Land und erkennt seine historische Vorkämpferrolle uneingeschränkt an; aber so manches bleibt ihm gleichwohl fremd, so der zivilisatorische Rückstand zu den europäischen Ländern, die geringen Aussichten auf Resonanz für seine künst­ lerischen Absichten und bedenkliche Tendenzen in der sowjetischen Kunst. „Hinzu kommt, daß weder Eisler noch Brecht – beide nicht

20 Christian Glanz, Hanns Eisler. Werk und Leben, Wien 2008, S. 91. 21 A. Betz, Hanns Eisler (s. Anm. 2), S. 81.

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Parteimitglieder – von der KPD aufgefordert wurden, in die Sowjetunion zu emigrieren.“22 Neben ca. 40 Bühnenmusiken verschiedenster Art hat Eisler nahezu 50 Filmmusiken komponiert. 23 Viele dieser Filmmusiken entstanden im Exil, vor allem nachdem Eisler schließlich nach Hollywood übergesiedelt war. Dass es sich dabei in nicht wenigen Fällen um „Brotarbeit“ handelte, die keinen höheren Ansprüchen genügen wollte, ist sicher richtig. Andererseits hat Eisler ein Forschungsprojekt zur Filmmusik durchgeführt, in dem es um die Möglichkeiten und Aufgaben dieser Musik ging und dessen Ergebnisse er gemeinsam mit Theodor W. Adorno als Buch ausarbeitete. Für Eisler war also Filmmusik – bis auf den im Exil unvermeidlichen „Broterwerb“ – sehr wohl eine seriöse Angelegenheit, die er überdies als hoch reflektierter Mensch einer eingehenden Untersuchung unterzog. Dabei sieht er die gewöhnliche Filmmusik erwartungsgemäß kritisch, da sie meist nur illustrierende Bedeutung habe und in Hollywood ohnehin zum kitschigen Schwulst degeneriert sei. Demgegenüber soll die Filmmusik „einen dramaturgischen Kontrapunkt zum Bildverlauf bilden, das heißt, sich komplementär zu ihm verhalten“. Obwohl die „Gestik“ von Bildern und Musik eine Einheit darstelle, „solle die Beziehung im tiefsten Moment der Einheit antithetisch sein“. 24 In dieser Weise will Eisler der Filmmusik ihre Eigenständigkeit sichern, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er einige seiner Filmmusiken als kammermusikalische Suiten bearbeitet hat. Freilich war Hollywood mit seiner Filmindustrie für Eisler ein überaus problematischer Ort. Ob er es wie sein Freund Brecht geradezu als „Zentrum des Weltrauschgifthandels“25 bezeichnet hätte, bleibe ­dahingestellt. Zumindest sein erster Eindruck war jedenfalls verheerend. Kurz nach seiner Ankunft schrieb er an seine Frau Lou, die noch in New York war: 22 A.a.O., S. 108 f. – Dass Eisler zudem gut beraten war, nicht in die Sowjetunion zu emi­ grieren, sei hier ebenfalls erwähnt. Denn dort erreicht zu der Zeit „der Personenkult neue Ausmaße, sind die Schauprozesse und ‚Säuberungen‘ in vollem Gang“ (a.a.O., S. 143). 23 Vgl. M. Grabs, Hanns Eisler (s. Anm. 16), S. 13. – Dass zwei dieser Filmmusiken für den „Oscar“ nominiert wurden, sei hier nur beiläufig erwähnt. 24 A. Betz, Hanns Eisler (s. Anm. 2), S. 156. – Nach Betz, a.a.O. S. 158 f., sind Eislers Ansprüche an die Filmmusik übrigens „bis heute“ nicht eingelöst. 25 Zit. bei Betz, a.a.O., S. 161.

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„Ich finde es scheußlich hier. Denn hier gibt es zwei Typen. Die einen sind korrumpiert (in einem ungeheuerlichen Ausmaß). Die anderen sind deprimiert, weil niemand sie korrumpieren will (in einem ungeheuer­ lichen Ausmaß).“26

Jedoch, die Arbeitsbedingungen für Eisler waren nicht schlecht – und die möglichen Gesprächspartner schon gar nicht; ich nenne hier nur die Namen Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht, Charlie Chaplin, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann und Arnold Schönberg – bis auf Chaplin alle aus der deutschsprachigen „Exilgemeinde“. Und da ­Eisler ein umgänglicher, witziger, geistvoller Mensch und brillanter Unterhalter war, war er sowohl gern gesehener Gast als auch Gastgeber bei vielen Begegnungen der Exilierten. Freilich, ungeachtet dieser anregenden Begegnungen und Gespräche, ungeachtet der aufgrund dieser Begegnungen und Gespräche, aber auch nicht zuletzt aufgrund der Langeweile verhältnismäßig günstigen Schaffensbedingungen, sah Eis­ler die Problematik dieses Ortes sehr wohl: „In Hollywood: das ewige Präsens, über dem die Sonne der Werbung lächelt. Unbarmherzig regiert vom Geld und dem Zwang zum Erfolg, der wieder in Geld mündet. […] Alles ist im Vordergrund anwesend. Eine statische Situation, ein artifizielles Refugium, das für deutsche Künstler im Exil nur auszuhalten ist, wenn, alle Widerstandskraft aufbietend, an Werken ‚für die Zeit danach‘ gearbeitet wird: als Morgengabe im Gepäck der Rückkehr.“27

Was Eisler „im Gepäck der Rückkehr“ schließlich mitbrachte, war vor allem das 1942/43 entstandene „Hollywooder Liederbuch“, eine Sammlung von 50 Liedern, sowie die „Deutsche Sinfonie“, Eislers umfangreichstes sinfonisches Werk von abendfüllender Länge. Während die 26 Zit. nach: F. Wissmann, Hanns Eisler (s. Anm. 8), S. 143. 27 Albrecht Betz, Der Komponist als Dialektiker. Hanns Eislers Philosophie der Musik, in: Hanns Eisler, (im Auftrag der Internationalen Hanns Eisler Gesellschaft) hg. v. Al­ brecht Dümling, Frankfurt a.M / Basel 2010, S. (132–140) 137. – Was Eisler etwa von der in der amerikanischen Musikindus­trie durch Schallplatte, Radio und Tonfilm massenhaft produzierten Ware der „leichten Musik“ hielt, brachte er 1935 wie folgt zum Ausdruck: „Technisch gesehen ist diese vorher nie geahnte Demokratisierung des Musikgenusses etwas Großartiges. Aber die auf diese Weise leicht und billig zu erlangende Musik spiegelt größtenteils in einer abscheulichen Weise die schmutzige Erotik, die verlogene Moral der verfaulenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung wider, die eine neue Art ‚Opium für das Volk‘ ist.“ (H. Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik [s. Anm. 4], S. 120 f.)

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Lieder oft einen melancholischen, ja elegischen, aber auch aufbegehrenden Ton anschlagen, der dennoch von einem Grundton der Zuversicht auf die Überwindung der gegebenen Misere getragen ist, thematisiert die Sinfonie über allen zum Ausdruck gebrachten äußersten Schmerz hinaus vor allem den antifaschistischen Widerstandskampf. Beide bedeutenden Werke aus der Exilszeit sind allerdings von der Kampfmusik der 1930er Jahre sowohl in der Kompositionsweise wie im Charakter erheblich unterschieden. Hier stehen nicht ungebrochene kämpferische Zuversicht und der mitreißende Schwung der Massen im Vordergrund; hier spielen vielmehr Leid, Schmerz und Tod nicht zuletzt der Einzelnen eine wichtige Rolle. Dementsprechend verwendet Eisler hier vermehrt die von ­seinem Lehrer Schönberg entwickelte atonale sowie zwölftönige ­Methode der Komposition. 1.4 Wien / Berlin 1948–1962

Trotz der vielfältigen Solidaritätsbekundungen durch namhafte Künst­ler wie Chaplin, Picasso und Thomas Mann; trotz dessen, dass sich Eisler im Exil politisch eher unauffällig verhalten hatte und kein Partei­ mitglied war, musste er (aber durfte er auch!) 1948 die USA nach längeren Querelen und enervierenden Befragungen wegen „unamerikanischer Aktivitäten“ verlassen. 28 Dabei spielte Eislers Bruder Gerhart keine geringe Rolle, der ja tatsächlich Mitglied der KPD war und als Spion und Feind Amerikas galt, ebenso wie in entgegengesetzter Weise seine Schwester, die ihre beiden Brüder als Kommunisten denunzierte. Diese unliebsamen Geschichten können hier auf sich beruhen, zumal Eisler immerhin ausreisen durfte, also nicht dauerhaft inhaftiert wurde. Eisler ging zunächst nach Wien, in die Stadt seiner musikalischen Herkunft. Da sich ihm aber dort als Komponist und Musiker keine 28 Obwohl Eisler keine Mitgliedschaft in der KPD oder KPÖ nachgewiesen werden konnte, konnten seine Aktivitäten im Sinne des Sozialismus / Kommunismus sowie für die mittlerweile vom Alliierten im heißen Krieg zum Feind im „Kalten Krieg“ mutierte Sowjetunion selbstverständlich nicht gänzlich verborgen bleiben. So wurde er gar als „Karl Marx der Musik“ angeklagt – was er als zu viel der Ehre betrachtete. So wie er übrigens auch ausdrücklich darauf hinwies, kein Kommunist zu sein, denn diese seien Helden, er sei kein Held. „I’m not a hero, I’m a composer“, so lautete seine prägnante Auskunft in dieser Hinsicht.

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verheißungsvolle Perspektive eröffnete, übersiedelte er 1949 wiederum nach Berlin. Und er wählte bewusst den östlichen Teil der geteilten Stadt, nämlich „in der Hoffnung (übrigens vieler wie Bloch, Brecht, Heartfield u. a.), am Aufbau einer neuen, sozialistischen Kultur mitarbeiten zu können“. 29 Welche Schwierigkeiten Eisler als loyaler, gleichwohl kritischer Staatsbürger in der DDR hatte, wird uns später beschäftigen. Jetzt geht es um den Komponisten und Musiker. Da ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Eisler wegen seiner vielfältigen Funktionen als Lehrer sowie als Repräsentant der DDR-Musikkultur längst nicht mehr über das Ausmaß an freier Zeit verfügte wie zu ­Zeiten des Exils. Sodann aber scheint es ihm als überaus kritischem, reflektiertem Menschen nicht eben leicht gefallen zu sein, den politisch erwarteten und wohl auch von ihm selbst gewünschten strahlenden Optimismus kompositorisch zum Ausdruck zu bringen. Natürlich lässt sich seine kompositorische Tätigkeit in den letzten Jahren seines Lebens nicht auf die DDR-Hymne sowie die „Neuen deutschen Volkslieder“ – beides nach Texten von ­Johannes R. Becher – reduzieren.30 Da sind sicher etwa auch die Kinderlieder nach Texten von Brecht31 zu nennen oder auch (weitere) Lieder nach Texten von ­Tucholsky. Freilich sind dies alles keine Kompositionen von großem Gewicht, und so kann man wohl Albrecht Betz zustimmen, wenn er resümiert: „So ist es, von den Ernsten Gesängen abgesehen – in die er [sc. Eisler] früher geschriebene Hölderlin-Lieder aufnahm –, zu einem bedeutenden

29 A. Betz, Der Komponist als Dialektiker (s. Anm. 27), S. 139. 30 Im sogenannten Westen wurde Eisler freilich geradezu auf die Komposition der verhassten DDR-Hymne reduziert und damit als Staatskomponist denunziert. Dabei war Eisler alles andere als das, was sich auch daran zeigte, dass die Zusammenarbeit mit dem Staatsdichter und Kulturminister J. R. Becher nur kurzfristig Bestand hatte. Der kritische Eisler und der eher opportunistische Becher passten offenkundig nicht zueinander – ganz anders als Eisler und Brecht, auf deren großartige Freundschaft ich bald zu sprechen komme. Die „Neuen deutschen Volkslieder“ übrigens waren zwar anfangs durchaus erfolgreich, wurden aber wohl auf die Dauer als allzu schlicht und naiv optimistisch empfunden; vgl. Fritz Hennenberg, Hanns Eisler, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 89–91. 31 Die sogenannte Kinderhymne „Anmut sparet nicht noch Mühe“ wurde übrigens 1990 von einigen Bürgerbewegten als neue deutsche Nationalhymne ins Gespräch gebracht – hatte als solche freilich im konservativ dominierten Deutschland ebenso wenig eine Chance wie eine neue Verfassung.

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Spätwerk nicht wirklich gekommen. Eislers kreativste Phase bleibt – neben den Jahren der späten Weimarer Republik – die des Exils.“32

Die „Ernsten Gesänge“ nun, die Eisler 1961/62 komponierte bzw. arrangierte und die er kurz vor seinem Tod abschloss, können durchaus als sein Vermächtnis betrachtet werden. Und wenn dies zu hoch gegriffen sein mag: Dieses sein kompositorisches Schaffen abschließende Werk, das nicht von ungefähr an Brahms’ „Vier ernste Gesänge“ erinnert, stellt doch „zumindest eine Art Bilanzierung seines kompositorischen Schaffens“ dar. „Wie in einer Retrospektive begegnen uns ganz unterschiedliche Stile und Zeiten.“33 Die Lieder für Bariton und Kammerorchester lagen zum großen Teil bereits als Klavierlieder vor. „Eisler überarbeitete sie geringfügig und nahm eine durchgehende Orches­trierung vor.“ Außerdem fügte er einen Epilog hinzu, so dass die „Ernsten Gesänge“ schließlich „Sieben kleine Stücke“ umfassen, wie Eisler selbst im Gespräch mit Hans Bunge meinte. Und in der Tat „währt jeder Satz kaum mehr als zwei, höchstens zweieinhalb Minuten“.34 Die Gesänge bringen Klage, Schmerz, ja Verzweiflung zum Ausdruck. Gleichwohl, ganz im Sinne von Eislers kommentierender Bemerkung „Ich liebe ­Widersprüche“, lautet die übergreifende Vortragsanweisung, dass die Lieder in einem freundlichen Ton zu singen seien: „In freundlichem Ton habe der Sänger zu singen, nicht gefühlskalt, aber er möge sein Inneres nicht ausbreiten. Freundlich möge das Unfreund­ liche, die Klage, die Verzweiflung artikuliert werden – nicht um es zu bagatellisieren, sondern um mit dem Gewesenen so zu leben, daß es die Menschen nicht zu Boden drücke. Das Andere, Bessere ist nicht oder nicht primär den Botschaften eingesenkt, sondern der Art, sie zu formulieren, sie weiterzugeben.“35

32 A. Betz, Der Komponist als Dialektiker (s. Anm. 27), S. 140. 33 F. Wissmann, Hanns Eisler (s. Anm. 8), S. 217; das folgende Zitat a.a.O., S. 221 f. 34 Gerd Rienäcker, „Künftigen Glückes gewiß, gewiß, gewiß“ – fünf Sätze über Eislers „Ernste Gesänge“, in: Hanns Eisler – Ein Komponist ohne Heimat?, hg. v. Hartmut Krones, Wien / Köln / Weimar 2012, S. (109–115) 110. – Dass Eisler, darin Webern nahe, ­ohnehin ein Meister der Prägnanz, der kleinen Form war, betont Rienäcker ebd. sicher zu Recht, wenngleich man ihm nicht darin zustimmen muss, dass Eisler an der großen Form scheiterte, wenn er sie nicht in Miniaturen zerlegen konnte. 35 A.a.O., S. 114. – F. Hennenberg, Hanns Eisler (s. Anm. 30), S. 109, meint freilich, dass auch die „Musiksprache“ der Gesänge „einen freundlichen, hoffenden Zug“ ausdrücke.

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Wie Eislers Hoffnung auf das „Andere, Bessere“ in etwa beschaffen war, wird uns bald beschäftigen. Hier ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Eisler in seinen Kompositionen alles andere als bloßen ungebrochenen Optimismus36 zum Ausdruck brachte, dass er freilich bei allem Schmerz und mancher Verzweiflung an einer hoffnungsvollen Perspektive fest­ zuhalten scheint. 1.5 Resümee

Hanns Eislers kompositorisches Schaffen ist sehr vielfältig. Neben die Klavier- und Kammermusik tritt die Musik für Bühne und Film. Neben die umfangreichen Werke wie die Deutsche Sinfonie oder das LeninRequiem treten zahlreiche kleine Stücke von zum Teil nur sehr kurzer Dauer. Vor allem anderen aber dürfte Eisler ein, und zwar ein bedeutender Liedkomponist gewesen sein. Sein Schaffen beginnt mit Liedern, wird in seiner Zeit in der Weimarer Republik wie im Exil durch Lieder bestimmt und endet mit Liedern, den „Ernsten Gesängen“. „Unbestritten ist, dass Eisler aufgrund der großen Zahl von Brecht-Liedern, aber auch durch seine Tucholsky-Vertonungen zu den bedeutendsten Liedkomponisten des 20. Jahrhunderts zählt. Sein Spektrum reicht vom Massenlied bis zum Kunstlied – und bezieht irgendwo dazwischen Balladen, Chansons und Volkslieder mit ein.“37

Dabei war die Wirkung seiner Lieder, wie bereits in 1.2 angedeutet, immens. Auch wenn man das sozialistisch-realistische Pathos der Worte Eberhardt Reblings von 1957 nicht goutieren mag, so wird man ihm doch sachlich im Wesentlichen recht geben, wenn er schreibt:

Wie dem auch sei: Dass die Anweisung, freundlich zu singen, „einen Wesenszug von Eislers Musik“ bezeichnet und besonders beim späteren Eisler dominiert, kann man wohl sagen. Vgl. a.a.O., S. 120 f. 36 Sein einziger Sohn Georg Eisler, selbst ein bedeutender bildender Künstler, charakterisiert seinen Vater übrigens als sehr traurigen und melancholischen Menschen, „der das zu verbergen wusste hinter einem Kreuzfeuer von funkelndem Geist, witziger Konversation und drolligem Gehabe“. Vgl. F. Wissmann, Hanns Eisler (s. Anm. 8), S. 227. 37 F. Wissmann, Hanns Eisler (s. Anm. 8), S. 214. – J. Schebera, Hanns Eisler (s. Anm. 14), S. 271, hält Eisler gar für den Komponisten, was Tucholskys Texte betrifft. „Es sind schließlich 37 Lieder nach Tucholsky, die Band 9 der Lieder und Kantaten 1965 versammeln kann, entstanden 1931/32, Ende 1956 und 1959. Damit hatte der Dichter […] wohl endgültig seinen Komponisten gefunden.“

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„Eislers Lieder verbreiteten sich über die ganze Welt. […] Und vergessen wir auch nicht, daß das Singen Eislerscher Lieder den Opfern der faschistischen Blutherrschaft in Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzen­ trationslagern immer wieder neuen Mut verlieh!“38

Sicher wird man sagen können, dass Eisler vor allem Vokalkomponist war. Wie eng das mit seiner Neigung zur angewandten Musik sowie zur musikalischen Volkspädagogik zusammenhing,39 und ob diese Neigungen nicht vor allem durch die von ihm für entscheidend gehaltene soziale Funktion der Musik bedingt waren, brauche ich hier nicht weiter zu verfolgen. Klar ist in jedem Fall, dass viele der Vokalkompositionen Eislers entscheidend durch Bertolt Brecht beeinflusst, ja bedingt waren. Ich kann und muss diese vielleicht großartigste Künstlerfreundschaft im 20. Jahrhundert hier nicht ausführlich darstellen.40 Einiges will ich wegen der überragenden Bedeutung dieser Zusammenarbeit für Eisler als Komponisten gleichwohl andeuten. Die Zusammenarbeit währte mit einigen Unterbrechungen während des Exils etwa ein Vierteljahrhundert bis zu Brechts frühem Tod 1956. Entstanden ist dabei ein umfangreiches Werk von über 100 Liedern, mehreren Chorzyklen und Kantaten (Lenin-Requiem, Deutsche Sinfonie), Bühnenmusiken (Die Maßnahme, Die Mutter, Galileo Galilei) und Filmmusiken (Kuhle Wampe).41 Der energische, agile, eher extrovertierte Eisler mit seiner hohen literarischen Bildung und ebensolchem Interesse sowie der eher bedachtsame, introvertierte Brecht, dem Eisler nicht zuletzt „ein extrem pointiertes musikalisches Empfinden und eine große Einfühlungsgabe in das Wesen musikalischer Strukturen“ bescheinigte,42 passten offenbar bestens zuein38 Eberhardt Rebling, Ein Blick in ein großes Werk. Zum Liedschaffen Hanns Eislers, in: Hanns Eisler, Reden und Aufsätze, hg. v. Win­fried Höntsch, Leipzig 21961, S. (142– 154) 143. 39 Vgl. Károly Csipák, 11 Thesen zur Eisler-Rezeption, in: A. Dümling (Hg.), Hanns Eisler (s. Anm. 27), S. (237–249) 247. 40 Vgl. v. a. H. Eisler, Gespräche mit Hans Bunge (s. Anm. 3); Tina Bucek, Frei aber bedeutungslos? Das Dilemma der Kunst im 21. Jahrhundert. Eine ästhetische Spurensuche mit Hanns Eisler, Essen 2012, bes. S. 35–42; Jürgen Schebera, „Hältst Du es für brauchbar?“ Hanns Eisler und Bertolt Brecht. Eine einzigartige Arbeitsfreundschaft des 20. Jahrhunderts, in: M. Haas / W. Krohn (Hg.), Hanns Eisler. Mensch und Masse (s. Anm. 13), S. 169–183; Klaus Völker, Brecht und Eisler einte das Streben nach Vernunft auch in der Musik, in: A. Dümling (Hg.), Hanns Eisler (s. Anm. 27), S. 115–131. 41 Vgl. J. Schebera, „Hältst Du es für brauchbar?“ (s. Anm. 40), S. 169. 42 K. Völker, Brecht und Eisler einte das Streben nach Vernunft auch in der Musik (s. Anm. 40), S. 115.

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ander. Außer ihren sozusagen komplementären Eigenschaften einte sie vor allem ihr Einsatz für die „dritte Sache“ (der Arbeiterbewegung), ihre hoch entwickelte, kritische Reflexionsfähigkeit, ihr hintergründiger und zuweilen sicher auch vordergründiger Witz.43 Brecht, der sich fast alle seine Gedichte als vertonte vorstellte und sie ja zuweilen auch selbst zur Gitarre gesungen hatte; der den Liedern und Musikeinlagen in seinen Bühnenstücken von Anfang an eine überragende Bedeutung beimaß, fand in Eisler nicht nur den kongenialen Komponisten, sondern auch den kritisch mitdenkenden Dichter. Eisler seinerseits fand in Brecht den kongenialen Dichter und kritisch mitdenkenden Musiker. Mit zwei bezeichnenden Zeugnissen der beiden Freunde übereinander mögen diese wenigen Andeutungen ihr Bewenden haben. Brecht notierte am 21. April 1942 in seinem Journal: „Ein wenig ist es, als würde ich in irgendeiner Menge stolpernd mit unklarem Kopf plötzlich angerufen mit meinem alten Namen, wenn ich Eisler sehe.“44 Und Eisler am 17. August 1956 im „Neuen Deutschland“ zum Tod des Freundes: „Der Tod Bertolt Brechts, des größten Dichters und Dramatikers nicht nur unseres Jahrhunderts, ist ein entsetzlicher Verlust für die Menschheit. Ihn ehren, heißt seine Werke lebendig halten. Dafür will ich mich bemühen, so gut ich kann und solange ich lebe.“

Letzteres Versprechen hat Eisler zweifellos nicht nur als Ehrensache betrachtet, sondern auch gehalten.

2. Sozialist Im Folgenden soll es vor allem darum gehen, einige Charakteristika Eislers zu akzentuieren, die in Punkt 1 bereits angesprochen worden sind. Denn eins ist von vornherein klar: Der Komponist Eisler, der seit seiner Jugend eine Musik schreiben wollte, die dem Sozialismus nützt, ist engs43 Siehe Eislers hübschen Spruch: „Ein Kalauer ist besser als ein schlechtes Andante.“ (zit. bei F. Wissmann, Hanns Eisler [s. Anm. 8], S. 43) 44 Zit. bei J. Schebera, „Hältst Du es für brauchbar?“ (s. Anm. 40), S. 174; das folgende Zitat: a.a.O., S. 181. 45 Thomas Freitag, „Das Neue, so merkwürdig …“ Hanns Eisler, John Lennon. Die Gespräche, Berlin 2010, S. 37.

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tens mit dem Sozialisten Eisler verbunden. Von seinem frühen Engagement in der Arbeiterbewegung war bereits die Rede. In einem Gespräch mit John Lennon 1962 akzentuiert Eisler seine frühe Verbindung zur Arbeiterbewegung wie folgt: „Ich bringe doch beide Seiten der Herkunft schon mit, der Vater ein Gelehrter, die Mutter kommt aus dem Arbeitermilieu. Sie hatte zeitig erfahren, was es heißt, im Leben zu kämpfen. Für mich war völlig klar, dass diese großartige Kunst, die Musik, der geschichtlich fortschrittlichsten Klasse, den Arbeitern, zugute kommen musste.“45

Wiewohl Eisler, wie erwähnt, weder Mitglied der KPÖ noch der KPD noch auch der SED war, war er ein überzeugter Sozialist bzw. Kommunist. Da er aber zugleich ein selbstständig und überaus kritisch denkender Künstler war, blieben die Konflikte mit der KPD wie später mit der SED nicht aus. Ich weise hier nur auf Einiges hin. So lehnte Eisler wie auch andere den Hitler-Stalin-Pakt ab. Das jedoch brachte ihn in teils heftige Bedrängnis. „Fast zwei Jahre lang – bis sich mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion die Fronten wieder klären – wird Eisler von KP-Mitgliedern gemieden, nicht einmal gegrüßt. Das geht bis zu dem, bei ihm absurden, Trotzkismusverdacht.“46

Und nach seiner Übersiedlung in die DDR, die er grundsätzlich stets verteidigte, werden die Konflikte nicht weniger. Bezeichnend genug ist bereits, dass Eisler nach seiner Übersiedlung sowohl seine Wohnung in Wien wie auch die österreichische Staatsbürgerschaft keineswegs aufgab. Und schon 1953 konnte er den Rückzugsort Wien dringend gebrauchen. Dieses Jahr war für Eisler besonders schwierig. Denn neben der Trennung von seiner zweiten Ehefrau brachte es vor allem den 17. Juni sowie die damit durchaus zusammenhängende sogenannte Faustus-Debatte. Zur Revolte vom 17. Juni schrieb Eisler an die Nachrichtenagentur ADN: „Ich bin in meinem ganzen Leben immer für die Sache der Arbeiter eingetreten und werde das bis zum Ende meines Lebens tun. Was aber ges­ tern in Berlin geschah, hat nicht der Sache der deutschen Arbeiterklasse

46 A. Betz, Hanns Eisler (s. Anm. 2), S. 152.

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genützt, weder ihren berechtigten wirtschaftlichen Forderungen, noch ihren nationalen Interessen, noch ihrem berechtigten Bestreben der Korrektur schwerer Fehler. Aus dem, was gestern geschah, haben die Feinde der Arbeiter ihren Nutzen gezogen und wir müssen jetzt alles tun, damit alle Schichten der Bevölkerung – Arbeiter, Bauern, Mittelstand, Intelligenz und Regierung – zusammen eine rücksichtslose Selbstkritik halten, damit unser Aufbau und unser Aufstieg durch ernste Fehler nicht gefährdet wird.“47

Wie gesagt, diese harsche, wiewohl für Eislers energische, direkte Art typische Kritik steht auch im Zusammenhang mit den Vorgängen um sein Opernprojekt „Johann Faustus“. Eisler maß diesem Projekt offensichtlich große Bedeutung bei. Nach Albrecht Betz steht es gar „außer Zweifel, daß Eisler damals sein Hauptwerk anzugehen sucht, bestärkt durch die günstigen Urteile über sein Textbuch nach dessen Veröffentlichung, Ende 1952, im Aufbau-Verlag“.48 Allein, das Projekt scheiterte, weil es von den SED-Kulturfunktionären nach unliebsamen ­Debatten bzw. sogenannten Aussprachen in der Akademie der Künste schroff zurückgewiesen wurde. Bezeichnend dafür ist ein Leitartikel aus dem „Neuen Deutschland“ vom 14. Mai 1953. Dort heißt es u. a.: „Hanns Eisler hat dem deutschen Volk optimistische, volkstümliche, wegweisende Massenlieder mit schöner nationaler Intonation geschenkt. Sie begeistern und entflammen das deutsche Volk und besonders die deutsche Jugend in ihrem Kampf für ein neues Deutschland. Zu diesen Schöpfungen steht der ‚Johann Faustus‘ in Widerspruch. Er ist pessimistisch, volksfremd, ausweglos, antinational. Daher halten wir diesen Text für ungeeignet für eine neue deutsche Nationaloper.“49

Diese Zurückweisung war für Eisler wohl der schwerste Schlag des für ihn schwierigen Jahres 1953, zumal über die problematischen Vorgänge in der DDR hinaus die Schauprozesse in den Ländern des Ostblocks zu Beginn der 50er Jahre virulent waren. Und zu allem Überfluss stand der von dem berüchtigten sowjetischen Kulturfunktionär Schdanow 47 Zit. von J. Schebera, Hanns Eisler (s. Anm. 14), S. 246. 48 A. Betz, Hanns Eisler (s. Anm. 2), S. 196. – So hatten sowohl Thomas Mann wie Feuchtwanger ihn zum Textbuch beglückwünscht – und Brecht war ohnehin an der Ausarbeitung beteiligt. 49 Zit. von J. Schebera, Hanns Eisler (s. Anm. 14), S. 244.

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e­ rhobene Vorwurf des „Formalismus“ sowohl gegen wesentliche sowjetische Künstler wie Achmatowa, Pasternak, Prokofjew und Schostakowitsch wie auch gegen Eisler, Paul Dessau und Brecht drohend im Raum.50 Für Eisler war die Lage daraufhin so bedrängend, dass er in der DDR vorerst keine Perspektive mehr sah und sich nach Wien zurückzog. Nach sieben Monaten erst kehrte er nach Vermittlung von Brecht zurück. Wie erwähnt: Trotz aller mehr oder weniger schweren Konflikte hat Eisler die DDR grundsätzlich immer verteidigt. Den Mauerbau 1961 nahm er wohl als unvermeidliches, kleineres Übel in Kauf, zumal er als österreichischer Staatsbürger und prominenter Künstler weiter ungehindert reisen durfte. 12 Tage nach Schließung der innerdeutschen Grenze sprach Eisler bemerkenswerterweise von der großartigen DDR. „Mit allen Schwächen finde ich sie großartig“, meinte er im Gespräch mit Hans Bunge.51 Und in gleicher Weise äußert er Anfang 1962: „Ich sage Ihnen, dass ich dennoch voller Hoffnung bin, dass wir ein leistungsfähiges, sozialistisches, ein zukunftsfähiges Land errichten werden. Ich bin in der langen Zeit meines Lebens jetzt erstmals nicht in der Oppositionsrolle, sondern bekenne mich zu unserer Entwicklung, mag auch alles noch so schwer sein.“52

Angesichts solcher Äußerungen mag man aus heutiger Sicht skeptisch fragen, ob Eisler sich in der DDR gar zum Opportunisten gewandelt hat, da er erstmals nicht in einer Oppositionsrolle war und es ihm in der DDR als Künstler vergleichsweise gut ging. Dagegen indes sprechen bereits die angeführten Konflikte, dagegen spricht überdies seine grundsätzliche kritische Reflektiertheit. Sicher wurde ihm zu Recht vorgeworfen, „dass er zum Unrecht oft geschwiegen habe“. Jedoch wollte er die Hoffnung auf einen deutschen Sozialismus keinesfalls vorzeitig aufgeben – und die konservative Adenauer-BRD war für ihn jedenfalls keine Alternative. „Was Eisler äußerte, wenn er halbwegs unbeobachtet war, wissen wir nicht. Steffi Eisler sprach immer wieder von großer Verzweiflung. Nun, 50 Vgl. F. Wissmann, Hanns Eisler (s. Anm. 8), S. 204 f. 51 H. Eisler, Gespräche mit Hans Bunge (s. Anm. 3), S. 200. 52 T. Freitag, „Das Neue, so merkwürdig …“ (s. Anm. 45), S. 31.

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diese Verzweiflung ist im Spätwerk zu hören […], vor allem in den Erns­ ten Gesängen.“53

Ob sich Eislers angesprochene Verzweiflung nur auf die schwindenden Chancen für einen Sozialismus auf deutschem Boden und weltweit bezog; ob sie womöglich tiefer begründet war, nämlich in existenziellen Fragen wie der nach dem Tod, lässt sich wohl kaum sagen. Indes führen uns genau diese Fragen zu unserem letzten Gedanken, zu Eislers Atheismus.

3. Atheist Der Atheismus war Eisler quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater, der Philosoph und Privatgelehrte Rudolf Eisler, war zwar jüdischer Abkunft, aber bekennender Atheist – Eisler nannte ihn einen linksliberalen Neukantianer. Seine Mutter wiederum war bekennende Atheistin mit sozialdemokratischen Wurzeln. Der Bruder schließlich bekennt sich als leidenschaftlichen Atheisten, der die „Welträtsel“ von Haeckel stets bei sich trug.54 So spielte für Eisler die Religion weder praktisch noch theo­retisch eine Rolle, war für ihn schlicht obsolet. Praktisch wird für 1914 der Austritt Eislers aus dem Judentum vermeldet.55 Und theoretisch hat er sich die marxistische Religionskritik zu eigen gemacht, wonach Religion „Opium des Volkes“ (Marx) oder auch „Opium für das Volk“ (Lenin) ist. Demgemäß fungiert Religion höchstens als Negativfolie, so wenn er 1935 schreibt:

53 Gerd Rienäcker, Hanns Eisler – ein Sonderfall, in: H. Krones (Hg.), Hanns Eisler – Ein Komponist ohne Heimat? (s. Anm. 34), S. (331–340) 338 f. – Steffi Eisler übrigens ist Eislers dritte Frau. 54 Vgl. N. Notowicz, Wir reden hier nicht von Napoleon (s. Anm. 1), S. 215. 55 Desungeachtet ist über Eisler in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ eine Biographie erschienen: Andrea F. Bohlmann / Philip V. Bohlmann, Hanns Eisler. „In der Musik ist es anders“, Berlin 2012. Und dies deshalb, weil Eisler, obwohl er nicht explizit als Jude lebte, nach Auffassung der beiden AutorInnen „ein jüdisches Dasein“ führte. „Damit ist gemeint, dass sich seine Lebensumstände in Begriffen der jüdischen Geschichte fassen lassen können – Exil, Diaspora, Vertreibung, Wanderung, Rückkehr.“ (S. 7 f.) Und: „Hanns Eisler identifizierte sich mit dem Judentum nicht als Opfer, sondern als Kämpfer – als Kämpfer gegen Unterdrückung und das Unrecht in der Gesellschaft.“ (S. 10)

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„Wir glauben auch auf dem Gebiet der Musik nicht an eine göttliche Gnade und eine Erleuchtung von oben, sondern verlassen uns lieber auf Fleiß, Denkkraft und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Künstlers.“56

Oder wenn er 1961 von der enormen Rolle der Kirchen in der DDR spricht und zuspitzt: „Unsere Kirchen sind voll. Wer sich vorm Sozialismus drücken will, betet zu Gott. Und da sich leider bei uns noch eine Menge Leute vorm Sozialismus drücken wollen, beten sie.“57

Ansonsten kommt Eisler nur beiläufig auf Religion zu sprechen und bringt dabei seine ablehnende Haltung unmissverständlich zum Ausdruck. So äußert er sich 1961 zu dem Brahms-Lied „Auf dem Kirchhofe“. Eisler, der Brahms – wie ja auch sein Lehrer Schönberg – außerordentlich schätzt, attestiert Brahms zwar, dass er dieses Lied „besonders schön komponiert“ hat, ist aber mit dessen Schluss überhaupt nicht einverstanden: „Das ist eine protestantische, pietistische Haltung, die mir seit meiner Jugend zum Kotzen ist. Denn ich glaube nicht, daß der Tod das Genesen ist, sondern das Ende.“58 Und so bleibt es ganz augenscheinlich bei der beiläufigen Bemerkung Eislers im Jahr seines Todes: „Ich bin einer der unreligiösesten Menschen der Musikgeschichte – ich interessiere mich nicht einmal für Religion, habe gar keine Beziehung dazu.“59 Musik muss zum Kampf gegen Ungerechtigkeit motivieren und aktivieren, nicht trösten (Stichwort: Opium), um mit dem vermeintlich unentrinnbaren Geschick zu versöhnen. Dabei übernimmt Eisler aus der klassischen musikalischen Tradition verschiedenste ehemals religiöse Formen wie Requiem, Kantate, Choral, Passion.60 Jedoch werden diese Formen mit anderem Inhalt versehen, und zwar erwartungsgemäß ganz 56 H. Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik (s. Anm. 4), S. 114. 57 H. Eisler, Gespräche mit Hans Bunge (s. Anm. 3), S. 162. 58 A.a.O., S. 221. 59 H. Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik (s. Anm. 4), S. 322. 60 Zu denken ist hier etwa an das „Lenin-Requiem“, Kantaten in der „Deutschen Sinfonie“, „Die Maßnahme“, die man als „proletarische Passion“ (K. Völker, Brecht und Eisler einte das Streben nach Vernunft auch in der Musik [s. Anm. 40], S. 125) verstehen kann, u. a.m. Nach Frank Schneider ist vor allem der Einfluss Bachs auf Eisler enorm. Vgl. Frank Schneider, Eislers Kunst zu erben – Einiges zu seinem Umgang mit klassischer Musik, in: ders., Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR, Leipzig 1979, S. 169–197, bes. S. 186 ff.

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im Sinne der für Eisler zentralen sozialen Aufgabe der Musik, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen und dem Sozialismus zu nützen. In diesem Sinne kann er dann etwa Bachs Johannespassion, die er sehr schätzt, säkular interpretieren als Ausdruck einer exemplarischen menschlichen Leidensgeschichte: „Aber das sind ja eben großartige Dinge, wo mir das Religiöse ganz gleich ist“; hier „ist ja wirklich das Schicksal eines leidenden und gemarterten Menschen drinnen. Das könnte man genausogut für die Opfer des Faschismus im zweiten Weltkrieg aufführen, und es würde sich da nicht viel verändern.“61

Schluss Eisler liebte nicht nur Widersprüche, da er die Dialektik schätzte, sondern kann auch zutreffend als widersprüchlicher Künstler und Mensch in widersprüchlichen Zeiten begriffen werden. Auf der einen Seite wa­ren die erstarkende Arbeiterbewegung und die Tendenzen zur sozialistischen Revolution (einschließlich der Oktoberrevolution), auf der anderen Seite die verheerenden sozialen Probleme und der heraufziehende Faschismus. Auf der einen Seite war ein fürchterlicher Krieg, auf der anderen Seite das Exil im trügerisch beschaulichen Hollywood, das schließlich durch den aufkommenden „Kalten Krieg“ unsanft beendet wurde. Auf der einen Seite war die neu gegründete DDR mit ihrem ­antifaschistischen und sozialistischen Anspruch, auf der anderen Seite der „Klassenfeind“ im Westen und die fürchterlichen Verbrechen in der vermeintlich sozialistischen UdSSR. Diese Widersprüche spiegeln sich in Eislers Persönlichkeit wie in ­seinem künstlerischen Schaffen. Er war „ein Moderner und Schönberg-Schüler, dennoch lehnte er eine schwerverständliche Avantgarde ab. Er stand treu zur ‚Dritten Sache‘, während er Freunde, Schüler und Geliebte in Stalins Gulag verschwinden sah, er komponierte die Nationalhymne der DDR und wurde das Gesicht des

61 H. Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik (s. Anm. 4), S. 322. – Damit gibt Eisler übrigens die Richtung vor, in der man in der DDR (vor allem in den 1980er Jahren) die Musik Bachs „humanistisch“ interpretierte.

Hanns Eisler (1898–1962)  |  247

ostdeutschen öffentlichen Musiklebens und blieb dennoch bis zum Ende seines Lebens österreichischer Staatsbürger. […] Er setzte sich zum Ziel, einen einzigartigen proletarischen Musikstil zu erschaffen, der weder so seicht wie Popmusik, noch so elitär wie die ‚bourgeoise‘ Avantgarde klingen sollte. […] Er half der DDR bei der Erschaffung des Mythos eines antifaschistischen kommunistischen Deutschlands, trotzdem blieb sein Verhältnis zum Regime zweideutig und war oft teuer erkauft.“62

Bei alledem lassen bereits die Porträts wie auch seine Handschrift „den ausgeprägten Charakter dieses kleinen und vor Energie strotzenden Komponisten erahnen. Die widerstreitende Mischung etwa aus Ungeduld und Akribie, aus Nachlässigkeit und einem sehr ausgeprägten Sinn für Systematik, sind für Eisler ganz typisch.“63 Dass Eisler ganz gewiss nicht Weniges komponiert hat, das nur vor­ übergehende Bedeutung hatte oder allzu angepasst und folglich allzu seicht war, verbindet ihn mit vielen anderen bedeutenden Komponisten. Dass andererseits vor allem viele seiner Lieder und Kammermusikwerke zu den bedeutenden Kompositionen nicht nur des 20. Jahrhunderts gehören, sollte darüber keinesfalls vergessen werden. Und dass er als ausgesprochen „religiös unmusikalischer“ Mensch die Religion nicht nur in verschiedenster Hinsicht zu beerben beanspruchte, sondern auch in gewisser Weise durchaus religiöse Musik komponierte, soll am Schluss ­dieser Erwägungen nicht unerwähnt bleiben, hängt aber natürlich davon ab, was im gegebenen Fall unter „religiös“ verstanden wird. Allein, dieses weite Feld kann hier begreiflicherweise nicht mehr begangen werden.

62 M. Haas / W. Krohn (Hg.), Hanns Eisler (s. Anm. 13), S. 7. 63 F. Wissmann, Hanns Eisler (s. Anm. 8), S. 27. – Bezeichnend auch die Eindrücke, die der französische Regisseur Roger Planchon, der Eisler für die französische Erstaufführung von „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ gewinnen konnte, über seine Begegnung mit Eisler schildert. Dieser „legte seinen Spazierstock und seinen schönen Hut ab und stürzte sich sofort in Hemdsärmeln in die Arbeit.“ Weiter: „Das sicherste Mittel, seine Sätze wiederzugeben, wäre, seine Gesten zu beschreiben.“ Schließlich: „Diese Tage waren für uns eine lange Lehrzeit der Musik – oder der Moral – oder des Humors. Ich weiß nicht. In jedem Satz bringt Eisler die drei ineinander.“ (zit. bei T. Freitag, „Das Neue, so merkwürdig …“ [s. Anm. 45], S. 16)

Bewahrt das Geheimnis! Eine Predigt über 1Kor 4,1–5 Kerstin Söderblom

D

afür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden. Mir aber ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteilwerden.“ (1Kor 4,1–5)



Zahlen, Daten, Fakten. Das ist es, was zählt. Gewissheiten und Absicherung sind wichtige gesellschaftliche Währungen. Auch zur Zeit Jesu war das schon so. Obwohl man damals noch an Wunder geglaubt hat. Nachdem Jesus auferstanden war, forderte der Jünger Thomas von Jesus einen Beweis. Thomas wollte die Narben von Jesus berühren, damit er sich sicher sein konnte, dass die Person vor ihm tatsächlich Jesus war. Für Wunder waren die Menschen damals zwar offen. Sie ­galten als Zeichen von Autorität und Vollmacht. Aber Fakten und Beweise waren noch besser! Und heute? Heute rechnen die meisten Menschen nicht mehr mit Wundern. Deshalb kämpfen sie gegen Zweifel und Ungewissheit an. Sie stützen sich auf Fakten. Sie bekommen Zahlen darüber, wie viele

Bewahrt das Geheimnis!  |  249

Flüchtlinge pro Tag nach Deutschland kommen. Wie viele Deutsche für die aktuelle Asylpolitik sind und wie viele dagegen. Sie lesen Statistiken darüber, wie stark das Wirtschaftswachstum ist und wie viele Arbeitslose es in Deutschland gibt. Fachleute prognostizieren die Sterblichkeitsraten und den Zusammenhang zwischen CO2-Ausstoß und Klimawandel. Keine Tageszeitung kommt ohne Tabellen und Prozentzahlen aus. Denn Zahlen lassen nicht mit sich verhandeln. Glasklar liegen sie vor uns. Scheinbar jedenfalls. Wie heißt es doch so schön: Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe. Denn alle diese Zahlen, Daten, Fakten müssen beurteilt, eingeordnet und ausgewertet werden. Die Darstellung und die Interpretation von Zahlen sind entscheidend. Die Beurteilung sogenannter Fakten, das was ich hinzufüge oder weglasse, ist subjektiv. Da wird bewertet, konstruiert, dekonstruiert, zusammengeschoben und verknüpft. Oder Fakten werden aus dem Kontext gerissen. Wie interessegeleitet solche Fakten sind, darüber gibt es in den Sozialwissenschaften unendliche Debatten und Dispute. So eindeutig sind die Fakten also gar nicht! Und trotzdem jagen wir ihnen weiter nach. Um uns abzusichern. Wer von uns hätte es also nicht genauso getan wie Thomas? Wer hätte von Jesus nicht einen Beweis gefordert und gefragt: Bist du wirklich der Auferstandene? Zeig mir deine Wundmale an Händen und Füßen! Während Thomas noch nach Gewissheit suchte, waren sich die Menschen in der Korinther Gemeinde einige Jahrzehnte später offensichtlich schon ganz sicher. Sie wussten, welche Speiseregeln richtig waren und welche falsch, wer gottgefällig lebte und wer nicht. Es gab richtig und falsch, schwarz und weiß, gut und böse, die richtigen Christen und die falschen. Denn man hatte Regeln, Verbote, Kennzeichen. Die mussten befolgt werden nach der Logik der Welt. Paulus kritisierte diese scheinbaren Gewissheiten in Korinth – und forderte: Mehr Ungewissheit braucht ihr, mehr Ehrfurcht vor Geheimnissen und mehr Gottvertrauen. Und er mahnte weiter: Seid euch nicht zu gewiss in euren Urteilen darüber, was richtig und falsch ist, wer gut oder böse ist. Das steht letztlich nur Gott selbst zu. Deshalb richtet nicht schon vor der Zeit! Statt sich als Richter aufzuspielen, sollten Christinnen und Christen Haushälterinnen und Haushälter über Gottes Geheimnisse sein. Also

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Garanten dafür, dass die Welt nicht nur verzweckt und vermessen wird, logisch aufgeschlüsselt und ausgebeutet. Sie sollten Garanten dafür sein, dass Geheimnisse bewahrt bleiben. Ganz ohne Gewissheiten sollten die Menschen an Gott glauben und ihm treu sein. Aber das ist leichter gesagt als getan. Wie schwer fällt Treue? In guten und in schlechten Tagen zu jemandem halten: Wie kompliziert ist das in Beziehungen? Wie unzuverlässig ist Treue in Konflikten und Krisen? Wie gefährlich ist das, wenn der beste Freund ausgegrenzt wird, wenn die beste Freundin am Arbeitsplatz gemobbt wird? Wer treu bleibt, kann selbst in die Schusslinie geraten. Treue wird daher lieber in Eheverträgen, Partnerschaftsregistrierungen und Geschäftsverträgen geregelt. Und Treue zu Gott? Das heißt Treu-sein, auch wenn es keine Sicherheiten gibt. Das heißt Gott bezeugen, auch wenn Momente von Gottesbegegnung und Zwiesprache nicht verfügbar sind. Es bedeutet, genau diese Ungewissheit auszuhalten, Fragen und Zweifel zuzulassen und sogar noch mehr: in der Welt dazu zu stehen. Das ist nicht einfach. Schnell wird man kleinlaut – ich schließe mich da nicht aus, wenn man mit Menschen diskutiert, die einem Zahlen und Fakten präsentieren und die Welt bis ins letzte Detail ausleuchten. Oder wenn Menschen sich umgekehrt an mich wenden: „Glaubst du das wirklich, mit Jesus und so? Ist das nicht naiv? Du bist doch sonst so ­kritisch!“ Wie gern hätte ich dann einen Beweis zur Hand, auf dass die Welt glauben möge und ich nicht so bedeppert dastünde. Der Dichter Kurt Marti hat es so beschrieben: „glücklich, ihr atheisten! ihr habt es leichter euch wirbelt kein gott aus der bahn des schlüssigen denkens kein glaube wirft schatten auf eure taghelle logik nie stolpert ihr über bizarre widersprüche kein jenseits vernebelt euch die konturen der welt

Bewahrt das Geheimnis!  |  251

nie seid ihr berauscht von heiligen hymnen und riten nie schreit ihr vergeblich nach einem göttlichen wunder oder stürzt ab ins dunkel blasphemischen betens – glücklich ihr atheisten! gern wäre ich einer von euch jedoch jedoch: ich kann nicht“.1

Ja, leichter wäre es wohl, nicht damit zu rechnen, dass Gott da ist. Es wäre unkomplizierter, sich einzig auf das, was man sieht und beweisen kann, zu verlassen. Jedoch, jedoch, sagt Marti zum Schluss: ich kann nicht. Ähnlich erfahren es viele Christinnen und Christen. Sie glauben trotz ihrer Zweifel. Oder vielleicht gerade deswegen. Aber selbst wenn es noch so schwierig ist: Glaube schwebt nicht im luftleeren Raum. Er kann sich stützen auf das, was Menschen in den biblischen Geschichten erzählt, was sie erlebt und weitergegeben haben. Ein Leben mit Gott, der Menschen unabhängig von Geschlecht, Stand, Alter, Besitz und Lebensform Gottesebenbildlichkeit zugesprochen hat. Ein Gott, der Menschen gesegnet und in Not und Krisen begleitet hat. Ganz ohne wissenschaftliche Logik, ganz ohne wirtschaftlichen Gewinn. Es ist ein Dennoch gegen die Verzweckung und Ausbeutung der Welt. Ein Dennoch gegen Gewalt und maßloses Wachstum. Gott ist die ganz andere Perspektive, der ganz andere Blick, die ganz andere Stimme, die Einspruch erhebt gegen die absolute Machbarkeit der Welt. Und wie hat Jesus auf Thomas’ Fragen reagiert? Jesus hat seine Wundmale gezeigt, den Beweis geliefert. Gelobt hat er aber diejenigen, die glauben, obwohl sie keine Beweise haben. Denn Zahlen und Fakten, wie sie andere Wissenschaften liefern, sind die biblischen Geschichten nicht. Aber wenn wir ehrlich sind: Andere Wissenschaften können auch keine letzten Gewissheiten präsentieren. Jedenfalls nichts, was sie nicht 1 Kurt Marti, glücklichpreisung, in: ders., zoé zebra. neue gedichte, München / Wien 2004, S. 75.

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einordnen, deuten und interpretieren müssten. Der Unterschied zum Glauben: die wenigsten Wissenschaften geben das zu! Paulus ist in seinem Brief an die Korinther noch einen Schritt weiter gegangen: Die Menschen sollten Ungewissheiten und Geheimnisse nicht nur aushalten, sondern sie sogar beschützen. Denn Paulus erlebte in Korinth Menschen, die Schubladen, Kategorien und Regeln kon­ struiert hatten, die nur scheinbar auf Fakten beruhten. Damit haben sich Menschen nicht nur damals ideologische und moralische Gefängnisse gebaut und Vorurteile verhärtet. Dadurch bleiben keine Freiräume, keine Schutzräume jenseits menschlicher Logik. Es bleibt einfach keine Luft, um ganz anders denken, leben und glauben zu können. Wann immer jemand behauptet, so und nicht anders funktioniert die Welt, sind Christinnen und Christen nach Paulus aufgerufen, Einspruch zu erheben und den Spalt des Ungewissen offenzuhalten. Sie sind aufgerufen Platz zu lassen für Gott, die ganz andere Perspektive auf die Welt. Das war Paulus damals wichtig. Und ich füge hinzu: Das ist es auch heute noch.

Personenregister Die kursiv gedruckten Seitenzahlen beziehen sich auf die Anmerkungen. Achmatowa, Anna Andrejewna  243 Achtner, Wolfgang  29 Adorno, Theodor W.  233 f. Albert, Hans  43–46, 48, 50, 54–56, 61, 65–68, 73, 164, 176 f., 179 Angenendt, Arnold  168 Anselm von Canterbury  183 Apel, Karl-Otto  140 Aristoteles  136 Armstrong, Karen  138 Arndt, Andreas  38 Bach, Johann Sebastian  246 Bartels, Andreas  45, 52, 74 Barth, Karl  118 f., 204 Barth, Ulrich  34, 37 f., 44 f., 51–53, 54 f., 56–58, 78 Bartlett, Justin L.  223 Bartley, William W. (III)  44, 47 Becher, Johannes R.  229, 236 Berg, Alban  226 Berlin, Isaiah  190 Bethge, Eberhard  27 Betz, Albrecht  225, 232–234, 236 f., 241 f. Bierce, Ambrose  147 Bird, Alexander  74 Birnbacher, Dieter  191, 200 Bismarck, Otto von  218 Bloch, Ernst  19 Blumenberg, Hans  188 Bohlmann, Andrea F.  244 Bohlmann, Philipp V.  244 Bonhoeffer, Dietrich  27 f., 79–81, 96, 100, 129, 147, 153 Brahms, Johannes  237, 245 Braitenberg, Valentin  194 Brassel, Bernd  150 Braun, Christina von  137 Brecht, Bertolt  225 f., 229, 232–234, 236, 238–240, 242 f., 245 Bruno, Giordano  35

Bucek, Tina  239 Bultmann, Rudolf  42, 61, 79 Bunge, Hans  227 f., 237, 243 Bunge, Mario  48, 58, 74 f., 78 Busch, Ernst  225, 229–231 Chaplin, Charlie  234 f. Clayton, John  155 Comte-Sponville, André  177 Coppes, Dolf  99 Csipák, Károly  239 Cupitt, Don  81, 93 f., 96 Dalferth, Ingolf U.  58, 202 Danz, Christian  41 Darwin, Charles  29, 121, 157, 161, 193, 209– 214, 216, 220 f. Dawkins, Richard  7, 11–13, 15 f., 22–25, 27–31, 42 f., 119–121, 133 f., 138–141, 146, 149, 153, 173, 194, 196–200 Dembski, William  52 Dennett, Daniel C.  7, 133 f., 138–140, 142 Deuser, Hermann  48 Dingemans, Gijs D. J.  109 Dörner, Klaus  198 Dostojewski, Fjodor M.  136, 166 Drossel, Barbara  52 Dümling, Albrecht  228 Dürrenmatt, Friedrich  137 Dworkins, Ronald  120 Ebertz, Michael N.  10 Eccles, John C.  53 Eckhart, Meister  21, 111 Einstein, Albert  63, 134 f. Eisler, Elfriede  224 Eisler, Gerhart  224, 235, 244 Eisler, Hanns  224–247 Eisler, Ida Maria  224 f., 244 Eisler, Rudolf  225, 244 Eisler, Steffi  243 Engel, Gerhard  174 Engels, Friedrich  161, 173 Esfeld, Michael  52, 74

254  |  Personenregister Feuchtwanger, Lion  234 Feuerbach, Ludwig  90, 92 f., 102, 133, 173, 186 Figl, Johann  183 Fincke, Andreas  10 Freeman, Anthony  81, 92–98, 102, 106, 109, 114 Freitag, Thomas  240, 243, 247 Frey, Christofer  195 Frisch, Max  152 Gerhardt, Volker  127 Gillooly, Robert  24 Glanz, Christian  232 Gräb, Wilhelm  36 Grabs, Manfred  230, 231, 233 Graf, Friedrich-Wilhelm  194, 204 Graham, William  210 Großbölting, Thomas  10 Groot, Ella de  81, 108–113 Gross, Raphael  189 Großmann, Michael  124 Haas, Michael  246 f. Habermas, Jürgen  190 Haeckel, Ernst  218, 244 Haneke, Michael  191 Hare, Richard M.  105 Harris, Sam  7, 42 f., 132 f., 136, 152 f., 193 Heartfield, John  229 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  150 Heidegger, Martin  65, 66–68, 72 f. Hemminger, Hansjörg  184 Hendrikse, Klaas  81, 83, 98–109, 114 Henkel, Peter  195 Hennenberg, Fritz  236 f. Hermlin, Stephan  226 Herrmann, Horst  174 Hirsch, Emanuel  67 Hitchens, Christopher  7, 42 f., 136 Hitler, Adolf  201, 241 Hoerster, Norbert  133, 151 f., 164, 177–181 Hoff, Gregor Maria  120, 154 Höffe, Otfried  151 Hölderlin, Friedrich  145, 236 Holloway, Richard  30 Hösle, Vittorio  122, 140, 144, 150 f. Hosp, Inga  194 Hume, David  44, 135, 149 Husserl, Edmund  55, 145 Jackson, Frank Cameron  142 Jaspers, Karl  124 Jesus von Nazareth  23–25, 30–32, 83 f., 87, 94, 96, 98, 111–113, 116, 129, 179, 188, 221, 248–251

Jonas, Hans  122 f., 151 f. Jüngel, Eberhard  206 Kahl, Joachim  17, 172–174 Kamlah, Wilhelm  119, 127 f., 129 Kanitscheider, Bernulf  43, 47, 52, 55 f., 65, 73–75, 77 Kant, Immanuel  28, 38–40, 43–47, 52 f., 54, 57 f., 117 f., 123–125, 127 f., 140, 150, 151, 166, 190, 194, 202 f. Kekulé, August  62 Kemp, Eric  93 Kepel, Gilles  189 Kern, Peter  125, 129 Kessler, Hans  28, 71, 179, 182, 184 Kettner, Matthias  145 Klausnitzer, Wolfgang  154, 176, 184 Klinnert, Lars  23, 29, 33 Knaup, Marcus  122 Körtner, Ulrich H. J.  15 f. Koziel, Bernd Elmar  154, 176, 184 Kraus, Karl  146 Krohn, Wiebke  246 f. Kubrick, Stanley  137 Kuhn, Thomas S.  179 f. Kuitert, Harry M.  99 f. Külpe, Oswald  54 Küng, Hans  17, 128 f. Kurth, Dan  46 Kutschera, Franz von  72 La Mettrie, Julien Offray de  117 Langthaler, Rudolf  141 Leibniz, Gottfried Wilhelm  146 Lenin, Wladimir Iljitsch  244 Lennon, John  241 Lohfink, Gerhard  154 Lommel, Pim van  123 Lorenz, Konrad  53, 55, 124, 129 f. Luther, Martin  88 Mahner, Martin  43, 48, 58, 74 f., 78 Maier, Hans  168 Mann, Thomas  234 f. Markion 104 Marquard, Odo  138 Marti, Kurt  250 f. Marx, Karl  138, 173, 244 Meslier, Jean  84–86 Metzinger, Thomas  43, 141–143 Milelli, Jean-Pierre  189 Minois, Georges  84 f. Mohaupt, Lutz  86 Moltmann, Jürgen  19 Müller, Klaus  25, 179

Personenregister  |  255 Mutschler, Hans-Dieter  121, 139, 146 Mynarek, Hubertus  12 Nagel, Thomas  75, 144 f., 149, 197 Neuenschwander, Ulrich  155 Newberg, Andrew  69 f., 222 Nietzsche, Friedrich  48 f., 152, 173, 195 f. Nikolaus von Kues  21 Notowicz, Nathan  224, 227, 244 Nyncke, Helge  21 Onfray, Michel  42 f. Oosterhuis, Huub  110 Ott, Ulrich  211 Otto, Rudolf  41, 50 f. Pasternak, Boris Leonidowitsch  243 Paul, Jean  117 Paulus, Apostel  31, 252 Peetz, Katharina  134, 138, 146, 153 Peirce, Charles Sanders  48, 64, 68 f. Picasso, Pablo  235 Pickel, Gert  9 f. Piscator, Erwin  229 Planchon, Roger  247 Platon 150 Popper, Karl R.  43 f., 46–50, 53, 58–60, 62 f., 75, 140 Prokofjew, Sergej  243 Rebling, Eberhardt  238 f. Richter, Klaus  59 Ricken, Friedo  105 Ricoeur, Paul  66, 203 Rienäcker, Gerd  237, 243 f. Rousseau, Jean-Jacques  117 f. Russell, Bertrand  28 Sartre, Jean-Paul  203 Schärtl, Thomas  28, 175 f. Schdanow, Andrei Alexandrowitsch  242 f. Schebera, Jürgen  229, 231, 239 f., 241 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  52 f., 150 Schleiermacher, Friedrich  21, 35–40, 78, 79 Schlette, Heinz-Robert  84 Schmid, Carlo  141 f. Schmidt, Hermann Josef  155 Schmidt-Salomon, Michael  13–22, 25, 31 f., 35 f., 121, 194 f., 196, 200–203, 211, 222 f. Schnädelbach, Herbert  30, 120, 156, 164 f., 167–177, 185 f., 193 Schneider, Frank  245 Scholl, Norbert  80 Schönberg, Arnold  226 f., 229 f., 234 f., 245 f. Schopenhauer, Arthur  152, 165

Schostakowitsch, Dmitri  243 Schröder, Richard  34 Schulz, Paul  81, 82, 86–92, 102, 109, 114 Schütz, Gunter  52 Schweitzer, Albert  20, 35, 117 f., 126, 128–131 Seghers, Anna  229 Sennett, Richard  200 Shakespeare, William  144 Sloterdijk, Peter  179 Sölle, Dorothee  81 Sommer, Volker  63 f., 71 Soosten, Joachim von  192 Spaemann, Robert  136 Spinoza, Baruch de  21, 38, 149 Spong, John Shelby  30 Stalin, Josef  201, 241 Stöckler, Manfred  52 Strasser, Peter  34 Striet, Magnus  173, 178 f. Suda, Max J.  203 Tanner, Klaus  168 Teilhard de Chardin, Pierre  222 Tetens, Holm  72, 76, 181 f., 184 Theißen, Gerd  25 f. Tiefensee, Eberhard  168 Tillich, Paul  41 f., 82, 91, 153 Troeltsch, Ernst  40 f. Tucholsky, Kurt  236, 238 Tück, Jan Heiner  33 Tugendhat, Ernst  71 Vaas, Rüdiger  223 Vidal, Gore  11 f. Voland, Eckhart  43, 64, 70 f. Völker, Klaus  239, 245 Vollmer, Gerhard  43, 44–47, 55, 59, 61 Voltaire 84 Weber, Max  14 Webern, Anton von  226, 229, 237 Weizsäcker, Carl Friedrich von  27, 124 Werfel, Franz  135 Wetz, Franz Josef  43, 60 f., 65 Wißmann, Friederike  227, 237, 240, 247 Wittgenstein, Ludwig  146 Wolf, Gary  7 Woody, Allen  147 Wörther, Matthias  34 Wuketits, Franz M.  155, 156–167, 173, 176 f., 185 Wundt, Wilhelm  225 Zahrnt, Heinz  10, 22

Autorenverzeichnis Berner, Knut, Dr. theol., apl. Professor für Systematische Theologie an

der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und Studienleiter am Evangelischen Studienwerk e.V. Villigst. Blume, Michael, Dr. phil., Religionswissenschaftler und Referatsleiter

im Staatsministerium Baden-Württemberg für Kirchen und Religion, Integration und Werte in Stuttgart. Großmann, Michael, Dr. paed., Theologe und Lehrer in Achern. Pfüller, Wolfgang, Dr. theol. habil., Pfarrer der Evangelischen Kirche in

Mittel­deutschland. Rössler, Andreas, Dr. theol., Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in

Württemberg. Schmuck, Martin, Dr. theol., Pädagogischer Mitarbeiter für Praktische

Theologie / Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Söderblom, Kerstin, Dr. phil., Studienleiterin und Pfarrerin am Evan-

gelischen Studienwerk e.V. Villigst. Wittig, Hans-Georg, Dr. phil., Professor em. für allgemeine Pädagogik

an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Zager, Werner, Dr. theol., apl. Professor für Neues Testament am Fach-

bereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Leiter der Evangelischen Erwachsenen­ bildung Worms-Wonnegau.