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German Pages [268] Year 2014
Religion and Transformation in Contemporary European Society
Band 8
Herausgegeben von Kurt Appel, Christian Danz, Isabella Guanzini, Richard Potz und Sieglinde Rosenberger
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Kurt Appel / Isabella Guanzini / Angelika Walser (Hg.)
Europa mit oder ohne Religion? Der Beitrag der Religion zum gegenwärtigen und künftigen Europa
Mit 12 Abbildungen
V& R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0320-2 ISBN 978-3-8470-0320-5 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: RaT-Logo (Gerfried Kabas, Wien). Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Säkulares und Postsäkulares Europa: Philosophische Perspektiven Kurt Appel Das Wesen Europas besteht darin, über sich hinauszuweisen. Ein Versuch über den apokalyptischen Geist Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas M. Schmidt Reflexive Säkularisierung? Religiöser Glaube und öffentliche Vernunft . .
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Cristina Lafont Religious Pluralism in a Deliberative Democracy . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Breul Öffentliche Gründe und die „Doktrin der Selbstbeschränkung“ – Eine Kritik des liberalen Legitimitätsargumentes . . . . . . . . . . . . . . . .
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Säkulares und postsäkulares Europa: Soziologische Perspektiven Martin Riesebrodt Die Rolle der Religion im pluralistischen Europa . . . . . . . . . . . . . .
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Detlef Pollack Religiöser Wandel in Ost- und Westeuropa: Soziologische Beschreibungen und Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch. Die „Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE)“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
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Inhalt
Der Beitrag der Religion(en) zum Projekt Europa Isolde Charim Die jüdische Erfahrung. Diaspora und Europa . . . . . . . . . . . . . . . 173 Marcello Neri Nach dem Ende der Institutionen der Moderne. Christentum und Europa: ein gemeinsames Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Tahir Abbas Islam and Muslims in Europe today : from cultural assimilation to social integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Eine europäische Erfahrung: Politik und Religion im Post-kommunistischen Osteuropa Jakub Kloc-Konkołowicz Parallele Welten des Geistigen. Die Verwandlungen der Religiosität am Beispiel Polens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Kristina Stoeckl Religious approaches to human rights: The Russian Orthodox Church’s basic teaching on human dignity, liberty and rights . . . . . . . . . . . . 237 Die AutorInnen und HerausgeberInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Vorwort
Der vorliegende Band geht aus einer Tagung hervor, die die Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ (RaT) der Universität Wien unter dem Titel „Rethinking Europe (With)out Religion“ anlässlich des Abschlusses des ersten Trienniums ihres Bestehens im Februar 2013 veranstaltet hat. Im Beisein von Wissenschafter/innen aus verschiedenen Disziplinen, von Philosophie und Theologien über Sozial- und Religions- bis hin zu Rechtswissenschaften wurde der Frage nach der Bedeutung der Religion im heutigen Europa nachgegangen. Dabei wurde diskutiert, welchen geistigen Beitrag die verschiedenen Religionsgemeinschaften in das europäische Projekt, welches in Gestalt der Europäischen Union mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, einzubringen versuchen, welche Visionen sie zur Weiterentwicklung der europäischen Idee beitragen bzw. ob religiöse Ideen überhaupt noch einen gewichtigen Ort innerhalb der „(post-)säkularen Gesellschaft“ Europas einnehmen können und dürfen. Demgemäß beginnt der Band mit dem Kapitel „Säkulares und postsäkulares Europa – Philosophische Perspektiven“, in dem grundsätzlich der Rolle, aber auch der Potentiale der Religion für das gegenwärtige und zukünftige Europa und seine Diskurse, Narrative und Willensbildungsprozesse nachgespürt wird. Kurt Appel wirft die Frage auf, ob das apokalyptische Register der abrahamitischen Religionen neue Perspektiven für die geistige Offenheit Europas sowie für nichttotalitäre Narrative zu bieten vermag. Thomas M. Schmidt untersucht programmatisch die Bedeutung der Religion und der ihr inhärenten Reflexionsstrukturen in einem (post-)säkularen Kontext und verortet sie ganz besonders in einer Grammatik der Differenz, die Religion anzustoßen vermag und die Versuche, Religion als Identitätsmarker oder bloße Ressource für praktische Vernunftdiskurse zu bestimmen, kritisch in Frage stellt. Cristina Lafont setzt sich in ihrem Beitrag mit Rawls und Habermas auseinander und geht der Frage nach, ob und inwieweit religiöse Überzeugungen in die Verfahren einer „deliberate democracy“ unter dem Ideal politischer Inklusion einzubeziehen sind. In eine ähnliche Richtung weist die Fragestellung von Martin Breul, der in seinem
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Vorwort
Beitrag, in dem er u. a. Thesen von Eberle diskutiert, ein Plädoyer dafür abgibt, Religion als Ressource der politischen Willensbildung ernstzunehmen, aber dennoch vorsichtig zu behandeln. Der zweite Hauptteil des Bandes trägt den Titel „Säkulares und postsäkulares Europa – Soziologische Perspektiven“ und untersucht, welches tatsächliche Gewicht den Religionen heute im gesellschaftlichen Bereich und in der geistigen Großlandschaft Europas zukommt und welche Tendenzen sich dabei ablesen lassen. Martin Riesebrodt, der den Eröffnungsvortrag der Tagung übernommen hat, bildet in seinem Artikel eine Brücke zwischen philosophischer und soziologischer Reflexion über den Beitrag der Religion(en) für ein künftiges Europa. Er versteht Europa nicht als homogenes Gebilde, sondern als zukunftsoffene Utopie einer pluralitätsfähigen Gesellschaft, zu deren Diskursen religiöse Anschauungen einen entscheidenden Beitrag leisten, ohne dass man aber daraus eine religiöse Bestimmung Europas ableiten könnte. Detlef Pollack untersucht die Plausibilität der Säkularisierungsthese und vertritt die Auffassung, dass angesichts aller notwendigen Differenzierungen die Rede von einer (post-)säkularen Welt problematisch ist. Die Religionen werden seiner Einschätzung nach wichtige Aktoren der europäischen Gesellschaft bleiben, allerdings wird es keine Renaissance ihrer einstigen Leitfunktion geben. Antonius Liedhegner und Anastas Odermatt problematisieren schließlich einen Bereich, der in den Diskursen über den Stellenwert der Religion in Europa meist ausgespart bleibt, nämlich die Frage nach dem zugrundeliegenden Datenmaterial für konfessionelle Zuschreibungen. Dieses ist, wie sie aufweisen, wesentlich prekärer als üblicherweise angenommen, was viele Diskussionen über den Stellenwert der Religion in ein anderes Licht zu rücken vermag. „Der Beitrag der Religionen zum Projekt Europa“ wird im dritten Teil des vorliegenden Bandes thematisiert. Isolde Charim analysiert die jüdische Tradition und sieht einen spezifischen Beitrag in der Diasporaerfahrung, die sich in besonderer Weise im Maranentum, d. h. in der Erfahrung einer „nichtvollen Identität“ des Subjekts zum Ausdruck gebracht hat, was eine strukturelle Offenheit für ein pluralistisches Paradigma Europas bedeutet. Marcello Neri beleuchtet die Krise der europäischen Moderne und ihrer Institutionen, die auch die christlichen Kirchen erfasst hat und sieht die spezifische Aufgabe des Christentums, gegen die von ihm konstatierte abstrakte Verrechtlichung aller Lebensbereiche und Institutionen eine neue affektive Kultur im zwischenmenschlichen Bereich zu befördern, die besonders auch die Anerkennung von heute neu zu bestimmenden Differenzen beinhaltet. Tahir Abbas dreht gewissermaßen die Thematik um und stellt sich die Frage nach dem Beitrag Europas für eine Anerkennung minoritärer Religionen, insbesondere des Islam als Bedingung der Möglichkeit einer multireligiösen Zivilgesellschaft. Den abschließenden vierten Teil „Eine europäische Erfahrung: Politik und
Vorwort
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Religion im Post-kommunistischen Osteuropa“ bildet ein spezieller Blick auf Osteuropa, wie er nicht zuletzt durch den Tagungsort Wien, aber auch die historischen Ereignisse geboten schien. Paradigmatisch werden zwei Realitäten, nämlich die polnische und die russische herangezogen. Jakub Kloc-Konkolowicz untersucht in seinem Beitrag nicht nur die Konsequenzen des Mauerfalls für den polnischen Katholizismus, sondern v. a., wie sich in postkommunistischen Gesellschaften der Diskurs zwischen Religion und Gesellschaft nicht zuletzt unter dem Einfluss der neuen Medialisierung generiert. Kristina Stoeckl analysiert schließlich das konfliktuale Verhältnis zwischen Religion und säkularer („westlicher“) Gesellschaft anhand des Menschenrechtsdiskurses der Orthodoxen Kirche Russlands. Zum Abschluss möchte ich den Dank an alle Beteiligten für das Zustandekommen des Bandes aussprechen, an die Autoren, Mitherausgeber und Reviewer. Ganz besonders erwähnt seien Mag. Rudolf Kaisler, Christoph Tröbinger, Mag. Agnes Leyrer und Manuela Böhm, die sich vielfältige Verdienste um das Manuskript und die zugrundeliegende Tagung erworben haben. Des Weiteren danke ich dem Rektorat der Universität Wien, das diese Publikation durch einen Druckkostenzuschuss ermöglicht hat. Kurt Appel
Säkulares und Postsäkulares Europa: Philosophische Perspektiven
Kurt Appel
Das Wesen Europas besteht darin, über sich hinauszuweisen. Ein Versuch über den apokalyptischen Geist Europas
1.
Vorbemerkungen und Fragestellungen
1. Zunächst ist die Ambivalenz des Titels hervorzuheben: Europa hat jahrhundertelang im Sinne einer Kolonisierung der Welt über sich „hinausgewiesen“ und ganze Völker und Kontinente entwurzelt und ihrer Identität und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Diese von Europa ausgehende Auslöschung von Traditionen hat heute wahrscheinlich den Höhepunkt erreicht, was in weiterer Folge noch näher zu explizieren sein wird. 2. Das oben genannte „Übersichhinausweisen“ kann auch in einem anderen Sinne verstanden werden. Europa ist nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass es keine festumrissene geographische Größe darstellt, sondern einen geistigen Raum bildet. Das weist darauf hin, dass eine fixierte Grenze dieses Raums willkürlich wäre, wohingegen Europa als geistiges Geschehen absolut „flüssig“ und durchlässiger Natur ist. Heute findet allerdings mittels einer zunehmend tödlichen, undurchdringlichen Abgrenzung, die Europa in seiner juridischpolitischen Gestalt als Europäische Union von seiner geographischen Nachbarschaft strikt abscheiden soll, eine Neudefinierung Europas statt. Der Eiserne Vorhang, der Europa teilte, entsteht auf neue Weise gegen das „Andere“ Europas. Europa schafft sich auf diese Weise einen Spiegel, in dem es sich in der Abgrenzung gegen ein obskures Anderes als wahres und kulturelles „Europa“ zu erblicken meint. 3. Der neue militärisch-politische „Vorhang“ bringt aber nicht nur eine Abschottung gegen die arme Umgebung zum Ausdruck – wie sein nordamerikanisches Pendant, das die USA vom „anderen“ Amerika abtrennt –, vielmehr richtet er sich nicht zuletzt, zumindest auf reflexiver Ebene, gegen (zumindest) eine Religion. Hier, so die aufflammende neue Erzählung, das christliche (manchmal auch jüdisch-christliche) oder auch „aufgeklärt-säkulare“ Abendland und dort die anbrechenden Wogen des Islam. Europa beginnt sich in zahlreichen politischen Diskursen jenseits aller realen Grenzen neu zu de-fi-
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Kurt Appel
nieren, indem es sich gegen den „Islam“, der zunehmend mit dem Anderen identifiziert wird, abschirmt. 4. Das im Titel des Vortrags angezeigte Hinausweisen Europas über sich hinaus hat nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Konnotation. Die Europäische Union hat ihren zentralen Inhalt darin, wie 2012 vom Friedensnobelpreiskommitee festgestellt, ein großes Friedensprojekt zu sein. Es stellt sich aber die Frage, ob dieser Inhalt musealisiert werden darf in die Statik eines bloßen Waffenstillstands, um wirtschaftliche Interessen effizienter vertreten zu können. Steht nicht vielmehr die Europäische Union, insofern sie sich als Repräsentantin Europas versteht, vor der Herausforderung, über ihre Gegenwart hinauszuweisen in eine Zukunft, in der sie als Friedens- und Hoffnungszeichen für die gesamte Menschheit fungiert? Dagegen kann eingewendet werden, dass eine solche Hoffnung angesichts der wirtschaftlichen und politischen Schwächen der gegenwärtigen Europäischen Union (Jugendarbeitslosigkeit, außenpolitische Agonie, gegenseitige Blockaden der Mitgliedsstaaten etc.) naiv ist. Allerdings hat sie erstens mehrmals bewiesen, auf neue Herausforderungen reagieren zu können wie z. B. nach dem Ende des Kommunismus in der darauffolgenden Osterweiterung. Zweitens bedeutet die Hoffnung auf ein umfassendes Friedensprojekt, welches verschiedene kulturelle und religiöse Traditionen in eine Kultur gegenseitiger Anerkennung einbettet, in dem die Unantastbarkeit der menschlichen Würde respektiert wird und welches den sozialen Frieden und den Raum für die kreative Entfaltung des Einzelnen, egal welcher Herkunft oder Staatsbürgerschaft er sei, gewährleistet, einen bzw. den moralischen Imperativ unserer Tage. 5. Falls also Europa in der Beförderung eines solchen Projektes Bedeutung für die Zukunft des Menschen hätte, was wäre dann der Beitrag der Religionen? Stellen diese nicht das moderne Selbstverständnis des Menschen als Selbstentwurf in Frage? Und leugnen nicht zumindest sogenannte konservativ-fundamentalistische Varianten des Religiösen die autonome Selbstbestimmung des Menschen und die damit verbundene Gewissens- und Religionsfreiheit? Entspringen die Religionen nicht letztlich vormodernen familiär-genealogischkollektiven Lebensformen1, deren Werte, allen voran das patriarchale System, 1 Unter genealogischer Lebensform verstehe ich das Selbstverständnis des Subjekts, seinen eigenen Bestand über die Zeugung von Nachkommenschaft zu sichern. Das „Ich“ erhält eine – allerdings höchst prekäre – Unsterblichkeit mittels des Kindes bzw. des erstgeborenen Sohnes als zukünftigen Repräsentanten des Kollektivs, in dem das Subjekt aufgehoben ist. Die große Bedeutung des genealogischen Projekts für sogenannte voraufgeklärte mythisch bestimmte Gesellschaften, seine säkulare Fortschreibung in den heutigen Naturwissenschaften über die Ursache-Wirkungsverkettung anstelle der Vater-Sohn-Beziehung und die religiöse Kritik an diesem Modell beschreibt Klaus Heinrich in seinem Buch „Parmenides und Jona“. Vgl. Heinrich, Klaus: Parmenides und Jona. Basel / Frankfurt am Main 1982.
Das Wesen Europas besteht darin, über sich hinauszuweisen
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von ihren Vertretern gnadenlos gegen jeden Willen auf Reform verteidigt werden? Bevor diesen kritischen Einwänden nachgegangen wird, möchte ich noch einige Annäherungen an das kollektive Gedächtnis und das damit verbundene Wesen Europas versuchen.
2.
Annäherungen an Europa
6. Europa ist zunächst einmal ein Kontinent, der sich um Großerzählungen, die jahrhundertelang überliefert wurden, und das damit verbundene kollektive Gedächtnis gruppiert. Ich möchte zwei Erzählungen auswählen, die nicht nur eine Verbindungslinie zur Frage Religion und Europa erlauben, sondern die gewissermaßen einen Anfang und ein Ende des europäischen Projekts bezeichnen. Die erste Erzählung ist die Geschichte Abrahams, die nach einem relativ kurzen Präludium (Genesis 1 – 11) den eigentlichen Beginn der Geschichte der jüdischen und der christlichen Bibel bezeichnet, die aber auch zentrale Bedeutung für den Islam aufweist, sodass dieser unter die Bezeichnung „abrahamitische Religion“ subsumiert werden konnte. Die Erzählung Abrahams markiert einen massiven Bruch in Bezug auf das Selbstverständnis der Menschheit, indem es den Menschen nicht mehr aus einem genealogischen, d. h. durch familiäre Blutsbande bestimmten Projekt herleitet und legitimiert. Damit vollzieht es die Wende von partikular-gentil bestimmten Identitäten zum Universalismus. Abraham wird zum Stammvater einer Nachkommenschaft nur, indem er sein Vaterhaus verlässt. Selbst die uns so grausam anmutende Szene der (Beinahe-)Opferung Isaaks ist vor diesem Hintergrund zu verstehen: Abrahams Zukunft hängt nicht an der biologisch-patriarchalen Weitergabe des Lebens (Vater zeugt Sohn), sondern, wie eine weitere zentrale Episode des Abraham-Erzählkranzes zeigt (Genesis 18), an der gastlichen Öffnung für neue Begegnungen. Abraham wird das uralte Menschheitsbedürfnis, seinen Namen nicht an den Tod zu verlieren, nicht durch eine Fortführung des Namens im Nachkommen befriedigen, sondern die Unzerstörbarkeit seines Namens im Bund mit dem sich erinnernden Gott erlangen, der an eine gastliche Aufnahme des Anderen geknüpft ist, durch die die kommenden Generationen Segen erlangen. Dieser misst sich also nicht mehr unmittelbar an der direkten Nachkommenschaft, sondern an der geglückten Ankunft des Fremden (vgl. etwa Jesaja 2). In die Erzählung Abrahams wird also eine folgenschwere Kategorie eingeführt: Es handelt sich um diejenige des Bundes. Der Bund mit Gott als Zentrum der abrahamitischen Religionen bedeutet, dass der Mensch die ewige Dignität seines Namens nicht dadurch empfängt, dass er sich gegen die Sterblichkeit,
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Verletzlichkeit, Kontingenz und Kreatürlichkeit der Existenz, letztlich also gegen sein Leid absichert, sondern diesen Namen dem Gedächtnis Gottes, also gewissermaßen einer anderen, grundsätzlich nicht handhabbaren Instanz überantwortet. 7. Bevor ich eine zweite Großerzählung der europäischen Kultur(en) in Erinnerung zu rufen suche, möchte ich noch eine Überlegung anführen: Die entscheidenden Traditionen Europas kommen von außen, keine ist im Binnenraum entstanden. Außerdem sind sie alle, mit Ausnahme der römischen Erzählung der Äneis ambivalent in ihrem Ausgang: Abraham wird ein Land verheißen, in dem er zeitlebens Fremder bleibt. Odysseus (um eine nichtreligiöse Erzählung heranzuziehen) wird die Heimkehr nur zu einem Neuaufbruch in noch weitere Ferne2. Jesu Weg, in den die christliche Bibel mündet, endet am Kreuz. Es sind fragile Geschichten, die Europa formen. 8. Als letzte Großerzählung Europas kann vielleicht Hegels Phänomenologie des Geistes (PhdG) bezeichnet werden. Und zwar in dem Sinne, dass sich diese Erzählung noch einmal an einer Gesamtdeutung Europas im Lichte eines „Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit“ versucht. Bei genauerer Interpretation zeigt sich allerdings, dass die PhdG geschichtsphilosophisch wesentlich vielschichtiger ist als gemeinhin bemerkt. Der europäische Geist wird in Hegels erstem großen Hauptwerk auf eine Irrfahrt geschickt, der er zu entkommen sucht, indem er sich in den Objekten seiner Welt(begegnung) wiederfindet bzw. widerspiegelt. Eine solche Selbstfindung in der Welt ist dem „Ich“ allerdings verwehrt und der Weg der daraus resultierenden Verzweiflung radikalisiert sich immer intensiver dahin, dass dieses Ich sich letztlich selbst nur mehr im Gestus eines radikalen Nichts, in dem ihm seine eigene Unverortetheit begegnet, ansichtig wird. Diese Stufe nennt Hegel „Die Freiheit und den Schrecken“ und er bezieht sich damit auf den Terror der Aufklärung (in der Französischen Revolution), der alles ihm Begegnende vernichten muss, jede Substanz, jede Geschichte, selbst die eigene Genese, um in einer solcherart negativen Vernichtungsfigur zu sich zu gelangen. Diese Form der alles aufheben könnenden Freiheit ist also gleichzeitig die radikalste Form von Selbstentfremdung des Ichs, die auch ihre eigene Herkunft destruiert hat.3 Von daher sind alle Versuche der Politik, sich auf eine genealo2 Vgl. Odysee XI 105 – 167. Odysseus steigt in die Unterwelt hinab und erfährt von Teiresias sein weiteres Schicksal: „Doch hast du die Freier in deinen Hallen mit dem scharfen Erz getötet, sei es mit List, sei es offenkundig, so sollst du ein handliches Ruder nehmen und alsdann hingehen, bis du zu solchen Männern kommst, die nichts von dem Meere wissen noch mit Salz vermengte Speise essen.“ (Übersetzung: Schadewaldt, Wolfgang). 3 Vgl. dazu auch Bahr, Hans Dieter: Sätze ins Nichts. Ein Versuch über den Schrecken. Tübingen 1985. Weiters kann und muss natürlich auch auf Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ verwiesen werden, die diese Gedanken Hegels auf ihre Weise aufnehmen und
Das Wesen Europas besteht darin, über sich hinauszuweisen
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gische Herkunft zu beziehen, wie sie sich heute im nationalen und (paradoxerweise) europäischen Faschismus finden, obsolet. Das Gleiche gilt für die konservativen Versuche, die unmittelbar auf ein geschichtliches Erbe zurückgreifen wollen. Dieses ist dem Ich unwiederbringlich entfremdet und kann daher entweder nur als virtueller Schein zurückkehren, wie dies in postmoderner Religiosität und Traditionspflege zu beachten ist, oder aber es wird in seiner Gebrochenheit ernstgenommen und in entsprechenden Verfremdungen neu zur Sprache gebracht, was die Herausforderung von Religion, Philosophie, Kunst und Politik unserer Tage ist. Wesentlich ist also die Einsicht, dass das große europäische Projekt der Selbstfindung und Selbstkonstitution des freien Subjekts in einem gewaltigen und zerstörerischen Nihilismus endet, dessen Spuren nach Hegel sich auch noch in der jede Kontingenz verurteilenden abstrakten Moralität (Kants4) und im Gewissen – als internalisiertem moralischen Terror5 – finden. Der Rückgriff auf vormoderne (genealogische) Gesellschafts- und Religionskonzeptionen verbunden mit der Rücknahme der Autonomie des freien Subjekts stellt dagegen allerdings keine Alternative dar, da ein solcher angesichts des endgültigen Verlusts jedes unmittelbaren Erbes zwangsläufig in die Willkür und den Schein desselben „Nichts“ führte, gegen welchen er angeblich aufträte. Tatsächlich kann man heute vielfach beobachten, dass die neuen Fundamentalismen, die den „westlich-europäischen“ Relativismus bekämpfen, inhaltlich völlig substanzlos agieren und sich auf die Handhabe rein oberflächlicher Sujets beschränken müssen. weiterführen. Vgl. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 1969. 4 Dass Kants moralische Konzeption nicht einfach durch eine solche Kritik getroffen werden kann, muss eingeräumt werden. Ihre Größe, die Hegel sehr wohl erkennt, liegt darin, dass sie den Gedanken der Universalität und der damit verbundenen alle willkürlichen Partikularitäten hinter sich lassenden Selbstbestimmung in seiner reinsten Form zum Ausdruck bringt. Dies versetzt sie in die Lage, gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturell-nationale oder religiöse Willkür und damit verbundene Sonderinteressen zu kritisieren. Ihr Defizit besteht nach Hegel darin, dass sie von ihrer eigenen geschichtlichen Herkunft abstrahiert und keinen Blick für die Gebrochenheit des Subjekts hat. Sie ist also blind ihrer eigenen Partikularität gegenüber und unterwirft deshalb den „Anderen“ gnadenlos dem eigenen Urteil. Ein wirklich moralisches Urteil könnte sich nach Hegel erst in der Überwindung der Urteilsform einstellen, d. h. in dem Moment, in dem das urteilende Subjekt die Situiertheit und Gebrochenheit des eigenen Urteils- und Werteapparates (an-)zu erkennen vermag. Vgl. dazu K. Appel, Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Ausgang von Hegel und Schelling, Paderborn 2008, 276 – 291; Auinger, Thomas: Das absolute Wissen als Ort der Ver-einigung. Zur absoluten Wissensdimension des Gewissens und der Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes. Würzburg 2003. Prestel, Andr¦s Jos¦: Die Verstellungen der Kantischen Moralität. Wien 1998. 5 In diesem Sinne schreibt Hegel bereits vor Nietzsche eine „Genealogie der Moral“. Beide weisen viel mehr an Berührungspunkten auf als gemeinhin gesehen wird.
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9. Radikalisierungen des absoluten Nihilismus, wie sie sich selbst Hegel nicht ausmalen konnte, sind uns nicht nur im Nationalsozialismus begegnet, dessen Objekt die absolute Vernichtung ist, sondern zeigen sich heute insbesondere in unserer virtualisierten Konsumwelt. In ihr hat „nichts“ substanziellen Wert, es können beliebige, austauschbare „Markenidentitäten“ angezogen werden, die jederzeit relativiert werden können. Endet also die europäische Welt im virtuellen Nichts absoluter Beliebigkeit, welches jede Herkunft und jede Geschichte getilgt hat? Liegt die absolute Freiheit des Individuums darin, sich maskenhaft beliebige Identitäten anziehen zu können, um sich davon zu distanzieren? Und hat nicht, so die vielleicht beunruhigendste Frage, dieser europäische Gestus vollkommener Virtualisierung die gesamte Welt umgriffen? Sind nicht heute die religiösen Fundamentalismen, egal welcher Provenienz, Ausdruck virtueller, entwurzelter und beliebig ersetzbarer Markenidentitäten, des oben (siehe 8.) angezeigten Scheins, hinter dem „nichts“ steht? War nicht „Nine-Eleven“, welches als Videoclip inszeniert wurde, der perverse Spiegel der europäischen Welt? Hegels Analyse in der PhdG könnte in einer gegenwärtigen Aktualisierung auf alle Fälle an diesem Punkt enden. Interessanterweise führt er aber über das Geistkapitel hinaus noch Überlegungen über die Religion an. Bedeutsam ist für die hier angezeigte Thematik eines: Der Ausgangspunkt der Religion liegt genau dort, wo dem „Ich“ jeder Gegenstand abhanden gekommen ist, zuletzt selbst seine moralische Selbstvergewisserung in der Verurteilung des Anderen, wo das Bewusstsein also den Erfahrungsschritt gemacht hat, dass es sich nicht letztgültig in Gesellschaft, Geschichte, Wissen (d. h. theoretischer und praktischer Vernunft) oder genereller gesagt in den Objekten seines Begehrens verorten kann. In diesem Sinne ist also die Religion nicht Ausdruck einer Selbstprojektion des Ichs, vielmehr entspringt sie – gleich der Kunst – der Erfahrung einer radikalen „Armut“, nämlich der Erfahrung des Endes jeder letztgültigen Selbstkonzeption mittels der Objekte unserer Weltbegegnung.
3.
Religion und Europa – ein apokalyptisches Verhältnis
10. Die Frage des Kongresses und der damit verbundenen Veröffentlichung scheint eigenartig: „Rethinking Europe With(out) Religion“ diskutiert einen möglichen Beitrag der Religion für unsere Kommunikationsgemeinschaft. Nicht also einfach einen sozialen, therapeutischen oder kulturellen Beitrag, den die Religionsgemeinschaften leisten mögen. Vielmehr geht es um die Frage, ob es einen spezifischen geistigen Beitrag der Religionen Europas für eine Weiterentwicklung der EU geben kann. Verbunden damit ist die jenseits der Säkularisierungsdebatten wenig gestellte Frage nach einem möglichen spezifischen
Das Wesen Europas besteht darin, über sich hinauszuweisen
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Verhältnis zwischen Religion und Europa, durch das „Europa über sich hinauswiese“. Im Geistkapitel von Hegels PhdG tauchte im Gedanken des absoluten Nichts verbunden mit dem universalen Terror eine in der Hegel-Rezeption recht verdrängte apokalyptische Dimension auf. Auf diese möchte ich nun näher eingehen, dabei nicht zuletzt Gedanken aufgreifend, die durch meine Mitarbeiter Jakob Deibl und Isabella Guanzini inspiriert wurden. 11. Merkwürdigerweise erlebt heute der Gedanke der Apokalypse eine massive Renaissance, weit über religiös-obskurantische Gruppen hinaus. In der Katholischen Theologie wurde er durch J.B. Metz verankert6, im Film erzeugte zuletzt „Melancholia“ von Lars von Trier Furore, ebenso wie der Roman „The Road“ von Cormac McCarthy, um nur ein paar Beispiele zu nennen für eine Liste, die sich endlos fortsetzen ließe. Man kann die zunehmende Bedeutung dieses Gedankens, der Europa die letzten beiden Jahrtausende immer begleitet hatte, natürlich mit der großen ökologischen Krise in Verbindung bringen, die uns bedrängt. Tatsächlich scheint das Überleben der Menschheit als solche durch Klimawandel, Verlust der Biodiversität, Atomkraft, Wassermangel etc. am Spiel zu stehen. Er kann auch mit dem oben angezeigten „Nichts“ als Endpunkt europäisch-universaler Menschheitsgeschichte in Verbindung gebracht werden. Allerdings ist damit die Bedeutung dieser Kategorie nicht erschöpft: Apokalyptische Texte finden sich in den drei monotheistischen Religionen und wurden mal stärker, mal schwächer in ihren diversen Lesarten hervorgehoben. Wenn von einem christlichen Erbe Europas gesprochen wird, so liegt bei aller Vorsicht im Gebrauch dieser Wendung – zu leicht wird der Gedanke des christlichen Erbes antiislamisch, antijudaistisch oder antiaufklärerisch verzweckt – vielleicht ihre Wahrheit darin, dass innerhalb der abrahamitischen Religionen die Apokalyptik im Christentum am stärksten akzentuiert wurde. Die apokalyptische Stimmung hat auf alle Fälle auch den europäischen Gedanken erfasst. Die europäische Geschichte oder vielleicht sogar die Geschichte Europas (mindestens in Gestalt der EU) überhaupt ist in der Meinung vieler an ihr Ende gelangt, es ist demgemäß nicht nur von Europa als der „alten Welt“, sondern polemisch vom „alten Europa“ die Rede. So sehr damit oft der Versuch einhergeht, europäische sozial- und rechtsstaatliche Errungenschaften zu diffamieren, so kann doch nicht geleugnet werden, dass die großen Visionen und 6 Hier noch immer maßgebend die beiden Werke „Glaube in Geschichte und Gesellschaft“ und „Memoria passionis“. Vgl. Metz, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie. Mainz 1992 [1977]. Ders. (zusammen mit Reikerstorfer, Johann): Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft. Freiburg / Basel / Wien 2006. Für eine Weiterführung dieser Ansätze vgl. auch Reikerstorfer, Johann: Weltfähiger Glaube. Politisch-Theologische Schriften. Berlin / Wien 2008.
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Utopien, die immer wieder von Europa ausgingen, in die Krise geraten sind. Die repräsentative Demokratie scheint eine Art geschichtsphilosophischer Schlusspunkt zu sein, dessen Errungenschaften allerdings bedroht sind und auch problematisiert werden (Ausgrenzung einer zunehmenden Anzahl von Personen aus dem demokratischen und gesellschaftlichen Prozess, ständig wachsende Kluft zwischen Politik und Gesellschaft etc.), zu dem es aber keine überzeugenden Alternativen zu geben scheint. Diffiziler stellt sich die Problematik im Wirtschaftssystem dar : Es hat sich ein Mechanismus herausgebildet, der scheinbar keine Alternative zulässt, ohne allerdings in irgendeine verheißungsvolle Zukunft weisen zu können. Ein Guttteil der Jugend ist heute arbeitslos, also Abfall unserer Gesellschaften7 und das „System“ frisst seine ökologischen, kulturellen und geistigen Ressourcen auf, um sich schließlich völlig selbstreferentiell weiterzubewegen. In diesem Sinne hätten wir also eine Apokalypse als Ende der Geschichte in umfassender Sinnlosigkeit, womit wir wieder bei Hegels Ausführungen über das „Nichts“ angelangt wären. 12. Allerdings gibt es eine zweite Bedeutungsebene apokalyptischen Denkens, welches unmittelbarer an die (abrahamitischen) Religion(en) heranreicht. Die Apokalypse spricht nicht einfach vom Ende der Welt in einem absoluten Nichts, in absoluter Hoffnungslosigkeit, sondern vom Ende unserer Welt. Anders gesagt: Die religiösen Apokalypsen beinhalten eine radikale Umwertung aller Bedeutungsebenen. Die Ent-hüllung (so Apokalypse wörtlich) der Geschichte beinhaltet das Ende unserer Möglichkeit, in dieser Welt anzukommen, uns in den Objekten unseres Begehrens letztgültig zu verorten. Von daher kreuzen sich möglicherweise – mehr als dies bewusst ist – der Kern der monotheistischen Religionen und der Kern Europas. Die europäische Demokratie beruht nämlich darauf, dass sie kein letztgültiges Heilsangebot, keine letzte Identität vermitteln kann, dass sie den Menschen damit konfrontieren muss, dass sein Begehren unerfüllt bleiben wird. Das Gleiche vermitteln die Religionen: Sie konfrontieren den Menschen damit, dass er in dieser Welt keine letztgültige Identität finden wird: Der Messias ist ausständig (Judentum), der Urkoran im Himmel (Islam), Jesus offenbart seine letzte Identität erst als der Wiederkommende (Christentum) … Daneben gibt es noch eine zweite Parallele zwischen europäischer Demokratie und apokalyptischer Religion: Die Apokalypsen verabschieden die alte Welt, ohne sie zu vergessen. Sie wissen um das unendliche Leid der Geschichte,
7 Auf diesen Umstand weist wie kaum ein anderes Dokument heute das 2013 veröffentlichte Apostolische Schreiben „Gaudium Evangelii“ hin, welches eine Art Regierungserklärung von Papst Franz(iskus) darstellt. Verfügbar unter : http://www.vatican.va/holy_father/francesco/ apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudi um_ge.html [15. 12. 2013].
Das Wesen Europas besteht darin, über sich hinauszuweisen
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welches nicht gutgemacht werden kann8, und sie machen die Erfahrung, dass der Verlust an Bildern, mit denen sich das Subjekt zu schützen sucht, eine noch größere Ausgesetztheit und Verletzlichkeit nach sich zieht. Apokalypse im eigentlichen Sinne ist die Loslösung des Subjekts von allen virtuellen Identitäten und Marken und damit auch der Verzicht auf die Abschirmung, den diese dem suchenden Subjekt geboten haben. Der entscheidende Gedanke der apokalyptischen Tradition, wie sie am Ende des Neuen Testaments als Zusammenfassung des biblischen Kanons niedergeschrieben und später immer wieder diesseits und jenseits des Christentums aufgenommen wurde9, liegt in einer Rekapitulation der Menschheitsgeschichte und ihrer Abgründe, Verletzungen und Hoffnungen, verbunden mit einer Einschreibung derselben in das Innerste menschlicher Wahrnehmung – gleich einer zweiten Haut.10 Verbunden damit ist das Wissen, dass kein Bild, kein Gedanke und kein unmittelbares Wort die absolute Fragilität, Verwundbarkeit und Singularität der lebendigen Existenz zum Ausdruck bringen kann und der moralische Imperativ, das aus diesem Wissen resultierende Gedächtnis gegen alle ideologischen, religiösen und politischen Vereinnahmungen einzuüben. Europa ist gebaut auf dem „Leidensgedächtnis“ (Metz), es ist ohne die Erinnerung von Ausschwitz und der vielen anderen Geschichtskatastrophen, die es konturiert haben, nicht möglich. Von daher besteht die entscheidende Identität Europas darin, über keine letzte festumrissene Siegergeschichte zu verfügen11 und diese Nichtverfügbarkeit erinnernd in immer neuen Anläufen weiter zu tradieren. Von daher ist Europa zuerst eine bestimmte Weltwahrnehmung am Schnittpunkt freier Selbstbestimmung des Subjekts (vgl. 6 – 8) und apokalyptischer Kritik an dessen virtueller individueller und kollektiver Selbstabschirmung und Selbstbehauptung gegenüber der Fragilität des Lebendigen. 13. Darin weist Europa also über sich hinaus auf das Menschliche, wo den Anderen verdeckende und einordnende Bilder und virtuelle Identitäten gesprengt werden, auch jene kolonialistische, die mein Kollege J. Schelkshorn auf
8 Vgl. Agamben, Giorgio: Die Zeit die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt am Main 2006. 9 Für eine sehr schöne Aufarbeitung der abendländischen Apokalyptik vgl. Wieser, Veronika (Hg.). u. a.: Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit (Kulturgeschichte der Apokalyptik 1). Berlin 2013. 10 Vgl. Appel, Kurt: “Cristianesimo come nuovo umanesimo. Considerazioni teologiche e storico-filosofiche a partire dalla Bibbia, Hegel e Musil”, in: Teologia 38 (2013), S. 177 – 213. 11 Darin besteht wohl auch die entscheidende Motivlage in der Philosophie Vattimos, die damit gerade nicht in einen ethischen Relativismus führt, sondern ein Ethos der Zerbrechlichkeit andenkt. Für eine diesbezügliche Lektüre Vattimos vgl. Deibl, Jakob: Menschwerdung und Schwächung. Annäherung an ein Gespräch mit Gianni Vattimo (Religion and Transformation 5). Göttingen 2013.
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Kurt Appel
überzeugende Weise nachzuzeichnen im Begriff ist12. Das Potenzial der Religion in Europa, einer europäischen Ausprägung der monotheistischen (und vielleicht auch einer kommenden europäischen Ausprägung der süd- und ostasiatischen) religiösen Traditionen liegt im affektiven und perzeptiven Gedächtnis der Verwundbarkeit des Menschen, im Wissen darum, dass der Sinn jener verletztbaren Ausgesetztheit und Offenheit, die der Mensch ist, niemals mit einem letzten Symbol beglichen werden kann.
Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio: Die Zeit die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt am Main 2006. Appel, Kurt: “Cristianesimo come nuovo umanesimo. Considerazioni teologiche e storico-filosofiche a partire dalla Bibbia, Hegel e Musil”, in: Teologia 38 (2013), S. 177 – 213. Appel, Kurt: Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Ausgang von Hegel und Schelling. Paderborn 2008. Auinger, Thomas: Das absolute Wissen als Ort der Ver-einigung. Zur absoluten Wissensdimension des Gewissens und der Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes. Würzburg 2003. Bahr, Hans Dieter : Sätze ins Nichts. Ein Versuch über den Schrecken. Tübingen 1985. Deibl, Jakob: Menschwerdung und Schwächung. Annäherung an ein Gespräch mit Gianni Vattimo (Religion and Transformation 5). Göttingen 2013. Heinrich, Klaus: Parmenides und Jona. Basel / Frankfurt am Main 1982. Homer : Die Odyssee. Übersetzt v. Schadewaldt, Wolfgang. Hamburg 1958. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 1969. Metz, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie. Mainz 1992 [1977]. Metz, Johann Baptist / Reikerstorfer, Johann: Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft. Freiburg / Basel / Wien 2006. Papst Franz(iskus) I.: Gaudium Evangelii. Verfügbar unter : http://www.vatican.va/ holy_father/francesco/apost_exhortations/index_ge.htm [14. 12. 2013]. Prestel, Andr¦s Jos¦: Die Verstellungen der Kantischen Moralität. Wien 1998. Reikerstorfer, Johann: Weltfähiger Glaube. Politisch-Theologische Schriften. Berlin / Wien 2008. Schelkshorn, Johann: Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum Diskurs der Moderne. Weilerswist 2009. Wieser, Veronika u. a. (Hg.): Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit (Kulturgeschichte der Apokalyptik 1). Berlin 2013. 12 Schelkshorn, Johann: Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum Diskurs der Moderne. Weilerswist 2009.
Thomas M. Schmidt
Reflexive Säkularisierung? Religiöser Glaube und öffentliche Vernunft
Einleitung Die Auffassung, dass Modernisierung mit dem Verschwinden von Religiosität gleich zu setzen sei, wurde in den letzten Jahren stark kritisiert. Aber auch die Bestreitung und Relativierung dieser These und die damit laut verkündete „Rückkehr der Religionen“1 ist selbst wiederum bestritten worden. Bereits in den 60er Jahren haben Religionssoziologen wie Peter L. Berger2 und Thomas Luckmann3 den zu engen theoretischen Rahmen der klassischen Säkularisierungstheorie kritisiert. Der nicht zu leugnende Vorgang der Säkularisierung lässt sich Berger und Luckmann zufolge mit Hilfe eines erweiterten Religionsbegriffs besser analysieren. Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts kommt es zu einer anders akzentuierten Kritik an der klassischen Säkularisierungsthese. Sie wird aus der Perspektive von Positionen formuliert, welche die „säkularisierungsresistente“ Bedeutung der Religion stärker von ihrer politisch aktiven Rolle her bestimmen und weniger von ihrer gesellschaftlichen Integrationsfunktion. Besonders einflussreich war hier die Studie von Jos¦ Casanova4. Laut Casanova bezieht sich die These der Säkularisierung auf die unterschiedlichen Prozesse der Ausdifferenzierung, der Individualisierung und des Bedeutungsverlustes von Religion, die keineswegs identisch seien. So erscheint die Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilsystemen und Wertsphären, wie sie sich exemplarisch in Gestalt der Trennung von Religion und Politik vollzieht, nicht mit der Individualisierung von Religion identisch. Auch in der politischen 1 Riesebrodt, Martin: Die Rückkehr der Religionen: Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München 2000. 2 Berger, Peter L.: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie. Frankfurt am Main 1973. 3 Luckmann, Thomas: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung. Freiburg 1963; ders.: Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991. 4 Casanova, Jos¦: Public Religions in the Modern World. Chicago 1994.
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Öffentlichkeit eines säkularen Staates können sich religiöse Auffassungen sehr wohl legitim und wirksam Gehör verschaffen. Ausdifferenzierung und Individualisierung sind zudem weder der notwendige Ausdruck noch die alleinige Ursache eines Bedeutungsverlustes von Religion. Casanovas Plädoyer, die klassische Säkularisierungsthese differenzierter zu betrachten und die bleibende Rolle der Religion im Raum der politischen Öffentlichkeit moderner Gesellschaften stärker zu beachten, hat vor allem durch religionspolitische Aspekte der Globalisierung Gewicht und Plausibilität erhalten. Damit ist vor allem die Tatsache gemeint, dass auf diesem Planeten anscheinend noch nie so viele religiöse Menschen gelebt haben wie heute. Peter L. Berger hat diese Einschätzung Ende der 90er Jahre dazu veranlasst, von einer „De-Säkularisierung“ der Welt zu sprechen.5 Aber genauso wie manche die Religion zu früh zu Grabe getragen haben, so sind heute vielleicht manche zu voreilig in ihrer Verabschiedung der Säkularisierung und der Feier der Wiederauferstehung der Religion. Wie kaum ein zweiter Religionssoziologe hat sich Detlev Pollack in den letzten Jahren für eine differenzierte Betrachtung des Konzepts der Säkularisierung eingesetzt.6 Seine „Studien zum religiösen Wandel in Deutschland“ argumentieren für eine Position, die sowohl eine sterile und unproduktive Wiederholung als auch eine vorschnelle Verabschiedung der Säkularisierungsthese vermeidet. Pollacks Untersuchungen führen ihn zu dem Schluss, dass die Säkularisierungsthese zwar modifiziert werden müsse, aber auch nicht vorschnell verabschiedet werden dürfe. So neigten Kritiker der Säkularisierungsthese dazu, die Vitalität der religiösen Aufschwungsprozesse zu überschätzen. Pollack rät daher zu einer Entdramatisierung der Rede von der Rückkehr der Religion. Die Dynamik der Säkularisierung habe, mindestens in der von ihm empirisch untersuchten bundesdeutschen Gesellschaft, keinen signifikanten Umkehrschub erfahren. Die Veränderung besteht offenbar in einer gestiegenen Sensibilität für die Ungleichzeitigkeit und Gegenläufigkeit von Entwicklungsdynamiken in einem pluraler gewordenen gesellschaftlichen Feld. Was sich am stärksten verändert zu haben scheint, ist der normative Rahmen, in dem über das Verhältnis von Religion und säkularer Moderne diskutiert wird. Jener neue normative Rahmen soll der dauerhaften Koexistenz von religiösem und säkularem Denken gerecht werden, für die sich inzwischen der Name „post-säkulare“ Gesellschaft eingebürgert hat. Damit ist nicht nur die empirische Tatsache gemeint, dass religiöse
5 Berger, Peter L. (Hg.): The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics. Washington D.C. 1999. 6 Pollack, Detlev : Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen 2003.
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Gemeinschaften „in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung“7 fortbestehen, sondern das begriffliche Verhältnis von Säkularisierung und Religion. Offenbar sind moderne Gesellschaft und Religion in ihren Selbstbeschreibungen notwendig und konstitutiv aufeinander bezogen und zwar so, dass sie ihr Gegenüber als das Andere konstituieren, auf das sie zugleich als unverzichtbare semantische Ressource und Bedrohung ihrer Identität Bezug nehmen. Jeder abstrakte und einseitige Versuch, entweder die Unaufhaltsamkeit der Säkularisierung oder die Unverzichtbarkeit von Religion zu proklamieren, evoziert daher die Gegenreaktion der Verabschiedung dieser Verabschiedung. Die Halbwertzeiten dieser Verabschiedungsparadigmen, ob sie nun „Säkularisierung“, „Postsäkularismus“ oder „Re-Säkularisierung“ heißen, werden immer kürzer, wie die stetig ansteigende Flut von Veröffentlichungen zum Thema zeigt. Ich schlage daher vor, diesen Prozess sowohl auf der Objektebene als auch auf der theoretischen Metaebene als einen Prozess der „reflexiven Säkularisierung“ zu verstehen und zu untersuchen. Dies würde auch eine gute Voraussetzung bieten, historische, kulturwissenschaftliche und andere materiale Untersuchungen zu den heterogenen Entwicklungsprozessen vergesellschafteter Religion und die systematisch-normativen Fragen nach den jeweils gültigen und brauchbaren Ordnungs- und Reflexionsbegriffen auf eine sinnvolle und reibungslose Weise zu verknüpfen. In den folgenden Überlegungen möchte ich vor allem auf die Verknüpfung zwischen soziologischen Prozessen der Reflexivität säkularer Gesellschaften und rationalen Prozessen der Selbstaufklärung religiöser Überzeugungssysteme eingehen. Der Ort, an dem sich diese beiden Prozesse der Reflexivität verknüpfen, ist der Raum der politischen Öffentlichkeit, denn hier müssen Überzeugungen im Lichte verallgemeinerbarer Gründe dargelegt werden können. Die Akzeptabilität dieser Gründe wird durch die Öffentlichkeit einer Vernunft garantiert, die zugleich die Vernünftigkeit der Öffentlichkeit in Form von Institutionen und Rechten garantiert. Reflexive Säkularisierung wird auf allen Stufen, die ich betrachten werde, von der Frage motiviert, wie bei fortschreitender Differenzierung soziale Integration möglich ist. An der normativen Gestaltung der politischen Öffentlichkeit lässt sich dabei das jeweilige Verhältnis von Moral, Recht und Religion ablesen. Zur Reflexivität der Säkularisierung gehört, dass sie auf die wechselnden Bedingungen, die aus der Differenzierungsdynamik säkularer Gesellschaften entsteht, eine Antwort bereit hält, die weder die Allgemeinheit und Verbindlichkeit des Rechts gefährdet, noch religiöse Bürger systematisch ausgrenzt und entfremdet. Dazu gehören spiegelbildlich die Zumutung und Anforderung an die Religion, sich selbstreflexiv auf normative Standards säkularer Gesellschaften einzulassen. An der Fähigkeit von Religion, sich an das jeweils gebotene Verhältnis von Inte7 Vgl. Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Frankfurt am Main 2001, S.13.
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gration und Differenz anzupassen, lässt sich der Grad der Selbstreflexivität von Religion unter Bedingungen der Säkularität ablesen. Im Folgenden möchte ich drei Stufen der Reflexivität von Säkularisierung unterscheiden: Neutralisierung, kooperative Übersetzung, Religion als Differenzbewusstsein. Die beiden ersten Stufen der Neutralisierung und der kooperativen Übersetzung bewegen sich noch weitgehend innerhalb der Vorstellung eines einheitlichen Rahmens, der durch nationalstaatliche Begrenzung oder einen homogenen kulturellen Horizont eindeutig bestimmt und begrenzt ist. Angeregt durch die gegenwärtigen Debatten über „multiple modernities“ möchte ich die These entwickeln, dass wir uns schon längst auf einer dritten Stufe der Reflexivität von Säkularisierung bewegen. Globalisierung und multiple Modernisierung verändern nämlich nicht nur die institutionellen Arrangements im Verhältnis von Religion, Recht und Politik sondern auch das Verhältnis von philosophischer Vernunft und religiösem Glauben. Letzterer wandelt zwangläufig seine Funktion und muss dementsprechend seine Selbstbeschreibung ändern.
1.
Reflexionsstufe der Säkularisierung: Neutralisierung des öffentlichen Raums – Trennung von Religion, Recht und Politik
Mit dieser ersten Stufe ist das liberale Modell demokratischer Rechtsstaatlichkeit gemeint. Die Genese dieser normativen Idee und ihre erfolgreiche Implementierung werden in der Regel verstanden als Antwort auf die historische Lektion der europäischen Religionskriege. Die Merkmale der Lösung, mit welcher der Liberalismus durch die Etablierung des demokratischen, neutralen Rechtsstaats auf diese durch Stabilitäts-und Legitimitätskrise reagiert hat, sind bekannt: Staatliches Handeln wird rechtlich gebunden durch das libertäre Prinzip der religiösen Freiheit aller Individuen, durch das egalitäre Prinzip der Gleichheit der Religionen und Konfessionen und durch das Neutralitätsprinzip der Gleichbehandlung von religiösen und nichtreligiösen Überzeugungen. So kann Rawls zufolge von allen Bürgern, unabhängig von ihrer Religion und Weltanschauung, im Prinzip eingesehen werden, dass Grundgüter der fairen Kooperation wie Freiheit und Gleichheit zentrale und konstitutive Elemente einer gerechten politischen Ordnung darstellen. Diese Elemente sollen aus der Perspektive der Anhänger verschiedener „umfassender Lehren“ interpretiert und als verbindlich akzeptiert werden können, ohne dass diese Doktrinen selbst in die Rechtfertigungsgrundlage der freistehenden Gerechtigkeitskonzeption einfließen. Dabei können die Gründe für die Zustimmung bei den verschiedenen ethischen und religiösen Doktrinen ganz unterschiedlich beschaffen sein. Ent-
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scheidend ist, dass sich ihre Perspektiven in dem Fluchtpunkt einer politischen Gerechtigkeitskonzeption treffen. Der übergreifende Konsens markiert den öffentlichen Ort einer Überlappung unterschiedlicher Kontexte der Einbettung und Aneignung der freistehenden Konzeption der Gerechtigkeit. Bürger einer pluralistischen Gesellschaft müssen diese freistehende Gerechtigkeitskonzeption unabhängig von ihren jeweiligen partikularen Überzeugungen akzeptieren können. Religiöse Überzeugungen können daher nur dann öffentlich legitime Argumente darstellen, wenn für sie adäquate säkulare Gründe angegeben werden können. Diese Konzeption hat eine Fülle von zum Teil sehr heftigen kritischen Reaktionen von religiöser Seite hervorgerufen. So wird gegen das Modell der liberalen Trennung von religiösen Überzeugungen und politischer Öffentlichkeit der Vorwurf erhoben, dass sich hier die weltanschaulich neutrale Gerechtigkeitsvorstellung des Liberalismus bei näherer Betrachtung als eine subtile Form der Unfairness entpuppe. So sei nicht einzusehen, warum gerade religiöse Überzeugungen mit der Begründung, sie fänden nicht bei allen Bürgern Zustimmung, aus den elementaren politischen Debatten ausgeklammert werden sollten. Eine Fülle anderer ethischer Überzeugungen und Moralkonzeptionen werde keinesfalls aus solchen Debatten ausgeschlossen, obwohl auch sie nicht von allen geteilt und von vielen Bürgern mit vernünftigen Gründen abgelehnt würden. Nach dieser Einschätzung müssen religiöse Personen ungleich mehr ihrer identitätsstiftenden Grundüberzeugungen einklammern als solche mit säkular-liberalen Vorurteilen, wenn sie sich an politischen Diskursen als gleichberechtigte Partner beteiligen wollen. Es herrsche somit eine ungleiche Verteilung argumentativer Lasten und ein Zwang zur Schizophrenie: Das religiöse Subjekt muss vitale Komponenten seiner Persönlichkeit abspalten, wenn es als anerkannter Bürger in politischen Diskursen auftreten will. Der Liberalismus sei daher in erheblichem Maße unfair gegenüber jenen Menschen, die das Leben einer „religiös integrierten Existenz“ führen möchten. Das Fazit dieser ersten Stufe lautet also: Das Verhältnis von Integration und Differenz wird hier in diesem Modus der Trennung und Beschränkung so gelöst, dass bestimmte gesellschaftliche Teilsysteme wie Recht, Politik, aber auch Moral und Wissenschaft in ihrer Eigenlogik als allgemein verbindlich etabliert werden, andere Bereiche wie Religion als partikular privatisiert und neutralisiert werden. Die privatisierte Religion hat aber eine bleibende Bedeutung als Kontext einer motivbildenden Einbettung universaler Prinzipien in den Horizont konkreter sittlicher Lebensformen. Der Preis für diese Konstruktion ist eine Unterscheidung, die aus der Perspektive der „umfassenden Lehren“ als unfaire systematische Ausgrenzung erlebt wird.
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2.
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Reflexionsstufe der Säkularisierung: Kooperative Übersetzung – Postsäkulare Gesellschaft
Auf die Kritik der Konzepte von Neutralisierung der Religion und ihrer Exklusion aus der Sphäre der politischen Öffentlichkeit reagiert das Modell einer kooperativen Übersetzung von religiösen und säkularen Überzeugungen. Dieses Modell geht von der Einschätzung aus, dass wir in einer postsäkularen Gesellschaft leben, in der bei fortlaufender Dynamik der Säkularisierung dennoch mit einem dauerhaften Fortbestehen religiöser Gemeinschaften zu rechnen ist. Aber auch in einer postsäkularen Gesellschaft formuliert die säkulare Vernunft die Standards, unter denen Religion in einen Dialog mit anderen Religionen, mit der modernen Wissenschaft und dem demokratischen Rechtsstaat und der universalistischen Moral eintreten soll. Unter diesen Bedingungen müssen die religiösen Überzeugungen in eine Sprache übersetzt werden, die auch den säkularen Mitbürgen nicht prinzipiell unverständlich bleiben darf. Doch im Prozess dieser kooperativen Übersetzung wird auch von der säkularen Person die Bereitschaft gefordert, ihre Überzeugungen unter einen Irrtumsvorbehalt zu stellen. Ein fairer öffentlicher Diskurs in einer postsäkularen Gesellschaft muss auch die Bedingung erfüllen, dass säkulare Bürger in einen Prozess der inhaltlichen Auseinandersetzung und übersetzenden Aneignung der religiösen Gehalte einzutreten bereit sind. Unter diesen Bedingungen wächst der Religion die Rolle eines möglichen Bündnispartners gegen eine „entgleisende Moderne“ zu. Gerade in der Auseinandersetzung mit den Bio- und Neurowissenschaften zeigt sich laut Habermas, dass bestimmte moralische Empfindungen „bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck“ finden. So drückt etwa die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen „eine Intuition aus, die […] auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann“8. Durch eine solche „kooperative“ Übersetzung religiöser Vorstellungen in die philosophischen Begriffe der säkularen Vernunft vollzieht sich nach Habermas eine „Säkularisierung, die nicht vernichtet“9. Die säkulare Übersetzung stellt keine Destruktion der Religion, sondern ihre „rettende Dekonstruktion“ dar. Solche wechselseitigen, kooperativen Übersetzungsversuche zwischen religiösen und säkularen Überzeugungen erscheinen notwendig und sinnvoll, da moralische Einstellungen auf motivationale Voraussetzungen angewiesen sind, die sich aus geteilten Werten und Lebensformen und die durch sie ermöglichten Bildungsprozesse speisen. Die motivationale Frage, warum überhaupt moralisch sein, kann eine prozedurale Theorie, die den Standpunkt der moralischen, d. h. unparteilichen Betrachtung der Interessen expliziert, nicht zwingend be8 Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Frankfurt am Main 2001, S. 30. 9 Ebd., S. 29.
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antworten. Sie kann vernünftige Argumente entwickeln, die zur Einsicht in das für alle gleichermaßen Gute verhelfen können, die Bindung des Willens an diese Einsicht kann sie aber nicht bewirken. Hierzu bedarf es der Einbettung des moralischen Wissens in ein motivierendes ethisches Selbstverständnis. Die universale Vernunftmoral bleibt daher lebensweltlich in plurale ethische Kontexte eingebettet, wie sie durch die Religionen, durch „metaphysische Lehren und humanistische Überlieferungen“10 verkörpert werden. Diese Kontexte definieren unterschiedliche, kulturell variable Menschenbilder. Als partikulare Kontexte der Einbettung konstituieren sie daher nicht den Grund der universalen Geltung jener moralischen Rechte, die allen Personen qua Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung zukommen. Dieser universale Anspruch gründet vielmehr in einer Erfahrung, die über die konkreten ethischen Situationen hinausweist und kontexttranszendent von allen moralischen Personen geteilt werden kann. Sobald es aber um solche „intuitiven Selbstbeschreibungen“ geht, unter denen wir uns überhaupt als Menschen – und damit als Träger universaler Rechte – identifizieren können, reden wir von einer ethischen Einbettung ganz anderer Art, nämlich von einer über die Kulturen und Weltanschauungen hinausgreifenden ethischen Selbstdeutung der menschlichen Gattung im Ganzen. Das Selbstverständnis einer Gattung, die Vernunft und Freiheit als ihre konstitutiven Merkmale ansehen muss, ist das Resultat einer radikalen, nicht mehr aus einer höheren Einsicht in einen metaphysischen Grund abgeleiteten Wahl: Diese Einsicht legt den unhintergehbaren Grund der Einbettung der universalen Vernunft offen. Es ist dieser umfassende und radikale Sinn der Situierung der unbedingten diskursiven Vernunft in der Kontingenz der faktischen, menschlichen Gattungsgeschichte, welche Habermas Konzept der ethischen Einbettung von Rawls Konzept des Overlapping Consensus unterscheidet. Die Genese des universalen Standpunktes der Vernunft und der Gerechtigkeit kommt methodisch nicht durch einen Akt der abstrahierenden Formalisierung ethischer Voraussetzungen zustande, sondern durch deren reflexive Aneignung und bewusste Transformation. Fazit der 2. Stufe: Auch in einer postsäkularen Gesellschaft formuliert die säkulare Vernunft die Standards normativer Rechtfertigung; es besteht also weiterhin eine Asymmetrie zwischen religiösem Glauben und säkularer Vernunft. Das Programm einer kooperativen Übersetzung artikuliert aber zugleich die weiterführende Einsicht, dass es sich bei Religion nicht nur um einen partikularen Kontext einer privaten Aneignung und Einbettung einzelner säkularer Normen und Gerechtigkeitsprinzipien handelt, sondern dass sie allgemeiner, nämlich als gattungsethischer Rahmen der Einbettung der universalen Ver10 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt am Main 2001, S. 74.
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nunftmoral im Ganzen zu verstehen ist. Damit weitet sich nicht nur der Horizont der Funktion Religion, sondern sie wird zugleich formaler. Ihre Aufgabe ist nicht mehr – nicht mehr vorrangig – die Bereitstellung semantischer Ressourcen, sondern die Erzeugung einer bestimmten Haltung, die universale Solidarität und Achtung erst möglich macht. Dieser Aspekt wird auf der nun zu betrachtenden dritten Stufe der Reflexivität der Säkularisierung weiter radikalisiert und zugespitzt. Die Logik der Moderne als Dynamik der Differenzierung hat sich nämlich inzwischen soweit entfaltet, dass einige der strukturellen Voraussetzungen, die sowohl das Modell der Neutralisierung als auch das der kooperativen Übersetzung überhaupt ermöglichen, in Frage gestellt werden. Religion besitzt auch im Modell der kooperativen Übersetzung die Funktion, eine soziale Integrationsleistung qua Bereitstellung semantischer Ressourcen zu liefern. Die kognitiven Anforderungen an die Religion und die Reflexionsanforderungen einer säkularen Gesellschaft, die sich in ein aufgeklärtes Verhältnis zu ihrem anderen, der Religion, setzen will, sind unter Bedingungen einer multiplen Modernität jedoch noch einmal gestiegen.
3.
Stufe der Reflexivität: Multiple Modernität. Religion als Bewusstsein der Differenz
Die gegenwärtige Konjunktur der Säkularisierungsthematik, die Virulenz der Debatten um die Rolle der Religion in der politischen Öffentlichkeit wird in hohem Maße stimuliert durch Irritation und Bedrohungsgefühle, welche die global entfesselten religiösen Energien auslösen. Die Frage, wie angesichts widerstreitender religiöser Geltungsansprüche eine stabile und legitime gesellschaftliche Ordnung möglich ist, erhält durch die Renaissance der öffentlichen Religion, natürlich gerade in ihren antidemokratischen und terroristischen Auswüchsen, eine neue und dramatische Zuspitzung. Durch diese Irritation tritt eine stillschweigende religionssoziologische Voraussetzung ans Licht, die allen Modernisierungstheorien, die Säkularisierung als Ausdifferenzierung deuten, zugrunde liegt. Das Theorem der funktionalen Differenzierung, das den „paradigmatischen Kern der Säkularisierungstheorie“11 bildet, setzte nämlich stillschweigend einen einheitlichen Rahmen – in der politisch-normativen Gestalt des Nationalstaates oder der eines homogenen kulturellen Rahmens im Sinne einer geteilten Tradition voraus. Nur unter dieser stillschweigenden Voraussetzung eines gegeben normativen oder kulturellen Rahmens konnten die 11 Koenig, Matthias: „,Kampf der Götter‘? Religiöse Pluralität und gesellschaftliche Integration“, in: Langenfeld Christine / Schneider, Irene (Hg.): Recht und Religion in Europa. Zeitgenössische Konflikte und historische Perspektiven. Göttingen 2008, S. 104.
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Ausdifferenzierungsprozesse von Religion, Recht und Politik als Modernisierungsschübe – und damit als Fortschritt – bewertet und begrüßt werden und nicht als Zerstörung von Integration perhorresziert werden. So wurde im Gefolge der Religionskriege die historische Semantik der Beschreibung des Verhältnisses von Religion, Recht und Politik „auf zunehmende wechselseitige Unzuständigkeit, Autonomie, thematische Unzuständigkeit und Indifferenz von Politik und Religion“12 umgestellt. Vor dem Hintergrund der nachreformatorischen Glaubenskriege erschien es plausibel, die spaltende Religion dadurch politisch zu entdramatisieren, dass theologische Geltungsansprüche privatisiert wurden und auf die Selbstlegitimation weltlicher Herrschaft und die Bearbeitung von Konflikten durch säkulares Recht umgestellt wurde. Aber trotz dieser Ausdifferenzierungssemantik spielt die Religion für die „Konstruktion kollektiver Identität […] im Prozess der Staats-und Nationenbildung […] gerade eine entscheidende Rolle. Im konfessionellen Zeitalter resultierte staatliche Religionspolitik und soziale Disziplinierung in einer Homogenisierung der Bevölkerung, auf die die Erfindung nationaler Traditionen aufbauen konnte“13. Dies lässt sich gerade am Religionsbegriff ablesen, der „seine uns heute geläufige Bedeutung erst im 16. Jahrhundert erhalten hat“14. Der Begriff der Religion markiert im Sinne einer Logik der Konfessionen Differenzen, die sich aber als unterschiedliche Erscheinungsformen einer gemeinsamen akzeptablen und homogenen Sozialgestalt von Religion erweisen. Es ist also gerade die Thematisierung der Differenz der Religionen voneinander und vom Staat, die ein übergreifendes Narrativ von der Einheit einer konfessionell gespaltenen Nation ermöglicht, die durch ein allgemeines Konzept von Religion als kollektiv geteilte, rituell praktizierte und mitgliedschaftlich organisierte Glaubensüberzeugungen fundiert wird. Dieser aus den Glaubenskriegen der europäischen Neuzeit entstandene Modus der Integration widerstreitender religiöser Geltungsansprüche wird nun „im Horizont der Weltgesellschaft zunehmend durch pluralistische Arrangements überlagert“15. Dabei ist der „Formwandel von Nationalstaatlichkeit nicht zuletzt ein Ergebnis der weltgesellschaftlichen Institutionalisierung von Menschenrechten“16. Der Menschenrechtsdiskurs eröffnet nämlich den Individuen Zugänge zu neuen transnationalen Rechtsräumen, entkoppelt individuelle Rechte von staatlicher Mitgliedschaft und führt damit zu einem Charismaverlust des souveränen Staats“17. Auf dieser Weise wird den nationalen Homogenisierungsprojekten ihre Legitimität entzogen. Die enthomogenisierten, dem Men12 13 14 15 16 17
Ebd. Ebd., S. 106. Ebd. Ebd., S. 110. Ebd. Ebd.
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schenrechtsgedanken verpflichteten Nationalstaaten werden zunehmend „auf die Anerkennung ethnischer, sprachlicher und religiöser Differenz verpflichtet“18. Daher wird auch „an staatliche Religionspolitik […] die Erwartung herangetragen, die Identitäts-und Anerkennungskämpfe zu moderieren, die sich aufgrund religiöser Pluralisierung und transnationaler Migration zu einem zentralen Konfliktfeld postindustrieller Gesellschaften entwickelt haben. Damit aber tritt Religion erneut sichtbar in die öffentliche Sphäre und können religiöse Geltungsansprüche neu verhandelt werden“19. Die Ausdifferenzierung von Religion, Recht und Politik setzt sich also weiter fort und nimmt an Dramatik zu. Dieser abermalige Reflexionsschub der Säkularisierung wird sich wiederum zwangsläufig auf die Funktion der Religion und ihrer Selbstreflexion auswirken müssen. Meine These lautet, dass die Funktion der Religion nicht länger in der Repräsentation von Integration und der Einbettung einer vermeintlich abstrakten Vernunftmoral und eines positiven Rechts zu sehen ist, sondern in der Beförderung des Bewusstseins der autonomen Eigenlogik von Recht und Moral. Anders gesagt, im Kontext einer dritten Stufe der reflexiven Säkularisierung besteht die Aufgabe von Religion nicht in der semantischen Unterfütterung prozeduraler Vernunftbegriffe – die ohne eine solche Unterfütterung angeblich „haltlos“ würden –, sondern gerade in der radikalen Entleerung und Entkernung moderner Vernunftbegriffe, die ihre Legitimität und Substanz vollständig aus sich heraus gewinnen. Religiosität ist nicht länger zu verstehen als Bewusstsein der Integration und der partikularen Veranschaulichung des Wesens des Menschen, sondern wird zwangsläufig zum Bewusstsein der Differenz und der Unanschaulichkeit. Die Lücke zwischen Religion einerseits und autonomer Vernunftmoral und positivem Recht anderseits ist nämlich gerade nicht inhaltlich zu schließen. Es ist daher nicht die Aufgabe religiösen Bewusstseins, diese semantische Leere der prozeduralen Vernunft und die funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft mit ihren autonomen Systemen der Politik, des Rechts, der Wissenschaft und Kunst durch die Bereitstellung eines Integrationsbewusstseins zu kompensieren. Religiöses Bewusstsein ist unter Bedingungen anhaltender Säkularisierung – und das bedeutet anhaltender Differenzierung – gerade Differenzbewusstsein. Diese Bestimmungen schließen erkennbar an die systemtheoretische Beschreibung Luhmanns an, der die Rolle von Religion unter Bedingungen funktionaler Differenzierung in einer spezifischen Reflexion der Einheit des Gesellschaftssystems gesehen hat. Mit der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz leistet das Religionssystem diesen spezifischen Beitrag einer Reflexion der sozialen Einheit. Diese Einheit ist aber gerade eine durch Differenz hergestellt Einheit, denn die zur Einheit ge18 Ebd., S. 111. 19 Ebd.
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brachten Teilsysteme folgen ihrer eigenen, gerade religionsfreien Logik; die Reflexion ihrer Einheit ist Reflexion von den Grenzen dieser Systeme her. Diese Reflexion erfolgt zudem aus der Perspektive eines Systems, das genau darauf spezialisiert ist, was als Funktionsvoraussetzung von den anderen Systemen ausgegrenzt wird, nämlich semantische Unbestimmtheit. Gesellschaftliche Ausdifferenzierung bedeutet daher keineswegs, „dass die Religion sich in die Kirche zurückzieht und sich fürderhin nur mit sich selbst beschäftigt […]. Nur reflektiert sich die Beobachtung und Beschreibung der Gesellschaft und ihrer Welt jetzt an gesellschaftsinternen Systemgrenzen, und der gesamte semantische Apparat muss folglich von Einheit auf Differenz umgestellt werden. Das schließt die Reflexion der Einheit des Gesellschaftssystems und erst recht die Reflexion der Einheit der Welt nicht aus. Aber Einheit ist jetzt Einheit einer Differenz und folglich: paradoxe Einheit“20. Vor diesem Hintergrund wird reflexive Religiosität zum Bewusstsein der Differenz, das die Autonomie und eigene Sachlogik der differenzierten Bereiche betont. Gerade (und nur) als gesteigertes Bewusstsein der Differenz erfüllt die Religion eine integrative Funktion für ausdifferenzierte Gesellschaften. Diese systemtheoretischen Überlegungen sind durchaus anschlussfähig an die traditionell verstandene kultische Rolle von Religion, die theologische Funktion des Gottesbegriffs und die psychologische Funktion des Glaubens. So besitzt der religiöse Kult die performative Funktion von Religion als Differenzbewusstsein, denn im Ritual des Kultes „wird der Grundvorgang der Einschränkung unbestimmbarer Möglichkeiten gleichsam exemplarisch vorexerziert“21. Theologisch gesehen wird die soziologische Funktion einer paradoxen Einheit von Immanenz und Transzendenz durch den Gottesbegriff markiert. Luhmann zufolge drängt es sich auf, „die Funktionsstelle, deren Benennung die Entparadoxierung zu leisten hat, mit dem Gottesbegriff zu bezeichnen“22. Auch psychologisch und epistemologisch, in Bezug auf eine Theorie des religiösen Glaubens, der unter Bedingungen prononcierter Modernität die Struktur eines Glaubens an den Glauben annimmt, bietet eine Differenztheorie religiösen Bewusstseins das angemessene Mittel, um zu verstehen, warum „der Glaube an die Wirklichkeit der Transzendenz unversehens immer wieder in den Glauben an die Wirklichkeit des Glaubens übergeht“23. Diese systemtheoretische Charakterisierung des religiösen Bewusstseins als Differenzbewusstsein knüpft zugleich an jene religionsphilosophische Ambivalenz an, die Habermas bereits am religionsphilosophischen Reflexionsweg von Kant zu Kierkegaard festge20 Luhmann, Niklas: „Die Ausdifferenzierung der Religion“, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3. Frankfurt am Main 1993, S. 262. 21 Ebd., S. 281. 22 Ebd., S. 315. 23 Ebd., S. 314.
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macht hat. Bei Kant emanzipiert sich die vernünftige Moral der gleichen Achtung geltungslogisch von religiösen Kontexten der lebensweltlichen Entstehung und Einbettung. Inhalt und Geltungsgrund des moralischen Gesetzes sind Kant zufolge unabhängig von religiöser Erfahrung. Wie Habermas in seinem Beitrag „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen“24 darlegt, bildet die Pflicht zur Beförderung des höchsten Gutes die begriffliche Einlassstelle, in der religiöse Vorstellungen zu einem Thema der autonomen Vernunftmoral bei Kant werden. Religion erscheint als Verwirklichungsdimension eines praktischen Bedürfnisses, das vollständig autonom verstanden werden kann. Dieses Bedürfnis ist ein reines Vernunftbedürfnis, das prinzipiell auch ohne religiöse Stimulanz hätte entstehen können. Historisch-faktisch verdankt es seinen Grundimpuls aber der Anregung durch das „semantische Potential“ der religiösen Überlieferung. Diese „epistemische Abhängigkeit“ gesteht sich Kant aber laut Habermas nicht vollständig ein25. Dies führt zu grundbegrifflichen Spannungen in seinem religionsphilosophischen Ansatz, da die Vernunftmoral einerseits von einem Anregungspotential der positiven Religion zehrt, zugleich aber die verfasste Religion, insbesondere den konkreten Kirchen-glauben in seinen abergläubischen Fehlformen, einer scharfen moralischen Kritik unterzieht. Daher liegt bei Kant der „Versuch einer reflexiven Aneignung religiöser Gehalte […] im Streit mit dem religionskritischen Ziel, über deren Wahrheit und Falschheit philosophisch zu richten“26 vor. Die Eigenständigkeit und Irreduzibilität des religiösen Glaubens, der sich weder auf die theoretische Vernunft der Metaphysik noch auf die praktische Vernunft der Moral reduzieren lässt, hat dagegen Schleiermacher betont, der damit eine andere Tradition der nachkantischen Religionsphilosophie begründet. Schleiermacher hat der Religionsphilosophie insofern einen Neuansatz beschert, als er die Vernunft in der Religion weder auf Erkenntnis noch auf moralische Verpflichtung reduziert, sondern in einer autarken Sphäre menschlicher Erfahrung situiert. Habermas sieht hierin eine „folgenreiche Alternative zum Aufklärungskonzept der Vernunftreligion“27. Religiöse Erfahrung, die im unmittelbaren Selbstbewusstsein wurzelt, kann nun nämlich „Gleichursprünglichkeit mit einer Vernunft, die derselben Wurzel entspringt, reklamieren“28. Unter dieser Voraussetzung bietet Schleiermachers Grundlegung religiöser Erfahrung und Subjektivität den Vorteil, dass der Vielheit der religiösen und ethischen Erscheinungsformen in einer pluralistischen Gesellschaft Rech24 Habermas, Jürgen: „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie“, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 2005, S. 216 – 257. 25 Ebd., S. 231. 26 Ebd., S. 236. 27 Ebd. 28 Ebd.
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nung getragen werden kann, indem sie als unterschiedliche legitime Gestalten der elementaren religiösen Erfahrung interpretiert werden. Zugleich bewahren die unterschiedlichen Religionen bei Schleiermacher gerade in ihrer faktischen kulturellen Überlieferungsgestalt, in ihrer „Positivität“, ihr Eigenrecht und werden als Medien der Anschauung des Unendlichen nicht auf den moralischen oder metaphysischen Begriffskern einer abstrakten Vernunftreligion reduziert. Den Nachteil der Konzeption Schleiermachers sieht Habermas in der Konsequenz einer kulturprotestantischen Verweltlichung des religiösen Glaubens, die zur quietistischen Versöhnung von Religion und Moderne führt. In der Konsequenz raubt Schleiermacher, ähnlich wie Hegel, der Religion den provokativen Stachel eines Impulses, der bessere Lebensverhältnisse jenseits des Horizontes der bürgerlichen Gesellschaft erwartet. Mit anderen methodischen Mitteln verfolgt Schleiermacher letztlich wie Hegel das Ziel, das Phänomen Religion aus der Perspektive der menschlichen Vernunft einsichtig zu machen. Damit wird aber nicht nur die von Kant errichtete epistemische Grenze zwischen Glauben und Wissen missachtet, sondern jene existentielle Fremdheit zwischen Religion und Philosophie überspielt, die erst die ethische Voraussetzung für wechselseitiges Interesse und reziproken Respekt zwischen säkularem und religiösem Denken schafft. Hier setzt nun Habermas zufolge der radikale Einspruch Kierkegaards ein. Kierkegaard sagt dem quietistischen Rückzug in die private Innerlichkeit und die konventionelle bürgerliche Kirchlichkeit den Kampf an und betont die Spannung zwischen christlicher Religion und moderner Kultur. Erst Kierkegaard konfrontiert Habermas zufolge „das nachmetaphysische Denken mit der unüberbrückbaren Heterogenität eines Glaubens, der die anthropozentrische Sicht des innerweltlich ansetzenden philosophischen Denkens kompromisslos leugnet“29. Kierkegaard radikalisiert Kants Grenzziehung zwischen Glaube und Wissen aus der Perspektive der Religion. Dieser „neoorthodoxe Gegenzug zum anthropozentrischen Selbstverständnis der Moderne“30 schafft gerade in philosophischer Hinsicht erst die Voraussetzungen für eine angemessene Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens. Damit erfüllt religiöse Subjektivität aber gerade nicht mehr die Funktion, Medium einer integrierenden Einbettung der autonomen Vernunftmoral in übergreifende Weltbilder zu sein. Im Anschluss an Kierkegaard gilt es, gerade die Negativität und Paradoxie einer Strategie der religiösen Einbettung autonomer Vernunftmoral und positiven Rechts offenzulegen. Religion markiert die Unbestimmtheitslücke zwischen den durch die Sachlogiken von Moral, Politik und Recht festgelegten Normen und jenem Horizont unbestimmter Geltungsvoraussetzungen, die den jeweiligen als 29 Ebd., S. 251. 30 Ebd., S. 244.
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verbindlich festgelegten Normen unthematisch im Rücken bleiben. Zu wissen, dass wir zu einer Gattung vernünftiger Wesen gehören, mag als der unbestimmte Horizont jeder bestimmten moralischen oder juristischen Beurteilung angesehen werden. Jene moralische Erfahrung, die prinzipiell von allen autonomen Personen geteilt werden kann, ist gerade keine bestimmte ethische Erfahrung. So wird die Idee einer „Sakralität der Person“ als normativer Kern des Menschenrechtsdiskurses gerade nicht durch ein bestimmtes inhaltliches Merkmal festgelegt, sondern ist begründungsoffen formuliert. Damit entsteht eine Lücke zwischen dem unbestimmten Horizont eines gemeinsamen Selbstverständnisses der menschlichen Gattung, die allen Differenzierungen vorausliegt, die aber nur in Gestalt konkreter Ansprüche sichtbar wird. Die unthematische Voraussetzung des Wesens des Menschen wird übersetzt in die Form bestimmter Geltungsansprüche, die nach Maßgabe einer autonomen säkularen Sachlogik artikuliert, begründet und durchgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund wird reflexive Religiosität zum Bewusstsein der Differenz, das die Autonomie und eigene Sachlogik der differenzierten Bereiche betont; gerade (und nur) als gesteigertes Bewusstsein der Differenz erfüllt die Religion eine integrative Funktion. Religiöses Bewusstsein ist gerade leer, unbestimmt, hat kein Bild vom Menschen im Unterschied zu den in ihrer Sachlogik wohl bestimmten und definiten ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichen. Religiöses Bewusstsein hat nicht die Funktion, das Wesen der menschlichen Gattung zu bestimmen und zu veranschaulichen, sondern an seine Unbestimmtheit und Unanschaulichkeit zu erinnern. Es geht nicht um die ethische Einbettung autonomer Moral und positiven Rechts in die lebensweltlichen Kontexte dichter Beschreibungen, sondern um die Schärfung und Bearbeitung der Differenz zwischen autonomer säkularer Gesellschaft und Vernunft. Es geht um die Konstitution und Bearbeitung der paradoxen Einheit von Einheit und Differenz, also jener Art von Integration, die säkulare, also ausdifferenzierte Gesellschaften auf reflexive Weise bilden können. Daher kann es also nicht die Aufgabe von Religiosität sein, Autonomie zu unterfüttern, zu stabilisieren und ihre Schäden zu kompensieren, sondern vielmehr zu radikalisieren. Notwendig ist unter Bedingungen reflexiver Säkularisierung die Umstellung der gesellschaftlichen Funktion des religiösen Glaubens von Integrations- auf Differenzbewusstsein. Auf diese Weise führt die steigende Reflexivität der Säkularisierung zugleich zu einer Reflexionssteigerung von Religiosität.
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Cristina Lafont
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Introduction In all liberal democracies the neutrality of the state is at the core of the debates on religion and politics. However, in the American context this debate is framed in terms of a broader debate on the ethics of democratic citizenship (i. e., on the question of what kinds of reasons and considerations may citizens use as a basis to justify the coercive power they exercise over one another so that such coercion can be considered legitimate), whereas this issue is much less prominent in the European debates. However, I have the impression that the debate on the ethics of democratic citizenship could actually be very helpful for addressing some of the issues that are peculiar to the European debates – e. g. the debates on banning the Islamic headscarf from public places, which have no counterpart in the American context. Thus, I would like to first indicate what motivates the debate on the ethics of democratic citizenship in the American context in particular, and then show why in spite of all differences, this debate is equally needed and relevant in the European context (I). In a second step, I will present my specific answer to the question of the obligations of democratic citizenship in a deliberative democracy (II) and then briefly show how it can help illuminate specific European debates on the presence of religion in the public sphere (III). 1. The neutrality of the state is entrenched in the US constitution as a way of securing equal rights and freedoms for all citizens. This normative goal has two components which are expressed in the two “religion clauses” found in the First Amendment to the Constitution: the “establishment clause” that prohibits the establishment of a national religion as well as the preferential treatment of any one religion over another by the state and the “free exercise clause” that protects citizen’s right to the free exercise of religion. Naturally, these aims oftentimes conflict and this generates hard cases similar to those debated in Europe, such as the provision of public funding for religious activities, the allowance of voluntary prayer in public schools or the display of religious symbols (like the Ten
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Commandments) in public places. Despite this similarity, an important difference between the American and European debates arises out of the fact that most American citizens are religious rather than secular. In distinction to Europe, secularism is not part of the majority culture. In fact, nonbelievers are a minority group that is rarely mentioned or represented as part of the official public culture. Now, in the context of a country with a majority of religious citizens the main problem with the presence of religion in the public sphere is not only that it challenges the neutrality of the state, but also that it influences the outcome of democratic decision-making processes regarding the fundamental rights and freedoms of fellow citizens. What is at stake in debates about gay marriage, abortion, euthanasia, stem-cell research, etc. which are deeply influenced by the religious beliefs of citizens is the legitimacy of democratic decision-making in light of the possibility that a majority, on the basis of their religious beliefs, may illicitly restrict the rights and freedoms of fellow citizens. This is why in the American context the debate on the presence of religion in the public sphere has been framed in terms of the ethics of democratic citizenship. Looking at Europe from this perspective, it seems to me that here we find the opposite situation. Secularism is not merely a reflection of the neutrality of the state, but it is also an important ingredient of the majority culture. In distinction from the American experience, in the context of European countries the secular state’s neutrality is not seen as simply an institutional tool to protect the rights and freedoms of all citizens, but also as an expression of the collective identity of the majority of the population. Against the background of a secular majority culture it is not surprising that the European debates have focused much less on the issue of what role religious beliefs should play in political deliberation in the public sphere. For, in comparison to the American social milieu, the possibility that a religious majority may curtail the rights and freedoms of fellow citizens on the basis of their religious beliefs seems quite remote in Europe. Nonetheless, as I said before, I have the impression that the American debate on the ethics of democratic citizenship is highly relevant to the European debates on the presence of religion in the public sphere. But before I try to illustrate this claim with some examples, let me try to motivate its relevance by addressing first the most obvious point of overlap between both debates, namely, the question of the neutrality of the state. Taking the US constitution as a guide, the principle of neutrality requires that the state finds a balance between two distinct aims: the non-preferential treatment of any religion over another or over no religion, which obviously includes the non-establishment of any particular religion as the national religion, and the protection of the free exercise of all religions. On both counts, European countries are far from doing an ideal job. From the establishment of the Anglican Church as official religion in England and the historical privileges conceded to
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Christian denominations in most European countries (e. g. public funding provided to Catholic churches and schools in Spain, Italy, France, Poland, etc.) to the official disregard of the obligation to protect in similar ways the right to the free exercise of non-Christian religions, notably Islam. It is not coincidental, I think, that the wide range of privileges and financial support offered to a variety of Christian denominations by different European states creates a direct problem once non-Christian religions like Islam appear in the scene. The emergence of non-Christian religions puts pressure on the actual lack of neutrality of the state in European countries. As a consequence, these states may be forced to live up to their official secularism and in fact disentangle themselves from the long historical tradition of conceding preferential treatment to those religions practiced by the majority. The popular claim that the presence of Islamic symbols, beliefs and practices in European countries threatens the secular state can hardly be understood without translating it into what seems to be the real issue, namely, that the presence of Islam in Europe threatens the possibility of maintaining the pattern of preferential treatment and privileges that different Christian denominations currently enjoy in European states. Without such a translation, inattentive outsiders would have a hard time understanding how the popular debate regarding the presence of Islam in Europe can so easily oscillate between the claim that European countries are secular and the claim that they are Christian. Clearly, Europeans must make up their minds, for they cannot have it both ways. This patent inconsistency in part explains the puzzling fact that such a relatively small presence of citizens of Islamic faith in European countries can produce such agitated reactions. Their presence confronts European countries with a choice they seem equally unwilling to make: either to live up to their official commitment to the neutrality of the secular state as a means to protect the rights and freedoms of all citizens, the Muslim minority included – this would require that these countries dismantle the historical privileges conceded to (mainly) Christian denominations – or- to end the current discrimination against Islam and offer Muslims the same kind of support, funding, protections and accommodations that other religions in fact enjoy1, in spite of the official doctrine of state neutrality. Now, regarding the either/or that European countries face, it is hard to take a clear-cut stand between a strictly neutralist and a more accommodative state model. From a purely normative point of view, and assuming all other things to 1 For an interesting analysis of this tension in the specific case of France see Laborde, C¦cile: Critical Republicanism. The Hijab Controversy and Political Philosophy. Oxford 2008. For a defens of the second option out of the dilemma see Modood, Tariq: Multiculturalism. A Civic Idea. Cambridge 2007. His proposals in favor of religious accomodation of Islam are particularly interesting in this context because they are explicitly defended on the basis of their consistency with the moderate secularism actually practiced in most European countries.
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be equal, it seems to me that the more neutral the state the better suited to protect the rights and freedoms of all citizens, most notably those of secular citizens2. However, some deviations from strict neutrality may nonetheless be needed to protect the right to the free exercise of religion in particular circumstances. For example if members of some religion are too poor to have effective access to the means or facilities needed for religious practice then some form of state support may be the best means for the goal of securing effective rights to the free exercise of religion for those citizens. This indicates that the line between a policy of strict neutrality and a policy of positive accommodation is fuzzy and cannot be drawn too sharply in practice. Moreover, in light of the high diversity of historical circumstances in which different countries find themselves it seems impossible to extract a ‘one size fits all’ political agenda from the ideal of state neutrality, i. e., an agenda that would be suitable for implementation in all contexts and at all times. This seems true of all political ideals, actually. From a purely normative point of view, it may be plausible to claim that a democratic republic is the ideal form of government, but adopting a political agenda to immediately dismantle all European monarchies on the basis of that ideal may not be an equally plausible claim. Similarly, whether or not the disestablishment of the Anglican Church in England or the removal of public funding for Catholic schools in Spain is the right political goal under current historical circumstances cannot be simply read-off from the normative ideal of state neutrality itself. Sensible political action always involves striking a difficult balance between different goals and risks, opportunities and constraints, short and long-term considerations, etc. Consequently, since there are always alternative ways to strike such a balance, the right political choice in the specific circumstances of each political community ought to be determined by its own citizens through an ongoing democratic process of political opinionand will-formation. But, if this is so, we can see why the question of the ethics of democratic citizenship that is at the core of the American debate on the role of religion in the public sphere is equally relevant to the European debate. If in democratic societies it is ultimately up to the citizens to collectively determine the specific 2 I do not have the space to offer a detailed defense of this claim here, but as it will become clear later, according to my interpretation of deliberative democracy, protecting the rights and freedoms of all citizens is not merely a matter of grating formal equality among them, but also of granting their political integration, so that they can see themselves as full members of the political community who have the right to be co-legislators. From that perspective, the less religiously neutral a political community is the harder it will be for secular citizens and citizens of different faiths to see themselves as full and equal members of it. For a defense of a similar view see Laborde, C¦cile: “Political Liberalism and Religion: On Separation and Establishment”, The Journal of Political Philosophy, (21) 2013 [2011], pp. 67 – 86. URL: http:// onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1467 – 9760.2011.00404.x/abstract [27. 09. 2013].
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ways in which their institutions need to be shaped and transformed in light of their political goals, ideals and historical circumstances, then it is crucial to figure out what kinds of reasons and considerations form an appropriate basis upon which citizens can make those fundamental political decisions so that the coercive power they exercise over one another is legitimate. In what follows, I would like to offer a specific answer to this question and to show by way of example how it can be applied to the European debates on the presence of religious symbols in the public sphere. 2. The debate on the kinds of reasons that citizens can use to justify the coercive power they exercise over one another has become very prominent in recent years due to the increased popularity of the deliberative model of democracy. The ideal of a deliberative democracy contains many attractive features that explain this popularity. Within the context of a discussion on religious pluralism perhaps the most important feature is that it promises citizens some measure of protection against political domination by majorities. Other models of democracy (notably aggregative models) can only promise citizens the fair treatment involved in the right to vote, that is, in having the equal opportunity to influence the outcome of the democratic decision-making procedures in which they participate. However, it is obvious that the right to vote is compatible with a scenario in which some citizens systematically and repeatedly lose out when decisions are made in a majoritarian fashion. For permanent minorities, this right-to-vote version of equal opportunity can easily amount to the absence of any actual effective opportunity to prevent majoritarian outcomes that are unjust. In contrast, the deliberative model offers citizens some resources that can help them avoid the domination potentially exercised by a consolidated majority. The deliberative model can grant better reasons greater influence over outcomes while still upholding to equal voting rights by requiring that democratic deliberation takes place before collective decisions are made if the outcomes of such decisions are to be considered legitimate. By adding this requirement, the deliberative model indicates a way in which minorities may be able to prevent political domination by the majority. Instead of resentfully bidding their time until they can seize an opportunity for their group’s own ascent to dominance, they can try to engage in public deliberation so as to show that their proposals are supported by better reasons and hold out realistic hope that the unforced force of the better argument, to use Habermas’s expression, may move the majority to change their initial preferences. The idea that better reasons (and not just higher numbers of votes) is what lends legitimacy to the outcomes of democratic decisions is reflected in the criterion of democratic legitimacy that underlies the ideal of a deliberative democracy. According to this criterion, citizens owe one another justifications based on reasons that everyone can reasonably accept for coercive
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policies with which they all must comply. Only in this way can all citizens see themselves not simply as subject to the law but also as authors of the law, as the democratic ideal of self-government requires. However, in light of the pluralism characteristic of democratic societies which encompass secular citizens as well as citizens of different faiths, it can hardly be expected that citizens will generally agree on what constitutes “acceptable reasons” for or against specific policies. What is acceptable to a Christian, say, may not be acceptable to a Muslim or to a secular citizen. If this is so, the deliberative ideal is doomed to fail, for it seems to subject citizens to mutually incompatible obligations. Here lies the key difficulty. According to the deliberative ideal, citizens who participate in public deliberation have the cognitive obligation of judging the policies under discussion strictly on their merits (instead of, say, their self-interest). In order to do so they must examine all the relevant reasons and give priority to those reasons that support the better argument, whichever reasons these may turn out to be. But they also have the democratic obligation of providing reasons that are acceptable to others. And this requires them to give priority to generally acceptable reasons, whether or not they are the most compelling in any given case. The potential conflict between these obligations poses a serious dilemma for a defense of the ideal of deliberative democracy. It is easy to imagine a scenario in which certain policies (e. g. on abortion or gay marriage) are morally objectionable to some citizens for exclusively religious reasons. Since religious reasons are a paradigmatic case of reasons that are not generally acceptable to secular citizens and to citizens of different faiths, the democratic obligation to provide a justification against these policies based on reasons that are generally acceptable to others would force these religious citizens either to be dishonest in their political advocacy (that is, to argue for something other than what they genuinely believe) or to withdraw from participation in political deliberation altogether. If citizens are forced to choose the first horn of the dilemma, public deliberation would not have the requisite cognitive properties. A deliberative practice in which participants cannot assume that all parties are being sincere could not count as a practice of argumentation that tracks the force of the better argument and therefore such a practice could not lend any special legitimacy to its outcomes. If citizens are forced to choose the second horn of the dilemma, then public deliberation would not meet the criterion of democratic legitimacy, since it would fail to provide justifications based on reasons that the self-excluded citizens can reasonably accept. Here lies the challenge for defending deliberative democracy. Can public deliberation under conditions of pluralism be structured in such a way that all democratic citizens are able to adopt their own cognitive stances within deliberation, whether these stances be religious or secular, such that they may reach
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genuine convictions in the deliberative process while nevertheless attempting to fulfill the democratic obligation of providing reasons that are acceptable to everyone so as to justify coercive policies to which all must comply? In what follows I would like to offer a proposal to show how an affirmative answer is possible3. An essential element of my proposal is that it does not identify the pool of “generally acceptable reasons” with secular reasons, as authors such as Audi4 or Habermas5 do. Although religious reasons may be considered a paradigmatic case of reasons that are not generally acceptable to secular citizens and citizens of different faiths, it does not follow that all nonreligious reasons can be considered generally acceptable just in virtue of being secular. Nonreligious reasons that are based on different and conflicting comprehensive doctrines and conceptions of the good cannot be expected to be generally acceptable to all citizens under conditions of pluralism, regardless of whether or not they are secular. Here my proposal sides with Rawls in identifying a narrower subset of nonreligious reasons, what he calls “public” or “properly political” reasons, as those that must be endorsed by all democratic citizens6. These are reasons based on those political values and ideals that are the very conditions of possibility for a democracy : the ideal of citizens as free and equal, and of society as a fair scheme of cooperation, which find expression in the constitutional principles to which citizens are bound in liberal democracies7. To the extent that an overlapping 3 The characterization of my proposal that follows draws on Lafont, Cristina: “Religion and the Public Sphere: What are the Deliberative Obligations of Democratic Citizenship?” in Philosophy & Social Criticism 35/1 – 2 (2009), pp. 127 – 150. 4 See Audi, Robert: “The Place of Religious Argument in a Free and Democratic Society”, in: San Diego Law Review 30/4 (1993), pp. 677 – 702; Audi, Robert: “Liberal Democracy and the Place of Religion in Politics”, in: Audi, Robert / Wolterstorff, Nicholas: Religion in the Public Square. London 1997, pp. 1 – 66; Audi, Robert: Religious Commitment and Secular Reason. Cambridge 2000; Audi, Robert: Democratic Authority and the Separation of Church and State. Oxford 2011. 5 Habermas, Jürgen: “Religion in the Public Sphere”, in: European Journal of Philosophy 14/1 (2006), pp. 1 – 25. 6 See Rawls, John: Political Liberalism. Cambridge 1993, pp. 212 – 254 and id.: “The Idea of Public Reason Revisited” [1997], in Rawls, John: The Law of Peoples. Cambridge 1999, pp. 129 – 180. In my opinion, Rawls’s interpretation of the content of public reason in terms of basic democratic values offers the most plausible account of the kind of reasons that must have priority in public political deliberation. However, this is all that my proposal borrows from Rawls’s account of public reason. In particular, it does not require endorsing some stronger (and contentious) assumptions that Rawls includes in his account, such as the completeness of public reason. For a brief discussion of this issue see note 11 below. 7 Rawls’s account of public reason also includes trivial elements that belong to common human reason such as “presently accepted general beliefs and forms of reasoning found in common sense, and the methods and conclusions of science when these are not controversial.” (Rawls, John: Political Liberalism. Cambridge 1993, p. 224). For the details of Rawls’s account of the content of an overlapping consensus see ibid., pp. 133 – 172.
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consensus around basic political values of freedom and equality can be expected among democratic citizens, these values provide the needed reservoir of generally acceptable reasons from which all citizens can draw to justify the coercive policies they advocate for to their fellow citizens. However, my proposal does not endorse Rawls’s famous proviso, according to which religious reasons can be included in public deliberation but only provided that “in due course” proper political reasons are offered in support of whatever policies the religious reasons are supposed to support8. As I mentioned before, the obligation to offer corroborating public reasons leaves citizens two equally unacceptable options whenever the reasons they have in support of the policies they favor are not public reasons: (a) either to be disingenuous in their political advocacy or (b) to withdraw from political participation in the public sphere. In light of this difficulty, critics of the Rawlsian proposal have objected that the obligation to provide nonreligious reasons in support of policy proposals imposes an undue cognitive burden on religious citizens. As Wolterstorff argues, “it belongs to the religious convictions of many religious people that they ought to base their decisions concerning fundamental issues of justice on their religious convictions. They do not view it as an option whether or not to do it.”9 Rawls’s proposal may seem plausible if one assumes that citizens will always have at their disposal two parallel pools of reasons to draw from. However, in cases of direct conflict between religious and nonreligious reasons, it seems that being religious consists precisely in giving priority to religious over nonreligious reasons in forming one’s own convictions. If this is the case, so the objection goes, Rawls’s “duty of civility” threatens the political integration of religious citizens in democratic societies. However, if, following Wolterstorff ’s counter proposal, we simply drop the democratic obligation to offer reasons generally acceptable to others, it follows that a majority of religious citizens would be licensed to base their political decisions on their religious convictions and thereby impose coercive policies on other citizens without any obligation to give them reasons that they can reasonably accept. As a way to avoid this unattractive alternative, Habermas proposes to interpret Rawls’s proviso in terms of an “institutional translation proviso”. He accepts the Rawlsian proviso regarding political deliberation at the institutional level of parliaments, courts, ministries and administrations, that is, in what he calls the formal public sphere. But he proposes to eliminate the requirement of 8 Rawls, John: “The Idea of Public Reason Revisited” [1997], in: Rawls, John: The Law of Peoples. Cambridge 1999, p. 144. 9 Wolterstorff, Nicholas: “The Role of Religion in Decision and Discussion of Political Issues”, in: Audi, Robert / Wolterstorff, Nicholas: Religion in the Public Square. London 1997, p. 105.
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providing corroborating nonreligious reasons in political deliberations in the informal public sphere whenever such reasons are not available. Ordinary citizens who participate in political advocacy in the informal public sphere can offer exclusively religious reasons in support of the policies they favor in the hope that they may be successfully translated into nonreligious reasons. But the obligation of translation should not fall exclusively on the shoulders of religious citizens. Instead, all citizens involved in public deliberation, secular citizens included, must share this obligation. This proposal is supposed to yield a more even distribution of cognitive burdens among citizens. On the one hand, religious citizens, like all citizens, must accept the neutrality of the state and therefore must accept that only nonreligious reasons count in determining coercive policies with which all citizens must comply. On the other hand, secular citizens, like all citizens, must share the burden of translating religious into nonreligious reasons. In order to do so, according to Habermas, secular citizens have to take religious reasons seriously and cannot deny their possible truth from the outset. They must open their mind to the possible truth of religious beliefs and reasons as a precondition for finding out whether they can be translated into secular ones. Now, by shifting the burden of translation from religious to secular citizens, the dilemma facing religious citizens that we saw before comes to face secular citizens as well. For whenever the reasons that they hold in support for favored policies happen to be of a secularist type that contradicts the possible truth of religious claims, it appears that in order to participate in public deliberation these secular citizens have no alternative but to be disingenuous and come up with alternative reasons that are independent of their authentic beliefs. However, if disallowing citizens to publicly adopt their own cognitive stance is unacceptable, it seems that this would be so whether those citizens have a religious or secularist stance. This problem is also aggravated by what is likely to strike many secular citizens as a disquieting additional obligation, namely, the obligation to open their minds to the possible truth of religious beliefs and reasons as a precondition for finding out whether they can be translated into public ones. Beyond its doubtful feasibility, this obligation seems to deprive secular citizens of the very same right to publicly adopt their own cognitive stance that the proposal aims to recognize to religious citizens. By imposing such additional burdens Habermas’s proposal opens itself to similar objections as those facing Rawls’s proposal. Moreover, it is far from clear that his proposal offers religious citizens a way out of their own dilemma. For what is at stake in this debate is not so much whether religious citizens can express their religious convictions in the informal public sphere, but above all whether they can base their political decisions on those religious convictions, as Wolterstorff contends. If the Habermasian proposal allows citizens to vote on the basis of exclusively religious
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reasons, it collapses into Wolterstorff ’s proposal against the neutrality of the state. This, however, would directly undermine the criterion of legitimacy contained in the “institutional translation proviso”, according to which only secular reasons should count in determining coercive political decisions. But, if it excludes this possibility, then it collapses into the Rawlsian proposal it aims to modify. It lets citizens include religious reasons in political deliberation in the informal public sphere, but when it comes to casting their votes it does not let them base their political decisions on their religious reasons if corroborating secular reasons cannot be found. Thus, these citizens must engage in a way of thinking entirely foreign to their own religious convictions in order to determine how to vote. To the extent that this is so this proposal does not provide any answer to Wolterstorff ’s objection. In contradistinction to Rawls’s and Habermas’s proposals, my proposal interprets the democratic obligation to justify the coercive policies one favors with generally acceptable reasons in such a way that it can be discharged by all democratic citizens, whether religious or secular, without forcing them to abandon their own cognitive stance and disingenuously engage in a foreign way of thinking. To the extent that it does so, it does not impose undue cognitive burdens on any citizens and therefore avoids Wolterstorff ’s objection without giving up on the ideal of mutual accountability. According to the accountability proviso that I defend, citizens who participate in political advocacy in the informal public sphere can appeal to any reasons they sincerely believe in, which support the coercive policies they favor, provided that they are prepared to show – against any objections to the contrary – that these policies are compatible with the democratic commitment to treat all citizens as free and equal and therefore can be reasonably accepted by everyone10. In order to fulfill this democratic obligation, citizens must be willing to engage in an argument on the compatibility of the policies they favor with the protection of the fundamental rights and freedoms of all citizens and they must be willing to accept the outcome of that argument as decisive in settling the question of the legitimacy of enforcing these policies. Although the accountability proviso is similar in spirit to the Rawlsian proviso, it is based on an interpersonal interpretation of the nature and rationale of the obligation in question. By interpreting accountability in interpersonal in10 Cohen explains the precise content of this democratic commitment as follows: “To say that citizens are free is to say, inter alia, that no comprehensive moral or religious view provides a defining condition of membership or the foundation of the authorization to exercise political power. To say that they are equal is to say that each is recognized as having the capacities required for participating in discussion aimed at authorizing the exercise of power.” (Cohen, Joshua: “Procedure and Substance in Deliberative Democracy”, in: Benhabib, Seyla (ed.): Democracy and Difference. Changing Boundaries of the Political. Princeton 1996, p. 156).
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stead of intrapersonal terms, it can avoid the objections against the Rawlsian proviso that I mentioned before. Whereas it seems at best unfeasible and at worst disingenuous to ask religious citizens who participate in political advocacy to come up with nonreligious reasons in support of the policies they favor, regardless of what their sincere beliefs happen to be in each specific case, it does seem both feasible and legitimate to ask them to address any objections other citizens offer against such policies which are based upon basic democratic principles and ideals. Since, according to this proposal religious citizens just as much as any other citizens, are only obligated to address those objections which are based upon reasons acceptable to all democratic citizens, they are perfectly capable of understanding and engaging them without being cognitively dishonest. But since those who offer the objections drive the challenge, religious citizens do not have to artificially generate a foreign or insincere rationale based on such reasons to support the policies they favor, as Rawls’s proposal suggests. Instead, those who oppose such policies fulfill this task on the basis of their sincere beliefs. All that religious (as well as nonreligious) citizens have to do is to come up with compelling reasons to show why these objections are wrong, if they think they are. Their public debate must show that the policies they favor are indeed consistent with treating all citizens as free and equal and therefore can be reasonably accepted by everyone11. 11 As mentioned in a prior note, my approach does not share Rawls’s assumption of the completeness of public reason. Thus I concede that public reasons alone may be sufficient to rule out some coercive policies in many cases, but may not be sufficient to determine which coercive policy to adopt in cases in which both alternatives either are considered equally compatible with treating all citizens as free and equal or are equally contested as incompatible. The abortion debate can be seen as an example of the latter case. In my view, both sides to the debate have fulfilled the obligation of articulating their objections to the opposite view in terms of properly political reasons, since both of them appeal to the priority of protecting fundamental rights (in one case of women and in the other of fetuses). They just disagree on their non-political views on what constitutes personhood, whether fetuses are human beings, and many such comprehensive issues. So, although the priority of public reasons is indeed reflected in the way the debate has been structured, those reasons alone do not suffice to resolve it. In view of the possibility of a stand-off of these characteristics, the political resolution of those types of cases may just have to be a compromise that both sides can live with (at least for so long as there are basic metaphysical or comprehensive disagreements which are directly relevant to the issue but irresolvable). Even so, since according to both sides of the debate the protection of fundamental rights is putatively at stake, the priority of public reasons does explain why citizens on both sides may consider accommodation a reasonable (even if temporary) solution in such cases (instead of simply choosing whichever policy happens to be favored by the majority). Thus, as this example shows, accepting the incompleteness of public reason does not require denying the normative significance of the priority of public reasons or the practical significance of the accountability proviso. For Rawls’s defense of the completeness of public reason based on the example of abortion see Rawls, John: Political Liberalism. Cambridge 1993, 243 f. and Rawls, John: “Introduction to the paperback edition”, in: Political Liberalism. Cambridge 1996, p.
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It is in virtue of this democratic obligation that public reasons have priority. They are the only reasons towards which no one can remain indifferent in their political advocacy. Whereas public reasons, that is, reasons based on basic democratic principles and ideals, need not be the source from which a rationale in support of each proposed coercive policy must be crafted, they are the kind of reasons that cannot be ignored, disregarded or overridden once citizens bring them into public deliberation. They are the reasons that must be engaged in their own terms by all politically active citizens if they are offered as objections to the coercive policies under discussion. Objections to the constitutionality of these policies must be (1) properly addressed in public debate and (2) defeated with compelling arguments12 before any citizens can legitimately support (or vote for) their enforcement. 3. Let me mention two examples to illustrate the sense in which public reasons have priority over other substantive reasons as well as the different ways in which this priority may play out in specific public debates on contested policies. The point of discussing these specific examples here is not to contribute to their solution, but to show how my proposal is supposed to work in democratic societies with different dynamics between majority and minority cultures. One is the debate on gay marriage as it is currently discussed in the USA, that is, in a country with a majority made up of religious citizens. The other is the debates on banning the Islamic headscarf from public places as they are currently discussed in European countries, that is, in countries with a majority made up of secular citizens. Showing how my proposal operates in these very different contexts will also be helpful in illustrating the issue that I mentioned at the beginning, namely, LVff. For a similar defense see Freeman, Samuel: Justice and the Social Contract. Oxford 2007, pp. 242 – 252. For criticisms of the completeness of public reason see Greenawalt, Kent: Religious Convictions and Political Choice. Oxford 1988, pp. 183 – 187 and Greenawalt, Kent: Private Consciences and Public Reasons. Oxford 1995, pp. 106 – 120; Sandel, Michael: Public Philosophy. Cambridge 2005, p. 223 ff.; and Eberle, Christopher: Religious Conviction in Liberal Politics, Cambridge 2002, part III. For an interesting defense of the normative significance of public reasons in spite of its incompleteness see Schwartzman, Micah: “The Completeness of Public Reason”, in: Politics, Philosophy and Economics 3/2 (2004), pp. 191 – 220. 12 How high the standard of proof must be in order to count an objection as defeated may vary depending on what is at stake. In some context, just showing a preponderance of evidence against the available objections may be sufficient to persuade most people of the constitutionality of a policy proposal, whereas in other cases it may be needed to show beyond reasonable doubt that the objection is indeed unsound. However, acceptance of a lower standard of proof by the time a decision has to be made only means that if conclusive arguments against the enforced policy are brought to public debate at a later time the issue will need to be revisited and the policy changed. For an interesting discussion of the appropriate standards of proof in public political debate see Gaus, Gerald: Justificatory Liberalism. Miller, David / Ryan, Alan (eds.). Oxford 1996.
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the way in which in a deliberative democracy minorities can be protected from political domination by a consolidated majority. Let’s look at the debate on gay marriage. According to the accountability proviso I propose, citizens may adduce religious reasons against homosexuality and in support of a ban on gay marriage, provided that they fulfill the correlative obligation of addressing any objections based on public reasons that other citizens may advance against such policy. Whereas citizens may not feel compelled to address objections based upon, say, the intrinsic value of homosexual lifestyles or the value of cultural diversity – values that they may not share –, they must nevertheless feel compelled to address objections based upon the political value of equal treatment that they do share as democratic citizens. Unless next time around they are willing to accept unequal treatment themselves, before their proposal can be legitimately enforced they must present a convincing explanation of how and why is it that “separate but equal” is an acceptable policy with respect to a particular group of citizens yet not towards others. Similarly, secular citizens do not have to address justifications based on religious reasons concerning the sinful nature of homosexuality – reasons that they do not share – in order to meaningfully participate in that debate. A perfectly appropriate way of engaging in that debate is to offer counterarguments in order to show why the proposed policy is wrong if they think it is. Objecting to the unequal treatment involved in denying the right to marriage to a group of citizens seems a perfectly meaningful way to participate in that debate. Of course, citizens may disagree about whether or not the reasons offered against the objections are compelling just as much as they may disagree about whether the objections themselves are compelling, and such disagreements will typically be settled (at least temporarily) by majority rule. But, according to this proposal, the cognitive significance of the majority vote should be that it reflects the judgment of the majority regarding whether or not a given policy is consistent with treating all citizens as free and equal, and not simply that it reflects their judgment regarding whether or not the enforcement of that policy accords with what they take to be the right way to act. This crucial distinction helps to illuminate what is wrong with Wolterstorff ’s claim that religious citizens ought to base their decisions about justice on their religious convictions. This view implies that religious reasons, whatever they may be, that purport to explain why homosexuality (and thus gay marriage) is wrong are at the same time both appropriate and sufficient to justify something totally different, namely, the imposition of coercion on others who have the right to be co-legislators. Once the distinction between these questions is recognized13, it becomes clear why reasons geared to prove the compatibility of the 13 See Rawls, John: “The Idea of Public Reason Revisited”, in Rawls, John: The Law of Peoples.
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proposed policies with the constitutional principles of freedom and equality (i. e. with the equal protection of the fundamental rights and freedoms of all citizens) should have priority in determining the mutual acceptability of coercive policies, even by the citizens’s own lights. If this is so, Wolterstorff ’s claim needs to be qualified accordingly : religious citizens ought to base their decisions concerning fundamental issues of justice on their religious convictions, provided that those decisions are compatible with treating all citizens as free and equal. Now, this claim may suggest that giving priority to proper political reasons stacks the deck in favor of secular and against religious citizens, so that the latter are bound to lose out whenever there is a conflict between religious and secular reasons. To show why the suspicion of a secularist bias in this specific account of public reason is unwarranted, let me introduce the other example I mentioned before to illustrate the correlative claim regarding secular citizens, namely, that these citizens ought to base their decisions concerning fundamental issues of justice on their secular convictions provided that those decisions are compatible with treating all citizens as free and equal. The current debates in European countries on whether to ban the Islamic headscarf from public places offer a good example. These debates are highly complex. They involve a variety of policy proposals as well as underlying reasons and justifications that I cannot properly address here. But for present purposes let’s (drastically) simplify the example and focus on a single type of reason that each side of the debate may put forward: the appeal made by some secular citizens to considerations of gender equality14 as the reason which justifies the ban and the insistence on the religious importance (or even obligation) of wearing the headscarf by some of those who oppose the ban. As in the previous example regarding the ban on gay marriage, I would argue here that a meaningful political debate among religious and secular citizens about the permissibility of wearing Muslim headscarves in public places is possible and that it would not require citizens to abandon their respective cognitive stance (whether it be secular or religious) and disingenuously engage in a foreign way of thinking. The argument runs as follows. Citizens can adduce secular reasons that appeal to substantive ideals of gender equality in support of banning the Islamic headscarf from public places provided that they fulfill the correlative obligation of addressing any objections based on proper political reasons that other citizens may advance against such policy. Whereas citizens need not feel compelled to address objections based on, say, the religious obligation to wear a headscarf, the inCambridge 1999, p. 148. 14 My focus on this particular reason is not meant to suggest that this is the only or even the main consideration behind the arguments in favor of the ban. Rather, I am focusing on it because it is the kind of reason that may seem most challenging for a defense of the priority of public reasons like the one I am articulating here.
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trinsic value of a Muslim lifestyle or of cultural diversity in general – obligations and values which they may not share – they must nevertheless feel compelled to address objections that are based upon the political values that they do share as democratic citizens. Now, these secular citizens may claim that precisely because their proposal draws on the value of equality, it is already based on properly political reasons and therefore meets the “priority of public reasons” test. But here, like in the prior example, lies an illicit conflation. For such a claim would seem to imply that secular reasons, whatever they may be, that purport to explain why the use of the Islamic scarf by women is wrong are at the same time both appropriate and sufficient for the justification of something entirely different, namely, the imposition of coercion on others who have the right to be co-legislators15. Whether or not the Islamic headscarf is a symbol of female oppression and thus undermines gender equality is an interesting and intricate question, but it has no direct bearing on whether citizens have the right to impose coercive measures on other citizens in total disregard of their rights to be treated as equals16. Recognizing the right of all citizens to be co-legislators implies recognizing their right to participate on equal footing within the deliberative process of shaping, contesting and transforming the collective understanding of what is and what is not compatible with gender equality, non-discrimination, freedom of religion, state 15 As in many other cases (e. g. pornography, hate speech) it is perfectly consistent with democratic principles to be simultaneously against the use of the headscarf and against the ban of the headscarf. For an argument along these lines see Laborde, C¦cile: “State Paternalism and Religious Dress Code”, in: International Journal of Constitutional Law 10/2 (2012), pp. 398 – 410. I agree with much of Laborde’s argumentation here. However, in my view she fails to emphasize the different bearing on the democratic legitimacy of coercive legislation that debates based on public and those based on comprehensive reasons (whether religious or secular) have. As a consequence, her defense of the normative significance of nondomination varies from the one I offer here. It does not focus on the political domination of Muslim women by a majority willing to impose coercive legislation on the basis of comprehensive (secular) reasons, but only on the putative social domination of Muslim women by others (e. g. male family members, religious authorities or oppressive ideologies) and the appropriate legal means for its prevention. 16 From this perspective, one of the main problems with European debates on coercive measures that specifically target citizens who are Muslim is that these citizens are oftentimes not seen as full and equal members of the societies they live in. Their right to be co-legislators, even if it is legally granted in terms of voting rights, is not fully accepted by the population. Indeed, it is quite common in Europe to refer to Muslim citizens as “immigrants”, even to those who are native second or third generation co-nationals. As Casanova points out, “most European countries still have difficulty viewing themselves as permanent immigrant societies, or viewing the foreign-born, and even the native second and third generation, as nationals, irrespective of their legal status.” (Casanova, Jos¦: “Immigration and the New Religious Pluralism: A European Union – United States Comparison”, in: Levey, Geoffrey Brahm / Modood, Tariq (eds.): Secularism, Religion and Multicultural Citizenship. Cambridge 2009, p. 140).
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neutrality, etc. – in light of the social and historical circumstances specific to a particular political community. Thus, irrespective of the religious reasons that some citizens may have for wearing the scarf, if these citizens cast their objections to the ban by appealing to the unequal treatment involved in denying a certain group of citizens the right to freely exercise their religion or to freely choose how to dress, or if they appeal to anti-discrimination laws to justify their opposition to the proposed ban, then other citizens have an obligation to address these objections and to offer convincing arguments to defeat them before the enforcement of the ban can be considered legitimate. The interpretation of the priority of properly political reasons defended here stacks the deck neither in favor of secular citizens nor against religious citizens, but in favor of political inclusion and against some citizens exercising political domination over others. This interpretation tells all citizens that they can base their decisions concerning fundamental issues of justice on their substantive views (whether about religion, equality, or anything else), provided that they can show those decisions are compatible with the democratic commitment to treat all citizens as free and equal. Consequently, citizens cannot determine in advance of actual public deliberation the substantive reasons upon which their political decisions ought to be based (whether they be secular or religious). In order to be legitimate, their decisions ought to be based on those reasons that have survived the scrutiny of political deliberation in a fully inclusive public sphere.
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Freeman, Samuel: Justice and the Social Contract. Oxford 2007. Gaus, Gerald: Justificatory Liberalism. Miller, David / Ryan, Alan (eds.). Oxford 1996. Greenawalt, Kent: Private Consciences and Public Reasons. Oxford 1995. Greenawalt, Kent: Religious Convictions and Political Choice. Oxford 1988. Habermas, Jürgen: “Religion in the Public Sphere”, in: European Journal of Philosophy 14/ 1 (2006), pp. 1 – 25. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt 2005. Laborde, C¦cile: Critical Republicanism. The Hijab Controversy and Political Philosophy. Oxford 2008. Laborde, C¦cile: “Political Liberalism and Religion: On Separation and Establishment”, The Journal of Political Philosophy, (21) 2013 [2011], pp. 67 – 86. URL: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1467 – 9760.2011.00404.x/abstract [27. 09. 2013]. Laborde, C¦cile: “State Paternalism and Religious Dress Code”, in: International Journal of Constitutional Law 10/2 (2012), pp. 398 – 410. Lafont, Cristina : “Religion in the Public Sphere. Remarks on Habermas’s Conception of Public Deliberation in Post-secular Societies”, in: Constellations 14/2 (2007), pp. 239 – 259. Lafont, Cristina: “Religion and the Public Sphere: What are the Deliberative Obligations of Democratic Citizenship?” in Philosophy & Social Criticism 35/1 – 2 (2009), pp. 127 – 150. Modood, Tariq: Multiculturalism. A Civic Idea. Cambridge 2007. Rawls, John: “Introduction to the paperback edition”, in: Political Liberalism. Cambridge 1996, pp. xxxvii-lxii. Rawls, John: Political Liberalism. Cambridge 1993. Rawls, John: “The Idea of Public Reason Revisited” [1997], in Rawls, John: The Law of Peoples. Cambridge 1999, pp. 129 – 180. Rawls, John: The Law of Peoples. Cambridge 1999. Sandel, Michael: Public Philosophy. Cambridge 2005. Schwartzman, Micah: “The Completeness of Public Reason”, in: Politics, Philosophy and Economics 3/2 (2004), pp. 191 – 220. Weithman, Paul: Religion and the Obligations of Citizenship. Cambridge 2002. Wolterstorff, Nicholas: “The Role of Religion in Decision and Discussion of Political Issues”, in: Audi, Robert / Wolterstorff, Nicholas: Religion in the Public Square. London 1997, pp. 67 – 120.
Martin Breul
Öffentliche Gründe und die „Doktrin der Selbstbeschränkung“ – Eine Kritik des liberalen Legitimitätsargumentes
Einleitung In einer pluralistischen und sich weiter pluralisierenden europäischen Gesellschaft wird in der jüngeren Vergangenheit immer wieder die Ressource Religion in Anschlag gebracht, wenn es darum geht, nach einer nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Integration Europas sowie einer couragierten europäischen Zivilgesellschaft zu fragen. Eines der religionsphilosophischen Warnschilder, welches in skeptischer Absicht vor einer allzu schnellen, kritikund kriterienlosen Einbindung religiöser Überlieferungen Überzeugungen in diese Debatten aufgestellt werden kann, ist die Frage nach der Zulässigkeit bzw. Legitimität religiöser Gründe im öffentlichen Raum und öffentlichen Diskursen. Diese Debatte wurde bisher hauptsächlich in den Vereinigten Staaten geführt, da das Problem einer ,sakralisierten Öffentlichkeit‘ bzw. die Gefahr einer hegemonialen Verallgemeinerung religiöser Normen durch eine weltanschauliche Mehrheit dort bei weitem virulenter ist; sie kann aber auch und gerade für ein liberales, pluralistisches und vermeintlich desintegriertes Europa und sein Ausgreifen nach der Ressource Religion relevant werden.1 Sind religiöse Menschen also unter moralischen Gesichtspunkten dazu verpflichtet, ihre religiösen Überzeugungen in öffentlichen Debatten einzuklammern und zu privatisieren? Oder gehört es gerade zu den Charakteristika liberaler und pluraler Gesellschaften, jegliche Überzeugung zumindest prima facie zum Diskurs zuzulassen und öffentliche Debatten auf der Grundlage dieser Überzeugungen führen zu dürfen? Die Kontroverse um die Legitimität religiöser Überzeugungen und Argumente in der Öffentlichkeit stellt eine der Kernfragen zeitgenössischer Religionsphilosophie dar und schwelt nach wie vor ungelöst vor sich hin. Eine weit verbreitete Auffassung innerhalb dieser Debatte, die für eine mindestens partielle Exklusion religiöser Überzeugungen spräche, ist 1 Eine überzeugende Begründung der Relevanz dieser Fragestellung für Europa findet sich in Talisse, Robert B.: „Religion in Politics: What’s the problem?“, in: Think (12) 2013, S. 65 – 73.
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durch das sogenannte liberale Prinzip der Legitimität gekennzeichnet, welches beispielsweise in John Rawls’ Standardwerk Political Liberalism eine prominente Rolle spielt. Auf der Grundlage der Einsicht in die Notwendigkeit der Reziprozität der Rechtfertigung politischer Normen plädiert Rawls für eine Beschränkung religiöser Gründe in öffentlichen Diskursen. Dieses Prinzip ist in der Vergangenheit in diversen Hinsichten kritisiert worden. Ich möchte im folgenden einen Einwand analysieren, der von Christopher Eberle, einem amerikanischen Religionsphilosophen, vorgelegt wurde und zunehmend kontrovers diskutiert wird. Eberle postuliert, dass alle Bürger zunächst nach einer allgemein zugänglichen Rechtfertigung der von ihnen vertretenen Normen suchen sollten. Bei einem Scheitern dieser Suche nach einer öffentlichen Rechtfertigung folge aber nicht, dass man die unterstützte Norm nicht mehr öffentlich vertreten dürfe. Es gebe eine Lücke zwischen dem principle of pursuit und der doctrine of restraint – aus dem liberalen Legitimitätsprinzip folge nur die moralische Verpflichtung auf das erste Prinzip, nicht aber auf die Doktrin der Selbstbeschränkung. In diesem Beitrag soll zunächst das liberale Prinzip der Legitimität in aller gebotenen Kürze dargestellt werden (1). Darauf möchte ich die Struktur von Eberles Einwand ausführlicher beleuchten (2), bevor auf eine essenzielle, rationalitätstheoretische Schwäche des Einwandes aufmerksam gemacht wird: Ich werde die These verteidigen, dass Eberles Hinweis auf die Lücke zwischen Rechtfertigung und Beschränkung nur bei einer impliziten Aushöhlung des Begriffs der Rationalität funktioniert (3). Eine diskurstheoretisch angelegte, deliberative Theorie der Demokratie kann diese Lücke schließen und Eberles Einwand aus rationalitätstheoretischen Gründen als unplausibel zurückweisen. Zugleich lässt sich mit Eberles Hilfe jedoch zeigen, dass das Rawls’sche Programm des Politischen Liberalismus diskurstheoretischer Modifikationen bedarf, um überzeugend zu sein.2
Das liberale Prinzip der Legitimität Das liberale Prinzip der Legitimität spielt eine signifikante und zentrale Rolle in einer Vielzahl liberaler Positionen, so dass einige politische Philosophen wie z. B. Paul Weithman es schon als die „standard approach“3 in der Frage nach der 2 Eine Einschränkung hinsichtlich der Reichweite des Papers scheint angebracht: Ich erhebe natürlich nicht den vermessenen Anspruch, alle Argumente für oder gegen das liberale Prinzip der Legitimität in ausreichender Form zu berücksichtigen. Mir geht es in diesem Aufsatz lediglich um die Analyse von Eberles Einwand gegen das Legitimitätsprinzip und die Folgen, die sich aus der Kritik an diesem Einwand ergeben. 3 Vgl. Weithman, Paul: Religion and the Obligations of Citizenship. Cambridge 2002.
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Beschränkung religiöser Überzeugungen im öffentlichen Diskurs deklarieren. Ich werde im Folgenden John Rawls’ prototypischen Entwurf des Legitimitätsprinzips vorstellen, der als Folie für die strukturell eng verwandten Formulierungen dieses Prinzips durch andere liberale Philosophen wie Robert Audi, Charles Larmore, Lawrence Solum, Bruce Ackerman und viele mehr dienen kann.4 Rawls’ Legitimitätsargument besagt, dass autoritäre staatliche Handlungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn den Betroffenen eine rationale Zustimmung möglich ist, d. h. wenn die zur Rechtfertigung gegebenen Gründe allgemein einsehbar und reziprok rechtfertigbar sind. Die für die Machtausübung gegebenen Gründe müssen also derart sein, dass ihnen prinzipiell alle Bürger zustimmen können: „[O]ur exercise of political power is fully proper only when it is exercised in accordance with a constitution the essentials of which all citizens as free and equal may reasonably be expected to endorse in the light of principles and ideals acceptable to their common reason.“5
Wenn jedoch Argumente allen Bürgern in gleichem Maße zugänglich sein sollen, müssen prima facie partikulare Überzeugungen, die aus umfassenden Lehren oder Konzeptionen des guten Lebens stammen, d. h. auch religiöse Überzeugungen, ausgeklammert werden. Auch wenn Rawls in seinen späteren Schriften das sogenannte proviso einführt, nach dem der Rekurs auf religiöse Überzeugungen dann erlaubt ist, wenn zeitnah allgemein verständliche Gründe nachgeliefert werden6, lässt er doch nicht von seiner These ab, dass die Rechtfertigung von Gründen im politischen Diskurs prinzipiell reziprok sein muss. Die Einführung des Rawls’schen provisos verdeutlicht nochmals, dass ohne den grundsätzlich wechselseitigen Charakter der Rechtfertigung die Grenzen einer öffentlichen Vernunft verlassen werden würden. Nicht-öffentliche Gründe können keinerlei argumentative Lasten tragen – andernfalls wäre es gar nicht erst notwendig, zeitnah öffentliche Gründe nachzuliefern. Für religiöse Men4 Vgl. zum Folgenden insbes. Rawls, John: Political Liberalism. New York 1993, sowie Rawls, John: „The Idea of Public Reason Revisited“, in: The University of Chicago Law Review (64) 1997, S. 765 – 807. Ich stelle das Legitimitätsargument hier in einer verkürzten Fassung dar und gehe nicht detailliert auf die feinen Unterschiede zwischen Rawls, Audi, Larmore, Solum etc. ein, da sie allesamt die liberale Grundthese – autoritäre staatliche Handlungen sind dann legitim, wenn sie reziprok rechtfertigbar sind – teilen und damit religiöse Gründe prima facie aus öffentlichen Diskursen exkludieren möchten. 5 Rawls, John: Political Liberalism. New York 1993, S. 137. 6 Vgl. Rawls, John: „The Idea of Public Reason, Revisited“, in: The University of Chicago Law Review (64) 1997, S. 765 – 807, hier S. 783 f.: „[R]easonable comprehensive doctrines, religious or non-religious, may be introduced in public political discussion at any time, provided that in due course proper political reasons – and not reasons goven solely by comprehensive doctrines – are presented that are sufficient to support whatever the comprehensive doctrines are said to support.“
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schen ergibt sich durch das proviso maximal eine Art Zeitgewinn, den sie zur Ergänzung ihrer zweitklassigen religiösen Überzeugungen durch öffentlich zugängliche Gründe nutzen können. Zusammengefasst verlangen politische Entscheidungen demnach eine öffentliche Rechtfertigung, um legitim zu sein; öffentliche Rechtfertigung hingegen kann sich nicht auf religiöse Annahmen stützen.7 Falls ein Teilnehmer des öffentlichen Diskurses keine öffentlichen Gründe für die von seinen religiösen Überzeugungen getragenen Politiken hat, sollte er diese Politiken nicht unterstützen, da religiöse Gründe im öffentlichen Diskurs nicht zählen. Das liberale Prinzip der Legitimität führt damit zur moralischen Forderung an religiöse Bürger, ihre religiösen Überzeugungen im öffentlichen Diskurs auszuklammern und lediglich öffentliche zugängliche und allgemein akzeptable Gründe zu nennen.
Die „Doctrine of Religious Restraint“ – Ein Einwand gegen das Legitimitätsprinzip Christopher Eberle plädiert in seinen Schriften für die Zulassung religiöser Überzeugungen und Argumente im öffentlichen Diskurs.8 Sein Hauptargument für diese Position ist ein Einwand gegen das Legitimitätsprinzip, aus dem nach Eberle ex negativo folge, dass religiöse Überzeugungen nicht privatisiert oder eingeschränkt werden müssen. Dazu unterscheidet er zunächst zwischen dem principle of pursuit und der doctrine of restraint.9 Das principle of pursuit besagt, dass es eine moralische Verpflichtung ist, aus Respekt vor seinen Mitbürgern eine rationale und nach Möglichkeit öffentliche Rechtfertigung der jeweils bevorzugten Normen zu suchen. Die doctrine of restraint hingegen beinhaltet die Verpflichtung, keine Norm zu unterstützen, für die keine öffentliche Rechtfertigung gefunden werden kann. Die moralische Verpflichtung des principle of pursuit, eine öffentliche Rechtfertigung für die jeweils zu verteidigenden Normen zu suchen, wird von 7 Vgl. ebd, S. 786: „Public reasoning aims for public justification. We appeal to political conceptions of justice, and to ascertainable evidence and facts open to public view, in order to reach conclusions about what we think are the most reasonable political institutions and policies. Public justification is not simply valid reasoning, but argument addressed to others: it proceeds correctly from premises we accept and think others could reasonably accept to conclu-sions we think they could also reasonably accept.“ 8 Vgl. zu diesem Abschnitt Eberle, Christopher : „What Respect Requires – And what it does not“, in: Wake Forest Law Review (36) 2001, S. 305 – 351; Eberle, Christopher : Religious Conviction in Liberal Politics. Cambridge 2002; Eberle, Christopher : „Basic Human Worth and Religious Restraint“, in: Philosophy and Social Criticism (35) 2009, S. 151 – 181. 9 Eberle, Christopher : Religious Conviction in Liberal Politics. Cambridge 2002, S. 68 f.
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Eberle zu einem ideal of conscientious engagement ausgearbeitet, welches tugendhafte und moralische Bürger in ihrer öffentlichen Rolle anleiten solle. Dieses Ideal beinhaltet, dass Bürger aus Respekt vor ihren Mitbürgern eine rationale Rechtfertigung für die von ihnen bevorzugten Normen suchen sollten. Weiterhin impliziert das Ideal, dass Bürger versuchen sollten, ihre rationale Rechtfertigung in der Öffentlichkeit zu kommunizieren, auf die Bewertung ihrer Mitbürger zu hören und keinerlei Norm zu unterstützen, die die Würde ihrer Mitmenschen verletzt. Ebenso enthält dieses Ideal die Verpflichtung, eine öffentliche Rechtfertigung zu verfolgen – diese ist nach Eberle jedoch von einer rationalen Rechtfertigung unterschieden. Jeder Bürger, der diesem Ideal nicht genügt, ist in jedem Fall vernünftigerweise moralischer Kritik zu unterziehen. Der Respekt vor seinen Mitbürgern verlange es von jedem moralischen Bürger, sich diesem Ideal zu unterwerfen. Was aber ist zu tun, wenn man dem ideal of conscientious engagement folgt, aber nicht in der Lage ist, eine öffentliche Rechtfertigung für die unterstützten Normen zu finden? Eberle behauptet, dass es liberalen Philosophen bisher nicht gelungen sei, die Lücke zwischen Rechtfertigung und Selbstbeschränkung mit triftigen Argumenten zu schließen – es gebe keinen guten Grund, sich einer Beschränkung bezüglich der jeweiligen religiösen Überzeugungen zu unterwerfen, wenn die angestrebte öffentliche Rechtfertigung scheitert. Eberles Angriff auf die liberale Standardauffassung besteht also in dem Nachweis, dass es kein gutes Argument gibt, welches die Lücke zwischen dem Suchen nach einer öffentlichen Rechtfertigung und der Selbstbeschränkung beim Scheitern dieser Suche schließt.10 10 Eberles Vorgehensweise lässt sich als ex negativo bezeichnen, da sein Hauptargument auf eine Erklärungslücke innerhalb des liberalen Ansatzes zielt und er aus dem Nachweis der fehlenden Einlösung der Beweislasten der Beschränkungsforderung seine alternative Position der nahezu kriterienlosen Inklusion religiöser Überzeugungen in öffentliche Diskurse ableitet. Neben diesem Hauptargument nennt Eberle allerdings zudem weitere, ,positive‘ Gründe für das Aufgeben der liberalen Beschränkungsforderung (vgl. Eberle, Christopher: Religious Conviction in Liberal Politics. Cambridge 2002, S. 143 ff.): Erstens betrachten es viele Theisten nicht als persönliche Präferenz, sondern als „overriding obligation“, Gott zu gehorchen – sie können gar nicht anders, als ihre religiösen Überzeugungen in den Diskurs einzubringen. Zweitens ist die Gehorsamspflicht auch eine „totalizing obligation“, d. h. religiöse Überzeugungen bilden einen essenziellen und unaufgebbaren Bestandteil der eigenen moralischen Identität – jede Forderung, die eine Aufgabe der eigenen Identität impliziert, ist aber eine zu große Bürde und abzulehnen. Es ist m. E. jedoch fragwürdig, ob Eberles Analyse religiöser Überzeugungen als „overriding and totalizing commitments“ ein Strukturmerkmal dieser Überzeugungen herausarbeitet oder doch nur als Beschreibung der Überzeugungssysteme fundamentalistischer Randgruppierungen dienen kann. Dennoch stellt sich ob dieser Argumente das Dilemma ein, einen auf reziproke und allgemein zugängliche Rechtfertigungen angewiesenen öffentlichen Diskurs mit den identitätskonstituierenden, umfassenden Überzeugungen der Bürger zu vereinen. Eine Lösung dieses Dilemmas kann in meinen Augen nicht innerhalb der Dichotomie zwischen liberaler Privatisierungsforderung
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In seinen Schriften nennt Eberle diverse Beispiele, die diese Position illustrieren, z. B. einen Pazifisten, der auf der Grundlage religiöser Erwägungen jegliche militärische Intervention seines Heimatlandes verhindern möchte11, einen homophoben Christen, der unter Berufung auf einschlägige Bibelpassagen die rechtliche Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften unterbinden möchte12 oder einen befreiungstheologisch inspirierten Menschen, der sich für eine radikale Umverteilung des Wohlstandes einsetzt13. All diesen Akteuren im öffentlichen Diskurs ist gemeinsam, dass sie nur religiöse Gründe für ihre bevorzugten politischen Aktionen haben, und alle vertreten ihre Meinung öffentlich. Zudem haben alle diese Personen ein „high degree of rational justification“ erreicht – sie genügen also dem ideal of conscientious engagement. Es ist Eberle zufolge für diese Personen moralisch einwandfrei, nur auf Grundlage ihrer religiös imprägnierten Auffassungen ihre Positionen uneingeschränkt im öffentlichen Diskurs zu äußern. Sie respektieren ihre Mitbürger schon dadurch ausreichend, dass sie in hohem Maße rational gerechtfertigt sind, an ihren Normen festzuhalten – die Tatsache, dass ihre Gründe nicht allgemein bzw. öffentlich zugänglich sind, stellt Eberle zufolge kein Argument dafür dar, ihre Auffassungen nicht weltbildübergreifend verbindlich machen zu wollen. Zusammengefasst wirft Eberle liberalen Philosophen also vor, das principle of pursuit und die doctrine of restraint als logisch äquivalent anzusehen. Sein auf diese Unterscheidung rekurrierender Einwand ist, dass es zwischen diesen zwei moralischen Verpflichtungen jedoch eine Lücke gibt: Die Suche nach einer öffentlichen Rechtfertigung impliziere nicht, dass bei einem Scheitern dieser Rechtfertigung eine Privatisierung bzw. Beschränkung der religiösen Überzeugungen folge.14 Seine zentrale These lautet demnach, „that a citizen has an obligation sincerely and conscientiously to pursue a nonreligious, widely convincing rationale for his favored coercive laws, but that he doesn’t have an obligation to withhold support from them if he cannot discern a widely convincing, nonreligious rationale for those policies.“15
Die Plausibilität des justifikatorischen Liberalismus hängt damit an der Verwischung der Grenze zwischen rationaler Rechtfertigung und Selbstbeschrän-
11 12 13 14 15
und radikalem Inklusivismus gefunden werden, sondern muss die Intuitionen beider Positionen vereinen. Vgl. für eine erste Idee einer solchen Lösung Abschnitt (3) des vorliegenden Textes. Vgl. Eberle, Christopher: „Basic Human Worth and Religious Restraint“, in: Philosophy and Social Criticism (35) 2009, S. 152 f. Vgl. Eberle, Christopher : Religious Conviction in Liberal Politics. Cambridge 2002, S. 4 f. Vgl. Ebd., S. 112. Vgl. Eberle, Christopher: „Basic Human Worth and Religious Restraint“, in: Philosophy and Social Criticism (35) 2009, S. 168. Vgl. Eberle, Christopher : Religious Conviction in Liberal Politics. Cambridge 2002, S. 192.
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kung; oder, in positiver Formulierung: Respekt vor seinen Mitbürgern inkludiert zwar das ideal of conscientious engagement, nicht aber die Einhaltung einer liberalen Beschränkungsforderung.
Deliberative Demokratie und die Privatisierungsforderung Der ausgeklügelte und zugleich scharfe Angriff Eberles auf die liberale Standardauffassung stellt eine Herausforderung für jede liberale Theorie dar : Wenn es nicht gelingt, den Einwänden zu begegnen, brächen zentrale Bestandteile des Politischen Liberalismus zusammen, da die Konstruktion einer freistehenden Lehre von einer gerechten Gesellschaft, die im fiktiven Urzustand gewonnen wird und dort grundlegende, allgemein gültige Gerechtigkeitsprinzipien formuliert, an der Plausibilität der Idee der öffentlichen Vernunft und des Legitimitätsprinzips hängt. Eberles Kritik an diesem Prinzip kann m. E. jedoch als unplausibel zurückgewiesen werden, wenn man sich die seiner Position impliziten, rationalitätstheoretischen Voraussetzungen verdeutlicht. Auch wenn er häufig von einem „high degree of rational justification“ spricht und sich beeilt, den Status des rational Gerechtfertigten vielen Positionen zuzuschreiben, ist dennoch nicht klar, was eine rationale Rechtfertigung eigentlich ausmacht und inwiefern diese von öffentlicher Rechtfertigung unterschieden wäre. Eberle trennt rationale und öffentliche Rechtfertigung, da Rationalität für ihn ein radikal perspektivisches Phänomen ist: Die Rationalität einer Rechtfertigung hängt von der Sozialisationsgeschichte des Argumentierenden und des gesellschaftlichen Kontextes ab und kann so niemals allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Das jeweils individuelle evidential set, d. h. die je individuellen Erfahrungen und Glaubenssätze einer Person machen Rationalität zu einem standpunktrelativen Phänomen, so dass man einer anderen Person niemals absprechen sollte, rational an einer Proposition P festzuhalten, selbst wenn ihre Position auf Grundlage von offensichtlich nicht schlüssigen Argumenten formuliert wurde. Mit einem derart de-universalisiertem Konzept von Rationalität ist es m. E. schwierig, den Vorwürfen der Immunisierung und Willkür zu entgehen. Es wird in diesem starken Kontextualismus unmöglich, vernunftgemäße Glaubensüberzeugungen von irrationalen Fundamentalismen abzugrenzen. Zudem scheint dieses Rationalitätskonzept intern inkonsistent: Eberle behauptet ja, dass die Unterstützung moralischer Normen, für die keine rationale Rechtfertigung vorliegt, unmoralisch ist. Die Zuschreibung von Rationalität kann aber immer nur auf der Basis der evidential sets des jeweils Betroffenen erfolgen, so dass es aus intersubjektiver Perspektive unmöglich wird, die Rationalität bestimmter Überzeugungen zu überprüfen. Damit wird jedoch der Rationali-
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tätsbegriff ausgehöhlt: Eine derart „kontextversessene“16 Vernunft kann keinerlei Kriterien mehr formulieren, mit denen die Rationalität einer Äußerung bewertet werden kann. Eberle appelliert zwar in aussichtslos irrationalen Fällen wie z. B. der Forderung nach einem kategorischen Schutzrecht für Gänseblümchen dafür, „that it is hard to imagine that a rational citizen could, in good conscience, support a coercive law on its basis“.17 Es bleibt jedoch fraglich, inwiefern bzw. auf Basis welcher Kriterien er diesen Geltungsanspruch überhaupt kritisieren kann – vielmehr scheint es letztlich doch notwendig, auf die Intuitionen einer universalistisch ausgelegten Theorie der Rationalität zu rekurrieren. Ein Beispiel aus Eberles Schriften kann die Unmöglichkeit einer rationalen Kritik moralischer oder politischer Normen innerhalb seines Konzeptes verdeutlichen: Eberle rekurriert nicht nur auf Pazifisten, Homophobe oder Befreiungstheologen, sondern bemüht auch das Beispiel eines Nazis, der der Auffassung ist, dass Juden nur Bazillen sind, die lediglich in Ghettos leben dürften. Es ist für diesen Nazi möglich, alle constraints, die Eberle ihm auferlegen möchte, zu erfüllen, so auch dass „he pursues and achieves rational justification for the claim that Jewish people are bacilli.“18 Lediglich die Tatsache, dass zum ideal of conscientious engagement auch die Bestimmung gehört, keine Normen zu vertreten, die die Menschenwürde verletzen, macht jenen Nazi zu einem unmoralischen Menschen. Es scheint in Eberles Augen also lediglich möglich, diesem Menschen einen auf der ad hoc Annahme der Menschenwürde basierenden moralischen Vorwurf zu machen, nicht aber zu zeigen, dass seine normativen Äußerungen einer tiefergehenden rationalen Kritik unterzogen werden können. Die anti-diskursiven Konsequenzen eines solchen Rationalitätsverständnisses sind offensichtlich. Es bietet sich daher an, mit einer alternativen Theorie der intersubjektiven Rechtfertigung religiöser Überzeugungen für Kontexte des Politischen zu operieren.19 Diese diskurstheoretisch angelegte Theorie besagt, dass religiöse Überzeugungen dann überzeugend sein können, wenn sie innerhalb eines offenen, verständigungsorientierten und von strategischen Erwägungen befreiten Diskurses rational ausgewiesen werden können. Auch religiöse Überzeugungen 16 17 18 19
Forst, Rainer : Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1996, S. 15. Eberle, Christopher : Religious Conviction in Liberal Politics. Cambridge 2002, S. 137. Ebd., S. 104. Vgl. zum Folgenden: Schmidt, Thomas M., „Objektivität und Gewissheit. Vernunftmodelle und Rationalitätstypen in der Religionsphilosophie der Gegenwart“, in: Bormann, FranzJosef / Irlenborn, Bernd (Hg.). Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft. Zur Rolle des Christentums in pluralistischen Gesellschaften. Freiburg 2008, S. 199 – 217; sowie Schmidt, Thomas M., „Glaubensüberzeugungen und säkulare Gründe. Zur Legitimität religiöser Argumente in einer pluralistischen Gesellschaft“, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 45/4 (2001), S. 248 – 261.
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sind mindestens dann, wenn mit ihrer Hilfe Geltungsansprüche erhoben bzw. staatliche Zwangshandlungen legitimiert werden sollen, der diskursiven Einlösung dieser Geltungsansprüche unterworfen. Wenn diese Einlösung nicht erfolgreich ist, sollte man sich dem so häufig zitierten ,zwanglosen Zwang des besseren Arguments‘ beugen und auf die Durchsetzung der im diskursiven Sinne nicht rechtfertigbaren Norm verzichten. Legt man also einen weniger kontextualistischen, sondern vielmehr einen zumindest im schwachen Sinne universalistischen Vernunftbegriff zu Grunde, ist Eberles Einwand gegen das liberale Legitimitätsargument nicht stichhaltig – seine strikte Separierung von rationaler und öffentlicher Rechtfertigung wäre dann problematisch.20 Damit ist im Übrigen nicht gesagt, dass es nicht persönliche Rechtfertigungen auf einer epistemisch schwächeren Basis geben kann, da unterschiedlich hohe Hürden der Rechfertigung für persönliche und öffentliche Kontexte angelegt werden sollten. Immer dann jedoch, wenn religiöse Überzeugungen nicht nur im persönlich-existenziellen Vollzug als gültig anerkannt, sondern auf ihrer Basis Geltungsansprüche im öffentlichen Raum erhoben werden, sind diese Hürden der Rechtfertigung höher anzusetzen als nur auf persönlicher Ebene. Die hier vorgelegte Alternative beinhaltet also ein auf plurale Kontexte eingehendes, mehrstufiges Modell der Rechtfertigung religiöser Überzeugungen.21 Es lässt sich also zusammenfassend festhalten, dass Eberle das liberale Prinzip der Legitimität nicht stichhaltig widerlegt hat, da er auf der Basis eines sehr fragwürdigen Konzepts der rationalen Rechtfertigung operiert. Zugleich hat er jedoch einen wichtigen Hinweis für eine notwendige Modifikation des politischen Liberalismus gegeben: Erst bei einer diskurstheoretischen Ausweitung der liberalen Theorie lässt sich das Legitimitätsprinzip konsistent und 20 Die rationalitätstheoretischen Alternativen lassen sich an einem weiteren Beispiel verdeutlichen, welches Eberle ausführlich diskutiert: die Zulässigkeit von Argumenten im öffentlichen Diskurs, die auf „mystischer Erfahrung“ beruhen. Für Eberle ist mystische Erfahrung, verstanden als Privatoffenbarung moralischer Normen in einer Art Erweckungserlebnis, entsprechend seiner Rationalitätstheorie ein möglicher Kandidat für die Rechtfertigung einer politischen Norm (vgl. Eberle, Christopher: Religious Conviction in Liberal Politics. Cambridge 2002, S. 234 – 293). Wenn man jedoch eine alternative rationalitätstheoretische Kriteriologie zu Grunde legt, kann eine so verstandene mystische Erfahrung genau dies aber nicht mehr sein, da sie aufgrund ihrer erstpersönlichen, erfahrungsgestützen und nichtpropositionalen Komponenten rationalen Einwänden nicht zugänglich und damit nicht diskursfähig ist. Eberles Gegenvorschlag, dass bei einer Privatisierung von mystisch erworbenen Überzeugungen auch säkulare Überzeugungen privatisiert werden müssten, ist also eine dystopische Sichtweise hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des rationalen und öffentlichen Diskurses – es gibt begründete und begründbare epistemologische Unterschiede zwischen reziprok rechtfertigbaren sowie allgemein zugänglichen Gründen und solchen Gründen, die diese hohen Standards der Rechtfertigung nicht erfüllen. 21 Vgl. den elaborierten Vorschlag eines solchen mehrstufigen Modells der Rechtfertigung in Gaus, Gerald: Justificatory Liberalism. New York 1996.
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normativ sinnvoll gestalten. Dabei soll jegliche pauschale Diskriminierung religiöser Überzeugungen, wie sie Rawls ja teilweise zu recht vorgeworfen wurde, ausgeschlossen werden: Es ist möglich, dass auch religiöse Überzeugungen den hohen Standards der intersubjektiven Rechtfertigung gerecht werden können und damit legitime Argumente im öffentlichen Diskurs fundieren können. M.E. ist eine prädiskursiver Ausschluss religiöser Argumente in diesem Konzept jedoch nicht mehr stichhaltig. Oder, nach einer Formulierung von Rainer Forst: „Nicht vor, sondern in Diskursen ist öffentliche Rechtfertigung zu leisten“22 – dann jedoch nach den hohen Standards intersubjektiver Rechtfertigung
Fazit Wenn Religion als mögliche Ressource der (europäischen) Integration und als Quelle eines zivilen Bürgertums dienen soll, kommt es aus religionsphilosophischer Perspektive auch darauf an, eine vernunftgemäße Ortsbestimmung religiöser Überzeugungen in öffentlichen Diskursen vorzunehmen bzw. die Legitimität religiöser Gründe in öffentlichen Debatten zu untersuchen. Die liberale standard approach, d. h. die Forderung einer Beschränkung religiöser Gründe in öffentlichen Diskursen, sieht sich einer Vielzahl von Einwänden und Anfragen ausgesetzt, die eine pauschale Auszeichnung religiöser Überzeugungen als nicht diskursfähig kritisieren. Ich habe in diesem Aufsatz dem Rawls’schen Prinzip der Legitimität, welches für eine (partielle) Exklusion religiöser Überzeugungen in öffentlichen Diskursen plädiert, Eberles Alternative der nahezu kriterienlosen Inklusion religiöser Überzeugungen entgegengestellt. Eberles Modell scheitert zwar aufgrund seiner prekären rationalitätstheoretischen Voraussetzungen, zeigt dabei aber zugleich den Weg zu einer modifizierten Form der deliberativen Demokratie auf, welche Rawls’ grundlegenden Intuitionen zur Notwendigkeit der reziproken und allgemeinen Rechtfertigung würdigt, aber zugleich ein affirmativeres Verhältnis zu religiösen Überzeugungen innerhalb des öffentlichen Diskurses einnimmt. Die Dichotomie zwischen einem liberalen Exklusivismus und einem radikalen Inklusivismus erweist sich als fragwürdig, vielmehr bedarf es eines deliberativen Neuansatzes, der auf der Basis einer epistemologischen Analyse der Struktur religiöser Überzeugungen eine differenziertere Betrachtung zulässt und zwischen allgemein zugänglichen und nur persönlich einsehbaren Überzeugungen unterscheidet. So kann die Rawls’sche Intuition der Notwendigkeit der Reziprozität einer öffentlichen Rechtfertigung für politische Normen mit 22 Forst, Rainer : Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1996, S. 159.
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ethischen Einwänden versöhnt werden, ohne entweder in einen liberalen Paternalismus oder in eine relativistische Kriterienlosigkeit zu verfallen. Abschließend lässt sich demnach festhalten, dass Religion eine wertvolle Ressource für Europa sein kann, da ihre Motivationskraft zu moralischem Handeln und ihr Anhalten zur Mitmenschlichkeit und Solidarität bedeutsam für eine gelingende Zukunft eines geeinten Europas sein können. Zugleich gilt es, diese Ressource vorsichtig zu behandeln, weil sie mindestens dann der Prüfung auf ihre Vernunftgemäßheit durch externe Kriterien bedarf, wenn unter Rückgriff auf religiöse Sätze Geltungsansprüche erhoben werden, die autoritäre staatliche Handlungen legitimieren sollen.
Literaturverzeichnis Eberle, Christopher : „Basic Human Worth and Religious Restraint“, in: Philosophy and Social Criticism (35) 2009, S. 151 – 181. Eberle, Christopher : Religious Conviction in Liberal Politics. Cambridge 2002. Eberle, Christopher : „What Respect Requires – And what it does not“, in: Wake Forest Law Review (36) 2001, S. 305 – 351. Forst, Rainer : Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1996. Gaus, Gerald: Justificatory Liberalism. New York 1996. Rawls, John: Political Liberalism. New York 1993. Rawls, John: „The Idea of Public Reason, Revisited“, in: The University of Chicago Law Review (64) 1997, S. 765 – 807. Schmidt, Thomas M.: „Glaubensüberzeugungen und säkulare Gründe. Zur Legitimität religiöser Argumente in einer pluralistischen Gesellschaft“, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik Heft 45/4 (2001), S. 248 – 261. Schmidt, Thomas M.: „Objektivität und Gewissheit. Vernunftmodelle und Rationalitätstypen in der Religionsphilosophie der Gegenwart“, in: Bormann, Franz-Josef / Irlenborn, Bernd (Hg.). Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft. Zur Rolle des Christentums in pluralistischen Gesellschaften. Freiburg 2008, S. 199 – 217. Talisse, Robert B.: „Religion in Politics: What’s the problem?“, in: Think (12) 2013, S. 65 – 73. Weithman, Paul: Religion and the Obligations of Citizenship. Cambridge 2002.
Säkulares und postsäkulares Europa: Soziologische Perspektiven
Martin Riesebrodt
Die Rolle der Religion im pluralistischen Europa
Einleitung Europa mit oder ohne Religion heißt die provokante Frage dieses Bandes, bei der man sich vorstellen kann, dass vorschnelle Antworten parat liegen. Die einen mögen argumentieren, dass allein schon die Idee eines vereinten Europas religiöse Ursprünge habe, dass das moderne Europa ohne seine Wurzeln im christlichen Abendland gar nicht denkbar sei und dass Europa einer Identität bedürfe, die nur auf einer transzendenten Verankerung beruhen könne. Die anderen mögen dem entgegenhalten, dass die Religionen Europa nicht geeint, sondern gespalten haben, dass sie zu Kriegen und Konflikten geführt hätten und dass ja gerade aufgrund dieser Erfahrung ein säkular verfasstes Europa entstanden sei. Deshalb könne auch nur ein säkular verfasstes Europa religiöse Vielfalt friedlich organisieren und selbst ein post-säkulares Europa müsse selbstverständlich an der strikten Trennung von Staat und Kirchen allein schon aus verfassungsrechtlichen Gründen festhalten. Beide Positionen enthalten Argumente, die nicht notwendig falsch sind, die sich aber als zu einfach erweisen, um als Orientierungsgrundlage zu dienen. Beim Thema Europa mit oder ohne Religion geht es ja weder um eine Frage der individuellen Präferenz, noch kann man die Antwort einfach aus der Geschichte deduzieren, so als folge Geschichte einer geheimen Logik, nach der die Zukunft Europas in der Vergangenheit schon gleichsam embryonal angelegt sei. Es geht auch nicht um Wunschvorstellungen, was „die Religion“ für Europa leisten soll, sondern um das sachliche Problem, was sie überhaupt leisten kann. Der mögliche Beitrag der Religion für Europa wird häufig in Identitäts- und Legitimationsfunktionen gesehen. Dies stellt aus meiner Sicht eine unglückliche Einengung dar, die einer eher etatistischen Perspektive entstammt, wie sie im Nationalstaat und in kirchlichen Organisationsformen zu Hause ist. Wer in der Religion eine mögliche identitätsstiftende Grundlage für Europa sieht, verkennt aus meiner Sicht das Ausmaß der weltanschaulich pluralistischen Verfasstheit Europas. Europa wird nicht durch die Religion definiert; jedoch ermöglichen die
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in Europa garantierten Freiheitsrechte den Religionen, an der Gestaltung Europas mitzuwirken. Als staatstragende Kraft hat die Religion ausgedient, aber als gesellschaftliche Kraft kommt den Religionen eine durchaus andauernde Bedeutung für Europa zu. So tragen Religionen zu öffentlichen sozialmoralischen Debatten und zur politischen Willensbildung bei. Und, sofern sie sich selbst ernst nehmen, halten sie der Öffentlichkeit Menschenbilder, Werte und Lebensentwürfe entgegen, die nicht in einem banalen ökonomistischen Nützlichkeitsstreben aufgehen. Gelegentlich engagieren sie sich für Unterprivilegierte und Verfolgte und sind darüber hinaus auch als Träger von Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und anderen Sozialeinrichtungen unverzichtbar.1 Als Institutionen, in denen Einwanderer Halt in einer fremden Welt finden, sind sie ebenfalls von großer Bedeutung.2 Aber in diesen gesellschaftlichen Leistungen erschöpft sich die Beziehung zwischen Religion und Europa nicht. Vielmehr handelt es sich um eine wechselseitige Beziehung. Denn Europa ist ja aufgrund seiner Verfassung dazu verpflichtet, etwas für die Religion zu leisten. Als ein säkulares, rechtsstaatlich, freiheitlich und demokratisch verfasstes politisches Gebilde, nimmt Europa einerseits eine neutrale Haltung gegenüber allen religiösen Wahrheitsansprüchen ein; andererseits garantiert Europa aber die freie Religionsausübung. Das impliziert nicht nur eine passive Duldung der Religion, sondern eine klar umgrenzte Förderung und vor allem eine aktive Verteidigung religiöser Institutionen gegen Verfolgung und Intoleranz. Dabei impliziert die religiöse Abstinenz der europäischen Institutionen zugleich eine rechtliche Gleichstellung und faktische Gleichbehandlung aller Religionen. Auf die Frage „Europa mit oder ohne Religion?“ kann man deshalb die vorläufige und zugegebenermaßen etwas plakative Antwort geben: Europa gehört nicht der Religion, weder einer bestimmten Religion noch den Religionen insgesamt. Aber, die Religion, d. h. alle in Europa vertretenen Religionen, gehören zu Europa. Ich will dies im Folgenden weiter erläutern und begründen, indem ich drei zugespitzte Fragen ins Zentrum meiner Betrachtung stelle: 1. Wie konstitutiv kann Religion für die europäische Identität und Integration sein? Oder, anders und direkter gefragt: Gehört ein Religions- oder gar ein Gottesbezug in die EU-Verfassung? 2. Was kann die Religion zu öffentlichen Diskursen in Europa und zu Europas
1 Dazu auch kritisch Graf, Friedrich Wilhelm: Kirchendämmerung. München 2011, S. 155 – 170. 2 Siehe Schiffauer, Werner : Parallelgesellschaften. Bielefeld 2008; und ders.: Nach dem Islamismus. Berlin 2010.
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gelebter Vielfalt beitragen? Dies berührt die Frage der post-säkularen Gesellschaft. 3. Was schuldet Europa der Religion? Wie hält es Europa mit der Verteidigung der Religionsfreiheit und der Gleichbehandlung aller Religionen?
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Religion und europäische Identität
Jacques Delors hat Europa einmal als einen „nicht identifizierten politischen Gegenstand“ bezeichnet, also eine Art politisches UFO.3 Dieser Einschätzung kann man sich nur anschließen; denn der Begriff Europa ist vieldeutig. Meint man mit Europa die Europäische Union und ihre zentralen Institutionen in Brüssel? Meint man mit Europa eine pluralistische Assoziation von EU-Mitgliedsgesellschaften? Oder geht es um einen idealen Begriff von Europa als einer Zivilisation? Jede dieser Sichtweisen stellt uns vor unterschiedliche Probleme und Grenzziehungen. Selbst wenn man die scheinbar einfachste Lösung wählt und Europa zunächst einmal mit der Europäischen Union gleichsetzt, so ist ja auch diese durch permanente Veränderungen gekennzeichnet. Die 1951 gegründete Montanunion bestand aus sechs Staaten, den drei Benelux-Ländern, Deutschland, Frankreich und Italien, die sich in den Römischen Verträgen von 1957 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft neu konstituierten. 1973 stießen Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich dazu, 1981 Griechenland, 1986 Portugal und Spanien. 1993 wurde aus der EWG die Europäische Union und ihre Funktionen wurden erweitert. Neue Mitglieder wurden aufgenommen: 1995 Finnland, Österreich und Schweden, 2004 Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern, 2007 Bulgarien und Rumänien. Kroatien vollzieht gegenwärtig den Beitritt. Weitere Kandidaten für den Beitritt sind Mazedonien, Island, Montenegro, Serbien und die Türkei; mögliche zukünftige Kandidaten sind Albanien, Bosnien/Herzegowina sowie der Kosovo. Falls alle aufgenommen würden, bestünde die EU aus 36 Staaten, wobei immer noch eindeutig zu Europa als Zivilisation gehörige Länder, wie etwa Norwegen und die Schweiz fehlten. Ein Kontinent, der durch lange bittere Feindschaften und Kriege gekennzeichnet war, hat sich zu einer weitgehend friedlichen Wirtschaftszone entwickelt, in der die Bürger von über 30 Staaten Freizügigkeit genießen. Das ist wahrlich keine gering zu achtende Errungenschaft. Stellt diese Ausweitung der 3 Zitiert als Motto des Aufsatzes von Müller, Hans-Peter : Auf dem Weg in eine europäische Gesellschaft? In: Berliner Journal für Soziologie, 17/1 (2007), S. 7 – 31.
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EU nun eine Verwirklichung einer bestimmbaren europäischen Idee dar, oder ist sie das Ergebnis eines bürokratischen Kontrollwahns?4 Die korrekte Antwort lautet wohl: weder/noch. Die West- und Süderweiterung war wohl primär von wirtschaftlichen Erwägungen geprägt, während die Osterweiterung von der politischen Chance motiviert war, die ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR vor russischer Dominanz zu schützen. Man kann aus der Ausweitungsstrategie kaum prinzipielle Kriterien ablesen, was Europa ist oder wo seine kulturellen und geographischen Grenzen liegen. Stattdessen ist die EU wohl primär auf der Grundlage pragmatischer politischer und ökonomischer Gründe gewachsen. Diese sollte man freilich keineswegs geringschätzen. Samuel Huntington hat in seinem berühmt-berüchtigten Buch Kampf der Kulturen dafür plädiert, Europa anhand religiöser Kriterien zu bestimmen.5 Demnach gehören zu Europa allein die Länder, die historisch vom westlichen Christentum geprägt wurden, weil sie angeblich eine Wertegemeinschaft darstellten. Ich halte das zwar für eine Behauptung von zweifelhaftem Wert6, aber selbst wenn dem so wäre, müsste die EU schrumpfen, anstatt zu expandieren. Denn historisch stark christlich-orthodox geprägte Länder wie Bulgarien, Griechenland, Zypern und Rumänien, gehören ja schon zur EU. Huntingtons Vision von einem westlich-christlichen Europa hat die EU offenbar nicht geteilt und als Konsequenz davon Fakten geschaffen, die einer Verwirklichung einer solchen Vision im Wege stehen. Diese Option existiert nicht mehr. Es spricht aber auch sonst wenig dafür, dass bei der Erweiterung der EU jemals religiöse Kriterien eine Rolle gespielt hätten. Religion kommt allein bei der Aufnahme von Gesellschaften ins Spiel, die stark islamisch geprägt sind, speziell bei der Türkei.7 Denn dies stößt in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung auf wenig Akzeptanz und beeinträchtigt somit die Wahlchancen etablierter Parteien. Mit Ausnahme des Islam hat Religion als Beitrittskriterium jedoch kaum interessiert. Das gilt auch für die Aufnahme christlich-orthodoxer Länder. Denn den meisten Menschen in Europa ist es ziemlich egal oder gar nicht bewusst, dass etwa Griechenland, Rumänien und Bulgarien vom östlichen Christentum geprägt sein sollen. Beim Baden im Schwarzen Meer oder in der Ägäis ist dies den Touristen vermutlich nicht aufgefallen. Der etwas nonchalante 4 Siehe dazu Enzensberger, Hans Magnus: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas. Berlin 2011. 5 Huntington, Samuel Phillips: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München / Wien 1996. 6 Riesebrodt, Martin: Die Rückkehr der Religionen. München 2001, S. 15 – 32. 7 Siehe Casanova, Jos¦: „Der Ort der Religion im säkularen Europa“, in: Transit. Europäische Revue (27) 2004. Verfügbar unter http://www.iwm.at/read-listen-watch/transit-online/derort-der-religion-im-sakularen-europa/ [09. 10. 2013].
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Umgang der EU-Bürokratie mit religiösen und kulturellen Traditionen wird vermutlich von der Bevölkerung weitgehend geteilt und kann wohl kaum als „Angst Europas vor der Religion“ gedeutet werden.8 Dieser Verdacht bestätigt sich, wenn man sich die Beschreibungen der Mitgliedsländer auf der Website der EU anschaut. Man findet dort in jeweils wenigen Zeilen und dürren Worten Informationen zu Geographie und Tourismus, Geschichte, Wirtschaft und Politik. Daneben werden noch berühmte Töchter und Söhne und gastronomische Spezialitäten des jeweiligen Landes erwähnt: Österreich ist Mozart und Wiener Schnitzel, Italien Fellini und Risotto, Schweden Ingrid Bergmann und Hering. Den Stil der Darstellung illustriert das folgende Zitat: „Österreich besitzt ein reiches kulturelles Erbe. Wolfgang Amadeus Mozart sucht als Komponist seinesgleichen, aber auch die Musik Franz Schuberts erfreut sich großer Beliebtheit. […] Österreichs Küche bietet Spezialitäten wie Wiener Schnitzel und Apfelstrudel, die inzwischen in der ganzen Welt zubereitet werden und keiner Übersetzung in andere Sprachen mehr bedürfen.“9
Von religiösen Traditionen ist hier jedenfalls keine Rede, nicht einmal im bevorzugten Duktus belangloser Werbebroschüren. So hätte man ja berichten können, dass sich die katholische Kirche in Österreich, Polen oder Irland besonderer Beliebtheit erfreue. Natürlich kann man diesen fehlenden Bezug auf Religion je nach Temperament als belustigend oder empörend empfinden. Aber es mag interessanter sein zu fragen, wie wichtig Religion für die Legitimation und Identitätsfindung Europas bzw. der EU eigentlich sein kann. Vielleicht wurde die Religion ja nicht einfach übersehen, sondern bewusst ignoriert, weil man sie als der Integration nicht dienlich betrachtet? Dies lenkt den Blick auf die politische Verfasstheit der EU. Der Berliner Soziologe Hans-Peter Müller hat die Frage thematisiert, wie man eigentlich Europa unter der Perspektive der Einheit als eine europäische Gesellschaft analytisch fassen kann.10 Dabei erwägt er mehrere Optionen: das nationalstaatliche Modell, das amerikanische Modell der Vereinigten Staaten oder eine noch näher zu bestimmende Realität sui generis. Müller verwirft das Modell des Nationalstaats, weil die EU ein Ensemble konkurrierender Nationalstaaten darstellt. Sie will die nationale Vielfalt administrativ koordinieren, aber nicht überwinden. Dazu fehlten Europa auch eine gemeinsame Sprache, Öffentlichkeit und Identität. Auch das Modell der USA 8 Casanova, Jos¦: Europas Angst vor der Religion. Berlin 2009. 9 Verfügbar unter : http://europa.eu/about-eu/countries/member-countries/austria/index_ de.htm [13. März 2013]. 10 Siehe Graf, Friedrich Wilhelm: Kirchendämmerung. München 2011, S. 155 – 170.
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hilft uns nicht, Europa adäquat zu beschreiben. Die amerikanischen Bundesstaaten stellen qualitativ etwas anderes dar als verbündete Nationalstaaten mit einer langen kulturellen und politischen Geschichte und einem nach wie vor ausgeprägten Nationalbewusstsein. Die Pluralität ethnischer Identitäten in den USA unterscheidet sich strukturell von einem Pluralismus der Nationen, die über eigene politische Institutionen verfügen. Europa stellt offenbar eine politische Einheit eigener Art dar. Aber wie beschreiben wir sie und was zeichnet sie aus? Wenn es um die Einzigartigkeit Europas geht, begegnen einem viele Erzählungen, welche die Wurzeln Europas gerne in graue Vorzeit verlegen. So ließe sich etwa an Max Webers Identifizierung eines spezifisch okzidentalen Rationalismus der Weltbeherrschung anknüpfen. Dieser leite sich von den jüdischen Propheten, der klassischen griechischen Kultur und dem Römischen Recht her und führt über die Herausbildung der Gewaltenteilung und eines städtischen Bürgertums im Mittelalter zur Reformation. Unter dem Einfluss des asketischen Protestantismus und religiöser Rationalisierungsprozesse sei daraus dann nicht nur die Arbeitskultur des modernen Betriebskapitalismus hervorgegangen, sondern auch ein christlich-europäisches Menschenbild. Andere machen es sich einfacher und beschwören mehr allgemein das christliche Abendland Karls des Großen oder das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Solcherlei Herleitungen Europas erscheinen mir als höchst problematisch. Denn zum einen beruhen sie auf einer recht selektiven Auswahl möglicher geschichtlicher Bezüge, sind empirisch nur schwer zu verifizieren und öffnen allen möglichen teleologischen und theologischen Geschichtsdeutungen Tür und Tor, so als sei das moderne Europa nur die geschichtslogische Konsequenz antiker, mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Voraussetzungen. Üblicherweise bezeichnet man solche Konstruktionen als „erfundene Traditionen“.11 Zum zweiten schafft eine rückwärtsgewandte Perspektive unvermeidlich einen neuen Mythos, der stets auch ausgrenzend ist, weil er definiert, wer „eigentlich“ zu Europa gehört und wer nicht. Was Europa aber benötigt ist eine Identität, die sich nicht länger, wie noch der Nationalstaat, an Ursprungsmythen orientiert, sondern eher an utopischen kosmopolitischen Entwürfen, die prinzipiell niemanden ausschließen.12 Sucht man einen Ursprung für eine solche Idee Europas, so findet man ihn vermutlich eher in der jüngeren Vergangenheit. Zum einen hat die Aufklärung und die Idee der universalen Menschenrechte ein europäisches Selbstbewusstsein geschaffen, das Europa als Projekt der Verwirklichung dieser universalen Rechte verstand. Die Französische Revolution wie auch die Revolutionen von 11 Hobsbawm, Eric / Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge 1983. 12 Vgl. Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas. Frankfurt am Main 2011.
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1848 haben eine europaweite Ausstrahlung gehabt. Hier wurden Ideale der Menschenrechte, der Demokratie und bürgerlicher Freiheiten proklamiert und partiell auch politisch erprobt, freilich häufig noch in nationalstaatlich verkürzter Form. Vielleicht ist es deshalb angemessener, historisch später anzusetzen und nicht nach einer vagen Idee von Europa zu suchen, sondern nach Europa als einem Projekt. Aus dieser Perspektive wurde Europa nicht wiedergeboren, sondern im 20. Jahrhundert neu geschaffen. Es entwickelte sich aus dem Leidensdruck zweier Weltkriege sowie aus den Erfahrungen des Holocaust und des Gulag. Es entwickelte sich aus der Dissonanz zwischen unserem Selbstbildnis als Träger der westlichen Zivilisation und der Realität der von uns hervorgebrachten Barbarei. Europa als Projekt verdankt sich auch der Einsicht in die Notwendigkeit der Überwindung sogenannter „Erbfeindschaften“. Dies geschah exemplarisch in der deutsch-französischen Versöhnung, die ohne die Großzügigkeit und Weitsicht so unterschiedlicher Persönlichkeiten, wie Robert Schuman, Jean Monnet, Charles de Gaulle oder Albert Camus, um nur einige zu nennen, nicht möglich gewesen wäre. Man denke nur stellvertretend für alle an die Rede de Gaulles „An die deutsche Jugend“ vom 9. September 1962, in der es siebzehn Jahre nach Kriegsende heißt: „Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt […], Kinder eines großen Volkes. Jawohl, eines großen Volkes, das manchmal, im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat. Ein Volk, das aber auch der Welt geistige, wissenschaftliche, künstlerische, philosophische Wellen gespendet hat, […] ein Volk, das im friedlichen Werk wie auch in den Leiden des Krieges wahre Schätze an Mut, Disziplin und Organisation entfaltet hat.“13
In dieser Rede kommt das tragische Scheitern subtil zum Ausdruck, das als Anlass der europäischen Einigung und der Besinnung auf europäische Werte gedient hat. Die Werte sollten nicht gelten, weil sie schon seit alters her gegolten hätten oder weil man sie in den Lehren der katholischen Kirche oder der protestantischen Reformation finden kann, sondern weil man auf ihrer Grundlage ein neues Europa ohne Kriege zwischen den Nationalstaaten, ohne gewalttätige Klassenkämpfe und ohne Genozide zu schaffen hoffte. Der Text des Entwurfs einer EU-Verfassung mit den Modifizierungen, wie sie sich aus dem Vertrag von Lissabon ergeben haben, scheint diese Einschätzung zu bestätigen. Denn sein Bezug auf die Geschichte bleibt bewusst offen. Die Präambel beginnt mit den doch recht generellen Andeutungen: 13 Verfügbar unter : http://www.mediacultureonline.de/fileadmin/bibliothek/degaulle_jugend/ de_gaulle_jugend.pdf [15.03.13], S. 1.
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„Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.“14
Bezieht man den Tenor des gesamten Textes mit ein, wird klar, dass diese vage Referenz auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe hier keinen Zufall darstellt. Es geht nicht um die Wiederbelebung des christlichen Abendlandes, es geht nicht um die Privilegierung bestimmter Traditionen über andere, sondern um eine prinzipiell neue und inklusive Synthese, mit der sich auf die eine oder andere Weise alle Europäer identifizieren können. Oder anders formuliert: Europa basiert nicht so sehr auf einem Herkunftsmythos als auf einer zukunftsorientierten Utopie, auch wenn die utopische Dimension leider allzu oft recht verhalten und bürokratisch formuliert daherkommt. Sicherlich zweifeln viele daran, dass solch ein eher utopischer Ansatz wirklich funktionieren kann. Fehlt hier nicht zumindest ein Religionsbezug, wenn nicht gar ein Gottesbezug, um eine europäische Identität zu stiften und die Legitimation Europas zu erhöhen?
2.
Was ist „Religion“ und was leistet sie?
Um diese Frage zu beantworten, muss man etwas weiter ausholen und klären, was unter „Religion“ hier eigentlich verstanden wird und was sie für die Legitimität und Identität politischer Gebilde leisten kann. „Religion“ ist zunächst einmal ein analytischer Begriff, der in den verschiedenen Wissenschaften recht unterschiedlich verstanden wird. Es gibt soziologische, psychologische und rechtliche Religionsbegriffe. Und es gibt eine vage alltagssprachliche Verwendung des Religionsbegriffs. Sie alle haben eines gemeinsam: sie sind abstrakter Natur. Religion ist ein abstrakter Oberbegriff für die Religionen in ihrer konkreten Vielfalt. Niemand kann diese abstrakte „Religion an sich“ praktizieren und sie stellt auch keine Grundlage der Identitäts- oder Gemeinschaftsbildung dar.15 Religionen mögen sich miteinander verbünden, etwa wenn die allgemeine Religionsfreiheit bedroht ist. Aber dies ist ein modernes Phänomen, das den säkularen Verfassungsstaat voraussetzt, und es ist stets temporär. Generell solidarisieren sich Religionen nicht miteinander, sondern sie koexistieren oder konkurrieren. 14 Verfügbar unter : http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/08/st06/st06655-re07.de08.pdf [15.03.13], S. 19. 15 So schon sinngemäß Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Otto, Rudolf (Hg). Göttingen 1967 [1799], S. 161 ff.
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Religionen bestehen aus jeweils recht unterschiedlichen Systemen sinnhafter Praktiken, Symbolen, Glaubensüberzeugungen und Institutionen. Sie versprechen zwar alle irgendein Heil, aber diese Heilsversprechen wie auch die Wege, das Heil zu erlangen, unterscheiden sich.16 Religionen lehren unterschiedliche Ethiken. Die Struktur und Organisation religiöser Institutionen wie auch der Zugang zum Heilswissen sind oft grundverschieden. Es gibt Religionen, die jedem Individuum den Zugang zum Heil freistellen und andere, in denen das Heil nur durch Vermittlung charismatisch Qualifizierter erlangt werden kann. Mit anderen Worten: Der abstrakte Begriff der Religion hat seine wissenschaftliche und alltagssprachliche Berechtigung, aber er stellt keine Grundlage zur Legitimation von politischen Institutionen und zur Stiftung sozialer Identität dar. Religiöse Identitäten sind per definitionem partikularistisch, wie schon Ludwig Feuerbach in seinem „Wesen des Christentums“ richtig erkannt hat.17 So kann der Papst Katholiken symbolisch einen, ein Patriarch Orthodoxe, ein Ayatollah Schiiten oder der Dalai Lama die Tibeter. Die „Religion an sich“, der abstrakte Religionsbegriff, kennt aber keine soziale Bezugsgruppe. Die „Religion an sich“ kann im Prinzip weder Identitäten schaffen, noch Legitimität erzeugen. Allein konkrete Religionen und ihre Repräsentanten können dies. Die Identitäts- und Legitimationsfunktion konkreter Religionen erfährt aber im modernen Verfassungsstaat, der als Reaktion auf die Religionskriege entstand, eine Einschränkung. Ernst-Wolfgang Böckenförde beschreibt dies zu Recht als einen Vorgang der Säkularisation.18 Denn der Staat löst seine Bindung an eine spezifische Religion und ihre Wahrheitsansprüche. Es geht dem Staat nicht um die wahre Religion oder die religiöse Wahrheit, sondern um die Organisation friedlichen menschlichen Zusammenlebens. In der Praxis kann dieses moderne staatsrechtliche Verständnis leicht übersehen werden, solange eine Gesellschaft religiös weitgehend homogen erscheint und sich die Mehrheit mit einem Bekenntnis identifiziert, wie dies etwa in den USA bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts oder in Polen bis in die jüngste Vergangenheit der Fall war. Eine solche Privilegierung etwa des allgemeinen christlichen Erbes oder des Katholizismus als Wertgrundlage eines modernen
16 Siehe hierzu ausführlich Riesebrodt, Martin: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religion. München 2007. 17 Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Schuffenhauer, Werner / Harich, Wolfgang (Hg). Berlin 2006 [1841]. Dort heißt es etwa auf S. 420: „[…] der Glaube hebt die naturgemäßen Bande der Menschheit auf; er setzt an die Stelle der allgemeinen, natürlichen Einheit eine partikuläre.“ 18 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt am Main 2006 [1991], S. 92 – 114 (Kapitel „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“).
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Staates stellt aber keine rechtliche Norm, sondern lediglich einen faktischen Konsens dar. Man muss den Religionen ja gar nicht feindselig gegenüberstehen, um kritisch zu fragen, welche Religion denn in der Lage sein soll, dem heutigen Europa eine Identität zu geben. Europa ist insgesamt religiös extrem pluralistisch verfasst. Europäische Bürger bekennen sich zur Katholischen Kirche, zur Lutherischen Kirche, zu einer Vielzahl von anderen protestantischen Bekenntnissen und Freikirchen, zu verschiedenen christlich-orthodoxen Kirchen, zum orthodoxen, konservativen und reformierten Judentum und zu verschiedenen Rechtsschulen des sunnitischen Islam, zum Salafismus, zum schiitischen Islam sowie zu mystischen Ausrichtungen im Islam. Sie hängen verschiedenen östlichen Religionen an und pflegen ihre Spiritualität außerhalb etablierter Institutionen. Hinzu kommt ein beträchtlicher Anteil von Agnostikern und Atheisten. Er wird in Österreich mit rund 18 % angegeben, in Deutschland mit 31 %, in Frankreich mit 46 %, in den Niederlanden mit 39 %, und in Tschechien mit 40 %. In Europa insgesamt beträgt der Anteil von Agnostikern und Atheisten 23 %, während 26 % an diffuse Lebensmächte glauben und 51 % an einen Gott.19 Vorsichtig formuliert, schließt man mit einer christlichen europäischen Identität in der Verfassung also knapp ein Viertel der gesamteuropäischen Bevölkerung und etwa ein Drittel der zentraleuropäischen Bevölkerung aus. Wenn man die diffus Religiösen mit den Agnostikern und Atheisten zusammenrechnet, weil allen eine spezifisch christliche oder monotheistische Bindung fehlt, erhöht sich die Zahl sogar auf 49 %. Diese Zahlen belegen wohl eindeutig, dass es zumindest in den europäischen Kernländern einen faktischen christlichen Konsens, der früher von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung getragen wurde, nicht mehr gibt. Prozesse der Säkularisierung, Migrationsbewegungen und Pluralisierungstendenzen haben ihn unterminiert und zwingen somit jeden Staat seine religiöse Neutralität weitaus stärker zu betonen, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Wenn dies schon für die Nationalstaaten gilt, dann doch umso mehr für Europa insgesamt. Wer es sich auf die Fahnen schreibt, diese weltanschauliche Vielfalt Europas zu ignorieren und trotz der Zahlenverhältnisse Dominanzansprüche zu vertreten, trägt nicht zur europäischen Integration bei, sondern schürt einen Kulturkampf. Strukturell waren ja schon die großen vormodernen Reiche vor das Problem der religiösen Vielfalt gestellt und haben teilweise recht kreative Lösungen hervorgebracht. Um den chinesischen Kaiser gegenüber allen seinen Untertanen zu legitimieren, waren beispielsweise unter der Qing-Dynastie im 18. Jahrhun19 Eurobarometer 341: Biotechnologie. Oktober 2010, S. 204. Verfügbar unter : http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_341_en.pdf [18. 03. 2013].
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dert die Religionen aller wichtigen Gruppen im Reiche am Hofe präsent. Der Herrscher praktizierte nicht nur öffentlich, sondern auch privat die konfuzianischen, chinesisch-buddhistischen, tibetisch-buddhistischen sowie schamanistischen Rituale. Zudem beherrschte er auch eine Vielzahl der in seinem Reich vertretenen Sprachen.20 Dieses Modell würde in Europa nicht nur an der Spracharmut vieler Politiker scheitern, sondern auch am Exklusivitätsanspruch der monotheistischen Religionen und an der numerischen Stärke der nichtreligiösen Bevölkerung. Betrachtet man einmal die Befürworter eines „Gottesbezugs“ in der EUVerfassung, so sind sie vornehmlich in den christlichen Kirchen und Parteien zu Hause. Es drängt sich deshalb der Verdacht auf, dass es ihnen um einen verklausulierten Dominanzanspruch gegenüber Nicht-Gläubigen und AndersGläubigen geht. Ein Gottesbezug in der EU-Verfassung müsste nahezu inhaltsleer sein und schaffte es dennoch, Europa eher zu spalten als zu einen. Er zielt nicht auf Inklusion, sondern auf Exklusion, nicht auf Gleichstellung, sondern auf Dominanz. Es sprechen auch theologische Gründe gegen einen Gottesbezug in der Verfassung. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 hat der spätere Bundespräsident Theodor Heuß in seiner humorvollen Art gesagt: „Den lieben Gott für alle die Dummheiten, die hier gemacht werden, unmittelbar verantwortlich zu machen, ist eine theologische Überhebung.“21
Vielleicht kann man diese Einsicht auch auf die europäische Verfassung anwenden. Auch eine andere Strategie, das Christentum symbolisch herauszuheben, sollte besser unterbleiben. So wird häufig behauptet, dass es sich beim Gottesbezug oder sogar beim Kreuz und beim Kruzifix nicht um partikularistisch-religiöse sondern um allgemein-kulturelle Symbole handle. Eine solche Argumentation wirkt nicht nur peinlich unaufrichtig, sondern trägt auch dazu bei, den religiösen Gehalt dieser Symbole zu banalisieren. Das kann doch nicht wirklich im Interesse der christlichen Kirchen sein. Es stellt sich auch die Frage, ob die Kirchen sich mit ihrem Vorstoß nicht übernehmen. Denn sie leiden ja selbst seit vielen Jahren unter enormen Legitimationsproblemen, man denke nur an ihren Mitgliederschwund, die zunehmende Entfremdung der Kirchenoberen von ihren Mitgliedern und zahlreiche nicht aufgearbeitete Skandale. Wenn sie schon mit ihrer eigenen Legitimation 20 Rawski, Evelyn Sakakida: The Last Emperors. Berkeley 1998, S. 197 – 263. 21 Deike, Heinz: „,Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …‘ Zur Geschichte der Präambel des Grundgesetzes und der in ihr enthaltenen sog. ,invocatio‘ , der Bezugnahme auf Gott“, in: Brakelmann, Günter/Friedrich, Norbert/Jähnichen, Traugott (Hg.): Auf dem Weg zum Grundgesetz. Beiträge zum Verfassungsverständnis des neuzeitlichen Protestantismus. Münster 1999, S. 201.
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und Identität solche Probleme haben, was gibt ihnen die Zuversicht, dass sie für Europa etwas leisten können, was sie für ihre eigenen Institutionen nicht zu leisten im Stande sind? Freilich könnten die christlichen Bekenntnisse einen Beitrag zur europäischen Identität und Integration leisten, wenn sie ihre Rolle weitaus bescheidener formulierten. Ein Bekenntnis zum säkularen Verfassungsstaat und zu einem religiös und weltanschaulich pluralistischen Europa, an dem man gleichberechtigt partizipiert, ohne Dominanzansprüche zu stellen oder auf Privilegien zu beharren, würde der europäischen Integration mit Sicherheit helfen.
3.
Eine europäische Zivilreligion
Sicherlich hat Europa Legitimationsdefizite. Diese können aber nicht durch allgemeine Religionsbezüge oder gar durch ein Bekenntnis zum christlichen Abendland behoben werden, sondern allein durch die Ausweitung demokratischer Partizipation der Bürger Europas, insbesondere durch die Stärkung parlamentarischer Kontrolle durch gewählte Volksvertreter und die demokratische Wahl der Exekutive. Auch die Probleme der europäischen Integration sind nicht religiös behebbar, denn sie sind politischer, sozialer und ökonomischer Natur. Sie können wohl am ehesten durch die Überwindung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten und durch die Einübung europäischer Solidarität bewältigt werden. Aber fehlt Europa nicht eine Identität, die nur die Religion hervorbringen kann? Ich glaube Europa besitzt sie schon, sollte sie aber klarer vertreten. Es handelt sich dabei freilich nicht um eine religiöse Identität in einem konfessionellen Sinne, die der Vergangenheit verpflichtet ist, sondern um eine zivilreligiöse Identität, die zukunftsorientiert ist. Das Konzept der Zivilreligion hat speziell der französische Soziologe Êmile Durkheim in Nachfolge von Jean-Jacques Rousseau ausgearbeitet. Durkheim war Zeitzeuge des Konflikts zwischen Republikanern und den vor allem in Armee und Kirche vertretenen Monarchisten während der Dritten Republik, der in der Dreyfus-Affäre von 1894 kulminierte. Speziell die Parteinahme der katholischen Kirche gegen die Republik und ihre Rolle in den antisemitischen Kampagnen gegen die Dreyfus-Anhänger ließen ihn zu dem allgemeinen Schluss kommen, dass traditionelle Religionen nicht mehr in der Lage sind, moderne Gesellschaften sozialmoralisch zu integrieren. Durkheim plädierte deshalb für eine neue Zivilreligion, die republikanische Prinzipien und die Rechte des Individuums als eines moralischen Gesellschaftswesens zum Inhalt hatte. In seiner großen Religionsstudie versucht Durkheim zu zeigen, dass Religionen im Kern schon immer Zivilreligionen gewesen seien, welche die Grundprinzipien einer idealen Gesellschaft in Theorie
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und Praxis zum Ausdruck gebracht und dadurch erst Gesellschaft ermöglicht hätten.22 Durkheim formuliert hier einen neuen, säkularisierten Religionsbegriff, der dem säkularisierten modernen Verfassungsstaat entspricht. Analysiert man die zentralen Dokumente der EU, speziell den Entwurf zur Verfassung, dann kann man eine solche Zivilreligion dort durchaus finden. In einem freilich allzu langen und deshalb verwässerten Dokument finden sich klare Aussagen über das, was für Europa als „heilig“ gelten soll und welche ideale Gesellschaft das Ziel Europas darstellt, an dem sich die europäische Realität messen lassen muss. So heißt es etwa in Artikel 2: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“23
Artikel 3 lautet: „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem […] der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“24
Das sind alles Prinzipien einer idealen Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit, der Rechtssicherheit und Menschenwürde, die es zu verwirklichen gilt und dem Konzept einer identitätsstiftenden Zivilreligion genüge tun.
4.
Der Beitrag der Religion zu Europa
Wenn die Religion nicht in der Lage ist, eine gesamteuropäische Identität zu stiften, so bedeutet das keineswegs, dass die Religionen für Europa bedeutungslos sind. Die Wirkungsmacht von Kirchen mag ja vertikal gedacht werden und von oben nach unten funktionieren. Die Bedeutung von Religionen beruht aber weit stärker in der Prägung eines religiösen Ethos ihrer Mitglieder und 22 Durkheim, Êmile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main 2007 [1912]. 23 Verfügbar unter : http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/08/st06/st06655-re07.de08.pdf [15.03.13], S. 21. 24 Verfügbar unter : http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/08/st06/st06655-re07.de08.pdf [15.03.13], S. 22.
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deren staatsbürgerlichen Engagement. Dies zeigt sich sowohl auf der nationalen wie auf der individuellen Ebene. Zum einen besitzen einige europäische Staaten stark konfessionell geprägte Charakteristika, die sich im Verlauf der Geschichte ausgeprägt und auch nichtreligiösen Institutionen vermittelt haben. So unterscheiden sich etwa katholisch geprägte Länder von lutherisch und orthodox geprägten Ländern in Hinblick auf sozialmoralische Vorstellungen, den Wohlfahrtsstaat, die Marktwirtschaft oder die politische Kultur. Zudem ist ein großer Teil der Menschen in Europa ja keineswegs areligiös, und bringt somit seine Wertvorstellungen in die politischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Länder ein. Ein protestantischer Pfarrer, ein gläubiger Katholik, Jude oder Muslim, der ein politisches Amt bekleidet, wird dadurch ja nicht säkular, auch wenn er sich bemühen mag, seine Sprache dem jeweiligen Amt anzupassen. Jürgen Habermas hat in seinen Schriften der letzten Jahre den Begriff der post-säkularen Gesellschaft geprägt.25 Der Begriff soll keineswegs ein Ende der Gültigkeit säkularer Rationalitätskriterien in öffentlichen Diskursen oder eine Aufgabe des Primats der kommunikativen Vernunft bezeichnen. Er ist auch weniger epochal gemeint als andere „Post“-begriffe wie etwa die Postmoderne oder die postindustrielle Gesellschaft. Vielmehr geht es um eine Öffnung von Diskursen für die Sprache und ethischen Positionen der Religionen. Wenn man den Begriff des Post-Säkularen nicht überstrapaziert, benennt er zutreffend Veränderungen öffentlicher Diskurse während der letzten Jahrzehnte. Es haben sich diskursive und ethische Fronten verschoben. Waren die intellektuellen Diskurse der 1960er und 1970er Jahre, zumindest in Deutschland, gegenüber religiösen Argumenten weitgehend abgeschottet, so haben sie sich heute deutlich geöffnet. Habermas hätte 1968 wohl kaum mit einem kirchlichen Würdenträger öffentlich in wechselseitig respektvoller Atmosphäre debattiert, wie er es 2004 mit Kardinal Ratzinger tat.26 Seinerzeit hätte dies sein Prestige unter seinen typischen Lesern erheblich beschädigt. Heute ist dies wohl kaum der Fall. Der Begriff des Post-Säkularen deutet auch auf eine pragmatische Wende hin. Nicht-religiöse Menschen sind gelegentlich mit der Erfahrung konfrontiert, dass sie in bestimmten ethischen Fragen mehr Übereinstimmung mit religiösen Menschen finden als mit anderen nicht-religiösen Menschen, sofern diese etwa jeglichen naturwissenschaftlichen oder technischen „Fortschritt“ ethisch unproblematisch finden oder an den allein selig machenden Markt glauben. In Fragen der Bio-Ethik, des Umweltschutzes oder sozialer Gerechtigkeit ist es letztendlich wichtiger, pragmatische Allianzen bei der Durchsetzung von Lösungen zu formen, als sich über die angemessene Sprache von deren Begrün25 Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Frankfurt am Main 2001. 26 Habermas, Jürgen / Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Freiburg 2005.
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dung zu streiten. Wenn man ein Atomkraftwerk stillgelegt wissen will, ist es sekundär, ob die einen dies im Namen des „Umweltschutzes“ unterstützen und die anderen als „Bewahrung der Schöpfung“. Jedenfalls sollten vernünftige Leute in der Lage sein, solche sprachlichen Differenzen im Interesse der Sache auszuklammern. Was sich über die letzten Dekaden speziell unter Intellektuellen herausgebildet hat, ist m. E. eine größere Gelassenheit im Umgang mit solchen Unterschieden. Die zunehmende Akzeptanz des Religiösen in der Öffentlichkeit spielt sich aber nicht nur in Diskursen von Intellektuellen ab, sondern auch in unserer Alltagserfahrung. Es haben sich oftmals religiös geprägte Einwanderermilieus herausgebildet und die Begegnung mit Menschen aus solchen religiösen Milieus durchdringt zunehmend unsere Alltagserfahrung. Muslimische Frauen mit Kopftüchern oder jüdische Männer, die eine Kippa tragen, sind im Stadtbild Wiens oder Berlins weitgehend normal geworden. Diese Zunahme der Akzeptanz religiöser Identifikationen in der Öffentlichkeit stellt ebenfalls eine Veränderung der modernen säkularen Gesellschaft dar. Man kann den Begriff des Post-Säkularen deshalb vielleicht auch dahingehend verstehen, dass er sowohl die Inklusion religiöser Positionen in öffentliche Diskurse, wie auch die gewachsene Akzeptanz der Sichtbarkeit des Religiösen in der Öffentlichkeit und die Abnahme von Berührungsängsten angemessen zum Ausdruck bringt.
5.
Europas Beitrag zum religiösen Pluralismus und zur Religionsfreiheit
Dass Religion zu Europa gehört, äußert sich aber keineswegs nur in der Tatsache, dass viele europäische Länder religiös geprägt sind, dass politische Parteien und Politiker religiöse Affinitäten haben oder dass die Kulturen von Immigranten, die das Bild unserer Städte mitprägen, oftmals einen religiösen Charakter tragen. Die europäische Zivilreligion und der europäische Pluralismus äußern sich nicht zuletzt in der Verteidigung der gelebten religiösen Vielfalt. Religion gehört zu Europa und wird nicht nur passiv geduldet; denn sowohl die einzelnen Staaten als auch die Europäische Union schützen die Religionsfreiheit. Innerhalb der bestehenden Gesetze kann jeder nicht nur glauben, was er will, sondern diesen Glauben auch in Gemeinschaft mit anderen praktizieren. Das gehört zur Kultur europäischer Menschenrechte und zur gewollten Vielfalt Europas dazu. So heißt es in Artikel 10 der Charta der Grundrechte der EU: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen
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öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.“27
Religion ist somit in Europa nicht nur irgendwie unvermeidlich gegeben, sondern sie ist eine wichtige Ausdrucksform des kulturellen Pluralismus sowie ein Testfall für den Schutz der Menschenrechte und für gelebte Toleranz. Dieses Recht sollte nicht nur von denen verteidigt werden, die es selbst ausüben, sondern von allen Bürgern Europas. Denn, wenn ein einzelnes Menschenrecht in Frage gestellt wird, sind auch alle anderen in Gefahr. Gleichermaßen sind durch dieselben Paragraphen ja auch diejenigen Bürger geschützt, die keiner religiösen Weltanschauung anhängen. Auch die Freiheit von der Religion ist garantiert. Diese religiöse und weltanschauliche Vielfalt sollte als Stärke Europas wahrgenommen werden, nicht als ein Manko, das es durch verengende Identitätsrhetorik zu überwinden gilt. Denn ein homogenes Europa hat es historisch nicht gegeben, wird es in der Zukunft nicht geben und wäre, wenn man mich fragte, auch gar nicht wünschenswert. Die Garantie der Religionsfreiheit bietet nicht nur Räume der Selbstentfaltung religiöser Gemeinschaften und Individuen, sondern auch Chancen zu interreligiöser Verständigung und Solidarität, beispielsweise, wenn es darum geht, Religionsfreiheit zu gestalten oder sie zu verteidigen. Anlässe dafür gibt es genug, wie etwa die Kontroversen um den Bau von Moscheen, das Tragen von Kopftüchern oder die Beschneidung belegen. Diese Debatten sind besonders aufschlussreich, weil hier das nationale oder christliche Dominanzdenken Urstände feiert. Wenn etwa, wie in der Schweiz, Moscheen nur ohne Minaretts gebaut werden dürfen28, oder wenn etwa der damalige Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber vorschlägt, dass Minaretts stets kürzer als Kirchtürme zu sein hätten29, dann lädt dies zu recht schlichten Freudianischen Deutungen ein. Eine gleichberechtigte Präsenz von Kirchen, Moscheen und Synagogen im Stadtbild würde vermutlich ganz erheblich zur Integration und Inklusion von Minoritäten beitragen, weil darin ihre öffentliche Anerkennung zum Ausdruck gebracht wird. Integration glückt nun einmal nur auf der Grundlage von Anerkennung und Respekt. Aber solche Kontroversen haben auch ihr Gutes. Denn einerseits gehören sie zum Lernprozess, mit Religionsfreiheit verantwortlich umzugehen, andererseits bieten sie Chancen für interreligiösen Dialog und interreligiöse Solidarität und fördern so die Akzeptanz religiöser Vielfalt. Dies konnte man etwa anlässlich der 27 Verfügbar unter : http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/08/st06/st06655-re07.de08.pdf [15.03.13], S. 489. 28 Volksentscheid vom 29. 11. 2009. 29 DIE WELT vom 21. 09. 2007. Verfügbar unter : http://www.welt.de/politik/article1201718/ Moscheen-sollen-nie-groesser-als-Kathedralen-sein.html [28.11.13].
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Beschneidungsdebatte beobachten, die zwar von Deutschland ausging, aber weite Kreise gezogen hat. In gewisser Hinsicht stellt sie ein Lehrstück dar, dass der angemessene Umgang mit der Religionsfreiheit und mit religiösem Pluralismus in einer Gesellschaft, die religiös von einer dominanten Kirchenkultur geprägt ist, einen langen, mühsamen Lernprozess erfordert.
6.
Beschneidungsdebatte
Die durch das Urteil des Kölner Landesgerichts30 ausgelöste Beschneidungsdebatte illustriert einerseits die gelegentliche Zuspitzung von kulturellen Konflikten zwischen religiösen und säkularistisch-antireligiösen Positionen, aber auch eine selten zu beobachtende religionsübergreifende Solidarität verschiedener Bekenntnisse. Das Gericht bezeichnete die Beschneidung eines vierjährigen muslimischen Jungen, bei der es nachträglich zu Komplikationen gekommen war, als „Körperverletzung“. Die „Einwilligung in die Beschneidung“ stelle einen „Widerspruch zum Kindeswohl“ dar. Das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit überwiege in diesem Fall gegenüber dem Erziehungsrecht der Eltern und deren Grundrecht auf Religionsfreiheit. Es wird auch die unsinnige Behauptung aufgestellt, dass die Beschneidung „dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können“ zuwiderlaufe.31 Mir ist freilich keine Religionsgemeinschaft bekannt, die beschnittenen Männern die Aufnahme verweigert. Die Reaktionen auf dieses Urteil waren – wie vorherzusehen – extrem unterschiedlich. Die einen beriefen sich, wie das Gericht, auf das Wohl des Kindes und sahen in der Beschneidung einen nicht zu akzeptierenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Jungen. Obgleich Mediziner in der Beschneidung mehrheitlich einen eher geringfügigen Eingriff sehen und die Beschneidung in den USA generell aus medizinischen Gründen befürwortet wird, wurde der Vorgang von einigen erheblich dramatisiert. Hierzu hat der Rektor der Medizinischen Universität Wien, wie ich meine, die richtigen Worte gefunden.32 Die Motivationen der Beschneidungs-Kritiker waren durchaus vielfältig. Einige waren sicherlich, trotz des weitgehenden Konsenses der Ärzte, ehrlich um das Kindeswohl besorgt und davon überzeugt, dass Beschneidung einen grausamen Eingriff bedeute. Andere waren eher durch eine prinzipielle Religions30 Verfügbar unter : http://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/koeln/lg_koeln/j2012/151_Ns_169_11_ Urteil_20120507.html [16. 03. 2013]. 31 Die fehlerhafte Interpunktion entstammt dem Original. 32 Schütz, Wolfgang: „Versuchte Beschneidung der Religionsfreiheit“, in: DIE PRESSE vom 14. 12. 2012. Verfügbar unter : http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/1323823/ Versuchte-Beschneidung-der-Religionsfreiheit?from=suche.intern.portal [17. 03. 2013].
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feindschaft motiviert und nahmen die Gelegenheit gerne wahr, das vermeintlich Primitive an der Religion zu entlarven. Wiederum andere benutzten die Gelegenheit, ihrer Feindseligkeit gegen muslimische Mitbürger und Migranten oder ihrem Antisemitismus freien Lauf zu lassen, indem sie Muslime wie Juden im Schutze eines Gerichtsurteils als Barbaren diffamierten. Die Verteidiger der Beschneidungspraktik beriefen sich auf die Religionsfreiheit. Die Beschneidung sei eine zentrale, identitätsstiftende religiöse Praktik sowohl im Judentum wie auch im Islam, die auf eine kontinuierliche Ausübung über Jahrtausende bzw. viele Jahrhunderte zurückblicken kann. Ein Verbot der Beschneidung bedeute letztlich ein Verbot, Judentum und Islam zu praktizieren. Es stelle zudem einen unerhörten Eingriff in die Rechte von Eltern dar, ihre Kinder religiös zu erziehen. Aus meiner Sicht ist das Urteil auch deshalb bemerkenswert, weil es eine profunde Unkenntnis der religiösen Bedeutung der Beschneidung sowie religiösen Denkens überhaupt zum Ausdruck bringt. Zum einen wird das Wohl des Kindes allein in seiner körperlichen Unversehrtheit gesehen und nicht auch noch gefragt, ob etwa das soziale und – aus der Sicht des Islam bzw. der muslimischen Eltern – das religiöse Wohl des Kindes durch das Unterlassen der Beschneidung in Mitleidenschaft gezogen würde. Zum anderen drückt das Urteil Zweifel aus, ob die Beschneidung überhaupt notwendig sei, wenn es einschränkend formuliert, dass die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit unangemessen sei, sofern „sie denn erforderlich sein sollte“. Mit anderen Worten, es geht im Christentum ja auch ohne Beschneidung, warum denn nicht auch im Islam. Das Gericht verzichtete zudem auf eine Güterabwägung, weil ihm die religiöse Bedeutung des Falls nicht wirklich klar war. Es mangelte ihm an jeglicher Sensibilität für die Materie und es war von einer rein säkularen Handlungslogik geleitet. Selbstverständlich ist es legitim zu fragen, ob bestimmte religiöse Praktiken im Interesse des Kindes besser unterblieben, weil sie in der Tat eine schwere Körperverletzung darstellen. Dies hat man zu Recht in der Debatte um die weibliche Genitalverstümmelung getan. Aber die Respektierung der Religionsfreiheit erfordert doch zumindest, die betroffenen religiösen Gemeinschaften soweit in die Diskussion miteinzubeziehen, dass man die religiöse Bedeutung der infrage stehenden Praktiken versteht, um eine Güterabwägung vornehmen zu können. Dies hat das Gericht unterlassen. Religionsfreiheit kann doch nicht bedeuten, dass religiöse Praktiken nur soweit erlaubt sind, wie sie sich von säkularen Praktiken nicht unterscheiden. Im Falle der Beschneidung handelt es sich aber um ein religiöses Ritual, das drei wichtige Kriterien erfüllt: 1. Es bedeutet lediglich einen geringfügigen körperlichen Eingriff; 2. Dieser Eingriff ist von zentraler, identitätsstiftender Bedeutung; und 3. handelt es sich bei diesem Ritual nicht um eine jüngst er-
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fundene Tradition, sondern es wurde über lange Zeiträume ununterbrochen praktiziert. Diese drei Kriterien zusammengenommen sollten hinreichen, um die Diskussion über die Angemessenheit dieser Praktik und gegebenenfalls ihre Reform den religiösen Gemeinschaften selbst zu überlassen. Zwei Folgen der Beschneidungsdebatte erscheinen mir bemerkenswert. Zum einen kam es zu einer Annäherung zwischen Juden und Muslimen, die beide ein Interesse an der straffreien Praxis der Beschneidung teilen. So empfing der Zentralrat der Juden in Deutschland zu einer Direktoriumssitzung den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime und den Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde.33 Dies stellt nicht nur ein bedeutendes Symbol bekenntnisübergreifender Solidarität dar, sondern schafft eine neue Qualität der Beziehungen zwischen Juden und Muslimen, die sich aus ihrem Zusammenleben in Europa und nicht über den Konflikt zwischen Israel und seinen muslimischen Nachbarn definieren. Zum anderen sprangen auch die christlichen Kirchen den Muslimen und Juden bei. Der Präfekt der Glaubenskongregation, der ehemalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller, verteidigte die Beschneidung als eine jüdische und islamische Tradition, „die wir respektieren müssen“.34 Auch die Evangelische Kirche in Deutschland kritisierte das Urteil wegen seiner unzureichenden Abwägung der verschiedenen Rechtsgüter.35 Die Kontroverse demonstriert die Notwendigkeit eines Lernprozesses in Europa. Sowohl die Rechtsprechung als auch die Presse und die weitgehend säkulare Öffentlichkeit müssen lernen, mit der Religionsfreiheit sensibler umzugehen. Die Religionsfreiheit ist ein wichtiger Bestand europäischer zivilreligiöser Ideale, die in ihrer Gesamtheit verteidigt werden müssen, will man nicht alle anderen Ideale irgendwann auch gefährden. Weiterhin zeigt die Kontroverse, dass sich neue Fronten aufgetan haben. Die alte historische Erfahrung, dass religiöse Intoleranz zu Konflikten zwischen den Religionen führt, trifft die heutige Realität Europas nur noch partiell. Jetzt streiten sich häufig religiöse und rigid-säkulare Kräfte, während sich verschiedene religiöse Bekenntnisse zumindest gelegentlich miteinander solidarisieren, um die Religionsfreiheit zu verteidigen.
33 http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2011/01/67461/juden-und-muslime-tretenin-dialog/ [03. 12. 2013]. 34 Verfügbar unter : http://diepresse.com/home/panorama/religion/1321740/Vatikan-verteidigt-Recht-auf-Beschneidung [17. 03. 2013]. 35 Mawick, Reinhard: EKD sieht Kölner Beschneidungsurteil kritisch (vom 27. 06. 2012). Verfügbar unter : http://www.ekd.de/presse/pm130_2012_beschneidungsurteil_koeln.html [17. 03. 2013].
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7.
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Schluss
Europa ist keine politische oder zivilisatorische Einheit, auf die bestimmte religiöse Bekenntnisse ein Erstgeburtsrecht einklagen können. Angesichts der religiösen Vielfalt und der weitverbreiteten Ablehnung der Religion ist keine Religion vorstellbar, die Europa Identität und Legitimität verleihen könnte, es sei denn, man freundet sich mit der Idee einer europäischen Zivilreligion an, wie sie im EU-Verfassungsentwurf formuliert ist. Europa gehört nicht „der Religion“ und auch nicht den christlichen Kirchen; aber die Religionen gehören zu Europa. Viele europäische Bürger identifizieren sich mit Religionen und deren Auslegung der menschlichen Existenz. Sie tragen religiöse Werthaltungen in die Öffentlichkeit und leisten so einen Beitrag zu Europa als einem politischen Gebilde, in dem Religionsfreiheit und Weltanschauungsfreiheit bejaht und geschützt werden. Ein Europa ohne Religion ist insofern weder denkbar noch wünschenswert.
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Detlef Pollack
Religiöser Wandel in Ost- und Westeuropa: Soziologische Beschreibungen und Erklärungen
Einleitung Im Jahr 1955 fuhr der damalige Bundeskanzler, Konrad Adenauer, nach Moskau und kehrte mit einem Geschenk zurück: dem Versprechen der Sowjets, alle noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befindlichen deutschen Kriegsgefangenen demnächst zu entlassen. Und in der Tat, noch im selben Jahr kamen die letzten Kriegsgefangenen aus der russischen Gefangenschaft zurück nach Deutschland. Sie wurden in das Aufnahmelager Friedland gebracht und trafen dort nach Jahren der Trennung mit ihren Familien wieder zusammen. Die Verwandten waren nicht sicher, ob sie nach einer so langen Zeit ihre Väter, Männer und Brüder wiedererkennen würden und hielten deswegen Schilder hoch, auf denen ihre Namen zu sehen waren oder auch Bilder aus der Zeit, als sie einander zum letzten Mal gesehen hatten. Als sie sich gefunden hatten, stimmten sie als erstes einen Choral an, „Nun danket alle Gott“. Da standen sie nun also, die Familien, und vielen kamen die Tränen. Einige Jahrzehnte später hatten die Deutschen wieder Gelegenheit, dankbar zu sein. Überraschenderweise öffnete sich am 9. November 1989 der Eiserne Vorhang. Die SED-Funktionäre hatten an diesem Tag erklärt, dass die Grenzen zum Westen offen sind, und viele Ostdeutsche, denen es über Jahrzehnte hinweg verboten war, in den Westen zu reisen, strömten nun nach Westberlin. Am Abend versammelte sich die Politprominenz der Bundesrepublik auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses in Berlin. Helmut Kohl, der gerade zu einem Staatsbesuch in Polen weilte, kam eigens angeflogen, und wieder fing man an zu singen. Diesmal war es allerdings kein Choral, sondern die Nationalhymne, natürlich mit der unverfänglichen dritten Strophe. Auch später kam kaum einem Politiker ein Dank an Gott über die Lippen. Selbst in der Rede von Richard Weizsäcker, dem damaligen Bundespräsidenten, zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990, fiel der Name Gott eigentlich nicht, bis auf ein Zitat, welches aus der Präambel des Grundgesetzes stammt. Weizsäcker betonte, dass Deutschland ein friedliebendes Land sei, dass die Grenzen zu den anderen
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Ländern Brücken werden sollten und dass von dem vereinigten Deutschland keine Gefahr für Europa ausgehen würde. Bis vor kurzem hätte man die Veränderung in der öffentlichen Kommunikation, wie sie in diesen beiden Geschichten zum Ausdruck kommt, wahrscheinlich als einen Ausdruck der Säkularisierung interpretiert. Den Säkularisierungsbegriff will heute indes kaum noch jemand zur Beschreibung des Wandels der religiösen Gegenwartslage benutzen. Wer Geschichten wie die soeben erzählte hört, neigt wahrscheinlich dazu, nach Gegenerzählungen Ausschau zu halten. Er wird dann wohl zum Beispiel von der Papstbegeisterung reden, die sich auf den Weltjugendtagen manifestiert. Oder von der hohen Zahl der Interneteintragungen, in denen von Religion die Rede ist. Vielleicht käme ihm auch das neue Interesse an Spiritualität in den Sinn, das angeblich immer mehr Menschen erfasse. Die Rede von der Säkularisierung, durch die moderne Gesellschaften gekennzeichnet seien, ist in Misskredit geraten. Nicht mehr die These vom Bedeutungsrückgang oder gar vom Absterben der Religion beherrscht die Diskussion. Die Stichworte, mit denen die gegenwärtig ablaufenden religiösen Wandlungsprozesse beschrieben werden, lauten vielmehr : Entprivatisierung des Religiösen (Jos¦ Casanova), Rückkehr der Götter (Friedrich Wilhelm Graf), Wiederverzauberung der Welt (Ulrich Beck), Desecularization (Peter L. Berger) oder Respiritualisierung (Matthias Horx). Ebenso wie es noch vor wenigen Jahrzehnten selbstverständlich war zu behaupten, dass Prozesse der Modernisierung wie Urbanisierung, Industrialisierung, Wohlstandsanhebung, Individualisierung oder kulturelle Pluralisierung zu einem Rückgang der sozialen Signifikanz religiöser Institutionen, Glaubensvorstellungen und Praktiken führen, so scheint es heute weithin akzeptiert zu sein, dass Religion auch unter modernen Bedingungen ihre Prägekraft bewahrt, mit der Moderne kompatibel ist, ja selbst zu einer Quelle von Modernität zu werden vermag. Die leitende Frage dieses Beitrags lautet daher, inwieweit wir in Europa tatsächlich von einem Stopp des bislang allgemein unterstellten Entkirchlichungsund Säkularisierungsprozesses und von Prozessen eines religiösen Bedeutungszuwachses sprechen können. Um dieser Frage nachzugehen, ist es erforderlich, zunächst genau zu beschreiben, was die unter Druck geratene Säkularisierungsthese überhaupt besagt und was sie nicht besagt (1.1.). Kritisiert wird an der Säkularisierungsthese vor allem, dass sie mit einem eingeschränkten Verständnis von Religion arbeite. Sie setze Religion im Wesentlichen gleich mit traditionellen Formen des Religiösen, mit christlichen Überzeugungen und Praktiken, ja teilweise sogar mit Kirchlichkeit.1 Bei einer derart reduktionisti1 Vgl.: Knoblauch, Hubert: Populäre Religion: Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt am Main / New York 2009, S. 17.
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schen Religionsdefinition sei es nicht verwunderlich, wenn die Vertreter der Säkularisierungstheorie zu dem Resultat kommen, dass sich die soziale Signifikanz des Religiösen in modernen Gesellschaften abschwäche. Weite man den Blick allerdings auch auf außerchristliche, synkretistische und hochindividualisierte Formen der Religiosität aus, entstehe ein ganz anderes Bild: das Bild einer Vervielfältigung des Religiösen und eines religiösen Aufschwungs. Alternativ zur Säkularisierungstheorie müssen wir uns daher auch mit der hier angedeuteten Individualisierungstheorie beschäftigen (1.2.). Nach der Darstellung der beiden in Konkurrenz zueinander stehenden religionssoziologischen Ansätze, sollen ihre Aussagen einer empirischen Überprüfung unterzogen werden (3.). Bevor dies erfolgen kann, müssen jedoch noch einige methodologische Überlegungen bezüglich der Erfassbarkeit von Religiosität, Kirchlichkeit und Spiritualität angestellt werden (2.).
1.
Theoretische Überlegungen
1.1.
Die Säkularisierungstheorie
Die Säkularisierungsthese hat eine lange soziologische Geschichte. Bereits Weber und Durkheim gingen davon aus, dass Religion in modernen Gesellschaften ihre einst zentrale Stellung eingebüßt hat und nicht mehr wie noch in vormodernen Gesellschaften eine gesamtgesellschaftlich verbindliche Weltdeutung anzubieten vermag. Wenn freilich heute Kritiker der Säkularisierungsthese den Anhängern dieser These unterstellen, sie würden annehmen, Prozesse der Modernisierung brächten Religion und Glaube zum Verschwinden, so ist dies falsch. Weder Weber und Durkheim vertraten eine solche Annahme, noch tun dies die neueren Säkularisierungstheoretiker wie Bryan Wilson, Steve Bruce oder Karel Dobbelaere. Eine solche Position findet man allenfalls bei Auguste Comte. Was die neueren Säkularisierungstheoretiker vertreten, ist allerdings die Position, dass der die gesamte soziale Struktur umwälzende Prozess der Modernisierung an den Beständen religiöser Traditionen und Institutionen nicht folgenlos vorübergeht. Was man auch immer unter Modernisierung im Einzelnen versteht, die Kernthese der Säkularisierungstheoretiker besagt, dass Prozesse der Modernisierung einen letztlich negativen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften, religiösen Praktiken und Überzeugungen ausüben. Die These lautet nicht, dass sich diese Entwicklung unausweichlich vollzieht. Norris und Inglehart – zwei Hauptvertreter der Säkularisierungstheorie – wollen ihre modernisierungstheoretische Argumentation als
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„probabilistic, not deterministic“2 verstanden wissen. Mit der Säkularisierungsthese ist auch nicht die Behauptung verbunden, dass der Bedeutungsrückgang des Religiösen in modernen Gesellschaften unumkehrbar ist. Dies wird von den Kritikern der Säkularisierungstheorie zwar in einer Art monotonem Wiederholungszwang immer und immer wieder behauptet. Tatsächlich aber ist Karl Gabriel Recht zu geben, der feststellt, dass „die Annahme, mit der Säkularisierung habe man wissenschaftlich einen Prozess identifiziert, der notwendig und zielgerichtet verlaufe und zwangsläufig auf ein Ende der Religion zusteuere“, heute „eigentlich niemand mehr“ vertritt.3 Wallis und Bruce als Proponenten der Säkularisierungstheorie erklärten bereits 1992: „nothing in the social world is irreversible or inevitable“4. Schon gar nicht ist es richtig, den Säkularisierungstheoretikern zu unterstellen, sie behandelten die Prozesse des Bedeutungsrückgangs von Religion und Kirche als wünschenswert. Heute wird die Veränderung des Stellenwerts der Religion in modernen Gesellschaften von Vertretern der Säkularisierungstheorie frei von qualifizierenden Werturteilen beschrieben und – man denke an Bryan Wilson oder Peter L. Berger5 – allenfalls eher beklagt als begrüßt.
1.2.
Die Individualisierungstheorie
Im Unterschied zur Säkularisierungstheorie nimmt die Individualisierungstheorie nicht an, dass diese umfassenden Umwälzungsprozesse zu einem Bedeutungsverlust der Religion in modernen Gesellschaften führen. Vielmehr geht sie davon aus, dass Moderne und Religion miteinander kompatibel sind. Mit der Modernisierung der Gesellschaft komme es nicht zu einer Positionsschwächung von Religion. Diese wandle nur ihre Formen. Während in vormodernen Gesellschaften Religion in den Kirchen institutionalisiert gewesen sei, löse sich der Zusammenhang zwischen Religiosität und Kirchlichkeit in modernen Gesellschaften zunehmend auf. Religion und Religiosität seien heute auch an Orten zu finden, wo man sie früher nicht erwartet hätte: in der Psychoanalyse und Körperpflege, in der Freizeitkultur und im Gemeinschaftskult, im Tourismus und im 2 Norris, Pippa / Inglehart, Ronald: Sacred and Secular : Religion and Politics Worldwide. Cambridge 2004, S. 16. 3 Vgl.: Gabriel, Karl: Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52 (2008), S. 11. 4 Wallis, Roy / Bruce, Steve: „Secularization: The orthodox model“, in: Dies. (Hg.): Religion and Modernization: Sociologists and Historians Debate the Secularization Thesis. Oxford 1992, S. 27. 5 Vgl.: Bruce, Steve (Hg.): Religion and Modernization: Sociologists and Historians Debate the Secularization Thesis. Oxford 1992, S. 2.
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Sport. Das Verhältnis des einzelnen zur Religion habe sich aus der Vormundschaft der großen religiösen Institutionen befreit und sei zunehmend in die Autonomie des Individuums gestellt. Heute bestimmen nicht die Kirchen, was der einzelne glaubt, vielmehr entscheidet jeder selbst über seine weltanschauliche Orientierung. Die Konstitution der individuellen religiösen Überzeugungen und Praktiken gestalte sich daher zunehmend als individuell einzigartige Auswahl aus unterschiedlichen religiösen Traditionen, innerhalb derer das Christentum zwar noch ein wichtiges Element darstellen könne, aber eben nur noch eines neben anderen. Selbst dort, wo der einzelne an seiner Zugehörigkeit zur Kirche festhalte, gewinne seine Glaubenspraxis den Charakter von Selbstbestimmtheit und Individualität. Mit dem Rückgang der gesellschaftlichen Bedeutung der religiösen Institutionen gehe also nicht ein Bedeutungsverlust des Religiösen für den einzelnen einher. Im Gegenteil, institutionalisierte Religion und individuelle Spiritualität stehen, wie einige der Individualisierungstheoretiker behaupten, sogar in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis. Mit dem Bedeutungsrückgang der Kirchen kommt es ihnen zufolge zu einem Aufschwung individueller Religiosität. Die Individualisierungsthese hat in der Religionssoziologie vor allem in Europa zunehmend Verbreitung gefunden und wird heute von Religionssoziologen wie Grace Davie6 sowie Paul Heelas und Linda Woodhead7 in Großbritannien, DaniÀle Hervieu-L¦ger8 und Claire de Galembert9 in Frankreich, Roberto Cipriani10 in Italien, Michael Krüggeler und Peter Voll11 in der Schweiz, Karl Gabriel12 und Hubert Knoblauch13 in Deutschland, aber auch von amerikanischen
6 Davie, Grace: Religion in Britain Since 1945: Believing Without Belonging. Oxford 1994; dies.: Europe: The Exceptional Case: Parameters of Faith in the Modern World. London 2002. 7 Heelas, Paul / Woodhead, Linda: The Spiritual Revolution: Why religion is giving way to spirituality. Oxford 2005. 8 Hervieu-L¦ger, DaniÀle: Religion and Modernity in the French Context: For a New Approach to Secularization, in: Sociological Analysis 51 (1990), S. 15 – 25; ders.: Religion as a Chain of Memory. Cambridge 2000. 9 Galembert, Claire de: Die Religionssoziologie „ la franÅaise“: Vom positivistischen Erbe zur Erforschung der religiösen Moderne, in: Hervieu-L¦ger, DaniÀle: Pilger und Konvertiten: Religion in Bewegung. Würzburg 2004. 10 Cipriani, Roberto: „Diffused Religion“ and New Values in Italy, in: Beckford, James A. / Luckmann, Thomas (Hg.): The Changing Face of Religion. London 1989, S. 24 – 48. 11 Krüggeler, Michael / Voll, Peter : „Strukturelle Individualisierung – ein Leitfaden durchs Labyrinth der Empirie“, in: Dubach, Alfred / Campiche, Roland (Hg.): Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz. Zürich/Basel 1993, S. 17 – 49. 12 Gabriel, Karl: Christentum zwischen Tradition und Postmoderne. Freiburg / Basel / Wien 1992. 13 Knoblauch, Hubert: Die Welt der Wünschelrutengänger und Pendler: Erkundungen einer verborgenen Wirklichkeit. Berlin / New York 1991; ders.: Ganzheitliche Bewegungen, Transzendenzerfahrung und die Entdifferenzierung von Kultur und Religion in Europa, in:
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Autoren wie etwa von Wade Clark Roof14, Robert Wuthnow15, Robert C. Fuller16, Ronald Inglehart17 und anderen vertreten. Sie alle gehen davon aus, dass zwischen traditionaler Kirchenbindung und individualisierter Religiosität eine Differenz besteht und sich letztere auf Kosten der ersteren ausbreitet. Wuthnow zum Beispiel behauptet, dass der Verfall der organisierten Religion in den USA begleitet ist von einem Anstieg spiritueller Interessen, der zu einem Wechsel von einer „spirituality of dwellings“, die die Bedeutung heiliger Plätze betont, zu einer „spirituality of seeking“, die auf die personale Suche nach neuen spirituellen Wegen abstellt, führt.18 Nach der Auffassung von Inglehart und Baker bilden sich mit dem Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft gleichzeitig zwei unterschiedliche Tendenzen heraus: der Rückgang der „allegiance to the established religious institutions“ auf der einen Seite und „the persistence of religious beliefs and the rise of spirituality“ auf der anderen.19 Roof20 macht für die Erosion des kollektiven religiösen Engagements in der jüngeren Generation in den USA die Abnahme der Autorität traditionaler kirchlicher Institutionen verantwortlich sowie die Individualisierung der Suche nach Spiritualität, die sich im Aufkommen vielfältiger, sich vermischender NewAge-Bewegungen und alternativer spiritueller Praktiken wie Astrologie, Meditation und alternative Therapien ausdrückt. Die Religiosität der Nachkriegsgeneration weise fünf Charakteristika auf: 1) Betonung der individuellen Wahl, 2) Vermischung der religiösen Codes, 3) Annäherung an ostasiatische und NewAge-Praktiken oder an konservative, evangelikale Positionen, 4) Betonung religiöser Erfahrung und spirituellen Wachstums, 5) antiinstitutionelle und antihierarchische Grundhaltung.21 Grace Davie schließlich, die ebenso wie die
14 15 16 17 18 19 20 21
Berliner Journal für Soziologie 3 (2002), S. 295 – 307; ders: Populäre Religion: Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt am Main / New York 2009. Roof, Wade Clark: A Generation of Seekers: The Spiritual Journeys of the Baby Boom Generation. San Francisco 1993; ders.: Spiritual Marketplace: Baby Boomers and the Remaking of American Religion. Princeton 2001. Wuthnow, Robert: After Heaven: Spirituality in America Since the 1950s. Berkeley, CA 1998. Fuller, Robert C.: Spiritual, but Not Religious: Understanding Unchurched America. New York 2002. Inglehart, Ronald / Baker, Wayne E.: „Modernization, globalization, and the persistence of tradition: Empirical evidence from 65 societies“, in: American Sociological Review 65 (2000), S. 19 – 55. Vgl.: Wuthnow, Robert: After Heaven: Spirituality in America Since the 1950s. Berkeley, CA 1998. Inglehart, Ronald/ Baker, Wayne E.: „Modernization, globalization, and the persistence of tradition: Empirical evidence from 65 societies“, in: American Sociological Review 65 (2000), S. 46 f. Roof, Wade Clark: A Generation of Seekers: The Spiritual Journeys of the Baby Boom Generation. San Francisco 1993; ders.: Spiritual Marketplace: Baby Boomers and the Remaking of American Religion. Princeton 2001. Vgl.: Roof, Wade Clark / Caroll, Jackson W. / Roozen, David A (Hg.): The Post-War Gene-
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anderen zitierten Autoren zwischen traditionaler religiöser Zugehörigkeit (belonging) und religiösem Glauben (believing) unterscheidet, meint: „religious belief is inversely rather than directly related to belonging“, sodass „as the institutional disciplines decline, belief not only persists, but […] shows a reverse tendency“.22 Sie hat die bekannte Phrase „believing without belonging“ geprägt, mit der nach ihrer Überzeugung das dominante Kennzeichen der europäischen Religiosität benannt sei.23
2.
Methodologische Überlegungen
Bevor wir dazu übergehen können, die Frage nach dem gesellschaftlichen Bedeutungswandel von Religion und Kirche in Europa zu bearbeiten und die vorgestellten theoretischen Modelle der empirischen Überprüfung auszusetzen, muss die Frage aufgeworfen werden, auf welche Weise die zu untersuchenden abhängigen Variablen – Religiosität, Kirchlichkeit, Spiritualität – sozialwissenschaftlich überhaupt erfasst und analysiert werden können. Die Datenlage ist äußerst disparat, und es können die unterschiedlichsten Phänomene zur Bestätigung der aufgestellten Thesen herangezogen werden. Man könnte sich auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene auf die Berichterstattung über Religion in den Massenmedien beziehen und von der gestiegenen Aufmerksamkeit für das in Religionen steckende Konfliktpotential auf die zunehmende soziale und politische Bedeutung von Religion in der Gegenwart schließen. Man könnte ebenso die Ressourcenausstattung der religiösen Institutionen zum Gegenstand seiner Analysen machen und aufgrund der Finanzierungs-, Struktur- und Personalkrise vieler religiöser Institutionen, insbesondere der Großkirchen, zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Bedeutung von Religion in modernen Gesellschaften sinkt. Genauso wäre es möglich, die Vielzahl kleiner religiöser Gruppen, Initiativen und Bewegungen, die Gemeindekreise, christlichen Elterninitiativen, kirchlichen Chöre, Therapiegruppen, Gesprächskreise, Meditationskurse, die vielfältigen Angebote für musikalische Früherziehung, Seniorentanz oder meditatives Wandern usw. ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und angesichts der beachtlichen Vitalität und zunehmenden Vielfalt dieser Gruppierungen die These eines Relevanzgewinns von Religion unter den Bedingungen von Modernität aufzustellen. Was hier unternommen werden soll, ist hingegen der Versuch, den sozialen Bedeutungswandel ration & Establishment Religion: Cross-Cultural Perspectives. Boulder, CO 1995, S. 247 – 252. 22 Davie, Grace: Europe: The Exceptional Case: Parameters of Faith in the Modern World. London 2002, S. 8. 23 Vgl.: Davie, Grace: Religion in Britain Since 1945: Believing Without Belonging. Oxford 1994.
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von Religion auf der Mikroebene, also auf der Ebene der Bedeutung für das Individuum abzuschätzen. Diese Ebene ist die entscheidende, denn über die Lebendigkeit der Religion entscheidet letztendlich weder die Häufigkeit und Prominenz der medialen Berichte noch die Zahl der Interneteinträge zum Thema Religion oder der Marktanteil religiöser und esoterischer Buchveröffentlichungen und auch nicht die Ausstattung religiöser Institutionen mit finanziellen und personellen Ressourcen, sondern ihre Akzeptanz durch das religiöse Individuum, auch wenn zwischen den unterschiedlichen Dimensionen natürlich Interdependenzen bestehen. Um die Bedeutung von Religion auf der individuellen Ebene zu erfassen, sei hier zwischen drei Dimensionen individueller Religiosität unterschieden: der Dimension religiöser Zugehörigkeit, religiöser Praxis und religiöser Überzeugung. Was im Folgenden versucht werden soll, ist anhand ausgewählter Variablen sowohl im Ländervergleich als auch im Zeitvergleich einen Überblick zu geben über die religiöse Bindung, die religiöse Praxis und die religiösen Glaubensvorstellungen in Europa. Die Zugehörigkeitsdimension wird über die Konfessionszugehörigkeit gemessen, die Praxisdimension über die Häufigkeit des Kirchgangs und die Überzeugungsdimension über den Glauben an Gott. Außerdem sollen mit Hilfe von Fragen nach dem Glauben an Astrologie sowie an die Wirksamkeit von Spiritualismus und Okkultismus auch Aspekte außerkirchlicher Religiosität erfasst werden. Dabei sind in die Untersuchung sowohl west- als auch osteuropäische Länder, sowohl mehrheitlich katholische (Irland, Portugal, Polen, Kroatien), mehrheitlich protestantische (Finnland, Estland) als auch mehrheitlich orthodoxe (Russland) sowie bikonfessionelle Länder (Deutschland, Ungarn) einbezogen. Zur Erfassung der drei Dimensionen könnten auch andere Variablen herangezogen werden, für die Zugehörigkeitsdimension zum Beispiel Kirchenausund -eintritte, für die rituelle Dimension Gebetshäufigkeit und Tauf- oder Bestattungsziffern, für die Erfahrungsdimension der Glaube an ein Leben nach dem Tode, an Himmel und Hölle, an ein göttlich gegebenes Schicksal oder auch die Erfahrung der Nähe Gottes. Aus umfangstechnischen Gründen können weitergehende Indikatoren hier allerdings nur selektiv Verwendung finden. Tabelle 1: Dimensionen der individuellen Religiosität Dimensionen Zugehörigkeit Rituelle Praxis Religiöse Überzeugung und Erfahrung
Ausgewählte Indikatoren Kirchenmitgliedschaft, Kircheneintritte und -austritte, Vertrauen in die Kirche Kirchgang, Gebet, Taufe Glaube an Gott, an ein Leben nach dem Tode, an Himmel und Hölle, Spiritualismus, Glaube an Astrologie, Erfahrung der Nähe Gottes
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Als Datengrundlage der Analysen dienen die Ergebnisse aus dem von der Volkswagen-Stiftung geförderten Projekt „Church and Religion in an Enlarged Europe“ (CRE), das 2006 am Lehrstuhl für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) durchgeführt wurde, sowie die Daten aus dem European Social Survey (ESS) 2002/2003, dem International Social Survey Program (ISSP) von 1991 und 1998, dem World Value Survey (WVS) 1981 – 2005, dem European Value Survey (EVS) 2008, der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) 2002 sowie dem Mannheimer Eurobarometer Trend File 1970 – 1999, die einer Sekundärauswertung unterzogen wurden.
3.
Empirische Befunde
3.1.
Die Zugehörigkeitsdimension
Tabelle 2 gibt zunächst einen Überblick über die gegenwärtige religiöse Situation in Europa anhand der ausgewählten Indikatoren im Ländervergleich. Wir können auf den ersten Blick erkennen, dass das Religiositätsniveau, vor allem was Kirchgangshäufigkeit und Glaube an Gott angeht, in mehrheitlich katholischen Ländern wie Irland, Portugal, Polen oder Kroatien über dem europäischen Durchschnitt liegt und sich deutlich abhebt von den mehrheitlich protestantischen Ländern. In Finnland (partiell auch in Estland, dort aber auf einem niedrigeren Niveau) finden wir das bekannte skandinavische Religiositätsmuster mit einem relativ hohen konfessionellen Organisationsgrad, einer geringen kirchlichen Beteiligungsrate und einer eher unterdurchschnittlichen Glaubensintensität.24 In den multikonfessionellen Ländern erreicht die individuelle Religiosität keine höheren Werte, als das Mittel der europäischen Länder insgesamt ausmacht.25 Die orthodoxe Religiosität, wie wir sie in Russland antreffen, ist wiederum durch ein hohes Maß an kirchlicher Bindung bei gleichzeitig geringer Beteiligung am kirchlichen Leben charakterisiert.26 Was die Akzeptanz
24 Im Vergleich zu anderen skandinavischen Ländern liegen die Werte für den Glauben an Gott in Finnland überdurchschnittlich hoch. 25 Womit einigen Annahmen der sogenannten ökonomischen Markttheorie widersprochen ist. Diese geht davon aus, dass religiöse Pluralität die Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Religionsgemeinschaften erhöht und aufgrund stärkerer Konkurrenz die religiöse Vitalität steigt. Vgl. Stark, Rodney / Finke, Roger : Acts of Faith: Explaining the Human Side of Religion. Berkeley 2000. 26 Auch das Vertrauen in die Kirche ist in Russland außergewöhnlich hoch. Zu dieser Form hoher Kirchenbindung bei gleichzeitiger Beteiligungsabstinenz vgl. ausführlicher Pollack, Detlef: „Religiöser Wandel in Mittel- und Osteuropa“, in: Pollack, Detlef/Borowik, Irena/
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Detlef Pollack
außerkirchlicher Formen der Religiosität angeht, so müssen wir feststellen, dass es sich bei denjenigen, die an Astrologie oder an die Wirkungen von Okkultismus oder Spiritualismus glauben, nur um Minderheiten handelt. Die Okkultismus-Gläubigen machen in der Regel weniger als ein Viertel der Gottgläubigen aus. Damit stellen sich erste Vorbehalte gegenüber den Behauptungen des Individualisierungstheorems ein, das davon ausgeht, dass die konventionellen Merkmale religiöser Bindungen sich abschwächen, während alternative Religiositätsformen zunehmend an deren Stelle treten. Tabelle 2: Religiosität und Kirchlichkeit in ausgewählten Ländern Europas (2006) (Zustimmung in %) Länder
Konfessionszugehörigkeit
Irland (n=931) Portugal (n=1001) Finnland (n=931) Westdeutschland (n=717) Ostdeutschland (n=563) Polen (n=977) Kroatien (n=968) Estland (n=955) Ungarn (n=1001) Russland (n=1056)
95,6 91,3 89,0 81,2 29,6 96,7 95,7 50,0 78,5 72,7
Kirchgangshäufigkeit (wöchentlich) 54,4 19,1 2,9 8,7 3,0 48,9 20,8 2,2 15,3 2,6
Glaube an AstroGott logie
Spiritualismus
84,4 89,7 74,4 71,3 40,0 88,0 84,2 52,9 65,7 56,9
19,6 24,3 9,3 12,2 8,1 8,2 13,0 17,3 12,4 15,9
17,8 26,5 15,8 18,2 16,3 19,6 25,6 30,9 32,2 31,1
Quelle: VW-Projekt „Church and Religion in an Enlarged Europe“27
Für die Konfessionszugehörigkeit, mit der die Zugehörigkeitsdimension erfasst werden soll, besitzen wir nicht für alle Länder längerfristige Daten. Aus den Ländern, für die uns verlässliche Daten zur Verfügung stehen, wie Deutschland, die Schweiz, die Niederlande oder Finnland, wissen wir allerdings, dass der Anteil der Konfessionsangehörigen in den letzten Jahren und Jahrzehnten abgenommen hat. In der Schweiz belief sich der Anteil der Konfessionslosen in den sechziger Jahren auf 0,7 %, heute macht er mehr als 10 % aus.28 In WestJagodzinski, Wolfgang (Hg.): Religiöser Wandel in den postkommunistischen Staaten Mittelund Osteuropas. Würzburg 1998, S. 33 ff. 27 Dieses von der Volkswagen Stiftung finanzierte Projekt wurde am Lehrstuhl für Vergleichende Kultursoziologie der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) begonnen und wurde an der Professur für Religionssoziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zu Ende geführt. An der Durchführung der Untersuchung waren Prof. Dr. Gert Pickel, Leipzig, und Dr. Olaf Müller, Münster, beteiligt, denen ich für die Hilfe bei der Datenauswertung herzlich danke. 28 Stolz, Jörg: Secularization Theory and Rational Choice Theory : An Integration of Macroand Micro-Theories of Secularization Using the Example of Switzerland, in: Pollack, Detlef/
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deutschland lag der Anteil der Konfessionslosen 1960 bei 6 %, heute hat er fast 20 % erreicht.29 In den Niederlanden, in denen 1960 21 % nicht kirchlich gebunden waren, gehören heute etwa die Hälfte keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft an.30 Und in Finnland stieg der Anteil der kirchlich Ungebundenen von 2,7 % im Jahre 1950 auf 14,0 % im Jahre 2004.31 Teilweise nimmt die Kirchenbindung dramatisch ab. In Deutschland zum Beispiel hat sich der Anteil der Kirchenaustritte am Gesamtmitgliederbestand der Kirchen seit den 50er Jahren deutlich erhöht. Dabei zeigt der Blick auf die Entwicklung der Kirchenaustrittsrate (vgl. Grafik 1) eine beachtenswerte Parallelität der Verläufe in Bezug auf die katholische und die evangelische Kirche. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der sechziger Jahre war die Kirchenaustrittsrate in beiden Konfessionen außerordentlich niedrig. Ende der sechziger Jahre erhöhte sie sich sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche, um ab Mitte der siebziger Jahre wieder zu fallen und nach 1990 in beiden Kirchen noch einmal dramatisch anzusteigen. Offenbar wird die Kirchenaustrittsrate stark von kirchenexternen Faktoren beeinflusst. Ein genauerer Blick zeigt weiterhin, dass die Rate der Kirchenaustritte aus der evangelischen Kirche durchweg über derjenigen aus der katholischen Kirche liegt. Das entspricht der schon angestellten Beobachtung, der zufolge die soziale Bindekraft der katholischen Kirche höher ist als die der evangelischen Kirchen. Vor allem aber fällt auf, dass sich das Plateau der Kirchenaustrittsrate nach den jeweiligen Austrittswellen stetig erhöht und die Kirchenaustrittsrate nicht mehr auf das Ausgangsniveau zurückfällt. Das deutet darauf hin, dass der Erosionsprozess der Kirchen mit zunehmender Geschwindigkeit verläuft und dass eine Beruhigung dieser Erosionsdynamik in nächster Zukunft nicht zu erwarten ist. Bedenkt man darüber hinaus, dass es unter den Jüngeren nicht mehr die Hochgebildeten sind, die überdurchschnittlich häufig aus der Kirche austreten, sondern dass der Kirchenaustritt unter ihnen in allen Schichten der Bevölkerung
Olson, Daniel V. A (Hg.): The Role of Religion in Modern Societies. New York / London 2008, S. 250. 29 Rohde, Dieter: Kirchliche Statistik, in: Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben. Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 114/3 (1987), S. 417; Evangelische Kirche (2004 ff.): Statistik über die Äußerungen des kirchlichen Lebens in der EKD im Jahr 2003 ff. Hannover : Kirchenamt der EKD, S. 6; Kirchliches Handbuch 38: Statistisches Jahrbuch der Bistümer im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. Hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Rheinbreitbach 2003/2004, S. 22. 30 Jacobs, Jan: Die Niederlande, in: Gatz, Erwin (Hg.): Kirche und Katholizismus seit 1945. Bd. 1. Paderborn: 1998, S. 274; Knippenberg, Hans: The Netherlands: Selling Churches and Building Mosques, in: Ders. (Hg.): The Changing Religious Landscape of Europe. Amsterdam 2005, S. 92. 31 Kääriäinen, Kimmo / Niemelä, Kati / Ketola, Kimmo: Religion in Finland: Decline, Change and Transformation of Finnish Religiosity. Tampere 2005, S. 82.
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Detlef Pollack
gleichermaßen Einzug gehalten hat,32 wird man von einer Normalisierung und Veralltäglichung dieses Phänomens sprechen müssen und seine weitere Ausbreitung prognostizieren dürfen. Diese Aussage gilt zunächst für Deutschland, sie dürfte aber für die westeuropäischen Gesellschaften insgesamt verallgemeinerbar sein.
1,2
Kirchenaustritte in Westdeutschland 1945 - 2010 in Prozent der Mitglieder
1 0,8 0,6 0,4 0,2 0 evangelisch katholisch
Grafik 1: Kirchenaustritte in Westdeutschland 1945 – 2010 (in % der Mitglieder) Quellen: Institut für kirchliche Sozialforschung des Bistums Essen 1999; Deutsche Bischofskonferenz 1998; Deutsche Bischofskonferenz 2009a+b; Evangelische Kirche in Deutschland 2003; Evangelische Kirche 2004 ff.
Die Datenlage ist für die Länder Osteuropas noch einmal komplizierter als für Westeuropa. Gleichwohl lassen sich auf der Grundlage repräsentativer Bevölkerungsumfragen einige generelle Trends feststellen. In diesen Bevölkerungsumfragen wurde danach gefragt, ob man heute einer Konfession oder Religionsgemeinschaft angehört, aber früher nicht bzw. ob man früher einer Konfession oder Religionsgemeinschaft angehörte, aber jetzt nicht mehr. Die Antworten auf die erste Frage sind in der Rubrik Zuwachs zusammengefasst, die Antworten auf die zweite in der Rubrik Abnahme.
32 Engelhardt, Klaus / Loewenich, Hermann von/Steinacker, Peter (Hg.): Fremde Heimat Kirche: Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 1997, S. 317.
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Religiöser Wandel in Ost- und Westeuropa
Tabelle 3: Wandel der Kirchenmitgliedschaft in ausgewählten Ländern Ost- und Ostmitteleuropas ( in %) Polen Slowakei Slowenien Ungarn Ostdeutschland Tschechien Estland Albanien Rumänien Bulgarien Russland
Zuwachs 3 5 3 4 1 4 6 44 4 7 11
Abnahme 5 14 15 11 19 10 8 3 0,5 3 1
Quelle: ISSP 1998, PCE 2000. Frage: „Gehören bzw. gehörten Sie einer Konfession/Religionsgemeinschaft an?“ Antwort: „Jetzt ja, aber früher nicht“ (= Zuwachs); „Früher ja, aber jetzt nicht mehr“ (= Abnahme).
Der Anteil derjenigen, die sich in den letzten Jahren von der Kirche oder Religionsgemeinschaft, der sie einst angehörten, abgewendet haben, liegt in Polen, in der Slowakei, in Slowenien, Ungarn, Ostdeutschland, Tschechien und Estland über dem Anteil derer, die sich einer Religionsgemeinschaft, der sie früher nicht angehörten, angeschlossen haben. In Albanien, Rumänien, Bulgarien und Russland verhält es sich umgekehrt. Bei einer genaueren Betrachtung fällt auf, dass die Verlustrate in denjenigen Ländern über der Zuwachsrate liegt, denen ein höheres ökonomisches Entwicklungsniveau (gemessen zum Beispiel am BIP pro Kopf) attestiert werden kann, während die Zuwachsrate die Verlustrate in den weniger hoch entwickelten Ländern übersteigt. Zieht man für die Entwicklung bis 2007 die Ergebnisse der Aufbruchs-Studie heran, die 1997 erstmals durchgeführt und 2007 wiederholt wurde, so bestätigen diese weitgehend das gewonnene Bild. Zwar sind in die Untersuchung teilweise andere Länder einbezogen, wieder aber zeigen sich eine Zunahme der Kirchenmitgliedschaftsbestände in den höher entwickelten Ländern und eine Abnahme in den geringer entwickelten. In Polen, Kroatien, Litauen, Ungarn, Slowenien und Tschechien wuchs der Anteil der Konfessionslosen an der jeweiligen Gesamtbevölkerung an, in der Ukraine, in der Slowakei und Rumänien sank er dagegen ab oder blieb in etwa gleich.33 Man wird daraus den vorsichtigen Schluss ziehen können, dass diese Daten den Aussagen der Säkularisierungstheorie zumindest nicht widersprechen. 33 Zulehner, Paul M. / Tomka, Miklos / Naletova, Inna: Religionen und Kirchen in Ost(Mittel) Europa: Entwicklungen seit der Wende. Ostfildern 2008, S. 100.
106 3.2.
Detlef Pollack
Die rituelle Dimension
Auch hinsichtlich der rituellen Dimension sind die Entwicklungstendenzen in den westeuropäischen Gesellschaften eindeutig. Die Beteiligung am kirchlichen Leben ist, wenn der Gottesdienstbesuch als Indikator genommen wird, in allen Ländern Westeuropas rückläufig. In Spanien zum Beispiel sank die Kirchgangsrate von 47 % im Jahr 1980 auf unter 20 % 2008, in Frankreich von 23 % im Jahr 1970 auf etwa 5 % 2008 (vgl. Grafik 2). Selbst in einem so hochkirchlichen Land wie Irland muss die katholische Kirche seit einigen Jahren dramatische Einbrüche im Gottesdienstbesuch hinnehmen. In Westdeutschland machten die wöchentlichen Gottesdienstbesucher 1970 noch 29 % aus, 2008 beliefen sie sich nur noch auf etwa 10 %. 100 90 80
Niederlande
70
Deutschland
60
Italien
50
Dänemark
40
Irland Spanien
30
USA
20
Japan*
10 0 1970
1975
1980
1985
1990
1993
1998
2002
2008
Grafik 2: Kirchgangshäufigkeit (in %) in ausgewählten Ländern Europas, in den USA und Japan Quellen: Norris/Inglehart 2004: 72, ESS 2002, EVS 2008, GSS 2002 – 2008, WVS 2000 – 2005
In Osteuropa sind die Entwicklungstendenzen weniger eindeutig. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus erhöhte sich offenbar die Integrationskraft der Kirchen in fast allen ost- und ostmitteleuropäischen Ländern. Als Nachweis sei exemplarisch die Entwicklung der Kirchgangsrate kurz vor und kurz nach der Wende in Slowenien angeführt – ein Land, das traditionell nicht zu den hochkirchlichen zählt. Wie Tabelle 4 zeigt, nahm selbst in diesem Land der wöchentliche Gottesdienstbesuch unmittelbar nach dem Umbruch deutlich zu, während der Anteil derjenigen zurückging, die nie am Gottesdienst teilnehmen.
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Tabelle 4: Kirchgang in Slowenien 1988 – 1992 (in %) Regelmäßig* Gelegentlich** Nie n=
1988 12,4 44,3 43,3 (2.075)
1990 13,0 47,6 39,4 (2.074)
1992 22,7 41,0 36,3 (1.035)
Quelle: Tosˇ (1993: 28 f.). * = 1x wöchentlich, ** = weniger als 1x in der Woche.
Für die Entwicklung des Kirchgangs bis 2000 liegen uns verlässliche Daten vor, so dass in diesem Fall ein Vergleich zwischen unterschiedlichen Zeitpunkten und darüber hinaus sogar zwischen den Ländern möglich ist (vgl. Tabelle 5). Auf den ersten Blick fällt das deutlich höhere Niveau der Kirchgangshäufigkeit in allen mehrheitlich katholischen Ländern wie Polen, Slowenien, Kroatien, Litauen und der Slowakei auf. In den protestantischen Ländern wie Ostdeutschland oder Estland hingegen ist die Kirchgangsrate nicht nur aufgrund der Verkleinerung der Kirchgemeinden niedriger als in den katholischen, sondern auch aufgrund der geringen Beteiligungsbereitschaft selbst derjenigen, die sich noch zur evangelischen Kirche zählen. In mehrheitlich orthodoxen Ländern wie Russland, Bulgarien oder Weißrussland besuchen die Menschen den Gottesdienst ähnlich selten wie in den protestantisch geprägten Ländern. Anders als in Estland oder Ostdeutschland gehört die Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern jedoch der Kirche an. Die mit der Ausnahme Rumäniens weithin verbreitete geringe Beteiligung am gottesdienstlichen Leben in den orthodoxen Ländern scheint insofern ein typisches Merkmal der orthodoxen Kirchenbindung in den heutigen Gesellschaften Osteuropas zu sein. Was die Veränderungen des Kirchenbesuchs im Zeitverlauf angeht, so lassen sich wiederum deutliche Länderdifferenzen beobachten. In den weniger hoch entwickelten Ländern steigt die Kirchgangsrate durchweg an, in den höher entwickelten Ländern wie Polen, Slowenien, Ungarn, Ostdeutschland, Tschechien oder Estland dagegen bleibt sie in etwa gleich oder fällt sogar ab. Wiederum scheint durch diese Entwicklung die Säkularisierungstheorie gestützt zu werden. Tabelle 5: Wandel des Kirchgangs in Osteuropa Polen Slowakei Slowenien Ungarn Ostdeutschland Tschechien
Anfang 1990er 83 40 35 23 6 13
1999/2000 77 43 25 18 6 11
Differenz –6 +3 –10 –5 0 –2
108
Detlef Pollack
(Fortsetzung) Estland Rumänien Bulgarien Russland Lettland Weißrussland Kroatien Litauen
Anfang 1990er
1999/2000
Differenz
7 31 9 6 12 6 41 28
7 36 14 10 15 15 53 32
0 +5 +5 +4 +3 +9 +12 +4
Quelle: Müller, Olaf: Religion in Central and Eastern Europe: Was There a Re-Awakening After the Breakdown of Communism?, in: Pollack, Detlef/Olson, Daniel V. A. (Hg.): The Role of Religion in Modern Societies. New York/London 2008, S. 67. Die Tabelle zeigt den Anteil derjenigen, die mindestens einmal im Monat zur Kirche gehen, an der Gesamtbevölkerung (in %).
70 60
59
62
50
48
45
40 30
27
21
20 10 0
8
10
6
7
1991
1993
Nie Mehrmals im Jahr
26 20
42
29
31
19
19
38 30 21 11
6 1996
7 1999
7 2002
2005
Einmal im Jahr oder weniger Mindestens einmal im Monat
Grafik 3: Häufigkeit des Kirchgangs in Russland 1991 – 2005 (in %) Quelle: Kääriäinen, Kimmo: Religious Change in Russia. Paper Presented at the 2005 SISRConference.
Für die Entwicklung des Kirchgangs nach 2000 haben wir kaum Daten, die für die gesamte ost- und ostmitteleuropäische Region einen verlässlichen Zeitvergleich ermöglichen. Immerhin lässt sich für Russland ein Anstieg der Kirchgangshäufigkeit nachweisen (vgl. Grafik 3). Den Ergebnissen der Aufbruchs-
Religiöser Wandel in Ost- und Westeuropa
109
Studie zufolge hat der Kirchenbesuch zwischen 1997 und 2007 in allen untersuchten Ländern, bis auf die Ukraine, etwas nachgelassen.34
3.3.
Die Überzeugungs- und Erfahrungsdimension
Was den Glauben an Gott angeht, so weist Grafik 4 ebenfalls eine deutlich rückläufige Entwicklung aus. Zwar vollziehen sich die Rückgänge nicht linear. Vielmehr sind sie, vor allem in den 1990er Jahren, durchbrochen von gegenläufigen Prozessen. Insgesamt aber ist die Tendenz in den letzten Jahrzehnten in allen untersuchten westeuropäischen Ländern eindeutig negativ.35 Von einer Renaissance des Religiösen kann also sowohl hinsichtlich der Kirchenzugehörigkeit und der kirchlichen Praxis als auch hinsichtlich des Gottesglaubens in Westeuropa keine Rede sein. In Osteuropa stoßen wir bei der Analyse der Entwicklung des Gottesglaubens wieder auf das uns bereits bekannte Phänom einer religiösen Vitalisierung unmittelbar nach dem Untergang des Staatssozialismus. Betrachten wir die Entwicklung des Glaubens an Gott in der Tschechoslowakei von 1980 bis 1991 (vgl. Tabelle 6), dann findet die Behauptung einer religiösen Renaissance nach dem Ende des Kommunismus durch die Daten ihre Bestätigung. In diesem Land geht die Bejahung atheistischer Positionen nach 1989 deutlich zurück. Tabelle 6: Gottesglaube in der Tschechoslowakei 1980 – 1991 (in %) 1980 1985 1989 1990 1991 Ich glaube an Gott 22 22 23 29 34 26 26 28 31 Ich glaube an die Möglichkeit seiner Existenz 25 Ich glaube nicht an Gott 53 52 51 43 35 Quelle: Misˇovicˇ Misˇovicˇ, Jn: O wztahu CS populace k nabiozenstvi a k Biblii (ein Report des Instituts pro vyzkum verejneho mineni). Prag 1991, S. 9.
Die Entwicklung des Gottesglaubens nach der Periode, die unmittelbar auf den sozialen und politischen Umbruch von 1989 folgte, ist weniger eindeutig zu interpretieren. In einigen ost- und ostmitteleuropäischen Ländern, insbeson34 Zulehner, Paul M. / Tomka, Miklos / Naletova, Inna: Religionen und Kirchen in Ost(Mittel) Europa: Entwicklungen seit der Wende. Ostfildern 2008, S. 105. 35 Anderen Untersuchungen zufolge als denen, die in Grafik 6 zugrunde gelegt wurden, sank der Anteil der Gottesgläubigen auch in den 1990er Jahren. In Westdeutschland zum Beispiel waren es 1991 nach der Allbus-Studie noch 80 % der Westdeutschen, die sich zu irgendeiner Form des Gottesglaubens bekannten, 2002 dagegen nur noch zwei Drittel. Vgl. Allbus: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften. Köln 1991; 2002, Variable 165; sowie Pollack, Detlef: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen 2003, S. 83.
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Detlef Pollack
Glaube an GoG in ausgewählten Ländern Europas, 19472008 90% 85% 80% 75% 70% 65% 60% 55% 50% 45% 40% 1947
1968
1975
1981
1990
1995
2001
Niederlande
Dänemark
West-Deutschland
Belgien
Finnland
Frankreich
2008
Schweiz
Grafik 4: Glaube an Gott im Zeitverlauf in ausgewählten Ländern Westeuropas 1947 – 2008 Quellen: 1947, 1968, 1975 Gallup Opinion Index, 1981 – 2008 World Value Survey, Mannheimer Eurobarometer Trend File 1970 – 1999
dere in Russland und den postsowjetischen sowie in einigen südosteuropäischen Staaten, steigt der Glaube an Gott überproportional an (vgl. Tabelle 7). Beachtliche Zuwächse lassen sich aber auch in Ländern finden, die wie Kroatien, Slowenien oder die Slowakei durch hohe ökonomische Wachstumsraten gekennzeichnet sind. Dennoch scheint es einen Zusammenhang zwischen der Höhe des Glaubenswachstums und der Dynamik der Modernisierungsprozesse zu geben. In Staaten, die ein niedriges ökonomisches Niveau besitzen, etwa in Weißrussland, Bulgarien oder Russland, sind die Zuwächse im Anteil der Gottesgläubigen besonders hoch. In höher entwickelten Ländern, in denen die ökonomische Leistungsfähigkeit sich mit einer gewissen Phasenverzögerung mehr und mehr westeuropäischen Standards annähert, etwa in Tschechien, Estland, Ostdeutschland, Ungarn, Lettland, Litauen und Polen, sind die Zuwächse geringer oder kehren sich sogar in ein Minuswachstum um. Dass das Wachstum auch in Rumänien gering ausfällt, hat mit dem hohen Ausgangsniveau des Glaubens an Gott zu tun, das kaum noch eine Steigerung erfahren kann. Dennoch wird man sagen müssen, dass der Zusammenhang zwischen Modernisierung und Säkularisierung beim Glauben an Gott nicht so klar ausfällt wie beim Wandel des Kirchgangs und der Kirchenmitgliedschaft.
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Religiöser Wandel in Ost- und Westeuropa
Tabelle 7: Glaube an Gott in Ost- und Ostmitteleuropa 1990 – 1999 Polen Slowakei Slowenien Ungarn Ostdeutschland Tschechien Estland Rumänien Bulgarien Russland Lettland Weißrussland Kroatien
1990 97 64 55 59 33 31 – 89 37 35 – 37 –
1995 – 97 – – 64 – 27 – 46 – 60 60 67 68 81
1999 96 76 63 65 30 35 42 93 59 61 72 75 90
Differenz –1 +12 +8 +6 –3 +4 –4 +4 +22 +26 +5 +38 +9
Quelle: Müller Müller, Olaf: Religion in Central and Eastern Europe: Was There a ReAwakening After the Breakdown of Communism?, in: Pollack, Detlef/Olson, Daniel V. A. (Hg.): The Role of Religion in Modern Societies. New York/London 2008, S. 69. Die Tabelle zeigt den Prozentsatz derer, die sagen, sie glauben an Gott.
Eindeutig ist hingegen die subjektive Bewertung der Glaubensentwicklung in einigen ausgewählten ost- und ostmitteleuropäischen Ländern (vgl. Tabelle 8). In diesem Falle wurde der Anteil der Menschen, die sagen, dass sie früher an Gott geglaubt haben, aber jetzt nicht mehr an ihn glauben, dem Anteil derjenigen gegenübergestellt, die von sich sagen, dass sie heute an ihn glauben, aber früher nicht an ihn geglaubt haben. Bei einer derartigen Gegenüberstellung liegt der Anteil der zum Glauben Gekommenen in denjenigen Ländern, die ein geringeres wirtschaftliches Entwicklungsniveau aufweisen, über dem Anteil der vom Glauben Abgefallenen, während es sich in den höher entwickelten Ländern umgekehrt verhält. Nur Estland fällt aus diesem Muster heraus. Die Daten der Aufbruchs-Studie für das Jahrzehnt zwischen 1997 und 2007 besagen, dass der Anteil der Gottgläubigen in allen untersuchten Ländern außer der Ukraine, der Slowakei und Rumänien nicht angestiegen, in einigen wie etwa in Litauen, Tschechien und Slowenien sogar stark gefallen ist.36 Wiederum lässt sich diese Differenz mit dem Modernisierungsgrad in den unterschiedlichen Ländern in Verbindung bringen, wenngleich das wirtschaftliche Wachstum natürlich nicht der einzige Faktor zur Erklärung der hier beobachteten Wandlungsprozesse auf dem religiösen Feld ist.
36 Vgl.: Zulehner, Paul M. / Tomka, Miklos / Naletova, Inna: Religionen und Kirchen in Ost (Mittel)Europa: Entwicklungen seit der Wende. Ostfildern 2008, S. 79.
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Detlef Pollack
Tabelle 8: Wandel des Glaubens an Gott in ausgewählten Ländern Ost- und Ostmitteleuropas (in %) Polen Slowakei Slowenien Ungarn Ostdeutschland Tschechien Estland Albanien Rumänien Bulgarien Russland Lettland
Zuwachs 2 7 5 5 3 5 13 31 3 11 25 29
Abnahme 4 11 14 10 15 10 5 3 1 3 3 3
Quelle: ISSP 1998, PCE 2000.
Wie aber sieht es bezüglich außerchristlicher, nicht-institutionalisierter Formen des Religiösen aus? Sind hier kompensatorisch zu den rückläufigen Entwicklungen im Bereich von Kirchlichkeit und Gottesglaube Prozesse der Revitalisierung des Religiösen zu beobachten? Eine Korrelierung des Glaubens an Spiritualismus (vgl. Grafik 5) mit dem Alter der Befragten zeigt zunächst ein aufgeregtes, gezacktes Bild mit vielen willkürlichen Ausschlägen nach oben und nach unten, was darauf hindeutet, dass es sich dabei nicht um einen stetigen Zusammenhang handelt. Im Großen und Ganzen lässt sich aber feststellen, dass die Bejahung dieser Glaubensform mit steigendem Alter sinkt. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die Bedeutung außerkirchlicher Religiosität in der letzten Zeit angestiegen ist. Bestätigt wird dieses Ergebnis durch einen Blick auf die Veränderungen des Glaubens an den Einfluss der Sterne auf das individuelle Leben – eine Variable, die gleichfalls als Indikator außerkirchlicher Religiosität gelten kann. Leider liegt uns hier nur eine Zeitreihe für Deutschland vor (vgl. Tabelle 9). Diese zeigt für den Zeitraum ab den 80er Jahren eine Erhöhung des Sternenglaubens, auch wenn die Werte 2007 wieder auf das alte Niveau zurückfallen. Wenn wir die Daten für Deutschland verallgemeinern, dann können wir sagen, dass, wie die Individualisierungstheorie behauptet, in der Tat alternative, nichtchristliche Glaubensformen in den letzten Jahren wohl an Signifikanz gewonnen haben. Zugleich müssen wir allerdings hinzufügen, dass diese Entwicklung nicht einlinig verläuft und offenbar sogar rückläufige Tendenzen aufweist. Die höheren Akzeptanzwerte des Spiritualismus unter den jüngeren Alterskohorten können wir also wohl im Sinne eines europaweiten Anstiegs alternativer Glaubensformen in den letzten Jahren auslegen.
113
Religiöser Wandel in Ost- und Westeuropa 35 30 25 20 15 10 5 0 18-29
30-39
40-49
50-59
60-69
70+
Alter Portugal
Irland
Ungarn
KroaUen
Polen
Russland
Estland
Ostdeutschland
Westdeutschland
Finnland
Grafik 5: Spiritualismus (in %) und Alter in ausgewählten Ländern Europas Quelle: VW-Projekt „Church and Religion in an Enlarged Europe“ (2006).
Tabelle 9: Glaube an den Einfluss der Sterne auf das menschliche Schicksal, 1950 – 1995 in Westdeutschland (in %). Frage: Glauben Sie an einen Zusammenhang zwischen dem menschlichen Schicksal und den Sternen?
Ja
1950 30
1956 29
1964 24
1975 24
1982 16
1986 23
1987 27
1995 29
2007 19
Nein Unentschieden
50 20
58 13
60 16
62 14
61 23
59 18
57 16
55 16
68 13
Bedeutet das nun, dass wir es in Europa zwar mit einem Rückgang traditionaler Religiosität zu tun haben, ausgedrückt in Konfessionszugehörigkeit, Kirchgang und Gottesglaube, zugleich aber mit einem Aufschwung außerkirchlicher Religiosität, so dass, wie so oft behauptet37, das Niveau der individuellen Religiosität insgesamt mehr oder weniger gleich bleibt oder sogar steigt? Diese Frage können wir eindeutig mit Nein beantworten. Denn erstens bleibt das Niveau au37 Vgl. Hervieu-L¦ger, DaniÀle: Pilger und Konvertiten: Religion in Bewegung. Würzburg 2004; Davie, Grace: Religion in Britain Since 1945: Believing Without Belonging. Oxford 1994; Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991.
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ßerkirchlicher Religiosität trotz ihres Bedeutungszuwachses relativ gering. Wie die Zahlen in Tabelle 10 ausweisen, überschreitet der Anteil derer, die von solchen Erfahrungen berichten, in der westdeutschen Gesamtbevölkerung in der Regel nicht 2 bis 7 %. Dort, wo die Prozentsätze höher liegen, wie beim Pendeln, Wahrsagen oder Horoskope lesen, halten die Menschen meist nicht viel davon. Trotz des in den Massenmedien vielfach behaupteten Esoterik-, Zen- und Spiritualismus-Booms, liegt die Zustimmung zu diesen Vorstellungen und Praktiken weit unter der Akzeptanz des Glaubens an Gott. Auch in Osteuropa sind die verfügbaren Zahlen nicht sehr hoch (vgl. Tabelle 11). Tabelle 10: Erfahrung mit außerkirchlicher Religiosität in Westdeutschland 2002 Halte von Viel
Etwas
Gar nichts
61,1 61,0
Erfahrung gemacht 2,8 6,0
1,9 4,9
11,5 16,8
20,8 14,2
41,7
5,6
11,5
24,8
16,4
33,1 28,5 24,8 12,4 10,3
2,0 13,5 4,1 5,5 6,5
4,7 8,9 4,0 2,4 4,1
19,6 30,1 26,3 15,4 19,9
37,3 29,6 41,4 67,2 63,5
10,2
21,0
9,2
30,7
47,8
9,0
17,0
3,7
18,3
67,0
3,2
29,1
8,2
39,5
47,2
Unbekannt New Age Anthroposophie, Theosophie Zen-Meditation, Weisheiten Reinkarnation Edelsteinmedizin, Bachblüten Mystik Magie, Spiritismus, Okkultismus Wunderheiler, Geistheiler Pendeln, Wünschelruten Tarot-Karten, Wahrsagen Astrologie, Horoskope Quelle: Allbus 2002.
Tabelle 11: Religiosität außerhalb der Kirche in Ost- und Ostmitteleuropa (2000) Astrologie/ Horoskop Albanien Bulgarien Tschechien Estland Ostdeutschland Ungarn Polen Rumänien
25,0 18,2 17,4 25,6 10,9 24,1 7,9 22,9
Spiritualismus
4 8 12 3 7 4 7
Effekte von Zen-Meditation, Yoga 5,4 8,3 20,7 30,5 12,6 22,7 7,6 11,4
Botschaft des New Age 4,6 2,3 2,0 3,7 1,6 8,1 1,9 2,2
115
Religiöser Wandel in Ost- und Westeuropa
(Fortsetzung)
Russland Slowakei Slowenien
Astrologie/ Horoskop
Spiritualismus
Effekte von Zen-Meditation, Yoga
Botschaft des New Age
46,7 22,1 17,0
25 7 6
34,9 19,2 19,5
7,7 3,2 7,7
Quelle: PCE 2000. Prozentsatz der Befragten, die sagen, sie würden „stark glauben“ und „ziemlich stark glauben“.
Wenn sich mit dem Rückgang von kirchlicher Zugehörigkeit und kirchlicher Praxis ein Zugewinn an außerkirchlichen Religionsformen vollziehen würde, dann müssten – und das ist der zweite Punkt – die Formen traditionaler Religiosität und die Formen außerkirchlicher Religiosität in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stehen. Bei einer Korrelation von traditionalen und außerkirchlichen Formen der Religiosität (vgl. Tabelle 12) zeigt sich jedoch kein signifikanter Zusammenhang oder allenfalls ein tendenziell positiver. Dort, wo der Kirchgang oder der Glaube an Gott zurückgehen, gewinnen also Spiritualismus oder Astrologie nicht an Bedeutung, sondern sind von diesem Bedeutungsverlust partiell selbst betroffen. Obwohl die Zustimmung zu Formen außerkirchlicher Religiosität in den letzten Jahren zugenommen hat, sind die Verluste der traditionalen Religionsformen offenbar so hoch, dass sie durch die Zugewinne alternativer Religiosität nicht kompensiert werden können, ja diese Zugewinne partiell sogar einschränken. Tabelle 12: Korrelationen zwischen Kirchgang, Glaube an Gott und außerkirchlicher Religiosität in ausgewählten Ländern Europas (kumuliert) (2006) Kirchgang Konfessionszugehörigkeit .30 Kirchgang Glaube an Gott Astrologie
Glaube an Gott .45 .34
Astrologie .03 n.s. .06
Spiritualismus .04 .03 .08 .57
Quelle: VW-Projekt „Church and Religion in an Enlarged Europe“ (2006), n.s. = nicht signifikant.
Richtig an der von Individualisierungstheoretikern wie DaniÀle Hervieu-L¦ger, Grace Davie, Thomas Luckmann, Michael Krüggeler und anderen vielfach vorgebrachten Kritik des Säkularisierungstheorems ist, dass es sich bei den religiösen Wandlungsprozessen in Europa nicht einfach nur um einen Verlust an Religiosität und Kirchenbindung, sondern auch um einen Wandel ihrer dominanten Formen handelt. Dieser Wandel, der sich in einem Bedeutungsrückgang traditionaler institutionsgebundener Religiosität und einem Bedeutungsanstieg
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Detlef Pollack
nichttraditionaler, außerkirchlicher Religiositätsvarianten ausdrückt, ist aber selbst Bestandteil des Minorisierungsprozesses von Religion und Kirche. Insofern stellt die These des religiösen Formenwandels nicht eine Infragestellung des Säkularisierungstheorems, sondern eine Bestätigung dieses Theorems dar. Herauszufinden, worin die Ursachen dieses allgemein zu konstatierenden Rückganges individueller Religiosität bestehen, erfordert die Durchführung komplexer Analysen, die hier nicht angestellt werden können. Für den hier gesetzten Rahmen wollen wir uns darauf beschränken, einen Religionsindikator, der für das religiöse Feld in Europa zentral ist, den Gottesglauben mit einem Modernisierungsindikator zu korrelieren: dem Gini-Koeffizienten, der den Grad der sozialen Ungleichheit in einem Land misst. Dabei gilt ein Land als umso moderner, je geringer die soziale Ungleichheit ausgeprägt ist. Bei Benutzung dieses Modernisierungsindikators lassen sich für Europa klare Zusammenhänge mit dem Glauben an Gott beobachten (vgl. Grafik 6). Je geringer die sozialen Unterschiede in einem Land sind, desto geringer ist die Bedeutung, die man dem Glauben an Gott zumisst. Die in Grafik 6 eingezeichneten Punkte bezeichnen die Position von Ländern innerhalb des durch die Variablen „Gottesglaube“ und „Bruttoinlandsprodukt pro Kopf“ gebildeten Koordinatensystems. Der Korrelationskoeffizient beträgt Pearsons r = 0,556. 100% 90%
R2=0,309
80%
Belief in God (%)
70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 0
10000
20000
30000
40000
50000
60000
70000
80000
90000
GDP (PPP) per capita ($)
Grafik 6: Bedeutung des Gottesglaubens und Gini-Koeffizient in den Ländern Europas (2008) Quelle: EVS 2008, WVS 2005 – 2008
Religiöser Wandel in Ost- und Westeuropa
4.
117
Fazit
Damit kann die Säkularisierungsthese nicht als bestätigt angesehen werden. Um zu robusten Resultaten gelangen zu können, wäre es erforderlich, alternative Erklärungsfaktoren wie etwa das Verhältnis zwischen Kirche und Staat, die Ausprägung des religiösen Pluralismus, die Beziehung zu nationalistischen Orientierungen und Praktiken, den Ausbau des Wohlfahrtsstaates oder die Verfügung der Religionsgemeinschaften über finanzielle und personelle Ressourcen ins Spiel zu bringen. Nur dann könnte man den herausgefundenen Zusammenhang daraufhin prüfen, ob er auch unter Kontrolle intervenierender Einflussvariablen erhalten bleibt. Diese anstehende Aufgabe kann im Rahmen des hier vorgelegten Aufsatzes nicht geleistet werden. Die beigebrachten Daten sprechen allerdings dafür, dass der Säkularisierungsthese nach wie vor ein hohes Erklärungspotential zukommt, auch wenn die hier getroffenen Aussagen zu ihrer Befestigung durch weitergehende Analysen ergänzt werden müssten. Zugleich besitzt auch die Individualisierungsthese ein beachtliches Maß an Plausibilität. Prozesse der Individualisierung laufen auf dem religiösen Felde zweifellos ab, sie stehen allerdings nicht im Gegensatz zu sich gleichzeitig vollziehenden Säkularisierungstendenzen, sondern fügen sich in sie ein. Wo Prozesse der Modernisierung auftreten, hat das einen überwiegend negativen Effekt auf religiöse Zugehörigkeiten, Einstellungen und Praktiken. Teilweise sind die hoch individualisierten, synkretistischen Formen alternativer Religiosität, denen eine hohe Kompatibilität mit Merkmalen der Moderne nachgesagt wird, von Modernisierungsprozessen in der Tat nicht negativ betroffen. Ihre Akzeptanz kann parallel zu ablaufenden Prozessen der Modernisierung sogar steigen, wenn auch Formen alternativer Religiosität die Verluste der traditionellen Formen der Religion nicht zu kompensieren vermögen. Insofern lässt sich sagen, dass Säkularisierung der umfassendere Prozess ist, in den sich religiöse Individualisierungsprozesse einfügen. Die Individualisierungsthese geht über die Säkularisierungstheorie allerdings insofern hinaus, als sie auf die mit dem Bedeutungsrückgang des Religiösen verbundene Transformation religiöser Sinnformen aufmerksam macht.
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Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch. Die „Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE)“
1.
Religionszugehörigkeit und europäische Identität. Einleitung
Die Frage nach der kulturellen und religiösen Identität ist eine der zentralen Zukunftsfragen Europas schlechthin. Vor allem im Zuge der politischen Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union in den zurückliegenden zwanzig Jahren und erst recht in den Krisen um die EU-Verfassung sowie zuletzt im Gefolge der Finanz- und Währungskrisen seit 2008/09 ist deutlich geworden, dass die Frage nach dem europäischen Projekt und nach der Einheit Europas (auch über die Grenzen der EU hinaus) immer auch eine Frage nach der Identität dieses Kontinents sowie seiner Staaten und Bevölkerung ist.1 Auf das Engste damit verbunden ist die Frage, welche Rolle Religion in dieser europäischen Identität spielt.2 Wie kann, soll und darf Religion zur europäischen Identität 1 Vgl.: Tibi, Bassam: Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft. München 1998; R¦mond, Ren¦: Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart. München 2000; Meyer, Thomas: Die Identität Europas. Der EU eine Seele? Frankfurt am Main 2004; Altermatt, Urs / Delgado, Mariano / Vergauwen, Guido (Hg.): Europa: Ein christliches Projekt? Beiträge zum Verhältnis von Religion und europäischer Identität. Stuttgart 2007; Buchstab, Günter / Uertz, Rudolf (Hg.): Was eint Europa? Christentum und kulturelle Identität. Freiburg 2008; Leisse, Olaf: Europa zwischen Nationalstaat und Integration. Wiesbaden 2009; Glockner, Andrea: Cultural versus Multiple Identities? Applying Political and Cultural Identity Approaches to the Question of Multiple Identification in the European Union, in: Marloes Beers / Jenny Raflik (Hg.): Cultures nationales et identit¦ communautaire. Un d¦fi pour l’Europe? = National cultures and common identity : a challenge for Europe? Bruxelles / New York 2010, S. 27 – 38. 2 Vgl.: Kallscheuer, Otto (Hg.): Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus. Frankfurt am Main 1996; Weninger, Michael H.: Europa ohne Gott? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen, Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften. Baden-Baden 2007; Kallscheuer, Otto: European Integration – Christian Identity – Religious Pluralism, in: Jürgen Gebhardt (Hg.): Religious cultures – communities of belief. Heidelberg 2009, S. 57 – 73; Leustean, Lucie / Madeley, John T. S.: Religion, politics and law in the European Union. London 2010; Liedhegener, Antonius / Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.): Europäische Religionspolitik. Religiöse Identitätsbezüge, rechtliche Regelungen und politische Ausgestaltung. Wiesbaden 2013.
122
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
beitragen? Und wie macht sie das schon heute in Zivilgesellschaft und Politik – auf nationaler wie europäischer Ebene? Über den zivilgesellschaftlichen und politischen Einfluss der Religionen in Europa wird in Öffentlichkeit und Wissenschaft rege diskutiert, und die Meinungen gehen weit auseinander. In dieser Auseinandersetzung bringt jede Seite ihre qualitativen und quantitativen Argumente für oder gegen eine öffentliche Rolle von Religion ins Spiel. Gerade in jenen politischen und zivilgesellschaftlichen Diskursen, in denen die Frage der europäischen Identität letztendlich ausgehandelt wird, werden die qualitativen Argumente oft mit quantitativen Aussagen zum gegenwärtigen Status von Religion und Glaube untermauert, um der eigenen Position Gewicht und Legitimation zu verschaffen. Zahlen und Statistiken zur Religionszugehörigkeit der Bevölkerung gewinnen dadurch – wie schon in vielen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts – rasch eine eminent politische Qualität. Dabei widersprechen sich aber die vorgebrachten quantitativen Belege häufig. So besteht im schlimmsten Fall die Tendenz, politische Aussagen und Entscheide schließlich aufgrund irgendwelcher Zahlen irgendwie zu fällen. Die Frage nach der Religion und ihrem Beitrag zur europäischen Integration darf aber nicht irgendwie beantwortet werden. Am auffälligsten tritt dieser politische Charakter religionsstatistischer Angaben immer dann zu Tage, wenn es um den Islam und die Höhe des Bevölkerungsanteils der Mitglieder muslimischer Gemeinschaften geht.3 Im Kontrast zur politischen Debatte über Religion in der Öffentlichkeit und damit zur gesellschaftlichen und politischen Bedeutung von Religionszugehörigkeiten hat die sozialwissenschaftliche Forschung in Europa der Frage nach verlässlichen Angaben zur Religionszugehörigkeit bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der vorliegende Beitrag macht dies zunächst sichtbar. Vor diesem Hintergrund werden erste Ergebnisse der eigenen Forschungen präsentiert, die das Problem der fehlenden Religionsstatistiken für Europa erstmals durch einen umfassenden und systematischen Vergleich vorliegender Quellen, Daten und Statistiken in Angriff nimmt. Ergebnis dieser Forschung ist die Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe / Schweizer Metadatenbank der Religionszugehörigkeit in Europa, kurz SMRE. Die vorzustellende SMRE ist ein Ergebnis des Teilprojekts 4 „Europas Religionen und religiöse Organisationen als zivilgesellschaftliche und politische Akteure“ des universitären Forschungsschwerpunkt „Religion und gesellschaftliche Integration in Europa 3 Brown, Mark: „Quantifying the Muslim Population in Europe: Conceptual and Data Issues“, in: International Journal of Social Research Methodology 3/2 (2000), S. 87 – 101; Peach, Ceri: „Muslim Population of Europe: A Brief Overview of Demographic Trends and Socioeconomic Integration, with Particular Reference to Britain“, in: Angenendt, Steffen (ed.): Muslim integration. Challenging conventional wisdom in Europe and the United States. Washington, DC 2007.
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
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(REGIE)“ der Universität Luzern. Die SMRE hat zahlreiche, vorliegende Angaben zur Religionszugehörigkeit zusammengetragen und vergleichend systematisiert. Wo es die Datenlage erlaubt, liefert sie für die erfassten 42 europäischen Staaten einschließlich der Türkei eine Klassifikation der Länder nach Pluralisierungsgrad und Mehrheitsreligion für die Berichtszeiträume 2000 und 2010 und schätzt auf Basis des Datenvergleichs die Zuverlässigkeit dieser Aussagen.
2.
Das Forschungsproblem: einander widersprechende Religionsstatistiken und fehlende Datensicherheit
2.1.
Gesamteuropäische Religionsstatistik: Stand der Forschung
Voraussetzung für einen sachlich fundierten Umgang mit Fragen rund um Religion in Europa ist ein gesicherter empirischer Kenntnisstand. Das heißt zuerst und vor allem zu wissen, wie sich die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Religionen und Konfessionen in Europa statistisch darstellt. Dass auf dieses soziodemographische Grunddatum immer wieder Bezug genommen wird, hat vor allem zwei Gründe: Erstens war und ist die Religionszugehörigkeit im weiten Feld möglicher statistischer Indikatoren zu Religion und Religiosität das einzige Kriterium, das mehr oder weniger flächendeckend sowohl in repräsentativen Meinungsumfragen als auch in Volkszählungen erhoben wird. Religionszugehörigkeit gilt als ein wichtiges Merkmal der Sozialstruktur. Und zweitens drückt sich in der Antwort auf die Frage nach der Religionszugehörigkeit auf die eine oder andere Art immer auch eine (z. T. politisch relevante) Beziehung oder ein Bekenntnis von Individuen zu einer Religionsgemeinschaft aus. Und immer dann, wenn religiöse Institutionen als zivilgesellschaftliche Akteure auftreten, stellt sich politisch fast zwangsläufig die Frage, wie viele Mitglieder sie vertreten. Denn politisch macht es einen Unterschied, ob eine Institution nur eine Minderheit oder aber eine breite Bevölkerungsgruppe vertritt. Im Grundsatz dürfte es daher unstrittig sein, dass verlässliche Zahlen zur Religionszugehörigkeit in Europa unentbehrlich sind. Praktisch haben sich die Dinge aber bislang gänzlich anders dargestellt. Am Anfang der Forschungen zur SMRE stand eine Entdeckung. Beim Versuch, einen verlässlichen Überblick über die Auswirkungen der Erweiterung der Europäischen Union auf die zahlenmäßige Zusammensetzung der Mitgliedsländer und der EU nach der Religionszugehörigkeit zu geben, erwies sich dieses Vorhaben als sperrig und von politischen Einschätzungen und Zielvorstellungen durch-
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Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
zogen.4 Von Anfang an war bekannt, dass die Europäische Union selbst keine offizielle Statistik der Bevölkerung nach Religionszugehörigkeit führt. In der Literatur fanden sich zwar Zahlenangaben, die den Katholiken eine Mehrheit an der EU-Bevölkerung attestierten, aber für diese Statistik fehlte die Quellenangabe.5 Das wichtigste deutschsprachige Werk der empirischen Sozialforschung zu den kulturellen Grundlagen der EU griff auf Umfragedaten zurück, die ein deutlich säkulareres Europa vorstellten und entsprechend interpretiert wurden.6 So zeigte sich, dass sich „verlässliche Zahlen zur Religionszugehörigkeit der Europäischen Union flächendeckend nicht beibringen“ lassen.7 Daran hat sich bislang nichts geändert. Die verdienstvollen Angaben zur religiösen Landschaft in Europa im Internetportal eurel8 liefern Länderangaben unterschiedlicher Qualität. Die Angaben sind aber weder vollständig noch – und das ist gravierender – sind sie ländervergleichend aufbereitet. Dieser Mangel an vergleichbaren Religionsstatistiken ist auch anderen Forschenden nicht verborgen geblieben. So findet man in der Sekundärliteratur hin und wieder einzelne Tabellen, die versuchen, zumindest für die wichtigsten Länder Europas Zahlen zur Religionszugehörigkeit vergleichend zusammenzustellen.9 Die Quellenangaben zu den Zahlen dieser Tabellen zeigen, dass ihre Datengrundlage äußerst heterogen ist. Wie in der Vergleichenden Politikwissenschaft mittlerweile recht verbreitet, wird insbesondere der Fischer Weltalmanach als schnell greifbarer Datenlieferant für Länderstatistiken herangezogen. Ein Blick in diesen Almanach zeigt aber, dass er keine Quellenangaben zu den Zahlen seiner Religionsstatistik macht. In der englischsprachigen Forschung erfreut sich die Enzyclopedia Britannica ähnliche 4 Vgl.: Liedhegener, Antonius / Gerstenhauer, Daniel: „Auf dem Weg zu einem kooperativen Verhältnis. Religion und die Vertiefung der Europäischen Union“, in: Olaf Leisse (Hg.): Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon. Wiesbaden 2010, S. 161 – 164. 5 Vgl.: Robbers, Gerhard: Staat und Kirche in der Europäischen Union, in: Gerhard Robbers (Hg.): Staat und Kirche in der Europäischen Union. Baden-Baden 2005, S. 630; ders. (Hg.): Staat und Kirche in der Europäischen Union. Baden-Baden 2005, S. 578. 6 Vgl.: Gerhards, Jürgen: Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union. Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei. Wiesbaden 2006, S. 66 ff. 7 Vgl.: Liedhegener, Antonius / Gerstenhauer, Daniel: „Auf dem Weg zu einem kooperativen Verhältnis. Religion und die Vertiefung der Europäischen Union“, in: Olaf Leisse (Hg.): Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon. Wiesbaden 2010, S. 161. 8 Verfügbar unter : http://www.eurel.info/?lang=en [25. 11. 2013]. 9 Minkenberg, Michael: „Democracy and Religion: Theoretical and Empirical Observations on the Relationship between Christianity, Islam and Liberal Democracy“, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 33/3 (2007), pp. 898 f.; id.: Religious Legacies and the Politics of Multiculturalism: A Comparative Analysis of Integration Policies in Western Democracies. Ed. by Ford Institute for Human Security’s working group on Matthew B. Ridgway Center (2007), p.5; id.: „Church, state and the politics of citizenship. A comparative study of 19 Western democracies“, in: Jeffrey Haynes (Hg.): Religion and politics in Europe, the Middle East and North Africa. London / New York 2010, S. 26 f.
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
125
Beliebtheit. Sie liefert die religionsstatistischen Rohdaten zur Berechnung komplexerer Maßzahlen, die dann in der weiteren Forschung übernommen werden und wiederum komplexere statistische Modelle eingehen.10 Die Encyclopaedia Britannica selbst hat jedoch ihre Daten aus einer Quelle gewonnen, die sich nicht nur unter Religionswissenschaftlern einer weiten Verbreitung erfreut, sondern die auch ihre ganz besonderen Eigenheiten hat: die in zwei Auflagen erschienene World Christian Encyclopedia (WCE)11. Sie wird mittlerweile als World Christian Database (WRD12) internetbasiert weitergeführt und ist gegen Bezahlung zugänglich. Die in der Literatur vorfindlichen Tabellen und Statistiken zur Religionszugehörigkeit in Europa – das zeigen die Beispiele – gehen oftmals so verschlungene Wege, dass die ursprüngliche Herkunft der Daten nicht mehr bewusst oder bekannt und damit oft nicht mehr nachvollziehbar ist. Das Problem fehlender verlässlicher Religionsstatistiken ist auf der anderen Seite des Atlantiks auch dem PEW Research Center, einem privat von der PEW Foundation finanzierten Think Tank in Washington, aufgefallen. Das PEW Research Center arbeitet seit einigen Jahren an einer weltweiten Religionsstatistik. Ende 2012 hat es in seinem Report The Global Religious Landscape u. a. auf der Grundlage der World Religion Database (WRD) (http://www.worldreligiondatabase.org) Zahlen veröffentlicht, die für jedes Land der Erde eine Religionsstatistik liefern (PEW 2012). Die World Religion Database beruht ihrerseits auf den Zahlen der World Christian Database. Die Inspektion der Daten der ebenfalls gegen Gebühr zugänglichen World Religion Database zeigt diesen Zusammenhang. Zugleich ist dieser Zusammenhang auch personell vermittelt: Brian J. Grim ist nicht nur Mitherausgeber beider Datenbanken, der WCD und der WRD, sondern bei PEW auch verantwortlich für globale Religionsstatistiken. Ähnlich wie die SMRE beruhen also auch die aktuellen PEW-Daten im technischen Sinne auf einer Metadatenbank, die Daten unterschiedlicher Provenienz zusammengetragen hat. Ähnlich wie in der SMRE liegen dort Zahlen aus Bevölkerungszählungen, Surveys und anderen Quellen vor. Für die PEW-Daten sind dabei die World Christian Enzyclopedia bzw. deren Datenbank, die WCD, ein zentraler
10 Vgl.: Alesina, Alberto / Devleeschauwer, Arnaud / Easterly, William / Kurlat, Sergio / Wacziarg, Romain: „Fractionalization“, in: Journal of economic growth 8/2 (2003), pp. 155 – 194; Traunmüller, Richard: „Religion und Sozialintegration. Eine empirische Analyse der religiösen Grundlagen sozialen Kapitals“, in: Berliner Journal für Soziologie 19/3 (2009), S. 435 – 468. Zur Problematik von komplexen Verfahren bei unsicherer Datenlage vgl.: King, Gary : „On Political Methodology“, in: Political Analysis 2 (1990), p.11. 11 Zuletzt: Barrett, David B. / Kurian, George T. / Johnson, Todd M.: World Christian Encyclopedia, Oxford 2001. 12 Verfügbar unter : http://www.worldchristiandatabase.org/ [25. 11. 2013].
126
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
Datenlieferant. Und in der Tat ist die WCD für die empirische Religionsforschung im weltweiten Maßstab derzeit unumgänglich.13 Die Anfänge dieses wertvollen Datenbestands der WCE/WCD reichen bis in die 1950er Jahre zurück. Die in der World Christian Encyclopedia zusammengetragenen Daten stammen im Wesentlichen aus Länderberichten christlicher, meist US-amerikanischer Missionare. Der ursprüngliche Zweck der Sammlung ist es, eine empirisch-statistische Grundlage für die Mission zu erlangen – es wird u. a. eine Kennzahl berechnet, die zeigt, wie viel eine Bekehrung in USDollar in jedem Land kostet – und zu dokumentieren, wer am Jüngsten Tag zur Zahl der Christen zu rechnen ist. Erstaunlich vielfältig ist die Kategorisierung der Religionen allgemein und insbesondere des Christentums und seiner Ausprägungen. So kennt die WCE zum Beispiel die Kategorie der radio christians. Sie erfasst darunter Menschen, die in totalitären bzw. atheistischen Ländern ihren Glauben allein durch den Empfang von (westlichen) Radiosendungen bekunden und praktizieren können. In der angelsächsischen Forschung hat es daher immer wieder Kritik an dieser Datenbasis gegeben, die der WCE/WCD eine systematische Verzerrung zugunsten des Christentums aufgrund ihres weltanschaulichen Hintergrunds vorwirft. Diese Kritik konnten die Hauptverantwortlichen der WCE aufgreifen und zumindest in Teilen entkräften.14 Für Europa zeigen die Daten der SMRE, die auch die Daten der WCE/WCD berücksichtigt, dass die WCD für eine ganze Reihe von Ländern in der Tat sehr plausible Angaben liefert.15 Grundlegend ist aber ein anderes Problem. Anders als bei den im Folgenden vorgelegten Ergebnissen auf Basis der SMRE ist bei den publizierten Daten der PEW-Stiftung nicht mehr nachvollziehbar, wie und warum die jeweiligen Länderdaten ausgewählt wurden. Diese Auswahl ist aber in vielen Fällen kritisch, da die verfügbaren Daten unterschiedlicher Provenienz in höchst unterschiedliche Richtungen weisen. Demonstriert sei dies hier anhand der SMRE-Daten am Beispiel Frankreich. Je nach Datenquelle erscheint Frankreich als ein mehrheitlich katholisches oder aber hochgradig säkulares Land (vgl. Tab. 1). Hinsichtlich der Quellenlage und Datenaufbereitung sind beide Metadatenbanken also vergleichbar. PEW geht aber insofern weiter, als dass eigene 13 Vgl. die Daten von: Melton, J. Gordon / Baumann, Martin (Hg.): Religions of the World: A Comprehensive Encyclopedia of Beliefs and Practices. 4 Bde. Santa Barbara, CA 2002. 14 Hsu, Becky : „Estimating the Religious Composition of All Nations: An Empirical Assessment of the World Christian Database“, in: Journal for the Scientific Study of Religion 47/4 (2008), S. 678 – 693. 15 Diese Daten lassen sich allerdings der WCE/WCD nicht ohne weiteres entnehmen, da deren Kategorienschema äußerst differenziert ist und die Aufsummierungen der einzelnen Kategorien in der Quelle in den Einzelheiten nicht bis ins Letzte nachvollziehbar sind. Zum Kategoriensystem der SMRE, das von der Beschäftigung mit der WCE/WCD sehr profitiert hat, vgl. unten den technischen Appendix C.
127
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
Schätzungen und Zahlen zu allen Ländern vorgelegt werden. Eine Qualitätsbewertung der Daten wird nicht explizit vorgenommen. Angesichts der in vielen Fällen sehr großen, hier am Fall Frankreich demonstrierten Differenzen in den verfügbaren Statistiken und Datenquellen, verfolgt die SMRE eine andere Strategie: Wenn die Datenlage ausreicht, klassiert sie die Länder anhand des Zahlenmaterials in drei grobe, anhand von qualitativen Überlegungen festgelegte Ländergruppen und weist ansonsten jene Länder wie Frankreich, in denen die Datenlage so problematisch oder ungenügend ist, dass selbst eine grobe Klassifizierung mit guten Gründen nicht vorgenommen werden kann, getrennt aus. Datensatz CIA World Factbook
K P 83.0 – 2.0 88.0
O
WCh
J 1.0
M 7.5
kR 4.0
S 1.0
Encyclopaedia Brit. 2001 63.4 eurel 1999 (A. Zwilling) 91.9
1.2 2.4
0.7
1.0 2.4
6.9 0.2
19.0
1.9
5.4 0.6
eurel 2003 (A. Zwilling) EVS 1999
65.0 44.8
2.0 1.3
0.3
0.0
1.0 0.6
5.0 3.1
25.0 48.9
2.0 1.1
FWA 2009 Gerhards 2006
75.0 52.7
1.3
1.2
ISSP 2008 Minkenberg 2010
51.5 78.8
1.3 1.6
0.3 0.3
0.0
PEW (GC & GMP) 2012 RM 2008
60.4 58.0
1.8 0.6
0.6
WCD 2012 WCE 2010
71.8 82.3
2.1 1.6
1.2 1.1
0.1
42.6
2.1
0.7 1.1
0.9 8.5
44.8
0.7 9.7
0.2 2.4
0.0
7.5 3.0
34.0
2.0
2.9 0.0
1.0 1.0
8.5 7.1
23.0 19.7
1.7 1.5
WRD 2010 1.0 8.5 23.0 1.7 Tabelle 1: Daten der SMRE zu Frankreich; Alle Angaben in Prozent; K: Katholiken; P: Protestanten; O: Orthodoxe; WCh: weitere Christen; J: Juden; M: Muslime; kR: keine Religionszugehörigkeit; S: Sonstige; Quelle: eigene Darstellung auf Datenbasis der SMRE.
2.2.
Systematisierung von Fehlerquellen in den untersuchten Datenbeständen und Quellen
Woher stammen die massiven Unterschiede und Abweichungen in den religionsstatistischen Angaben? Die Antwort auf diese Frage ist zentral, wenn man daran interessiert ist, die Verlässlichkeit voneinander abweichender Zahlen zu bewerten. Eine systematische Sichtung der Datenquellen für die SMRE ergab, dass die Fehlerquellen vielfältig sind und zum Teil sogar in Kombinationen
128
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
auftreten. Insgesamt lassen sich die Mängel in den vorliegenden Tabellen und Statistiken wie folgt systematisieren: Tipp- und Rechenfehler sind weiter verbreitet, als man denkt. Sie führen zu erheblichen Fehlern in der Gesamtstatistik einer Tabelle oder Grafik, was sich meist daran zeigt, dass die Summe der Anteile aller Religionsgemeinschaften deutlich von 100 Prozent abweicht bzw. in absoluten Zahlen die Summe der Mitglieder der Religionsgemeinschaften nicht mit der Einwohnerzahl insgesamt übereinstimmt. Bei einigen Statistiken ist die Qualität der Daten an sich schlecht. So sind manche Statistiken falsch oder unvollständig, weil grundlegende Kategorien fehlen oder weil für einige, meist kleinere Religionsgemeinschaften keine numerischen Angaben gemacht werden, sondern nur nominal deklariert wird, dass diese Religionsgemeinschaft vorhanden sei (so wiederholt im Fischer Weltalmanach oder im CIA World Factbook). Unterschiedliche Kategorisierungen der religiösen Gemeinschaften und Traditionen führen zu Problemen der Vergleichbarkeit. Für alle Religionsstatistiken stellen sich zwei Fragen, die erheblichen Einfluss auf die Zahlenverhältnisse haben können: Was und wer soll als Religionsgemeinschaft gezählt werden? Und wie werden die übergeordneten Kategorien wie Protestanten oder Sonstige definiert und welche Religionsgemeinschaft zählt zu welcher Kategorie? Auch unterschiedliche Fragestellungen in den Fragebogen führen vor allem bei Meinungsumfragen zu entsprechend unterschiedlichen Resultaten. In den Fragebogen trifft man auf unterschiedliche Techniken zur Erhebung der Religionszugehörigkeit. So wird erstens die Religionszugehörigkeit entweder offen oder geschlossen abgefragt. Bei geschlossenen Fragen werden den Befragten die Antwortmöglichkeiten, d. h. hier die Kategorien der Religionsstatistik, fest vorgegeben, und die Befragten müssen sich selbst zuordnen, sofern sie die Antwort nicht verweigern wollen. Bei offenen Fragen können die Befragten ihre Antwort frei formulieren und daher eine ihrem Alltagsverständnis entsprechende Religionszugehörigkeit selbst bestimmen bzw. angeben. Manchmal wird auch beides kombiniert, indem Kategorien vorgeschlagen werden und zugleich die Möglichkeit geboten wird, eine andere Religionszugehörigkeit in eigenen Worten anzugeben. Zweitens kann die Religionszugehörigkeit einstufig oder zweistufig erfragt werden. Bei einer einstufigen Frage wird direkt die Religionszugehörigkeit abgerufen. Bei einer zweistufigen Befragung wird zuerst gefragt, ob generell eine Zugehörigkeit besteht oder nicht. Nur diejenigen, die der allgemeinen Frage nach einer Mitgliedschaft zugestimmt haben, werden dann nach ihrer speziellen Konfession bzw. Religion befragt. Und drittens kann die Frage nach der Religionszugehörigkeit inhaltlich unterschiedlich gestellt werden. So wird gefragt: Sind Sie Mitglied einer Religionsgemeinschaft, Religion, Denomination, Konfession? Oder : Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an?
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
129
Oder aber : Fühlen Sie sich einer Religion zugehörig? Je nach Formulierung der Frage wird eher eine formelle Mitgliedschaft, eine explizite Selbstbezeichnung (kollektive Identität) oder das persönliche Gefühl des Dazugehörens (individuelle Identität) abgefragt. Hier bildet sich nicht nur ein je nach Umfrage bzw. Autor unterschiedliches Verständnis von religiöser Zugehörigkeit ab (vgl. dazu unten den Abschnitt Religionszugehörigkeit); solch unterschiedliche Fragestellungen liefern selbstredend auch unterschiedliche quantitative Ergebnisse. Die Surveys EVS und ESS weisen beide aufgrund der Zweistufigkeit der Fragestellung im Vergleich zu anderen Datenquellen eine höhere Anzahl von Personen ohne Religionszugehörigkeit aus. Beim ESS ist der Wert aber aufgrund der speziellen Fragestellung nochmals höher als beim EVS.16 Die Frage nach der gefühlten, subjektiven Religionszugehörigkeit liefert in vielen Ländern Europas einerseits deutlich niedrigere Anteile der großen Kirchen und Religionsgemeinschaften und andererseits größere Werte für den Anteil der Religionslosen als die Frage nach der Mitgliedschaft. Weitere Fehler können sich bei der Zusammenstellung und Auswertung der Daten ergeben. Ein Beispiel: Erhebt ein Survey die Religionszugehörigkeit zweistufig, müssen die Ergebnisse beider Antworten miteinander verrechnet werden. Wird aber die Statistik der Religionszugehörigkeit nur auf der Basis der zweiten, speziellen Frage zur Religion errechnet, fehlen die Personen ohne Religionszugehörigkeit in der Grundgesamtheit und die Anteilsziffern der Religionsgemeinschaften sind dementsprechend überhöht, weil sie falsch berechnet wurden. Diese möglichen methodischen, keineswegs nur für die Religionsstatistik allein einschlägigen Fehler sind oft gepaart mit einem zu großen Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der vorliegenden Quellen. So werden Daten zur Religionszugehörigkeit vielfach unkritisch übernommen, ohne den Datenursprung, die Datenqualität und ggf. auch die Motivation der entsprechenden Autoren zu erkunden. In der Konsequenz muss man daher für die Gegenwart in Europa davon ausgehen, dass viele der vorgetragenen Argumentationen zu Religionszugehörigkeit und religiöser Pluralisierung statistisch nicht hinreichend abgestützt sind.
2.3.
Strategien für verlässliche Zahlen
Es gibt zwei Strategien, um eine solche unreflektierte Verwendung von mehr oder weniger kritischen Daten zu vermeiden bzw. zu überwinden. Erstens 16 Die Eingangsfrage beim EVS lautet: „Do you belong to a religious denomination?“ (EVS, 6). Zum ESS ausführlicher im Absatz Religionszugehörigkeit weiter unten.
130
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
könnte eine europaweit einheitliche Volkszählung für eine gemeinsame Datenbasis sorgen. Mit dem Abschied vieler Länder von der klassischen Volkszählung als Totalerhebung, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, zugunsten von Mikrozensus und Registervergleichen ist aber selbst in jenen Ländern, in denen die Religionszugehörigkeit erhoben wird, die Datenlage schlechter geworden. So liefert etwa die jüngste Volkszählung der Schweiz religionsstatistische Angaben nur für die Bevölkerung über 15 Jahren.17 Damit sind die Daten mit den Angaben der letzten klassischen Volkszählung von 2000 nicht nur nicht mehr direkt vergleichbar, sondern liefern auch keine Religionsstatistik für die Wohnbevölkerung der Schweiz insgesamt. Gerade wenn man ernsthaft daran interessiert ist, den kleineren Religionsgemeinschaften gerecht zu werden und die Zahl ihrer Anhänger halbwegs akkurat zu erfassen, geht kein Weg an der klassischen Volkszählung vorbei.18 Öffentlichkeit und Staat haben ein legitimes Interesse an Religionszugehörigkeit im Sinne von institutionellen Zugehörigkeits- bzw. Mitgliedschaftsverhältnissen, nicht aber an der Religiosität seiner Bürgerinnen und Bürger. Darum kann die Forschung den Wunsch nach vernünftigen, Allgemeininteresse und Privatsphäre in Einklang bringenden, akkuraten Volkszählungen zur Religionszugehörigkeit nur an die Politik und deren statistische Ämter adressieren. Nur dort sind die rechtlichen, finanziellen und administrativen Ressourcen vorhanden, diese Art von grundlegender Datenerhebung durchzuführen. Die zweite Strategie besteht darin, die Datenkritik und Datenqualität durch komparative Aufbereitung verfügbaren Datenmaterials zu verbessern. In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird dieser Weg zunehmend beschritten. So stützen sich Prognosen in der Wahlforschung mittlerweile nicht mehr nur auf eine einzige Umfrage. Vielmehr verfolgt man die Strategie, mehrere Umfrageresultate zu poolen und aus deren Vergleich bessere, d. h. den realen Einstellungen und Wahlabsichten näher kommende Statistiken zu gewinnen.19 Außerdem etablieren sich allmählich Gütekriterien für international vergleichende Datensätze in der Sozialforschung, welche die Qualität von Datensätzen und 17 Hinzuweisen ist auch darauf, dass die Erhebung per Stichprobe dazu führt, dass schon auf der Ebene der Kantone Fehlermargen zu berücksichtigen sind, die für nach ihrer Einwohnerzahl kleine und mittlere Kantone dazu führen, dass keine verlässlichen statistischen Angaben zur Religionszugehörigkeit mehr möglich sind. 18 Damit ist selbstverständlich nicht behauptet, dass eine solche Volkszählung wahre Zahlen liefert. Auch hier sind Fehlerquellen nicht ganz auszuschließen. Insbesondere Volkszählungen aus autoritären oder diktatorischen Staaten sind mit großer Vorsicht zu betrachten, insbesondere wenn das Thema Religionszugehörigkeit politisch aufgeladen ist. In freien, demokratischen Gesellschaften ist nach allem, was wir wissen, die Datenqualität von Volkszählungen im Vergleich zu Repräsentativbefragungen für das Kriterium der Religionszugehörigkeit die bessere. 19 Vgl.: http://www.pollyvote.com/ [25. 11. 2013].
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
131
Datenbanken einzuschätzen helfen20. Die Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE) verfolgt diesen Ansatz der Gewinnung besserer Daten durch Datenkomparatistik. Ihre Anlage und erste Auswertung wird im Folgenden vorgestellt.
3.
Der Forschungsansatz: Die Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE)
Die Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe versammelt möglichst viele Datensätze21 zur religiösen Zugehörigkeit in den europäischen Ländern und vergleicht deren Aussagen kritisch untereinander. Auf dieser Basis eröffnet sich die Möglichkeit, gesicherte qualitative Schlüsse über die Herkunft einzelner Datensätze, über ihre Datenqualität und damit über die Aussagekraft der Daten für die quantitative Situation der Religionszugehörigkeit in den betreffenden Staaten zu ziehen. Die SMRE erlaubt es, durch den Datenvergleich für jedes Land zu entscheiden, ob eine Aussage zur Religionszugehörigkeit möglich ist, und wenn ja, mit welcher Datensicherheit zu rechnen ist. Auf dieser Basis kann für viele, aber nicht für alle Länder, eine Einschätzung vorgenommen werden, wie sich die Größenverhältnisse zwischen den Religionsgemeinschaften einschließlich derjenigen ohne Religionszugehörigkeit grob darstellen und welcher Grad an Pluralisierung der Religionslandschaft jeweils vorliegt. Diese Aussagen werden im Folgenden hergeleitet und im Ergebnisteil vorgestellt. In einem zweiten zukünftigen Schritt der Auswertung der SMRE sollen, sofern sich dies als möglich erweist, exakte, überprüfbare numerische Angaben zur Religionszugehörigkeit in Europa vorgelegt werden, welche die erforderliche Reliabilität und Validität aufweisen, um den tatsächlichen Verhältnissen in der Sozialstruktur des Landes annährend zu entsprechen.
20 Müller, Thomas / Pickel, Susanne: Wie lässt sich Demokratie am besten messen? Zur Konzeptqualität von Demokratie-Indizes, in: Politische Vierteljahresschrift (48) 2007, S. 511 – 539. Traunmüller, Richard: Zur Messung von Staat Kirche Beziehungen: Eine vergleichende Analyse neuerer Indizes. In: ZfVP: DOI 10.1007/s12286 012 0127 4. 2012. 21 Die Komplexität dieser Datenbank macht es nötig, einige technische Begriffe zu verwenden. Bei der ersten Nennung sind diese Begriffe im Text in Kapitälchen gesetzt. Um den Text nicht mit technischen Definitionen zu überladen, sind diese im Anhang dargelegt worden. Appendix A bietet die Nomenklatur der Datenbank und es wird empfohlen, diese zu lesen und/ oder bei Verständnisschwierigkeiten zu konsultieren.
132 3.1.
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
Religionszugehörigkeit: zu den begrifflichen und konzeptionellen Grundlagen eines grundlegenden Begriffs der Soziodemographie
Die Messung bzw. statistische Erfassung von Religionszugehörigkeit ist nicht nur technisch, sondern auch konzeptionell durchaus voraussetzungsreicher als es auf den ersten Blick scheinen mag.22 Religionszugehörigkeit ist sozialwissenschaftlich betrachtet ein Konstrukt, das objektive und subjektive Zugehörigkeitszuschreibungen vereint. Objektive Religionszugehörigkeit meint im europäischen Kontext zunächst die institutionelle bzw. rechtlich relevante Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe, was in einigen Staaten Europas bekanntlich bis zur Begründung einer staatlich vollziehbaren Steuerpflicht reichen kann. Historisch ist die Religionszugehörigkeit durch die großen christlichen Kirchen geprägt, die über Jahrhunderte den institutionellen Rahmen für die Religionszugehörigkeit und damit große Teile der nach Konfession verschiedenen sozialen Identitäten in Europa geliefert haben. Aber auch die historisch jüngeren religiösen Gruppierungen dürften diese Dimension der objektiven Zugehörigkeit der Sache nach kennen, ohne dass diese objektive Religionszugehörigkeit damit automatisch als korporativ-rechtliche auftreten muss. Befragte nicht-christlicher Religionen können sich zu ihrer Religionszugehörigkeit in Umfragen aller europäischen Länder kompetent äußern und gruppieren sich meist umstandslos selbst ein. Und auch Religions- bzw. Konfessionslose nehmen eine solche ,objektive‘ äußerliche Gruppenzuschreibung in Umfragen und Volkszählungen vor, ohne sich damit zu ihrer persönlichen Religiosität zu äußern bzw. äußern zu wollen. In Umfragen sind die Verweigerungsraten zur Frage nach der Religionszugehörigkeit in aller Regel niedrig. Schon eher treten sie bei Volkszählungen in Erscheinung, dann aber wohl aus Gründen der Ablehnung der hoheitlichen Erfassung von persönlichen Daten. In Großbritannien versuchte die Volkszählung von 2001 erstmals seit 1851 die Religionszugehörigkeit zu erfragen. Geschah dies 1851 vor allem, um die Stärke der Dissidenten, d. h. jener freikirchlichen Gruppen und Zusammenschlüsse, die sich von der Anglikanischen Kirche losgesagt hatten, in Erfahrung zu bringen, so versuchte man 2001 vor allem, den Anteil der nichtchristlichen Bevölkerung und insbesondere der Muslime zu erheben. Auf ihre Privatsphäre bedacht, folgten rund 800.000 Briten dem Rat, sich als Mitglieder der religiösen Gemeinschaft der Yedi-Ritter aus den Star-Wars-Filmen zu bezeichnen. 22 Hoffmeyer-Zlotnik, Jürgen H.P. / Wolf, Christof: Comparing Demographic and Socio-Economic Variables across Nations, in: Hoffmeyer-Zlotnik, Jürgen H.P. / Wolf, Christof (Hg.): Advances in Cross- National Comparison. A European Working Book for Demographic and Socio- Economic Variables. New York u. a.2003, S. 389 – 406.
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
133
Anders verhält es sich mit der subjektiven Dimension der Religionszugehörigkeit. Bei ihr geht es um Bindung, um ein gefühltes, emotionales oder gar innerlich verpflichtendes Zugehörigkeitsverhältnis. Einige Standardumfragen der sozialwissenschaftlichen Meinungsforschung fragen gezielt nach Religionszugehörigkeit als Bindung (vgl. oben Abschnitt 1.2). Im Zusammenhang der SMRE ist diese Ausrichtung vor allem für die Bewertung und Einordnung der Daten des European Social Survey (ESS) entscheidend. Dort lautet die Frage explizit: „Fühlen Sie sich einer bestimmten Religionsgemeinschaft zugehörig / Do you consider yourself as belonging to any particular religion or denomination?“ Für die Interviewer wird diese Frage im Final Source Questionnaire zusätzlich ausdrücklich so erläutert: „Identification is meant, not official membership“. Hier geht es also ausdrücklich um eine subjektive Bindung und nicht um institutionelle oder rechtliche Zugehörigkeiten. Es wird explizit etwas anderes gemessen als die objektive Religionszugehörigkeit. Empirisch können die objektive und subjektive Dimension der Religionszugehörigkeit sowohl auf der Ebene der Individuen als auch im Aggregat der Gesellschaft deckungsgleich sein. Faktisch sind sie es in vielen Staaten Europas heute nicht (mehr)! Daher liefern Umfragen, die auf die objektiv-institutionelle oder die subjektiv-emotionale Religionszugehörigkeit abheben, für viele Staaten Europas notwendigerweise stark abweichende statistische Ergebnisse.23 Welche der beiden Dimensionen ist nun die sozialwissenschaftlich relevantere? Das kommt darauf an. Je nach Forschungsfrage kann beides relevant werden. Wir argumentieren aber, dass die objektiv-institutionelle Religionszugehörigkeit auf der Ebene der Sozialstatistik den Vorzug verdient, und zwar aus drei Gründen: Erstens ist die Prägung der europäischen Religionsgeschichte für das Verständnis von Religionszugehörigkeit von eminenter Bedeutung. Die politisch und militärisch erzwungene Konfessionalisierung Europas im Gefolge der Reformation hat dem „cuius regio, eius religio“ des Augsburger Religionsfriedens eine kulturelle Prägekraft verliehen, die – mit gewissen räumlichen und zeitlichen Schwankungen – quer durch Europa bis weit in den Alltag der Bürger eingegriffen hat. Religionszugehörigkeit war eine exklusiv definierte soziale Identität, die für Einzelne wie Gruppen kaum oder gar nicht zu überwinden war. Dieses europäische Prinzip, die konfessionell-religiöse Mitgliedschaft exklusiv zu definieren, wirkt bis heute fort24, etwa in den Ländern mit Kirchensteuer23 Dieser inhaltliche Unterschied von objektiver und subjektiver Religionszugehörigkeit ist erst im Verlauf der Auseinandersetzung mit den zum Teil massiven quantitativen Abweichungen der verarbeiteten Datensätze der SMRE deutlicher hervorgetreten. Dies hatte vor allem Auswirkungen auf den Umgang mit den Daten des ESS; vgl. den Absatz Länderdaten und Datensätze weiter unten. 24 Vgl.: Bochinger, Christoph / Frank, Katharina: Religion, Spiritualität und Säkularität in der
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Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
systemen oder wenn neue religiöse Gruppen sich ebenfalls als exklusive Mitgliederverbände begreifen und beginnen, sich mehr oder weniger kirchenförmig zu organisieren. Und in der Tat geht der Impuls dafür quer durch Europa mindestens ebenso sehr von einer neuen staatlichen Religionspolitik aus wie auch vom Selbstbehauptungswillen zugewanderter religiöser Minderheiten. Zweitens ist die subjektive Religionszugehörigkeit inhaltlich sehr nah an einem anderen, sozialwissenschaftlich gut eingeführten Konstrukt, nämlich dem der Religiosität.25 Sie wird vor allem als subjektive, innerliche Seite von Religion, Glaube und religiösen Aktivitäten verstanden. Die gesellschaftliche Wirkung von Religion lässt sich aber – wie etwa aus der Wahlforschung bekannt ist – nicht allein und in vielen Fällen nicht einmal vorrangig auf Religiosität zurückführen. Vor allem in gemischt-konfessionellen Ländern liefert die Frage nach der (objektiven) Religionszugehörigkeit statistisch gesehen bessere Erklärungen für das Wahlergebnis als die nach der individuellen Religiosität.26 Drittens ist der objektiven vor der subjektiven Religionszugehörigkeit hier der Vorzug zu geben, weil sie ein zentrales Element der Sozialstruktur einer Gesellschaft erfasst, welches bei den Individuen manifeste und latente Effekte hervorruft. Dabei handelt es sich um manifeste Effekte insofern, als dass der Religionszugehörigkeit als Identitätsmarker gesellschaftlich auch von außen eine Bedeutung zugeschrieben wird und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit Selbst- und Fremdwahrnehmungen und bestimmte Praktiken im Alltag, etwa beim Heiratsverhalten, einhergehen. Und um latente Effekte handelt es sich insofern, als dass die objektive Religionszugehörigkeit in den allermeisten Fällen für eine religiöse Sozialisation oder doch religiös-kulturelle Einbettung steht, deren Wirkung über das subjektiv Gewusste bzw. gefühlsmäßig Wahrgenommene hinausgeht oder doch hinausgehen kann. Die Erklärungskraft der Religionszugehörigkeit in der Wahlforschung für Parteienpräferenz und Stimmverhalten bezieht einen guten Teil aus solchen latenten, geschichtlich und kulturell bedingten Effekten der Religionszugehörigkeit als Gruppenmerkmal. Schließlich ist auf der theoretischen Ebene noch ein Letztes zu bedenken. Mitgliedschaftsbeziehungen können sozusagen territorial gestuft auftreten. Diese Tatsache kann die Frage nach der Religionszugehörigkeit in zweifacher Weise variieren. Erstens kann man Religionszugehörigkeit auf die lokale, regionale, nationale oder gar transnationale Ebene beziehen. Kulturell dürfte in Schweiz, in: Riedi, Anna Maria (Hg.): Handbuch Sozialwesen Schweiz. Bern 2013, S. 201 – 213, hier S. 206. 25 Vgl.: Bertelsmann Stiftung: Religionsmonitor 2008. Gütersloh 2007. 26 Schoen, Harald: „Soziologische Ansätze in der empirischen Wahlforschung“, in: Jürgen W. Falter / Harald Schoen (Hg.): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden 2005, S. 135 – 185. Dalton, Russell J.: Citizen politics. Public opinion and political parties in advanced industrial democracies. Washington, DC 2006.
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
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Europa beim Verständnis von Religionszugehörigkeit die nationale bzw. transnationale Ebene dominieren. Auch wenn Glaube immer in einem lokalen Kontext gelebt wird, ist die Vorstellung von Religionsgemeinschaft und damit der Religionszugehörigkeit im europäischen Kontext maßgeblich bestimmt durch die Vorstellung der Zugehörigkeit zu einem größeren, die lokalen Gemeinschaften überwölbendem Kollektiv, historisch zu einer Kirche. Und auch andere Religionsgemeinschaften denken ihre Religionszugehörigkeit in einem transnationalen Kontext. So ist die Vorstellung der Umma, der Mitgliedschaft des einzelnen Gläubigen in der (transnationalen) Gemeinschaft aller Muslime, für den Islam zentral, was allerdings ethnische Zugehörigkeiten, Nationalitäten und Nationalismen innerhalb der Reihen muslimischer Gruppen und Gemeinschaften nicht ausschließt. Zweitens – und mit dem ersten Punkt verbunden – kann auch der Begriff der Religionsgemeinschaft unterschiedliche Bedeutungen annehmen, die stark von der fokussierten territorialen oder sozialstrukturellen Ebene abhängen. So finden sich in der jüngeren religionswissenschaftlichen Forschung Ansätze bzw. Darstellungen, welche die Bezeichnung Religionsgemeinschaft an die lokalen religiösen Gemeinschaften binden.27 Im vorliegenden Kontext wird aber die Ansicht vertreten, dass dies den historischen und kulturellen Bedingungen Europas trotz aller Säkularisierungs- und Individualisierungstendenzen nicht vollumfänglich gerecht wird. Wir erachten das Konzept der objektiven Religionszugehörigkeit unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten als das nach wie vor wichtigere und daher aussagekräftigste Konzept. Die SMRE geht davon aus, dass Religionsgemeinschaften sinnvollerweise als größere Sozialgebilde aufgefasst werden, die empirisch zwar aus vielen kleinen, mehr oder weniger lokalen Gruppen bzw. Communities gebildet werden, deren Gemeinsamkeit aber im überlokalen Konzept von Religionszugehörigkeit gründet.
3.2.
Länderdaten und Datensätze
Die SMRE umfasst Daten für alle 42 europäischen Länder einschließlich der Türkei.28 Alle Daten wurden zeitlich auf die beiden Berichtszeiträume 2000 (für Datensätze 1996 – 2005) und 2010 (für Datensätze 2006 bis aktuell 2012) zusammengezogen. So ergeben sich in der SMRE 84 Fälle. Für diese wurden möglichst viele statistische Quellen bzw. Datensätze zur Religionszugehörigkeit 27 Baumann, Martin: „Religionsgemeinschaften im Wandel. Strukturen, Identitäten, Interreligöse Beziehungen“, in: Christoph Bochinger / Martin Baumann / Katharina Frank (Hg.): Religionen, Staat und Gesellschaft. Die Schweiz zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt. Zürich 2012, S. 21 – 26. 28 Vgl.: Appendix B: Länderliste SMRE.
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erfasst. Gegenwärtig sind dies folgende: Barret 2001 und die World Christian Encyclopedia, Church and Religion in an Enlarged Europe (C& R 2006) , CIA World Factbook, Encyclopaedia Britannica, eurel, ESS 2004 – 2008, EVS 2008, Fischer Weltalmanach, Gerhards 2006, ISSP 2008, Minkenberg 2007 und 2010, Pollack 1998 und 2001, Religionsmonitor 2008, Tomka 2000, World Christian Database, World Religion Database, worldmapper.com und, falls vorhanden und bekannt, die länderspezifischen Volkszählungen.29 Der European Social Survey (ESS 2004, 2006 und 2008) wurde miterhoben, ist aber schlussendlich nicht in die vergleichende Analyse der Datensätze aufgenommen worden, weil er – wie beschrieben – explizit darauf abhebt, die subjektive Religionszugehörigkeit bzw. individuelle Identität zu messen.
3.3.
Datensätze und originäre Datenquellen
Alle erfassten Datensätze wurden daraufhin geprüft, aus welcher originären Datenquelle die von ihnen vorgelegten Daten stammen. Die empirische Untersuchung zeigt: Es gibt letztlich nur drei unterschiedliche Herkunftsorte bzw. Typen von Datenquellen, auf die sich alle verfügbaren Zahlen und Statistiken zurückverfolgen lassen: Surveydaten (EVS, ISSP, ESS, C& R, etc.), Volkszählungsdaten, die aber längst nicht für jedes Land vorliegen, und die World Christian Database (WCD) bzw. die davon abgeleitete World Religion Database (WRD). Die SMRE gibt für jeden ihrer Datensatz einzeln an, auf welche originären Datenquellen sich die vorhandenen Statistiken letztendlich zurückführen lassen und bildet damit die zum Teil weit reichenden Verweisungszusammenhänge der in der Literatur verwendeten Daten ab. Dieses Wissen ist unumgänglich, um die Qualität der Daten einschätzen zu können.
3.4.
Kategorisierungsschema von Religion und Religionsgemeinschaften in Europa
Um die Datensätze miteinander vergleichen zu können, sind idealiter einheitliche und damit untereinander vergleichbare Kategorien religiöser Zugehörigkeit nötig. Jede Religionsstatistik steht und fällt mit der präzisen Erfassung unterschiedlicher Religionsgemeinschaften und Bekenntnisse und deren ad29 Weitere Datensätze können und sollen in Zukunft in die SMRE eingearbeitet werden. Das PEW Research Center hat wie oben beschrieben Ende 2012 „The Global Religious Landscape“ veröffentlicht. Ob und welche Daten zu übernehmen sind, wird derzeit geprüft.
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
137
äquaten Gruppierung zu größeren Kategorien.30 Bereits die amtliche Statistik des Deutschen Reichs in der Weimarer Republik kannte als Grundlage für ihre Volkszählungen ein Religionsverzeichnis mit mehr als 450 Religionsgemeinschaften, religiösen Gruppen oder Bekenntnissen. Diese Präzision erreichen die für die Gegenwart zur Verfügung stehenden religionsstatistischen Daten nicht. Was die Vielfalt der Kategorien angeht, sticht derzeit die WCD hervor. Unter anderem auf ihrer Basis wurde für die SMRE ein Kategorienschema entwickelt, das es erlaubt, die übrigen Daten relativ sicher einer der acht großen Kategorien zuzuordnen. Diese Kategorien sind: Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, weitere Christen, Juden, Muslime, keine Religionszugehörigkeit und Sonstige. Diese Einteilung bleibt für die meisten kleineren Religionsgemeinschaften in Europa sicherlich zu grob, weil sich in der Kategorie Sonstige notwendigerweise sehr Unterschiedliches versammelt. Sie ist aber für die Frage der Religionszugehörigkeit in Europa insofern zielführend und verlässlich, als sie im Blick auf den religionsgeschichtlichen Kontext Europas entwickelt und definiert wurde.31
3.5.
Feststellung der größten Religionsgemeinschaft und des Pluralisierungsgrades anhand von Grenzwerten in der SMRE
Gegenwärtig sieht die SMRE davon ab, selbst exakte Zahlen zur religiösen Zusammensetzung einzelner Länder vorzulegen. Angesichts der großen Diskrepanzen zwischen den Datensätzen verfolgt sie die vorsichtigere Strategie, anhand des Vergleichs ihrer Datensätze die Frage zu entscheiden, welche Religionsgemeinschaft den größten Anteil an der Bevölkerung stellt und wie stark die Pluralisierung der religiösen Landschaft eines Staates ist. Dazu wurden alle Datensätze der 84 Fälle, d. h. die 42 Länder in jedem der beiden Berichtszeiträume, Land für Land verglichen. Die Einteilung des Pluralisierungsgrades eines Landes wurde wie folgt definiert: Bezogen auf die prozentual größte Religionsgemeinschaft eines Landes soll dieses Land als fragmentiert, pluralisiert oder dominant bezeichnet werden, wenn deren Anteil innerhalb der folgenden Grenzen liegt: j %35 % = fragmentiert j 35 % < 60 % = pluralisiert j ^60 % = dominant j 30 Vgl.: Krose, Hermann Anton (1904): Konfessionsstatistik Deutschlands. Mit e. Rückblick auf d. numerische Entwicklung d. Konfessionen im 19. Jh. Freiburg im Breisgau 1904. Zieger, Paul: „Das Religionsverzeichnis als Grundlage der Konfessionsstatistik“, in: Kirchliches Jahrbuch (85) 1958, S. 422 – 436. 31 Über die Zuordnung einzelner Kirchen und religiöser Traditionen zu diesen acht Kategorien informiert Appendix C. Sind in den erfassten Datensätzen ursprünglich andere Kategorien verwendet worden, wurden deren Angaben in die Kategorien der SMRE übertragen beziehungsweise so gut wie möglich unter diesen Kategorien subsumiert.
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Ein Land gilt als fragmentiert, wenn auch die größte Religionsgemeinschaft nicht mehr als 35 % der Wohnbevölkerung auf sich vereint, d. h. alle Religionsgemeinschaften unter der 35 %-Marke bleiben. Als pluralisiert gilt ein Land, wenn mindestens eine Religionsgemeinschaft einen Anteil zwischen 35 % und 60 % der Bevölkerung aufweist. Als dominant einer Religionstradition angehörig gilt ein Land, wenn die größte Religionsgemeinschaft einen Bevölkerungsanteil von über 60 % stellt. Da zusätzlich pro Land und Berichtszeitraum die jeweils größte Religionsgemeinschaft bekannt ist, ergibt sich insgesamt die Möglichkeit, die religiöse Zusammensetzung eines Landes nach seinem Pluralisierungsgrad und seiner größten Religionsgemeinschaft zu klassifizieren. Die Bestimmung eines Landes als „dominant-katholisch“ ordnet es der Gruppe jener Länder in Europa zu, die einen Katholikenanteil von über 60 Prozent aufweisen. Die Grenzwerte von 35 bzw. 60 Prozent wurden anhand der historischen Erfahrung Europas mit gemischt-konfessionellen Ländern bzw. Gebieten gesetzt32 und dann auf ihre Tragfähigkeit am Datenmaterial überprüft. Hinter dieser letztlich qualitativen Klassifikation der Länder steht die durch die politische Kulturforschung gewonnene Einschätzung, dass der gesellschaftliche Ort von Religion und die politischen Konfliktlinien entlang religiöser Zugehörigkeiten sich von der quantitativen Position der verschiedenen religiösen Gruppen in der Regel erheblich unterscheiden. Unter Mehrheitsbedingungen (^60 %) geraten alle übrigen Religionsgemeinschaften in eine Minderheitenposition, die es ihnen schwer macht, sich gesellschaftlich zu etablieren. In religiös pluralisierten Gesellschaften wächst der Druck auf alle Beteiligten, sich miteinander zu arrangieren, und in religiös fragmentierten Gesellschaften ist eine Situation vorhanden, in der sicher keine Dominanz ausgeübt werden kann und Religionsgemeinschaften daher vermutlich am ehesten in einer marktförmigen Konkurrenz zueinander stehen.
3.6.
Bewertung der Datensicherheit bzw. Klassierung der einzelnen Länder
Die Länderaussagen zum Pluralisierungsgrad und zur jeweils größten Religionsgemeinschaft werden auch herangezogen, um die Fälle durch den Vergleich der in der SMRE erfassten Datensätze hinsichtlich der Verlässlichkeit der Zuordnung bzw. der Datensicherheit, auf der die Klassifikation beruht, bewerten zu können. Hierfür wurde ein Bewertungssystem entwickelt, das als Entschei32 Lipset, Seymour Martin / Rokkan, Stein: Cleavage structures, party systems, and voter alignments. An introduction, in: Seymour Martin Lipset / Stein Rokkan (Hg.): Party systems and voter alignments: cross-national perspectives. [Contributors: Robert R. Alford and others]. New York 1967, S. 1 – 64.
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dungsbaum angelegt ist, und es so erlaubt, jeden Fall eindeutig einer bestimmten Datensicherheitsstufe zuzuordnen (vgl. Abb. 1). Dieses Länderbewertungssystem weist jedem Fall der SMRE auf einer ordinalen Skala den Wert von eins bis vier zu. Für jeden Fall wird anhand des Bewertungssystems der SMRE eine Datensicherheitsstufe ermittelt. Die Länderdaten zur Religionszugehörigkeit gelten am Ende dieses Prüfprozesses als: 1: sicher 2: relativ sicher 3: problematisch 4: k. A. möglich
Der Bewertungsvorgang sei kurz beschrieben. In einem ersten Schritt wird nach der Anzahl originärer Datenquellen pro Fall gefragt. Sind keine originären Daten vorhanden oder ermittelbar, sind für den entsprechenden Fall, auch wenn in der Literatur Zahlen genannt werden, keine Angaben möglich (4). Falls nur eine originäre Datenquelle vorliegt, kann die Datensicherheit dieses Landes bzw. Falls bestenfalls als problematisch (3) eingestuft werden, denn es liegen keine weiteren Datenquellen vor, die das erste Ergebnis überprüfbar machen würden. Treten nun bei nur einer einzigen originären Datenquelle Statistikfehler auf, ist auch hier keine Angabe möglich (4). Es gibt Fälle, bei denen eine originäre Datenquelle von mehreren Datensätzen herangezogen wurde. Treten nun zwischen diesen Datensätzen Klassifikationsfehler auf, d. h. abweichende Einordnungen nach dem Schema fragmentiert, pluralisiert, dominant (d. h. es tritt ein gravierender Fehler trotz gleicher (!) originärer Datengrundlage auf), gilt auch in diesem Fall, dass keine Angaben möglich (4) sind. Ein Klassifikationsfehler ist immer dann gegeben, wenn innerhalb der größten Kategorie eines Falles, also der prozentual größten Religionsgemeinschaft eines Berichtszeitraums, abweichende Pluralisierungsgrade festgestellt werden. Sind in einem Fall mindestens zwei Datensätze mit jeweils originären Daten vorhanden, dann wird zuerst danach gefragt, ob ein solcher Klassifikationsfehler vorliegt oder nicht. Liegt in einem solchen Fall ein Kategorienfehler vor, dann wird als Nächstes die Frage gestellt, ob Daten einer Volkszählung, d. h. einer in der Regel sehr sicheren originären Datenquelle, vorhanden sind. Ist dies nicht der Fall, d. h. es gibt keine Volkszählungsdaten, wird die Frage gestellt, ob einer der voneinander abweichenden Datensätze mit gutem Grund als bester und damit vorzuziehender deklariert werden kann. Ist dies nicht möglich, sind trotz vergleichsweise guter Ausgangslage auch hier letztlich keine Angaben möglich (4). Ist es aber möglich, einem Datensatz begründet den Vorzug zu geben, gilt dieser Fall als problematisch (3). Bei problematischen Fällen ist die Datensicherheit und damit die Verlässlichkeit der statistischen Aussagen über die Religionszugehörigkeit als gering einzuschätzen. Benutzt man diese Zahlen für weiterführende Untersuchungen oder Argumentationen, unterliegen alle darauf aufbauenden Aussagen einer hohen Irrtumsmöglichkeit. Zahlen für
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Abbildung 1: Länderbewertungssystem der SMRE; Quelle: Eigene Abbildung.
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solche Fälle sollten also nur mit Vorsicht statistisch wie argumentativ belastet werden. Sind Volkszählungsdaten vorhanden, stellt sich die Lage bei Klassierungsfehlern günstiger dar, denn Volkszählungen gelten, wenn sie gut durchgeführt werden, nach aller Erfahrung als die vergleichsweise verlässlichste Datengrundlage. Aufgrund der oben beschriebenen jüngeren Entwicklung hin zu Volkszählungen auf Mikrozensusdaten etc. wird sicherheitshalber aber noch geprüft, ob es Probleme bei der Volkszählung gab.33 Sollte die Volkszählung Mängel aufweisen, wird wiederum nach dem besten Datensatz gefragt. Je nachdem wird dann auch dieser Fall nur als problematisch (3) oder als keine Angaben möglich (4) bewertet. Sind die vorliegenden Volkszählungsdaten unproblematisch, liegt der Fall günstiger. Ein solcher Fall gilt als relativ sicher (2), d. h. die statistischen Angaben zur Religionszugehörigkeit in diesem Land im jeweiligen Berichtszeitraum sind zwar nicht über jeden Zweifel erhaben, dürften die zahlenmäßigen Realitäten der Religionszugehörigkeit aber hinreichend verlässlich erfassen. Entsprechend belastbarer sind die vorliegenden Statistiken, Berechnungen und Argumente, die darauf aufbauen. Liegt in einem Fall mit mehreren originären Datenquellen kein Klassifikationsfehler vor, so ist der Fall als mindestens relativ sicher zu bewerten. Damit dieser Fall schlussendlich als sicher gelten kann, müssen die Datensätze zwei zusätzliche Qualitätskriterien erfüllen. Erstens müssen sie nicht nur keinen Klassifikationsfehler aufweisen, sondern untereinander eine hohe Kongruenz aufweisen, d. h. die Religionsstatistiken geben unabhängig voneinander gleiche oder sehr ähnliche Werte für die einzelnen Kategorien an. Rechnerisch wurde die Kongruenz mittels Standardabweichung innerhalb jener Kategorie überprüft, welche die größte Differenz zwischen den Datensätzen aufweist. In einem solchen Fall muss die Standardabweichung kleiner als 5 Prozent vom Mittelwert sein. Zweitens muss die Differenz des Herfindahl-Index der verschiedenen Datensätze zwischen 0,0 und 0,1 liegen. Der Herfindahl-Index wurde für alle Datensätze, die mehr als sechs Datenpunkte aufweisen, berechnet. Der Herfindahl-Index berechnet einen Kennwert für eine gegebene Verteilung, der zwischen 0 und 1 zu liegen kommt. Je ähnlicher die Kennwerte innerhalb eines Falles, desto ähnlicher sind die Verteilungen der Datensätze.34 Ist die Differenz 33 Probleme bei Volkszählungen können u. a. die nicht vollständige Erhebung der Bevölkerung wie im Fall der Schweiz, unvollständige oder missverständliche Erhebungsbogen wie im Falle Großbritanniens 2001 oder Deutschlands 2011 oder politisch motivierte, soziale oder geographische Eingrenzungen der erhobenen Bevölkerung sein. 34 Nähme man nur den Herfindahl-Index alleine als Kriterium, bestünde die Möglichkeit, dass die Kennwerte zwar ähnlich sind, die Verteilung innerhalb eines Datensatzes aber trotzdem in der Sache anders ist. Beispiel für einen gleichen Index bei diametral unterschiedlicher Verteilung: Fall A, Kat.1: 15 Prozent; Kat.2: 65 Prozent ; versus Fall B, Kat.1: 65 Prozent;
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zwischen den Indices aller Datensätzen kleiner als 0,1, kann man, nachdem alle anderen relativ rigiden Kriterien schon zuvor erfüllt wurden, mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass die Datenqualität sehr hoch und die Angaben zur statistischen Verteilung der Religionszugehörigkeit sicher (1) und damit für weitere Berechnungen und Argumente belastbar sind. Insgesamt ist das Länderbewertungssystem der SMRE im statistischen Sinne eher konservativ ausgelegt. Damit ein Fall die Datensicherheitsstufe sicher oder relativ sicher erhält, muss immerhin feststehen, dass die verfügbaren Datensätze zu keinem Klassifikationsfehler führen oder dass Volkszählungsdaten vorliegen und/oder dass die Übereinstimmung zwischen den Datensätzen relativ hoch ist. Nachdem nun die Verfahren und Maßstäbe der Datenaufbereitung und Kontrolle vorgestellt sind, werden im Folgenden die Ergebnisse der Auswertung der SMRE und der Klassierung der Länder dargestellt.
4.
Ergebnisse: Grenzen und Möglichkeiten religionsstatistischer Aussagen zu Europas Staaten in der Gegenwart
Die Erstauswertung der SMRE erfolgt in drei Schritten. Im ersten Schritt wird die Einschätzung der Datensicherheit für die erfassten 42 Länder Europas (inklusive Türkei) zusammenfassend für die beiden Berichtszeiträume 2000 und 2010 getrennt vorgestellt. Im zweiten Schritt wird ein Überblick über den Pluralisierungsgrad der religiösen Landschaft in den europäischen Staaten geboten. Im dritten Schritt wird, sofern es die Datenlage erlaubt, die Einteilung der Staaten nach der jeweils zahlenmäßig stärksten Kategorie ihrer Religionsstatistik geboten. Zwei Länderbeispiele – Österreich und Frankreich – illustrieren die allgemeinen Befunde und bieten exemplarisch Einblick in Inhalt und Struktur der SMRE. Da für jedes Land für die beiden Berichtszeiträume 2000 und 2010 eine methodisch hergeleitete Aussage zur Datensicherheit und, wenn es die Datenlage erlaubt, zu dessen generellem Pluralisierungsgrad sowie zum Anteil der größten Gruppe der Religionsstatistik getroffen werden kann, erlaubt die Auswertung auf Basis der SMRE erstmals eine qualifizierte Gesamtschau zur objektiven Religionszugehörigkeit in Europa.
Kat.2: 15 Prozent. Aufgrund der vorgelagerten Abfrage des Klassifikationsfehlers und des Konvergenzkriteriums wird diese Irrtumsmöglichkeit im Bewertungssystem der SMRE aber ausgeschlossen. Der Vergleich mit dem Herfindahl-Index liefert unter diesen Bedingungen einen guten Maßstab für die Ähnlichkeit der Verteilung der Religionszugehörigkeit.
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
4.1.
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Datensicherheit der Religionsstatistik europäischer Staaten
Im Blick auf die Datensicherheit der Religionsstatistiken der erfassten 42 Länder zeigt sich ein gemischtes Bild. Für die Datenangaben im Berichtszeitraum 2000 können für 9 Länder sichere Aussagen gemacht werden. Relativ sichere Daten liefert der Vergleich für 16 Länder. Für 8 Länder sind die vorliegenden Zahlen als problematisch einzustufen. Und für 9 Länder sind keine Aussagen möglich. Für den Berichtszeitraum 2010 können sichere Aussagen für 12 Länder, relativ sichere ebenfalls für 12, nur problematische Aussagen für 5 und gar keine Aussagen für 13 Länder getroffen werden (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: Länderverteilung nach Datensicherheit für die Berichtszeiträume 2000 und 2010; Quelle: eigene Abbildung auf Datengrundlage SMRE
Im zeitlichen Vergleich zwischen den beiden Berichtszeiträumen hat sich die Datenlage insgesamt also eher verschlechtert. Zwar können für den Berichtszeitraum 2010 über mehr Länder sichere Aussagen getroffen werden. Gleichzeitig sind aber für 13, d. h. für weitere vier Länder, gar keine Aussagen mehr möglich. Für Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Lettland und die Niederlande sind sowohl für den Berichtszeitraum 2000 als auch für 2010 keine Aussagen möglich. Für Deutschland ist aber ein gewisser Behelf möglich: Aufgrund genügend originärer Quellen für Daten getrennt nach Ost- und Westdeutschland lassen sich für diese beiden, von 1945 bis 1990 ja auch religionsgeschichtlich differenten territorialen Gebiete, getrennte Statistiken zur Religionszugehörigkeit für den Berichtszeitraum 2010 vorlegen, wobei die dadurch ermöglichten Aussagen als sicher gelten. Darauf wird in den folgenden Auswertungen zurückgegriffen, d. h. die Zahl der Länder / Regionen erhöht sich auf 43. Des Weiteren ergeben sich im Vergleich 2000 zu 2010 folgende Veränderungen in der Datensicherheit: Für Serbien und den Kosovo waren für den Berichtszeitraum 2000 keine Aussagen möglich, für 2010 aber ist eine Angabe mit relativer Sicherheit möglich. Die Datenlage hat sich in diesen beiden Ländern also verbessert. Umgekehrt waren für Bosnien-Herzegowina, Tschechien, Spanien, Estland und Ungarn für den Berichtszeitraum 2000 noch Aus-
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sagen möglich, aber nicht mehr für 2010. In diesen Ländern hat sich die Datenlage also verschlechtert.35 Im Rahmen der SMRE wird das Ziel verfolgt, über möglichst viele Länder mindestens für einen Berichtszeitraum eine Aussage treffen und deren Zuverlässigkeit angeben zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde den Daten aller Fälle wie oben gezeigt eine Datenqualitätsstufe zugewiesen. Betrachtet man die beiden Berichtszeiträume gesamthaft, kann über eine Reihe von Ländern zumindest für einen der beiden Berichtszeiträume eine Aussage getroffen werden, deren Datenqualität problematisch oder besser ist. Verwendet man pro Land daher jeweils jenen Berichtszeitraum, der die je höchste Datenqualität aufweist, stellt sich das Bild etwas günstiger dar (vgl. Abb. 3).
Abbildung 3: Länderverteilung Gesamtschau; Quelle: eigene Abbildung auf Datengrundlage SMRE.
35 Eine Verschlechterung der Datensicherheit hin zu problematisch bzw. zu k.A. möglich kann Unterschiedliches bedeuten. Einerseits kann dies mit weniger verfügbaren originären Rohdaten, d. h. insbesondere mit weniger oder noch nicht veröffentlichten Surveys und Volkszählungen für den Berichtszeitraum 2010 zusammenhängen. Anderseits kann die Veränderung auch ein Hinweis auf tatsächliche Verschiebungen in der religiösen Landschaft des jeweiligen Landes sein. Unterschiedliche Surveys könnten, schließt man Unterschiede wegen unterschiedlicher Fragemethodiken einmal aus, innerhalb eines Berichtszeitraums aufgrund ihres zeitlichen Abstands differente Ergebnisse liefern, die eine reale mittelfristige Veränderung abbilden. Ein Indiz dafür wäre ein Trend in den Datensätzen. Sobald noch mehr Datensätze in die SMRE integriert sind, sollten in weiteren Länderauswertungen all jene Länder, über die für den Berichtszeitraum 2000 und/oder 2010 nur problematische oder gar keine Aussagen möglich sind, nochmals mit besonderem Augenmerk auf solche Trends untersucht werden.
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
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Aufgrund der SMRE können für 15 Länder sichere Aussagen, für 14 Länder relativ sichere Aussagen, für 6 Länder nur problematische Aussagen und für 7 (beziehungsweise 6)36 keine Aussagen gemacht werden.37 Einerseits sind somit für rund 29 Länder sichere oder relativ sichere Aussagen möglich. Anderseits ist für sechs Länder die Datenlage so schlecht, dass man sie als „weisse Flecken“ auf der religiösen Landkarte Europas betrachten muss (vgl. Abb. 4). Im Kartenbild wird dieses wichtige Ergebnis visuell präzisiert. Diese weißen Flecken befinden sich nämlich sowohl in Osteuropa (Weißrussland und Lettland) als auch in Westeuropa (Belgien, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande). Bei diesen Ländern treten in beiden Berichtszeiträumen Klassifikationsfehler auf. Da zudem hier Volkszählungsdaten entweder fehlen oder erhebliche Defizite aufweisen, ist es unmöglich eine Basis zu benennen, auf der eine relativ sichere oder auch nur eine problematische Aussage möglich ist. Die geographische Visualisierung zeigt darüber hinaus, dass vor allem kleinere Länder als problematisch einzustufen sind: Albanien, Andorra, Bosnien-Herzegowina, Estland, Liechtenstein und die Vatikanstadt.38
4.2.
Länder nach Pluralisierungsgrad der Religionszugehörigkeit
Sofern für die untersuchten Länder bzw. Regionen Daten vorlagen, deren Zuverlässigkeit mindestens den Status problematisch erreichte, wurden diese auf ihre religionsstatistische Zusammensetzung hin untersucht und nach Pluralisierungsgrad klassifiziert (vgl. Abb. 5). In 30 der 43 Länder bzw. Regionen ist im Untersuchungszeitraum eine einzelne religiöse Gruppierung dominant gewesen, d. h. dass jeweils 60 % oder mehr der Bevölkerung zu einer bestimmten religiösen Tradition gehören.39 In
36 Die Zahl verringert sich, wenn man die Bundesrepublik Deutschland nach Ost und West getrennt in der Auswertung berücksichtigt. 37 Vgl. für die tabellarische Darstellung der Daten: Liedhegener, Antonius / Odermatt, Anastas: Religionszugehörigkeit in Europa –empirisch. Die ”Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE)”. Working paper 02/2013, Eigenverlag REGIE, Universität Luzern. Luzern 2013, S. 49. 38 Bei Andorra, Liechtenstein und der Vatikanstadt ist die Einteilung als problematisch auf zu wenige originäre Quellen zurückzuführen. Aufgrund der geringen Größe des Landes und seiner Bevölkerung und des vermeintlich sicheren Wissens über deren religiöse Zusammensetzung ist die Bereitschaft, dafür Ressourcen für internationale Surveys zur Verfügung zu stellen, vermutlich entsprechend vermindert. Die beiden Kleinstaaten Gibraltar und Monaco werden von der Sozialforschung so wenig untersucht, dass sie erst gar nicht in die SMRE aufgenommen wurden. 39 Vgl. für die tabellarische Darstellung der Daten: Liedhegener, Antonius / Odermatt, Anastas: Religionszugehörigkeit in Europa –empirisch. Die ”Swiss Metadatabase of Religious Affi-
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Abbildung 4: Datensicherheit der Länder der SMRE; Quelle: eigene Abbildung auf Datengrundlage SMRE; Kartengrundlage: Omnia 2009.
diese Gruppe gehört auch der ostdeutsche Teil der Bundesrepublik Deutschland. Rund Dreiviertel der Länder Europas können daher als religiös dominant klassifiziert werden. Fünf Länder sowie der westliche Teil Deutschlands sind pluralisiert. Mindestens eine Religionsgemeinschaft weist hier einen Bevölkerungsanteil zwischen 35 % und 60 % auf. Als religiös fragmentiert kann gegenwärtig in Europa noch kein einziges Land bezeichnet werden. Einmal mehr zeigt sich für Europa der lange Schatten der Geschichte der konfessionellen Ausdifferenzierung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Diese Geschichte ist selbst nach den Umbrüchen zweier Weltkriege und dem Ende des Kommunismus in der religiösen Landschaft Europas noch gut sichtbar liation in Europe (SMRE)”. Working paper 02/2013, Eigenverlag REGIE, Universität Luzern. Luzern 2013, S. 49.
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geblieben. Dabei darf selbstverständlich nicht übersehen werden, dass jenseits dieser Tiefenprägungen der Wandel der religiösen Landschaft gleichwohl seit dem Zweiten Weltkrieg ganz beachtlich gewesen ist.40
Abbildung 5: Pluralisierungsgrad der Länder der SMRE; Quelle: eigene Abbildung auf Datengrundlage SMRE; Kartengrundlage: Omnia 2009.
40 Vgl. etwa Henkel, Reinhard / Knippenberg, Hans: Secularisation and the Rise of Religious Pluralism: Main Features of the Changing Religious Landscape of Europe, in: Hans Knippenberg (Hg.): The changing religious landscape of Europe. Amsterdam 2005, S. 1 – 13; Gabriel, Karl/ Gärtner, Christel/ Pollack, Detlef (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik. Berlin 2012. Pollack, Detelf / Müller, Olaf/ Pickel, Gert (Hg.), Social Significance of Religion in the Enlarged Europe. Secularization, Individualization and Pluralization. Farnham, Surrey, England; Burlington, VT 2012.
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Für die Niederlande und Deutschland insgesamt sind aufgrund der Datenlage wie gesagt derzeit keine verlässlichen Aussagen möglich.41 Die Datensätze der SMRE lassen jedoch die Vermutung zu, dass diese Länder mittlerweile wohl als religiös fragmentiert gelten dürften, d. h. auf nationaler Ebene erreicht keine der in den acht Kategorien der SMRE erfassten Gruppen mehr als 35 Prozent in der Bevölkerung. Eine Tendenz hin zur Fragmentierung lässt sich auch in den Daten der Schweiz im Vergleich zwischen 2000 und 2010 erkennen. Diese Vermutungen müssen aber in spezifischen Länderberichten weiter untersucht werden.
4.3.
Länderbeispiele Österreich und Frankreich
Zwei Länderbeispiele sollen illustrieren, wie der dritte und letzte Schritt der Analyse und Einordnung anhand der SMRE-Daten zustande kommt. Hierbei werden die Angaben zur Datensicherheit und zur größten religiösen Gruppe innerhalb der acht Kategorien der Religionszugehörigkeit kombiniert. Die Beurteilung eines Landes beginnt wie beschrieben mit dem Länderbewertungssystem (vgl. Abb. 1). Das Bewertungssystem liefert das Niveau der Datensicherheit. Wenn ein Land als problematisch oder besser eingestuft wird, d. h. als relativ sicher oder sicher, wird ermittelt, wie hoch der Bevölkerungsanteil der größten Kategorie der religiösen Zugehörigkeit ist und um welche der acht Kategorien es sich handelt. Dieses Vorgehen sei für Österreich und Frankreich etwas ausführlicher beschrieben. Die Datengrundlage dieses Unterkapitels ist in den Appendizes D und E wiedergegeben. Die beiden Appendizes vermitteln damit zugleich einen Blick in die Struktur der SMRE. Für Österreich liegen für den Berichtszeitraum 2000 neun Datensätze vor. Originäre Datenquellen gibt es aber schlussendlich nur drei: In Gerhards 2006 liegen erstens ISSP-Daten aus dem Jahre 1998 vor. Zweitens gibt es Volkszählungsdaten für 2001 und drittens enthalten die Datensätze der SMRE Daten aus der World Christian Database (WCD) für 2000, 2001 und 2005. Die Daten von Minkenberg 2010 sind keine originäre Datenquelle. Einerseits ist kein eindeutiger Quellenverweis vorhanden, anderseits wird stark auf den Fischer Weltalmanach42 verwiesen, wobei der Fischer Weltalmanach selbst keine Angaben zu seinen Quellen macht.
41 Auch Wolf nennt keine Zahlen: Wolf, Christof: Religiöse Pluralisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Friedrichs / Wolfgang Jagodzinski (Hg.): Soziale Integration. Opladen 1999, S. 320 – 349. zur letzten vorliegenden Volkszählung von 1987: Wolf, Christof: Religionszugehörigkeit im früheren Bundesgebiet 1939 – 1987, in: Wirtschaft und Statistik (3) 2000, S. 201 – 207. 42 Sowohl direkt als auch indirekt über : Mar¦chal, Brigitte / Allievi, Stefano / Dassetto, Felice /
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Im Sinne des Länderbewertungssystems der SMRE (vgl. Kapitel 2.6) gibt es im Blick auf Österreich für den Berichtszeitraum 2000 also mehr als zwei originäre Datenquellen. Unter allen Kategorien bilden die Katholiken eindeutig die größte. Zwischen den drei originären Quellen tritt kein Klassifikationsfehler auf. Alle einschlägigen Werte weisen für die katholische Bevölkerung eine dominante Ausprägung aus, d. h. alle Quellen zählen mehr als 60 % der Bevölkerung zum Katholizismus. Die Kongruenz der Datensätze ist allerdings nicht hoch, d. h. die Daten zur Stärke des katholischen Bevölkerungsanteils liegen zwar alle oberhalb der 60-Prozentmarke, im Einzelnen weichen die Angaben zur Religionsstatistik zwischen den Quellen allerdings stärker voneinander ab. Die Kategorie mit der größten Differenz ist die der Sonstigen. Hier liegen der höchste und der niedrigste Wert in den Datensätzen um 15,3 Prozentpunkte auseinander. Die zugehörige Standardabweichung beträgt 5,2. Dieser Wert liegt knapp über dem festgelegten Grenzwert von 5. Damit kann schlussendlich eine statistisch relativ sichere Aussage über den Pluralisierungsgrad Österreichs für den Berichtszeitraum 2000 getroffen werden: Österreich gehört in die Gruppe der dominantkatholischen Länder. Für den Berichtszeitraum 2010 liegen sechs Datensätze vor, wobei diese auf vier originäre Datenquellen zurückgeführt werden können: Surveydaten des Religionsmonitors für das Jahr 2007, EVS-Daten von 2008, ISSP-Daten von 2008 und die Daten der World Christian Database. Die World Christian Database beruht zwar laut Eigenaussage unter anderem auf Volkszählungsdaten, jedoch sind es de facto Pauschalaussagen ohne Einzelbeleg und als Datengrundlage dienen ebenfalls laut Quelle diverse weitere Quellen. Insgesamt liegen aber auch für den Berichtszeitraum 2010 mehr als zwei originäre Datenquellen vor. Die Katholiken stellen erwartungsgemäß wiederum die dominante Kategorie, und die Angaben der verschiedenen Quellen weisen keinen Klassifikationsfehler auf. Die Kategorie mit der größten Prozentpunktdifferenz sind 2010 aber die Katholiken. Die Standardabweichung beträgt bei den Katholiken 3,1, was für 2010 eine hohe Kongruenz bedeutet, da der Wert deutlich kleiner ist als der festgesetzte Grenzwert 5. Daher steht für 2010 als letztes Kriterium noch der Vergleich der Werte des Herfindahl-Indexes der relevanten Datensätze an. Für den Berichtszeitraum 2010 gibt es insgesamt vier Datensätze in der SMRE, die eine genügend hohe Datenpunktzahl (d. h. Datenangaben zu sechs oder mehr der acht Kategorien) aufweisen, für die ein Herfindahl-Index gebildet wurde. Es kann somit die Differenz zwischen den vier Einzelberechnungen ermittelt werden. Diese beträgt 0,08 und liegt damit unterhalb der definierten Obergrenze zulässiger Differenz von 0,1. Diese hohe Übereinstimmung zeigt an, dass sich die Neilsen, Jorgen: Muslims in the Enlarged Europe, Religion and Society. Muslim Minorities, Volume 2. Brill 2003.
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Datensätze hinsichtlich der Verteilung der Bevölkerung auf die verschiedenen Kategorien sehr stark gleichen. Aufgrund der vorliegenden Fakten kann somit eine sichere Aussage über den Pluralisierungsgrad Österreichs für den Berichtszeitraum 2010 getroffen werden: dominant-katholisch. Der Anteil der Katholiken dürfte tatsächlich bei rund 73 Prozent der Bevölkerung liegen. Österreich ist damit in der Zusammenschau der beiden Berichtszeiträume der SMRE dominant-katholisch, und diese Aussage darf zugleich als sicher eingestuft werden. Ganz anders Frankreich. Für den Berichtszeitraum 2000 liegen für Frankreich sieben Datensätze vor, wobei vier als originäre Datenquellen gelten: der ISSP 1998, EVS 1999, die World Christian Database und der Survey aus dem Jahr 2003, in Auftrag gegeben von CSA, La Vie und Le Monde, der in der SMRE über die eurel-Daten vorliegt. Es gibt also auch im Falle Frankreichs zunächst mehr als zwei originäre Datenquellen. Die größte Kategorie sind die Katholiken, jedoch tritt für Frankreich ein Klassifikationsfehler auf, der zudem auch quantitativ sehr beachtlich ist: die Katholiken weisen je nach Studie zwischen 58 und 91,9 Prozent der Bevölkerung auf. Untersucht man die Zahlen, zeigt sich, dass eurel die Zahlen vom EVS 1999 übernommen hat. Im Datensatz von eurel, der in der SMRE enthalten ist, fehlen auch die Daten für die Religionslosen. Der EVS fragt die Religionszugehörigkeit zweistufig ab. Bei eurel sind die Ergebnisse beider Fragen in gesonderten Tabellen vorhanden, wurden jedoch nicht miteinander verrechnet. In diesem Sinne liegt hier ein Fehler in der Datenzusammenstellung vor. Der Klassifikationsfehler bleibt aber auch dann bestehen, wenn dieser problematische Datensatz ausgeschlossen wird. Zudem wird die Schwierigkeit der Daten zu Frankreich auch bei den Religionslosen sichtbar : Je nach Studie werden zwischen 19 und 42,6 Prozent der Bevölkerung in die Kategorie keine Religionszugehörigkeit gezählt. Um Klarheit zu schaffen, bräuchte man Daten einer Volkszählung. Diese liegen nicht vor. Aufgrund des Klassifikationsfehlers und der widersprüchlichen Datenlage über die Kategorien hinweg kann kein bester Datensatz ermittelt werden, der für die Einordnung als problematisch erforderlich gewesen wäre. Damit sind für Frankreich für den Berichtszeitraum 2000 keine Angaben möglich. Für den Berichtszeitraum 2010 sieht es nicht besser aus. Es liegen zwar wiederum acht Datensätze vor, wobei vier davon originäre Datenquellen sind: der Religionsmonitor 2008, EVS 2008, ISSP 2008 und die World Christian Database. Es erfolgt aber wiederum ein Klassifikationsfehler in der größten Kategorie, den Katholiken. Die Werte schwanken zwischen 44,8 und 71,8 Prozent der Bevölkerung. Auch der massive Unterschied bei den Religionslosen wiederholt sich. Genannt werden in den Quellen Anteile zwischen 4,0 bis 48,9 Prozent. Auch für den Berichtszeitraum 2010 liegt keine Volkszählung vor und es lässt sich kein Datensatz als bester einstufen. Daher sind auch für 2010 für Frankreich keine
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Angaben möglich. Fazit: Wir wissen nicht einmal qualitativ, wie sich in Frankreich die Statistik der Religionszugehörigkeit gegenwärtig grob darstellt, und schon gar nicht können für Frankreich irgendwelche Zahlenangaben gemacht werden, die für sich beanspruchen können, die Verhältnisse statistisch annährend zu erfassen.
4.4.
Ergebnis: Die Länder Europas nach Pluralisierungsgrad und größter Religionsgemeinschaft
Wie sieht das Ergebnis für alle Länder bzw. Regionen aus? Welche religiöse Tradition bestimmt statistisch die Religionszugehörigkeit in den untersuchten Ländern am stärksten? Zur Beantwortung dieser Frage wird zusätzlich zum Pluralisierungsgrad die jeweils stärkste religiöse Ausprägung angegeben, d. h. jene Religionsgemeinschaft oder Kategorie, die den höchsten Bevölkerungsanteil aufweist (vgl. Abb. 6). Kombiniert man solchermaßen den Pluralisierungsgrad mit der größten Gruppe ergibt sich folgendes Bild: In 17 Ländern Europas und im Westen Deutschlands weisen die Katholiken jeweils eine Bevölkerungsmehrheit auf. Dabei gelten zwei Länder, die Schweiz und Ungarn, und der westliche Teil Deutschlands als pluralisiert-katholisch.43 In diesen Gebieten haben Katholiken einen Bevölkerungsanteil zwischen 35 % und 60 % und stellen im Vergleich mit der nächstgrößten Gruppe die Mehrheitsreligion dar. Sieben Länder Europas sind dominant-orthodox. Ein pluralisiert-orthodoxes Land existiert statistisch bislang nicht. Fünf weitere Länder sind dominant-protestantisch, wobei es ebenfalls kein pluralisiert-protestantisches Land gibt. Fünf Länder weisen eine muslimische Mehrheit auf. Unter ihnen stellt sich Albanien als pluralisiertmuslimisch heraus. Pluralisiert-religionslos sind nur Estland und Tschechien: In diesen beiden Ländern liegt der Wert der Religionslosen zwischen 35 % und 60 % und diese Gruppe stellt hier zugleich den größten Bevölkerungsanteil. Auch im Osten Deutschlands befinden sich alle Religionsgemeinschaften klar in der Minderheit gegenüber dem dominanten Anteil von Einwohnern ohne Religionszugehörigkeit. Dieser Teil Deutschlands ist im europäischen Vergleich das einzige Gebiet, das als dominant-religionslos zu klassifizieren ist. In diesem Fall zeigen sich die Folgen einer langfristigen, schon im 19. Jahrhundert einsetzenden schleichenden Säkularisierung und deren anschließende Überlage43 Vgl. für die tabellarische Darstellung der Daten: Liedhegener, Antonius / Odermatt, Anastas: Religionszugehörigkeit in Europa –empirisch. Die ”Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE)”. Working paper 02/2013, Eigenverlag REGIE, Universität Luzern. Luzern 2013, S. 51.
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Abbildung 6: Pluralisierungsgrad und religiöse Ausprägung der Länder der SMRE; Quelle: eigene Abbildung auf Datengrundlage SMRE; Kartengrundlage: Omnia 2009.
rung mit zwei Diktaturen, die versuchten, Glaube und Kirchen aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen.44 Wie die Rolle der evangelischen Kirchengemeinden in der friedlichen Revolution von 1989/90 zeigt, ist mit den Aussagen zur objektiven Religionszugehörigkeit allerdings noch keine Aussage über die Vitalität der verbliebenen Religionsgemeinschaften und ihre Rolle in der Zivilgesellschaft getroffen.45. 44 Liedhegener, Antonius: Säkularisierung als Entkirchlichung. Trends und Konjunkturen in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, In: Karl Gabriel / Christel Gärtner / Detlef Pollack (Hg.): Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik. Berlin 2012, S. 481 – 531. 45 Pollack, Detlef / Borowik, Irena / Jagodzinski, Wolfgang: Religiöser Wandel in den postkommunistischen Ländern Ost- und Mitteleuropas. Würzburg 1998; Pickel, Gert / Pollack, Detlef (Hg.): Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989 – 1999. Opladen
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Bei dieser zusammenfassenden Auswertung des Datenbestandes der SMRE gibt es im Blick auf den bisherigen Kenntnisstand mindestens zwei überraschende Einzelergebnisse: Erstens ist Tschechien hier nur als ein pluralisiertreligionsloses Land ausgewiesen. Bei Tschechien würde man nach den bisherigen Untersuchungen eine dominante Ausprägung der Religionslosigkeit erwarten.46 Das vorliegende Ergebnis basiert auf der „kleiner als 60 %“-Regel der SMRE. Die Daten zu Tschechien konnten in unserer Metadatenbank als relativ sicher eingestuft werden, weil bei einer Volkszählung aus dem Jahre 2001 ein Anteil der Personen ohne Religionszugehörigkeit zwischen 58.1 % bzw. 59.1 % festgestellt wurde. Die Anteilswerte schwanken leicht, je nachdem ob die Prozentzahlen aufgrund der Gesamtbevölkerungszahl von Eurostat oder aufgrund der in der Volkszählung selbst angegebenen Gesamtbevölkerungszahl berechnet werden. Der Wert bleibt also, wenn auch nur knapp, so doch eindeutig unter dem Grenzwert von 60 Prozent. Zweitens ist der westliche Teil Deutschlands als katholisch und nicht, wie man aufgrund der Geschichte erwarten könnte, als protestantisch verzeichnet. Diese relative Mehrheit des katholischen Bevölkerungsanteils ist, soweit erkennbar, eine sehr junge Entwicklung. So bildeten bei C& R (Erhebung 2006) die Protestanten noch eine knappe Mehrheit (43,4 Prozent Protestanten). Beim Religionsmonitor (Erhebung 2007) und beim ISSP (Erhebung 2008) ergaben die Umfragen aber eine knappe Mehrheit der Katholiken von 36,7 bzw. 40,7 Prozent. Insgesamt überrascht aber wohl am meisten, wie schwankend und unsicher für viele Fälle die Datenbasis ist. Selbst mit dem großen Aufwand der SMRE, ist es derzeit für sieben Länder schlicht unmöglich, eine begründete Aussage zur Religionszugehörigkeit der Bevölkerung zu treffen.
5.
Fazit und Ausblick
Eine exakte Statistik der Religionszugehörigkeit für die Staaten Europas ist und bleibt ein dringendes Desiderat der Forschung. Die SMRE macht dieses Problem sichtbar. Zugleich ist sie ein Versuch bzw. Vorschlag, mit der unübersichtlichen religionsstatistischen Lage in Europa mit den Mitteln der empirischen Sozial2000; Pickel, Gert; Sammet, Kornelia (Hg.): Transformations of Religiosity. Religion and Religiosity in Eastern Europe 1989 – 2010. Wiesbaden 2012; Pollack, Detlef; Müller, Olaf; Pickel, Gert: „Church and Religion in the Enlarged Europe: Analyses of the Social Significance of Religion in East and West“, in: Detlef Pollack, Olaf Müller und Gert Pickel (Hg.): The social significance of religion in the enlarged Europe. Secularization, individualization, and pluralization. Farnham, England 2012, S. 1 – 26. 46 Hamplov, Dana / Nespor, Zdenek: „Invisible Religion in a ,Non-believing Country‘: The Case of the Czech Republic“, in: Social Compass 56/4 (2009), S. 581 – 597.
154
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
forschung sinnvoll und kontrolliert umzugehen. Erstmals sind in der SMRE Daten verschiedener Provenienz zusammengetragen und vergleichend analysiert worden. Das auf dieser Basis entwickelte Länderbewertungssytem erlaubt es, das Niveau der Datensicherheit jedes Landes für die zwei Berichtszeiträume 2000 und 2010 vergleichsweise zuverlässig und vor allem intersubjektiv nachvollziehbar abzuschätzen. Sofern die Datenlage es zulässt, wurde die größte religiöse Gruppe ermittelt und ausgehend von dieser eine Klassifikation der Länder entwickelt, die den Grad der Pluralisierung der Religionszugehörigkeit mit der Information über die statistisch größte religiöse Gruppe kombiniert. In den meisten Ländern Europas ist die religiöse Pluralisierung – gemessen als Anteil der größten Religionsgemeinschaft von unter 60 Prozent an der Gesamtbevölkerung – überraschenderweise nicht weit fortgeschritten. In 30 der 42 Länder erwies sich eine einzige religiöse Tradition als sozialstrukturell klar dominierend. Und fast ausschließlich handelt es sich dabei um eine der großen christlichen Konfessionen. Nur wenige Länder waren pluralisiert in dem Sinne, dass die größte Religionsgemeinschaft weniger als 60 Prozent der Einwohner ausmacht. Sieht man vom Fall Ostdeutschlands ab, das aus Datengründen hier wie der westliche Teil Deutschlands getrennt ausgewiesen wurde, sind in Europa bis heute nur in Tschechien und in Estland jene, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, statistisch nachweisbar in der Mehrheit. Dieser Befund deutet darauf hin, dass – um mit Jacques Delors viel zitiertem Bildwort zu sprechen – die Seele Europas ohne das Wissen und die Einbeziehung der religiösen Traditionen nicht zu verstehen und die Europäische Union nicht zu gestalten ist. Die hier vorgelegten Ergebnisse sind ein Zwischenergebnis auf der Basis des aktuellen Stands der SMRE und ihrer ersten Auswertung. Bewusst wurde hier davon abgesehen, exakte Zahlen zu nennen. Denn nur für 15 Staaten ist die Einstufung der Datensicherheit als sicher möglich gewesen, und auch in diesen Fällen stellt sich im Vergleich der Datensätze immer noch das schwierige Problem, welche der durchaus nah beieinander liegenden Angaben schließlich als die beste einzuschätzen ist. Und entsprechend nochmals weiter auseinander liegen die zahlenmäßigen Angaben für jene Länder, deren Datenniveau nach unserer Analyse nur als relativ sicher oder problematisch eingestuft werden kann. Gleichwohl soll und darf das Ziel einer exakten Religionsstatistik für möglichst viele der Staaten Europas nicht aufgegeben werden. Ziel muss es sein, die empirische Grundlage zu verbreitern und der SMRE weitere Datensätze gerade für kritische Länder hinzuzufügen. Dann könnte der Versuch gelingen, eine quantitative Schätzung der Religionszugehörigkeit in Europa vorzulegen, die den Realitäten der Zuordnung der Bevölkerung zu Religionsgemeinschaften bzw. religiösen Großgruppen wie auch zur Religionslosigkeit möglichst nahe kommt. Und dann bestünde die Möglichkeit, von einem sichereren empirischen Fundament aus ein präziseres Bild der religiösen
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
155
Landschaft Europas zu erhalten. Der Debatte um die kulturelle Identität und Zukunft Europas würde dies nützen.
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Appendices Appendix A: Nomenklatur der SMRE Berichtszeitraum 2000 und 2010: Die vorliegenden Statistiken verschiedenster Provenienz beziehen sich auf unterschiedliche Stichjahre bzw. sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten veröffentlicht worden. Unter der historisch gesicherten Annahme, dass die Religionszugehörigkeit in Friedenszeiten in aller Regel recht stabil ist und sich daher nur langsam wandelt, wurden die erfassten Datensätze für den Zeitraum 1996 – 2005 im Berichtszeitraum 2000 und für den Zeitraum 2006 – 2012/15 im (laufenden) Berichtszeitraum 2010 zusammengefasst. Fall: Die SMRE erfasst die existierenden 42 Staaten Europas einschließlich der Türkei und ausschließlich Russlands. Da die Datenbank derzeit Angaben zu zwei Berichtszeiträumen pro Land enthält, ergeben sich insgesamt 84 Fälle. Die Anzahl der Datensätze pro Fall ist je nach Datenlage unterschiedlich groß. Für einen Teil der Auswertung wird zwischen West- und Ostdeutschland unterschieden, so dass sich die Zahl der Länder / Regionen auf 43 erhöht.
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
159
Datensatz: Als Datensatz gelten jeweils die Angaben zur Religionszugehörigkeit einer einzigen Datenquelle. Diese Datenquellen können Bevölkerungszählungen, Repräsentativbefragungen, generische Datensammlungen (z. B. World Christian Encyclopedia) und Statistiken der Sekundärliteratur sein. Jede Zahlenangabe zu einer Religionsgemeinschaft gilt als einzelner Datenpunkt. Technisch entspricht jeder Datensatz einer Zeile in der Datenbank. Voraussetzung für eine vergleichende Analyse der verschiedenen Datensätze ist die Einordnung der ursprünglichen Zahlenangaben der verschiedenen Datensätze in das übergeordnete, für die SMRE entwickelte Kategoriensystem der Religionsgemeinschaften einschließlich der Kategorie keine Religionszugehörigkeit und der Kategorie für fehlende Angaben. Kategorie / Kategorisierung der Religionsgemeinschaften: Jede Religionsstatistik muss die Vielfalt der Religionen und religiösen Bekenntnisse zu übergeordneten Kategorien wie Konfessionen, Religionsgemeinschaften, religiösen Großtraditionen („Weltreligionen“) bzw. Gruppen anderer Religionen („Naturreligionen“) oder der Nicht-Zugehörigkeit („keine Religionszugehörigkeit“; „Atheisten“) zusammenfassen, um Aussagen zur Religionszugehörigkeit als Teil der soziodemographischen Struktur einer Gesellschaft treffen zu können. Das Kategoriensystem der SMRE unterscheidet acht große Gruppen und ordnet die Daten der verschiedenen Datensätze entsprechend ein (zu Einzelheiten siehe Appendix C). Es wurde jeweils geprüft und soweit möglich sichergestellt, dass keine der berichteten statistischen Widersprüche und Unsicherheiten zwischen den verschiedenen Datenquellen- bzw. Datensätzen allein auf Probleme der Zuordnung zu den acht Kategorien beruhen. In diesem Sinne sind die nachgewiesenen Differenzen zwischen den vorliegenden Zahlenangaben bzw. Statistiken in der Sache begründet, d. h. nicht erst durch die Aufbereitung in der SMRE entstanden. Datenpunkte: Jeder Datensatz besteht aus mehreren Datenpunkten. Jede Zahl zu einer der acht Kategorien der SMRE gilt als ein Datenpunkt. Die Zahl der Datenpunkte variiert theoretisch und praktisch zwischen 1 und 8 und ist auch ein Kriterium für die Güte einer Datenquelle bzw. ihres Datensatzes in der SMRE. Je mehr Datenpunkte, desto vollständiger sind die Angaben zur Religionszugehörigkeit. Wenn mehr als fünf Datenpunkte für einen Datensatz vorliegen, wurde für diesen Datensatz der Herfindahl-Index nach der üblichen Formel berechnet. Eine hohe Übereinstimmung zwischen dem Wert des HerfindahlIndexes verschiedener Datensätze in einem Berichtszeitraum wurde als Konvergenzkriterium herangezogen, um die Datensicherheit zu beurteilen.
160
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
Klassifikation der Länder nach deren religionsstatistischen Grundstruktur : Idealerweise steht am Ende des Vergleich der verschiedenen Datensätze eine anhand des Vergleichs der Datensätze gewonnene verlässliche Statistik der Religionszugehörigkeit. Wie oben dargestellt ist die Situation für viele Länder aber so, dass die Varianz in den Daten so enorm ist, dass eine solche verlässliche Schätzung der realen zahlenmässigen Religionsverhältnisse in den Ländern derzeit nicht zulässig ist. Wir haben uns daher dazu entschieden, eine letztlich qualitative Einschätzung auf der Basis von quantitativen Schwellenwerten vorzulegen. Die religiöse Zusammensetzung eines Landes wird, wenn möglich, anhand einer im Kern dreifachen Klassifikation charakterisiert: Staaten gelten als Staaten mit einer dominanten Religionsgemeinschaft, wenn der Bevölkerungsanteil der zahlenmässig stärksten Religionsgemeinschaft / Gruppe in einer der acht Kategorien mindestens 60 Prozent beträgt. Bewegt sich der Anteil der grössten Religionsgemeinschaft zwischen 35 und 60 Prozent wird von einem religiös pluralisierten Land gesprochen. Ist keine der erfassten Religionsgemeinschaften mit einem Anteil von über 35 Prozent vertreten, gilt das Land als religiös fragmentiert. Originäre Datenquellen sind die letzendlichen Herkunftsorte der Daten eines Datensatzes. Alle in der SMRE erfassten Datensätze wurden daraufhin geprüft, aus welcher originären Datenquelle die von ihnen vorgelegten Daten stammen. Die SMRE führt für jeden Datensatz einzeln auf, auf welche originären Datenquellen sich die vorhandenen Statistiken letztendlich zurückführen lassen. Dieses Wissen ist unumgänglich, um die Qualität der Daten einschätzen zu können.
Appendix B: Länderliste SMRE Die 42 Länder der SMRE mit den entsprechenden Länderkürzeln sind: Albanien ALB; Andorra AND; Österreich AUT; Belgien BEL; Bulgarien BGR; Bosnien-Herzegowina BiH; Weißrussland BLR; Schweiz CHE; Zypern CYP; Tschechien CZE; Deutschland DEU inkl. Deutschland Ost DEU-O und Deutschland West DEU-W; Dänemark DNK; Spanien ESP; Estland EST; Finnland FIN; Frankreich FRA; Großbritannien GBR; Griechenland GRC; Kroatien HRV; Ungarn HUN; Irland IRL; Island ISL; Italien ITA; Kosovo KOS; Liechtenstein LIE; Litauen LTU; Luxemburg LUX; Lettland LVA; Mazedonien MKD; Malta MLT; Montenegro MNE; Niederlande NDL; Norwegen NOR; Polen POL; Portugal PRT; Rumänien ROM; Serbien SRB; Slowakei SVK; Slowenien SVN; Schweden SWE; Türkei TUR; Vatikanstadt VAT.
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
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Appendix C: SMRE-Kategorien mit Auflistung der Subsummierungen Katholiken: Griechisch-kath. Kirche, Römisch-kath. Kirche, Christkatholische Kirche Protestanten: Anglikaner inkl. Church of Ireland, Arminianismus, Baptisten, Calvinisten, Niederländ.-ref. Kirche, Evangelische Kirche, Lutheraner, Presbyterianer, Protestanten Orthodoxe: alle länderspezifischen Kirchen, d. h. Albanisch-Orthodox, Griechisch-Orthodox, Russisch-Orthodox, Armenisch-apostolische Kirche, etc. weitere Christen: Charismatisch-episkopale Kirche, Mennoniten, Pfingstler, Quäker Juden: Juden Muslime: Sunniten, Schiiten keine Religionszugehörigkeit: Agnostiker, Atheisten, Konfessionslose, Religionslose Sonstige: Bah’i, Buddhisten, Chinesische Universalisten, Hinduisten, Jaina, Konfuzianisten, Mormonen, Shintoisten, Sikhs, Spiritisten, Taoisten, Zeugen Jehovas, Zoroaster Ebenfalls zu den Sonstigen gezählt werden all jene, die im Rahmen einer Befragung keine Angaben gemacht haben oder als nicht definiert eingestuft wurden.
162
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
Appendix D: Länderbeispiel Österreich AUT Berichtszeitraum 2000 Datensatz
Quellenangabe
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Datensammlung ohne Quellenangabe
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2005
Fischer WA 2009 Statistik Austria Worldmapper
World Christian Database
4.7 5.1
4.7 5.4
4.7 4.7
73.6 75.5
CIA World Factbook 73.6 Encyclopaedia Brit. 75.6
73.0 73.6
73.6 73.8
Minkenberg 2010 WCE
eurel Fischer WA 2009
Statistik Austria Worldmapper
2.2 1.3
2.2
1.9 1.9
0.7
O
0.9
0.2
7.3
WCh
0.1 0.1
0.1 0.1
0.1 0.1
J
4.2 3.6
4.2 4.2
4.2
4.2 2.2
0.0
M
12.0 15.8
12.0 12.0
12.0 8.6
7.7
12.5
kR
2.2 0.8
5.2
5.5 11.1
15.5 0.2
0.9
S
99.9 100.0
102.2 94.6
100.0 100.6
100.0 100.0
SumCont. 99.9
8 7
8 5
5 4
6 8
6
D-Pt.
0.56 0.57
0.54
0.58
Herfindahl
alle Angaben in Prozent; K: Katholiken; P: Protestanten; O: Orthodoxe; WCh: weitere Christen; J: Juden; M: Muslime; kR: keine Religionszugehörigkeit; S: Sonstige; Quelle: eigene Tabelle auf Datengrundlage SMRE.
4.7 4.7
5.2
80.6
Gerhards 2006
P
K
Datensatz
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
163
164
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
Berichtszeitraum 2010 Datensatz
Quellenangabe
Religionsmonitor 2008 EVS ISSP PEW (Global Christianity & Global Muslim Population)
Volkszählung 2001
WRD
Diverse (Organisationsdaten & Volkszählungen)
WCD
World Christian Database
Originäre Datenquelle Survey – Religionsmonitor Survey – EVS
Jahr 2007 2008
Survey – ISSP
2008
Eigenschätzung mit Volkszählungsdaten
2010
WCD – Organisationsdaten & Volkszählung WCD – Organisationsdaten & Volkszählung
2010 2010
5.3 4.4
5.1 4.5
72.7 73.2
EVS ISSP
PEW (GC & GMP) 75.3 WCD 66.7
2.3 2.1
1.2 0.0
0.8
O
0.3 0.9
0.3 1.7
1.6
WCh
0.1
0.0 0.0
0.0
J
5.7 5.1
1.9 2.4
1.0
M
16.9
17.0 17.3
15.0
kR
0.4
1.7 1.1
1.0
S
88.7 96.7
100.0 100.0
SumCont. 99.8
5 8
8 8
8
D-Pt.
0.51
0.56 0.57
Herfindahl 0.59
WRD 0.1 5.1 16.9 0.4 22.4 4 alle Angaben in Prozent; K: Katholiken; P: Protestanten; O: Orthodoxe; WCh: weitere Christen; J: Juden; M: Muslime; kR: keine Religionszugehörigkeit; S: Sonstige; Quelle: eigene Tabelle auf Datengrundlage SMRE.
5.7
74.6
RM 2008
P
K
Datensatz
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
165
166
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
Appendix E: Länderbeispiel Frankreich FRA Berichtszeitraum 2000 Datensatz
Quellenangabe
Gerhards 2006 eurel (A. Zwilling)
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WCE
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Originäre Datenquelle Survey – EVS Survey – EVS
Jahr 1999 1999
Datensammlung ohne Quellenangabe
2000
WCD – Organisationsdaten & Volkszählungen
2000
WCD – Organisationsdaten & Volkszählungen
2001
Survey
2003
WCD – Organisationsdaten & Volkszählungen
2005
1.6 1.2
2.0 2.4
WCE 82.3 Encyclopaedia Brit. 63.4
eurel 2003 Worldmapper 1.0
1.1
1.9 0.3
1.2
O
0.0
0.7
WCh
1.0 1.0
1.0 1.0
2.4 1.1
J
5.0 8.2
7.1 6.9
0.2 8.5
0.1
M
25.0 23.1
19.7 19.0
42.6
kR
2.0 2.3
1.5 5.4
0.6 9.7
2.1
S
100.0 101.4
114.2 96.9
100.0 100.0
SumCont. 100.0
6 7
8 6
7 6
6
D-Pt.
0.45
0.55
0.84
Herfindahl
alle Angaben in Prozent; K: Katholiken; P: Protestanten; O: Orthodoxe; WCh: weitere Christen; J: Juden; M: Muslime; kR: keine Religionszugehörigkeit; S: Sonstige; Quelle: eigene Tabelle auf Datengrundlage SMRE.
65.0 63.4
2.4 1.6
91.9 78.8
eurel 1999 Minkenberg 2010
1.3
52.7
Gerhards 2006
P
K
Datensatz
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
167
168
Antonius Liedhegener / Anastas Odermatt
Berichtszeitraum 2010 Datensatz
Quellenangabe
Religionsmonitor 2008 EVS ISSP
Survey – ISSP Datensammlung ohne Quellenangabe
FWA 2009 PEW (GC & GMP)
Generations & Gender Survey / WRD
WCD
Divers
WRD
World Christian Database
CIA World Factbook
Originäre Datenquelle Survey – Religionsmonitor Survey – EVS
Eigenschätzung Survey & Volkszählung WCD – Organisationsdaten & Volkszählungen WCD – Organisationsdaten & Volkszählungen Datensammlung ohne Quellenangabe
Jahr 2007 2008 2008 2009 2010 2010 2010 2011
58.0
44.8 51.5
75.0 60.4
71.8
RM 2008
EVS ISSP
FWA 2009 PEW (GC & GMP)
WCD WRD
2.1
1.8
1.3 1.3
0.6
P
1.2
0.6
0.3 0.3
O
2.9
0.2
0.0 0.0
2.4
WCh
1.0 1.0
0.6 0.7
0.0
J
8.5 8.5
7.5
3.1 0.9
3.0
M
23.0 23.0
48.9 44.8
34.0
kR
1.7 1.7
1.1 0.7
2.0
S
112.2 34.2
75.0 70.5
100.0 100.0
SumCont. 100.0
8 4
1 5
8 8
7
D-Pt.
0.46
0.44 0.47
Herfindahl 0.45
CIA World Factbook 85.0 2.0 1.0 7.5 4.0 1.0 100.5 6 alle Angaben in Prozent; K: Katholiken; P: Protestanten; O: Orthodoxe; WCh: weitere Christen; J: Juden; M: Muslime; kR: keine Religionszugehörigkeit; S: Sonstige; Quelle: eigene Tabelle auf Datengrundlage SMRE.
K
Datensatz
Religionszugehörigkeit in Europa – empirisch
169
Der Beitrag der Religion(en) zum Projekt Europa
Isolde Charim
Die jüdische Erfahrung. Diaspora und Europa
Wenn man die Frage nach einem möglichen jüdischen Beitrag zum Projekt Europa aufwirft, dann wird man in erster Linie an die Shoah, an die Lehren, die aus der Shoah gezogen wurden und an das „Nie wieder!“ denken. Ich aber möchte heute von etwas Anderem sprechen, ich möchte auf etwas zurückgreifen, das ich als spezifisch jüdische Erfahrung bezeichnen möchte. Diese Erfahrung ist kein theologisches Konzept, sondern ein lebensweltlicher Zugang aus der Sicht einer „ganz säkularen Jüdin aus Wien“ – ganz im Sinne der Freudschen Selbstcharakterisierung. Nun muss man diese jüdische Erfahrung spezifizieren. Denn was heute eine solche, eine jüdische Erfahrung ist, ist durchaus umstritten. Da gibt es jene, die meinen, nur in Israel sei eine vollständig jüdische Identität möglich. Und dann gibt es jene, die dem eine eigenständige, eine diasporisch-jüdische Identität, ja zunehmend sogar eine europäisch-diasporische Identität entgegenhalten. Entgegen dem Anschein ist das nicht einfach eine Differenz zwischen Israel und jüdischer Diaspora. Die Bruchlinie ist viel komplexer, denn sie trennt einen Teil der Israelis und einen Teil des Diasporajudentums von einem anderen Teil der Israelis und einem anderen Teil des Diasporajudentums. Kurzum, die Differenz ist nicht geographisch festzumachen. Es ist vielmehr eine Auseinandersetzung um die Definition der jüdischen Identität, eine Auseinandersetzung um die Begriffe „jüdische Nation“ (als deren Teil sich auch viele Diasporajuden fühlen, die sich in einem diaspora-typischen „long distance nationalism“ (Benedict Anderson) als fünfte Kolonne, als vehemente Statthalter dieser Nation verstehen) im Unterschied zu einem eigenständigen „Diaspora-Konzept“ (als deren Teil sich auch viele Israelis verstehen oder verstehen möchten). Mir geht es hier nicht darum, diese Auseinandersetzung zu skizzieren, sondern vielmehr darum, das Konzept der „jüdischen Erfahrung“ zu situieren. Die jüdische, diese diasporische Erfahrung, wird gemeinhin unter dem Signum des Anderen, des Anders-Seins gefasst – sowohl als Fremd- als auch als Selbstzuschreibung. Ich denke aber, dass dies die jüdische Erfahrung nur un-
174
Isolde Charim
zureichend erfasst. Diese ist keine „wesenhafte Alterität“ (Vivienne Liska), sie ist nicht einfach die Erfahrung eines Anders-Seins, sie ist vielmehr die Erfahrung eines Eigenen, das im Kontrast zu einem Umfeld steht, das anders ist. Es ist also nicht einfach die Erfahrung eines Anders-Seins, sondern vielmehr die Erfahrung einer Doppelheit oder genauer gesagt: Es ist die Erfahrung einer Spaltung. In diesem Sinne verstehe ich auch Jan Assmanns Aussage, dass das Judentum sein Fortbestehen im Exil seiner anhaltend „kontrapräsentischen“ Identität – kontrapräsentisch als Offenhalten einer anderen Erinnerung, die zu einer „reservatio mentalis“, einem Vorbehalt gegen jede Lebenswelt, gegen jegliche Gegenwart wird – verdanke. Kontrapräsentisch bedeutet also eine notwendige Spaltung jener, die sehr wohl in einer bestimmten Gegenwart und in einer bestimmten Lebenswelt leben. Insofern ist das Leitmotiv der jüdisch-diasporischen Erfahrung nicht sosehr das Ghetto wie das Marranentum, die Zwangstaufe der spanischen Juden im 15. Jahrhundert unter der Herrschaft der Inquisition. Die solcherart Konvertierten, die sogenannten Marranen, entwickelten daraufhin bekanntlich eine Art Doppelleben, wonach sie öffentlich den katholischen Riten folgten, privat aber dem heimlich praktizierten Judentum verbunden blieben. Im Laufe der Zeit mag sich der Inhalt des Glaubens verloren haben, entscheidend für unseren Zusammenhang hier ist aber die Spaltung zwischen dem Eigenen und der Umwelt. Das ist es, worauf ich hinaus will – jenseits einer Geschichte von Zwang und furchtbarem Leid. Deshalb möchte ich von strukturellem Marranentum sprechen. Strukturelles Marranentum meint die Spaltung, die aus dem „Kontrapräsentischen“ erwächst. Es meint den Vorbehalt, der verhindert, dass man eins wird mit seiner Umwelt. Kurzum, es bedeutet, dass man eine volle Identität hat, die von einer anderen Identität „begleitet“ – im Sinne von eingehegt, begrenzt – wird. Was man dabei nicht übersehen darf und was der Rekurs auf die mehr als 2000-jährige jüdische Diaspora-Geschichte meist nahe legt, ist, dass das Andere, die Umwelt, sehr wohl das Eigene affiziert. Es affiziert es auf unterschiedliche Weise, je nachdem ob es sich um fromme oder nicht-fromme, um gläubige oder um säkulare Juden handelt. Worin dieses Affizieren besteht und was dieses mit der gegenwärtigen politischen Situation zu tun hat, versucht der Beitrag zu erhellen. Die jüdische Erfahrung stand als paradigmatische Minderheitenerfahrung lange Zeit im Gegensatz zur Erfahrung der gesellschaftlichen Mehrheit. In der europäischen, christlichen Welt war es solange Kirche und Staat bzw. Kirche und Nation verwoben waren möglich, seine Religion als volle Identität, als volle Zugehörigkeit zu leben. Natürlich steht diese Annahme einer vollen Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Psychoanalyse, zu der
Die jüdische Erfahrung. Diaspora und Europa
175
existenziellen De-Zentrierung des Subjekts, wie sie Freud und Lacan namhaft gemacht haben: dass man eben nicht „Herr im eigenen Haus“ ist, dass man sich eben nicht angehört. Natürlich wird diese konstitutive Spaltung des Subjekts durch das Angebot einer vollen Identität nur zugedeckt. Das heißt: eine volle Identität ist immer eine ideologische Konstruktion, das Angebot einer imaginären Ganzheit. Die volle Identität ist die Illusion, man könne sich sehr wohl angehören. Psychopolitisch suggeriert dies: Man kann mit sich zusammenfallen – allerdings nur dann, wenn man Teil der Gemeinschaft ist. Nur in der graduell verschiedenen Entäußerung an die Gemeinschaft erhält man sich als Ganzes zurück. Diese Glaubensform erzeugt die Ideologie der vollen Identität, die als solche, als Ideologie, durchaus funktioniert hat. (Nur weil etwas ideologisch ist, heißt das nicht, dass es nicht funktioniert.) Tatsächlich ist die volle Identität aber eine paradoxe Einbindung des Subjekts. Denn die innere Überzeugung des religiösen Glaubens muss von einem Umfeld getragen sein, von einer Objektivität, einem objektiven Glauben, der, in diversen Institutionen materialisiert, den intimen Glauben stützt und der damit dem Einzelnen garantiert, dass „er er ist“, wie es bei Louis Althusser heißt. Volle Identität bedeutet also die Herstellung eines Selbstverständnisses, die Herstellung einer unmittelbaren Evidenz sowohl der Welt wie auch der eigenen Identität. Slavoj Zˇizˇeks immer wiederkehrendes Beispiel für diese Objektivität des Glaubens ist übrigens die tibetanische Gebetsmühle: Man schreibt sein Gebet auf ein Papier, rollt es zusammen und steckt es in ebendiese Mühle, die man automatisch dreht. Automatisch heißt, man kann sich dabei, so Zˇizˇek, den schmutzigsten und obszönsten Phantasien hingeben – „objektiv betet man“. Tatsächlich verkürzt Zˇizˇek aber die Verhältnisse, denn ich könnte mich hinsetzen und stundenlang die Mühle drehen, ohne den geringsten spirituellen Effekt zu bemerken. Die Objektivität des Glaubens funktioniert nur, wenn der Glaube in ein Ganzes eingebettet ist. Die innerliche Hingabe an das Ritual ist nur dann überflüssig, wenn der Gläubige ganz grundlegend von der Objektivität des Glaubens durchdrungen ist, wenn dieser sein soziosymbolisches Universum ist, wenn also die religiöse Kultur seine Welt konstituiert. Daran zeigt sich, dass Religion im traditionellen Sinn den Menschen ihren Platz von außen zuweist. Religiöser Glaube bestimmte die Individuen von der Tradition her : Die Tradition kam von den Vorfahren, durchquerte die Individuen, die ihr nichts hinzufügten, und ging an die Kinder weiter. Religion war also eine entsubjektivierende Ordnung, die den Einzelnen in eine Kette einreihte. Und an dieser Stelle taucht die Paradoxie der vollen Identität auf, welche nur dann voll ist, wenn sie zugleich auch entsubjektivierend ist. Selbstverständliche Evidenz und die Einreihung in eine Kette fallen dabei zusammen. Identitätspolitisch funktionierten auch die traditionellen Nationen nach
176
Isolde Charim
diesem Schema. Die Nation hat diese paradoxe Form der Einbindung für die Massengesellschaft aktiviert. Sie war das Angebot einer vollen Identität unter den Bedingungen der Säkularisierung, unter den Bedingungen der Moderne. Es bedeutete die Herstellung einer massenhaft als selbstverständlich, als evident erlebten Welt durch die Homogenisierung von Sprache und Kultur, durch die Herstellung eines imaginären zeitlichen Kontinuums, in das das Subjekt mit seiner vollen Identität eingereiht werden konnte. Für all das brauchte das Narrativ der Nation eine „kraftvolle Abstraktion“1. Wir wissen durch Benedict Anderson, dass diese Abstraktion die Nation als vorgestellte Gemeinschaft ist – eine „imagined community“ – die Imagination einer natürlichen Gemeinschaft, die suggeriert, einander völlig Unbekannte würden einen Verbund von Gleichen bilden. Dazu – zur Imagination einer solchen community – musste die Nation eine entscheidende Leistung vollbringen, sie musste die mentalen und identitären Brüche, durch die sich eine vielfältige Bevölkerung charakterisiert, überwinden. Der großen Erzählung der Nation gelang es, die Kluft zwischen Einzelnem und der Masse, die Spaltung der bürgerlichen Gesellschaft in öffentliche und private Person zu überbrücken und der Trennung zwischen konkreter Differenz und abstrakter Gleichheit eine Gestalt zu verleihen. Kurzum, die Nation bildete eine Klammer, die Bourgeois und Citoyen in einer vollen Identität zusammenhielt. Wenn wir heute von Pluralisierung sprechen, dann sprechen wir davon, dass all dies, dass alle vollen Identitäten in die Krise geraten. Pluralisierung der Gesellschaft meint nicht einfach Vielfalt, es bedeutet einen ganz tief greifenden Wandel gerade der europäischen Gesellschaften. Denn das radikal Neue an dieser Pluralität liegt nicht einfach darin, dass unsere Gesellschaften moralisch und religiös vielfältiger werden. Das radikal Neue liegt darin, dass unsere Gesellschaften überhaupt kein Weltbild mehr haben, „das von allen geteilt wird“ (Charles Taylor). Subjekttheoretisch bedeutet dies, dass das Konzept der vollen Identitäten sowohl im Religiösen als auch im Politischen erodiert. Zu dieser Erosion kommt es nicht, weil wir heute so aufgeklärt sind – nichts ist so aufklärungsresistent wie eine Identität -, auch nicht, weil wir heute so fragmentiert sind oder weil es keine funktionierenden Gruppen mehr gibt. Die vollen Identitäten, die vollen Zugehörigkeiten zu einer Gemeinschaft sind deshalb Vergangenheit, weil heute die Spaltung Eingang in die Identität, Eingang in die ideologische Konstruktion selber gefunden hat. Ob dies ein zivilisatorischer Fortschritt ist, bleibt offen. Das, was die Illusion der vollen Zugehörigkeit im alten Sinne heute verhindert, ist jedoch nicht Vernunft, Erkenntnis oder Einsicht, sondern schlicht die Pluralisierung, die Vielzahl von „vollen“ Identitäten, 1 Sand, Shlomo: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Berlin 2012, S. 78.
Die jüdische Erfahrung. Diaspora und Europa
177
die heute nebeneinander existieren. In seiner Studie „Ein säkulares Zeitalter“2 schreibt Charles Taylor, dass der Gläubige heute nicht mehr im vollumfänglichen Sinn gläubig sein könne, da sein Glaube immer neben anderen Glauben ebenso wie neben dem Nichtglauben bestehen muss. Die Pluralität konkurrierender Identitäten, Überzeugungen und Gemeinschaften hat Eingang in den Glauben selbst gefunden. Dieser funktioniert nur noch als Gegenbehauptung, nicht mehr als einfache Behauptung. Und an dieser Stelle treffen wir wieder auf die jüdische Erfahrung, die Erfahrung, dass das Eigene nur als Gegenbehauptung gegen eine Umwelt, in der man ja doch auch lebt, funktioniert. Die Erfahrung wird gemacht, dass man nicht naiv, nicht direkt und selbstverständlich glauben kann bzw. dass der Glaube keine selbstverständliche Welterfahrung ist. In diesem Sinne muss man sagen: Die Pluralisierung macht die jüdische Erfahrung für die Mehrheit schlagend, die Erfahrung, dass die eigene volle Identität nur noch eingehegt gilt, die Erfahrung, dass sie gewissermaßen nur noch als nicht-volle Identität zu haben ist. Dieselbe Entwicklung findet sich auch bei der Nation. Jede Identität, jede Gruppenzugehörigkeit steht heute, nach Verlust der Dominanzstellung von Kirche und Nation, von Hochkultur und was es mehr an solch homogenisierenden Instanzen gab, neben anderen und das Wissen darum schränkt diese ein. Selbst ein überzeugter Gläubiger, selbst ein glühender Patriot gehört heute seiner Gemeinschaft nicht mehr voll an, sondern gewissermaßen nur noch nicht-voll. Nicht-voll heißt, dass die eigene volle Überzeugung und auch Bindung immer Bescheid weiß, dass sie nur eine Option unter anderen ist. Sie ist also, in den Worten Taylors, gleichzeitig engagiert und distanziert in dem Sinne, dass sie sich selber als Vertreter eines Standpunkts neben anderen sieht. Man könnte das als eine partielle Säkularisierung bezeichnen. Das aber heißt: Religiöser Glaube und politische Identität sind heute nur als nicht-voll, als partiell säkularisiert zu haben. Denn ein wesentlich säkulares Element hat Eingang in den Glauben selbst gefunden, die Entscheidung. In unhintergehbar pluralistischen Gesellschaften bedarf der Glaube einer Entscheidung. Ich erinnere hier an die Begründung des Landesgerichts Köln für sein „Beschneidungsurteil“. Darin hieß es, die Beschneidung würde dem Interesse des Kindes zuwiderlaufen, „später selbst über seine Religionszugehörigkeit (zu) entscheiden“. Eine solche Entscheidung ist aber ein säkulares Element, da das entscheidende Subjekt, das sich entscheidende Subjekt einer Subjektivität bedarf, die eben gerade nicht die Subjektivität des glaubenden Subjekts ist, sondern vielmehr deren Gegenteil. Die Entscheidung für eine Religion trifft man als mündiges, autonomes Subjekt. Entschei2 Taylor, Charles: Ein Säkulares Zeitalter. Frankfurt am Main 2009.
178
Isolde Charim
dung ist aber nicht der Modus, in dem die meisten Religionen ihre Zugehörigkeiten regeln. Aus religiöser Sicht ist der Gläubige kein mündiger Bürger, der seine Religion frei wählt, denn in der religiösen Innenperspektive gibt es keine Wahl des Glaubens. Das würde ja voraussetzen, dass der spätere Gläubige vorher schon jemand war. Aus religiöser Sicht ist aber die religiöse Identität die grundlegende, die bestimmende, die selbstverständliche Identität aus der heraus man später agiert. Eine Glaubenszugehörigkeit ist nicht dasselbe wie eine Vereinsmitgliedschaft. Sie ist gewissermaßen das Gegenteil davon. Die neue Glaubensform, die heutige Form, unseren Glauben zu bewohnen, besteht nun gerade darin: Man wählt einen Glauben, man sucht sich eine persönliche Zugehörigkeit aus. Das ist ein Unterschied ums Ganze. Denn statt in eine Überlieferung eingeordnet zu werden, eignet man sich Traditionen an – eigene oder fremde. Das ist dabei gleichgültig. Genau deshalb ist die Figur des Konvertiten heute so virulent, die Verschiebung der Glaubensform bedeutet einfach gesprochen, dass heuzutage alle, die glauben, Konvertiten sind, selbst innerhalb der eigenen Religion. Man konvertiert gewissermaßen auch zur eigenen Religion. Denn die Grundlage des Glaubens, die Art, wie wir unseren Glauben bewohnen, ist die des Konvertiten: Es ist eine Entscheidung. Wir wählen einen (oder mehrere) Glauben aus. Der springende Punkt ist, dass solch eine Wahl die gegenteilige Funktion von früherer Religiosität hat: Statt einer Entsubjektivierung durch gegebene Zugehörigkeiten dient der Glaube heute vielmehr der Ich-Werdung. Statt um die Zuweisung zu einem Platz geht es um dessen subjektive Aneignung. Es geht um gewählte Bindungen. Und da sich diese unserer persönlichen Entscheidung verdanken, bleiben sie natürlich auch immer widerrufbar. In unserer diversifizierten Gesellschaft ist die paradigmatische Figur des Gläubigen der Konvertit, also derjenige, der sich für einen Glauben entschieden hat. Das ist der Auftritt einer neuen Form, seinen Glauben zu leben. Wir haben den Glauben zu etwas Anderem, ja nahezu zu seinem Gegenteil gemacht: zu unserer Identität. Und damit hat sich die paradoxe Einbindung genau verkehrt. Aus der entsubjektivierenden vollen Identität ist die ich-steigernde nicht-volle Identität geworden. Meine These lautet nun, dass die Erfahrung einer Spaltung, das Leben in einer Spaltung das Grundmodell unserer gegenwärtigen Gesellschaften bildet. Die „marranische“, die jüdische Erfahrung, die früher die Erfahrung des Außenseiters, die Erfahrung des Parias war, hat sich heute verallgemeinert. Konnte Freud sagen: „[…] als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der kompakten Majorität zu verzichten“3, dann 3 Freud, Sigmund: „Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith (1926)“, in: Gesammelte Werke, Bd. 17. London 1941, S. 52.
Die jüdische Erfahrung. Diaspora und Europa
179
muss man heute sagen, dass diese Majorität aus identitärer Sicht nicht mehr kompakt ist. Die diasporisch-jüdische Erfahrung ist nachträglich zu einer „Avantgarde“ geworden (ich hoffe, Sie spüren die Ironie der Anführungszeichen) in einer Gesellschaft, die im Modus der Spaltung und nicht mehr im Modus der vollen Identitäten funktioniert. Die Diaspora ist heute zum Paradigma der gesamten Gesellschaft geworden, eben weil wir unsere Identitäten anders bewohnen, eben weil sich die Art unserer Zugehörigkeit verschoben hat. Im Bereich des Politischen – und gerade für die Frage nach dem europäischen Projekt, der wir uns hier stellen – bedeutet dies, Demokratie und Nation getrennt zu denken. Dies bedeutet nicht, dass sich nationale Territorialstaaten in absehbarer Zeit auflösen würden, aber dass die Nation als Konzept, als Idee nicht mehr Grundlage des demokratischen Prozesses ist. Es braucht also das, was Jürgen Habermas die Auflösung der „geschichtlichen Symbiose des Republikanismus mit dem Nationalismus“4 nennt, die Entkoppelung des demokratischen politischen Prozesses von der nationalen Mehrheitskultur. Demokratie und Nation sind zwar gleichzeitig aufgetreten, trotzdem ist ihre Verbindung keine notwendige. Der demokratische Prozess ist durchaus getrennt von einer nationalen Integration denkbar. Die Demokratie, so Habermas, „ist nicht von Haus aus auf eine mentale Verwurzelung in der Nation (…) angewiesen“5. Was aber bedeutet das in psychopolitischer, in subjekttheoretischer Hinsicht? Wenn wir eine der Grundlagen der Demokratie – die Trennung von Staat und Religion – ins Psychopolitische übersetzen, dann bedeutet dies, die vollen Identitäten, die des Glaubens und die der eigenen je konkreten Identitäten zu beschränken durch jene öffentliche Person, die man auch ist. Die öffentliche Person, die sich nach Abzug ihrer nationalen Aufladung vor allem als Abstraktion darstellt ist die Grundlage unserer Gleichheit. In Bezug auf die Religion hat Friedrich Wilhelm Graf diese Bewegung als die „teilweise Integrierung der Außenperspektive in die Innenperspektive der Religion“6 genannt. Eine solche ist die identitätspolitische Grundoperation der ihrer nationalen Kleider entledigten, der nackten Demokratie, die Spaltung der Individuen in je konkrete Einzelne und in abstrakt Gleiche. Die vollen Identitäten sind nicht nur eins mit ihrem Glauben, sie sind tendenziell auch „vollständig in die gesellschaftliche Ordnung sozialisiert“, so lautet zumindest das „theologische Weltbild“7. Es ist dies jedoch, muss man hinzufügen, eben kein demokratisches Wunschbild. Demokratie verlangt zwar nicht 4 Habermas, Jürgen: „Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie“, in: ders: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt am Main 1998, S. 116. 5 Ebd., S. 117. (Hervorhebung I.C.) 6 Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.): Die Wiederkehr der Götter, Religion in der modernen Kultur. München 2007, S. 109. 7 Luckmann, Thomas (Hg.): Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991, S. 119.
180
Isolde Charim
das Ende der vollen Identitäten, aber deren Eingrenzung. Das Paradox der Demokratie lautet: Volle Identitäten müssen auch zu jenen öffentlichen Subjekten werden, die keinen Glauben kennen, da dieser ja privatisiert wurde. Die staatsbürgerliche Gleichheit und die partikulare Differenz „ergänzen“ sich zur gespaltenen Identität des Demokraten. Denn Demokratie ist jene politische Organisationsform, der eine gespaltene Identitätsstruktur entspricht. Darin liegt ein enormer Sprung, ist doch damit die demokratische Identität das Gegenteil von dem, worin Identität besteht: Einheit. Das demokratische Subjekt ist gerade über seine Spaltung, gerade über den Abzug von seiner vollen Identität an die Demokratie gebunden. Diese merkwürdige, negative, abstrakte Bindung kennzeichnet die demokratische Subjektivität. Sie entsteht, indem man eine Spaltung ins Subjekt einführt – einen Abzug von den vollen, privaten Identitäten. In diesem Sinne funktioniert Demokratie psychopolitisch also nicht durch Überzeugungen, die ja eine inhaltliche Aufladung, ein Bekenntnis verlangen würde, sondern primär eben als Spaltung. Das demokratische Subjekt ist die „Einheit“ seiner partikularen und seiner abstrakten Identität. Es kann also keine Demokraten mit voller Identität geben, ist doch die Demokratie eben jene politische Struktur, die eine solche verhindert. In diesem Sinn bedeutet Demokratie eben die Notwendigkeit, der nicht-vollen Identität, den Abzug von bestehenden Glaubens- und Identitätsverhältnissen, die Einführung der demokratischen „Leere“ ins Herz der vollen Identität. Hier treffen wir wieder auf die jüdische Erfahrung und es zeigt sich, auf welche Art die Umwelt, die das Kontrapräsentische abzuwehren versucht, dennoch Eingang ins Individuum gefunden hat, auf welche Weise es dieses affiziert, nämlich als Abzug von der vollen Identität, als Einhegung des vollen Glaubens zu einem nicht-vollen. So wäre dieser jüdische Beitrag zu einem Projekt Europa der paradoxe Beitrag der Erfahrung einer partiellen Säkularisierung. Die Zugehörigkeit zum demokratischen Gemeinwesen stellt sich primär nicht durch die Akzeptanz von Werten her, sondern durch die „Akzeptanz“ des neutralen Staates, die sich in ebenjener Zweiteilung des Subjekts äußert. Dieser funktioniert gewissermaßen kontrapräsentisch: als Abwehr der vollen Identitäten durch eine abstrakte, allgemeine, gleiche Zugehörigkeit (auch wenn das Kontrapräsentische sich verkehrt hat und es sich nun aufseiten der pluralen Umwelt findet). Europa, das europäische Projekt, kann nicht die Nation auf erweiterter Ebene wiederherstellen. Es kann nicht die Klammer, als welche die Nation fungiert hat, rekonstruieren. Es kann kein Europa der vollen Identitäten geben, sondern nur ein demokratisches Europa seiner nicht-vollen, seiner partiell säkularisierten Bürger.
Die jüdische Erfahrung. Diaspora und Europa
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Literaturverzeichnis Freud, Sigmund: „Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith (1926)“, in: Gesammelte Werke, Bd. 17. London 1941. Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.): Die Wiederkehr der Götter, Religion in der modernen Kultur. München 2007. Habermas, Jürgen: „Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie“, in: ders: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt am Main 1998, S. 91 – 169. Luckmann, Thomas (Hg.): Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991. Sand, Shlomo: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Berlin 2012. Taylor, Charles: Ein Säkulares Zeitalter. Frankfurt am Main 2009.
Marcello Neri
Nach dem Ende der Institutionen der Moderne. Christentum und Europa: ein gemeinsames Schicksal
1.
Der Friede als politische Frage
Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union1 stellt eine doppelseitige Anerkennung ihrer zivil-politischen Funktion im globalen Kontext der Gegenwart dar.2 Es geht darum, dass das Wesen der europäischen Machtverhältnisse und die Balancierung ihrer internationalen Bestimmung nicht mehr in einem fortdauernden Kriegszustand besteht3, wie es für die ganze Spanne der Moderne charakteristisch gewesen war4. Seit über sechzig Jahren ist 1 Die Erklärung der Begründung wurde am 12. Oktober 2012 vom Nobelpreiskomitee bekannt gegeben; der Friedennobelpreis wurde am 10. Dezember 2012 verliehen und vom Ratspräsidenten, vom Kommissionspräsidenten und vom Parlamentspräsidenten entgegengenommen. 2 Die verschiedenen Institutionen der katholischen Kirche in Europa haben darauf kaum reagiert, sieht man von einer ganz kurzen und letztendlich rhetorischen Pressenmitteilung ab. Die erste und bis jetzt (Februar 2013) einzige artikulierte Reflexion einer christlichen Kirche über Bedeutung und Tragweite dieser Preisverleihung, die mir bekannt ist, ist das folgende Dokument der Evangelischen Kirchen in Deutschland: EKD, Für eine gemeinsame Zukunft in einem geeinten Europa. Ein Wort der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) zur Stärkung des europäischen Zusammenhalts. Verfügbar unter : www.ekd.de/EKD-Texte/84524.html [30. 09. 2013]. 3 The Norwegian Nobel Committee, The Nobel Peace Price Announcement: „The Union and its forerunners have for over six decades contributed to the advancement of peace and reconciliation, democracy and human rights in Europe (…) The stabilizing part played by the European Union has helped to transform most of Europe from a continent of war to a continent of peace. The work of the European Union represents ,fraternity between nations‘, and amounts to a form of the ,peace congress‘ to which Alfred Nobel refers as criteria for the Peace Prize in his 1895 will“ (veröffentlicht am 12. Oktober 2012 und abrufbar unter : www.nobelpeaceprize.org/en_GB/laureates/laureates-2012/announce-2012). 4 Prodi, Paolo: Storia moderna o genesi della modernit? Bologna 2012, pp. 53 – 54: „Tra il XVI e il XVII secolo la violenza diventa lecita soltanto tra soggetti dotati di piena sovranit e viene regolata da norme che circoscrivono l’uso della forza ai soli rapporti interstatali; essa ha come sbocco non l’annientamento dell’avversario ma la ricostruzione di un nuovo equilibrio di potere e di un nuovo ordine all’interno di uno jus publicum europaeum (…) In realt nella storia moderna la guerra diventa qualcosa di molto pi¾ importante perch¦ À lo strumento
184
Marcello Neri
Grund, Vollzug und Ziel der staatlichen Politik in Europa weder der Krieg noch eine direkte Anwendung von militärischer Gewalt – eine absolute Neuheit in der Geschichte unseres Kontinents. Die zu wenig bedachte Folge dieses hoffnungsvollen Ergebnisses, entstanden aus der materiellen und geistigen Zerstörung des II. Weltkrieges, ist, dass die europäische Politik eine ganz neue „Verfassung“ erhalten hat: Innerhalb der europäischen Staaten hat sich das Verhältnis zwischen Bürger als Individuum und Staat als Gewaltinstitution grundsätzlich verändert. Zwischen den europäischen Staaten ist es die Bestimmung der Machtverhältnisse, die eine riesige Transformation erlebt hat und nicht mehr im Krieg, sondern in einer abwiegenden und diskursiven Verhandlung der möglichen Friktionspunkte besteht, die das Gemeinsame und das Partikuläre ständig zu vermitteln versucht und zusammen zur Geltung bringen will.5 Das Politische in Europa kann heute weder in einem Verständnis des Krieges als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz) noch in einer Deutung des Krieges als „Wesen oder Voraussetzung der Politik“ (Schmitt) bestehen. Die Stärke der Entkoppelung vom Krieg ist aber auch zur Schwäche des Politischen in Europa geworden6, dem es immer schwieriger wird, dem Bürger die Frage nach der demokratischen Gewalt und ihrem Fundament auf angemessene Weise und in
fondamentale per la costruzione dello Stato cos come À arrivato sino al XX secolo quando, con la prima grande guerra mondiale, questo ordine viene lacerato. La guerra, la presenza di corpi armati permanenti a tutela dell’ordine pubblico, permette allo Stato il monopolio della violenza anche in tempo di pace nei confronti della popolazione interna, dei sudditi; À nella guerra che si manifesta al limite estremo il vero rapporto fra l’individuo e lo Stato, ma À nella pace che esso trova la sua quotidiana manifestazione“. 5 Diese neue „Verfassung“ der europäischen Politik könnte meines Erachtens eine epochale Überwindung der modernen, philosophischen Spannung von Universalem und Einmaligem darstellen, in der es dem Universalen letztendlich gelungen ist, seinen Totalitätsanspruch durch Vernichtung des Partikulären durchzusetzen und das Einmalige nur in dem Maße zuzulassen, als es keine gefährliche Abweichung von der totalen Ganzheit darstellte: „La modernit¦ classique, cristallis¦e avec les LumiÀrs, a voulu d¦passer les h¦ritages du pass¦ (…) C’est le temps d’une raison selon un r¦gime dont on peut aujourd’hui d¦crire les caract¦ristiques, mais qui, au d¦part, s’investit comme la raison (…) Et chaque fois, notons-le, selon totalisation r¦f¦r¦e un principe premier et dernier (un principe inconnu avant les Temps modernes, christianisme compris), et organisateur d’un ensemble pens¦ comme homogÀne o¾ tout s’intÀgre, sauf l’Þtre ill¦gitime, o¾ tout est assimil¦, sauf Þtre r¦pudi¦ ou, dans le meilleur des cas, tol¦r¦, pour autant qu’il soit rel¦gu¦ l’intime et non facteur des troubles“ (Gisel, Pierre: R¦sistances des particularit¦s et piÀges de l’universel. Pour un usage subversif des corps, des traditions et des frontiÀres. Unveröffentliches Manuskript). 6 Gauchet, Marcel: La d¦mocratie contre elle-mÞme. Paris 2002, p. 233 f.: „C’est cette r¦duction de la violence qui explique la place d¦mesur¦e que les repr¦sentations de la violence tendent prendre au sein de notre culture: moins il y a de violence de fait, plus la sensibilit¦ ses manifestations augmente (…) D’une maniÀre plus g¦n¦rale, je crois qu’on peut dire que nous sommes t¦moins dans la vie sociale du passage d’un ge strat¦gique un autre. De l’ge de l’affrontement, nous passons l’ge de l’¦vitement.“
Nach dem Ende der Institutionen der Moderne
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aller Öffentlichkeit nahezubringen7 –, was auch zu einer administrativen Bürokratisierung der Demokratie und zur rhetorischen Herabsetzung ihrer Institutionen geführt hat.8 Die Konfliktsituation bleibt Bestandteil der gesellschaftlichen Verhältnisse auch innerhalb einer demokratischen Ordnung, die nicht mehr vom Krieg bestimmt ist. Das große Problem der europäischen Demokratie in unserer Zeit ist, wie der Staat ein solches Konfliktpotential bewältigen kann, um innerhalb des Pluralismus und der Mobilität seines gesellschaftlichen Corpus die staatsbürgerliche Pflicht zum Gemeinsamen zu fördern, nachdem er nicht mehr über die Funktion des Krieges als Mittel zur Durchsetzung seines Gewaltmonopols verfügen kann. Es scheint mir, dass der gewaltige Ausbruch des heutigen Populismus in den Ländern der Europäischen Union eben im Horizont jener „Krise“ verstanden werden muss, die mit dieser neuen „Verfassung“ des Politischen verbunden ist: einerseits mit der Entfremdung der politischen Institutionen der Demokratie vom Leben der Bürger, andererseits mit der dekadenten Wiedereinführung von „kriegerischen“ Verhältnissen unter den Bürgern9 aufgrund ihres ethnischen, sexuellen und ideologisch-politischen Status.10 Allerdings wird mit dem Friedensnobelpreis an die Europäische Union die Möglichkeit anvisiert, dass eine supranationale Instanz11 mit demokratisch geprägter Gestaltungskraft, abgesehen von dem noch bestehenden Defizit an Demokratie ihrer politischen Institutionen12, einen Weg zu bieten vermag, um sowohl diese bisher unbekannten Herausforderungen als auch die nunmehr evidenten Engführungen des deregulierenden Funktionierens der marktwirtschaftlichen Globalisierung zu bewältigen. Wie auch immer man diese Anerkennung durch das Nobelpreiskomitee bewerten will, stellt sie jedenfalls eine „positive“ Tatsache fest: Europa ist nicht mehr das, was es gewesen ist, und hat eine neue politisch-kulturelle Form erfunden, um in einer geänderten Konstellation der Weltverhältnisse es selbst sein zu können. In dieser Transformation des Politischen, die auch den bewussten Ausgang Europas aus der Moderne als Europäisierung der Welt (eben im Sinne einer europäischen Totalisierung des Globus) darstellt, liegt der Keim dessen, was man das europäische „Permanente“ 7 8 9 10
Vgl. Nancy, Jean-Luc: V¦rit¦ de la d¦mocratie. Paris 2008. Vgl. Agamben, Giorgio et al.: DÀmocratie, dans quel ¦tat. Paris 2009. Vgl. Sequeri, Pierangelo: Contro gli idoli postmoderni. Torino 2011, p. 6. Die letzten zehn Jahre des politischen Lebens in Italien sind von einem grenzenlosen, medialen Kriegszustand gekennzeichnet, der das Politische als quantit¦ n¦gligeable endgültig erledigt hat. 11 Vgl. Ferry, Jean-Marc: La question de l’¦tat europ¦en. Paris 2000; Ibid.: La r¦publique cr¦pusculaire. Comprendre le projet europ¦en in sensu cosmopolitico. Paris 2010; PadoaSchioppa, Tommaso: Europa, forza gentile. Bologna 2001; Ibid.: Europa una pazienza attiva. Malinconia e riscatto del Vecchio Continente. Milano 2006. 12 Vgl. Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt am Main 2011.
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nennen könnte: Um es selbst zu sein, bedarf Europa nicht, sich selbst zu wiederholen. Dem westlichen Europa fehlt eine politische Mythologie der Begründung (auch diejenige der französischen Revolution ist in der Tat nichts mehr als eine vorläufige Erscheinung gewesen). Der nationalstaatliche Narrativ der Moderne wurde hauptsächlich durch Erfindung von neuen zivilen Traditionen gestaltet13, sodass dem europäischen Geist der Zwang einer Selbstwiederholung als Bedingung der Identitätsfindung bzw. Identitätserhaltung grundsätzlich fremd geblieben ist. Es ist kein Zufall, dass eine Begründungsmythologie mit ihrer Wiederholungsinszenierung in Europa eben von den Totalitarismen des XX. Jahrhunderts neu eingeführt werden musste. Mit der europäischen Fähigkeit des politischen Erlernens aus dem eigenen Scheitern handelt es sich nicht so sehr um einen zeitbedingten Umstand, den Europa plötzlich errungen hätte, um seinen Bedeutungsverlust zu kaschieren und sich eine neue, obwohl marginale Rolle im internationalen Kontext der Nachkriegszeit zu vergeben. Vielmehr stellt diese plastische Transformationsfähigkeit der europäischen Gestaltung ein wesentliches Merkmal ihrer kulturellen und zivilen Einmaligkeit dar. Moderne als europäische Geschichte ist vom menschlichen Vermögen eines tätigen Transformierens grundsätzlich durchdrungen, das aber immer auch eine „aufhebende“ Verwandlung des Bestehenden in sich birgt.14
2.
Das Unbehagen der Moderne
Die europäische Diskontinuität der Moderne ist von einer eigenartigen Sensibilität für die Bindung an das gekennzeichnet, worüber man hinaus gehen muss, um das Potential jener errungenen Transformationsfähigkeit verwirklichen zu können. In seinen Anfängen entsteht das individuelle Bewusstsein15 der je eigenen Subjektivität16 aus der humanistischen Transpositionskunst des klassi13 Vgl. Hobsbawm, Eric / Ranger, Terence (ed.): The Invention of Tradition. Cambridge 1992. 14 Heller, Ýgnes: Per un’antropologia della modernit. Torino 2009, pp. 39sgg: „Nella modernit nessuna nuova forma di arte o filosofia viene pi¾ inventata: i filosofi, come dice Hegel, sono diventati riflessivi, non creatori, nel senso che riflettono su quello che gi À, ma non riescono a creare nessun nuovo sistema filosofico. Se, dunque, in questa concezione À incluso il concetto di perdite, ciý significa che, pur essendo vero che nella modernit vi sono state sconfitte e passi indietro, tuttavia il guadagno in fatto di libert e di scoperte scientifiche e tecnologiche À stato maggiore.“ 15 Vgl. Prodi, Paolo: Storia moderna o genesi della modernit? Bologna 2012, p. 35. 16 Heller, Ýgnes: Per un’antropologia della modernit. Torino 2009, p. 73: „Nelle societ tradizionali del passato le potenzialit individuali erano gi inscritte nel codice genetico, e in un certo senso il destino del singolo era gi determinato, le potenzialit ristrette entro il contesto sociale in cui si nasceva. Le societ moderne invece offrono diverse opportunit, che si
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schen Kulturguts in eine neue Kondition des Menschlichen17, die von den praktisch-technischen Möglichkeiten einer gestaltenden Arbeit an der Umwelt (Natur) und an der Lebenswelt (Gesellschaft und Kultur) immer stärker geprägt war. In diesem Sinne gehen Transformation und Transposition in der europäischen Moderne zusammen, wobei die technische Anwendung des Möglichgewordenen stets von einer kulturellen Verfeinerung der geistigen Verfassung des Menschen begleitet und balanciert war. Auf diese grundlegende und gegenseitige Porosität von Geistigkeit und Materialität18 des Menschlichen beruht die Dynamik der Moderne19 als unabgeschlossene Offenheit zur Transformation des Erreichten – was ihrerseits eine rationale Stabilisierung der das Ganze tragenden Subjektivität verlangte. Man hat es somit mit einer komplexen Struktur von Bindungen zu tun, die die Moderne zwar als ständige Offenheit zur transponierenden Transformation gekennzeichnet hat, aber in ihrem Denken zu wenig berücksichtigt und untermauert worden ist. In sich war die moderne Dynamik von Entgrenzung und Begrenzung, von Verflüssigung und Stabilisierung, höchst fragil und auf ihre verbindende Bewegung grundsätzlich angewiesen, um sich im Lauf der tiefen Modifikationen der individuellen und gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit erhalten zu können. Auf der Ebene der Subjektivität versuchte die Moderne die Entgegensetzungen, die aus dieser Dynamik entstehen (Ego und Alter ; Individuum und Gesellschaft; Vernunft und Sinnlichkeit; geistige Innerlichkeit und materiale Äußerlichkeit; Mensch und Gott; Geschichte und Transzendenz), vor allem durch die Kategorie der „Entsprechung“20 zu denken – sei diese als Versöhnung oder auch als Dialektik verstanden worden. In der Entsprechung bleibt aber der Raum zwischen den Entgegengesetzten grundsätzlich leer, so dass dieser Begriff eben die verbindende Bewegung nicht zu thematisieren vermag, die letztendlich hätte gedacht werden müssen. Die Bindung an das Entgegengesetzte wird durch Rekurs auf eine höhere Instanz der Versöhnung oder auf eine äußere Instanz der Dialektik ausgeblendet, wobei
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aprono come un fascio di possibilit illimitate, perch¦ non vengono posti limiti dalla societ.“ Vgl. Garin, Eugenio: L’umanesimo italiano. Filosofia e vita civile nel Rinascimento. RomaBari 1994; Stierle, Karlheinz: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts. München-Wien 2003. Sequeri, Pierangelo: L’umano alla prova. Soggetto, identit, limite. Milano 2002, p. 147: „In questo senso possiamo parlare di qualit tipicamente simbolica della manifestazione e del riconoscimento dell’altro nell’umano comune, dato che i contenuti e i valori dell’interiorit umana si offrono esclusivamente nella materialit del sensibile e, al tempo stesso, esclusivamente alla sensibilit dell’immateriale per cui l’umano À originariamente predisposto“. Es ist eben diese poröse Gegenseitigkeit vom Geistigen und Materiellen, die heute verschwunden ist, was auch zur neu-liberalen Form der Unterwerfung des Subjekts geführt hat. Vgl. Heller, Ýgnes: Per un’antropologia della modernit. Torino 2009, p. 45. Vgl. Appel, Kurt: Entsprechung im Wider-Spruch. Eine Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsbegriff der politischen Theologie des jungen Hegel. Wien 2002.
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diese Instanz, wie auch immer sie verstanden wurde, die trennende Entfremdung der Gegensätze nicht wirklich überwinden konnte. Am Ende der Moderne wird das menschliche Subjekt in beiden Varianten der Entsprechung einer totalen Einsamkeit preisgegeben, die eine steigernde Selbstbezogenheit der ichhaften Vollzüge veranlasst – seien diese theoretischer oder existentieller Art. Die verschiedenen Weisen von Entsprechung als Versöhnung (z. B. Hegel) nehmen die einsame Ungebundenheit des modernen Ich in Kauf, um eine letzte unumstößliche Gemeinsamkeit des Menschlichen zu ermitteln, die aber immer schon eine Totalisierung impliziert, worin das Partikuläre nur noch als akzidentelle Deklination des Allgemeinen gelten kann. Man könnte sich fragen, was das für ein Gemeinsames ist, welches überhaupt nicht zusammen erlebt werden kann, um als solches funktionieren zu können. In der Entsprechung als Dialektik (Kierkegaard) grenzt dagegen die Einsamkeit des Subjekts an das PolitischTheologische einer unbestimmbaren Auserwählung des Einzelnen, der aus jeder Gemeinsamkeit des Mitmenschlichen entrissen werden muss, um einer schicksalhaften Fügung nachzugehen. Um der intellektuellen Redlichkeit willen muss man an diesem Punkt auch die katholische Mythologie der Moderne entlarven, ohne auf eine Kritik der Selbstgeschlossenheit ihres Systems zu verzichten, in der die Annährungsversuche an die moderne Vernunft gefangen geblieben sind. Das Christliche stellt jedenfalls jene fundamentale Bezugsinstanz dar, von der her sich die Moderne emanzipieren bzw. distanzieren will, gerade indem sie es in die von ihr hervorgebrachte Neukondition des Menschlichen hinein zu transponieren versucht: „In der Geschichte der modernen Distanz von Vernunft und Glaube hat Hegel der von der Religion getrennten Philosophie die Instanz eines Gedankens des metaphysischen Fundaments gegenübergestellt – der seiner theologischen Wahrheit gewachsen sein musste –, nämlich ein Verständnis der Wahrheit als logos und pneuma und nicht nur als Sein. Die Entscheidung darüber, wie viel Distanz zu bewahren und wie viel Versöhnung zu gewähren ist in Bezug auf das Verhältnis von Vernunft und Glaube im Denken des Grundes, ist die große Herausforderung, die Hegel dem Christentum und der Philosophie stellt“.21 Das moderne Denken Europas vollzieht sich grundsätzlich auf dem Prüfstein des (christlich) Unbedingten.22 Die dialektische Entsprechung setzt zwar mit der unabdingbaren Notwendigkeit des Unbedingten an, aber, um die systemischen Engführungen der Selbstbezogenheit des modernen Ich zu kontrastieren, kann solch ein Setzen des Unbedingten nur als absolute Äußerlichkeit verstanden 21 Vgl. Sequeri, Pierangelo: „Metafisica e ordine del senso“, in: Teologia (2011), p. 165sgg. 22 Vgl. Neri, Marcello: „Europa auf dem Prüfstein des Unbedingten“, in: Bidese, Ermenegildo / Fidora, Alexander / Renner, Paul (Hg.): Philosophische Gotteslehre heute. Der Dialog der Religionen: Darmstadt 2008, pp. 181 – 196.
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werden, die keine Berührung und Kontamination (ästhetische, ethische und sogar religiöse) mit dem Logos der menschlichen Vernunft haben darf. In seiner majestätischen Selbstgerechtigkeit vollzieht sich hier die Arbeit des Unbedingten am Menschlichen, ohne zu irgendeiner sittlichen Rechtfertigung seiner Aufforderung verpflichtet zu sein. In der Entsprechung als Versöhnung ist das Anwesen des Unbedingten an der Vernunft zwar eine notwendige Bedingungsmöglichkeit ihres Vollzugs, aber das Unbedingte stellt kaum mehr als eine Funktion dar, die ermöglicht, dass das Ich als einheitliches zu sich selbst kommen kann trotz aller Entgegensetzungen, in denen es besteht. Die moderne katholische Apologetik oszilliert zwischen diesen zwei Optionen (Entsprechung der Versöhnung und Entsprechung der Dialektik) und versucht, einen Begriff der Entsprechung zu entwickeln, der zu einer Vermittlung von Dialektik und Versöhnung kommen will. Die zwei Hauptbezugspunkte ihres Ansatzes waren dabei die christliche Religion einerseits und die katholische Kirche andererseits, wobei die erste mit der zweiten völlig identifiziert wurde. Dieser dabei zu Tage tretende katholische Wahrheitsanspruch tritt unvermeidbar in Spannung mit der kritischen Autonomie der modernen Vernunft ein. Es handelt sich aber um eine Spannung, die nur anscheinend einen Gegensatz zur Moderne beinhaltet, weil sie strukturell eine Osmose mit den Grundzügen (und Sachgassen) des modernen Denkens darstellt. Was nämlich die formellen Strukturen des Denkens anbelangt, ist die Distanz der katholischen Apologetik von der modernen Vernunft gleich Null. In ihr geht es einerseits um die Allgemeingültigkeit des Wahrheitsanspruches des kirchlichen Glaubens gegenüber der philosophischen Vernunft, andererseits um die letzte Legitimierung der Gewaltausübung gegenüber dem nationalen Souveränitätsanspruch des modernen Staates. Eingezwängt zwischen diesen zwei Teilen der apologetischen Auseinandersetzung, in der sich die Kirche mit ihrer lehramtlichen Autorität identifizierte, widerfährt der so genannten demonstratio christiana sowohl eine Funktionalisierung als auch eine Marginalisierung: Das Christologische wird in den Dienst der Rationalität der Religion und der Autorität der Kirche gestellt. Nach diesem Schema scheint die Offenbarung Jesu Christi nichts anderes als ein Kurzweg zur Erkenntnis Gottes zu sein, die man durch eine „religiöse“ Anwendung der menschlichen Vernunft immer schon gewinnen hätte können.23 Sobald die Vernunft zu ihrer Erkenntnis gekommen ist, durch die sie sich entsprechen kann, gerät sie unmittelbar unter die heteronome Kontrollinstanz der kirchlichen Lehrautorität, die allein über die Wahrheit jener Vernunfterkenntnis zu urteilen vermag. Der neuscholastische Ansatz erlaubt de facto keine wirkliche Autonomie der philosophischen Vernunft, da ihr wahrer Vollzug mit einem 23 Vgl. Sequeri, Pierangelo: L’amore della ragione. Variazioni sinfoniche su un tema di Benedetto XVI. Bologna 2012, p. 8.
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erkenntnistheoretischen Inhalt übereinzustimmen hat, worüber nur das kirchliche Lehramt verfügen kann, sodass die einzigmögliche Autonomie der Vernunft darin bestehen würde, sich jede wirkliche Selbständigkeit abzusprechen.24 Nach diesem Modell gäbe es eine Rationalität des Glaubens nur außerhalb des Glaubens selbst. Sie stellte jedenfalls keine autonome Vernunft dar, da sie ihre Erkenntnisse bzw. Geltungsansprüche immer der lehramtlichen Kontrollinstanz zu unterwerfen hätte. Im Unterschied zu dieser nur vermeintlichen Vernunfterkenntnis wird der Glaubenserkenntnis das Attribut der Unvergänglichkeit (durch einen übernatürlichen Eingriff) zugeschrieben. Die Äußerlichkeit dieser erkenntnistheoretischen Zuschreibung ermöglicht, „Dasselbe“ des Inhaltlichen in einer „Textualität“ einzugrenzen, die von derjenigen der philosophischen Vernunft getrennt ist und worüber die Lehrautorität der Kirche allein, ohne weitere Kontrollinstanzen verfügen und urteilen kann. Dadurch wird letztendlich postuliert, dass es innerhalb des Glaubens keine Rationalität geben muss.25 Solch eine theologische Position der katholischen Apologetik war nur dadurch möglich, dass sich das Katholische innerhalb der modernen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts als getrennte und völlig auf sich selbst bezogene Subkultur etablieren konnte – als eine Art Parallelwelt zur modernen Gesellschaft der Nationalstaaten Europas. Auf gesellschaftlicher Ebene versuchte die politische Macht des modernen Staates die menschlichen Bindungen immer mehr zu institutionalisieren, um eine Kontrolle über das Leben der Bürger zu gewinnen und ein Gefühl der 24 Verweyen, Hansjürgen: Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. Die Entwicklung seines Denkens. Darmstadt 2007, p. 31sgg.: „Bildlich gesprochen schloss die Theologie (sei es der Not gehorchend oder aus eigenem Trieb) mit der Philosophie ein Dienstverhältnis auf Lebenszeit ab – unter der Bedingung, dass sich die Magd von der Herrin stets genau auf die Finger schauen ließ. Theologiegeschichtlich gesehen nimmt Ratzinger der Philosophie gegenüber eine ähnliche Position ein wie Augustinus zu Beginn seiner bischöflichen Laufbahn gegenüber den ,freien Künsten‘ (…) Systematisch betrachtet führen die Überlegungen dieses Vortrags in einen ,vitiösen Zirkel‘. Ratzinger betont, dass die Philosophie als solche ,das andere und eigene (bleibt), worauf der Glaube sich bezieht, um sich an ihm als dem anderen auszusprechen und verständlich zu machen‘. Insofern sich der christliche Glaube als Antwort auf die letztgültige Selbstmitteilung Gottes versteht, bedarf er zu seiner universalen Verkündigung der Philosophie als Medium einer ,allgemeingültigen Vernunft‘. Wie kann die Philosophie aber Ausdruck einer allgemeingültigen Vernunft sein, wenn sie – in ihrer Eigenschaft als ,das andere und eigene‘ gegenüber dem Glauben – sich gleichzeitig als ,der nötigen kritischen Läuterung und Verwandlung‘ durch das ihr als Philosophie nicht zugängliche Andere des Glaubens ,unterworfen‘ verstehen soll? Sei es als Magd oder als vollwertige Gesprächspartnerin, mit der von ihr erwarteten Beschaffung allgemeingültiger Begriffe kann sie der Theologie nur dann dienen, wenn sie ausschließlich ihrer ,freiwilligen Selbstkontrolle‘ untersteht und ihre Geltungsansprüche nicht ständig für kritische Nachbesserungen durch eine über ihren Verstehenshorizont hinausgehende Instanz disponibel halten muss.” 25 Ausführlicher dazu Neri, Marcello: Il corpo di Dio. Dire Ges¾ nella cultura contemporanea. Bologna 2010, pp. 13 – 24; pp. 80 – 91.
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nationalstaatlichen Zusammengehörigkeit entstehen zu lassen. Außerdem zielte der moderne Staat mit dieser Institutionalisierung der mitmenschlichen Bindungen auch darauf, die ökonomischen Verhältnisse in einer immer mehr flüssig werdenden Gesellschaft zu klären, festzulegen und – soweit wie möglich – zu kontrollieren (man denke nur an die Bedeutung der Ehe als sozial-politische Institution, die als solche vor allem deswegen geschaffen wurde, um eine gesetzlich legitime Linie der Erbfolge zu garantieren und abzusichern). Der Ausgangspunkt der unerhörten Dynamik der Moderne, ihrer Transformation und Transposition, nämlich das individuelle Bewusstsein der je eigenen Einmaligkeit, das den Menschen aus der fatalen Fixierung am simplen Bestehenden befreien konnte, wurde somit gegen Ende des XIX. Jahrhunderts umgewandelt in eine etablierte Institution in Dienst der nationalstaatlichen Gewalt. Die letzte, verhängnisvolle Entsprechung der Moderne, die auch ihr Ende darstellt, ist diejenige gewesen, die zwischen souveränen Subjekt und absoluten Souveränität des Nationalstaates am Anfang des XX. Jahrhunderts eine totale Herrschaft für sich beansprucht hat,26 was auch zur gegenwärtigen Erschöpfung der beiden Institutionen in ihrem modernen Sinne geführt hat. Damit fängt aber eine ganz andere Geschichte an. Die Periodisierung der Moderne ist historisch ein umstrittenes Thema, abgesehen davon ist es aber nicht möglich, diese Epoche als eine monolithische Gestalt wahrzunehmen und ausschließlich aus dem Endergebnis einer säkularen Trennung von Staat und Kirche zu deuten. Mit seinem genetischen Verständnis der Moderne hat Paolo Prodi in zahlreichen Werken überzeugend gezeigt, dass die europäische Einzigartigkeit aus einer spannungsvollen Dialektik von christlichen Institutionen der Religion und staatlichen Institutionen der Politik hervorgebracht worden ist. Solch eine grundlegende Dialektik, die auch eine Art von institutioneller Osmose zwischen Religiösem und Politischem einschließt, hat ermöglicht, dass in Europa kein totales Gewaltmonopol zustande kommen konnte.27 Die christliche Religion hat dazu beigetragen, dass sich die politische Gewalt nie völlig sakralisieren konnte; und die Politik hat die weltlichen Ansprüche der Kirchen in Punkto Gewaltfrage so eingegrenzt, dass Religion nicht total ins Politische schlagen konnte. Obwohl von beiden Institutionen irgendwie angestrebt, stellt das realisierte Theopolitische im modernen Europa eher eine Anomalie seines institutionellen Systems als die Regel seines Funktionierens dar. Sicher kann man auf alle Fälle unterschiedliche Phasen und Variationen dieser systemischen Verhältnisbestimmung beobachten – mit ausdifferenzierten 26 Vgl. Heller, Ýgnes: Per un’antropologia della modernit.Torino 2009, p. 53. 27 Eine Synthese seines Ansatzes kann man nachlesen in Prodi, Paolo: Storia moderna o genesi della modernit? Bologna 2012 finden. Die folgenden Überlegungen stützen sich auf seine Werke sowie auf eine lange, freundschaftliche Zusmamenarbeit mit ihm.
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Balancierungen, Verflechtungen, Entfremdungen und Engführungen je nach der historischen Zeit bzw. der geopolitischen Ortung dieses europäischen Struktursystems.28 Im Zwischenraum dieses Ringens um die Gewalt (als Legitimierung, Kontrolle und Ausübung) ist eine Sphäre des mitmenschlichen Zusammenlebens entstanden, die für die individuelle und „private“ Tätigkeit der Bürger frei geblieben ist und den Keim dessen darstellt, was wir heute Ökonomie und freien Markt nennen; so dass die dialektische Spannung von Politik und Religion in Europa zu einer dritten, von ihnen unabhängigen Gestalt der Gewalt geführt hat – nämlich zur ökonomischen Macht des freien Unternehmertums.29 Als solche Konstellation des Geschichtlichen ist die Moderne mit der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts zu ihrem Ende gekommen. Auch die europäische Territorialisierung des Politischen und seines Verhältnisses zur Religion (in der Form von Nationalstaaten, Konkordaten, Staatskirchen und staatlicher Anerkennung von Religionsgemeinschaften) ist mit dem Prozess der Globalisierung unwirksam geworden, sowie jene Institutionen des öffentlichen Lebens, die sich irgendwie im Sinne einer territorialen Idee der Souveränität im Lauf der Moderne entwickelt haben. Dazu gehört auch die religiöse Institution des Papsttums in ihrem Verhältnis zum katholischen Verständnis der Tradition.30 Buchstäblich inkarniert in der Person des römischen Papstes wird die Tradition mit dem XIX. Jahrhundert nicht nur zur Bastion gegen den säkularen Geist der Moderne, sondern stellt auch die einzige legitime Form der katholischen Identität in der modernen Gesellschaft und Kultur dar. Die Tradition, nämlich der interne Grundvollzug des kirchlichen Glaubens, transformiert sich in eine äußere Funktion, die das „wahrhaft“ Katholische im gemeinsamen Raum des öffentlichen Lebens Europas garantieren musste. Dadurch erfand die katholische Kirche eine neue Funktion der Tradition (auf ähnliche Weise wie die moderne „Erfindung der Tradition“ in den europäischen Nationalstaaten), um ihre Unfähigkeit zu kaschieren, sich in ihr (gesellschaftliches, kulturelles, politisches …) „Außen“ zu transponieren. Mit dieser neuen Funktion der Tradition nach „Außen“ (tradizione fittizia) wurde auch ein neues „Territorium“ des katholischen Glaubens erfunden, was eine radikale Transformation des Glaubens selbst vom personalen Erlebnis der Gottesbeziehung zur bloß externen Konformität 28 Dem aus der Reformation entstandenen Christentum ist es gelungen, eine engere Verflechtung mit dem modernen Nationalstaat aufzubauen, die zum System der Staatskirchen geführt hat. Damit wurde es zeitweise schwieriger, eine „kritische“ Distanz gegenüber der nationalstaatlichen Politik aufrecht zu erhalten. Das katholische Christentum hat dagegen versucht, eine Art von Alternativsystem zum Nationalstaat aufzubauen, um seine universelle Prägung sowie seine weltliche Autonomie zu verteidigen. 29 Vgl. Prodi, Paolo: Settimo non rubare. Furto e mercato nella storia dell’Occidente. Bologna 2009. 30 Ausführlicher dazu in Neri, Marcello: „Esperienza e tradizione. Guardare la tradizione oltre lo specchio del XIX secolo“, in: Il Regno Attualit (10) 2012, pp. 348 – 356.
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mit der Tradition als kirchlicher Lehrautorität implizierte. Die politische Seite des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit besteht in der Übereinstimmung des „Körpers“ des Papstes mit dem souveränen Territorium der katholischen Kirche, nachdem diese keinen effektiven Staat mehr hatte, worüber sie ihre Souveränität ausüben konnte.
3.
Das unheimliche Ende der Moderne: die Krise des Katholischen
Die Verletzung des „Körpers“ des Papstes wird somit zum illegitimen Angriff gegen die Souveränität der Kirche, die nunmehr von der Person des römischen Papstes verkörpert ist, wie jedes vulnus gegen die Tradition illegitimer Angriff auf der Seite der Katholiken. Das ist ein weiterer Aspekt der neuen Funktion der Tradition am Vorabend des Untergangs der Moderne – nämlich die Neutralisierung jeder Form einer Synchronie (Kontemporalität) des katholischen Glaubens mit der Wirklichkeit des menschlichen Existierens im Raum der europäischen Öffentlichkeit. Die Verflechtung von diesen zwei Seiten ihrer neu erfundenen Funktion produziert eine katholische Tradition, die zum ersten Mal in der okzidentalen Geschichte nie imstande ist, dort zu sein, wo das Christliche wirklich anwesend ist – indem die katholische Kirche die Notwendigkeit ihrer fremden Äußerlichkeit zum real existierenden Katholizismus theoretisierte und realisierte. Die im Februar 2013 erlebte Krise eines Rücktritts des Papstes, die durch die mediale Inszenierung ihre kirchliche Bedeutung fast völlig eingebüßt hat, stellt ein deutliches Zeichen davon dar, dass mit dem Ende der Moderne auch die religiöse Institution des Papsttums, so wie sie vom I. Vatikanischen Konzil festgelegt worden ist, ihre ekklesiale und öffentliche Wirksamkeitskraft endgültig verloren hat. Auch die moderne Verhältnisbestimmung der Gewalt als institutionelle Dialektik des Politischen und des Religiösen funktioniert nicht mehr. Heute hat eine dritte Figur de facto ein unerhörtes Gewaltmonopol errungen, nämlich die ökonomische Macht der Finanztransaktionen. Die klassisch moderne Staatssouveränität ist durch die souveränen Fonds unwiderruflich ersetzt worden, und man lebt nunmehr unter der unheimlichen, unsichtbaren Gewalt der globalen Republik des Geldes, die eine ganz neue Gestalt des Bürger-Subjekts schafft.31 Darüber hinaus hat sich die Macht des Finanziellen auch mit einer archaischen Aura von Sakralität umgeben32 und die Virtualität des Technologischen33 zu 31 Vgl. Petrosino, Silvano: Soggettivit e denaro. Logica di un inganno. Milano 2012. 32 Vgl. Dufour, Dany-Robert: Le Divin March¦. La r¦volution culturelle lib¦rale. Paris 2007. 33 Vgl. Ellul, Jacques: Le SystÀme technicien. Paris 2004.
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ihrem exklusiven Heiligtum erklärt. Tridentinischer Katholizismus und Reformation stellen unterschiedliche Positionierungen des Christlichen gegenüber der neuen Gestaltung des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenlebens im modernen Europa dar. Das Ende der Moderne34 hat deshalb auch entscheidende Rückwirkungen auf die Kirchen in ihrem strukturellen Verhältnis zur modernen Idee des Staates sowie auf den christlichen Glauben insgesamt in seiner öffentlichen Präsenz auf der europäischen Bühne, die heute dazu aufgefordert sind, sich im Kontext der Vorherrschaft des Finanziellen und der delokalisierten Unsichtbarkeit der Gewaltquellen (auch der religiösen) neu zu profilieren. Was den Katholizismus anbelangt, hat sich mit dem Ende der Moderne auch die pastorale und kulturelle Wirksamkeit des tridentinischen Paradigmas erschöpft.35 Das II. Vatikanische Konzil kennzeichnet eher den Abschluss der modernen/modernistischen Frage innerhalb der katholischen Kirche als den Beginn einer neuen Epoche des Katholizismus im öffentlichen Leben des europäischen Kontinents. Paradoxerweise hat die katholische Kirche ihre systemische Balance zur Moderne in dem Moment gefunden, in dem von der Moderne nur ein leerer Namen geblieben ist – aber sie lebt fort, als ob die Moderne mit ihren Ansprüchen noch die Wirklichkeit wäre, in der wir heute leben. Der Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. hat deutlich werden lassen, dass die Gründe der Schwierigkeiten, die die katholische Kirche mit einer kulturellen Transposition des Glaubens und mit einer öffentlichen Anerkennung ihrer zivilen Bedeutung im europäischen Kontext der Gegenwart hat, innerhalb der Kirche selbst zu suchen sind. Es handelt sich aber nicht um personale Unzulänglichkeiten der Gläubigen bzw. der Amtsträger, wie es eine bestimmte kirchliche Deutung der Situation behauptet, sondern um eine geistesgeschichtlich strukturelle Frage, die nur im Horizont der jahrhundertealten Verhältnisbestimmung von Institutionen des Politischen und Institutionen des Religiösen in Europa auf angemessene Weise verstanden werden kann. Ratzinger hat programmatisch immer wieder betont, dass die Gründe der Krise des Katholizismus nach Außen im Inneren des Glaubens liegen. Und er hat alles unternommen, um das Katholische auf die vermeintliche Reinheit einer spiritualisierten Glaubensinnerlichkeit zu reduzieren. Er hat sich das Szenario eines europäischen Kulturkampfes ausgemalt als die notwendige Bedingung, um das katholische Gefüge in der gegenwärtigen Zeit wieder zu festigen. Um solch ein Projekt zu erfüllen, hätte es aber jener äußeren Stärke bedurft, die ihm ausschließlich die Moderne in ihrem höchsten Profil als Gegner (und nicht als
34 Vgl. Prodi, Paolo: Storia moderna o genesi della modernit? pp. 12.22 – 23. 35 Vgl. Prodi, Paolo: Il paradigma tridentino. Un’epoca della storia della Chiesa. Brescia 2010.
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Korrelat) hätte garantieren können.36 An der Überkreuzung von den besten Errungenschaften, die die Moderne in die europäische Kultur eingefügt hat, und von ihrer Entleerung zur bloßen Rhetorik des medialen Diskurses ist das Projekt von Ratzinger gescheitert, die Landkarte des Katholizismus in der Gegenwart neu zu skizzieren. Was der katholischen Kirche zwischen dem XIX. und XX. Jahrhundert gelungen war, konnte hundert Jahre danach nicht einfach wiederholt werden. Tief verändert haben sich inzwischen die politischen und sozialen Bedingungen, die jenen katholischen Sonderweg damals überhaupt ermöglicht hatten. Deshalb, statt einer katholisch abgesonderten Subkultur (gut organisiert und kompakt) in den Händen zu haben, hat Ratzinger eine fast unregierbare Fragmentierung der katholischen Kirche bewältigen müssen, die er selber letztendlich gefördert hat. Überall, wo er Affinitäten zu seinem Kulturkampfimaginären gefunden hat, war Ratzinger durchaus bereit, riskante Vertrauensgewährungen zuzugestehen, die die theologische und rechtliche Textur der Kirche tief erschüttert haben.37 Ratzingers Idee des Christentums ist in Fibrillation geraten und dann implodiert aufgrund der Uneinheitlichkeit der Bezugsinstanzen, die er für die Entfaltung seines Programms einberufen hat: ein vager, anti-moderner Affekt auf sozial-politischer Ebene38 einerseits und eine offene Ausdehnung des christlichen Logos zu den besten Kräften des menschlichen Denkens39 andererseits. Die sektiererische Tendenz des ersten und die gastliche Weite der zweiten konnten nicht lange koexistieren, ohne den Corpus der Kirche durcheinander zu bringen. Die dramatische Entscheidung von Benedikt XVI. weist sein Bewusstsein davon auf. Sie zeigt aber auch, dass ein Verständnis der katholischen Kirche als eines von der polis des Menschen getrennten Corpus und eine theologische Bildung der christlichen Geistigkeit, die gegenüber dem All36 In diesem Sinne ist Ratzingers Versuch einer Neubestimmung des Katholischen am Anfang des XXI. Jahrhunderts ideengeschichtlich naiv und ideologisch postmodern gewesen. 37 Vgl. Lüdecke, Norbert: „Kanonistische Anmerkungen zum Motu Proprio Summorum Pontificum“, in: Liturgisches Jahrbuch (58) 2008, pp. 3 – 34. 38 Vgl. Neri, Marcello: „Hansjürgen Verweyen e il pensiero teologico di Ratzinger. Un teologo, le sue stazioni“, in: Il Regno Attualit (12) 2007, pp. 421 – 425. 39 Sequeri, Pierangelo: L’amore della ragione. Bologna 2012, pp. 10sgg.: „La rassegnazione fideistica a un logos umano incapace di verit e indifferente alla giustizia espone irrimediabilmente la fede medesima a concepirsi come prevaricazione dogmatica, e non come illuminazione persuasiva; assoggettamento forzato, non come libera obbedienza. Ciý genera fatalmente la deriva di un fondamentalismo dispotico e settario, servizievole per la violenza politica e contraddittorio per la testimonianza religiosa (…) La ratio homins digna, che riflette pur sempre la qualit creaturale migliore dell’uomo, nella quale il cristianesimo crede fermamente, continua in ogni epoca a trovare i suoi spazi di affermazione e i suoi slanci degni di ammirazione da parte del credente. Fosse pure nell’orizzonte di una coscienza e di una cultura che non trovano motivi sufficienti per riconoscere la verit di Dio confessata dalla fede.“
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tagsleben der Menschen immun sein will, heute nicht praktizierbar sind. Mit dieser Krise des Katholischen kommt die Moderne nicht nur historisch, sondern auch geistig zu ihrem endgültigen Ende: Wohl oder übel müssen wir alle, säkulare, religiöse und postsäkulare Bürger Europas von diesem gewichtigen Stück unserer Geschichte Abschied nehmen und die Trauer für diesen epochalen Verlust auf angemessene Weise verarbeiten – selbst die katholische Kirche ist heute nicht mehr imstande, die Moderne auch nur als Residualität am Leben zu erhalten. Die großen Institutionen der Moderne haben sich im Lauf des XX. Jahrhunderts so tief transformiert, dass sie etwas anders geworden sind als das, was sie in ihrer modernen Gestalt waren: Demokratische Politik, christliche Religion und philosophische Subjektivität leben zwar fort, aber sie haben ihre geistige Einprägungskraft erheblich verloren und scheinen außerstande zu sein, die grenzenlose Gewalt des Finanziellen auf angemessene Weise zu kontrastieren. Die humanistische Textur der europäischen Kultur ist heute gefährdet wie nie in den vergangenen Jahrhunderten: Denn die technologische Machbarkeit einer radikalen Manipulation des Menschlichen zugunsten des Profitgewinns auf der Seite der unsichtbaren makroökonomischen Mächte, die heute die Welt regieren, als ob sie nicht von dieser Welt wären, kann zu einer letzten Transformation führen, nach der der Mensch nicht mehr das sein wird, was wir bis heute gekannt haben. Der lange Weg der Europäischen Union ist der Versuch, eine neue supranationale Staatlichkeit jenseits der Grenzen der nationalen Souveränität zu entwerfen, um ein brüderliches Bündnis unter den europäischen Staaten zu schließen, das ermöglichen kann, die Bedingung der Weltverhältnisse nach dem Ende der Moderne als Europäisierung der Welt zu bestehen. Das europäische Projekt bedarf jetzt in der entscheidenden Stunde seiner Existenz des Bewusstseins des Politischen40 und des Religiösen41 davon, dass beide eine unbekannte Aufgabe gemeinsam übernehmen sollen, um das Demokratische und das Humane gegenüber dem Gewaltmonopol der Finanzinteressen noch behaupten zu können.
40 Vgl. Sequeri, Pierangelo: Contro gli idoli postmoderni. Torino 2012, p. 44. 41 Ferry, Jean-Marc: La r¦publique cr¦pusculaire. Comprendre le projet europ¦en in sensu cosmopolitico. Paris 2010, p. 40 f.: „õ l’actif du christianisme occidental, il convient toutefois de mesurer l’importance de la structure imaginaire qui r¦sulte historiquement de la querelle des Investitures et fut confirm¦e par la R¦forme : la s¦paration du temporel et du spirituel (…) Cela m¦nage un espace, propice la critique, pour la diff¦rence entre la positivit¦ de l’ordre ¦tabli et l’id¦alit¦ de l’ordre juste; par cons¦quent, entre la factualit¦ et la validit¦; pratiquement entre la l¦galit¦ et la l¦gitimit¦. Cette diff¦rence est d¦cisive pour l’ouverture d’un espace publique orient¦ de faÅon critique l’¦gard de l’ordre existant, et elle est essentielle l’esprit europ¦en, la culture publique de l’Union europ¦enne“.
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Sorge für das Menschliche am Menschen – Die theologische Aufgabe des Christlichen im Blick auf die Zukunft des europäischen Projekts
Ideengeschichtlich gesehen bergen die drei großen Institutionen/Instanzen (Subjekt, Politik-Idee der nationalstaatlichen Demokratie, Religion) der europäischen Moderne in sich noch ein bedeutendes Potential an Einbildungskraft, die nicht nur ihre je eigenen Konturen neu zu profilieren, sondern auch ihre strukturellen Verflechtungen umzudenken vermag. Ihre moderne Zerlegung hat sich für die Qualität des Menschlichen als fatal erwiesen. In der europäischen Geschichte dieser modernen Institutionen liegt nicht nur die Stärke eines Denkens der Ausdifferenzierung und der Trennung, sondern auch jene „milde“ Kraft, die sich um ihre Bindungen und Verflechtungen zu kümmern weiß. Nur wenn man der geistig-humanistischen Dimension dieser Bindungen ihre kulturelle und soziale Dichte wiedergibt, könnte man jene große Errungenschaft der Moderne, nämlich die Menschenrechte, aus ihrer verhängnisvollen Entleerung erretten, die von drei Haupttendenzen der Gegenwart verursacht ist: 1) Ihre paradoxe „Privatisierung“ durch die Institution des Rechts, das nunmehr das sittliche Verhalten der Bürger als Träger von zivil-politischen Rechten und Pflichten in allen Lebensbereichen ersetzt42 (Positivierung der Sittlichkeit) und immer mehr allgegenwärtig wird; 2) ihre „Rhetorisierung“ durch bloße Wiederholung im medialen Diskurs, die auf das allgemeingültige Thema der Menschenrechte zurückgreift, um partikuläre Teilinteressen per Gesetz durchzusetzen; 3) ihre diffuse „Reduktion“ auf das Biopolitische, deren Konsequenz auch eine unwiderrufliche Genetisierung der kulturell-geistigen Dimension des Menschlichen sein könnte. Es scheint mir, dass das Residuale an diesen drei Institutionen, je auf seine eigene Weise, mit diesen Tendenzen zur Entleerung der Menschenrechte oft allzu gerne (und unverantwortlich) jongliert, um kurzfristige Gewinne einzukassieren, ohne zu merken, dass dadurch auch die jetzt schon fragile Zukunft von Demokratie, Christentum und Subjektivität in Europa erheblich gefährdet werden kann. Wie kann das Christentum zum Aufbau der geistigen Dimension der mitmenschlichen Bindungen beitragen, die eine notwendige Voraussetzung für eine „politische“ Wirksamkeit der Menschenrechte in der Zeit der finanziellen und technologischen Vorherrschaft darstellt? Anhand einer Passage des Markusevangeliums möchte ich einige Grundzüge dieser möglichen Mitwirkung des Christlichen zu einem künftigen europäischen Humanismus skizzieren:
42 Vgl. Valadier, Paul: Morale en d¦sordre. Un plaidoyer pour l’homme. Paris 2002, pp. 97 – 139.
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„EinAussätziger kam zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du machen, dass ich rein werde. Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es – werde rein! Im gleichen Augenblick verschwand der Aussatz und der Mann war rein. Jesus schickte ihn weg und schärfte ihm ein: Nimm dich in Acht! Erzähl niemand etwas davon, sondern geh, zeig dich dem Priester und bring das Reinigungsopfer dar, das Mose angeordnet hat. Das soll für sie ein Beweis (meiner Gesetzestreue) sein. Der Mann aber ging weg und erzählte bei jeder Gelegenheit, was geschehen war ; er verbreitete die ganze Geschichte, sodass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen konnte; er hielt sich nur noch außerhalb der Städte an einsamen Orten auf. Dennoch kamen die Leute von überallher zu ihm.” (Mk 1,40 – 45).
Gebärden der Befreiung vom Bösen, auch wenn sie nicht „von den unseren“ vollzogen werden (vgl. Mk 9,38 – 39), sind sichere Zeichen einer christlichen Anwesenheit Gottes, die sich der Zerbrechlichkeit und Zerrissenheit der mitmenschlichen Bindung ungeschützt exponiert. Was aus dieser Erzählung sofort deutlich wird, ist, dass die hier wieder gewonnene Zugehörigkeit zum humanen Zusammenleben nicht als Reintegration in einer Struktur der gesellschaftlichen Bindungen konzipiert wird, die vom Paar Inklusion/Exklusion bestimmt ist. Zuerst muss man auf die affektive Dimension der Konstruktion der mitmenschlichen Bindung durch sinnliche Berührung mit der materiellen Dichte einer möglichen Sinnentstehung innerhalb der fragilen Kondition des Gesellschaftlichen aufmerksam machen. Die deutsche Übersetzung gibt die Zentralität des Affektiven nicht genau wieder. Am Beginn der Szene hat man mit einer gegenseitigen Empfindsamkeit des Leiblichen zu tun: zuerst diejenige des Aussätzigen für eine Anwesenheit des Heilen, die ihn in die Sinngefüge der mitmenschlichen Verhältnisse einsetzen könnte. Die religiöse Ehrfurcht gegenüber dieser Präsenz und das anthropologische Vertrauen auf sie schlagen unmittelbar um in eine säkulare Herausforderung zur existentiellen Konkretisierung am eigenen Leib von dieser bis jetzt nur für möglich gehaltenen heilenden Gegenwärtigkeit. Solch eine Anwesenheit einer möglichen Sinnentstehung erweist sich als Gabe eines neu erlebten Sinnes nur dann, wenn sie sich als leibliche Gleichzeitigkeit mit dieser konkreten Kondition des Menschlichen spüren lässt. Von seiner Seite her ist Jesus für diese Gesamtkonstellation der menschlichen Empfindsamkeit sensibel. Der Begriff „Mitleid“, wie in der deutschen Einheitsübersetzung verwendet, ist fehl am Platz, da er die affektive Semantik des Geschehens grundsätzlich verstellt. Es geht hier vielmehr um ein Bewegt- bzw. Berührtsein Jesu von dieser sinnlichen Empfindsamkeit einer faktischen Kondition des Menschlichen auf die verheißungsvolle Anwesenheit hin, die er selber ist. Berührt ist Jesus in seiner Innerlichkeit, die aber ganz und gar leiblich ist: Es handelt sich um keine spirituelle Bewegung der Seele, sondern um ein materielles Gefühl des Körpers. Wir haben somit hier im Vollzug jene
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„milden“ Grundkräfte, die für den Aufbau der mitmenschlichen Bindung konstitutiv sind: 1) Das Vertrauen auf die Möglichkeit einer Sinnentstehung mitten in die Brüchigkeit des leiblichen Daseins des Menschen; 2) Das Affektive als tragende Dynamik der gegenseitigen Empfindsamkeit für das Menschliche, das uns allen gemeinsam ist; 3) Die Gabe der Sinnlichkeit, welche die Affekte auf vorstruktureller bzw. -institutioneller Ebene im gemeinsamen Raum des Menschlichen zirkulieren lässt und ihnen Gestalt gibt. Die leiblich berührte Empfindsamkeit Jesu ist zugleich eine soziale Gebärde seines Körpers, der unmittelbar mit der von aller mitmenschlichen Sinnmöglichkeit ausgeschlossenen Körperrealität des Aussätzigen in Berührung kommt. An diesem leiblichen Punkt erweist sich, dass die verheißene Möglichkeit einer Sinnentstehung als Anwesenheit des christlich Göttlichen, die Jesus als seine eigene Identität verkörpert, des geschenkten Vertrauens würdig und der anspruchsvollen Herausforderung der menschlichen Empfindsamkeit gewachsen ist. Unmittelbar danach geht die Haltung Jesu sofort von der Zärtlichkeit seiner berührten Empfindsamkeit für das Brüchige am Menschen zu einem schroffen Befehl über, der ein barsches Wegschicken ist, als ob er keinen Kontakt mehr haben wollte; oder als ob die nunmehr gewonnene Sinnlichkeit der fragilen Körperrealität des Menschlichen in sich zur endgültigen Bleibe einer gegenseitigen Berührung von Mensch und Gott geworden wäre. Sicher ist, dass Jesus den Körper dieses Menschen als Träger einer hinreichenden Evidenz für das Zeugnis seiner Gottesvertretung versteht: Jedes Wort wird dem geheilten Menschen untersagt, er muss sich einfach zeigen. Wem aber muss er sich zeigen? Da gehen die Wege auseinander ; und mit der Antwort darauf haben wir eine radikale Transformation sowohl des Theologischen als auch des Gesellschaftlichen, die nicht von Jesus – also nicht durch die religiöse Gottesvertretung –, sondern vom Menschen vollzogen wird, der von der sinnlichen Gabe einer möglichen Sinnentstehung im öffentlichen Raum der gesellschaftlichen Brüchigkeit affiziert worden ist. Jesus versteht die mitmenschliche Bindung noch nach dem Schema von Inklusion/Exklusion – letztendlich muss die Gebärde des Sich-Zeigens als eine institutionelle Reintegration dieses Menschen in das gesellschaftliche Gefüge funktionieren und zwar als öffentlicher Beweis der göttlichen Tragweite des Daseins Jesu selbst. Wäre dem aber im letzten so, dann hätte die gesellschaftliche Reintegration im mitmenschlichen Zusammenleben keine weitere Funktion als die einer herrschaftlichen Evidenz des Göttlichen innerhalb der humanen Gesellschaft, die nicht das Gewissen der Menschen überzeugen, sondern unterwerfen wollte.43 Aber das sinnliche Geschehen der gegenseitigen Affektion, die 43 Ich schulde Jakob Deibl die tiefen Einsichten, die mich zu einer Neuformulierung dieser Schlussüberlegungen geführt haben. Insoweit er sich darin erkennen kann, sind sie ihm zu
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weder den Menschen noch Gott unberührt sein lässt, lässt im gemeinsamen Raum des Mitmenschlichen etwas entstehen, das auch der göttliche Logos nicht mehr kontrollieren kann: der Leib dieses Menschen ist der Logos selbst geworden, weil sich das christologische Wort Gottes am Leib des Menschen so phänomenalisiert, dass er zur unerschöpflichen Weitergabe der leiblichen Phänomenalisierung Gottes wird. Die menschliche Körperrealität wird von der Berührung mit dem leiblichen Logos Gottes auf eine Weise affiziert, die jede Positionierung bzw. Haltung ihres sinnlichen Existierens zur Bleibe des Logos werden lässt. Die am eigenen Leib erlebte Gerechtigkeit des göttlichen Logos entzieht sich jeder Begrenzung seiner Affektion innerhalb eines nomos, der sie auf eine positive Regulierung des Sittlichen reduzieren will – auch der göttliche Logos muss aus dem faktischen Leben des Menschen erlernen, dass die Gerechtigkeit der Affektion über seinen eigenen nomos selbst hinausgehen soll, um sich als solche erweisen zu können. Nur dadurch kann die leibliche Bleibe des Logos das Gewissen des Menschen überzeugen und nicht unterwerfen: An der Anomie des Leiblichen erscheint die Affektion der Gerechtigkeit als das, was des menschlichen Gewissens würdig ist. Deshalb ist der Ort dieser Bleibe nicht die religiöse Institution des Tempels, worin die Mechanismen der gesellschaftlichen Exklusion/Inklusion durch den Rekurs auf eine durchaus verfügbare Transzendenz des Grundes sakralisiert und somit verabsolutiert werden können. Vielmehr ist das Alltägliche der Stadt der Ort, für den sich dieser Mensch jenseits jedes (göttlichen) nomos als die „körperreelle“ Bleibe des Logos entscheidet: Die sinnliche „Einverleibung“ in das gesellschaftliche Gefüge, die von der affektiven Gabe der Sinnlichkeit als gegenseitige Affektion der Gerechtigkeit in der leiblichen Berührung eines geteilten und gemeinsamen Logos ermöglicht worden ist, ereignet sich dann auf jener vor-institutionellen Ebene der Sphäre des Zivilen (nämlich des alltäglichen Lebens des Mitmenschlichen), wo die gesellschaftliche Bindung durch die Berührungen der Existenzen generiert wird – also vor dem Politischen und vor dem Religiösen, und vor allem jenseits jeder möglichen Verrechtlichung des mitmenschlichen Zusammenseins. Auf dieser Ebene verbreitet sich das am Leib des Menschen endgültig phänomenalisierte Wort Gottes in einer Dissemination, worüber auch die sohnhafte Phänomenalisierung der Geistigkeit Gottes nicht mehr verfügen kann (deshalb stellt der Leib das Anomische an der theologischen Wahrheit des christlichen Gottes dar). In diesem Raum der Genese der gesellschaftlichen Bindung kann sich Jesus nicht mehr zeigen – er ist das abwesende Ausgeschlossene überhaupt. Nur dadurch kann man die Differenz der affektiven Anomie der Gerechtigkeit gegenüber dem positiven nomos der Menschen und des Gottes aufrechterhalten. verdanken, für jede eventuelle Engführung oder Missdeutung seines Gedankens bin dagegen ich allein verantwortlich.
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Die von der leiblichen Bleibe des christlichen Logos vollzogene Exklusion des letzten Grundes des Mitmenschlichen aus dem institutionalisierten Raum des gesellschaftlichen Zusammenlebens ermöglicht eine bedingungslos empfangende Gastlichkeit, zur der dieser Raum jenseits jedes möglichen nomos verpflichtet ist. Dadurch wird sicher eine Religion destabilisiert, die sich mit dem Institutionellen völlig identifizieren will. Aber die leibliche Anomie der Gerechtigkeit und ihr Korrelat einer unbedingten Gastlichkeit des Menschlichen, die durch die Exklusion des letzten Grundes zustande gebracht wird, bedeutet auch eine Krise des (menschlichen) nomos der gesellschaftlichen Verhältnisse, weil sie „ganz leise vernehmen lässt, dass das Zusammenleben der Menschen auf Gründe beruht, die tiefer als diejenige sind, die einige Menschen zusammenbinden und andere Menschen ausschließen“.44 Die in diesem vor-institutionellen Raum des Zivilen entstehende Bindung des Mitmenschlichen wird in ihrer demokratischen Form nur möglich sein, insofern ihre letzte Begründungsinstanz aus jenem selben Raum ausgeschlossen bleibt – nämlich wenn diese keine direkt positive gesellschaftliche Gestalt bzw. Funktion übernimmt. Die Gründe der gesellschaftlichen Bindung können von keiner Institution, sei sie religiös oder politisch, geschaffen oder beherrscht werden. Um diese Gründe im heutigen Kontext weiter bewahren zu können, bedarf es der öffentlichen Präsenz einer getrennten Institution der Transzendenz innerhalb des gemeinsamen Ringens um die Gewalt, die fähig und willig ist, die Differenz der das Gewissen auffordernden Gerechtigkeit Gottes zu erhalten einerseits von der Gerechtigkeit der positiven staatlichen Gesetze und andererseits von der Ökonomie („Gerechtigkeit“) des freien Marktes. Sobald diese Institution die Gerechtigkeit Gottes durch das positive Recht des Staates realisieren will, hat sie schon das Terrain eines „ökonomisierten“ Verständnisses der Gerechtigkeit betreten und eine paradoxe Sakralisierung der menschlichen Gerechtigkeit ermöglicht. Der modernen Verrechtlichung des Gewissens entspricht nämlich, nach dem Ende der Moderne, eine Sakralisierung des Rechts,45 das nunmehr Leben, Affekte und Tod des Menschen völlig und durchdringend reguliert, und eine völlige Positivierung der Sittlichkeit bedeutet, deren letztes verantwortliche Subjekt nicht mehr das individuelle Gewissen der engagierten Bürger, sondern das allgemeine Tribunal der neutralen Richter ist. Ich bin davon überzeugt, dass die religiöse Institution des Christlichen, insoweit sie die Differenz der Gerechtigkeit Gottes und die Gemeinsamkeit seines Logos zugleich und zusammen zu vertreten vermag, ein Korrelat für die Zukunft 44 Theobald, Christoph: „Le difficile vivre ensemble, le lien social et la perspective du Royaume“, in: Recherches de Science Religieuse Tome 100/3 (2012), p. 375. 45 Vgl. Prodi, Paolo: Una storia della giustizia. Dal pluralismo dei fori al moderno dualismo tra coscienza e diritto. Bologna 2000, pp. 391 – 395.
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des europäischen Projekts darstellen könnte, auf das die säkularen, religiösen und postsäkularen Bürger unseres Kontinents sowie die politischen Institutionen der Europäischen Union nicht allzu leicht und schnell verzichten sollten – da es nämlich um das Gemeinsame überhaupt des Menschlichen am Menschen geht.
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Tahir Abbas
Islam and Muslims in Europe today: from cultural assimilation to social integration
Introduction This chapter provides a discussion on the contemporary experiences of Muslims in Western Europe in relation to integration, identity and cohesion and its impact on Muslim-Western European relations. In many ways Islam has always been part of Europe and in part it is because of Islam that Europe exists at all. There have been periods of exchange, dialogue and coexistence between these two great civilisations, but there has also been demonisation, stigmatisation and vilification on both sides. But it is the post-war migration, settlement and adaptation of Muslims to Western European nation-states and the implications they raise which are of particular interest in this chapter. Questions are asked as to whether Muslims can adequately adapt to Western Europe society and what these societies in general must do to meet the aspirations and expectations of Muslims, many of whom are now in their second and third generations, particularly in places such as France, Germany and Britain. First, migration and settlement issues are discussed. Second, the discourse around difference in society and its shifting contours from colour, race, ethnicity to religion are highlighted to explore the nature of the impact of these intellectual developments on policy and practice. Third, there is a concentration on the issues of Islamophobia and its discontents. Finally, this paper will conclude by focusing on the important concerns that remain in relation to questions of identity, diaspora and transnationalism, and how both wider Western European society and the Muslims who actively determine a living environment within them need to underscore a move towards a progressive middle way that works in the interest of the many rather than the few.
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Migration and settlement
It is well-documented that Islam has been in Britain for over a thousand years, but the population has largely grown in the previous century.1 The demographic, social, cultural and political positions of British Muslims have developed more significantly in the post-war era.2 In the classic Islamic period, Muslims traded with English elites and cooperated with the monarchy when expedient to all.3 Queen Elizabeth I maintained positive associations with Turkish Ottomans, who played an important role in thwarting the efforts of the Spanish Armada who came in vain to the shores of England to restore direct loyalty to the papacy.4 The most immediate recognisable episode can be characterised as the time of the Raj. Muslims came to Britain as elites embarking on training as medics or to read law in the established higher educational institutions of the country. The experience largely catered for the needs of the privileged few while the less fortunate could only hope for a meagre income fuelling the furnaces of coal-fired steam ships that supported the needs of Empire and war.5 The post-war period saw the most rapid increase in the population of British Muslims and the offspring of these migrants comprise the majority of British Muslims today. Britain, short of domestic labour, was forced to encourage once colonised citizens of the ‘commonwealth’ to come to the ‘mother country’ to carry out work that few else wished for or aspired to (IRR, 1985). Trapped in cycles of under-employment, unemployment and low pay in general, many South Asian Muslims, who came to various parts of the country during this period, found themselves unable to escape from those very same locations over the generations.6 This phenomenon remains valid today, over sixty years after the initial post-war immigration boom.7 As a consequence of these early years of arrival and settlement, and as result of various approaches to integration into majority society – including the important and often over-looked factor of cultural maintenance and patriarchal norms and values – it has taken many 1 Ansari, Humayum (ed.): The Infidel Within: The History of Muslims in Britain, 1800 to the Present. London 2004. 2 Peach, Ceri: ”Britain’s Muslim Population: An Overview”, in: Abbas, Tahir (ed.): Muslim Britain: communities under pressure. London 2005. 3 Gilliat-Ray, Sophie (ed.): Muslims in Britain. An Introduction. Cambridge 2010. 4 Matar, Nabil (ed.): Islam in Britain, 1558 – 1685. Cambridge 1998. 5 Visram, Rozina (ed.): Ayahs, Lascars and Princes: Indians in Britain, 1700 – 1947. London / New York 1986. 6 Simpson, Ludi / Purdam, Kingsley / Tajar, Abdelouahid / Pritchard, John /Dorling, Danny (eds.): “Jobs Deficits, Neighbourhood Effects, and Ethnic Penalties: The Geography of EthnicLabour-Market Inequality”, in: Environment and Planning A 41/4 (2009), pp. 946 – 963. 7 Phillips, Debbie: “Parallel Lives? Challenging Discourses of British Muslim Self-segregation”, in: Environment and Planning D 24/1 (2006), pp. 25 – 40.
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decades for Muslims to begin to act as a meaningful political and cultural voice, but one that remains far from fully formed.8 The current period is one in which primary immigration from Muslim lands has all but ended. It is family re-unification and ‘marriage migration’ from parts of South Asia that adds to the growing population. In 2010, among UK-Pakistan transnational communities, there were 1.5 million journeys a year between these two countries alone, with 10 – 15,000 Pakistani wives and husbands joining their spouses in the UK (UK government source, 2010). This recent period also includes those who have come to the country as ‘refugees and asylum seekers’, and whose positions in society have been marked by various forms of state institutionalised practices that often reduce the needy immigrant to second-class citizen in all but name.
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The discourse on difference
Muslims experience a particularly problematic scenario in relation to how the religion of Islam and its people are depicted in various media. This is often described as a form of Islamophobia or more simply as anti-Muslim racism.9 Since the event of 9/11 these representations have become even more pernicious, and the other is routinely presented in more violent and conflictual terms. It was Edward Said’s classic work, Orientalism10 that first helped to create an understanding of how Islam and Muslims are represented. There exist problems not only in relation to popular culture but also in various institutions and practices, such as the academy and the way in which it reproduces knowledge. It is also found among poets, journalists, novelists and of course among politicians. There is a sharp ‘us’ and ‘them’ divide where the idea of a moderated Muslim is seen as a Muslim who is more acceptable in the eyes of the West. ‘Good Muslims are with “us”, bad Muslims are against “us” ’, which is a paraphrase of a concept first characterised by Prime Minister Tony Blair immediately in the aftermath of the 7/7 crisis. Power remains in the hands of the West due to the institutions that have been built over the centuries, creating an inequality of wealth embedded in societies that are demarked as wholly separate. There is an element of chauvinism and bigotry that strikes at the heart. The hubris and sheer arrogance of 8 Anwar, Muhammad: “The participation of ethnic minorities in British politics”, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 27/3 (2001), pp. 533 – 549. Modood, Tariq (ed.): Multiculturalism. Cambridge 2013. 9 Abbas, Tahir : “Media Capital and the Representation of South Asian Muslims in the British Press: An Ideological Analysis”, in: Journal of Muslim Minority Affairs 21/2 (2001), p. 245 – 257. 10 Said, Edward W. (ed.): Orientalism. London 1979.
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Western powers and their approaches in relation to the Muslim world are starkly evident.11 The negative representation of Islam is further enhanced by various organisations who work through clandestine measures in order to obscure an already disfigured image. While there may be a physical ‘war of terror’ there is also a war in cyberspace put forward by well-organised groups to further demonise Islam for various political and ideological ends.12 This Islamophobia has the consequence of radicalisation amongst young Muslims who respond to it through violent means. There is a symbiotic relationship between Islamophobia and radicalisation.13 The cycle reproduces itself by dominant hegemonic interests. Within communities, the lack of representation, self belief and the means to generate alternative responses lead to a process without end. In Western Europe, where there are presently over 25 million settled Muslims, younger generations are often feeling the brunt of ongoing patterns of exclusion and marginalisation. But what is crucial to understand here is that the multicultural contexts in which these realities are realised constitute another factor in the realisation of the circle maintained around Islamophobia and radicalisation. A number of Western European governments have focused on the idea of providing recognition for groups in an attempt to placate differences without necessarily working towards positive integration models. By providing the resources to celebrate differences as a way in which to develop community self-confidence and belief in their roles as immigrants, minorities and citizens, aspects of dominant society have regarded these actions as tokenistic or as forms of some kind of temporary acceptance. A sense of celebrating differences as a way in which to assure majority society that difference is not necessarily a threat is in no way a genuine signal based on real economic and social development. As a poor substitute for what has been lacking in terms of direct investment in these communities, it has created a sense of ethnicity as a vehicle for mobilising difference, when in fact it ought to be ironed out as part of appreciating minorities as equal citizens. Therefore, in many ways it is the multicultural context which in fact has fuelled the cyclical process of Islamophobia stimulating radicalisation and feeding Islamophobia. A critique of multiculturalism has been expressed by certain commentators and social thinkers, but what this fails to appreciate is that France has an assimilationist notion of integration and the Netherlands has worked towards a cul11 Dreyfuss, Robert (ed.): Devil’s Game: How the United States Helped Unleash Fundamentalist Islam. New York 2006. 12 Ismael, Tareq Y. / Rippin, Andrew (eds.): Islam in the Eyes of the West: Images and Realities in an Age of Terror. London / New York 2010. 13 Abbas, Tahir : “The symbiotic relationship between Islamophobia and radicalisation”, in: Critical Studies on Terrorism 5/3 (2012), p. 345 – 358.
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turally pluralist framework, but both countries have suffered attacks by ‘homegrown’ radical Islamists. The problem has more to do with the intersection of the local and global in relation to how disaffected Muslims determine their relations with others. It is also related to the perception of alienation among local and global Muslims, as much as its actual physical experience.14 These processes have been accelerated by advances to communication technologies.15 The belief that the problem is of Muslims is to exaggerate the debate and often return to a socioculturalist socio-pathological argument. As part of the migration process, Muslim minorities brought with them various forms of Islamism, especially those from South Asia.16 This very same Islamism originated in reaction to the colonial experience, when critical Muslim thinking and progressive development was replaced with regressive and reactionary tendencies in the face of hostility from and subjugation by the ‘oppressor’. This became a cyclical process as the British Raj attempted to moderate and mollify such tendencies which led to further resistance among the Muslims of South Asia, some of whom felt acutely marginalised as part of the ‘divide and rule’ policy of their English overloads. In coming to Britain in the post-war period, much of this antipathy has remained intact and even solidified in the context of disempowered experiences of life in the inner cities. Multiculturalism in its present form in Western Europe has evolved as part of a post-war dynamic of settlement and incorporation of various ethnic minority groups. During the course of its development, it has sought to provide the recognition of differences, and the means through which these differences can be expressed in public and private spheres, from accommodation of religious rights of worship in the public space to acceptance of such needs as halal food and Islamic marriage contracts. In some senses, the development of certain forms of benign multiculturalism have given various forms of Islamist expression opportunities to remain hidden until various crises have emerged, particularly from the Rushdie Affair onwards. Ineffective integration policies and aggressive foreign policies of the West have led certain Muslim groups to believe that there is a ‘war on Islam’, which is not helped by a range of ongoing negative media and political discourses. To understand the nature of extremism among various Muslim groups it is important to understand the historical and contemporary dynamics, compounded by a simultaneous lack of confidence and self-esteem among Muslims, who are further disempowered due to the dominant corporate,
14 Gest, Justin (ed.): Apart: Alienated and Engaged Muslims in the West. London 2010. 15 Bunt, Gary. R. (ed.): Islam in the Digital Age: E-jihad, Online Fatwas and Cyber Islamic Environments. London 2003. 16 Robinson, Francis (ed.): “Varieties of South Asian Islam”. Research Paper No.8, Centre for Research in Ethnic Relations University of Warwick 1998.
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military-industrial, ideological and political concerns that enfold various groups across society.17 It is in the inner cities where most British Muslims remain physically concentrated.18 Invariably, the nation-state and the political establishment neglect these areas until something dramatic happens. This is precisely where the multiculturalism model in Britain works least well. In celebrating differences and being culturally sensitive to minority interests, the notion of a universal national identity has not been sufficiently determined to permit different ethnocultural characteristics of ethno-religious minorities and majorities to coalesce around. At a policy level, notions of cultural identity politics supersede those relating to the need to eliminate deep-seated socio-economic inequalities.
3.
Islamophobia
In the last few decades, the concept of Islamophobia has received a great deal of attention in academic, community and policymaker discourses. There are those who have vehemently disputed the concept, arguing that it is a form of masking genuine challenges contained within Muslim communities. Others have suggested that Islamophobia is as old as Islam, arguing that a fear of the religion has existed since the beginning of its development and as part of the process of its spread across the Middle East and beyond. Nevertheless, the concept has attained a degree of notoriety that is likely to keep it on the lips of people for some considerable time. I first began to use the concept in 1996 when I was carrying out some research on the topic for the Runnymede Trust. With the Bosnian war raging on in the background and with various other parts of the Muslim world in flames in localised disputes that encouraged certain parties to take up more Islamist leanings, namely in Algeria and the Sudan, and with the Western world having moved on from the Cold War, the threat from the Islamic world seemed to be a major risk, as propounded by the likes of Bernard Lewis, Francis Fukuyama and Samuel Huntington. While the notion of Islamophobia captures a certain moment in history reflecting on aspects of anti-Semitism, which is a related concept, there are also many problems with the term. The expression evokes the idea that there is some ‘irrational’ fear of Islam but this fear or dread of Islam is based on observable, realisable, measurable and evidential processes and outcomes. In many ways the term is a descriptive concept used as a way in which to recognise a 17 Abbas, Tahir (ed.): Islamic Political Radicalism: A European Perspective. Edinburgh 2007. 18 Rex, John (ed.): The Ghetto and the Underclass: Essays on Race and Social Policy. Avebury 1988.
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general sense of fear of the religion rather than it being some analytical or theoretical category of its own. It reduces a whole host of general experiences into a form of descriptive thinking that captures a moment that has some relationship to historical encounter as well as contemporary politics. Islamophobia has local and global effects on an ongoing basis that have ramifications for society and politics at many different levels. Definitions, categorisations and discussions on the nature of the concept will continue, but what is more important is the ways in which it affects the lives of people and the implications for how we think about the Muslim experience in the West.19 Islamophobia has many manifestations. Part of it is based on hostility to immigration. Another element is misunderstanding of Muslims as monolithic and monocultural, and in many ways culturally, intellectually and emotionally the opposite of the European self.20 There is also association made with notions of terrorism and extremism which are regarded as problems that are a function of the nature of the religion of Islam. A great deal of aspects of Islamophobia are reinforced by various discourses that maintain the view that Muslims are not just a threat to forms of multiculturalism but in more recent periods a danger to the security of the nation. The latter has emerged in response to terrorism carried out in the 2000s in various parts of Western Europe, namely in the Netherlands, Spain, England and more recently in Germany in 2011. Another element of Islamophobia related to the politics of empire, particularly in the context of US foreign policy. Islamophobia in the USA is also becoming an increasingly recognisable phenomenon that is creating alarm within certain quarters, particularly within the academy but also among wider society in general. In many ways Islamophobia in the USA is a function of anti-Muslim racism realised in the US since the events of 9/11.21 In many ways radicalisation and Islamophobia reinforce each other. Indeed, there is a symbiotic relationship between the two. They effectively feed off the motivation, drive and expectations of the other. The framework in which Islamophobia and radicalisation operate is essentially political, and it has local and global effects. There is a sense of enmity between Muslims and the other which is based on present manifestations of politics, but historically there have been many positive relations between the Muslim world, Christian world and 19 Esposito, John L ./ Kalin, Ibrahim (eds.): Islamophobia: The Challenge of Pluralism in the 21st Century. New York 2011. 20 Mavelli, Luca (ed.): Europe’s Encounter with Islam: The Secular and the Postsecular. London 2012. 21 Kumar, Deepa (ed.): Islamophobia and the Politics of Empire. New York 2012; Lean, Nathan (ed.): The Islamophobia Industry : How the Right Manufactures Fear of Muslims. London 2012.
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other civilisations. However, memories are selective and emotions are easily swayed. Here it is important to contrast the experience of European-born Muslims with those of their North American-born counterparts. Much of the growth of the Muslim population in the USA came after the opening up of the immigration system in 1965. Variously highly qualified immigrant Muslim groups from various parts of the Muslim world came to America to seek higher returns to their human capital. As such the migration of Muslims to North America is hugely different compared to those in Western Europe in the current period. American Muslims, particularly those that came after 1965, are highly qualified, highly integrated, and at the same time loyal to a republic that has built its identity on the idea that hard work leads to prosperity. Therefore, the immigrant adaptation model in the USA has been hugely different compared with the Muslims who came to Western Europe as part of the labour migration processes at the bottom society. Islamophobia is a growing phenomenon in the USA and various examples of it can be acutely observed in all sorts of current dynamics, but the question of home-grown Muslim extremism is still an untested notion. This is so in spite of the various attempts by the US government to effectively intern Muslims of various backgrounds suspected to be engaged in violent radicalisation immediately after the events of 9/11 and as a result of the Boston Bombings of early 2013. Conceptually, there is a suggestion that increasing Islamophobia within the USA might encourage various forms of radicalisation in the same way that it operates within the Western European context, however the nature of North American society is quite different from that of Europe. There is no colonial history for its post-1965 Muslim groups. And class structure is less embedded in the workings of society although social and racial divisions remain wide and acute. In September 2005 the satirical Danish magazine Jyllands-Posten published twelve cartoons depicting the Prophet Muhammad. The aim was to highlight how certain artists were using forms of self-censorship in order to avoid a negative reaction from Muslim communities across the world that were believed would potentially react violently to such depictions. The process became a selfdefeating exercise when the reactions to the publications of the cartoons affirmed the premise the magazine was trying to illustrate. The event became a global controversy with significant implications for Muslim-non-Muslim relations across the world. This happened at the time when the Iraq war still raged on and a whole host of cases relating to torture, abuse of prisoners and extraordinary rendition were creating alarm among many different audiences.22 The controversy over the publication of the lampooning and sensationalising cartoons depicting the Prophet in caricatured terms in 2005 and then again in 2006, 22 Klausen, Jytte (ed.): The Cartoons That Shook the World. New Haven 2009.
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affirmed the deep-seated malaise at the heart of Muslim-non-Muslim relations in Western Europe. The initial idea of the Danish press to publish (and of other European presses to republish) these cartoons was the desire to critique the apparent self-censorship that has seemingly gripped reporting on sensitive issues on Muslims as racialised minorities in Western European contexts. By doing so, an attempt was made to engage in meaningful debate through their initial satirising. This is a not a particularly new phenomenon as political cartoons have been a part of newspapers for over a hundred years and more recently they can be seen in Muslim newspapers too. Using humour constructively is a valid way in which to graphically sensationalise important issues of the day. However, what was special about these cartoons is that they sought to caricature the Prophet in stereotypically negative terms by making reference to violence, as well as to misogynist and reactionary modes of being After their initial publication in September 2005 I was informed by a BBC journalist that a potential storm was brewing and whether I had seen these cartoons. I replied that I had not and so he did the honour of sending me a link to them. It happened to be the case that on that morning I was to deliver a lecture to approximately 200 undergraduate students taking a first-year course on the topic of representation of Muslims. I had no hesitation in beaming through a large PowerPoint screen these cartoons in the hope of eliciting some kind of response. A number of the Muslim students in the audience felt uncomfortable while the vast majority of all the others in the lecture theatre did not even react to them. Of the cartoons most were quite simply unfunny, however there were one or two that captured the attention and provided a more humorous outlook on a sensitive topic without physically denigrating the Prophet himself. Not all of the cartoons featured the Prophet. Indeed those that did not tended to portray the cartoonists in sympathetic terms. Debate, discussion and endless media chatter focused on the idea that there are two processes in play here. One process suggested that freedom of expression cannot be denied to artists, writers and journalists who wish to push on sensitive issues in order to raise awareness, and that audiences who do not wish to engage with the topic can simply ignore it. It is similar to the notion that if someone feels that a certain book might offend him/ her, the best response is to not bother to read it at all. This is what was said about The Satanic Verses. It is well-known that many people who were demonstrating and indeed engaging in ‘book burnings in Bradford’ had not read the book at all and were directed largely by local imams and mullahs who felt compelled to react based on religious zeal. Some of this may also have been political in design. Another argument put forward by critics of the cartoonists and indeed of the Salman Rushdie book is the idea that, while there is a freedom to express, there
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must be a limit placed on it so as to prevent offence. Is there indeed a notion of freedom of expression that can be realised without some degree of responsibility associated with it? After all there is no freedom without responsibility, is there not? For some, this is what the Danes followed by five other European countries did not wholly appreciate. It is perfectly fine to be satirical but what was clearly missing was the simple fact that the representation of the Prophet (positive or negative) is not permissible in Sunni Islam. The Danes knew this when they first published the cartoons in September 2005, having received a backlash from eleven Muslim European ambassadors who responded in angst. What then drove a whole host of other Western European nations to republish the same cartoons? Clearly they sought a reaction and one that seemingly confirmed the underlying message in publishing these cartoons in the first instance: That Islam and Muslims are reactionary, bigoted and violent. The reality becomes circular when already disillusioned and disaffected young men whipped up by crazed regressive fanaticism took to the streets in aggressive protest confirming the perceived premise. Intransigent mullahs, clerics and so-called leaders may well encourage their devotees to rise up no matter what. At the same time any Muslim action that is confrontational, whatever the degree, will be picked up by existing dominant discourses and used as evidence to support the increasingly popular negative views on Islam and Muslims.23 In an atmosphere of mistrust, misrepresentation and misinformation, the initial publication and the subsequent republication of the cartoons were, on the one hand, an unfortunate lack of judgement. On the other hand they also show a complete disregard of basic Islamic norms and values, perhaps even a deliverable attempt to provoke already disenfranchised, isolated and disempowered groups. Western Europe was still healing from the effects of the Madrid bombings and the murder of Theo van Gogh in March and November of 2004. Without appreciating what it might have meant for Muslims, the cartoons fanned the flames that were spreading across Europe. Western Muslims on the whole tend to be already marginalised and cut off from majority society. How Maghreb groups are treated in France, Turks in Germany, and Somalis in the Nordic countries provides ample evidence of the negative bias. Furthermore the subsequent reaction by (some extremist) Muslims was an abhorrent misplaced narrow-minded direct shot in the foot. Neither set of actions lead to any meaningful dialogue. Rather, they provided right-wing groups with the ammunition they sought and encouraged wavering liberals and soft-leftists to be forced into take a polarised view. An ‘us’ and ‘them’ psyche prevailed accentuating and exacerbating existing underlying social and cultural divisions. Mus23 Abbas, Tahir: Islamic Radicalism and Multicultural Politics: The British Experience. London / New York 2011.
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lims are not averse to self-criticism but elite powers turned and twisted the representation of Islam even further. The media does not neutrally report nor present a fair view of the world and its many issues but it shapes popular sentiment. With their portrayal in such negative terms the result is a change in attitude and behaviour. Good news rarely spreads, but negative news spread exceptionally fast and with it too the maintenance of existing power relations between aggressor and aggressed, bourgeoisie and proletariat, exploiter and exploiters, Muslims and non-Muslims. Further consternation is experienced when questions of ‘Britishness’, the ‘death of multiculturalism’, pandering to ‘political correctness’ and the ‘unassimilability of Muslims’ resurface. These too centre on polarities and hard distinctions, and a concentration on sameness is replaced by a concentration on difference.
4.
Discussion and concluding remarks
During the mid-2000s concerns around what were perceived to be problematic tendencies on the part of Muslims in the West and in Britain in particular were regarded more and more to be a function of religion per se. The ‘war on terror’, underway by late 2001, the war on Iraq by early 2003, issues around veiled women in Turkey in 2006, and the Cartoons Affair of the same year, created huge international outcry. Much of the reactions of Muslims to a perceived sense that Islam was under attack was to revive more archaic notions of an Islamic identity. These archaic notions historically came in response to physical, psychological and political attacks on Islam in the early days of the founding of the religion and in a period in which the European colonials slowly began to overrun Islam in Africa and Asia. But while this response on the part of Muslims is based on some gut reaction to perceived and actual persecution, the wider issue is that of Islamophobia in wider society. Questions around the loyalty of Western European Muslims have also been surfaced in light of the events of 9/11 and 7/7, although they were in place before with the Rushdie Affair of 1989 that exposed issues relating to identity, the law, blasphemy and the faithfulness of British subjects. Crudely put, the question is whether British Muslim’s loyalty is to the Qur’an or to the crown. Umpteen surveys and projects have been carried out showing that Muslims do indeed feel perfectly British, are more likely to have non-Muslim friends and relations than their non-Muslims counterparts, and are prepared to work hard to integrate into society, valuing education, technology and freedom. The announcement in April 2012 of a University of Essex study on Britishness made headlines in practically all of the daily nationals in England. The essence of the analysis of the national survey suggested that Muslims in Britain regarded themselves as feeling far more
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British than popular sentiment would otherwise suggest. Experiencing a sense of Britishness is not the issue, nor are the ideas associated with ‘loyalty’ or national identity in general. Muslims are consumers in society from visiting high street supermarkets, stores and fast food chains to buying German and Japanese cars or Tweeting, blogging and even Ebay trading. They are producers in society from manufactures to industrialists, designers and innovators. British Muslims variously differentiated along ethnic, class and sectarian lines (as are other faith communities), particularly younger British-born generations, are about as integrated as they could wish to be. But integration is a complex topic. In brief it is the notion that minorities accept the law of the land and contribute to and engage in the national social model as best they can. In return the state affords protection against discrimination and human rights violations recognising and respecting differences in the process. It is a two-way street not a cul de sac which is what assimilation might be seen to be. Sometimes this lack of integration combined with social pressures creates the ingredients for radicalisation. This is not just regrettable but also deeply painful for those who regard themselves as wholly British and wholly Muslim. However, most Muslims are law-abiding, peace-loving, hard working and religio-culturally balanced, all the while remaining committed and loyal subjects of Her Majesty. Although national surveys are quite useful in providing an understanding of overarching patterns, there is a tendency to confirm what we know from extensive qualitative and ethnographic research being carried out on British Muslims in abundance in recent years. The other main problem is the inability to ask seriously detailed questions on all aspects of life concerning various groups. This is generally due to resource constraints and hence smaller-scale qualitative research is often better able to bridge that gap. While Muslims feel British and want to be British as much as they can, the real question is whether Muslims actually feel accepted as being British. That the answer to this question is likely to be that minorities almost almost always aspire to fit into society but that they are not always accepted. Granted that in Britain it is far better than in most places in Western Europe, but it is still far from perfect. In Western Europe, where there are over 25 million Muslims living as minorities, there are other complex challenges at play. Islamophobia and antiMuslim discourses are prominent in a range of media forums – new as well as traditional. They take many different shapes from hostility to immigration, the constant projection of conflict and violence, a focus on the fundamentalist strains, the ongoing ‘othering’ of the existing Orientalised ‘other’, or a spotlight on misogynism and the notion that Muslims are anti-human and anti-universalist. These are significant exogenous factors but endogenously there are problems of internal intergenerational disconnect leading to widening cultural gaps, economic immobility and social pressures as a result of the global ‘decline
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of masculinity’. There are nevertheless opportunities for positive change. Young Muslims in the Arab world and South Asia want de-militarism, de-tribalism and anti-quasi-feudalism. They want political empowerment for all, regional autonomy, the deregulation and liberalisation of broadcast and print media, inward investment and entrepreneurial development, including micro-financing, and a net reduction in wealth-gaps through active and effective social policy. Young Western European Muslims want fair and representative opportunities to take part in society as equal citizens of the states they live and work in. Moreover, given the space provided to liberal critical discourses in Western Europe, European Muslims have an opportunity to help define the nature of a forwardlooking Islam that is at peace with benevolent capitalism, democracy, the rule of law and human rights. This would benefit both the eastern Muslim world and Muslims in the West. However, in the wider Muslim world the importance of technological and political investment for economic and social change cannot be taken too lightly. Considerable efforts are needed to develop media infrastructure, improve access to media outlets, and to ensure that journalists and writers do not live in fear or engage in self-censorship. The stability of the entire Middle East, North African and South Asian region over the next two decades is at stake while the EU still struggles out of recession and the US economy remains steadfast, perhaps never truly recovering at all given the immense rise of China, India, Brazil, and other large nations. In Britain the situation could not be more sensitive. At the time of writing there is a real risk of a trip-dip recession as economic growth is low, inflation is high, wages have frozen, youth unemployment continues high, business confidence is low and people are genuinely worried about their jobs and livelihood in general. There is also a feral beast in the form of the English Defence League which claims authority to an English-ism that has perhaps been lacking in the public sphere or has eroded in the face of the supposed challenges of multiculturalism and violent Islamic radicalism among a few young Muslims. The growth of the fascist far-right is also found in a number of other Western European countries, but at present with a political vacuum for a beleaguered white working class and a Con-Dem coalition entrenched in London and out of touch with the rest of the nation, the challenges remain significant. Invariably, tensions, conflicts and prejudice will grow during a period of an economic downturn. As the divisions widen the extremes of society clash further, and with Britain trundling along with its own deep-seated problems of class, elitism, bourgeois racism and a concept of Englishness that is conceivably outmoded and even dysfunctional in the current period. I recall a variation on George Orwell: ‘All people are different. Some people are more different than others’. I would quite like to see mass media concentrate on the positives of religion and the potential for genuine progressive inter-faith
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relations. But as the recent cases suggest, we are quite a way off from that, and admittedly it is because of the actions of both minority Muslims and nonMuslims. Mainstream Protestant and Catholic Western Europe does not always wish to see the apparent excesses of religious differences between peoples and groups, whatever they may be. The existing neo-Orientalist and Islamophobic discourse remains, and Muslims are falling into a trap set by neo-conservative European elites. There remains a long way to go.
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Eine europäische Erfahrung: Politik und Religion im Post-kommunistischen Osteuropa
Jakub Kloc-Konkołowicz
Parallele Welten des Geistigen. Die Verwandlungen der Religiosität am Beispiel Polens
Einleitung Was ich in dem vorliegenden Beitrag vorschlagen möchte, ist eine sozialphilosophische Interpretation des aktuellen Zustandes der polnischen Religiosität als Ergebnis mehrerer gesellschaftlicher Verwandlungen. Diese Deutung stellt lediglich einen Interpretationsvorschlag dar, einen Überblick also, und keine vertiefte und differenzierte Studie. Gewiss lassen sich mehrere Beispiele anführen, die die hier präsentierten Thesen etwas relativieren würden. Mein Ziel ist es aber ein allgemeines Bild auszumalen, worin zwar manche Details mal zu grob, mal zu undeutlich sein mögen, das ich aber im Großen und Ganzen als plausible Widerspiegelung der geistigen Lage Polens 2013 zur Diskussion stellen möchte. Ich werde in drei Schritten vorgehen. Zunächst skizziere ich den historischen Hintergrund, vor welchem erst alle Interpretationen der jetzigen Etappe einen Sinn gewinnen können. Ohne diese, wenn auch nur in groben Zügen dargelegte und notwendigerweise vereinfachende Rekonstruktion, ist eine ausgewogene Einschätzung der Verwandlungen im Bereich des Religiösen in Polen kaum möglich. Dann, im zweiten Schritt, möchte ich die Kernthese meines Vortrags darlegen, meine Überzeugung also, dass heute in Polen drei von Grund auf verschiedene Diskurse der (Irr-)Religiosität miteinander konkurrieren, manchmal aufeinanderprallen und manchmal kurzfristige Allianzen eingehen. Im dritten und letzten Teil dieses Beitrags möchte ich den Stand und die Formen der Debatte um die Religion in der polnischen Öffentlichkeit analysieren und einige Vermutungen formulieren, welche die Zukunft dieser Debatte und ihres Gegenstandes betreffen. Noch eine kurze Vorbemerkung ist hier nötig: Ich bin keinesfalls der Meinung, dass sich die Beschreibung der polnischen Religiosität auf die Veränderungen innerhalb der katholischen Mehrheit reduzieren lässt. Das neu belebte jüdische Leben, reiche Traditionen der orthodoxen Polen (vor allem in den östlichen Gebieten Polens), aber auch andere religiöse Tendenzen wie die etwa
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bereits seit Jahrzehnten existierende Gemeinschaft der polnischen Buddhisten – all das sind Phänomene, die, jeweils für sich genommen, große Aufmerksamkeit verdienen und eine vertiefte Studie abverlangen. Die Veränderungen innerhalb der sich mehr oder weniger als katholisch verstehenden Mehrheit sind jedoch, dem Maßstab nach, die größten und deshalb sind sie für eine ungefähre Orientierung in der Lage der Religiosität in Polen unabdingbar. Im Folgenden führe ich also bewusst eine Reduktion durch und begrenze mich in meinen Analysen auf diesen zentralen Prozess der geistigen Verwandlungen innerhalb der Mehrheit, die sich entweder für oder gegen die katholische Tradition und Identität zu definieren versucht.
1.
Historische Hintergründe
Obwohl es als Selbstverständlichkeit unter den Historikern und Kennern der polnischen Geschichte gilt, wird die Tatsache, dass die Polen sich selber erst ab einem gewissen Zeitpunkt als fast ausschließlich katholisch zu verstehen begannen, im Westen Europas immer noch selten zur Kenntnis genommen. Im XVI. Jahrhundert war die damals mächtige und die Geschicke Europas mitbestimmende Polnisch-Litauische Adelsrepublik, was Religion, Kultur und Ethnizität anbelangt, ein sehr buntes Gebilde.1 Auf dem Gebiet des damaligen Polens, der so genannten Rzeczpospolita (das polnische Wort, das dem lateinischen res publica entspricht), lebten Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Juden und muslimische Tataren relativ friedlich miteinander. Eine besonders wichtige Rolle spielte die Adelsrepublik (vor allem im XVI. Jahrhundert) als Zufluchtsort mehrerer im Westen Europas verfolgten Protestanten. Das Land wurde europaweit als „Land ohne Scheiterhaufen“ gepriesen (oder, viel öfters, als paradisus hereticorum angeprangert). Der religiöse Fanatismus galt als Bedrohung der Adelsfreiheiten und wurde konsequent unterbunden. Eine Zeitlang erwog man sogar die Gründung der polnischen nationalen Kirche nach dem Vorbild Englands. Diese für damalige Zeiten auffallend fortschrittliche und tolerante Gesinnung des polnischen Adels mündete in einem historischen Akt, der Konföderation von Warschau aus dem Jahre 1573. Dieser Akt war kein Toleranzedikt, der durch einen herrschenden Monarchen den religiösen Minderheiten die Freiheit des Gewissens gnädig garantieren würde, sondern es war eine Zusammenkunft der Adligen, die sich gegenseitig 1 Folgende Darstellung basiert vor allem auf der Deutung der polnischen Geschichte durch Paweł Jasienica, die er in seinen in Polen hoch geschätzten Büchern entwickelt hat (nur einige davon erhältlich auf Englisch, vor allem: Jasienica, Pawel (ed.): The Commonwealth Of Both Nations, translation by Alexander. Jordan, American Institute of Polish Culture 1987).
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versicherten, dass sie es nicht zulassen würden, dass die ”Differenzen im Glauben” den Frieden zwischen ihnen störten. Und dieser einzigartige religiöse Frieden sollte jedem Kandidaten für die polnische Krone als eine der Bedingungen der Thronbesteigung (die sog. Articuli Henriciani) vorgelegt werden. Man sollte ergänzen, dass nicht nur christliche, sondern auch andere Glaubensgemeinschaften damals auf dem polnischen Gebiet den religiösen Frieden genießen konnten. Muslimische Tataren, die auf dem polnischen Gebiet lebten und einen Teil des polnischen Militärs bildeten (die sog. Lipka-Tataren), durften in ihren Ortschaften Moscheen bauen und ihren Glauben weiter praktizieren. Und ein jüdischer Gelehrter aus Kazimierz in Krakau, Moses Isserles, besser bekannt als Rabbi Rema (polnisch Remu), nannte die Adelsrepublik im XVI. Jahrhundert paradis Judaeorum, ein Paradies für die Juden. Ohne die Lage zu idealisieren, darf man schon die These riskieren, dass das rechtliche und institutionelle Gefüge der Adelsrepublik Polens, was die Freiheit des Gewissens betrifft, mit damaligen Maßstäben gemessen, zu den fortschrittlichsten in Europa gehörte. Im Jahre 1648, gerade als der Westfälische Frieden unterzeichnet wurde, der dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg ein Ende setzte, begann in Polen eine turbulente Zeit der Rebellionen, Kriege und Bürgerkriege. Das XVII. Jahrhundert mit seinen Konflikten mit Kosaken, Russen, Schweden und Türken hat nicht nur die Macht der Adelsrepublik stark geschwächt, sondern hatte noch schwerwiegendere Folgen für die Gesinnung des polnischen Adels: Andersgläubige galten jetzt als geheime oder offene Verbündete der Angreifer (so war es vor allem im Falle von Protestanten während des schwedischen Angriffs) und sie wurden allmählich wichtiger Ämter enthoben. Im Laufe des XVIII. Jahrhunderts, das der Adelsrepublik durch drei Teilungen Polens ein Ende setzte, wurde diese Tendenz auch noch von außen verstärkt und bewusst ausgenutzt. So hatten sich die zukünftigen Teilungsmächte Russland und Preußen als Schutzpatronen der religiösen Minderheiten (der orthodoxen und der protestantischen) aufgespielt, um sich, unter dem Vorwand der Verteidigung ihrer Rechte, in innere Angelegenheiten Polens immer stärker einzumischen. Man begrüßte heimlich solche brutalen Ereignisse wie das Thorner Blutgericht (1724), um die europäische Öffentlichkeit von der Rückständigkeit und dem Fanatismus Polens zu überzeugen und sie so auf die bevorstehende völlige Auslöschung des polnischen Staates einzustimmen. Unabhängig von den äußeren Ursachen muss man die Hauptursache des Untergangs doch in dem immer mehr fanatisierten polnischen Adel sehen, welcher in diesem Verfallsprozess – im Gegensatz zur aufgeklärten Position in früheren Jahrhunderten – leider die tragende Rolle spielte. Infolge der Teilung Polens hat sich die Verbindung zwischen der nationalen Identität und dem Katholizismus noch verstärkt. Durch die romantische Bewegung geformt, beinhaltete das Arsenal der polnischen nationalen Mythen, die
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besonders in Zeiten der großen Aufstände mobilisiert wurden, immer auch die Überzeugung von den katholischen Wurzeln der polnischen Identität. Der Unabhängigkeitskampf, vor allem gegen Russland und Preußen, bedeutete auch die Verteidigung der katholischen Identität. Kurzum: Als die zweite polnische Republik 1918, nach 123 Jahren fremder Herrschaft, entstand, verstanden sich die meisten Polen als Katholiken. Zwar kam der Gründer dieses Staates – Jûzef Piłsudski – gerade aus der sozialistischen Bewegung und der Staat selbst zeichnete sich durch demokratische und fortschrittliche Strukturen und Institutionen aus (man kann nur als Beispiel die Einführung des Wahlrechts für Frauen 1918 nennen), die katholisch-national-konservativen Kräfte hatten aber von Anfang an eine sehr starke Position in dem neugegründeten Staat. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte die Verschiebung der polnischen Grenzen und es entstand ein ethnisch wie auch religiös relativ einheitliches Land. Die Bedrohung der nationalen Identität und der Unabhängigkeit trat aber in erneuter Form auf: diesmal als ein von außen aufgezwungenes und militärisch unterstütztes kommunistisches Regime, mit einem von oben aufgezwungenen, staatlich erklärten Atheismus. Wieder hat sich der Unabhängigkeits- und Freiheitskampf mit der Identifikation mit dem katholischen Glauben stark verflochten. Auch die liberal gesinnten oder religiös skeptischen Bürgerrechtler haben in der Kirche Zuflucht und Unterstützung gefunden. Und der seit den sechziger Jahren weitgehend laizistische Westen hat mit Erstaunen beobachtet, als zwanzig Jahre danach, im Jahre 1980, der Anführer der Bewegung Solidarnos´´c, Lech Wałe˛sa, auf seiner Jacke demonstrativ das Bild der Mutter Gottes trug. Obwohl die Solidarnos´c´-Bewegung eine sehr bunte Mischung der Positionen und Ansichten darstellte, waren in ihr der Freiheitskampf, die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und nach Achtung der Menschen- und Bürgerrechte mit den romantischen Traditionen und der katholischen Verwurzelung der polnischen Identität aufs engste verbunden. Man kann sich fragen, wieso die katholische Identität nicht bereits in den neunziger Jahren des XX. Jahrhunderts, nach der politischen Wende und nach der Wiedererreichung der vollen politischen Souveränität durch Polen, zum Gegenstand einer fundamentalen Debatte geworden ist. Es muss zwar zugegeben werden, dass die ersten Anzeichen einer solchen Debatte schon ersichtlich waren, vor allem während der erhitzten Diskussionen um die Einführung des Religionsunterrichts in den Schulen und um das Abtreibungsgesetz. Während dieser Debatten haben sich zum ersten Mal neue Fronten herausgebildet, die zwischen einem liberal gesinnten und einem konservativ-katholischen Teil der Gesellschaft verliefen. Allerdings vermochten sich diejenigen politischen und intellektuellen Eliten, welche aus der Gewerkschaft „Solidarnos´c´“ hervorgegangen waren, nur sehr langsam von der Position der Kirche zu distanzieren. Zu oft hörte man seitens der Kirche den Vorwurf der Undankbarkeit. Zum zweiten
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wollten auch die Sozialdemokraten, die früher Funktionäre der kommunistischen Partei gewesen sind, in keine starken Konflikte mit der Kirche geraten. Man hat eher auf Pragmatismus gesetzt und den „Frieden mit der Kirche“ gepriesen. Und – last but not least – hat die Gestalt Johannes Paul II. einen enormen Einfluss auf die polnischen Debatten ausgeübt. Der „polnische Papst“, wie man an der Weichsel den Heiligen Vater mit Vorliebe nannte, war zu eng mit dem Freiheits- und Unabhängigkeitskampf von „Solidarnos´c´“ verbunden, als dass man in einem frisch wieder befreiten Polen eine tiefgehende Kontroverse mit der von ihm geführten Kirche riskieren konnte. Selbst der sozialdemokratische Staatspräsident Aleksander Kwas´niewski bemühte sich um Akzeptanz des Heiligen Vaters und als dieser ihn im papa mobile über eine kurze Strecke mitfahren ließ, wurde die Kritik gegenüber den kommunistischen Wurzeln von Kwas´niewski immer leiser. Die Autorität von Karol Wojtyła und damit indirekt auch die der katholischen Kirche in Polen war in den 90er Jahren kaum anfechtbar. Vor diesem Hintergrund versteht man besser, was danach – und zwar in den letzten sieben Jahren – passiert ist. Der Tod von Johannes Paul dem II. ereignete sich in einer Zeit, in welcher an der Weichsel eine Diskreditierung der regierenden Sozialdemokraten (in Folge der Korruptionsaffären) erfolgte. Seitdem hat sich die Linke nicht erholt und zwei Parteien – die nationalkonservative Partei der Brüder Kaczyn´ski und die liberal-konservative Partei von Donald Tusk – dominieren die politische Szene Polens. Paradoxerweise ist es aber die Zeit gewesen, in der, vor dem Hintergrund einer immer härteren Auseinandersetzung zwischen diesen Parteien, die beide ihre Wurzeln in der „Solidarnos´c´“-Bewegung haben, die Position der katholischen Kirche in Polen deutlich, wenn auch nur in kleinen Schritten, geschwächt wurde. 2012 ist eine Partei, die ihren Wahlkampf praktisch ausschließlich auf kirchenkritischen Parolen aufgebaut hat, zur drittstärksten Kraft im polnischen Parlament geworden.
2.
Drei Welten des Geistigen
Die Zeit von 2007 bis heute, also die letzten fünf bis sechs Jahre, kann man, ohne große Übertreibung, als die Zeit der beschleunigten Säkularisierung Polens bezeichnen. Kirchenkritische Stimmen ertönen immer öfters und werden immer lauter. Es darf sogar gesagt werden, dass sich die katholische Kirche in Polen erstmals seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten, in der Defensive befindet. Fragen und Konflikte mehren sich, dazu zählen: Probleme wie die Finanzierung der Kirche, der Vorwurf der Einmischung in die Politik; dazu kommt, dass die Skandale um uneheliche Kinder oder um sexuellen Missbrauch
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von Minderjährigen durch Priester dem Image der polnischen Kirche starken Schaden zugefügt haben. Selbstverständlich darf man die Ursachen hierfür nicht ausschließlich auf der historischen, politischen und symbolischen Ebene suchen. Ebenso ausschlaggebend waren für diesen Prozess die Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der polnischen Gesellschaft. Die beschleunigte wirtschaftliche und strukturelle Modernisierung Polens wie auch der Beitritt Polens in die EU haben einen Wandel in dem traditionellen Lebensstil und in der Gestaltung der sozialen Institutionen wie etwa in der Familie angespornt. Vor allem die junge Generation ist auf der Suche nach Beschäftigung massenhaft aus der Provinz in Richtung der großen Städte, vor allem in Richtung Warschau, aufgebrochen. Nach dem Beitritt in die EU hat diese Migrationswelle auch Städte wie London erreicht, wo heutzutage eine große polnische Gemeinschaft ansässig ist. Manche von diesen Menschen versuchen ihr Leben dort aufs Neue anzufangen, andere kehren nach einigen Jahren heim, wobei sie mit aufgesammelten Erfahrungen und völlig anderen Erwartungen ihre Karriere und ihr Privatleben zu gestalten versuchen. Dies alles hat dazu geführt, dass sich viele junge Polen von der Wertehierarchie und von dem Lebensstil ihrer Eltern und Großeltern allmählich zu distanzieren begannen. Ihr eigener Lebensstil hat sich dabei auch den Formen der wirtschaftlichen Tätigkeit angepasst: Die Forderung nach „Elastizität“ der Arbeitszeit hat Alleinstehende (sog. „Singles“) auf dem Markt begünstigt, darüber hinaus ist das Phänomen des Präkariats – des projektbezogenen beruflichen Lebens, ohne Kontinuität und ohne feste Stelle – gerade nicht sehr förderlich, was die Gründung einer eigenen Familie oder die Kinderplanung betrifft. Weil sich aber die katholische Kirche, zumindest im sozialen Sinne, weiterhin vorwiegend an traditionell gestaltete Familien richtet, verliert sie bei der jungen Generation stark an Akzeptanz. Indirekt haben wirtschaftliche Veränderungen, aber vor allem eine enorme Steigerung der Zahl der Bürger mit einer universitären Ausbildung, auch zur Stärkung der individualistischen Tendenzen und Positionen geführt. So soll die Religiosität im allgemeinen – also nicht nur ihre katholische Gestalt – das Ergebnis einer individuellen Suche und Gestaltung sein, sie soll eine Antwort auf persönlich gestellte und erlebte existenzielle Fragen sein. Nicht eine nach Eltern passiv ererbte Gesinnung, sondern eine bewusste Wahl soll das religiöse Engagement begründen. Die Kirche stand solchen Forderungen zunächst eher skeptisch und misstrauisch gegenüber ; immer wieder wurde dabei Individualismus mit Egoismus verwechselt. Dadurch sahen sich viele jungen Menschen enttäuscht und haben sich folglich von der Kirche entfernt. Dies betrifft auch viele junge Priester oder Mönche, die nach dem Austritt aus der Kirche oder aus dem Orden ihrer Enttäuschung in der Öffentlichkeit Ausdruck verliehen. Man kann sich also nicht sehr wundern, dass es vor allem die junge Generation ist, welche die
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kirchenkritischen oder sogar kirchenfeindlichen Stimmen erhebt und Parteien und Bewegungen unterstützt, welche die Ziele des Säkularismus auf ihre Fahnen geschrieben haben. Gewiss ist diese Beschreibung vereinfachend. Vor allem verlaufen die beschriebenen Prozesse sehr unterschiedlich: In großen Städten, wie Warschau oder Gdan´sk, sind sie sehr fortgeschritten, auf dem Land, besonders im Osten und Süden Polens, scheinen noch die traditionellen Einstellungen zu überwiegen. Man müsste auch die Einschätzung der Spaltung zwischen den Generationen etwas differenzieren. Nicht selten eignen sich gerade nicht sehr junge, weit über sechzigjährige Sozialdemokraten, die ehemals Funktionäre der kommunistischen Partei gewesen sind, die Parolen der Säkularisierung an, weil sie nicht mehr die Konfrontation mit der Kirche fürchten und weil sie sich durch solche Parolen politische Unterstützung zu sichern erhoffen. Gleichzeitig nehmen sehr viele Vertreter der jungen Generation an verschiedenen religiös motivierten Tätigkeiten und Praktiken – vor allem im Bereich der sozialen Aktivitäten und karitativen Hilfe – teil. Im Großen und Ganzen verlaufen aber die Fronten so wie oben beschrieben. Oder noch präziser gesagt: So werden diese Fronten auch in der Öffentlichkeit dargestellt, stilisiert und dramatisiert, was nicht ohne Einfluss auf die Vertreter der Generationen oder Landesteile bleibt. Die immer wieder auftauchende, inzwischen eher ironisch benutzte Kategorie der sog. „jungen Ausgebildeten aus großen Städten“ mag eine pseudosoziologische Vereinfachung sein; trotzdem zeichnet sich diese (verdeckt normative) Kategorie durch hohes Mobilisierungspotential aus und sorgt für eine Vertiefung der Spaltungen. Die von mir skizzierten Umstände und Tendenzen haben sich selbstverständlich nicht über Nacht ergeben. Dahinter steht ein langwieriger Prozess, der zunächst eher geheim verlief, um später desto gewaltiger auszubrechen. Und zwar schon in den neunziger Jahren diagnostizierte man eine gewisse Austrocknung der Religiosität in Polen. Schon damals attestierten manche Soziologen und Sozialpsychologen den Polen, die sich zu über 90 Prozent konsequent als „katholisch“ erklärt haben, die Einstellung der „praktizierenden Ungläubigen“. Diese ironische Formel (als Gegensatz zu den „nicht praktizierenden Gläubigen“) sollte offensichtlich das Phänomen des ritualisierten religiösen Lebens vieler Polen widerspiegeln. Man praktizierte kirchliche Trauungen und taufte die Kinder, ohne besonders starke religiöse Überzeugungen zu hegen. Das Ziel solcher rituellen Religiosität bestand, zumindest durchschnittlich, offensichtlich darin, sich die Akzeptanz der sozialen Umgebung zu sichern. Und gerade dieser Grund ist in den letzten Jahren immer hinfälliger geworden. Das kann die langsam zurückgehenden Zahlen der sich als Gläubige erklärenden, und unter diesen der sich als Praktizierende beschreibenden Polen, verständlich machen:
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„Seit 2005, also seit dem Tod von Johannes Paul II., ist die Zahl derer, die angeben regulär, d.i. zumindest einmal pro Woche, an religiösen Praktiken teilzunehmen, vom 58 auf 52 Prozent gesunken. Gestiegen ist dagegen die Anzahl derer, die am Gottesdienst nicht öfters als einmal oder zweimal pro Monat teilnehmen (Anstieg von 34 auf 38 Prozent) und derer, die überhaupt nicht praktizieren (Anstieg von 9 auf 11 Prozent). […] Noch deutlicher zeichnet sich dieser Rückgang in der deklarierten Häufigkeit der religiösen Teilnahme unter der jungen Generation ab. Seit 2005 ist unter den Probanden zwischen 18 und 24 Jahre die Zahl derer, die zumindest einmal pro Woche praktizieren, insgesamt um 7 Prozentpunkte zurückgegangen (von 51 auf 44 Prozent); gestiegen ist dagegen (um 5 Prozentpunkte – von 10 auf 15 Prozent) die Zahl der jungen Menschen, welche angeben, an keinen kirchlichen Praktiken teilzunehmen.“2
Ich möchte jetzt eine Dreiteilung vorschlagen, welche einen Versuch darstellt, den jetztigen Zustand der Religiosität in Polen etwas zu schematisieren. Ich werde drei Diskurse zu beschreiben versuchen, die in der öffentlichen Debatte um Religion und Gesellschaft vernehmbar sind. Den einen Diskurs, den man überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich (siehe die Bemerkungen oben), mit der jungen Generation in Verbindung setzen darf, möchte ich als den Diskurs des „kämpferischen Säkularismus“ bezeichnen. Das Adjektiv „kämpferisch“ benutze ich dabei auf neutrale Weise, ich glaube eher, dass der Begriff des Kampfes in diesem Diskurs eine wesentliche Rolle spielt. Die meisten Vertreter dieses Diskurses sehen sich nämlich als eine bedrohte Minderheit, die sich gegen die vermeintliche Vormachtstellung der Kirche aktiv wehren muss. Polen sei immer noch ein stark konservatives Land, in welchem die durch die katholische Kirche unterstützten Politiker das Sagen hätten und jede fortschrittliche Reform – wie etwa neulich die Einführung der gesetzlich geschützten heterosexuellen und homosexuellen Partnerschaften – erfolgreich blockierten. Deswegen versuchen diejenigen, die im Rahmen dieses Diskurses agieren, durch öffentliche Kampagnen (wie etwa das sog. coming out der Atheisten) die Vormachtstellung der Kirche in der Öffentlichkeit zu brechen und auch die Fundamente dieser Vormachtstellung zu demontieren (etwa die Forderung nach Aufhebung des Religionsunterrichts in der Schule). Als Ziel erscheinen in diesem Diskurs die Bildung eines völlig laizisierten Staates und die strenge Einschließung aller religiösen Inhalte in den Bereich des Privatlebens der (erwachsenen) Bürger. Dieser Diskurs ist in der Öffentlichkeit, vor allem in dem linksliberalen Teil der Öffentlichkeit, immer stärker präsent und zeichnet sich durch immer offenere Formulierung laizistischer Forderungen aus. Selbstverständlich verbirgt sich hinter diesem von mir so bezeichneten Diskurs des kämpfenden Säkularismus keinesfalls ein einheitliches Lager, es gibt sehr unterschiedliche Arten der Ein2 Zmiany w zakresie wiary i religijnos´ci Polakûw po ´smierci Jana Pawła II, Komunikat z badan´ Centrum Badania Opinii Społecznej, oprac. R. Boguszewski, Warszawa 2012. Verfügbar unter : cbos.pl/SPISKOM.POL/2012/K_049_12.PDF, S. 4 – 5 [03. 12. 2013, Übersetzung J. K.-K.].
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stellungen. Anfangend von Atheisten, von denen einige völliges Unverständnis für Gläubige demonstrieren und andere durchaus Sympathie mit den gläubigen Mitbürgern deklarieren, bis zu Agnostikern oder sogar Gläubigen (auch in den Reihen der Kirche), die sich zwar als religiöse Menschen bezeichnen, die aber die Ziele der radikalen Säkularisierung des Staates völlig teilen und manchmal gerade darin viele Vorteile für den Glauben und für die Kirche selbst sehen. Diesem Diskurs steht ein Diskurs entgegen, den ich vorsichtig als Diskurs des konservativen Katholizismus bezeichnen möchte. Merkwürdigerweise sehen sich auch die Exponenten dieses Diskurses als bedroht, gleichzeitig jedoch als „normale“ Mehrheit, was zu der paradoxen Figur einer „bedrohten Mehrheit“ führt. Die Kernaussagen dieses Diskurses lassen sich auf folgende Weise zusammenfassen: Die Kampagnen der Säkularisierer zielten auf die Schwächung der traditionellen Werte und Identität ab, deswegen würde eine Attacke gegen Kirche und Familie geführt. Der laizistische Diskurs ignoriere den dominierenden Status des katholischen Glaubens in Polen, versuche „marginale“ Einstellungen und Ansichten zur Normalität zu erklären und damit die „gesund“ denkende Mehrheit zur Akzeptanz des „Untypischen“ zu zwingen. Zwischen den irreligiösen Ansichten der Säkularisierer und etwa ihrer Unterstützung der sexuellen Minderheiten bestehe aus der Sicht der Konservativen ein notwendiger Zusammenhang. So vermutet die radikale Version des konservativ-katholischen Diskurses hinter den Handlungen der Säkularisierungskämpfer einen Plan zur Schwächung der Identität Polens und damit seiner Position in Europa (was mit verschiedenen Verschwörungstheorien begründet wird). In einer weniger radikalen Version wird immer wieder auf die kommunistischen Wurzeln einiger Vertreter des ersten Lagers verwiesen. Die gemäßigte Form dieses Diskurses drückt sich in der Überzeugung aus, dass das laizistische Lager seine manchmal sogar berechtigten Forderungen zu weit treibt, womit es sie zur Unkenntlichkeit verzerrt und zu unakzeptablen Postulaten macht. Zwischen diesen Fronten, die sich im Laufe der Zeit immer weiter verhärtet haben, steht nun die dritte Gruppe, die wahrscheinlich das zahlenmäßig größte – selbstverständlich nur unter jenen Bürgern, die sich überhaupt für solche Themen interessieren – Lager bildet. Es ist die Gruppe, deren Ansichten ich als ”postsäkular” bezeichnen möchte (wobei diese Bezeichnung, wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, einen eher anachronistischen Charakter hat).3 Damit ist offensichtlich nicht gemeint, dass die Vertreter dieser sozialen Gruppe bewusst ihre Einstellung so definieren würden; nach ihren Ansichten gegenüber einzelnen Problemen gefragt, würden sie jedoch Antworten liefern, die zu3 In meiner Schilderung des postsäkularen Diskurses stütze ich mich auf die Beschreibung eines solchen Diskurses durch Jürgen Habermas. Siehe: Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt am Main 2005, v. a. S. 136 – 154.
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sammen genommen der Position des Postsäkularismus am nächsten stehen würden. Und gerade deswegen, weil mir das Wertesystem dieser Gruppierung als eher unbewusst und implizit erscheint, meide ich in dem Fall den Begriff des Diskurses. So gehen die Vertreter dieses Lagers davon aus, dass eine klare Trennung von Staat und Kirche die notwendige Grundlage des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche bildet. Sie akzeptieren damit die Postulate des Säkularismus, würden sie aber nicht deflationär verstehen. Das bedeutet etwa im Bezug auf die öffentliche Sphäre, dass die „Postsäkularisten“ sie in dem Sinne als neutral verstehen, dass in ihr alle religiösen Symbole und Praktiken gleichberechtigt sein sollen, nicht aber in dem, dass sie von allen solchen Symbolen und Praktiken gereinigt werden sollte. Die Postsäkularisten betrachten also verschiedene religiöse Traditionen, die sie als gleichberechtigt ansehen, als Quelle der Inspiration für die Handlungen und Beiträge, die sie in der neutralen Öffentlichkeit vornehmen bzw. formulieren. Sie glauben, ihr soziales Leben, ihr bürgerliches Engagement wäre ohne diese religiöse Inspiration ärmer. Sie gehen davon aus, dass religiöse Traditionen eine der wichtigsten – aber auch nur eine unter mehreren – Quellen der Ausbildung des Sinns für unsere sozialen Interaktionen bilden. Die Postsäkularisten akzeptieren eher breite Definitionen der Religiosität und suchen nach Erfahrungen, die eine Bereicherung oder eine Herausforderung für ihre eigene Position bedeuten. Sie sind offen für den Dialog mit anderen religiösen aber auch nicht-religiösen oder außerreligiösen Traditionen. Sie nehmen den individualistischen Standpunkt an, was den Grund der Wahl ihrer eigenen Religiosität betrifft, verstehen aber auch die gemeinschaftliche Dimension des religiös inspirierten Lebens. Typisch für diese Bürger ist es, dass sie kategorische Urteile im Bereich des Religiösen eher meiden. Sie fühlen sich einer konkreten Gemeinschaft verpflichtet, suchen sich nicht selten Geistliche aus, die auf ihre Erfahrungen persönlich eingehen und mit ihnen einen intensiven Dialog knüpfen. Vor allem aber verstehen sie sich als engagierte, aktive Bürger, die sich dazu verpflichtet fühlen, die Inhalte des demokratischen Lebens mit den Forderungen, die sich aus ihrer Religiosität ergeben, in Einklang zu bringen. Sie versuchen aber auch der von Jürgen Habermas genannten Forderung zu genügen, die Inhalte ihrer religiösen Tradition und ihres persönlichen religiösen Lebens in die säkulare Sprache zu übersetzen, um damit die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, in der sie aktiv leben, zu bereichern.4 Kurzum: Sich durchaus der Grenze zwischen der laizisierten Öffentlichkeit und dem Bereich des für sie Heiligen bewusst (also dessen, was der junge Hegel einmal „das Leben in zwei Welten“ genannt hat5), versuchen 4 Zum Begriff der „kooperativen Übersetzung“ siehe: Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt am Main 2005, S. 137. 5 „Die Kirche hat ihren Gegensatz am Staate, d. h. an dem daseienden Geiste; sie ist erhoben in
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sie diese Welten in Einklang zu bringen, ohne sie immer wieder miteinander zu konfrontieren. Die Weltanschauung, die typisch für diese Gruppe der Bürger ist, scheint am wenigsten explizit formuliert zu sein. Deshalb wäre es riskant, im Fall von dieser Gruppe von einem entwickelten Diskurs zu sprechen; vielmehr sind es Ansichten und Einstellungen, die auf eine systematische Formulierung immer noch warten. Für die Vertreter des konservativen Diskurses mögen die Postsäkularisten deshalb als zu liberal, für kämpfende Säkularisierer dagegen als verdeckte Konservative erscheinen. Im Großen und Ganzen wird diese Gruppe, wie mir scheint, von den Vertretern der beiden kämpfenden Diskurse als potentielle Beute betrachtet. Und manche Postsäkularisten, zur klaren Stellungnahme in immer härteren öffentlichen Auseinandersetzungen gezwungen, eignen sich dann den ihnen jeweils näher stehenden Diskurs an. Warum es dieser Gruppe an Vertretern fehlt, die durch starke Präsenz in der Öffentlichkeit die Ansichten dieser Gruppe explizit formulieren und von den anderen Positionen klar abgrenzen würden – diese Frage versuche ich im dritten Teil dieses Beitrags zu beantworten.
3.
Perspektiven der Debatte
Wenn man die Aussagen der Vertreter jener oben beschriebenen zwei kämpfenden Diskurse unter die Lupe nimmt, drängt sich das Gefühl auf, diese Vertreter bewegen sich in verschiedenen, aber zeitlich parallel existierenden Welten. Diese Parallelität der Welten lässt sich, wie früher schon angedeutet, weder den sozialen, noch den territorialen oder den altersbezogenen Kategorien ohne Wenn und Aber zuordnen. Obwohl hier gewisse Tendenzen festzustellen sind, scheinen die Grenzen durch alle sozialen Schichten durchzulaufen. Zwischen diesen Welten passieren nicht nur Zusammenstöße, sondern es entstehen auch – hie und da – taktische Allianzen. Eine solche Allianz wäre zwischen den Exponenten der entgegengesetzten Diskurse kaum vorstellbar ; immer wieder werden aber solche Allianzen mit den Postsäkularisten eingegangen. Das, wie überhaupt die Offenheit dieses Lagers, führt dazu, dass seine Grenzen sehr oft als verschwommen erscheinen. Und die Tatsache, dass die postsäkulare Welt in Polen wahrscheinlich immer weiter schwindet, zugunsten der beiden anderen Welten, lässt sich nur aus einem Zusammenspiel mehrerer Ursachen erklären. Man sollte zunächst bedenken, dass die Ausgangslage der Postsäkularisten eher günstig war. Bereits vor der politischen Wende haben die liberalen Kaden Gedanken, der Mensch lebt in zwei Welten […]“, G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwürfe III, hrsg. von Horstmann, Rolf Peter. Hamburg 1987, S. 259.
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tholiken offene Foren entwickelt – vor allem in der Presse und in den Verlagen, um solche einflussreiche Titel zu nennen wie Tygodnik Powszechny oder Wie˛z´ –, auf denen wichtige Debatten und Kontroversen auf hohem Niveau ausgetragen wurden. Diese Foren waren für ganze Generationen der „Solidarnos´c´“ echte Orientierungspunkte, sie lieferten Maßstäbe und Formen der Diskussionen um wichtige Themen – nicht nur im Bereich der Religion, sondern auch der Geschichte und Kultur. Misstrauisch durch das kommunistische Regime beobachtet und verfolgt, wurden sie ab und zu auch durch den konservativen Teil der Kirche kritisiert. Jerzy Turowicz ist nur einer von mehreren Namen – aber einer der wichtigsten -, der sich stark mit einem gehobenen Niveau solcher Debatten verbunden hat. Am Beginn der polnischen Transformation hat man sogar die These riskiert, dass das demokratische Polen dank dieser Kultur des religiösen Diskurses vielleicht die Etappe der Säkularisierung überspringen möge, um direkt in das Reich des postsäkularen Friedens einzutreten. Diese Prognose hat sich jedoch nicht verwirklicht. Nach der politischen Wende verschwanden die genannten Autoritäten von der Bühne und liberal-katholische Medien wurden durch dominierende Mainstream-Medien schrittweise verdrängt. Sie führen heute auch noch eine Existenz „am Rande“ und werden als Nischen betrachtet, in welchen sich die Ansichten und Gefühle der kleineren Gruppierungen äußern. Dies könnte man sogar als einen Prozess des Verschwindens eines Diskurses sehen – was nicht ausschließt, dass er in Zukunft wiedergeboren werden mag. So gesehen wäre das ein prägnantes Beispiel eines Phänomens, das präzise in den Schriften Michel Foucaults mehrmals beschrieben worden ist: Gemeint ist das Phänomen des Entstehens, der Entfaltung und Verschiebung, schließlich auch des Aussterbens eines Diskurses.6 Das allmähliche Verschwinden der großen Namen, die hinter einer damals noch nicht so genannten „postsäkularen“ Art des religiösen Diskurses standen, das Verdrängen der mit diesem Diskurs verbundenen Medien, ja des Diskurses selbst, all das hängt unmittelbar mit einem Prozess zusammen, der sich in einem anderen Bereich abgespielt hat und zwar in den Verwandlungen der medialen Landschaft. Wie in allen demokratischen Ländern wurde die Sphäre der Öffentlichkeit auch in Polen schrittweise durch elektronische Medien gleichsam „eingesaugt“. Anders aber als im Westen Europas, oder vielleicht stärker als dort, haben sich die öffentlichen Sender an dem Vorbild der privaten Anstalten orientiert. Polnische Politiker, die allesamt und konsequent die Medien als ihre Beute betrachten, haben diesen Prozess gar nicht verhindert, ja manchmal sogar unterstützt. Das hat dazu geführt, dass die Maßstäbe der medialen Öffentlichkeit heute von den privaten Medien gesetzt werden. Dieser Prozess hat der Dem6 Zum Begriff des Diskurses siehe ausführlich: Foucault, Michel: „Antwort auf eine Frage“, in: Defert, Daniel / Ewald, Francois (Hg.): Analytik der Macht. Frankfurt am Main 2005, S. 25 – 51.
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agogie und dem Populismus Tür und Tor geöffnet. Radikale Politiker und Journalisten, die ihre wahren und vermeintlichen Gegner beleidigen, als moralisch verwerflich oder psychisch krank bezeichnen, geben heute den Ton an. Die gemäßigten, ausgewogenen Positionen und Beiträge werden verdrängt oder verschwiegen. Durch das Forcieren der radikalen, undifferenzierten Aussagen des Typus Ja/Nein erhofft man sich bessere Zuschauer- und Leserquoten. Die letzte Folge dieses prekären Zustands der polnischen medialen Öffentlichkeit ist ein Phänomen, das immer häufiger durch Soziologen und Medienanalytiker als „Hasssprache“ bezeichnet wird. Man darf sich nicht wundern, dass unter diesen Umständen, unter denen jetzt auch die Diskussionen um die Religion und Kirche geführt werden, die Stimme der Postsäkularisten immer weniger vernehmbar wird. Selbstverständlich gibt es auch andere, etwa akademische Foren, auf denen diese Debatte mit der Einhaltung gewisser Regeln veranstaltet wird; die mediale Kontroverse dominiert jedoch unanfechtbar und scheint auch die anderen Foren der Debatte schrittweise umzuformen. Die Aussichten bleiben, zumindest auf den ersten Blick, eher düster. Ankündigungen der Verbesserung und Versachlichung des Niveaus der Debatten seitens der Welt der Politik und der Medien darf man selbstverständlich nicht ernst nehmen; beide Seiten profitieren doch von der Radikalisierung der Sprache und Polarisierung der Positionen. Realistisch gesehen muss man erwarten, dass das von mir so bezeichnete ,postsäkulare Lager‘ immer weiter schwinden wird. Seine Vertreter werden einen Schritt, wenn nicht mehrere Schritte, hinter die erreichten Standards zurück machen und sich auf eine der Seiten der Barrikaden stellen müssen. Erst auf den zurückgelassenen Ruinen dieses hart ausgetragenen Kampfes wird man wahrscheinlich die Position des Postsäkularismus aufs Neue definieren und bewusst verteidigen können. Die harte Auseinandersetzung zwischen dem kämpfenden Säkularismus und dem Konservatismus lässt sich angesichts der sozialen Wandlungen und der prekären Ausgestaltung der medialen Landschaft in Polen nicht mehr abwenden. Dabei fühlen sich die Postsäkularisten plötzlich auf ein Niveau der Debatte zurück verdrängt, von dem sie glaubten, dass es doch längst überholt sei. Meine Vermutung ist, dass soziale Lernprozesse, die erst zur erneuten Ausformulierung des postsäkularen Diskurses in Polen führen könnten, wahrscheinlich erst durch die harte Auseinandersetzung zwischen den radikal entgegengesetzten Diskursen angespornt werden. Dies wahrscheinlich vor allem deswegen, weil diese Diskurse klar entgegengesetzte Gründe und Argumente mobilisieren und so für die Klärung der Positionen und für die diskursive Delimitierung der Grenzen – etwa zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre – unersetzbar sind. Diese Umstände liefern auch einen Beweis dafür, dass in einem demokratischen Rechtsstaat keine öffentliche Diskussion unabhängig von den erreichten Standards der Debatte geführt werden kann. Für die polnische Demokratie, die
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ja ohnehin in den letzten zwanzig Jahren einen riesigen Schritt nach vorne gemacht hat, bedeutet das, dass sie noch viel Zeit braucht, um Formen und Verfahren des öffentlichen Diskurses herauszuarbeiten, welche für alle Seiten verschiedener Auseinandersetzungen akzeptabel wären. Die Etablierung der Standards der demokratischen, öffentlichen Debatte nimmt viel mehr Zeit in Anspruch als die Fixierung der rechtsstaatlichen Verfahren. Erst durch die Etablierung solcher Standards darf man auf die Entstehung der Foren hoffen, auf welchen auch die religiöse Thematik ohne Missachtung der jeweiligen Gegner zum Gegenstand einer ernsthaften Debatte werden kann.
Literaturverzeichnis Foucault, Michel: „Antwort auf eine Frage“, in: Defert, Daniel / Ewald, Francois (Hg.): Analytik der Macht. Frankfurt am Main 2005. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt am Main 2005. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Systementwürfe III. Horstmann, Rolf Peter (Hg.). Hamburg 1987. Jasienica, Pawel (ed.): The Commonwealth of Both Nations. Translation by Jordan, Alexander. Miami 1987.
Kristina Stoeckl
Religious approaches to human rights: The Russian Orthodox Church’s basic teaching on human dignity, liberty and rights
Introduction When the Norwegian Nobel Committee decided that the Nobel Peace Prize for 2012 was to be awarded to the European Union, it did so for the reason that the EU had “for over six decades contributed to the advancement of peace and reconciliation, democracy and human rights in Europe”1. Human Rights are a key-ingredient to the European project. When we ask about the contribution of religious communities to the European idea, it is therefore of considerable interest and importance how these religions relate to the idea of human rights. In this article, I will explore one case of a religious approach to human rights: the Russian Orthodox Church’s teaching on human rights. The Russian Orthodox Church, for historical and ideological reasons, defines itself as both outside and inside the European project. Outside inasmuch as the Orthodox Christian tradition does not share important intellectual developments that shaped the European idea; and inside inasmuch as many Russian Orthodox believers today live in the territory of the European Union. It is therefore not surprising that the human rights debate inside the Russian Orthodox Chuch is multi-directional and ambiguous. Modern human rights are about the “sacredness of the person”. I take this term from Hans Joas, who has argued that the belief in human rights and universal human dignity is the result of a specific process of “sacralization”, neither purely religious nor exclusively secular in origin, in which every single human being becomes viewed as inviolable and intrinsically valuable. The human rights idea is the institutionalization of this sentiment in law through various international treaties, and as such it is a genuinely new phenomenon; other religious
1 Statement by the Nobel Committee (2012): http://nobelpeaceprize.org/en_GB/laureates/laureates-2012/announce-2012/ (accessed 31. 03. 2014).
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and intellectual traditions cannot but confront themselves with it.2 The original methodological implication of this perspective lies in the fact that the human rights idea is not reduced to being the product of something (the Enlightenment, secularized Christianity), but is looked at as an independent phenomenon with a precise origin in history, whose meaning and significance for the present must be constantly reaffirmed through historical and normative reflection. Joas calls this type of reflection “affirmative genealogy”. In this article, I propose to interpret the Russian Orthodox Church’s discussion of human rights as one example of such a historical and normative reflection, even if we find that it is not, or mostly not, of an affirmative, but of a negative kind. From the Church’s perspective, human rights are a rival meaninggiver to social life and human relations, and for this reason the Church’s attitude to human rights is largely negative; but human rights are also something to which Christian teaching can attach a positive meaning through “affirmative” reflection. The duality of negative and affirmative arguments is characteristic of the Moscow Patriarchate’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights (Osnovy ucheniya Russkoj Pravoslavnoj Tserkvi o dostoinstve, svobode i pravakh cheloveka), a document published by the Bishop’s Council of the Russian Orthodox Church in 2008. In this article, I look at the document as a text which confronts and comments upon the main international human rights treaties, the Universal Declaration of Human Rights (1948), the European Convention on Human Rights (1950) and the Charter of Fundamental Rights of the European Union (2000). My methodology is not comparative in a strict sense, because these documents are very different in genre and intention. The three international human rights documents generate and proclaim their own understanding of the “sacredness” of the person. The Church-document comments on this understanding and explains, by way of confrontation, its own vision of the sacredness of the person. What I want to highlight is the selective reception of Western human rights ideas by the Russian Orthodox Church, as well as tensions and ambiguities in the document itself and in statements surrounding its publication.3
2 Joas, Hans: The Sacredness of the Person. A New Genealogy of Human Rights. Washington D.C. 2013, p. 5. 3 With the exception of the introduction and the conclusion this article is taken from chapter 3 of my book “The Russian Orthodox Church and Human Rights”, published by Routledge (2014) and it is reproduced here with the kind permission of the publisher. All rights reserved.
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1.
The Human Rights Doctrine of the Russian Orthodox Church and international human rights documents
1.1.
Religious understanding of dignity and morality
Leading clerics of the Moscow Patriarchate have stressed time and again that the aim of the Russian Orthodox engagement with the human rights topic was the clarification and definition of the term human dignity. Human dignity is defined by the Church in a distinctly Eastern Christian sense and is opposed to what the Church considers a “simplistic” notion of dignity in all international human rights treaties. Let us first look at the definition of dignity in the secular human rights documents. The preamble of the Universal Declaration of Human Rights speaks of the “inherent dignity of all members of the human family,” and article 1 declares “All human beings are born free and equal in dignity and rights.” The European Convention on Human Rights does not contain the term dignity in its main text at all, but “the inherent dignity of all human beings” is mentioned in the preamble to Protocol No. 13 concerning the abolition of death-penalty in all circumstances. The Charter of Fundamental Rights of the European Union, in contrast, entitles the entire first chapter “Dignity” and declares in article 1 that “Human dignity is inviolable. It must be respected and protected”. The rest of chapter I of the Charter lists the elements which make up the inviolability of human dignity : the right to life (article 2), the right to the integrity of the person (article 3), the prohibition of torture and inhuman or degrading treatment or punishment (article 4), and the prohibition of slavery and forced labor (article 5). Thus, the common denominator for “human dignity” in the secular human rights documents is firstly that dignity is an essential and natural human quality, and secondly that dignity is related to inviolability, to the fact that no human being may become an object of arbitrary interference. The Russian Orthodox Church’s Human Rights Doctrine entitles the entire first chapter “Human dignity as a religious and ethical category.” The authors of the document acknowledge in the first sentence that “human rights theory is based on human dignity as its fundamental notion” (I.1). Any reaction to secular human rights must therefore be first and foremost a reaction to the secular notion of human dignity. From the Orthodox Christian perspective, human dignity is related to the creation of the human being “in God’s image and likeness”. God’s image in man is described by the document as the source of human dignity. It remains “indelible […] even after the fall,” i. e. even man’s susceptibility to sinfulness cannot erase the God-given dignity. The divine-human likeness, on the other
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hand, becomes for the Church the source for a precise understanding of how human beings should strive to overcome sin and “restore human life in the fullness of its original perfection” (I.1):4 “dignified life is … achieved through God’s grace by efforts to overcome sin and to seek moral purity and virtue. […] what is dignified and what is not are bound up with the moral or amoral actions of a person and with the inner state of his soul. Considering the state of human nature darkened by sin, it is important that things dignified and undignified should be clearly distinguished in the life of a person” (I.2). The restoration of human life to the fullness of divine likeness is called in the Orthodox theological tradition theosis (deification). The difference between the secular and the religious understanding of human dignity is straightforward: secular documents postulate human dignity as a natural quality of human beings, while the religious document links human dignity to the act of divine creation. In both cases human dignity is an inalienable quality of the human being, but in the first this inalienability lies with human nature, while in the second it lies with the divine will. Alfons Brüning has observed that the secular and the religious notions of dignity coincide on a point of fundamental importance: from both perspectives the notion of dignity serves to place the singular human being outside of the reach of arbitrary human interference and manipulation.5 From a secular viewpoint, this thought is captured in Kant’s imperative “not to use human beings as means”; from the religious viewpoint, it is related to the apophatic (not knowable) nature of the divine plan. No person may judge over another person’s God-given dignity : “A morally undignified life does not ruin the God-given dignity ontologically but darkens it so much as to make it hardly discernible. This is why it takes so much effort of will to discern and even admit the natural dignity of a villain or a tyrant” (I.4). From the secular and the religious perspectives, therefore, the consequences of the respect for human dignity are the same. However, chapter I of the Human Rights Doctrine says something more than this. The ground for controversies sparked by this chapter was not the ultimately apophatic theological bottom-line of the religious take on human dignity, but the Church’s explanation of what effectively constitutes a “good life” according to “God’s design for human beings and their calling” (I.3). In the document we read “[…] moral norms inherent in humanity just as moral norms set forth in the divine revelation reveal God’s design for human beings and their calling. These 4 Quotations from the Human Rights Doctrine are taken from the official English-language version, published on the website of the External Relations Department of the Moscow Patriarchate. The quotations are identified by the numbers in brackets, the first number refers to the chapter and the second number to the sub-section of the Doctrine. 5 Brüning, Alfons: „Menschenwürde contra Theosis? Die Menschenwürde in der Perspektive der ostkirchlichen Theologie.“ 2013. Unpublished manuscript.
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norms are guidelines for a good life worthy of God-created humanity” (I.3). Knowledge about these moral norms derives from revelation (the scriptures and the model of Jesus Christ) and from conscience. Human nature is a problematic source for morality because of its potential for sin (“life according to the law of the flesh” (I.4)). For this reason the document puts a special emphasis on repentance and says: “The patristic and ascetic thought and the whole liturgical tradition of the Church refer more to human indignity caused by sin than to human dignity” (I.5). Chapter I concludes: “According to the Orthodox tradition, a human being preserves his God-given dignity and grows in it only if he lives in accordance with moral norms because these norms express the primordial and therefore authentic human nature not darkened by sin.” The Russian Orthodox Church establishes a direct link between human dignity and morality, to the point that critics have read the chapter as saying that the Church is making the moral behavior of the individual a condition for recognizing his or her human dignity. This is a slightly unfair interpretation of the Doctrine. It was true of the Human Rights Declaration of the World Russian People’s Council, which drew a net distinction between human worth and human dignity,6 but the Human Rights Doctrine has corrected this view and expresses, in principle, a commitment to human dignity as such. However, this commitment remains ambiguous, and it is this ambiguity I will try to explain in the next two paragraphs: My hunch is that one reason for the irritation the Church’s balancing out of “dignified life” and “morality” continues to evoke among observers is partially due to the particular use (and translation) of the word “morality.”7 The Russian version of the Human Rights Doctrine uses the word moral’ only 3 times, the term that is used is nravstvennost’ or nravstvennyj (used over 40 times). In the English translation, both meanings are rendered with the term “morality” or “moral”, with the exception of the title of the first chapter : there nravstvennyj is translated as “ethical”. What are we to make of this difference, and why is it relevant? The anthropologist Agata Ładykowska has demonstrated that for ordinary Russians and Orthodox believers, the words moral’ and nravstvennost’ do not mean the same thing. Moral’ is defined as a “socially formed set of norms and principles, the system regulating people’s consciousness and conduct given in a concrete society”, whereas nravstvennost’ “primarily reflects the deep dis-
6 Stoeckl, Kristina: “The Human Rights Debate in the External Relations of the Russian Orthodox Church”, Religion, State and Society 40/2 (2012), pp. 212 – 232. 7 I am grateful to Alfons Brüning who first made me realize this point and to Vadim Zhdanov who encouraged me to follow it up.
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positions (ustanovki) in the consciousness of an individual”8. Ładykowska has found that on the level of nravstvennost’, that is, on the level of inner ethical judgment and commitment, post-Soviet Orthodox believers manage to maintain high degrees of continuity between their Soviet and post-Soviet “moral self”, despite changing frameworks of moral’. I interpret the prevalence of the term nravstvennyj in the Human Rights Doctrine as indicative of the intention of the authors of the document to define “moral behavior” in a comprehensive, individual and social sense, and not merely in terms of obeying rules. That we have a real tension here is highlighted by the fact that the distinction between morality and ethos is a topic addressed by several Orthodox theologians throughout the 20th century, in particular Christos Yannaras and Anastasios Yannoulatos. Yannaras has written an entire book9 about the difference between ethics and morality. There he distinguishes between free ethical choice and moral dictate, and he accuses the Churches of his time of having become moral dictators instead of places for the growth of a free ethos. Yannoulatos also defines the moral meaning of the Church’s human rights discourse in terms of the inner make-up and ethical orientation of religious life, rather than in terms of public morality. He calls the Churches to their vocation as “centres of moral and spiritual inspiration, nurseries of integrated and sanctified personalities, workshops of selfless love”10. The Human Rights Doctrine has been criticized precisely on the grounds of this theology by liberal Orthodox commentators, who have detected in the Doctrine a lack of emphasis on free ethical choice. Marina Shishova has pointed out that there is a tension in the Doctrine: does the Church engage human rights out of commitment to human dignity as seen from the perspective of eternal life, or out of an interest in the community defined in terms of the Russian state?11 The document, not least because of the semantics of nravstvennost’, remains ambiguous, but in the final analysis, it seems to me, the balance tips from dignity as a religious and ethical category to dignity defined in terms of compliance with a narrow “public morality”. I think it is not by chance that the Church’s discourse has changed over the last few years since the publication of the Doctrine, shifting from an emphasis on “morality” to “traditional values”. Tradition is invoked by the Church today as a provider of rules for social 8 Ładykowska, Agata: “Post-Soviet Orthodoxy in the Making. Strategies for Continuity Thinking among Russian Middle-aged School Teachers”, in: Zigon, Jarret (ed.): Multiple Moralities and Religions in Post-Soviet Russia. Oxford 2011, p. 40. 9 Yannaras, Christos: The Freedom of Morality. Crestwood / New York 1984. 10 Yannoulatos, Anastasios: “Eastern Orthodoxy and Human Rights”, in: International Review of Mission 73/289 (1984), p. 466. 11 Shishova, Marina: “Spiritual and political dimensions in the conception of the Russian Orthodox Church concerning dignity, freedom and human rights”, in: Van der Tweerde, Evert / Brüning, Alfons (Eds.): Orthodox Christianity and Human Rights. Leuven 2012, pp. 351 – 364.
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and moral behavior and as source for limitations of individual human rights. When “traditional values” are invoked as the source of public morality, the inner-outer duality of ethical judgment contained in the word morality/nravstvennost’ is lost. This observation is backed up by evidence from the narrow policy-line on public morality pursued by the Church in the Russian domestic context, where it has pushed for restrictive legislation with regard to LGTBrights or freedom of expression.
1.2.
Negative and positive freedom
Secular documents put freedom first (Human Rights Convention) or emphasize freedom and dignity as two equal qualities of human nature (Universal Declaration, European Charter); from the Church’s point of view, freedom and dignity are related. From a Christian perspective, freedom is a function of human dignity and can be used either for or against it. The Human Rights Doctrine distinguishes two concepts of freedom: freedom of choice and freedom from sin. Freedom of choice is defined with the Greek term arteno¼sior (autexusios, able to act in one’s own right), and freedom from sin is defined with the term 1ke¼heqor (eleutheros, free, freeborn, unrestrained). The Church’s distinction between the two freedoms cannot be understood without recognizing the emphasis Christian teaching puts on evil. Evil and freedom are incompatible from the Church’s point of view: “The abuse of freedom and the choice of a false, immoral, way of life will ultimately destroy the very freedom of choice as it leads the will to slavery by sin” (II.2). The main criticism the Church brings forth against the secular human rights regime is that it “forgets” about the human potential for evil. The same criticism was voiced by Yannoulatos, quoted in the introduction, who accused human rights declarations of “simplistic overoptimism”, of forgetting about the sinfulness of human nature.12 In the Human Rights Doctrine, the Russian Orthodox Church expresses the following judgment on the secular human rights system: “The weakness of the human rights institution lies in the fact that while defending the freedom (arteno¼sior) of choice, it tends to increasingly ignore the moral dimension of life and the freedom from sin (1ke¼heqor). The social system should be guided by both freedoms, harmonizing their exercise in the public sphere. One of these freedoms cannot be defended while the other is neglected. Free adherence to goodness and the truth is impossible without the freedom of choice, just as a free choice loses its value and meaning if it is made in favour of evil.” (II.2) 12 Yannoulatos, Anastasios: “Orthodoxy and Human Rights”, in: Facing the World. Orthodox Christian Essays on Global Concerns. Geneva 2003, p. 53.
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Now, the tension between two dimensions of freedom is not foreign even to the secular understanding of liberty. Benjamin Constant coined the terms “liberty of the moderns” and “liberty of the ancients,” and Isaiah Berlin has made the famous distinction between “negative” and “positive” liberty,13 which has been developed further by communitarian and republican critics of liberalism14. Therefore, the criticism expressed in the Human Rights Doctrine alludes to a tension that is part and parcel of Western philosophies of liberty. It is also part and parcel of the human rights regime. Article 29 of the Universal Declaration reads: “(1) Everyone has duties to the community in which alone the free and full development of his personality is possible.” This declaration, that “free and full development of personality” is possible only in a “community”, represents a strong commitment to positive liberty inside the Universal Declaration. Similar declarations are also made in the other human rights treaties. Article 10 of the Human Rights Convention (Freedom of Expression) reads “(2) The exercise of these freedoms, since it carries with it duties and responsibilities, may be subject to […] restrictions […]”. The preamble of the European Charter of Fundamental Rights contains the sentence: “Enjoyment of these rights entails responsibilities and duties with regard to other persons, to the human community and to future generations.” The Russian Orthodox Church’s emphasis on duties and responsibilities as a necessary counterweight to freedoms is therefore not entirely far-fetched in the human rights discourse.
1.3.
Hierarchisation of human rights
Chapter III of the Human Rights Doctrine is entitled “Human Rights in Christian worldview and in the life of society”. The chapter starts off by saying that human rights are the fruit of a historical process and that today’s understanding of human rights cannot be made absolute. Human rights should be “harmonized” with Christian values (III.1). In reality, the Church’s confrontation with human rights does not really take the form of “harmonization” (even though this is the term used in the text), but actually involves elements of a “hierarchisation” of secular liberal values and Christian values, with results that are not easily rec13 Berlin, Isaiah: “Two Concepts of Liberty”, in: Four Essays on Liberty. Oxford 1969, pp. 118 – 172. 14 E.g.: Taylor, Charles: “What’s wrong with negative liberty?”, in: Ryan, Alan (ed.): The Idea of Freedom. Essays in Honor of Isaiah Berlin. Oxford 1979, pp. 175 – 194; Skinner, Quentin: “A third concept of liberty”, in: London Review of Books 24/7 (2002), pp. 16 – 18; Morris, Kenneth E: “Western Defensivness and the Defense of Rights. A Communitarian Alternative”, in: Bell, Lynda S. / Nathan, Andrew J. / Peleg, Ilan (eds.): Negotiating Culture and Human Rights. New York 2001, pp. 68 – 95.
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oncilable with liberal democracy. This section contains some of the most controversial statements of the entire Human Rights Doctrine, and it also conveys strong tensions and ambiguities in the Church’s assessment of human rights. The authors of the document make it clear that from the Church’s point of view human rights are not a superior system of moral values in modern society, but a rival meaning-giver. “For many people in various parts of the world it is not so much secularized standards of human rights as the creed and traditions that have the ultimate authority in their social life and inter-personal relations” (III.2). This statement, which goes against the grain of the secular and universal human rights philosophy, resonates with an observation by Yannoulatos quoted in the introduction: many people living in a climate of religious and ascetic traditions would share the Eastern Christian emphasis on inner freedom. The disagreement clearly lies in two different visions of the scope of human rights: whereas from a secular point of view, human rights first and foremost assure the protection of the individual (from arbitrary interference, violent death, torture, etc.) and are therefore considered expressions of a universal human desire for safety and dignity, the Church looks at human rights as enabling rights, enabling (potentially sinful) individuals to act according to their own will and desire. Whereas secular human rights focus on negative freedom “from”, the Church focuses on the positive freedom “to”, and gets upset about the fact that the modern human rights regime does not really set any limits to the exercise of individual freedom. We cannot understand the Russian Orthodox Church’s Human Rights Doctrine if we only compare it with secular human rights documents – we need to situate the Doctrine in actual human rights debates. This point becomes clear in section III.3, where we read: “Human rights cannot be a reason for coercing Christians into violation of God’s commandments.” Why on earth would human rights do that, an unfamiliar outside observer might ask himself ? Aren’t human rights meant to protect human beings? What the Church has in mind is the emergence of legislative norms, in particular in the area of family- and healthcare-legislation, that touch upon issues which the Church considers ethically sensitive: abortion, gay-marriage, assisted suicide, and similar. A Christian doctor, nurse, or marriage-registrar may, in the exercise of his or her professional duties, be asked to undertake perfectly legal actions which are not reconcilable with his or her personal religious convictions. That this is not a farfetched problem is illustrated by cases in front of the European Court of Human Rights in Strasbourg.15 It should be remembered that this very same problem was 15 The case of Eweida and Others vs. the United Kingdom involved different claims regarding religious convictions at the workplace. The case which is most exemplary here is that of Ladele, a state-registrar for marriages in the UK. On grounds of her Christian beliefs, she
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already raised by the Social Doctrine in 2000. The Human Rights Doctrine evaluates the soteriological significance of human rights differently from the Social Doctrine. There, the Church actually called for “civil disobedience” should the state implement laws that go against the convictions of the Church.16 In the Human Rights Doctrine this claim is not repeated, instead we get a much reduced claim for “harmonization”: “The development and implementation of the human rights concept should be harmonized with the norms of morality, the ethical principles laid down by God in human nature and discernible in the voice of conscience” (III.3). The next section of chapter III of the Doctrine, dedicated to “love for one’s homeland and neighbours” (III.4) shows marked traces of continuity between the Human Rights Declaration of the World Russian People’s Council and the Doctrine. This section is clearly rooted in the nationalist discourse inside the Church inasmuch as it, firstly, condemns “imperialism” and, secondly, praises patriotism. The first point (“Some civilizations ought not to impose their own way of life on other civilizations under the pretext of human rights protection”) is a reference to what the World Russian People’s Council called “attempts to use [human rights] for […] imposition of a particular socio-political system”. The second point, patriotism, is a reference to the nationalist anti-liberal and anticommunist discourse prevalent inside the Church: “The acknowledgment of individual rights should be balanced with […] responsibility. The extremes of individualism and collectivism cannot promote a harmonious order in a society’s life” (III.4). What is noteworthy about this section – and what produces a clear contrast to the secular human rights documents – is that the statement on “homeland” lacks any reference to the desired political system. The secular human rights treaties do also, as I have pointed out above, include a reference to the community as the frame in which human rights are enacted and acquire meaning, but in addition they state clearly that the political system envisioned in the treaties for making human rights operative is democracy (article 29 of the refused to conduct civil partnerships between homosexual couples (legal in the UK since 2005) and faced disciplinary proceedings, culminating in the loss of her job. Ms. Ladele brought the case in front of the ECHR and claimed a violation of Article 14 (Prohibition of Discrimination) in conjunction with Article 9 (Freedom of Thought, Conscience and Religion). The Court dismissed the claim (see: ECHR: Case of Eweida and Others vs. the United Kingdom. European Court of Human Rights. Strasbourg 2013). The Russian Orthodox Churches followed this case attentively, as several reports on the website of the representation in Strasbourg document (See:REOR: “ECPCh: za khristianku, no protiv khristian”; REOR: “Postanovelenie Evropejskogo suda po pravam cheloveka ot 15. 01. 2013 po delu ‘Evejda i drugie protiv Soedinennogo Korolevstva’ (Izvlecheniya)”; REOR: “Russkaya Pravoslavnaya Tserkov’ prizvala ECPCh peresmotret’ dela o disriminatsii khristian”). 16 Stoeckl, Kristina: “Political Hesychasm? Vladimir Petrunin’s Neo-Byzantine Interpretation of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Church”, in: Studies in East European Thought 62/1 (2010), pp. 125 – 133.
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Universal Declaration: “in a democratic society”; Human Rights Convention: “necessary in a democratic society”; preamble of the European Charter : “based on the principles of democracy”). In the Human Rights Doctrine, on the contrary, the word democracy is not mentioned a single time. This is in keeping with the official line of the Russian Orthodox Church, laid out in the Social Doctrine, not to express a preference for one political system over the other. However, it raises some serious issues with regard to human rights in the international system, not only in Russia. How are we to envision the implementation of human rights in non-democratic societies? The Russian Orthodox vision of human rights and society gives an indication of the problems that arise when the democratic horizon is omitted from the reasoning on human rights. The Church’s political vision (or the political vision of the nationalist camp inside the Church, which evidently stands behind section III.4) is revealed by the word “love”. The political theology of the Church sees the state as an extended family, to which the individual is bound through love. “The love of a person for his family and other loved ones cannot but spread to his people and the country in which he lives.” Such an understanding of political community has no place for the idea that a democratic polity is actually held together by procedures for the peaceful settlement of conflicts. It has no place for conflict at all, except for the existential conflict between good and evil. The Church’s position is reminiscent of Yannaras’ argument, quoted in the introduction, that the Orthodox community does not need individual human rights, because it is about a “common exercise of truth”. Section III.4, therefore, reveals tensions and ambiguities in the Church’s vision of human rights that are rooted in the radicalized anti-human rights debate prior to 2008. The simple fact that the document can in some parts be interpreted in the key of Yannoulatos, and in others in the key of Yannaras, two Greek theologians who represent the opposite extremes of the Orthodox confrontation with human rights (accommodation vs. rejection),17 is indicative of the tensions that persisted inside the Church and in particular inside the group of drafters of the document. The very fact that the Human Rights Doctrine was written at all, then, can be seen as “middle way” of constructive confrontation among the opposing ideological camps inside the Church. Section III concludes with a reference to ecology : “The realization of human rights should not lead to the degradation of the environment and the depletion of natural resources” (III.5). My guess is that the drafters included this reference to 17 Makrides, Vasilios: „Die Menschenrechte aus orthodox-christlicher Sicht – Evaluierung, Positionen und Reaktionen“, in: Delgado, Mariano / Leppin, Volker / Neuhold, David (eds.): Schwierige Toleranz. Der Umgang mit Andersdenkenden und Andersgläubigen in der Christentumsgeschicht. Fribourg / Stuttgart 2012, pp. 293 – 320.
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the environment here in order to render the document open for another ecologydebate inside the Orthodox Church, the agenda of the Patriarch of Constantinople.
1.4.
Freedoms and Rights
Chapter IV of the Human Rights Doctrine interprets the main human rights principles in the light of Orthodox Christian teaching: right to life, freedom of conscience, freedom of expression, freedom of creative work, right to education, and socio-economic rights. The chapter includes not an exhaustive list of international human rights principles (at the end I will point out which principles are missing), but it contains those rights and freedoms which the Church considers important “in the perspective of their possible role in creating favorable external conditions for the improvement of personality on its way to salvation” (IV.1). The Church looks at the right to life from the perspective of life as a gift of God to human beings (IV.2). Human beings do not have the right to take life nor to give up their own life. On these grounds the Church condemns murder, suicide, euthanasia and abortion. The giving of one’s earthly life for Christ (martyrs) and for other people (soldiers defending their homeland) is praised as an exception. The authors of the document explain that life is not restricted to temporal life but acquires meaning in the perspective of eternal life, and “priority should be given not to the efforts to preserve temporal life by all means but to the desire to order it in such a way as to enable people to work together with God for preparing their souls for eternity.” The Human Rights Doctrine does not reject the death-penalty. Instead, the Church reserves for itself the right and duty of intercession and plea for mercy. This standpoint on death-penalty creates a stark contrast to international human rights law, where the death-penalty is rejected categorically – article 5 of the Universal Declaration; protocol 13 of the Human Rights Convention; article 2.2. of the Charter of the European Union – but it is congruent with the legal situation in the Russian Federation, where the death-penalty is still legally codified, but has not been used due to a moratorium since 1996. Most commentators of the Human Rights Doctrine have criticized the Church’s standpoint on this question.18 Freedom of conscience, thought and creed are basic rights which all secular 18 E.g. Agadjanian, Alexander : “Russian Orthodox Vision of Human Rights”, in: Makrides, Vasilios (ed.): Erfurter Vorträge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums. Erfurt 2008, p. 101.
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human rights documents acknowledge unequivocally : article 18 of the Universal Declaration, article 9 of the Human Rights Convention, and article 10 of the Charter of the European Union. The Russian Orthodox Church also accepts, in principle, freedom of conscience, seeing it as in harmony with God’s will (IV.3). The right to freedom of creed is acknowledged as providing guarantees and protection for the Church itself: “In a secular state, the freedom of conscience, proclaimed and confirmed by law, enables the Church to preserve her identity and independence from people of other convictions and gives her legal ground both for the immunity of her internal life and public witness to the Truth.” At the same time, however, freedom of conscience is a problem for the Church, because it is an indicator that goals and values in secular society are no longer under the religious monopoly of the Church. The juridical principle of freedom of conscience “points to the fact that society has lost religious goals and values” (IV.3). The Church’s attitude vis--vis this right is therefore ambivalent: it welcomes the legally guaranteed freedom of conscience, but resents the pluralism of worldviews that is normal in modern societies. The authors of the document categorically reject the view that all creeds should be considered “equal”: “Some ideological interpretations of religious freedom insist on the need to recognize all the faiths as relative or ‘equally true’. This is inacceptable for the Church […].” The document also rejects the idea of state religious neutrality. I will quote this long paragraph in full, because it can be read as a justification ex-post for the 1997 Russian law on freedom of conscience and religious association: “A society has the right to determine freely the content and amount of cooperation the state should maintain with various religious communities depending on their strength, traditional presence in a particular country or region, contribution to the history and culture of the country and on their civil attitude. At the same time, there must be equality of citizens before the law regardless of their attitude to religion. The principle of freedom of conscience does not present an obstacle for partnership relations between the Church and the state in social, educational or any other socially significant activities” (IV.3).
The polemic against “some ideological interpretations of religious freedom” has to be read against the backdrop of the ongoing controversies over the Russian law on freedom of conscience, in particular with the United States Commission on Religious Freedom, which has criticized this law in every single annual report (USCIRF 2012). Representatives of the Russian Orthodox Church have, with equal regularity, rejected the criticism as unfounded.19 19 Ryabykh, Igumen Filip: “Russian Church is ready to help US compile more objective reports on international religious freedom”. Interfaks Religiya 25. 11. 2010. URL: http://www.interfax-religion.com/?act=interview& div=89 (22. 04. 2013).
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The rejection of state religious neutrality (but not the rejection of individual religious freedom) points to an area of international human rights legislation which is itself in flux.20 The international human rights treaties do not make any provisions as to how a state should deal with religious pluralism. The limitationclauses in the Human Rights Convention, article 29 in the Universal Declaration, and exemplary case-law in front of the European Court of Human Rights all suggest that states enjoy a wide margin of appreciation in their governance of religion.21 As a matter of fact, in Europe selective cooperation-systems between the state and religious organizations are the norm, in contrast to the United States, where non-establishment is the rule.22 The expression “ideological interpretations of religious freedom” in the Doctrine can probably be read as a critical reference to the American model of non-establishment and state religious neutrality vis--vis all recognized cults (denominationalism). The fact that state-cooperation is mentioned explicitly in the Human Rights Doctrine must also be read in the light of recent case-law at the European Court of Human Rights regarding church-state relations. The Russian Orthodox Church rejects the idea that international human rights legislation could interfere with the Russian system of state-religious relations. The Human Rights Doctrine mentions as two separate areas of human rights freedom of expression (IV.4) and freedom of creative work (IV.5). The Doctrine is more explicit on these freedoms than the Universal Declaration and the Human Rights Convention, which treat freedom of expression and freedom of creative work as two sides of one and the same right (article 19 of the Universal Declaration, article 10 of the Human Rights Convention). Only the European Charter contains the two freedoms in an explicit manner : article 11 (freedom of expression and information) and article 13 (freedom of the arts and sciences). The Universal Declaration and the Human Rights Convention differ from the European Charter also in terms of the possible limitations they pose on the exercise of these rights. The Universal Declaration limits the effect of article 19 through the general limitation expressed in article 29, the Human Rights Convention 20 Ferrari, Silvio: “La Corte di Straburgo e l’articolo 9 della Costituzione Europea. Un’analisi quantitativa della giurisprudenza”, in: Mazzola, Roberto (ed.): Diritto e religione in Europa. Rapporto sulla giurisprudenza della Corte Europea dei Diritti dell’Uomo in materia di libert religiosa. Bologna 2012, pp. 27 – 54. 21 It is noteworthy that a similar clause is missing in the Charter of the European Union. The European Union recognizes the right for member states to define their own church-state relations in article 17 of the Lisbon-treaty. This article, however, has recently come under pressure from the perspective of European non-discrimination legislation (cf. Ventura, Marco: La laicit dell’Unione Europea. Diritti, mercato, religione. Torino 2001). 22 Madeley, John T. S: “European Liberal Democracy and the Principle of State Religious Neutrality”, in: Madeley, John / Enyedi, Zsolt (eds.): Church and State in Contemporary Europe. London 2003, pp. 1 – 22.
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through the limitation-clause in article 10 (2), which reads: “The exercise of these freedoms, since it carries with it duties and responsibilities, may be subject to […] restrictions […] for the protection of […] morals […] or rights of others […].” The European Charter, by contrast, does not contain any limitationclause. Freedom of expression and freedom of creative work are interpreted by the Human Rights Doctrine as manifestations of the freedom of choice granted to human beings by the divine Creator, but like the divine gift of human dignity, freedom of speech and of human creativity are subject to responsibility and limitations of moral conduct: “Public statements”, we read in section IV.4., “should not further the propagation of sin or generate strife and disorder in society. The word should create and support the good”; and IV.5 affirms that creative work should “[…] reveal the potential of the personality [and] not justify any nihilistic attitude to culture, religion and morality.” The underlying theme of the Church’s treatment of these two freedoms is the fight against denigration of religious values, objects and symbols. The Human Rights Doctrine is full of sentences that reject the idea that human rights could extend to the “freedom to offend”: “No reference whatsoever to the freedom of expression and creative work can justify the public defilement of objects, symbols or notions cherished by believers” (III.2). “The freedom of conscience cannot be used […] to insult religious feelings, to encroach on things he holds sacred, to damage his spiritual and cultural identity […].” (IV.3). “It is especially dangerous to insult religious and national feelings, to distort information about the life of particular religious communities, nations, social groups and personalities.” (IV.4) “The right to self-expression for an individual or a group should not be implemented in forms insulting for the beliefs and ways of life of other members of society […].” (IV.5). “Sacrilege towards holy things cannot be justified by references to the rights of an artist, writer or journalist” (IV.5).
It is noteworthy that in these passages the logic of human rights as protective rights is turned around, and human rights are presented as a potentially antireligious and aggressive ideology. This reading of human rights does not correspond at all to the intention of the secular human rights treaties, which, as I have shown, even include a reflection on the necessity to reconcile individual rights and freedoms with the communal responsibilities and duties in a democratic society. The logic at play in the Russian Orthodox interpretation of the freedom of expression and freedom of art is an expression of the post-Soviet culture of extremes, where confrontations between artistic provocations of religion and the ultra-orthodox and nationalist condemnation of everything
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secular and foreign are frequent. The backdrop to these sentences are the events surrounding the art-exhibitions in the Sakharov-Center and the case “Pussy Riot”. The Church feels threatened by ideas which it interprets as reminiscent of Soviet “militant atheism,” seeing itself in the role of the victim, whereas artists claim that they need to be provocative in order to expose political suppression and ideological clericalization in Russia. Education is also a human right (article 26 of the Universal Declaration, article 14 of the European Charter). The Human Rights Convention (article 2 of the additional protocol) and the European Charter (article 14.3) also mention the explicit right of parents to educate their children according to their own religious convictions and worldviews. The Russian Orthodox Church also makes the right to education a separate point in the Doctrine. Section IV.6 on the right to education is based on two assumptions: the first is that religious education should further the goal of incorporating a person in the life of society (“Education is a means of not only learning or incorporating a person in the life of society, but also forming his personality in accordance with the design of the Creator.”); and the second is that education in religion and education about national culture are somehow the same thing (“the comprehensive education and formation of a person should include the teaching of knowledge about the religion that has created the culture in which this person lives”). The first assumption is problematic because it aligns religious education with the goal of forming proper citizens. The history of Christianity shows, however, that the role of believers has frequently been that of critics of a given order, and that many believers have not sought “incorporation” in the life of society, but have actually exited from society, becoming hermits or monks. The Russian Orthodox tradition knows the figure of the “holy fool”, the most radical strategy to exit from society. Religion, therefore, has as much a subversive as a supportive function in society, and the first dimension is ignored completely in the Church’s statement on religious education. The second assumption on the identity of religion and culture is equally problematic, and has to be interpreted against the backdrop of debates about religious education in Russian schools. At the time of the drafting of the Human Rights Doctrine, the Russian Orthodox Church was lobbying intensively for the introduction of the subject “Fundamentals of Orthodox Culture” in the schoolcurriculum. Section IV.6 on the right to education with its definition of religion in terms of culture had a clear policy implication. The Church’s efforts in this area ultimately proved successful when, in 2010, two years after this debate, the subject was finally introduced as one option in a compulsory course entitled “Fundamentals of religious cultures and secular ethics” in all Russian state schools. This course offers students the possibility to choose between different subjects, including Orthodox Culture, Islam, Buddhism, World Religions, and
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secular ethics. Joachim Willems studied the textbooks of the different optional courses in depth and reports that, for the most part, these courses provide religious catechesis, but they also propagate a problematic religiously-loaded cult of the nation (the teaching material for secular ethics does the same, only through a highly militarized-patriotic language). According to the textbook of the Russian Orthodox Church, written by Deacon Andrej Kuraev, in fact represents a laudable exception, because it resists, in some sections, political instrumentalization23. Religious education was a priority for the Church during the time period under discussion, and this explains why the Doctrine includes the right to education. It is noteworthy that section IV.6 again “turns around” the logic of human rights, now looking at them as protective rights for the Church and not, as in the previous sections, as potentially enabling rights that have to be restricted. Agadjanian speaks of an “inward” and “outward” orientation of the document in this respect. The inward orientation, for which section IV.6 is representative, consists in providing guidelines to Church members on how to deal with human rights issues and how to use this legal instrument for the purpose of protecting the rights of the Church and its members.24 Orthodoxy here appears in a minority position, as “an institutional, social and moral enclave, which uses the human rights rhetoric to create and protect its own niche, its own modest space within the global multicultural universe”25. In its outwardorientation, on the contrary, the document addresses the human rights discourse in order to make a distinctively Orthodox contribution to a national and international debate about human rights. Here Russian Orthodoxy appears as majority voice that seeks “to remind the Russian society, the Russian state (and the international community, for that matter) that the Russian Orthodox Church has been a ‘formative factor’ for the Russian cultural ethos, and therefore Christian anthropology, Christian vision of dignity and freedom, Christian version of rights, must define – at least in a certain degree – the public discourse of values and morality”26. The discourse on freedom of expression and art is an example for the outward, the claim for religious education for the inward orientation of the Doctrine. The oscillation of the Human Rights Doctrine between 23 Willems, Joachim: ”Religionsunterricht – Kurswechsel des Moskauer Patriarchats?” G2W. Ökumenisches Forum für Glaube, Religion und Gesellschaft in Ost und West 36/1 (2008): 9; Willems, Joachim: ”Religions- und Ethikunterricht in Russland – Was wollen Staat und Kirche.” in: Makrides, Vasilios (ed.): Erfurter Vorträge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums. Erfurt 2010. 24 Agadjanian, Alexander : “Russian Orthodox Vision of Human Rights”, in: Makrides, Vasilios (ed.): Erfurter Vorträge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums. Erfurt 2008, p. 15. 25 Agadjanian, Alexander : op. cit., p. 18. 26 Ibd.
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these two orientations contributes to the overall ambiguous character of the document. In section IV.7 of the Human Rights Doctrine, dedicated to civil and political rights, the drafters of the document have brought together two areas of human rights law which are generally treated separately in human rights documents: the right to political participation (article 21 in the Universal Declaration, article 12 in the European Charter) and the right to the protection of the private sphere (article 12 in the Universal Declaration, article 7 in the European Charter, article 8 of the Human Rights Convention). The Human Rights Doctrine connects the right to political participation with the usual reminder that this individual right should be exercised responsibly, and it then makes an unexpected twist in the argument, shifting to the right to the protection of the private sphere: “People’s private life, worldview and will should not become a subject of total control. Any manipulation over people’s choices and their conscience by power structures, political forces and economic and media elites is dangerous for a society” (IV.7). I find the connection between political participation and protection of the private sphere in the document quite intriguing and am inclined to interpret it as a remnant of the Church’s own past experience of totalitarian control. The connection of the two rights conveys a very modern understanding of the risks that exist inside democracies when an electorate becomes manipulated through media control. With this reminder of inner freedom and arbitration, section IV.7 conveys a sense of civil liberty and responsibility of the Church, paired, of course, with the habitual call to responsibility, the common good and cooperation with the state, which defies the sense of theological subservience to stateideology present in the preceding section. Section IV.8 on socio-economic rights is uncontroversial, with a call to solidarity and social justice. The rights mentioned in this section are the right to property, the right to employment, the right to protection against an employer’s arbitrary treatment, the freedom of enterprise and the right to dignified living standards. These are references to social and economic rights enlisted in the secular human rights documents (article 22 – 25 of the Universal Declaration, protocol 1 of the Human Rights Convention, and articles 15 – 17 and 30 – 35 of the European Charter) and to the United Nations Covenants on Civil and Political and Socio-Economic Rights. This section concludes the Human Rights Doctrine’s step-by-step discussion of secular human rights provisions. The authors of the document, however, have included one more topic in their discussion, a topic that is not mentioned in any of the international human rights documents: collective rights. The term collective or group-rights is discussed in the literature on human rights and multiculturalism as legal measure to empower minorities and disadvantaged groups. The drafters of the Doctrine, however, use the term in a different sense: for them collective rights are chiefly
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opposed to individual rights.27 Section IV.9 is about family-rights and expresses the Church’s resistance to the empowerment of individuals inside the family through human rights: “The rights of an individual should not be destructive for the unique way of life and traditions of the family […].” (IV.9) The term “collective rights” in the Doctrine is therefore not about rights for groups but about the limits of individual rights. The reason why the concept is discussed here at all, in a sense that is rather alien from its original meaning in the human rights literature (the family is not discussed as a “group” in the literature on collective rights), is likely to have been the need to address one more point which the Church considered essential, namely the traditional family-model. The document states: “Modern law should view the family as the lawful union of man and woman in which natural conditions for raising children are created.” This provision is of course a reference to controversies over homosexuality, which had become a major concern for the Church during the last decades (see 1.3). LGTB-rights and artistic provocation of religions, it should be remembered, were the two major battle-themes in the Russian Orthodox human rights debate. In the Doctrine, we find that the two questions are not treated equally. Whereas blasphemy is discussed and judged as inadmissible in almost every chapter of the Doctrine, liberal family values are criticized only in the last paragraph of chapter IVunder the innocent subheading “collective rights”. I think this relative difference of weight in the treatment of the two controversial topics can be explained by looking at the structure of chapter IV. Chapter IV provides a stepby-step discussion of existing human rights principles and my guess is that the drafters found it difficult in this context to incorporate the Church’s view on human rights and the family. In the international human rights debate the extension of individual rights into family-law is a more recent development, derivative of but not directly implied in the international treaties. In this sense LGTB rights differ from the rights of freedom of expression and art, whose implications for religion can be discussed directly. The mentioning of collective rights at the end of chapter IV is one more argumentative strategy with which the Russian Orthodox Church wants to set a limit to human rights.
1.5.
Which rights and freedoms are missing?
After this evaluation of which international human rights principles are actually incorporated or dealt with in the Russian Orthodox Human Rights Doctrine, it is necessary to draw attention to the striking absence of juridical rights. The 27 Kyrlezhev, Alexander: “Relationships between Human Rights Concept and Religious Values”, in: Religion in Eastern Europe XXVII/1 (2007), pp. 41 – 47.
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Doctrine does not mention the right to fair trial and equal access to law. These rights occupy a major position in the international human rights treaties: articles 6 to 11 of the Universal Declaration, articles 6 and 7 of the Human Rights Convention, articles 47 to 50 of the European Charter. The absence of any mention of the right to fair trial in the Doctrine is significant, not least because the Russian legal system is notorious for failing to respect this right. Numerous cases regarding articles 6 and 7 have come before the Strasbourg-Court (ECHR 2013b). The absence of juridical rights in the Human Rights Doctrine shows once more that the Church interprets human rights in a way that differs fundamentally from secular human rights instruments: it looks at human rights as a set of rules that frame the individual’s relationship with the community and with itself (its moral and inner conduct), and not, as is the case of the secular human rights instruments, as a set of regulations and protections that regulate the interaction of institutions of power with individuals. The Doctrine rewrites human rights principles in order to make them fit into its frame of reference (of responsibility, morality and individual duties related to God-given dignity), but it largely ignores the function of human rights as protective rights. This particular perspective renders juridical rights superfluous in the context of the Human Rights Doctrine. In section V.1 entitled “Principles and areas of the Russian Orthodox Church’s human rights work” we read: “From old times till today the Orthodox Church has been engaged in intercession to the authorities for those who are unjustly convicted, humiliated or exploited. The Church extends her merciful intercession also to those who are justly punished for their crimes.” The basic equation between unjustly and justly convicted individuals in these two sentences shows clearly that the Church thinks about its own human rights advocacy not in terms of defence of the individual against arbitrary interference by the state, but in terms of a religious intervention in view of a bettering of the (per definition) sinful individual. There is also a political aspect to this lack of juridical rights: smooth cooperation with the state and state-organs is a priority for the Russian Orthodox Church. The non-mentioning of juridical rights is indicative of the fact that the Moscow Patriarchate wants to avoid confrontation with state-institutions, be it the government or the judiciary. In chapter V of the Doctrine, the Church states that one element of its human rights efforts is “participating in the public control over the law enforcement, especially regulating church-state relations, and over the execution of fair court judgments.” This sentence is the nearest the Doctrine comes to mentioning juridical rights, and it is noteworthy that it puts special emphasis on the rights of the Church (church-state relations) rather than on individuals. Therefore the Church does not position itself unconditionally on the side of individuals implicated in a struggle for rights vis--vis the state. The
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preferred mode of interaction is “intercession” and “appeal”, also when it comes to defending the rights of believers: “In the years of the godless persecution”, the Doctrine reads, “Orthodox bishops, clergy and laity appealed to the authorities and society seeking to defend the freedom of religious confession and advocating the rights of religious communities to broad participation in the life of the people” (V.1). This sentence is in glaring contrast with the findings from the history of the Russian Orthodox Church during the Cold War. During the Communist period, the Russian Orthodox Church precisely did not defend freedom of religion as a human right, nor did it take the side of those who rallied for the cause of religious freedom on human rights grounds. The Church might have “appealed” to the government, but this choice of terminology is clearly indicative of the fact that the Church understood and continues to understand itself today as a mediator between individual citizens and the state, rather than as a defender of the rights of individuals against arbitrary state-interference. To “appeal” to a government is not the same thing as to claim a right. In short, the absence of juridical rights in the Human Rights Doctrine shows that the entire endeavor of the Russian Orthodox human rights debate was not about human rights advocacy, but about a human rights strategy, about ways to deal with the rival meaning-giving system of human rights in defence of Orthodox religion.
2.
Tension and ambiguities
There is evidence for an evolution in the Church’s human rights debate. While the Social Doctrine still treated human rights “as manifestations of man’s fallen nature, signs of cultural anarchy, an absence of proper moral order and degradation of the system of spiritual values”,28 and while the Human Rights Declaration of the World Russian People’s Council saw in human rights the grounds for a clash of civilizations, the Human Rights Doctrine and the official statements surrounding its publication finally expressed a more moderate and conciliatory attitude. When the Human Rights Doctrine was approved and published by the Bishop’s Council on 26 June 2008, the official self-positioning was no longer that of a fight against atheism and anarchy, nor a clash of civilizations, but that of a “suggestion”. The following quote from the Doctrine is indicative of this selfpositioning:
28 Martin, J. Paul: “The three monotheistic religions and international human rights”, in: Journal of Social Issues 61/4 (2005), p. 835; see also Naletova, Inna: “Symphony reconsidered: The Orthodox Church in Russia on relations with modern society”, in: Österreichisches Archiv für Recht und Religion Heft 1 (2001), pp. 12 – 65.
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“There are various traditions of interpretation of rights and freedoms and national peculiarities in implementing them. […] There is no commonly accepted classification of rights and freedoms. […] The Church, by virtue of her basic calling, suggests (Russian: predlagaet) considering rights and freedoms in the perspective of their possible role in creating favourable external conditions for the improvement of personality on its way to salvation” (IV.1).
There is ample evidence that the drafters of the document themselves were aware of this shift and that they really looked back on the human rights debate as a learning process. The following quote from Kirill’s speech at the presentation of the Doctrine in front of the Bishop’s Council helps to understand why I interpret the Church’s human rights debate as a learning process: “From summer 2006 to June 2008 we held 15 meetings, including meetings of subgroups that contributed to the elaboration of the various chapters of the document. During the drafting of the document, there were also numerous consultations with lay experts, philosophers and lawyers in order to discuss current scholarly approaches to human rights. In addition, very serious research and paper work was conducted in the time between the single meetings. Many ideas that were formulated in the framework of the working group were presented and discussed at international conferences, round tables, in interviews and in lectures. More than once they were the subject of personal and official talks with representatives of other Christian denominations and traditional religions, as well as with representatives of government and civil society.”29
One member of the working group described his experience in the following way (the quoted document is probably the transcript of a speech; I have not corrected the irregular grammatical sentence structure): “What we discovered, when we started working on this document, well I say we because I was a part of the process of preparation of this document and I could witness about the process how we discovered the theological our religious dimension in the issue of human rights. […] we also came out of a commonly spread prejudice that, well, human rights, that concept of human rights is completely secular idea and it may seem a bit artificial to try to explain it in religious terms. But when we started discussing it … we discovered quite suddenly that indeed this concept has serious religious rooting. … In our document therefore we tried to reinterpret, to reconsider the concept of human rights from the point of view of theology, from the point of view of religious experience and I think we succeeded.”30 29 Human Rights Doctrine: “The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights (official translation)”. Official Website of the Department for External Church Relations of the Moscow Patriarchate (www.mospat.ru), 2008. URL: http:// www.mospat.ru/en/documents/dignity-freedom-rights/ (22. 04. 2013). 30 Hovorun, Archimandrite Cyril: “Human Rights from the Christian Perspective”. International Conference on Human Rights. Banja Luka 11.–12. December 2011 (National Assembly of the Republic of Srpska). URL: http://www.academia.edu/1808127/Human_rights_from_the_Christian_perspective (02. 04. 2013).
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Igumen Filaret (Bulekov), at that time representative of the Moscow Patriarchate in Strasbourg, said that the document aimed at destroying at least two commonly held stereotypes against Russian Orthodoxy : that the Orthodox Church had no relationship to the topic of human rights, and that the Church was against human rights.31 It is important to recognize that the stereotypes which Filaret (Bulekov) is alluding to in his article not only existed outside the Russian Orthodox Church, but also inside. The Human Rights Doctrine was as much as document for internal as for external clarification. At the same time however, tensions and ambiguities persist in the Patriarchate’s human rights discourse. Although the official position, as demonstrated above, follows the conciliatory tendency of Kirill and his collaborators, contradictions inside the Church remain clearly visible. One example of such a contradiction is the pastoral letter of the Bishops’ Council of June 2008, which contains a net condemnation of the human rights concept, even though the very same Council had just adopted the Human Rights Doctrine: “The idea of human rights has become one of the key concepts in politics and jurisprudence of states. This idea is often used to justify sin and to reduce the role of religion in society and to deprive people of the possibility of living their faith.”32 The rhetoric of this phrase is nothing short of astonishing if we compare it with the softer tones of Kirill at the same meeting. The pastoral letter describes human rights and religion as hostile and mutually exclusive ideas. In this extract, there is not a trace of Kirill’s sophisticated argument on Article 29 of the Universal Declaration of Human Rights, nor of the post-secular debate to which the Doctrine alludes to in its conclusion. The discrepancy between the two documents conveys a strong sense of tension and ambiguity in the Russian Orthodox Church’s engagement with the issue of human rights. Another example of tensions in the Russian Orthodox human rights discourse was highlighted by the journal Vremya novostei: the strategy of the Patriarchate with the publication of the Human Rights Doctrine stood in clear contradiction to the position of conservative hardliners in the Russian Orthodox Church, who during the Bishops’ Council “picketed the entrance of the Church of Christ the
31 REOR: “Russkaya Pravoslanaya Tserkov sformulirovala osnovy ucheniya o dostoinstve, svobode i pravakh cheloveka”. Website of the Representation of the Russian Orthodox Church in Strasbourg (www.strasbourg-reor.org) 30. 06. 2008. URL: http://www.strasbourg-reor.org/ ?topicid=86 (27. 10. 2010). 32 Osvyashchennyj Arkhierejskij Sobor : “Poslanie Osvyashchennogo Arkhierejskogo Sobora kliru, chestnomy inochestvu i vsem vernym chadam Russkoj Pravoslavoj Cerkvi.” Official Website of the Department for External Church Relations of the Moscow Patriarchate (www.mospat.ru), 2008. URL: http://www.mospat.ru/archive/41648.htm (22. 04. 2013).
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Saviour, demonstrating against ‘the heretics of the Synod’, mobile phones, Identification Card Numbers and other ‘devilries’.”33 The tension in the Russian Orthodox human rights discourse, which manifested itself in apparent contradictions between, on the one hand, openness for dialogue with secular human rights ideas and, on the other hand, frequent unambiguous condemnations of secular values, is particularly visible in the communication between the Russian Orthodox Church and Russian civil society. This communication is partially in the hands of the Patriarchate’s chairman of the Synodal Department for the Cooperation of Church and Society, Protoierei Vsevolod (Chaplin) (vice-chairman of the External Relations Department at the time of the formulation of the Human Rights Doctrine). Chaplin is a controversial figure, known for radical and polemical statements that seem to cater in particular to the conservatives in the Russian Orthodox Church. At the outset of the human rights debate, in 2005, Chaplin announced that the Russian Orthodox Church was working on a document which would identify values that “stand above human rights: the values of the Fatherland and of the nation”34. An active promoter of the Human Rights Declaration of the World Russian People’s Council, Chaplin was a member of the human rights working group and made repeated public statements on human rights. In a long essay published in 2007, which is published in the section of “Analytical material” on the website of Interfaks-Religiya and which I therefore interpret as a document related to his activity in the Patriarchate’s human rights working-group, Chaplin tells evolution of the Human Rights Doctrine somewhat differently from Kirill.35 Whereas Kirill and other collaborators of the External Relations Department have stressed that the Human Rights Declaration of the World Russian People’s Council in 2006 represented the starting-point for the work on the drafting of the Human Rights Doctrine, Chaplin identifies a 2004 round-table organized by the conservative platform “Radonezh” as the starting point of the debate, a debate in the course of which the World Russian People’s Council produced its Human Rights Declaration and, two years later, the Patriarchate produced the Human Rights Doctrine. Put in this way (“in the process of working out this document [the Human Rights Doctrine] also another document was born, representing 33 Moshkin, Mikhail: “Prava – ne dogma. Arkhierejskij soboro RPC utverdil svoe uchenie o svobodakh i dostoinstve cheloveka”, in: Vremya Novostej 27. 06. 2008. URL: http:// www.vremya.ru/print/207064.html (22. 04. 2013). 34 Chaplin, Protoierej Vsevolod: „Pravoslavnaya Cerkov’ i problematika prav cheloveka: novoe nachalo raboty i diskussii“. Russkaya liniya, 2005. URL: http://www.rusk.ru/monitoring_smi/2005/10/19/pravoslavnaya_cerkov_i_problematika_p rav_cheloveka_novoe_nachalo_raboty_i_diskussii/ (22. 04. 2013). 35 Chaplin, Protoierej Vsevolod: “Russkaya Pravoslavnaya Tserkov’, prav cheloveka i diskussii ob obshchestvennom ustrojstve”. Interfaks Religiya, 16. 10. 2007. URL: http://www.interfaxreligion.ru/?act=analysis& div=89 (22. 04. 2013).
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some ideas developed inside the World Russian People’s Council”36), the two documents manifest not so much two stages, but two ideological poles in the Church’s human rights debate, the 2006 Declaration representing the nationalist and anti-Western camp, the 2008 Doctrine the more moderate camp. In the same article, Chaplin polemicizes against “that part of the human rights activists, who see their mission in instilling in Russia radical pacifism, secular humanism, the denial of spiritual autonomy and a mechanical take-over of the Western political culture” and denounces them as foreign agents who depend on grants from the West.37 It should be noted that this statement comes from the designated head of the Patriarchate’s department for relations with civil society. Chaplin’s position does not seem to undergo any significant changes in the period under discussion, and the fact that he moved from the Russian Orthodox Church’s external relations to internal relations after 2008 suggests that the Patriarchate is seeking to keep a conciliatory profile to the outside and a more conservative and aggressive stance to the inside.
3.
Conclusion
When the Russian Orthodox Church published the Human Rights Doctrine in 2008, this was an unprecedented and in many ways an innovative step in the Orthodox world: the biggest Orthodox Church was engaging in the formulation of its own social ethics. Was the Human Rights Doctrine a sign that the Church was modernizing and adapting to the dominant European paradigm of democracy, human rights and individual freedom? An analysis of the content of the document shows that the engagement of the Russian Orthodox Church with the human rights-idea has been of an ambiguous and largely negative kind. It has interpreted human rights, this alternative “sacralization of the person”,38 as a challenge, as a rival-meaning giver in modern society, but it has also availed itself of the human rights language in order to define its own conditions of existence in secular society. The Church’s critical take on human rights has worked in favor of restrictive human rights policies inside Russia, and it has provoked critical reactions from the West and other Christian Churches. In the context of this article, I do not want to offer a conclusive interpretation of the Russian Orthodox Church’s human rights discourse and how his discourse can or will impact on the relationship between Russian Orthodoxy and Europe; this is an argument 36 Ibd. 37 Ibd. 38 Joas, Hans: The Sacredness of the Person. A new genealogy of human rights. Washington D.C. 2013.
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that requires more space.39 But what this article can add to the overall theme of this book is the observation that religions are again vocal and powerful players in the European public sphere, and that they pursue their own particularistic agenda, not always and not easily reconcilable with the normative commitments of the European Union.
Bibliography Agadjanian, Alexander : “Russian Orthodox Vision of Human Rights”, in: Makrides, Vasilios (ed.): Erfurter Vorträge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums. Erfurt 2008. Berlin, Isaiah: “Two Concepts of Liberty”, in: Four Essays on Liberty. Oxford 1969, pp. 118 – 172. Brüning, Alfons: „Menschenwürde contra Theosis? Die Menschenwürde in der Perspektive der ostkirchlichen Theologie.“ 2013. Unpublished manuscript. Chaplin, Protoierej Vsevolod: „Pravoslavnaya Cerkov’ i problematika prav cheloveka: novoe nachalo raboty i diskussii“. Russkaya liniya, 2005. URL: http://www.rusk.ru/monitoring_smi/2005/10/19/pravoslavnaya_cerkov_i_problematika_prav_cheloveka_novoe_nachalo_raboty_i_diskussii/ [22. 04. 2013]. Chaplin, Protoierej Vsevolod: “Russkaya Pravoslavnaya Tserkov’, prav cheloveka i diskussii ob obshchestvennom ustrojstve”. Interfaks Religiya, 16. 10. 2007. URL: http:// www.interfax-religion.ru/?act=analysis& div=89 [22. 04. 2013]. Charter of Fundamental Rights of the European Union: Official Journal of the European Union no. 2000/C 364/01 [18. 12. 2000]. ECHR: “European Convention on Human Rights as amended by Protocols Nos. 11 and 14, supplemented by Protocols Nos. 1, 4, 6, 7, 12 and 13”. Website of the European Court of Human Rights 2010. URL: http://www.echr.coe.int/NR/rdonlyres/D5CC24 A7-DC13 – 4318-B457 – 5C9014916D7 A/0/Convention_ENG.pdf [22. 04. 2013]. ECHR: Case of Eweida and Others vs. the United Kingdom. European Court of Human Rights. Strasbourg 2013. ECHR: “Country fact sheets 1959 – 2010”. Website of the European Court of Human Rights (2013): URL: http://www.echr.coe.int/NR/rdonlyres/C2E5DFA6-B53C-42D2-8512034BD3C889B0/0/FICHEPARPAYS_ENG_MAI2010.pdf [26. 01. 2013]. Ferrari, Silvio: “La Corte di Straburgo e l’articolo 9 della Costituzione Europea. Un’analisi quantitativa della giurisprudenza”, in: Mazzola, Roberto (ed.): Diritto e religione in Europa. Rapporto sulla giurisprudenza della Corte Europea dei Diritti dell’Uomo in materia di libert religiosa. Bologna 2012, pp. 27 – 54. Hovorun, Archimandrite Cyril: “Human Rights from the Christian Perspective”. International Conference on Human Rights. Banja Luka 11.–12. December 2011 (National Assembly of the Republic of Srpska). URL: http://www.academia.edu/1808127/Human_rights_from_the_Christian_perspective [02. 04. 2013]. 39 See footnote 2.
Religious approaches to human rights
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Kristina Stoeckl
‘Evejda i drugie protiv Soedinennogo Korolevstva’ (Izvlecheniya)”. Website of the Representation of the Russian Orthodox Church in Strasbourg (www.strasbourg-reor.org) no. 18. 03. 2013. URL: http://www.strasbourg-reor.org/?topicid=1028 [28. 03. 2013]. REOR: “Russkaya Pravoslavnaya Tserkov’ prizvala ECPCh peresmotret’ dela o disriminatsii khristian”. Website of the Representation of the Russian Orthodox Church in Strasbourg (www.strasbourg-reor.org) 17. 01. 2013. URL: http://www.strasbourg-reor.org/?topicid=1022 [28. 03. 2013]. Ryabykh, Igumen Filip: “Russian Church is ready to help US compile more objective reports on international religious freedom”. Interfaks Religiya 25. 11. 2010. URL: http://www.interfax-religion.com/?act=interview& div=89 [22. 04. 2013]. Shishova, Marina: “Spiritual and political dimensions in the conception of the Russian Orthodox Church concerning dignity, freedom and human rights”, in: Van der Tweerde, Evert / Brüning, Alfons (Eds.): Orthodox Christianity and Human Rights. Leuven 2012, pp. 351 – 364. Skinner, Quentin: “A third concept of liberty”, in: London Review of Books 24/7 (2002), pp. 16 – 18. Stoeckl, Kristina: “Political Hesychasm? Vladimir Petrunin’s Neo-Byzantine Interpretation of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Church”, in: Studies in East European Thought 62/1 (2010), pp. 125 – 133. Stoeckl, Kristina: “The Human Rights Debate in the External Relations of the Russian Orthodox Church”, Religion, State and Society 40/2 (2012), pp. 212 – 232. Taylor, Charles: “What’s wrong with negative liberty?”, in: Ryan, Alan (ed.): The Idea of Freedom. Essays in Honor of Isaiah Berlin. Oxford 1979, pp. 175 – 194. UDHR: “Universal Declaration of Human Rights”, 1948. United Nations Homepage: http:// www.un.org/en/documents/udhr/ [22. 04. 2013]. USCIRF: Annual Reports. United States Commission on International Religious Freedom 2012. URL: http://www.uscirf.gov [22. 04. 2013]. Ventura, Marco: La laicit dell’Unione Europea. Diritti, mercato, religione. Torino 2001. Willems, Joachim: “The Religio-Political Strategies of the Russian Orthodox Church as a ‘Politics of Discourse’”, in: Religion, State, and Society 34/3 (2006), pp. 287 – 298. Willems, Joachim: „Religionsunterricht – Kurswechsel des Moskauer Patriarchats?“, in: G2W. Ökumenisches Forum für Glaube, Religion und Gesellschaft in Ost und West 36/1 (2008), p. 9. Yannaras, Christos: The Freedom of Morality. Crestwood / New York 1984. Yannoulatos, Anastasios: “Eastern Orthodoxy and Human Rights”, in: International Review of Mission 73/289 (1984), pp. 454 – 466. Yannoulatos, Anastasios: “Orthodoxy and Human Rights”, in: Facing the World. Orthodox Christian Essays on Global Concerns. Geneva 2003, pp. 49 – 78
Die AutorInnen und HerausgeberInnen
Abbas, Tahir : Professor für Soziologie an der Fatih Universität in Istanbul (Türkei). In seiner Forschungsarbeit konzentriert sich Abbas auf Konzeptionen von Integration und Multikulturalismus sowie auf das Thema der weltweiten Radikalisierung der muslimischen Jugend. Tahir Abbas war „visiting fellow“ und „visiting professor“ an zahlreichen Universitäten, u. a. an der Hebrew University in Jerusalem, der State Islamic University in Jakarta, der International Islamic University in Islamabad, und den Universitäten Exeter und dem Oxford Centre for Islamic Studies in England. Appel, Kurt: Professor für Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) am Institut für Systematische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Seit 2010 Dozent an der Facolt teologica dell’Italia Settentrionale und Sprecher der Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ der Universität Wien. Seine Forschungsbereiche sind: Eschatologie und Zeit, Geschichtsphilosophie, Gottesfrage, Neuer Humanismus, Hegel. Breul, Martin: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kath. Theologie der Universität zu Köln. Er verfasst, nach einem Studium der Philosophie, Katholischen Theologie und Anglistik an den Universitäten Köln und Belfast, derzeit seine Dissertation zum Thema „Religiöse Gründe in öffentlichen Diskursen“. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft, Religion in der postsäkularen Gesellschaft, die Rationalität religiöser Überzeugungen, Diskurstheorie. Charim, Isolde: Langjährige Lehrtätigkeit an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien, arbeitet als freie Publizistin, tazKolumnistin, (2006 Publizistik-Preis der Stadt Wien) sowie als wissenschaftliche Kuratorin der Reihen „Diaspora. Erkundungen eines Lebensmodells“ sowie „Demokratie reloaded“ am „Kreisky Forum“.
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Die AutorInnen und HerausgeberInnen
Guanzini, Isabella: Seit 2013 Universitätsassistentin an der interdisziplinären Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ (RaT) der Universität Wien. War Dozentin für Einführung in die zeitgenössische Philosophie und für Philosophische Theologie am Institut für Religionswissenschaften in Crema. Seit 2009 ist sie Dozentin für Geschichte der Philosophie an der Facolt Teologica dell’Italia Settentrionale in Mailand und Lektorin für Ästhetik an der Universit Cattolica del Sacro Cuore in Mailand. Kloc-Konkołowicz, Jakub: Seit 2009 Leiter der Forschungsstelle für deutsche Philosophie im Institut für Philosophie der Universität Warschau. Zahlreiche Publikationen zur Sozialphilosophie und zum deutschen Idealismus in deutschen und polnischen Fachzeitschriften. Schwerpunkte seiner Forschung sind: zeitgenössische Sozialphilosophie und klassische deutsche Philosophie. Lafont, Cristina: Professorin für Philosophie an der Northwestern University (USA). Ihr Doktorat führte sie an die Universität Frankfurt, wo sie sich hauptsächlich mit deutscher Philosophie, insbesondere mit Hermeneutik und theoretischer Philosophie beschäftigt hat. Ihre neueste Forschung widmet sich dem idealen Modell einer deliberativen Demokratie, das über die eigenen Landesgrenzen hinaus angewandt werden kann. Liedhegener, Antonius: Professor für Politik und Religion an der Universität Luzern. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Politik und Religion in liberalen Demokratien; politische Soziologie von Religion und Kirchen; Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement und Religion; religiöse Interessen in der Europäischen Union; Katholizismusforschung/Zeitgeschichte; Vergleichende Politikwissenschaft; Sozialgeschichte und Religionssoziologie der Religion in der Moderne, Transdisziplinarität. Neri, Marcello: War Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Emilia-Romagna-Universität Bologna (Italien), außerordentlicher Professor für Theologie und der Philosophie an der Sacred Heart School of Theology (Hales Corners, USA), Gastprofessor für Dogmatische Theologie an den Universitäten Wien, Graz (Österreich), Münster (Deutschland) und Gastlektor an der Columbia University (New York, USA). Gegenwärtig ist er beauftragter Professor an der Universität Flensburg. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: Religion und Öffentlichkeit in Europa; Ästhetik, Literatur und Theologie, Phänomenologie und Theologie. Odermatt, Anastas: Mitarbeiter des Teilprojekts 4 des universitären Forschungsschwerpunkts „Religion und gesellschaftliche Integration in Europa (REGIE)“ der
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Universität Luzern. Er studierte Religions- und Umweltwissenschaften, Philosophie und Ethik in Luzern, Zürich und Wien. Seine Studien- und Forschungsschwerpunkte sind gegenwärtige Erscheinungsformen von Religion in der Schweiz, Religion und Integration in Europa und Religionsstatistik. Pollack, Detlef: Professor für Religionssoziologie und seit 2012 Vorstandsmitglied des „Centrums für Religion und Moderne“ (CRM) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, dem einzigen Excellenzcluster in Deutschland, das sich der Erforschung von Religion und Politik widmet. Er hat an zahlreichen Universitäten Europas und in den USA gelehrt und geforscht, darunter an der Viadrina/Frankfurt/Oder sowie an der New York University (Max-WeberLehrstuhl). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Säkularisierung und die Frage nach der Rolle der Religion in modernen Gesellschaften sowie die Untersuchung religiöser Transformationsprozesse in Ostdeutschland und Osteuropa. Riesebrodt, Martin: Yves Oltramare Professor für „Religion and Politics in the Contemporary World“ am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialtheorie, historische und komparative Religionssoziologie sowie die Beziehung zwischen Religion, Politik und säkularer Kultur. Schmidt, Thomas M.: Professor für Religionsphilosophie am Fachbereich Katholische Theologie sowie kooptierter Professor am Institut für Philosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Vor seiner Berufung nach Frankfurt lehrte Schmidt u. a. als Assistenzprofessor für Philosophie an der California State University in Long Beach, USA. Schmidt ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Religionsphilosophie. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Epistemologie religiöser Überzeugungen, Religion und Demokratie, die Auseinandersetzung von Habermas mit Religion, Hegels Religionsphilosophie und die Religionsphilosophie des Pragmatismus (William James und John Dewey). Stoeckl, Kristina: APART Fellow am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Wien. Sie ist Mitglied der ForscherInnengruppe INEX – Politics of Inclusion and Exclusion und der Forschungsplattform RaT. Seit 2012 kollaboriert sie außerdem regelmäßig mit dem Robert Schuman Center for Advanced Studies (Florenz) und dem IWM – Institut für die Wissenschaft vom Menschen (Wien). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Religion und Politik im Orthodoxen Christentum, Modernitätstheorien und politische Philosophie.
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Die AutorInnen und HerausgeberInnen
Walser, Angelika: War von 2010 bis 2013 Managerin der Plattform RaT. Lehrbeauftragte an der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule Wien-Strebersdorf. 2005 – 2008 Ethik-Koordinatorin der Concerted Action „Geneskin“ im Auftrag der Europäischen Kommission, 6. Rahmenprogramm „Life sciences, genomics and biotechnology for health“. 2007 – 2010 APART-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für die Habilitation „Die Autonomie von Frauen in bioethischen Konfliktfeldern als Herausforderung für die Theologische Ethik“.