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German Pages [320] Year 2000
KNITTLER DIE EUROPÄISCHE IN DER F R Ü H E N
STADT
NEUZEIT
QUERSCHNITTE BAND 4 EINFÜHRUNGSTEXTE ZUR SOZIAL-, WIRTSCHAFTS- UND KULTURGESCHICHTE Herausgegeben von Birgit BOLOGNESE-LEUCHTENMÜLLER, Wien Markus CERMAN, Wien Friedrich EDELMAYER, Wien Peter EIGNER, Wien Peter FELDBAUER, Wien Johanna GEHMACHER, Wien Margarete GRANDNER, Wien Sylvia HAHN, Salzburg Renate PIEPER, Graz Reinhold REITH, Salzburg Andrea SCHNÖLLER, Wien Eduard STAUDINGER, Graz für den Verein für Geschichte und Sozialkunde (VGS) c/o Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010 Wien
HERBERT KNITTLER
Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit Institutionen, Strukturen, Entwicklungen
2000 VERLAG FÜR GESCHICHTE UND POLITIK WIEN R. OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Knittler, Herbert: Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit. Institutionen, Strukturen, Entwicklungen / Herbert Knittler. - Wien: Verl. für Geschichte u. Politik; München: Oldenbourg, 2000 (Querschnitte, Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte, Bd. 4) ISBN 3-7028-0370-X Verlag für Geschichte und Politik Wien ISBN 3-486-56504-4 R. Oldenbourg Verlag München
Gedruckt mit Förderung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie des Österreichischen Städtebundes.
© 2000. Verlag für Geschichte und Politik Wien Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Layout/Satz: Marianne Oppel Umschlaggestaltung: Jarmila Böhm Karten: Mag. Brigitte Rauscher Druck: Druckerei Berger, 3580 Horn, Wiener Straße 80 Titelbild: Ausschnitt aus einer Zeichnung des Festungsingenieurs Francesco de Marchi (1504-1576). Aus: Drei Bände Festungsarchitektur (Brescia 1599).
ISBN 3-7028-0370-X Verlag für Geschichte und Politik Wien ISBN 3-486-56504-4 R. Oldenbourg Verlag München
INHALT
VORWORT EINLEITUNG
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— KAPITEL I — DIE STÄDTISCHE BEVÖLKERUNG
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Verstädterung und Großstadtwachstum 23 Grundfaktoren der demographischen Entwicklung Krisen, Kriege und Epidemien 47 Wanderungsverhalten 50
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— K A P I T E L II — STADTFORM UND NEUE TYPEN
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Idealstädte und Festungssterne 55 Residenzen und Hauptstädte 65 Bergstädte und Exulantenstädte 71 Hafenstädte, Werftstädte, Bäderstädte 77 Moderne Stadtsanierung: Individualität und allgemeine Tendenzen — K A P I T E L III — STÄDTE UND STAAT
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Beziehungsgeflechte 93 England, Frankreich, Spanien 94 Adelige Freistaaten in Ostmitteleuropa 105 Norditalien und das Heilige Römische Reich 108 Sonderentwicklungen: Österreich, Bayern, Brandenburg Die Niederlande 118
117
81
— KAPITEL IV — VERFASSUNG UND VERWALTUNG
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Herrschaft und Genossenschaft 123 Komplexe Strukturen: Von Venedig bis Amsterdam 124 Frankreich 127 England 131 Die deutsche Stadt 136 Elemente des überregionalen Vergleichs 141 — KAPITEL V — SOZIALSTRUKTUR UND GESELLSCHAFTLICHE INSTITUTIONEN
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Ordnungsmuster 149 Stadtadel und Patrizier: Italien und Deutschland 151 Bürgerliche Eliten und Honoratiorentum 157 Sonderentwicklungen: Spanien, Frankreich, England 160 Varianten städtischer Mittelschichten 165 Unterschichten, Stadtarmut und Außenseiter 173 — KAPITEL VI — REGION UND WIRTSCHAFT
181
England (mit Wales) 181 Frankreich 194 Spanien 207 Zwei oder drei Italien 220 Die beiden Niederlande 238 Das Heilige Römische Reich 254 Ostmitteleuropa 267 LITERATUR ORTSREGISTER
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VORWORT
Der vorliegende Band geht in seinen Wurzeln auf ein Manuskript zurück, das die Grundlage einer erstmals im Sommersemester 1979 an der Universität Wien gehaltenen Vorlesung zur europäischen Städtegeschichte in der frühen Neuzeit bildete. Wer die dynamische Entwicklung der Teildisziplin Stadtgeschichte/Urbanismusforschung in den letzten beiden Jahrzehnten verfolgt hat, dem wird rasch bewußt werden, daß im Zuge der notwendigen Aktualisierungen nur einige wenige Teilkapitel desselben überdauern konnten. Auch wurde die ursprüngliche Planung, innerhalb der überwiegend enzyklopädischen Zugangsweise auch kultur- und religionsgeschichtliche Aspekte zu Wort kommen zu lassen, zugunsten einer stärkeren Betonung der Entwicklung einzelner Städteregionen zurückgestellt. Dies fiel umso leichter, als die ausgeklammerten Themenbereiche in der 1995 von Christopher R. Friedrichs verfaßten Monographie „The Early Modern City", aber auch in Heinz Schillings „Die Stadt in der frühen Neuzeit" (1992) in hervorragender Weise ihre Darstellung gefunden haben. Der geographische Rahmen, welcher der vorliegenden europäischen Städtegeschichte zugrunde gelegt wurde, orientiert sich an Abgrenzungen, die einerseits Otto Brunner 1954 im Rahmen seines Aufsatzes „Europäisches und russisches Bürgertum" vorwiegend aus der Sicht der Verfassungs- und Sozialgeschichte, andererseits Jan de Vries 1984 in seiner monumentalen, quantifizierend angelegten Analyse „European Urbanization 1500-1800" aus demographischen und ökonomischen Parametern heraus argumentiert hat. Vereinfacht erfolgte eine Beschränkung auf den Großraum des lateinisch-christlichen Abendlandes und somit ein Ausschluß Rußlands und anderer orthodoxer bzw. in der Neuzeit vom osmanischen Großreich usurpierter Regionen. Aus mitteleuropäischer Sicht erwies es sich allerdings als naheliegend, abweichend von De Vries auch Teile der polnischen und ungarischen Städtelandschaft zu berücksichtigen. Innerhalb der damit in Richtung der europäischen Mitte, des Westens und Südens vollzogenen Schwerpunktbildung erhielten Räume mit starker urbaner Tradition den Vorzug gegenüber den weniger dicht mit Städten be-
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Vorwort
setzten Randlandschaften, vor allem was die Auswahl der regionalen Sonderkapitel betrifft. Die zeitlichen Grenzmarken wurden bewußt in Übereinstimmung mit traditionellen Mustern und mit Orientierung an den thematischen Bedürfnissen in der gebotenen Flexibilität gehandhabt, zumal ja eines der Ergebnisse der jüngeren Forschung darin besteht, daß sich die Urbanisierung in den einzelnen europäischen Regionen mit unterschiedlichen Akzenten und in abweichenden Rhythmen vollzog. Somit wird die für das demographische Datenpaket gewählte Begrenzung mit 1500 bzw. 1800 in den einzelnen Kapiteln, die sowohl Fragen der Verfassungs-, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte zum Gegenstand haben, mitunter nur eine annähernde Entsprechung finden. Wie andere Übersichten zur europäischen Städtegeschichte sah sich auch die vorliegende mit dem Problem konfrontiert, in der Wahl der Beispiele einen Ausgleich zu finden zwischen einigen zumeist gut untersuchten und dokumentierten großen Städten und der weitgehend anonymen Kleinstadt, deren Zahl in die Tausende geht. Gerade aus der Perspektive der neueren stadtgeschichtlichen Forschungswege, die mit ihrer Betonung der demographischen Kategorie innerhalb des Stadtbegriffs, der Messung des Erfolgs oder Mißerfolgs an der Entwicklung der Einwohnerzahlen und der Bildung von Hierarchien und Netzwerken den herausragenden Städten ein besonderes Gewicht beimessen, erwies sich dies als besonders schwierig. So mußte sich die Behandlung der Kleinstadt oftmals in Aussagen über deren Verhältnis zu den erfolgreichen Individualitäten, in erster Linie den politischen und ökonomischen Metropolen, erschöpfen. Kompromisse mußten auch hinsichtlich der formalen Gestaltung, vor allem des Anmerkungsapparates, eingegangen werden. Um sich in das äußere Bild der Reihe einzufügen, waren hier eine Beschränkung auf die wichtigsten Belege und der Verzicht auf eine Weiterführung der Diskussion in den gar nicht so seltenen strittigen Fragen (Bevölkerungszahlen !) notwendig. Durch ein umfangreiches, auch weiterführende Arbeiten einschließendes Literaturregister, in das vereinzelt auch Hinweise auf neuere Handbücher zur Demographie sowie zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte eingefügt wurden, konnte dieses Informationsdefizit zumindest teilweise verringert werden. Zuletzt seien einige Worte des Dankes gestattet. Dieser gilt in erster Linie den Kollegen am Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte für zahlreiche Anregungen und Literaturhinweise. Im weiteren fühlt sich der Autor den Herausgebern der Reihe: „Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte"
Vorwort
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für die Aufnahme der Publikation in das Reihenprogramm sowie Frau Dr. Andrea Schnöller für die redaktionelle Betreuung des Druckmanuskripts verpflichtet. Gewidmet sei der Band dem Andenken an meine Frau Heide, die aufgrund ihres allzu frühen Todes im Mai 1999 sein Erscheinen nicht mehr erleben durfte.
Wien, im Frühjahr 2000
Herbert Knittler
EINLEITUNG
Innerhalb der europäischen Stadtgeschichtsforschung der letzten Jahrzehnte hat sich in mehrfacher Weise ein Wandel vollzogen. So etwa in bezug auf den Untersuchungszeitraum, als an die Stelle eines überwiegend im Mittelalter fixierten Interessenschwerpunkts das frühneuzeitliche Urbanisierungsgeschehen getreten ist, das gleichzeitig die Brükke zum Prozeß der Verstädterung und „Verbürgerlichung" im 19. und 20. Jahrhundert bildet. Weiters hat die anfangs überwiegend regionsbezogene, rechts- und verfassungsgeschichtlich bestimmte Zugangsweise, welche die Tendenz aufwies, Stadtgeschichte zur Spezialgeschichte zu verengen, einer integralen Sicht Platz gemacht, in der Stadtgeschichte als Teil eines allgemeinen, gesellschaftlich determinierten Prozesses verstanden und interpretiert wird (Schilling 1993:51 -56). Daß das aus einer in der bürgerlich-liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entwickelten Perspektive konstruierte negative Bild der frühneuzeitlichen Stadt, das den Niedergang von Städtefreiheit und Stadtwirtschaft als Ergebnis regulierender und reduzierender Eingriffe des frühmodernen Staates sah, einer differenzierten Sicht gewichen ist, sei hier nur angedeutet (Wiese-Schorn 1976:29-31). Wesentlicher erscheint der Positionsgewinn der quantifizierenden Analyse, die - innerhalb eines umfassenderen, insbesondere auch das StadtLand-Verhältnis einbeziehenden Untersuchungskonzepts - auf unterschiedliche Varianten innerhalb der städtischen Wachstums- und Verteilungsmuster aufmerksam gemacht hat und zur Darstellung historischer Städtehierarchien und -netzwerke gelangt ist (im besonderen DeVries 1984; Hohenberg/Lees 1985; Van der Woude/Hayami/De Vries 1990:1-19). Im Rahmen dieser Zugangsweisen erhielt auch die Frage nach Erfolg oder Rückschritt im Entwicklungsprofil einzelner Städte oder ganzer Städtelandschaften einen besonderen Stellenwert (Gutmann 1986). Wie die mittelalterliche Stadtgeschichte so kann auch jene der Frühneuzeit nicht ohne Definition dessen, was als „Stadt" verstanden werden soll, auskommen. Mit dem zunehmenden Vorliegen exakterer bevölkerungsstatistischer Daten in den Jahrhunderten nach 1500 verloren innerhalb des dem Stadtbegriff zugrunde gelegten Kriterien-
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Einleitung
bündels Elemente der Rechts- und Verfassungsordnung gegenüber solchen der Sozial- und Wirtschaftssphäre an Gewicht, sofern nicht grundsätzlich von Schwellenwerten der Populationsgröße ausgegangen wurde. So berücksichtigt J. de Vries innerhalb seiner bahnbrechenden Studie „European Urbanization 1500-1800" (1984) nur Städte mit mehr 10.000 Einwohnern, wobei er argumentiert, daß - aus heutiger Sicht betrachtet - „places of 2000-4000 were not invariably thought to function as cities" (De Vries 1984:58), gleichzeitig aber einräumen muß, daß sich damit das Städtenetz in zahlreichen Regionen des Nordens und Ostens auf die Hauptstadt reduziert. P. Bairochs zusammen mit J. Batou und P. Chevre besorgte Dokumentation „La population des villes europeennes" (1988) operiert mit einem Grenzwert von 5.000 Einwohnern, bietet aber gleichzeitig rechnerische Methoden an, um zumindest die Städte zwischen 2.000 und 4.999 hinsichtlich ihres Anteils am Urbanisierungsgrad zu erfassen (Bairoch/ Batou/Chevre 1988:255). Auf die sich mit variierenden Schwellen erheblich verändernde Datenbasis hat zuletzt P. Malanima verwiesen, der u.a. zeigen konnte, daß sich bei Halbierung des Grenzwerts - bezogen auf das heutige Staatsgebiet Italiens - die von De Vries rekonstruierte Zahl der „Städte" vor 1800 von 74 auf 407 mehr als verfünffacht (Malanima 1998b:93). Neben den bereits angesprochenen Schwellenwerten wurden von der demographischen Forschung auch solche von 7.000-8.000 Einwohnern, 2.000-3.000 sowie 1.500-3.000 angewandt (B. Lepetit in Clark 1995:167f). Die Überbetonung der Einwohnerzahl als zentrales quantitatives Bestimmungselement dessen, was als Stadt zu verstehen ist, ist nun keineswegs neu, sondern reicht bis in die frühen Stadien der besonders in Deutschland von Historikern, Soziologen und Ökonomen geführten Diskussion um den Stadtbegriff zurück. Bekannt ist die 1907 formulierte Zustimmung W. Sombarts zu einer Definition des Internationalen Statistischen Kongresses, die aussagt: „Städte sind Wohnplätze von mehr als 2.000 Einwohnern" und hierin mit Kategorien der amtlichen österreichischen Statistik vom Anfang des 19. Jahrhunderts konform geht (vgl. Knittler 1997:76). Erheblich erscheint in diesem Zusammenhang, besonders bezogen auf die historische Perspektive, die Abstimmung des quantitativen Stadtbegriffs auf die zeitlichen und räumlichem Umstände sowie die spezifische Fragestellung. So werden in Untersuchungen zur Kleinstadt in überschaubaren Räumen andere Gewichtungen zu setzen sein als in überregionalen Analysen zum Stellenwert der Stadt im säkularen ökonomisch-sozial-politischen Transformationsprozeß. Die Aussage P. Clarks (1995:1) zur
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Notwendigkeit der Berücksichtigung der „thousands of small towns which played a key role in the economic, social and cultural life of early modern Europe" ergänzt somit jene Vorgangsweise, welche die Klein- und Kleinststädte (Marktstädte) bei der Entwicklung von Idealtypen und Modellen ausklammert. 1978 hat G. Rozman in einem Beitrag über Städtenetzwerke eine Klassifizierung der Städte nach Größe und Funktion vorgelegt, die im Sinne der Qualifikation derselben als „Zentrale Orte" sieben Stufen erkennen läßt, von denen er nur die ersten fünf als im eigentlichen Sinne urban anerkennt; die sechste Kategorie bezeichnet er als semiurban, der siebenten, die zusammenfällt mit den kleinsten Marktorten, spricht er urbane Qualitäten ab (Rozman 1978:70). Vereinfacht schlägt er folgende Gliederung vor: 1. Nationale Verwaltungszentren (Hauptstädte). 2. Regionale Mittelpunkte oder Zentren eines dezentralisierten Staatswesens, in beiden Fällen mit Einwohnerzahlen, die über jenen der folgenden Kategorie liegen. 3. Herausgehobene administrative Zentren oder große Häfen, die Städte der 1. oder 2. Kategorie mit weiter entfernten Regionen verbinden; sie korrespondieren mit Einwohnerzahlen zwischen 30.000 und 299.999. 4. Administrative Zentren zweiter Ordnung oder größere regionale Häfen, mit einer Einwohnerzahl zwischen 10.000 und 29.999. 5. Untere administrative Zentren, mit 3.000 bis 9.999 Einwohnern. 6. Entwickelte Marktsiedlungen und 7. Durchschnittliche Marktsiedlungen, in beiden Fällen mit einer Einwohnerzahl unter 3.000. Dem Versuch Rozmans, funktionale Kategorien mit dem Tatbestand der Bevölkerungsgröße zu verbinden, sind Überlegungen zur Erstellung von Klassifikationsmustern für unterschiedliche Stadtlandschaften vorangegangen bzw. gefolgt. Mit Bezug auf Deutschland und die Schweiz sei insbesondere auf H. Ammann (vgl. Isenmann 1988:29-32; vgl. auch Gräf 1995:184-187) und für (Nieder-)Österreich auf O. Brunner verwiesen, der Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsgröße und städtischen Ökotypen herausgestrichen hat (dazu Knittler 1997:47-49). Aufgrund der niedrigen Urbanisierungsrate Mittel- und Ostmitteleuropas lag hier die Skala der Schwellenwerte zu einem guten Teil unterhalb der von Rozman angenommenen Urbanen Grenzlinie. Von den Neustädten ökonomischer Prägung weist Rozman hingegen nur den Hafenstädten einen besonderen Stellenwert zu, während im allgemeinen der Rang der jeweiligen Stadt vorwiegend durch deren
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politisch-administrative Funktionen bestimmt erscheint. Von da her ergibt sich eine Nähe seines Klassifikationsschemas zum Untersuchungsfeld der Hauptstädte und Metropolen (metropolitan cities), dem besonders im Zusammenhang mit Fragen der Beherrschung des Hinterlands steigende Aufmerksamkeit gewidmet wurde (bes. Aerts/ Clark 1990; Clark/Lepetit 1976). Sowohl De Vries als auch P. M. Hohenberg/L. H. Lees - in ihrer weit gespannten Untersuchung „The Making of Urban Europe" - haben darüber hinaus aufgezeigt, daß das urbane System, über welches Europa seine Industrielle Revolution implementierte, ein Produkt der vorindustriellen Ära war und zahlreiche Merkmale des Staatenbildungsprozesses aufwies, der vielfach abweichend vom Kräftespiel des Marktes verlaufen war. Weiters wird betont, daß Europa bereits um 1500 über ein entwickeltes Städtenetz verfügte, das, abgesehen von einzelnen hinzutretenden Bergbau- und Industriestädten, im wesentlichen auch die Entwicklung nach 1750 bestimmen sollte (vgl. auch Ringrose 1990:21). Für die methodische Annäherung an die Frage der Beziehungen der Städte zueinander, aber auch zu ihrem Umland, wurden mehrere Vorgangsweisen vorgeschlagen, die einander teils ergänzen, teils aber auch voneinander abweichende Erkenntnisziele verfolgen. Zeitlichen Vorrang besitzt dabei die sogenannte Zentralortetheorie, die von Sozialgeographen, vor allem von W. Christaller (1933), entwickelt und in weiterer Folge von der historischen Zentralitätsforschung für die Analyse gesellschaftlicher Gegebenheiten und Wirkungsursachen adaptiert wurde (Mitterauer 1971). Grundsätzlich geht sie davon aus, daß Städte als Zentrale Orte zunächst für die Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen für eine bestimmte, zumeist sie umgebende Region sorgen, wobei das Angebot die ökonomische, administrative oder kulturelle Sphäre betreffen kann. Zentrale Orte sind weiters Punkte der Akkumulation, sei es von lokal produzierten Gütern, von Geld, Informationen oder Akten der Verwaltung. Ihre Dichte wird bestimmt durch die Kosten, die beim Angebot einer Dienstleistung innerhalb einer Region anfallen. Kleine und teure Produkte können mit Gewinn über weite Distanzen transportiert werden, was sich in einer verschärften Auslese der am Handelsgeschehen beteiligten Städte äußern kann. Hingegen sind in den Handel mit Erzeugnissen, deren Transportkosten einen hohen Teil ihres Werts ausmachen wie Getreide oder Bauholz, zumeist zahlreiche Plätze in geringerer Entfernung involviert (Hohenberg/Lees 1985:4). Diese Unterscheidung wurde als maßgebliche Voraussetzung für den Aufbau eines hierarchisch gestuften Netzes von Städten als Zentralen
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Orten in Anspruch genommen und mit der von G. K. Zipf entwickelten Regel über die Verteilung nach Rang und Größe (rank-size rule) in Beziehung gebracht (Gutmann 1986:35f)· Obwohl in der historischen Perspektive gerade hier die Leistungsgrenzen der Zentralortetheorie rasch erreicht werden, erwies sie sich als brauchbar für die Beschreibung des Netzes der Funktionen von Städten, der Relation zwischen einzelnen Stadtorten sowie der Veränderungen im regionalen Gefüge, etwa im Zusammenhang mit Prozessen wie Wachstum und Niedergang. Da sie weiters nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische Komponente besitzt, eignet sie sich sowohl zur Überprüfung der Relationen Zentraler Orte innerhalb eines Systems aufgrund politischer Maßnahmen, wie etwa D. Ringrose (1983) für Kastilien gezeigt hat, als auch für die Kontrastierung politisch-administrativer und ökonomischer Veränderungen. Beispielsweise verloren zahlreiche italienische Städte im 17. Jahrhundert ihre Rolle als Produzenten von gewerblichen Gütern, die vordem in das internationale Netz eingespeist wurden, behaupteten sich aber andererseits im Angebot von Dienstleistungen für ihr dicht besiedeltes Hinterland (Gutmann 1986:27 nach D. Sella). Hohenberg/Lees haben zwei weitere theoretische Konzepte in die Diskussion eingebracht und zunächst mit dem Netzwerk-Modell jenes der Zentralen Orte ergänzt bzw. abgewandelt, wenn sie formulieren: „Cities are more than the points around which the threads of regional unity are wound. They also link the region with the world beyond" (Hohenberg/Lees 1985:4f). Netzwerksysteme schließen somit die Aktivitäten des Fernhandels mit ein, welche die Regionen miteinander verbinden. Städte stellen dabei die Klammer zwischen regionaler Wirtschaft und dem internationalen Handelsnetzwerk dar und fungieren als „gateways", als Eingangstore zur Weltökonomie im Sinne von F. Braudel und I. Wallerstein. Damit erhält das Network-Modell eine Akzentuierung in die Richtung des Zentrum-Peripherie-Aspekts, als der regionale „gateway" sowohl ein Hinterland mit untergeordneten Städten als auch ein dem internationalen Handelssystem entsprechendes Vorland mit dem führenden städtischen Pol besitzt. Als solche wurden Brügge und Venedig, Antwerpen, Genua und Amsterdam sowie zuletzt London in Anspruch genommen (Braudel 1985-86/3:2433). Am Beispiel Bordeaux, das durch seine Einbindung in den internationalen Handel eine gegenüber den regionalen Funktionen deutlich abgehobene Aufwertung erfuhr, wurden die ungleichen Erkenntnismöglichkeiten von Zentralort- und Netzwerktheorie verdeutlicht. Korrespondiert erstere überwiegend mit Veränderungen in regiona-
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len ökonomischen und politischen Systemen, so weist letztere auf grundsätzliche Wandlungen im überregionalen Handelsgeschehen hin (Hohenberg/Lees 1985:5, 139-145). In einem weiteren Schritt verweisen Hohenberg/Lees auf Zusammenhänge in der Relation zwischen Stadt und Land hinsichtlich der Ausbreitung industrieller Aktivitäten. Vereinfacht sollen Städte und Landregionen einander als Hauptstandorte des Gewerbes in Abhängigkeit von Bevölkerungs- und Preisniveau zyklisch abgelöst haben: In Konjunkturperioden florierten die Städte, hingegen gedieh die ländliche Industrie in Zeiten der Depression und einsetzenden Erholung (Hohenberg/Lees 1985:113-120). In diesem Sinne bedeutete das sogenannte „lange" 16. Jahrhundert europaweit einen Zeitraum ausgedehnter städtischer Prosperität. Der Aufschwung nach der spätmittelalterlichen Agrardepression verband sich, zunächst begünstigt durch die „Würde" der europäischen Montanindustrie und in der Folge aufgrund der amerikanischen Silberimporte, mit einer Steigerung des gewerblich-industriellen Outputs und einer Expansion der Handelsverbindungen, wovon die Städte als Zentrale Orte und Mittelpunkte von Netzwerken profitierten (zusammenfassend De Vries 1981; De Vries 1990; Clark 1990). Dazu stellte sich die Aneignung von Renten, die auf agrarischer Produktion basierten. Diese Konjunktur setzte sich in einzelnen Regionen, vor allem in England und in den nördlichen Niederlanden, bis ins 17. Jahrhundert fort. Anderswo zeigten sich schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts, insbesondere seit 1570/1620, deutliche Abschwächungstendenzen, die bis gegen 1660 in einen allgemeinen Niedergang einmündeten. Da der vorangegangene Boom der städtischen Industrien zu einem guten Teil auf dem Ansteigen der Agrareinkommen basiert hatte, bedingte die Rezession in komplementärer Weise einen Rückgang der städtischen Prosperität. Demographische und Produktionsdaten bestätigen die Schwierigkeiten der Städte von der Mitte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, selbst in England, wo vor allem die mittleren und kleineren Einheiten betroffen waren. Verschärft wurde die krisenhafte Situation durch Kriege, Seuchen und Hungersnöte. Die gewerbliche Produktion zeigt die Tendenz, die Stadt zu meiden und das Land mit seinem niedrigeren Kosten- und Reglementierungsniveau zu bevorzugen. Im Gegensatz zu jenen Städten, die von Handel und gewerblicher Unternehmung lebten, waren die politischen Zentren von der Kontraktion in geringerem Maße betroffen, zumal sie das regionale Surplus abschöpften und damit ihr Wachstum weitgehend aufrecht erhalten konnten.
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Die Erholung aus der „Krise des 17. Jahrhunderts", z.T. schon vor dessen Ausgang, baute vorwiegend auf dem Wiederaufschwung der Landwirtschaft und Hausindustrie auf, wobei insgesamt die Rückschläge in England, Holland sowie den nördlichen Regionen Frankreichs und mit Abstand auch Italiens bald aufgeholt waren. Wie das 15., so gehörte die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts „to common folk" (Hohenberg/Lees 1985:116). Seit etwa 1740/50 setzten Tendenzen hin zu einer steigenden Inflation und einem wachsenden Druck auf die Reallöhne ein. Die Französische Revolution kam dann zu einem Zeitpunkt, als hohe Preise die Subsistenz breiter Bevölkerungsschichten bedrohten. Die Idee des Zyklus, in dem die Geschicke der städtischen und der ländlichen Industrie abwechselten, betont im Gegensatz zum merkantilen Aspekt den Stellenwert der Industrialisierung innerhalb der säkularen Trends von Urbanisierung und Deurbanisierung, wird dabei aber notwendigerweise zahlreichen individuellen Entwicklungsmustern nicht gerecht (Gutmann 1986:37). Ähnliches kann für ökonomisch-demographische Zusammenhänge gelten, die als essentielles Merkmal des Land-Stadt-Verhältnisses angesprochen worden sind. Die Feststellung, daß eine niedrige Produktivität im Agrarbereich nur die Ernährung eines schmalen Urbanen Sektors ermöglicht, daß andererseits die Erhöhung der Prokopfproduktion auf dem Lande die Anhebung des städtischen Bevölkerungsteils sicherstellt, verweist dabei auf Zusammenhänge allgemeinster Art. Darüber hinaus hat vor allem Ε. A. Wrigley auf den Stellenwert der Realeinkommen für den Anstieg des Anteils der Stadtbewohner an der Gesamtpopulation einer Region in vorindustrieller Zeit aufmerksam gemacht. Mit diesem wuchs die Nachfrage nach Gütern des sekundären und tertiären Sektors, wodurch eine zunehmende Beschäftigung begünstigt wurde, die in der Industrie stärker ausfiel als in der Agrarwirtschaft. Die Expansion des Städtewesens führte zu Investitionen im Agrarbereich und zur Spezialisierung und begünstigte damit ein neuerliches Einkommenswachstum. Fallende Realeinkommen hatten einen gegenteiligen Effekt (z.B. Wrigley 1987a:157f). Freilich ist die Verbindung zwischen dem Anstieg der Reallöhne und dem Städtewachstum, wie sie als Voraussetzung für die seit dem 17. Jahrhundert dynamisierte Umstrukturierung der englischen Städtelandschaft (London als Metropole, Hafenstädte, Manufaktur- und Industriestädte) ins Treffen geführt wurde, nicht der einzige, sondern nur ein partieller, aus einem Faktorenbündel nicht isolierbarer Erklärungsweg. Folgt man der Feststellung P. Clarks „Metropolitan cities were the great urban success stories of the early modern period" (in Aerts/Clark
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1990:5), so erhellt rasch der Stellenwert, den die historische Metropolenforschung innerhalb der jüngeren Stadtgeschichte einnimmt. Zum einen wurde der große Einfluß des Metropolenwachstums auf ökonomische Schlüsselbereiche wie Landwirtschaft, Industrie und Verkehrswesen betont, wobei sich abweichende Muster einstellen konnten. Bewirkte das dynamische Wachstum Londons agrarische Spezialisierung und steigende Produktivität zunächst im regionalen, dann nationalen Rahmen, so finden sich auf der anderen Seite Hauptstädte wie Rom und Neapel, die sich durch Plünderung des Hinterlands versorgten, was katastrophale Konsequenzen für dessen agrarische Gesellschaft bedeutete. Im Falle von Paris verband sich der Kauf von Grund und Boden durch die Pariser mit einer nur mäßigen Steigerung des landwirtschaftlichen Outputs (Aerts/Clark 1990:7). Blendet man auf den gewerblichen Sektor über, so wurde festgestellt, daß der durch die Standortwahl der Zentralregierung in Madrid bedingte Anstieg des Preis- und Lohnniveaus analoge Tendenzen in den sekundären Plätzen hervorrief, was zur Folge hatte, daß diese mit ihren Waren auf den internationalen Märkten nicht mehr konkurrenzfähig waren und zurückfielen (dazu Gutmann 1986:41). Ein weiterer Aspekt korrespondiert mit der Idee der Ausbildung von Hierarchien. Wie De Vries gezeigt hat, wuchs im Europa des 16. Jahrhunderts die Bevölkerung in Städten aller Größenordnungen; es entstand aber keine kontinentweite Hierarchie, vielmehr existierten mehrere Hierarchien nebeneinander (De Vries 1984:136-142). Im 18. Jahrhundert waren die wichtigsten Städte gleichsam in eine einzige Hierarchie integriert, an deren Spitze die Metropolen London, Paris und auch noch Amsterdam standen. In diesem Säkulum gingen die Migranten in die kleineren und mittleren Städte, während die ganz großen nur wenig wuchsen. Diese großen Städte koordinierten das zunehmend dichter werdende Netz von Versorgern und Konsumenten, unternehmerische Aktivitäten finden sich nunmehr auch in kleineren Städten und im Hinterland. Für das 17. Jahrhundert wurden drei parallele Trends konstatiert: eine weitreichende demographische Stagnation, dann ein rasches, auf Migration basierendes Wachstum jener Städte, die unmittelbar mit dem Staat und dessen Administration zusammenhingen, sowie die Überführung und Integration verschiedener regionaler urbaner Netze in ein einziges, kontinentweites System. Die neuzeitlichen Hauptstädte, in denen sich die räumliche Fokussierung politisch-staatlicher Autorität widerspiegelt, waren gleichzeitig Konzentrationspunkte der sozialen Eliten, des Reichtums und der Steuereinkünfte, die vom Land in die Städte flössen und hier über-
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wiegend unproduktiv eingesetzt, d.h. „verschwendet" wurden. In diesem Zusammenhang haben mehrere Autoren den Begriff einer „parasitären" Aneignung verwendet und diese einem „progressiven" Verhalten im Sinne von Investitionen gegenübergestellt, die zur Steigerung von Wirtschaftsvolumen und Produktivität hätten beitragen können (Braudel 1985/86/1:592; Ringrose 1990:21-38). Der Widerspruch zwischen „generativen" und „parasitären" Städten (B. Hoselitz) wurde allerdings mehrfach in Frage gestellt, u.a. auch mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß das Wachstum der Metropolen durch Luxuskonsum, öffentliche Arbeiten und umfangreiche Bauleistungen gesteigerte Einkommenschancen für qualifizierte Gewerbe, aber auch für halb- und ungelernte Arbeitskräfte schuf (Hohenberg/Lees 1985:229; Hohenberg/Lees 1996:28). Als Kontrapunkt und Ergänzung zum Untersuchungsfeld Hauptstädte und Metropolen (urban supernovas) entwickelte sich in jüngerer Vergangenheit der Themenschwerpunkt Kleinstädte (small towns) (zuletzt Gräf 1997:11-24). Begründet werden kann dies mit der Feststellung, daß die Kleinstadt mit wenigen hundert oder tausend Menschen in vielen europäischen Regionen zahlenmäßig eine deutliche Mehrheit darstellte. So verfügte England im 17. Jahrhundert über mehr als 700 Kleinstädte, Polen über 800, Frankreich über 2.000, das Heilige Römische Reich über 3.000 und Spanien über 4.000 (Clark 1995:1). Entsprechend unterschiedlich war ihr Bevölkerungsanteil an der gesamten Urbanen Population, wobei - wie in den Regionalkapiteln zu zeigen sein wird - die Kleinstadt besonders an der Peripherie, in Skandinavien, in Mittel- und Mittelosteuropa und sogar auf den Britischen Inseln bis ins 18. Jahrhundert eine erhebliche Rolle spielte. Trotz ihres hohen quantitativen Stellenwerts wurde die Kleinstadt in der Stadtgeschichtsforschung bisher weitgehend vernachlässigt, vor allem hinsichtlich ihrer Rolle innerhalb regionaler und überregionaler urbaner Systeme, weniger in der Aufarbeitung der individuellen Vergangenheit. Dies besitzt zu einem guten Teil seinen Grund in Defiziten in der Kategorisierung, die wiederum räumlich-territorial bedingt sein können und durch zahlreiche Ausnahmen charakterisiert erscheinen. Gerade die als vorrangig zu betrachtende Unterscheidung gegenüber ländlichen Siedlungen gelingt vielfach weder über den Einsatz demographischer oder ökonomischer Maßstäbe noch über die Verwendung politisch-rechtlicher oder topographischer Kriterien. Nicht selten, mit dem Fortschreiten der Protoindustrialisierung sogar zunehmend, wurden Kleinstädte größenmäßig von benachbarten Dörfern übertroffen. Obwohl ihre grundsätzliche Funktion in jener als
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Einleitung
Zentralort für die Agrarwirtschaft des umliegenden Landes bestand, wiesen sie selbst häufig einen hohen Anteil landwirtschaftlicher Produzenten auf (in Frankreich bis zu 60%, in Polen 70%), mußten sich die Position als gewerbliche Anbieter mit Dörfern und Gutskomplexen teilen und konnten sich letztlich vielfach nicht einmal als Marktstandorte behaupten. So wurde beispielsweise im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts die Mehrzahl der Marktveranstaltungen nicht in Städten, sondern in Bourgs und Dörfern abgehalten. Freilich lassen sich auch gegenläufige Tendenzen in der Form erkennen, daß gerade seit dem 18. Jahrhundert etwa in England und Norditalien die Kleinstadt vermehrt Dienstleistungen für das Land übernahm, etwa im Zusammenhang mit der Zunahme von Einzelhandelsgeschäften, der Ansiedlung von administrativen Institutionen mit ihren Beamten oder dem Anwachsen der Zahl freier Berufe (Clark 1995:11). Erheblich erscheint auch der unterschiedliche Rechtscharakter der Kleinstädte, durch den zumeist die Position gegenüber dem Hinterland definiert wurde. So fehlte es vielen englischen Kleinstädten an königlichen Freibriefen, was allerdings nicht verhindert hat, daß einzelne dieser nichtinkorporierten Gemeinwesen sich dynamisch entwickelten. Anderswo wurde die politische und ökonomische Hierarchie wieder eindeutig durch das Vorhandensein von Privilegien bestimmt, wobei deren Validität deutlich mit der ständischen Position des zugeordneten Stadtherrn korrespondierte. In diesem Sinne waren viele seigneurale Kleinstädte lediglich Vororte lokal begrenzter Dominien ohne erkennbare Außenbeziehungen, besonders in den mittelosteuropäischen Territorien (Polen, Ungarn) (u.a. Wyrobisz 1983). Nicht selten bildeten hier zeitlich begrenzte spekulative Motive den Hintergrund für ihre Anlage, einer großen Zahl frühneuzeitlicher Gründungen mangelte eine erkennbare Take-off-Phase. Hingegen konnten sich im herrschaftlich zersplitterten Reich zahlreiche mittlere und kleine Städte als regulierte, weitgehend autonome und individualistische „Home Towns" behaupten (Walker 1971:34-37). In ihrem äußeren und inneren Erscheinungsbild, den Mauern und Türmen sowie den Gilden und Zünften, standen diese in deutlichem Kontrast zu etwa den gleichzeitigen offenen Städten Englands. Große Übereinstimmung besteht in der Forschung, was die Defizite der Kleinstädte hinsichtlich ihrer Positionierung in europäischen Urbanen Netzwerken betrifft, wenngleich auch hier mit Abstufungen zu rechnen ist. Diese konnten regionaler Art sein, als etwa die Kleinstadt in Zentraleuropa einschließlich der Niederlande sowie Teilen Frankreichs und Norditaliens durch ein beachtliches ökonomisches, sozia-
Einleitung
21
les oder auch kulturelles Integrationsniveau gekennzeichnet erscheint und vor allem über ihre Gewerbe weitreichende Außenbeziehungen unterhielt. Zeitliche Veränderungsmuster korrespondierten mit generellen Tendenzen der Urbanisierung. So hatte die Kleinstadt in der Regel teil am ökonomischen Aufschwung des 16. Jahrhunderts, während im folgenden Säkulum die Katalysatorfunktion des Metropolenwachstums in der Art wirksam werden konnte, daß der dadurch bedingte Niedergang zahlreicher Mittelstädte den Kleinstädten neue Chancen als Markt- und Handwerkszentren eröffnete. Für das 18. Jahrhundert wurde auf ihren Zug zur Spezialisierung verwiesen sowie auf die Fähigkeit, als flexible Klammern zwischen größeren Städten zu fungieren. Im Sinne einer integrativen Sicht von Städtegeschichte ist abschließend P. Clark zuzustimmen, wenn er formuliert „They played a key role in the shaping of new regional patterns. With their expanding populations, they were a vital component in the re-making of urban Europe" (Clark 1995:20).
KAPITEL DIE
STÄDTISCHE
I
BEVÖLKERUNG
VERSTÄDTERUNG UND GRОSSSTADΤWACΗSΤUΜ Die Frage nach der Größe der frühneuzeitlichen Stadt sowie nach dem Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtpopulation der europäischen Staaten und Regionen ist in der jüngeren Vergangenheit mehrfach zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden (Chandler/Fox 1974; Chandler 1987; De Vries 1984; Bairoch 1985; Bairoch/Batou/ Chevre 1988; J. Dupäquier in Bardet/Dupäquier 1997:256-261, P. Bairoch in Bardet/Dupäquier 1998:193-229). Daß die einzelnen Versuche zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangten, kann nicht weiter verwundern. Zum einen läßt sich die Bevölkerungszahl der rechtlich-politischen Einheiten zumeist nur aufgrund mittelbarer und partieller Daten schätzen, zum anderen mangelt es an genauen Daten für zahlreiche Städte, wobei dieses Defizit von West nach Ost und von Süd nach Nord zunimmt, und letztlich wird entscheidend sein, welchen Stadtbegriff man einer demographisch-quantifizierenden Analyse zugrundelegt. Wohl ist die Einwohnerzahl generell ein recht unbefriedigender Maßstab zum Messen von Stadtqualität; mangels sonstiger europaweit wirksamer Kriterien stellt sie jedoch einen wichtigen Schlüssel für eine vergleichende Annäherung dar. Der Zeitraum von 1500 bis 1800 war in Europa demographisch gekennzeichnet durch den Wechsel von Phasen unterschiedlich dynamischen Wachstums, das sich zudem nach einzelnen Regionen unterschied. Nimmt man die von R. Mols vorgeschlagenen Ziffern, die zwischen den von De Vries und Bairoch errechneten Werten liegen, und nimmt man die Basis um 1500 mit 100 an, so stieg die Bevölkerung bis 1600 auf 128, bis 1700 auf 140 und bis 1800 auf 231 (R. Mols in Cipolla/Borchardt 1979:20; Hohenberg/Lees 1985:84, Tab. З.1.). Vereinfacht setzte sich somit die ins ausgehende Mittelalter zurückreichende Bevölkerungszunahme im 16. Jahrhundert fort; sie verlor allerdings im Laufe desselben an Geschwindigkeit. Regionen stärke-
Verstädterung
24
und
Großstadtwachstum
Tabelle 1: Anteil der Bevölkerung von Städten mit über 10.000/5.000 Bewohnern an der Gesamteinwohnerzahl europäischer Staaten und Räume 1500-1800 in Prozent (nach De Vries, Bairoch/Batou/Chevre) 1500 Skandinavien Ver. Königreich Niederlande Belgien Deutschland Frankreich Schweiz Italien Spanien Portugal Öst./Bö./Ung. Polen
2,2 0,9 2,7 4,6 15,8 29,5 21,1 28,0 8,2 3,2 4,2 8,8 6,8 1,5 12,4 22,1 6,1 18,4 3,0 15,0 4,8 1,7 0 6,0
1550
1600
0,8 1,4 2,8 4,8 15,3 24,3 22,7 18,8 3,8 4,1 4,3 5,9 2,5 1,5 13,1 15,1 8,6 11,4 11,5 14,1 1,9 2,1 0,3 0,4
3,8 7,9 34,7 29,3 8,5 10,8 5,5 22,6 21,3 16,7 4,9 7,6
1650 2,4 8,8 31,7 20,8 4,4 7,2 2,2 14,0 9,5 16,6 2,4 0,7
1700 4,0 11,7 33,6 23,9 4,8 9,2 3,3 13,6 9,0 11,5 3,9 0,5
1750
6,2 11,8 38,9 30,6 7,7 12,3 5,9 22,6 20,3 18,5 4,8 4,3
1800
4,6 4,6 14,6 20,6 30,5 28,8 19,6 18,9 5,6 5,5 8,8 9,1 4,6 3,7 14,1 14,6 8,6 11,1 8,7 9,1 5,2 5,2 2,5 1,0
6,2 20,8 34,1 21,7 9,4 12,9 6,9 21,9 19,5 15,2 7,9 4,8
Tabelle 1 gibt den Anteil der städtischen an der Gesamtbevölkerung für den Zeitraum 1500 bis 1800 wieder, und zwar je nach Bildung des Schwellenwerts bei 10.000 (De Vries) oder 5.000 (Bairoch/Batou/ Chevre) Stadtbewohnern. In Tabelle 2 wird darüber hinaus versucht, die Quote der Urbanen Bevölkerung unter Einschluß der Siedlungen mit über 2.000 Einwohnern zu erfassen. Tabelle 2: Anteil der Bevölkerung von Städten mit über 10.000/5.000/ 2.000 Bewohnern an der Gesamteinwohnerzahl Europas (ohne Rußland) (nach De Vries, Bairoch/Batou/Chevre)
über 10.000 über 5.000 über 2.000
1500
1550
1600
1650
1700
1750
1800
5,6 11,2 15,1
6,3
7,6 12,9 17,1
8,3
9,2 12,9 16,7
9,5 13,8 17,9
10,0 13,8 17,5
-
-
ren Wachstums waren Nord- und Nord Westeuropa, solche mit geringerer Dynamik Mittel-, West- und Südeuropa. Trotz zahlreicher Krisenerscheinungen wie Kriege, Seuchen und Hungersnöte dürfte auch das 17. Jahrhundert eine, wenngleich geringfügige, Bevölkerungszunahme erlebt haben. Das sich schon vorher ankündigende Auseinanderfallen regionaler Trends verstärkte sich. Auf das gesamte Jahrhundert gerechnet, erlebten Spanien, zahlreiche Gegenden Norditaliens und Mitteldeutschlands Abnahme oder zumindest Stagnation, wodurch die Zuwachsraten im Nordwesten umso deutlicher ins Gewicht fielen. Erst u m die Mitte des 18. Jahrhunderts schlug der Bevölkerungstrend er-
Die städtische
Bevölkerung
25
neut um, ohne allerdings die überkommenen regionalen Muster erheblich zu verändern; positive Sonderentwicklungen in einem Raum, der von Rhein und Donau nach Ostmitteleuropa reichte, sind nicht zu übersehen. In den fünfzig Jahren vor 1800 muß sich dann die Wachstumsrate verdoppelt haben, wobei auf die möglichen Gründe später noch einzugehen sein wird. Es stellt sich nun die Frage, in welchem Maße sich die angesprochenen Trends der Gesamtpopulation in ihrer Struktur und Dimension in der Bevölkerungentwicklung der europäischen Städte wiederfinden. Wie Tabelle 2 zeigt, wird die Antwort je nach verwendetem Schwellenwert, unterschiedlich ausfallen. Die von P. Bairoch rechnerisch ermittelten Quoten für die Gesamtheit städtischer Siedlungen mit einer Zahl von über 2.000 Einwohnern blieben - nach einer Zunahme von zwei Prozentpunkten im 16. Jahrhundert - zwischen 1600 und 1800 mit etwa 17% nahezu auf derselben Höhe (Bairoch/Batou/ Chevre 1988:255). Eine Überprüfung dieser Feststellung mit exakteren Daten für Einzelregionen bestätigen diese allerdings nur partiell und unter Einbeziehung aller Städte. So stieg in diesem Fall die Quote in Sachsen zwischen 1550 und 1834/43 lediglich von 30,8 auf 33,8%, bei Ausklammerung der Kleinstädte unter 2.000 Einwohnern allerdings von 15,2 auf 23,4% (De Vries 1984:61, Tab. 4.6., nach Blaschke 1967; Blaschke 1980:246f). Ähnlich ist das für Dänemark gezeichnete Bild im Zeitraum 1672-1801, wo die Gesamtrate mit ca. 19 bzw. 20,8% annähernd gleichblieb, die Teilrate (über 2.500 Einwohner) aber von ca. 7 auf 14,7% anstieg (De Vries 1984:63, Tab. 4.7; vgl. dazu Degn 1991; Johansen 1991). In den (nördlichen) Niederlanden nahm hingegen zwischen ca. 1500 und 1795 die Quote der Städte über 2.500 Einwohner mit einer Steigerung von 30 auf 37,9% nur wenig stärker zu als jene aller Städte (35,6 auf 40,7%) (De Vries 1984:64, Tab. 4.9; vgl. Van der Woude 1983:323-338). Völlig abweichend verlief die Entwicklung in England und Wales, wo um 1600 nur 8,8%, 1801 bereits 30,1% der Bevölkerung in Städten mit über 2.500 Einwohnern lebten (De Vries 1984:64, Tab. 4.8; dazu Clark 1995:90-120). Man kann den Zugang zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen Bevölkerungszahl und Städtewachstum freilich auch von der „anderen" Seite, jener der größeren Städte, suchen. Wie wiederum Tabelle 2 zeigt, läßt der Anteil der Bevölkerung in Stadtorten mit über 10.000 Einwohnern eine Zunahme von 5,6% um 1500 auf 10,0% um 1800 erkennen. Das Tempo der Entwicklung war nun keineswegs gleichmäßig. Im Bereich außerhalb der Mittelmeerregion beschleunigte sich
26
Verstädterung
und
Großstadtwachstum
die Zunahme zwischen 1550 und 1650/1700, um vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer Stagnation Platz zu machen. Die Iberische Halbinsel und Italien erlebten im 16. Jahrhundert ein deutliches Wachstum, dem im 17. ein Rückgang und im 18. eine langsame und nur teilweise Erholung folgten. Bemerkenswert ist dabei weniger der zwischen Nord und Süd gegenläufige Trend, als vielmehr die Tatsache, daß globales Bevölkerungswachstum und Zunahme der Stadtbewohnerschaft nur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts parallel verliefen (De Vries 1984:40). Hingegen standen im späteren 18. Jahrhundert hohen ländlichen eher bescheidene städtische Wachstumsraten gegenüber, wogegen im 17. Jahrhundert als einem Zeitraum gebremster Bevölkerungszunahme in Nord(west)europa die stärksten Urbanisierungsschübe verzeichnet wurden. Tabelle 3: Anzahl der Städte mit über 10.000 Einwohnern in europäischen Staaten und Räumen, 1500-1800 (Zahlen in Tausend) (nach De Vries, Ergänzungen für Spanien nach Correas, für Italien nach Malanima) 1500
1550
1600
1650
1700
1750
1800
Skandinavien Ver. Königreich Niederlande Belgien Deutschland Frankreich Schweiz Italien
1 6 11 12 23 32 1 44
1 5 12 12 27 34 1 46
2 7 19 12 30 43 2 59
2 10 19 14 23 44 2 50
2 16 20 15 30 55 3 51
3 29 18 15 35 55 4 65
Spanien
20
27
37
24
22
24
1 5 0
4 6 1
5 5 1
5 5 1
5 6 1
5 28 2
6 60 19 20 53 78 4 74 (141) 34 (58) 5 35 3
156
176
222
199
226
283
Portugal Öst./Bö./Ung. Polen Gesamt
389
Tabelle 4: Gesamtbevölkerung in Städten ausgewählter europäischer Staaten mit mehr als 10.000 (1500, 1800) sowie mehr als 5.000 (1800) (in Tausend) (nach Malanima) 1500 mehr als 10.000 Italien Frankreich Belg ./Ndl. Spanien Deutschland England/Wales
1.339 688 445 414 385 80
1800 mehr als 10.000 mehr als 5.000 3.318 2.382 1.152 1.165 1.353 1.870
4.812 3.650 1.380 2.540 2.020 3.370 (UK)
Die städtische
Bevölkerung
21
Tabelle 3, in der die Verteilung der Städte mit mindestens 10.000 Einwohnern auf Staaten und Räume festgehalten wird, bestätigt einerseits die Zunahme von Zahl und Bevölkerungsmenge größerer Städte im Zeitraum der ersten drei neuzeitlichen Jahrhunderte und vermag andererseits auch die regionalen Unterschiede zu verdeutlichen. Insgesamt stieg ihre Zahl in Europa unter Ausschluß Rußlands und des Balkans, aber unter Hinzunahme Ungarns, von 156 um 1500 auf 389 u m 1800 an; unter Berücksichtigung der von R Correas (1988) für Spanien (58) und von R Malanima (1998b) für Italien (142!) vermittelten Daten wurde sogar die Marke 480 überschritten. Geographisch war dieser Städtetyp am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vor allem in einer Zone vertreten, die von den Niederlanden (23) über Deutschland (23) und Frankreich (32) nach Italien (44) und Spanien (20) reichte. Deutliche Verdichtungen sind in der erstgenannten Zone sowie in Oberitalien erkennbar. Das 16. Jahrhundert brachte eine Steigerung u m über 40% auf 222 Einheiten, die wohl noch in den beiden ersten Dezennien des 17. Jahrhunderts anhielt und insbesondere von den Niederlanden im Norden sowie Spanien und Italien im Süden getragen wurde. Scharfe demographische Veränderungen - in den Mittelmeerländern seit den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts, in Zentraleuropa besonders während des Dreißigjährigen Krieges (1618— 48) und in Nord- und Nordosteuropa zur Zeit der Polnischen Kriege (1655-60) - bewirkten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein Absinken der Städtezahl unter die 200er-Grenze und eine Verschiebung der Gewichte. In Spanien halbierte sich die Zahl der großen Städte nahezu, in Italien gingen sie um ein Sechstel zurück, im Räume Deutschland - wenn auch nur vorübergehend - sogar um ein Viertel. In den beiden Niederlanden stagnierte die Entwicklung zwar hinsichtlich der Städtezahl, bezogen auf die Dimension der Urbanen Bevölkerung wies sie jedoch beachtliche Zuwächse auf (von 665.000 u m 1600 auf 1,018.000 um 1650). Lediglich in England (mit Wales) spiegelt sich eine dynamisierte Urbanisierung sowohl in Einheiten als auch in der Gesamtziffer der stadtsässigen Bevölkerung (von 255.000 um 1600 auf 718.000 u m 1700) wider (De Vries 1984:30, Tab. 3.3; abweichend Wrigley 1987a: 162; Corfield 1982:8). Im 18. Jahrhundert veränderte sich das Bild nochmals. Von den Fortschrittsregionen Nordwesteuropas konnte England, wo sich in der zweiten Jahrhunderthälfte Städtezahl (von 21 auf 44) und Stadtbevölkerung etwa verdoppelten, seine Stellung erheblich ausbauen (vergleichend Wrigley 1987a: 137-193). Auch „Belgien" weist zwischen 1750 und 1800 hohe Wachstumsraten auf, wogegen die Urbanisierung in
Verstädterung
28
und
Großstadtwachstum
Tabelle 5: Europäische Städte mit über 40.000 Einwohnern 1500-1800 (Zahlen in Tausend) (nach Bairoch/Batou/Chevre, Mols, Chandler u.a.) 1500 Paris Neapel Mailand Venedig Granada Lissabon Genua Florenz Rom Bologna Gent Palermo Lyon London Brescia Mälaga Valencia Ferrara Cremona Köln Rouen
1600 200 150 100 100 70 65 60 55 55 55 55 50 50 50 48 42 40 40 40 40 40
Neapel Paris London Venedig Sevilla Mailand Palermo Rom Lissabon Messina Genua Florenz Granada Amsterdam Valencia Bologna Prag Rouen Toledo Brüssel Danzig Wien Madrid Antwerpen Marseille Cordoba Verona Barcelona Augsburg Brescia Lyon Toulouse Valladolid Nürnberg Köln Magdeburg Hamburg
1700 280 250 200 140 126 120 105 100 100 75 71 70 69 65 65 63 60 60 50 50 50 50 49 47 45 45 45 43 42 40 40 40 40 40 40 40 40
London Paris Neapel Amsterdam Lissabon Venedig Rom Wien Madrid Palermo Mailand Lyon Sevilla Brüssel Marseille Florenz Granada Antwerpen Hamburg Genua Kopenhagen Rouen Bologna Dublin Lille Leiden Gent Valencia Danzig Rotterdam Messina Bordeaux Rennes Lüttich Stockholm Toulouse Barcelona Nantes Turin Köln Edinburgh Messina Dresden Nürnberg Breslau
1800 575 510 220 200 180 138 135 114 110 110 109 97 96 80 75 75 70 70 70 67 65 64 63 60 57 55 51 50 50 50 50 45 45 45 45 43 43 42 42 42 40 40 40 40 40
London Paris Neapel Wien Amsterdam Lissabon Berlin Madrid Dublin Rom Palermo Venedig Hamburg Barcelona Lyon Kopenhagen Marseille Bordeaux Sevilla Genua Manchester Liverpool Edinburgh Turin Rouen Florenz Valencia Glasgow Stockholm Prag Cork Warschau Brüssel Birmingham Cadiz Granada Bologna Bristol Antwerpen Lille Dresden Breslau Königsberg Rotterdam Liittich Messina Leeds Livorno Gent Mälaga Toulouse
948 581 430 232 217 195 172 169 168 163 135 135 117 115 110 101 101 96 96 91 84 83 82 82 81 81 80 77 76 77 75 75 74 71 70 70 64 64 60 60 60 60 59 57 55 55 53 53 51 51 50
Die städtische Fortsetzung
29
Bevölkerung Tabelle
5
1500
1600
1700
1800 Straßburg Orleans Sheffield Catania Plymouth Saragossa Köln Verona Danzig Nimes Amiens Murcia Cordoba München
Karte
I: Europäische
0
Ш
Ш
Großstädte
W
1000 Um
um
1500
49 48 46 45 43 43 42 42 41 41 40 40 40 40
30
Verstädterung
Karte II: Europäische Großstädte um 1600
0
250
SOО
VO
1000
km
und
Großstadtwachstum
Die städtische
Karte III: Europäische
0
ISO
31
Bevölkerung
SCЮ
TO
Großstädte um 1800
1ООО Um
32
Verstädterung
und
Großstadtwachstum
den Niederlanden stagnierte. Deutliche Urbanisierungsschübe sind im Königreich Frankreich sowie im Heiligen Römischen Reich ebenso zu erkennen wie in den „Randzonen", also in Skandinavien (vgl. Ericsson 1991; Fladby 1991), Polen oder Ungarn (Bäcskai 1995). Von den Mittelmeerregionen verzeichneten insbesondere Spanien und Süditalien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein kräftiges Stadtwachstum. Zahlenmäßig hat sich bis um 1800 ein gewisses Gleichgewicht zwischen Nord- und Westeuropa, Mitteleuropa sowie Südeuropa eingestellt. Verglichen mit den heutigen städtischen Agglomerationen waren auch die größeren der frühneuzeitlichen Städte klein, wenngleich schon um 1700 in zwei Fällen die 500.000er-Grenze überschritten wurde. Dem grundsätzlichen Stadtwachstum wird auch der Großstadtbegriff angepaßt werden müssen, für den um 1500 noch ein Wert von etwa 20.00030.000, für 1800 wohl schon von 50.000 Einwohnern angemessen erscheint (zu den Größenkategorien vgl. De Vries 1984:32-35; Bairoch/ Batou/Chevre 1988:276-282; zum Begriff „Weltstädte" I. Mieck in Fischer 1993:60f). Verfolgt man die Verteilung der Großstädte zu einem Mittelwert von etwa 40.000 über die drei Jahrhunderte hinweg, so bleibt während des 16. Jahrhunderts das mittelalterliche Erbe noch klar bestimmend. Von den 22 Großstädten um 1500 erscheinen zwölf, von den 37 im Jahre 1600 immerhin elf, von den 66 um 1800 jedoch nicht mehr als elf dem staatlich zersplitterten Großraum Italien zugeordnet. Hinter der Hauptstadt des süditalienischen Königreichs, Neapel, die von 1500 bis 1800 ihre Einwohnerzahl nahezu verdreifachte (150-430) und mit ihrer Dynamik lediglich auf Sizilien weitere Großstadtbildungen zuließ (Palermo, Messina, später auch Catania), bildeten die Mittelpunkte der nach und nach refeudalisierten Stadtstaaten und -republiken des Nordens weiterhin eine bemerkenswerte Gruppe. Venedig, um 1500 noch mit Mailand in gleicher Linie stehend (100), erreichte um die Mitte des 16. Jahrhunderts den alleinigen Spitzenplatz (158), den es aber schon im Laufe des 17. Jahrhunderts an Rom abtreten mußte. Die Hauptstadt des Kirchenstaates wiederum überwand die Stagnation im Gefolge der Plünderung durch Truppen Karls V. 1527 (sacco di Roma) nur schrittweise und wies erst nach Überwindung der Pest von 1656/57 rasch ansteigende Zuwachsraten auf. Um 1700 war Rom bereits die zweitgrößte Stadt Italiens und die siebentgrößte in Europa (135), u m im 18. Jahrhundert bei deutlich höherer Einwohnerzahl um drei Plätze zurückzufallen (für 1700-1800 vgl. zuletzt P. Bairoch in Bardet/Dupäquier 1998:211).
Die städtische
Bevölkerung
33
Innerhalb der Bandbreite von 40.000 und 70.000 Einwohnern lagen um 1500 weitere acht Städte, teils mit der Qualität staatlicher Mittelpunkte und Residenzen (Genua, Florenz, Ferrara), teils als sonstige Bestandteile größerer Herrschaftsverbände (Cremona/Mailand; Verona, Brescia/Venedig; Bologna/Kirchenstaat; Palermo/Sizilien). Die weitere demographische Entwicklung dieser Städtegruppe zweiter Größenordnung verlief unterschiedlich. Während Genua und Florenz etwa dem Muster von Mailand folgten und trotz schwerer Turbulenzen im 17. Jahrhundert eine Zunahme der absoluten Ziffern bei fortschreitendem Verlust an Plätzen in der europäischen Rangordnung erkennen lassen, blieb Bologna annähernd auf dem um 1550 erreichten Niveau (62-63), wogegen die kleineren Städte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Bevölkerungsverluste verzeichneten. Die Beispiele einer gegenläufigen, positiven Entwicklung bleiben zahlenmäßig unerheblich: Turin, das seit 1559 planmäßig zur Hauptstadt Piemonts ausgebaut wurde und seine Einwohnerzahl zwischen 1600 und 1700 und nochmals zwischen 1700 und 1800 auf 82.000 verdoppelte, sowie - auf bescheidenerem Niveau - Livorno, der von Staats wegen geförderte Hafen der Toskana (53). Eine Norditalien vergleichbare Massierung an Großstädten wies am Übergang zur Neuzeit kein weiterer der europäischen Räume auf. Daß Frankreich um 1500 drei und Spanien drei, zusammen mit Portugal vier derselben aufwies, kann über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß es sich in beiden Fällen um Großregionen handelte, die zudem aus verschiedenen Teilen mit eigenständigen Mittelpunktsbildungen zusammengewachsen waren. Im nördlichen Frankreich hatte das enorme Wachstum der Hauptstadt Paris, das zuerst von Neapel und im 17. Jahrhundert von London als größter Stadt (West-) Europas abgelöst wurde und seine Einwohnerzahl zwischen 1500 (200) und 1700 (575) nahezu verdreifacht hatte, das Potential für die Bildung weiterer Großstädte ausgeschöpft (Clark/Lepetit 1996:10-17). Größere Städte entwickelten sich somit erst in einiger Entfernung vom Zentrum, wie etwa Lyon (50), Rouen (40) oder Orleans - die für Tours zum Beginn der Neuzeit genannten Ziffern (60/65) erscheinen verdächtig - oder auf der Grundlage eines anderen historischen Kontexts, wie die Städte des Südens und Südwestens, Marseille, Bordeaux oder Toulouse. Der Abstand zwischen der Metropole und den Provinzgroßstädten nahm während der drei frühneuzeitlichen Jahrhunderte noch weiter zu. Um 1800 zählte Frankreich wohl weitere zehn Städte über der 40.000er-Grenze; ihre Einwohnerzahl zusammengenommen betrug mit 676.000 jedoch nur um etwa ein Fünftel mehr als jene von Paris
34
Verstädterung
und
Großstadtwachstum
(581), obwohl sich dessen Wachstum während des 18. Jahrhunderts deutlich verlangsamt hatte. Ihre Position hinter der Hauptstadt verteidigte mit Lyon (110), Marseille (101) und Bordeaux (96) eine Städtetrias, die sich auf alte merkantile oder gewerbliche Funktionen stützen konnte. Die industriellen Aufsteiger standen um 1800 erst in den Startlöchern (vgl. auch Meyer 1983:12; Benedict 1989b:24f). Entspricht somit die Ausweitung des französischen (Groß-) Stadtnetzes eher einem kontinuierlichen Muster, so ist die Urbanisierung der Iberischen Halbinsel durch mehrfache, teils abrupte Verschiebungen gekennzeichnet. Um 1500 besaßen mit Granada (70) und Malaga (42) zwei Städte des knapp zuvor der spanischen Krone unterworfenen arabischen Kalifats, mit Lissabon (65) die Hauptstadt Portugals sowie mit Valencia (40) jene des gleichnamigen Königreichs an der Mittelmeerküste Großstadtcharakter. Hinzu kam Sevilla (25), das wie Lissabon von der Öffnung in den atlantischen Raum profitierte. Beide Städte verzeichneten in der Folge enorme Zuwachsraten, die sie bis 1600 an die fünfte (Sevilla 126) bzw. neunte Stelle (Lissabon 100) der europäischen Rangordnung brachten. Die Kernzonen Spaniens, Aragon sowie Alt- und Neukastilien, wiesen wohl einige Städte in der Größenordnung zwischen 10.000 und 25.000 Einwohnern auf, die 40.000er Grenze überschritten jedoch nur Toledo und Valladolid während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Mit dem dynamischen Aufstieg Madrids, der nach einer langsamen Anlaufphase unter Philipp II. einsetzte und zwischen 1600 und 1800 nahezu zur Verdreifachung der Einwohnerzahl führte, sank ihre Bedeutung rasch; es folgte eine weitgehende Umorientierung des spanischen Städtenetzes (Ringrose 1983: 312). Um 1800 lagen die beiden Hauptstädte der Iberischen Halbinsel, Lissabon mit 195.000 und Madrid mit 169.000 Einwohnern, unangefochten an der Spitze; Sevilla (96) war von Barcelona (115), dem Zentrum Kataloniens, überholt worden, zudem hatten vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einige Hafen- und Gewerbestädte wie Cadiz, Murcia oder Zaragoza den Schwellenwert zur Großstadt überschritten. Die Niederlande als die neben Italien am stärksten urbanisierte Region Europas besaßen um 1500 wie Spanien eine beachtliche Zahl von großen Mittelstädten, zunächst mit vorwiegender Konzentration im Süden, in der hier zugrundegelegten Großstadtkategorie findet sich jedoch nur Gent (55). Antwerpen erlebte grandiosen Aufstieg - auf etwa 100.000 bis etwa 1565 - und tiefen Fall - nach der Eroberung durch Farnese und der Sperre der Scheide (1585) - innerhalb weniger Jahrzehnte. Mit einer Einwohnerzahl von ca. 47.000 lag es bereits um
Die städtische
Bevölkerung
35
1600 hinter Brüssel (50) und dem aufstrebenden Zentrum der abgefallenen nördlichen Provinzen, Amsterdam (65), konnte sich allerdings im 17. Jahrhundert nochmals auf etwa 70.000 Bewohner steigern. Damit rangierte es um 1700 weiterhin vor den Städten der zweiten Linie wie Leiden (55) oder Rotterdam (50) im Norden sowie Lille (57), Gent (51) oder Lüttich (45) im Süden. Amsterdam überschritt bereits 1622 die 100.000-Einwohnergrenze und wuchs bis 1700 auf über 200.000 an, womit es die viertgrößte Stadt in Europa war. Von der im 18. Jahrhundert deutlich werdenden Stagnation waren dann neben der Metropole auch die Städte an der Zuidersee (Randstad-Agglomeration) (Hohenberg/Lees 1985:242), jene im Landesinneren sowie letztlich die Großstädte des habsburgischen Südens betroffen. Es ist bemerkenswert, daß von den etwa 25 Städten Deutschlands, für die um 1500 eine Zahl von über 10.000 Einwohnern angenommen werden darf, nur eine, nämlich Köln (40), in die Großstadtdimension hineinragte. Im Reich könnte die Bischofsstadt am Rhein von Prag überragt worden sein, wenngleich die mitunter für die Hauptstadt Böhmens genannten Zahlen sowohl um 1500 (70) als auch um 1600 (100) deutlich überhöht erscheinen. Der demographische Aufschwung des 16. Jahrhunderts vermehrte die Zahl der Großstädte des Reiches nicht unerheblich, so daß am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges zu den bereits genannten der in Personalunion mit Polen verbundene Getreideumschlagplatz Danzig (50), Wien (50) als Zentrum der habsburgischen Länder sowie die Handels- und Gewerbeplätze Augsburg (42), Hamburg (40), Nürnberg (40) und Magdeburg (40) hinzugetreten waren. Ein Vergleich der Schnitte 1600 und 1750 verwischt die dazwischen liegenden demographischen Turbulenzen, macht aber auch jene Polarisierung deutlich, die sich zwischen Handelsstädten einerseits, Residenz- und Hauptstädten andererseits abzeichnet. Neben dem österreichischen Wien (175) bilden das brandenburg-preußische Berlin (113) sowie das sächsische Dresden (52) und als einzige Handelsstadt Hamburg (75) die Aufsteigerseite, wogegen Danzig, Köln oder Nürnberg an Einwohnerzahl verloren oder zumindest stagnierten. Dieser Trend verstärkte sich bis 1800 zunehmend, wobei lediglich Dresden nicht voll mithalten konnte. An der Wende zum 19. Jahrhundert besaßen die Hauptstädte der beiden Großreiche (Wien 232, Berlin 172) kaum viel weniger Einwohner als die übrigen sieben Großstädte des Reiches über der 40.000er Marke (Hamburg 117, Prag 77, Dresden 60, Breslau 60, Köln 42, Danzig 41, München 40) zusammen (vgl. Francois 1978). Außerhalb der Grenzen des Reichs lag die einwohnerstarke Hauptstadt des früheren Herzogtums Preußens, Königsberg (59).
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Grundfaktoren
der demographischen
GRUNDFAKTOREN DEMOGRAPHISCHEN
Entwicklung
DER
ENTWICKLUNG
Die zahlenmäßige Entwicklung der Populationen, bestimmt durch die Differenz zwischen Geburts- und Sterbeziffer sowie die Wanderungsbilanz, läßt sich für die frühneuzeitliche Stadt trotz zweifelloser Besserung der Quellensituation und zunehmendem demographischen Interesse nur vereinzelt oder annähernd bestimmen (zuletzt J. Dupäquier in Bardet/Dupäquier 1997:218-238). Beim Operieren mit verallgemeinernden Werten darf darüber hinaus nicht außer acht gelassen werden, daß keine Stadt voll der anderen gleicht, innerhalb der einzelnen Stadt unterschiedliche Muster nebeneinander gestanden haben und im zeitlichen Verlauf mehrfache Veränderungen, teils allmählich, teils abrupt und schubweise, aufgetreten sind. Nahezu jede Großstadt bestand aus mehreren Vierteln, die sich hinsichtlich Verbauung und damit Bevölkerungsdichte erheblich voneinander unterscheiden konnten. Wurden im alten Zentrum Werte zwischen 300 und 500 Einwohner pro Hektar erreicht, die in Extremfällen über 1.000 ansteigen konnten, so waren die Vororte außerhalb der Mauern meist stärker mit agrarischen Flächen durchsetzt, die geringere Höhe der Häuser korrespondierte mit einem niedrigeren Belag bis hin zur Kongruenz von Haus und Haushalt. Beispielsweise zählte in London 1695 die Hälfte der intramuralen Pfarren mehr als 500 Einwohner pro Hektar, während außerhalb der Mauern die Dichte teilweise unter 100 absank. Für das Stadtgebiet als Ganzes darf man allerdings mit einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von über 300 Einwohnern pro Hektar rechnen. In einzelnen zentralen Bezirken von Paris überschritt die Dichte um 1773 die 800-Personen-Grenze, in den Vierteln, die sich entlang der alten radialen Ausfallsstraßen entwickelt hatten, lag sie meist um 200, jenseits der Mauern in den durch die Generalpächter im 18. Jahrhundert neu angelegten Stadtteilen oft unter 100 (Chaunu 1968:437f)· Die hier für westliche Großstädte genannten Werte wurden vor allem im Norden und Osten des Kontinents erheblich unterschritten. In einer Stadt der Großen ungarischen Tiefebene wie Debreczin wohnten 1785 auf einer verbauten Fläche von 250 ha nur 30.064 Menschen, das waren etwa 120 pro Hektar (Deäk 1989/11/1:249, 251). Zu Unterschieden in der Dichte konnten solche in der Struktur hinzutreten. So verfügte Lüttich am Ende des 18. Jahrhunderts (1790) im Zentrum über einen Jugendlichenanteil von 16%, außerhalb der Mauern aber von 30-35% (Lottin/Soly 1983:224). Vergleicht man die Durch-
Die städtische
Bevölkerung
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schnittswerte der Behausungsziffern, streuten diese in Frankreich um 1770 zwischen 24,5 für die Metropole Paris und etwa 4 bis 5 für Kleinstädte wie Nogent-sur-Seine oder Boulogne. Daß allerdings die Größe keineswegs eine fixe Kategorie darstellen mußte, beweist wiederum ein Vergleich zwischen den hinsichtlich der Einwohnerzahl nahe beieinander liegenden Städte Bordeaux und Nantes, wo die entsprechenden Werte 1793 4,5 bzw. 17 lauteten (Meyer 1983:136). Relativ früh erkannte man die für die vorindustrielle Gesellschaft charakteristischen Stadt-Land-Unterschiede hinsichtlich der demographischen Faktoren Mortalität oder Fertilität. So hat bereits der „politische Arithmetiker" John Graunt (1620-74) anhand der für London seit Ende des 16. Jahrhunderts veröffentlichten Sterbelisten (Bills of Mortality) u.a. festgestellt, daß verhältnismäßig mehr Geburten auf dem Lande und mehr Sterbefälle in der Stadt erfolgten und London gar wie eine Friedhofsstadt (graveyard) erscheine. Auch der lutherische Kaplan der preußischen Armee Johann Peter Süssmilch sprach von einem Überhang der Sterbefälle in den Städten und meinte, die Stadtbevölkerung einer Nation würde sich im Sinne der Zunahme besser auf mehrere kleinere Städte verteilen, als sich auf wenige große wie Paris, Berlin oder Wien zu konzentrieren (vgl. De Vries 1984:179). Spätere Generationen folgten der Ansicht, daß städtische Populationen in der Regel unfähig sind, sich selbst zu reproduzieren, so daß das Stadtwachstum von der Zuwanderung vom Lande abhängig wird. Für London wurde beispielsweise darauf verwiesen, daß zufolge des Zusammenfallens von starkem Wachstum und exzessiver Mortalität nach 1650 die Rekrutierung der Immigranten das ganze Land erfaßt haben muß, und auch für niederländische Städte wurde gezeigt, daß von den Mittelpunkten ein derartiger Sog auf das umgebende Land ausging, daß dort Wachstum unmöglich wurde (Wrigley 1987b). In jüngerer Zeit wurde die These von der städtischen Hypermortalität in Frage gestellt und dabei immerhin auf die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung aufmerksam gemacht. Geht man von dem von R. Mols zusammengetragenen Material aus, so lag die Mortalität der europäischen Gesellschaften der frühen Neuzeit in Durchschnittsjahren zwischen 30 und 40%o in den Städten und zwischen 25 und 35%o auf dem Lande. In Krisenzeiten im Zusammenhang mit Kriegen, Hungersnöten und Seuchen konnten die Werte extrem ansteigen, wie beispielsweise während der Pest 1665 in London auf 28% oder 1630 in Pavia auf 25% (R. Mols in Cipolla/Borchardt 1979:44-46). Ein Faktor der hohen städtischen Mortalität waren zwei-
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Grundfaktoren
der demographischen
Entwicklung
fellos die schlechten hygienischen Bedingungen, ein aus dem Zusammenwirken von Schmutz, Gestank und Ungeziefer bestimmtes „milieu parthogene" (R. Gascon), das mit der Zunahme von Bevölkerungsdichte und Massenwohnen seine unheilvolle Ausprägung erfuhr. Andererseits sollte der Stellenwert der Wohnstrukturen im Hinblick auf die sich mit dem beginnenen Industriezeitalter noch erheblich verschlechternden Umstände nicht überbewertet werden. Zu einem guten Teil verantwortlich für die hohe Mortalitätsrate war die im Vergleich zur Gegenwart exorbitante Säuglings- und Kindersterblichkeit, die selbst in relativ „sauberen" Städten die Alterssterblichkeit übertraf. So starben beispielsweise in Genf zwischen 1625 und 1684 von 1.000 Kindern im ersten Lebensjahr 264 und weitere 185 in den folgenden vier Jahren, insgesamt also etwa 45% vor jener Lebensphase, in welcher ein deutlicher Anstieg der Überlebenschancen einsetzte (Perrenoud 1975). Die mittlere Lebensdauer hat allerdings auch unter normalen Bedingungen 30 Jahre kaum überschritten, wobei die Sterberate bei den Frauen etwas unter jener der Männer lag. Obwohl die Mortalität im ganzen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zurückging, blieb die Kindersterblichkeit extrem hoch: In Nottingham sank die Rate der Unterzwanzigjährigen von maximal 55% im Zeitraum 1701-50 auf lediglich 52% zwischen 1750 und 1801, in London von 51,7% zwischen 1730 und 1749 auf 49,2% im Abschnitt 1790-1806 (Corfield 1982:117f). Da eine konkrete Feststellung der Todesursachen kaum möglich ist, bleibt man hinsichtlich des Mischungsverhältnisses zwischen endogenen (Geburtsschwierigkeiten, Erbanlagen) und exogenen Faktoren (Infektionen, Hygiene- und Ernährungsmängel) auf Vermutungen angewiesen. Zweifellos in den Bereich der letzteren sind die zahlreichen Todesfälle im kindlichen Alter zu stellen, die für Waisen- und Findelhäuser überliefert sind oder aus der insbesondere für Frankreich nachgewiesenen Mode resultierten, Säuglinge zu einer Amme aufs Land zu geben, wo das Stillgeschäft für Unterschichtenfrauen einen gesuchten Nebenerwerb bot (Bardet 1983:288-302; Bardet 1990: 273-276; zuletzt A. Perrenoud in Bardet/Dupäquier 1997:287-315). Dem Stellenwert der professionellen Ammentätigkeit wurde in der Forschung besonderes Augenmerk zuteil. Aufbauend auf dem Wissen, daß im Säuglingsalter lediglich die weibliche Milch den Kindern eine reelle Überlebenschance bot, wurden zahlreiche Babies, in manchen Städten bis zu 80%, an ländliche Ammen zur Aufzucht und Pflege übergeben. Da aber gerade die Wohn- und Lebensverhältnisse dieser Nährmütter denkbar schlecht waren, wuchs sich die genannte Ein-
Die städtische
39
Bevölkerung
Tabelle 6: Überlebensrate von Kindern aus zwischen 1625 und 1684 in Genf geschlossenen Ehen (Basis 1.000) (nach Perrenoud, Friedrichs) Alter
Noch am Leben
0
1.000
1
736 551 487 438 388 326 260 182 104 28 2 0
5 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Verstarben in der folgenden Periode 264 185 64 49 50 62 66 78 78 76 26 2 -
Mortalitätsquotient
264 251 116 101 114 160 202 300 429 731 929
1.000 -
richtung zu einem System des sozialen Infantizids aus. Überliefert ist das Beispiel einer Amme in einer Gemeinde westlich von Paris aus den Jahren 1784/85, für deren Haushalt im Zeitraum von 15 Monaten der Tod von nicht weniger als 31 Säuglingen registriert wurde (Imhof 1981:64-67; allgemein Sussman 1982). Hier handelte es sich zweifellos u m einen Extremfall. Der durchschnittlichen Situation näher kommt die Berechnung Bardets für Rouen, wo bei einer Kindersterblichkeit von einem Drittel im ersten Lebensjahr das Sterberisiko der weggegebenen Kinder um 50% höher lag als derjenigen, die im Hause aufgezogen wurden (Bardet 1983:371-373). Zu beachten ist freilich auch, daß mit der Verkürzung der Stillphasen der Mütter neue Konzeptionen begünstigt wurden. Bisherige Untersuchungen machen wahrscheinlich, daß die Geburtenziffer als zweite wichtige demographische Kennzahl nicht so starken Schwankungen unterworfen war wie die Sterbeziffer und sich vor der Mitte des 18. Jahrhunderts meist zwischen 30%o und 40%o - vom städtischen zum ländlichen Milieu ansteigend - bewegte. Herausgegriffen sei mit Venedig und seinem Umland (mehrere Pfarren) ein Beispiel, das diese Aussage für nahezu zwei Jahrhunderte bestätigt (Sonnino 1982:60, Tab. 6; vgl. auch Bellettini 1987:72f). Es ist evident, daß die Natalitätsziffer nicht in erster Linie von der Gesamteinwohnerzahl, sondern von der Größe jener Bevölkerungsgruppen abhängig war, die sich aufgrund ihrer natürlichen, ökonomischen, normativen und mentalen Voraussetzungen zur Fortpflanzung eigneten. Heiratsziffer und Heiratsalter, weibliche Fruchtbarkeitsdauer,
Grundfaktoren
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der demographischen
Entwicklung
Tabelle 7: Natalität, Mortalität sowie natürliche Bevölkerungsbilanz einzelner Pfarren Venedigs und der Terra ferma, 1601-1790 (P = Pestjahr) (nach Sonnino) Periode
1601-1610 1611-1620 1621-1630 1631-1640 1641-1650 1651-1660 1661-1670 1671-1680 1681-1690 1691-1700 1701-1710 1711-1720 1721-1730 1731-1740 1741-1750 1751-1760 1761-1770 1771-1780 1781-1790
Natalität Venedig Terra ferma 33,1 26,7 32,7 38,4 33,3 30,9 34,7 33,1 28,8 29,7 30,7 30,5 32,8 32,5 33,5 34,4 32,2 31,1 32,3
43,6 40,7 36,1 37,2 36,5 37,7 35,2 37,0 37,5 39,5 37,4 39,2 41,9 39,7 40,4 41,3
Mortalität Venedig Terra ferma 33,4 33,9 57,3 (P) 43,3 (P) 33,9 29,3 32,3 32,9 32,0 30,4 29,0 32,7 31,1 34,2 38,3 38,2 36,6 35,9 37,4
24,6 21,9 20,7 22,7 26,5 25,2 29,9 28,7 31,2 32,7 33,1 32,4 38,3 36,5 36,2 36,4
Natürliche Bilanz Venedig Terra ferma - 0,3 - 7,2 -24,6 - 4,9 - 0,6 1,6 2,4 0,2 - 3,2 - 0,7 1,7 - 2,2 1,7 - 1,7 - 4,8 - 3,8 - 4,4 - 3,8 - 5,1
19,0 18,8 15,4 14,5 10,0 12,5 5,3 8,3 6,3 6,8 4,3 6,8 3,6 2,2 4,2 4,9
Empfängnisverhütungs- und Wiederverheiratungspraxis sowie Zölibatsvorstellungen sind damit die wichtigsten Parameter, die freilich zumeist nur unzureichend quantifizierend erfaßt werden können (zuletzt J.-P. Bardet in Bardet/Dupäquier 1997:316-343). In einer frühneuzeitlichen Stadt geboren zu werden, bedeutete im Normalfall, als Kind einer ehelichen Verbindung zu entstammen. Illegitimität war wohl in den Städten meist höher als auf dem Lande, die Quoten blieben allerdings bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts relativ niedrig. So bewegten sie sich in acht untersuchten Londoner Pfarren im Zeitraum 1540 bis 1650 zwischen 0,6 und 2,6% und erreichten nur in einem Fall den Wert von 4,3%. In Straßburg wurde zwischen 1560 und 1650 sogar die Einprozentmarke nur fallweise überschritten (Friedrichs 1995:121). Eine Zäsur, die sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts abzeichnet, wurde (zusammen mit Kindesweglegungen) für 40 italienische Zentren festgestellt, bezeichnet darüber hinaus aber ein europäisches Phänomen. Hatte sich hier in einzelnen Städten während der ökonomischen Krise der anderthalb Jahrhunderte vor 1750 sogar ein Rückgang der Illegitimitätsziffern ergeben in Pavia von 3,7 auf 1,6%, in Cuneo von 2,9 auf 0,2% usw. - , so stiegen
Die städtische
Bevölkerung
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die Zahlen für „irreguläre" Geburten parallel zum rascheren Bevölkerungswachstum ab 1750, besonders deutlich aber im letzten Dezennium des 18. Jahrhunderts an: Verdoppelungen innerhalb eines Jahrzehnts waren dann häufig, wobei sich der Großteil der Zunahme bei den Kindesweglegungen abzeichnet, während die Zahl der offiziell in den Registern eingetragenen unehelichen Geburten eher gleichblieb (Da Molin 1982). Für Paris wurde festgestellt, daß der Jahresdurchschnitt der Aufnahmen in den Findelheimen bereits im Verlaufe des 17. Jahrhunderts erheblich angestiegen ist; zwischen 1750 und 1770 wurde etwa die Hälfte der Pariser Kinder außerhalb ihrer Familie geboren (31% Illegitime) (Meyer 1983:56). Die 1784 von Joseph II. in Wien gegründete k.k. Gebär- und Findelanstalt, die jährlich zwischen 2.000 und 3.000 Kinder aufnahm, diente, wie mitunter auch anderswo, der Rekrutierung billiger Arbeitskräfte für die im Umfeld der Metropole entstandenen Fabrikswaisenhäuser und Manufakturen (Klueting 1993:29). Die Fruchtbarkeit der frühneuzeitlichen Ehe konnte beträchtlich sein und äußerte sich nicht selten in zweistelligen Geburtenzahlen. Kalkuliert man allerdings verlängerte Stillzeiten, Tot- und Fehlgeburten sowie Aussetzung des Geschlechtsverkehrs in Büß- und Fastenzeiten mit ein, so lassen sich für eine Ehe mit einer Fertilitätsdauer von 25 Jahren acht bis zehn Geburten, für eine solche mit 15 Jahren - und das dürfte letztlich die Mehrzahl gewesen sein - nur mehr vier oder fünf annehmen. Das Heiratsalter der Frau wurde somit zu einem entscheidenden Parameter für die Fertilitätsrate und mit seiner Heraufsetzung zur „veritable arme contraceptive de l'Europe classique" (P. Chaunu, 1968). Hingegen blieben Maßnahmen einer innerehelichen Geburtenkontrolle zunächst ohne größere Bedeutung. Das im Zeitraum von 1500 bis 1800 sich mehrmals ändernde Verhältnis zwischen Bevölkerungsgröße und Agrarressourcen bedingte, daß das Heiratsalter und in zweiter Linie auch die Heiratshäufigkeit entsprechend den sozioökonomischen Rahmenbedingungen Schwankungen unterworfen waren. Grundmuster war die Bindung der Heirat an das Vorhandensein eines Haushalts mit eigener Nahrungsbasis, d.h. an eine Hofstelle oder - insbesondere im städtischen Milieu - an einen Handwerks- oder Gewerbebetrieb. Bezogen auf die säkularen Gunst- oder Ungunstlagen bedeutete dies, daß im 16. Jahrhundert das Heiratsalter niedrig lag und die Geburtenziffern relativ hohe Werte aufwiesen, wobei zusätzliche Impulse in protestantischen Gegenden von der Aufhebung des Zölibats kamen. Seit den Hungerskrisen der siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts zeichneten sich Veränderungen ab, die
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Grundfaktoren
der demographischen
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im Laufe des 17. Jahrhunderts in den meisten Ländern in die Herausbildung des sogenannten „europäischen Heiratsmusters" (J. Hajnal) einmündeten. Verschiebung des Heiratsalters in spätere Jahre und Beschränkung der Kinderzahl wurden zu ineinandergreifenden Phänomenen. Das Problem des Rückgangs der Fertilität in der frühneuzeitlichen Stadt ist mit dem Hinweis auf die zwischen Bevölkerungszahl und Ressourcen bestehenden Mechanismen allerdings noch nicht erschöpfend behandelt. Mitunter übte die politische Instanz Druck aus, um die Kinderzahl zu begrenzen, wie etwa im England des 16. Jahrhunderts. Ein von J.-P. Bardet für Rouen und von J. Perrenoud für Genf festgestelltes Phänomen war eine zunächst von der Elite betriebene Geburtenkontrolle, die sich nach und nach auch in den unteren Schichten und auf dem umgebenden Land verbreitete. Betrug beispielsweise die durchschnittliche Familiengröße in Rouen 1670/89 noch 7,65 Personen, so sank sie bis 1790/1809 auf 4,20 ab. Der Prozeß begann zu einem Zeitpunkt, als sich die Fertilität durch ein Anheben des Heiratsalters nicht mehr begrenzen ließ, und war anfangs begleitet von einem Rückgang der Nuptialität, die allerdings mit Festigung der freiwilligen Geburtenkontrolle als Regulationsfaktor an Bedeutung verlor (Bardet 1990; Perrenoud 1990). Nuptialität (Heiratsziffer) und Fertilität konnten freilich auch noch durch andere Faktoren ihre Bestimmung erfahren. Lag die Eheschließungsziffer im 17. Jahrhundert zumeist zwischen 8 und 12%o, so stieg sie insbesondere im Anschluß an Zeiten mit hoher Sterbeziffer, nach Kriegen und Seuchen, rasch an, wobei die Wiederverheiratung von Männern einen besonderen Stellenwert erlangen konnte. Weiters konzentrierten die Städte jene Gruppen, die spät oder überhaupt nicht heirateten. Die katholische Geistlichkeit und das Gesinde, das vor allem bei Oberschichtenhaushalten sehr zahlreich sein konnte, sind typische Vertreter dieser Kategorien. So verfügten im Paris des Ancien Regime die sechs reichsten Quartiere (ein Drittel von 18) über 58% der Domestiken der Stadt, wobei sich im „aristokratischen" Milieu die männliche Dienerschaft in der Überzahl befand, z.B. im Viertel Saint-Germain im Verhältnis 67 zu 33 (Meyer 1983:52f). Zudem waren die Städte oftmals durch ein Ungleichgewicht in der Geschlechterverteilung charakterisiert. Es ist damit zu rechnen, daß sich - ausgehend von einem Verhältnis von 104/05 Knaben zu 100 Mädchen bei der Geburt - bis zum Alter von 14 Jahren bereits ein Überschuß des weiblichen Geschlechts ergab, der nach einer möglichen gegenläufigen Phase vor dem 40. Lebensjahr in einen Frauen-
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Bevölkerung
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Tabelle 8: Geschlechterverteilung nach dem Alter in ausgewählten Städten (nach Beloch, Galley, A. Santini in La demografia storica 1982) Alter
81 + 71-80 61-70 51-60 41-50 31-40 21-30 11-20 6-10 0- 5
Carpi 1591 Männer Frauen 0,3 0,6 1,8 5,9 9,2 13,0 16,3 24,2 15,5 13,0
0,1 0,4 1,4 5,9 9,8 14,6 17,7 23,5 13,8 12,8
Gesamt 100,0
100,0
Alter
Lichfield 1695 Männer Frauen
70 + 60-69 50-59 40-49 30-39 20-29 10-19 5- 9 0- 4
Turin 1802 Männer Frauen
0,9 3,9 5,7 10,0 15,5 11,3 22,4 17,4 12,8
1,3 6,3 6,3 7,8 16,0 18,7 19,1 11,7 12,9
2,2 6,7 11,1 14,7 16,5 13,6 18,3 7,9 9,0
2,0 5,1 8.5 13,9 17,5 18,8 17,9 7,7 8,6
100,0
100,0
100,0
100,0
Tabelle 9: Altersverteilung in Wien, Prag und anderen Städten 1754 (nach Sharlin) Wien Männer Frauen 50 + 40-49 20-39 15-19 0-14 Gesamt
Prag Männer Frauen
österreichischen
andere Städte Männer Frauen
14,4 12,7 38,1 8,5 26,3
13,5 12,0 39,9 10,6 23,9
13,0 11,9 36,6 12,1 26,5
13,7 12,4 39,5 12,1 22,3
13,0 12,1 32,2 9,2 33,5
13,1 11,8 35,0 10,2 29,9
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Überschuß einmündete, der bis zu 20/30% (80:100 etwa in Reims, Brügge, Zürich), in Sonderfällen, etwa in Städten mit einem hohen Frauenanteil unter den Beschäftigten wie in bestimmten Sparten des Textilgewerbes, bis zu 50% betragen konnte (zum städtischen Frauenüberschuß vgl. A. Fauve-Chamoux/R. Wall in Bardet/Dupäquier 1997:358f). Allerdings sind die wenigen über einen längeren Zeitraum erhaltenen Datensätze insgesamt nur bedingt aussagekräftig. Zeigen einzelne Beispiele einen Männerüberschuß im Alter, so gab es Stadttypen, in denen dieser strukturell bedingt war. Hierzu zählen vor allem Garnisons-, Universitäts- und Hafenstädte. Ebenso konnten Stadtorte mit zahlreichen geistlichen Kommunitäten einen Überschuß an Männern aufweisen. Ein Extremfall war in diesem Zusammenhang sicher das Zentrum der Christenheit, Rom, wo zwischen 1605/30 100
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der demographischen
Entwicklung
Frauen 163-175 Männer gegenüberstanden. Der Zeitraum 1631-99 weist eine leichte Abnahme auf 135-155 zu 100, das 18. Jahrhundert eine starke auf schließlich 110 zu 100 auf. In absoluten Werten zählte die geistliche Bevölkerung um 1600 etwa 6.000/6.500 Individuen; sie stieg dann bis 1640 auf 7.500/8.500 an und blieb auf dieser Höhe bis zur französischen Herrschaft (1798), um dann rasch auf 4.000 abzusinken. Freilich war der hohe Männeranteil niemals allein durch die Geistlichkeit determiniert, vielmehr bedingte zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Anwesenheit zahlreicher Hofhaltungen mit bis zu 200 Höflingen und Domestiken das deutliche Ungleichgewicht (Schiavoni/ Sonnino 1982). In Venedig wich der im 16. Jahrhundert bestehende Männerüberschuß im Laufe des folgenden Säkulums einem Frauenüberschuß, wofür vor allem der Wandel der wirtschaftlichen Umstände als verantwortlich gilt. Es wurde bereits allgemein auf die Kontroverse hinsichtlich des Problems der Reproduktionsfähigkeit der Städte in Zeiten einer hohen Mortalität und die Rolle der Immigration verwiesen. Gegenüber der traditionellen Sicht vertrat A. Sharlin (1978) die These, es seien gerade die Immigranten gewesen, die den Überhang der Todesrate erzeugt hätten. Während die Ansässigen ein gesellschaftlich integriertes Leben führten und eine entsprechende Nachkommenschaft hervorbrachten, kamen die Zuzügler meist als junge Erwachsene, viele heirateten niemals, setzten somit auch keine Kinder in die Welt und finden sich lediglich in den Sterberegistern. Mangels ausreichenden oder auch zufolge kontroversen Datenmaterials ist die Frage kaum befriedigend zu klären. Insbesondere hat A.M. van der Woude (1982:bes. 70-74) am konstanten und universellen Charakter des natürlichen Defizits gezweifelt (vgl. dazu Tabelle 10).
Tabelle 10: Demographische Bilanz ausgewählter italienischer Städte: Verona, Perugia und Neapel (nach Sonnino, vgl. auch Tabelle 7) Zeitraum
1731-1740 1741-1750 1751-1760 1761-1770 1771-1780 1781-1790 1791-1800
Verona
- 5,6 -4,0 -2,6 -0,1 - 1,3 -2,8 -7,1
Zeitraum
Perugia
1660-1669 1700-1709
- 10,6 - 18,3
1750-1759
- 1,4
1790-1799
- 3,4
Zeitraum
1769-1779 1780-1789 1790-1797
Neapel
9,9 8,2 4,7
Die städtische
Bevölkerung
45
Sharlin fand Unterstützung für seine These in Daten für Frankfurt am Main, wo zwischen 1650 und 1800 die bürgerlichen Familien wohl einen Geburtenüberhang, die Nichtbürger hingegen einen erheblichen Fehlbetrag aufwiesen (Sharlin 1978:127; De Vries 1984:182). Auch für Madrid konnten, ausgehend von einer zweigeteilten Gesellschaft mit einem stabilen Kern aus Adeligen, Kaufleuten, Beamten und Handwerkern sowie einer fluktuierenden Randschicht von Zuwanderern als Gesindekräften und Lohnarbeitern Unterschiede im Reproduktionsvermögen wahrscheinlich gemacht werden (Ringrose 1983). Geht man weiters von Untersuchungen für Genf aus, die positive Zusammenhänge zwischen ökonomischer Position und Lebenserwartung aufzeigen konnten - diese betrug 1650-84 für dort geborene Frauen 26,5 Jahre, für zugewanderte jedoch nur 22,7 - , so erhält man grundsätzliche Argumente für die Katalysatorwirkung der Klassenstruktur (Perrenoud 1975), wenngleich nicht des Immigrantenstatus, für die (städtische) Reproduktionsfähigkeit. Für Ravenna wurde der große Abstand in der Mortalität zwischen Städtern und Vorstädtern aufgezeigt (Bolognesi 1982b). In dieselbe Reihe stellt sich auch die am Beispiel von Genf, Amsterdam oder Würzburg gemachte Feststellung, daß der Heiratsmarkt Ansässige vor den Zugewanderten begünstigte und damit die Fremden und meist auch sozial Schwächeren hinsichtlich der Fertilitätsspanne benachteiligte (De Vries 1984:179-198). Dieselben Arbeiten wurden allerdings auch von der Gegenseite ins Spiel gebracht. So läßt sich wiederum am Beispiel von Genf, daneben auch an jenem von Rouen, feststellen, daß die Bevölkerung der beiden Städte in keiner Phase des 17. und 18. Jahrhunderts eine demographisches Wachstum ermöglichende Nachkommenschaft produzierten. Ohne Zuwanderung wäre beispielsweise in Genf die Einwohnerzahl im 17. Jahrhundert jährlich um 0,35%, im 18. um 0,75% gesunken (Perrenoud 1975; Benedict 1989b: 14f; zusammenfassend J.-P. Poussou in Bardet/Dupäquier 1997:280). In Plymouth gab es zwischen 1582 und 1640 mehr Begräbnisse als Taufen, obwohl sich die Einwohnerzahl im genannten Zeitraum verdoppelte, und Norwich wuchs zwischen 1582 und 1640 um 5.000 Bewohner bei einem gleichzeitigen Überhang der Todesfälle von etwa 10.000 (Clark/Slack 1976:86). In Toulouse betrug das Defizit zwischen 1650 und 1700 7.200 Menschen und in Straßburg zwischen 1600 und 1630 gar 17.000, das sind mehr als die Hälfte der Geburten (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:52). Beachtung erfordert weiters auch die hohe Umschlagsgeschwindigkeit der Bevölkerung, wie etwa das Beispiel Vannes im 18. Jahrhundert zeigt, wo innerhalb eines Jahrfünfts 43% der Haus-
Grundfaktoren
46
der demographischen
Entwicklung
haltsvorstände aus den Steuerlisten verschwanden bzw. ersetzt wurden (Le Goff 1981:49). Wie Tabelle 10 hinsichtlich Neapel im späten 18. Jahrhundert zeigt, sollten die Städte allerdings nicht durchwegs als „consumers of men" (Clark/ Slack) verstanden werden; vielmehr dürfte mit fallender Größe der Stadt auch ein natürliches Wachstum möglich geworden sein. So wies Exeter zwischen 1571 und 1700 um 5.000 Taufen mehr als Todesfälle auf (Clark/ Slack 1976:88), das dynamisch wachsende Livorno verzeichnete im Zeitraum 1615-33 einen Überschuß von etwa 10% (Sonnino 1982:74, Tab. 22a), in Meulan wurde zwischen 1680 und 1719 immerhin ein Gleichgewicht erreicht, ähnlich war die Situation in Koblenz oder Eßlingen (Friedrichs 1995:117). Insgesamt blieb die Zahl der Fälle mit positiver Bevölkerungsbilanz jedoch erheblich hinter den defizitären zurück. Umgelegt auf die Mehrzahl der mittel- und großstädtischen Gebilde wird - ungeachtet der eben aufgezeigten Ausnahmen - zweierlei festzuhalten sein: Ursache für den hohen Anstieg der städtischen Mortalität und mit ein Hauptgrund, daß in der längerfristigen Entwicklung nur wenige Städte einen natürlichen Bevölkerungsüberschuß erzielten, waren die bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts immer wiederkehrenden Seuchen. Und weiter: Zur Aufrechterhaltung der städtischen Population und insbesondere zur Ermöglichung eines städtischen Wachstums war Zuwanderung notwendig, auch wenn das Reproduktionspotential der Immigranten anfangs hinter jenem der Angesessenen zurückstand. Blendet man wieder zurück zu den von Graunt bearbeiteten „Bills of Mortality", so übertrafen in London im Zeitraum 1604-1643 die Todesfälle die Geburten um 100.000, wobei zwei Drittel derselben auf die Pest zurückzuführen sind. Dieser Seuche fielen auch 70-90% der Menschen in jenen fünf Jahren zwischen 1563 und 1663 zum Opfer, in denen die Sterbeziffer die 10-Prozent-Marke überschritt. Anteilsmäßig die höchsten Verluste brachten die Pestwellen am Anfang und Tabelle 11: Lätaler Ausgang von Infektionskrankheiten 1665 im Vergleich (nach Appleby bei Friedrichs) Krankheit
Schwindsucht (Tuberkulose) „Fieber" Feuchtblattern Typhus Pest
in London 1657-
1657-1664 (jährl. Durchschnitt)
1665
3.368 2.213 847 178 14
4.808 5.257 655 1.929 68.596
Die städtische
47
Bevölkerung
am Ende der Periode: das Jahr 1563 mit 27% bei 23.660 Sterbefällen sowie das Jahr 1665 mit 28% bei 97.306 Toten (R. Mols in Cipolla/ Borchardt 1979:45; vgl. auch A. Perrenoud in Bardet/Dupäquier 1997:314). Die Extraordinarität des Seuchenzuges am Beginn des letzten Drittels des 17. Jahrhunderts wird auch aus einem Vergleich der wahrscheinlichen Todesursachen erkennbar.
KRISEN,
KRIEGE
UND
EPIDEMIEN
Die Krisengeschichte der frühneuzeitlichen Stadt kennt im wesentlichen drei Schwerpunkte: Hungersnöte, Kriegsläufte, zumeist mit Seuchen im Gefolge, und am verheerendsten die großen Pestepidemien, die Europa vom 16. bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts mehrmals heimsuchten. Gegenüber den durchschnittlichen Sterbeziffern von 30 bis 40%o wurden in den Katastrophenjahren Steigerungen auf das Fünfbis Fünfzehnfache konstatiert. Die Pestausbrüche erreichten ihren Höhepunkt zumeist im Spätsommer und Frühherbst, einer Zeit, zu der Ratten und Flöhe sich besonders stark vermehrten. Wohl wußte man um die Ansteckungsgefahr, blieb aber hinsichtlich der Übertragungsmechanismen weitgehend im unklaren, so daß die Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung, die vorwiegend auf die Reduktion der menschlichen Kontakte (Seuchenspitäler, Kordone) hinausliefen, nur wenig griffen (als Beispiel Venezia e la peste 1979). Die beste Strategie war das rasche Verlassen der Stadt, wobei die Wohlhabenden den Armen in ihren Möglichkeiten ebenso überlegen waren wie hinsichtlich der Abwehrkräfte gegenüber der Seuche im allgemeinen. Vielfach waren die Muster, nach denen die einzelnen europäischen Regionen von den Apokalyptischen Reitern heimgesucht wurden, divergent. Neben Einschnitten mit überregionaler Bedeutung, wie etwa der Versorgungskrise der neunziger Jahre des 16. Jahrhunderts mit nachfolgenden Hungersnöten, gab es die individuelle Betroffenheit, die sich hinsichtlich Zeitpunkt, Dauer und Umfang der Verheerung unterscheiden konnte. Gemeinsam war West- und Mitteleuropa wiederum das Verschwinden der Pest nach 1670, wobei Ausbrüche 1713 in den habsburgischen Ländern (1713/14 in Prag 10.350 Opfer) sowie 1720 in Südfrankreich das Ausklingen markieren. Die Gründe hiefür sind unklar, doch dürften ökologische und zoologische Faktoren eine Rolle gespielt haben (vgl. u.a. Vasold 1991:174-177). Im folgenden sei hinsichtlich der Darstellung des Krisengeschehens einer Beschränkung auf drei zentrale Räume - England, Deutschland und Italien gegenüber einer erschöpfenden Erfassung der Vorzug gegeben.
48
Krisen,
Kriege
und
Epidemien
In englischen Städten hinterließen die Pestzüge der Jahre 1563, 1593, 1603, 1625 und 1665 wohl die tiefsten Spuren, doch finden sich daneben noch eine Reihe weiterer demographisch wirksamer Katastrophen. Hierher zählen etwa die Grippeepidemie der Jahre 1557/58, die Typhuszüge während der Zeit des Bürgerkriegs und fallweise Ausbrüche von Ruhr und Pocken, die epidemische Dimensionen erreichen konnten. Nach Subsistenzkrisen in den 1520er Jahren blieb auch in den folgenden Jahrhunderten die Getreideversorgung ein Problem, was sich in hohen Todesraten niederschlug, wobei weniger der Nahrungsmangel selbst als die durch die schlechte Ernährung geminderte Resistenz gegenüber Infektionskrankheiten dem Tod das Feld bereitete (Clark/ Slack 1976:86). Die Migrationsmuster kehrten sich unter solchen Umständen um. Während in Seuchenzeiten die Reichen die Städte verließen, füllten sich diese während der Hungersnöte mit Flüchtlingen vom Land, wobei die Feststellung zweifellos zu Recht erfolgte, daß der Stadtbewohner von seiner Obrigkeit besser gegen den Mangel als gegen Epidemien verteidigt wurde (Hohenberg/Lees 1985:87). Influenza, Typhus und „Fieber" führten auch zu Mortalitätsspitzen in den 1720er bis 1740er Jahren, um dann ihren epidemischen Charakter abzulegen. Beispielsweise wurde für Nottingham festgestellt, daß nach der Mitte der vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts das „age of massacre by epidemic was over" (Corfield 1982:117). Hinsichtlich der Krisenverläufe bog die Entwicklung in England vom generellen Trend, der sich auf dem Kontinent weiter fortsetzte, ab. In Deutschland ging die Pest vor allem im Verlaufe des 17. Jahrhunderts eine unheilvolle Allianz mit den Kriegsfolgen ein (zusammenfassend Vasold 1991:136-154; dazu Franz 1979). Allerdings sind schon für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts mehrere schwere Seuchenzüge überliefert. Nürnberg hatte in den Jahren zwischen 1561 und 1585 nicht weniger als 20.000 Epidemieopfer zu beklagen, Augsburg in acht Pestjahren der ersten und in sieben der zweiten Jahrhunderthälfte etwa 60.000, wozu zwischen 1600 und 1649 in neun Seuchenjahren weitere 34.000 Pesttote kamen (Gottlieb 1985:253; vgl. auch Roeck 1991a). Gefährlich war auch die in nord- und mitteldeutschen Städten feststellbare Überlagerung von Pest und Rote-Ruhr-Epidemien, was beispielsweise in Uelzen 1597/99 zu überproportionalen Verlusten bei Frauen und Kindern führte (Woehlkens 1994). Weitere Infektionskrankheiten wie Fleckfieber, Typhus und Ruhr wurden im Gefolge von Truppendurchmärschen verbreitet. Etwa gleichzeitig mit dem Auslaufen der Pestwellen in Deutschland, im Norden und Westen 1666, im Südosten erst 1679 und 1713, verdünnte sich gegen Ende
Die städtische
Bevölkerung
49
des 17. Jahrhunderts auch der für die frühneuzeitliche Gesellschaft so verheerende Zusammenhang zwischen Subsistenzkrisen und Epidemien. Die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges auf die deutsche Stadt werden mit dem Hinweis, daß zufolge desselben die Zahl der Städte mit über 10.000 Einwohnern von 32 auf 25 absank, nur unzureichend charakterisiert. Zu differenziert war das Geschehen im einzelnen, wobei die Palette von Katastrophenfällen, wo die Verluste 70 bis 80% betrugen (Magdeburg, Dortmund, Frankfurt a. d. Oder), über zahlreiche Beispiele im Mittelfeld mit Reduktionen auf die Hälfte der Einwohnerschaft (Augsburg, Mainz, Stettin, Nürnberg) bis zu solchen mit geringfügigen Schäden (Braunschweig, Frankfurt am Main, Dresden, Hannover) reichte. Das räumliche Nebeneinander von betroffenen und weitgehend verschonten Plätzen überrascht, wobei allerdings zu bemerken ist, daß die aggregierten Werte die dazwischen liegenden starken Oszillationen verdecken. Wie für Augsburg nachgewiesen wurde, lagen zufolge des nach der Katastrophe rasch einsetzenden Zuzugs die absoluten Bevölkerungsverluste mitunter noch über der zu Kriegsende faßbaren Ziffer. Überproportional betroffen waren wie bei Seuchenzügen die ärmeren Schichten, die - schon in Normalzeiten an der Grenze zum Existenzminium stehend - insbesondere von Nahrungsmittelverknappung und Teuerung bedrängt wurden. Der demographische Aufschwung verlief nach 1650 eher zäh, wogegen spätere Kriegsverluste, beispielsweise nach den Franzosen- und Türkenkriegen sowie dem Spanischen und Österreichischen Erbfolgekrieg, rascher ausgeglichen werden konnten (vgl. auch Schilling 1993:13-17). Gut untersucht sind die Spuren der frühneuzeitlichen Pestzüge auch für die italienische Stadt (Del Panta 1980; Preto 1987). Obwohl die Seuche vor der Mitte des 17. Jahrhunderts niemals ganz verschwand, läßt sich ihre demographische Auswirkung am ehesten an den Höhepunkten der Epidemie messen. Diese lagen für Oberitalien einerseits in den Jahren 1575-77/80, als die vier wichtigsten Städte über 100.000 Einwohner verloren, andererseits 1629/31, in einer Zeit der wirtschaftlichen Krise. In Venedig allein verstarben vom 1. Juli 1575 bis zum 28. Februar 1577 46.721 Personen, etwa gleich viele Männer wie Frauen. In einer Verteilung zwischen Stadt und Lazaretten dominierten letztere als Sterbeort von Männern. Gemessen an der Gesamteinwohnerzahl betrug der Einwohnerverlust etwa 25%. Schwieriger ist die Todesrate bei jenem Seuchenzug zu bestimmen, der die Adriametropole zwischen Juli 1630 und Oktober 1631 heimsuchte und in der Stadt und den Lazaretten 46.536 Menschenleben forderte, da
50
Wanderungsverhalten
Mitte August 1630 mehr als 24.000 Personen die Stadt verlassen haben sollen. Ein Wert von über 30% scheint aber realistisch zu sein. Trotz einer vergleichbaren Dezimierung des engeren Umlandes (Dogado) setzte nach 1631 rasch eine demographische Erholung ein, bestimmt durch einen Anstieg der Natalität und die vom Senat begünstigte Zuwanderung von Handwerkern (P. Preto in Venezia e la peste 1979:97f). Die Pest des 17. Jahrhunderts zog ihre Spuren durch Italien mit zeitlichen Verschiebungen, mitunter gefolgt von Subsistenzkrisen, Typhusund Malariaepidemien. Während sie in der Lombardei und der Toskana ebenfalls 1630 grassierte und gleichsam als „conclusione naturale di un ciclo di crisi nel settore agricolo" (E. Sonnino) gesehen wurde, tauchte sie in Ligurien sowie den zentralen und südlichen Teilen der Halbinsel erst 1656/57 auf. Genua verlor etwa die Hälfte seiner Bevölkerung (zwischen 1570 und 1580 28.000) (Felloni 1988:157), ebenso Neapel, wogegen man für Rom einen Bevölkerungsverlust von lediglich 8-10% errechnet hat. Insgesamt wurden etwa 13.000 Menschen infiziert, 9300 starben, von diesen 62% in Lazaretten. Mit der Stadtflucht von etwa 10.000 Römern finden sich Verhaltensmuster, die bereits von Venedig her geläufig sind (Sonnino/Traina 1982). Roms Schreckensdatum war hingegen jenes der Einnahme durch die Truppen Karls V. 1527 (sacco di Roma); drei Jahre später hatte die Ewige Stadt noch immer nur 60% der Ausgangssituation. Mortalitätsspitzen über 50 von 1.000 wurden auch in denJahren 1622 (54,l%o, Malaria), 1649 (55,3%o, Hungersnot, „Böses Fieber"), 1764-69 (40,6-60,5%o, Hunger, Agrar- und Finanzkrise) sowie 1797-1805 (51,2-85,2%o, Krieg, Finanzkrise) erreicht (Schiavoni/Sonnino 1982).
WANDERUNGSVERHALTEN
In Zeiten, in denen die Mehrzahl der größeren Städte eine negative Bevölkerungsbilanz aufwiesen, die im Falle von Katastrophen - wenn zumeist auch nur kurzfristig - dramatische Dimensionen erreichte, konnte die Zuwanderung zum zentralen Faktor des demographischen Überlebens werden. Vorauszuschicken ist die Feststellung, daß Migration keineswegs eine ausschließlich vom Land in die Stadt gerichtete Bewegung war. Es gab durchaus auch Leute, welche die Stadt verließen und ersetzt werden mußten: erfolgreiche Kaufleute, die sich auf dem Lande ansiedelten, oder junge Leute, für die der Stadtaufenthalt nur ein temporärer war und die wieder aufs Land zurückgingen. So stammten Mitte des 16. Jahrhunderts wohl 90% der Londo-
Die städtische
Bevölkerung
51
ner Lehrlinge von auswärts, doch nur 40% derselben beendeten hier ihre siebenjährige Ausbildung (Rappaport 1989:76f, 311-314). Im Falle eines Frauenüberschusses in der Stadt bestand für wanderungswillige Mädchen die Chance auf Heirat auf dem Lande. Quantitativ ist diese Stadt-Land-Migration ebenso unterbelichtet wie die zwischenstädtische Migration, die meist stufenweise von der kleinen in die größere Stadt tendierte und vorwiegend die Mittelschicht betraf. Daß sie nicht unterschätzt werden darf, beweist das gut untersuchte Beispiel Rouen, wo im 17. Jahrhundert 26% der Familien die Stadt ihrer Hausstandsgründung wieder verließen (Bardet 1983:214-217). Eine Ausnahmesituation signalisiert die Flucht von 12.000 Neapolitanern, die 1585 an einer durch Preiserhöhungen ausgelösten, zunehmend politisch gefärbten Revolte teilgenommen hatten und nunmehr Strafmaßnahmen befürchteten (Villari 1993:28). Erheblich bessere Informationen liegen zum Problem der Zuwanderung vor, wenngleich die erhaltenen Register eher jene erfaßten, die in die organisierte städtische Gesellschaft integriert wurden, und wenig über Randgruppen wie Lohnarbeiter, Tagelöhner oder die Armen schlechthin aussagen. Einen Teil der Zuwanderer machte wohl jene Gruppe aus, die sich in der Stadt eine Verbesserung ihrer sozialen oder ökonomischen Position erwartete. Dazu zählten neben Gewerbetreibenden und Kaufleuten vor allem Jugendliche, die als Gesindekräfte und im Handwerk Aufnahme suchten. Diese Wanderungsbewegung erstreckte sich mehrheitlich über kurze Distanzen und nutzte oftmals ein Netz von familiären Verbindungen, das Stadt und Land verband. Über deutlich weitere Strecken vollzog sich die Wanderung von Gesellen im Zuge handwerksspezifischer Ausbildungsformen oder von gewerblichen Spezialisten, insbesondere in Zeiten der Konjunktur sowie unter der Sogwirkung größerer Städte. Aber auch die Anziehungskraft der Großstadt war Schwankungen unterworfen. Wie am Beispiel von London gezeigt werden konnte, nahm der Zuzug aus weiter entlegenen Landesteilen - zwischen 1683 und 1759 betrug der Radius bei einem Viertel der Gesindezuwanderung mehr als 200 km - in dem Maße ab, als alte städtische Mittelpunkte zu wachsen begannen und neue Zentren, insbesondere die Industriestandorte des 18. Jahrhunderts, einen überproportionalen Arbeitskräftebedarf entwickelten (De Vries 1984:213). Die zeitliche Verschiebung des Wachstums signalisiert das Beispiel Berlin, wo im späten 18. Jahrhundert (in zwei Pfarren) zwei Drittel der Brautleute aus städtischen Siedlungen außerhalb der Metropole in dieselbe zuzogen (Hohenberg/Lees 1996:36; ausführlich Schultz 1992:336-343).
Wanderungsverhalten
52
Wanderungsbedingte Bevölkerungsbewegungen zeigen deutliche Abhängigkeiten von den Beschäftigungsmöglichkeiten. Ein Welthafen wie Amsterdam zog vor allem Arbeitskräfte in Berufen des tertiären Sektors an, wogegen in einer Tuchstadt wie Leiden besonders Flüchtlinge aus anderen, hier vor allem flandrischen Textilstädten Aufnahme und Arbeit fanden. Dasselbe gilt für Lyoner Seidenweber, die nach Avignon und Genua zogen, oder für Wollarbeiter, die sich in Mailand und im Piemont niederließen (Benedict 1989b: 16). Tabelle 12: Regionale Herkunft von Zuwanderem in holländische Städte im 16. und 17. Jahrhundert (nach Mols, Diederiks) 1590-94/1655-59 Herkunft Niederlande Belgien Frankreich Deutschland Sonstige
Amsterdam 50,4/ 53,5 34,3/ 5,0 1,8/ 3,7 11,2/ 28,8 1,8/ 6,9 100,0/100,0
Leiden 15,5/ 53,3/ 26,8/ 3,1/ 1,3/
Middelburg
41,2 15,2 18,2 21,6 3,2
18,0/ 4 3 , 9 72,1/ 30,5 5,8/ 13,6 1,9/ 3,3 2,2/ 8,7
100,0/100,0
100,0/100,0
Die Kanalisierung der Wanderung konnte weiters normative Hintergründe besitzen: Begünstigungen wurden etwa im Zusammenhang mit den zahlreichen landesherrlichen Gründungen des 16. und 17. Jahrhunderts in Mitteleuropa in Form von Steuernachlässen gewährt (vgl. Kap. II); das rasche Wachstum des toskanischen Hafens Livorno im 16. oder der piemontesischen Residenz Turin im 17. Jahrhundert (Oktroi von 1621) basierte auf populationistischen Maßnahmen des Staates, die den Zuwanderern Bürgerrecht, Immunität und Freiheit vom Militärdienst zusicherten. Während für Zuwandernde der unteren sozialen Schichten insbesondere die öffentliche Bautätigkeit Beschäftigungsmöglichkeiten schuf, mußten für fremde Kaufleute oder qualifizierte Handwerker höherwertige Anreize geboten werden. Wie das Beispiel Mantua nach 1632 zeigt, wurde das Ziel einer selektiven Immigration, hier die Ansiedlung von Holländern, nicht immer erreicht (Fasano Guarini 1982a, 1982b). Häufiger finden sich beschränkende Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zunächst natürlich dort, wo Übervölkerung und Nahrungsknappheit drohten und diese als gesellschaftliches Problem von der Obrigkeit erkannt wurden. Voraussetzung der Subsistenz-Migration, die vorwiegend in der Wanderung ärmerer Gruppen des Landes bestand, die in der Stadt Beschäftigung oder auch nur Versorgung er-
Die städtische
Bevölkerung
53
hofften, waren in erster Linie Ernährungskrisen im Zusammenhang mit Mißernten und konjunkturellen Schwankungen (Clark/Slack 1976: 92f). In einzelnen oberitalienischen Städten wurden bereits im 15. Jahrhundert Ämter geschaffen, die alle Fremden in der Stadt registrieren sollten (uffici delle bollette), und seit Ende des 16. Jahrhunderts nahm die Vertreibung der Armen, die vielfach mit den „contadini" gleichgesetzt wurden, Formen an, die an tiefgreifende Veränderungen im früheren Gleichgewicht von Stadt und Land denken lassen. Auch in englischen Städten wie London und Coventry setzte man bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts Maßnahmen gegen arme Migranten, deren Zahl in Zeiten schlechter Ernten, beispielsweise in den 1590er Jahren, einen Höhepunkt erreichte. Nach 1660, mit dem Abschwung des Bevölkerungswachstums und dem Act of Settlement (1662), aufgrund dessen arme Zuzügler in die Ursprungspfarre zurückgeschickt werden konnten, wurde der Druck wohl geringer, doch zeigte sich in der Folge die weitgehende Undurchführbarkeit des Systems. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sollen in einzelnen großen Städten bis zu einem Drittel der Bewohner einer formellen Ansiedlungsberechtigung entbehrt haben (Clark/Slack 1972:18; Corfield 1982:100). In vielen Fällen erhofften sich die Wanderungswilligen, Gewerbetreibende und Kaufleute, aber auch Mädchen, die in häusliche Dienste treten wollten, eine Verbesserung ihrer sozialen und ökonomischen Position. Zwar ist die Unterscheidung nach den Kategorien „betterment-" und „subsistence-"Migration, Freiwilligkeit (pull) und Zwang (push), eine übliche, doch sind Erfahrung und Intention der meisten Migranten häufig zwischen diesen beiden Polen einzuordnen (Friedrichs 1995:132; zu den Migrationstypen auch De Vries 1984:213-221). Ein Sonderfall erzwungener Wanderung war hingegen jene im Zusammenhang mit Kriegsereignissen und religiösen Verfolgungen, die auch zur Voraussetzung neuer Städtebildung werden konnte (vgl. Kap. II). In der Regel tendierten politische und religiöse Flüchtlinge in städtische Zentren, ohne Unterschied, ob sie aus Städten oder vom Land kamen. So zogen Leute aus Antwerpen nach Amsterdam, flandrische Handwerker nach Leiden, Frankfurt oder London, französische Hugenotten (nach 1685) nach Genf, Amsterdam, Dublin, London oder Berlin. Gewichtiger als ihre Zahl waren häufig das technische Wissen, das sie mitbrachten. Gegenüber einer Mehrheit von armen Zuwanderern existierten nicht selten auch solche, die Kapital und Geschäftsverbindungen bereitstellen konnten.
KAPITEL STADTFORM
II
UND NEUE
TYPEN
IDEALSTÄDTE UND FΕSΤUNGSSΤΕRNΕ Die europäische Stadt der frühen Neuzeit ist in Plansituation und Bausubstanz überwiegend vom mittelalterlichen Erbe bestimmt. Für eine Vielzahl kleinerer und mittlerer Einheiten, deren rechtliche, wirtschaftliche und soziale Grundlagen während der drei Jahrhunderte zwischen 1500 und 1800 nur geringe Veränderungen erfuhren, blieb dieses bis an die Schwelle zum Industriezeitalter wirksam. Das für das Mittelalter festgestellte langsame Wachstum setzte sich über die Zeitengrenze hinweg fort, ergriff wohl auch den Raum vor den Mauern, ohne freilich wesentlich neue Akzente zu setzen. Daneben steht die Stadt, die in ihrem Bild entsprechend den veränderten Rahmenbedingungen, der Rolle im politischen Konzept des Herrschers und der mit ihm direkt kommunizierenden sozialen Gruppen, den geänderten Bedürfnissen nach militärischer Sicherheit und den qualitativ und quantitativ steigenden Ansprüchen der Wirtschaftssphäre, insbesondere des Verkehrs, eine grundlegende Umgestaltung erfahren hat. Das Schlagwort der von Kanonen und Kutschen (R M. Hohenberg; Hohenberg/Lees 1985:152) geprägten neuzeitlichen Stadt gilt vor allem dort, wo sich der Fürstenstaat des Bauens als Symbol für politische Dominanz und kulturellen Gestaltungswillen bedient. Ziel des Zusammenwirkens von Regenten, Architekten und Ingenieuren ist die rationale Stadt, die sich von überkommenen Entwicklungsund Zufallsprodukten distanziert. Sie entspricht einem Muster, das man vorhandenen Städten überstülpt oder für neu zu gründende in Anwendung bringt. Wo diese Allianz von Fürsten und Baumeistern nicht wirksam wird, können freilich auch Gegenbilder entstehen, die in ihrer Planmäßigkeit hinter mittelalterliche Standards zurückfallen. Die hastig aus dem Boden wachsenden Bergwerksstädte nach 1450 oder die zunächst auf England konzentrierten Industriestädte des späteren 18. Jahrhunderts stehen für eine gegenläufige Entwicklung.
56
Idealstädte
und
Festungssterne
Neuzeitliche Stadtgestaltung ist somit auf zwei Ebenen zu verfolgen: einerseits mit Bezug auf ältere Stadtgebilde, die im Sinne des geänderten Stellenwerts der Stadterscheinung in der Vorstellung von Fürsten und bürgerlichen Kommunen einer „modernen Sanierung" (Benevolo 1993:150) unterzogen werden, andererseits im Zusammenhang mit der Neuanlage von Städten, die vielfach auch mit dem Begriff der „Frühneuzeitlichen Städtetypen" (Stoob 1970a; Stoob 1985) bzw. „Sondertypen" (Ennen 1965:205) in Zusammenhang gebracht wurden. Es ist am Beispiel des mitteleuropäischen Raumes festgestellt worden, daß die mittelalterliche Städtegründungswelle noch im 15. Jahrhundert ausebbte und - bezogen auf die Zahl der „Neuankömmlinge" in der Städtelandschaft - die frühe Neuzeit mit einem Wellental korrespondiert, das erst im Laufe des 19. Jahrhunderts von einem Aufschwung zufolge der zunehmenden Zahl urbanisierter Industriesiedlungen abgelöst wird. Ähnliches kann für England gelten, wo zwischen 1500 und 1700 lediglich etwa dreißig Neustädte hinzukamen (Clark/Slack 1976:33), oder auch für Frankreich, das - abgesehen von den Festungsstädten an den Reichsgrenzen - nur zehn Neugründungen kennt. Residenzen wie Versailles, Nancy oder Richelieu sowie Hafenstädte wie Le Havre, Lorient oder Sete umschreiben dabei zusammen mit den „places fortes" den funktionalen Rahmen dieser neuen Einheiten (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:107-118). Hinter der neuzeitlichen Stadtgründung stehen Planungsvorgänge, die sich eine Anpassung der Stadtform an rationale Funktionen zum Ziele machten. Die politische Zentralisierung der Frühneuzeit spiegelt sich in einer Konzentration der bestimmenden, mit der topographischen Erscheinungsform Stadt verbundenen Elemente wider. Zum Grundprinzip wird das geometrische Muster, das sich - ausgehend von der Kreisfigur - von einfachen regelmäßigen Formen zu höchst komplizierten Strukturen entwickeln kann. Gerade Straßen, rechtekkige Plätze und ein sternförmiger Befestigungskranz als Umriß eines durch seine Radialen bestimmten Polygons verkörpern Symmetrie und Ordnung im Sinne ästhetischer und gesellschaftlicher Wertvorstellungen (vgl. Eichberg 1989). Zweifellos gab es in Europa schon seit dem Hochmittelalter Stadtanlagen, die - über regelmäßigem Grundriß errichtet - die Konzeption des rationalen Städtebaus vorwegnahmen. Vor allem in Fällen, wo es sich um Neuanlagen handelte, die nicht auf vorhandene Strukturen Rücksicht zu nehmen hatten, setzte sich die einfache geometrische Form durch. Dies gilt insbesondere für die zahlreichen Kolonialstädte der deutschen Ostsiedlung, die Villes neuves und Bastiden des zwischen
Stadtform
und neue Typen
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der englischen und der französischen Krone strittigen Südwestfrankreich sowie die Terre murate der Toskana, Wehrsiedlungen, deren vorwiegende Aufgabe in der militärischen Sicherung von Landgebieten der Kommunen oder Feudalherren bestand. Wie sich an englischen Beispielen bis hin zum 1616 gegründeten Falmouth in Cornwall belegen läßt, hat auch die Stadtgründung aus steuerlichem Interesse des Stadtherrn zu ähnlichen Lösungen geführt, wobei hier die optimale Ausstattung kleiner Grundflächen mit Wohn- als Steuereinheiten angestrebt wurde (Braunfels 1976:130-137). Während sich der gotische Städtebauer in erster Linie als Praktiker erwies, wurde die Planung der idealen Stadt im Laufe des 15. Jahrhunderts zum Gegenstand einer zwischen Künstlern, Architekten und potentiellen Auftraggebern geführten Diskussion (Bibliographie bei Kruft 1989: 182-185). Die Wurzeln derselben liegen wohl im Italien der Renaissance, doch hat bekanntlich auch Albrecht Dürer bereits 1527 unter dem Eindruck der Türkengefahr einen Traktat („Etliche underricht zu befestigung der stett, Schloß und flecken") verfaßt, der in dieselbe Richtung verweist. Dürer entwarf eine quadratische „Königsstadt", mit riesigem Waffenplatz in der Mitte, nach Ständen und Funktionen getrennten Wohn- und Gewerbevierteln sowie bastionär in die Ecken gesetzten Großbauten (Schloß, Arsenal, Spital) (u.a. Vercelloni 1994:56). Übersetzt und mit Anregungen des Straßburger Stadtbaumeisters Daniel Speckle ergänzt, diente der Entwurf als Anregung für die von Herzog Friedrich III. von Württemberg veranlaßte und von Heinrich Schickhardt geplante Anlage von Freudenstadt im Schwarzwald (1599). Rathaus und Pfarrkirche fanden in den gegenüberliegenden Ecken des in der Form eines Mühlespiels konzipierten Stadtgrundrisses Platz, dessen Mitte man für das allerdings niemals errichtete Schloß freihielt. Ursprünglich zugleich als Residenz und Bergstadt gedacht, wurde Freudenstadt nach dem raschen Rückgang des Bergsegens von österreichischen Glaubensflüchtlingen besiedelt und wuchs sich erst nach 1660 mit der Errichtung einer bastionären Befestigung sowie von Militär- und Behördenbauten in die Richtung einer bescheidenen Urbanen Existenz aus (Kruft 1989:68-81). In den Zeitraum zwischen 1450 und 1550 zurück reichen städtebauliche Idealkonzepte in Italien, wobei mit der Wiederauffindung von Vitruvs „De architectura" zwar für Vorbilder gesorgt war, was allerdings nicht verhindern konnte, daß in der Beschäftigung mit der idealen Stadt der Kontakt zur Realität weitgehend verlorenging. Die Entwicklung neuer Stadtmodelle fand mangels technischer Erfahrung und ökonomisch-administrativer Voraussetzungen vorwiegend auf Plänen und in Büchern statt (Benevolo 1993:123-125).
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Hatte noch Leon Battista Alberti um die Jahrhundertmitte ökologische und fortifikatorische Fragen in die Stadtplanung eingebracht, wenngleich sein Traktat von Widersprüchen und ästhetisierenden Konstrukten nicht frei ist, so kam bei Antonio Filarete der Gleichklang zwischen Theorie und Praxis völlig abhanden. Seine nach dem Mailänder Herzog Francesco Sforza benannte, zwischen 1460 und 1465 geplante Stadtutopie „Sforzinda" sah eine zentrale dreiteilige Platzanlage vor, von der aus je acht Radialstraßen und -kanäle zur sternförmigen Außenmauer führten. Versuche einer Systematik verschiedener Formen der Idealstadt, die vorwiegend über das Medium der Zeichnung vermittelt wurden, stammen weiters von Francesco di Giorgio Martini, Francesco de' Marchi, Pietro Cataneo di Giacomo u.a. Unmittelbar realisiert wurde keiner der vorgelegten Pläne, wenngleich die Vorstellungen der Theoretiker nach 1520 auch in den praktischen Städtebau Eingang fanden (u.a. Egli 1967:17-39). Die Theoretiker sahen die Stadt nicht als Zufalls- oder Entwicklungsergebnis, sondern als Gesamtwerk, das bestimmte Funktionen zu erfüllen und diesen entsprechend eine das Ganze erfassende Ordnung aufzuweisen hatte. Diese wurde durch geometrische Grundfiguren Vierecke und Vielecke, mit schachbrettartig oder radialkonzentrisch angeordneten Straßen - verkörpert. Die Hauptgebäude sollten am Hauptplatz im Mittelpunkt der Stadt stehen, ebenso durften sich dort bevorzugte Gewerbe ansiedeln, wogegen schmutzige und störende ihren Platz am Rande zugewiesen erhielten. Vom Stadtmittelpunkt führten Straßen nach allen Seiten zu den Toren. Im Gegensatz zu dieser städtebaulichen Gesamtkonzeption ging es den Praktikern mehr um das architektonische Einzelobjekt - neben Stadterweiterungen um besondere Befestigungen und Tore, um Paläste und Residenzen, um kirchliche Bauten sowie um Straßen und Platzanlagen. In den „praktischen Stadtbauaufgaben erwachte das Bewußtsein der vorliegenden Zusammenhänge, der Wirkungen sowie der zu Gebote stehenden Mittel, welches gegen Ende des 16. Jahrhunderts ... zum Beginn einer neuen Entwicklung führte" (E. Egli, 1967:20). Es handelte sich dabei nicht mehr um eine humanistische Stadtidee, sondern um den fürstlichen Städtebau der Barockzeit, der seine Wurzeln an den italienischen Fürstenhöfen besaß. Der Behandlung der Frage der „modernen Stadtsanierung" an ausgewählten Beispielen soll allerdings ein Blick auf jene Stadtanlagen vorangestellt werden, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts im Anschluß an die Architekturtheorie und vorwiegend in Verbindung mit fortifikatorischen Aufgaben ins Leben traten. Sieht man von dem über sym-
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metrisch-rektangulärem Grundriß erfolgten Wiederaufbau der 1526 von den Franzosen zerstörten Kleinstadt Gattinara (nw. Novara) ab, so bildet die Festungs- und Hafenstadt La Valetta auf Malta die erste nach den neuen Konzepten realisierte Großanlage. Nach erfolgreicher Abwehr eines türkischen Flottenangriffs wurde ab 1566 über eine Felsenzunge mit großen Höhenunterschieden ein regelmäßiger Straßenraster gelegt und trotz der erheblichen Terrainschwierigkeiten die Hauptstraße gerade von der Porta Reale zum knapp über dem Meeresniveau gelegenen Fort S. Elmo geführt. Der aristokratischen Struktur des Ordens und seiner Gliederung in sieben bis acht Nationen entsprechend, erfolgte die Gruppierung der Residenzen und Kirchen der einzelnen „Zungen" um den Palast des Großmeisters und die Gebäude der Regierungszentrale in der Stadtmitte. Der Ausbau des mächtigen Fortifikationssystems des Hafens, der vorgelagerten Städte sowie mehrerer Festungen reichte bis weit ins 17. Jahrhundert hinein (Braunfels 1976:143f; Kruft 1989:52-67). Oberitalien besitzt zwei erheblich voneinander abweichende Produkte des cinquecentesken Städtebaus. Sabbioneta (nahe Mantua) entstand seit den fünfziger Jahren als Residenz einer Nebenlinie der Gonzaga unter Betonung repräsentativ-kultureller Ausstattungselemente wie Herzogspalast, Galerie, Landhaus (Casino), Theater (Teatro Olimpico) und Residenzkirche (Incoronata). Für die bastionäre Befestigung hat man auf die Vorbildwirkung von Guastalla (1549) verwiesen (Kruft 1989:34-51; Confurius 1991; Grötz 1993). Nach dem Tode Vespasiano Gonzagas 1591 wurde der Ausbau eingestellt, das Städtchen versank in der Bedeutungslosigkeit. Als Stadtsiedlung nicht viel erfolgreicher war die venezianische Wehrstadt Palmanova („neue Siegespalme"), die 1593, 22 Jahre nach der Seeschlacht von Lepanto, angelegt wurde und, indem sie sich vom neuneckigen Umriß zur Mitte in einen Sechseckplatz vereinfacht, der zur gleichen Zeit auch in Deutschland propagierten Festungsstadt über sternförmigem Plan entspricht. Die Vorstellung, daß sich die Einwohner durch Handel, Gewerbe und Landwirtschaft selbst erhalten sollten, ging nicht auf. 1622 mußten sogar Kriminelle zur Ansiedlung ermuntert werden, denen man Straferlaß, Baugrundstücke und -material anbot (zuletzt P. Marchesi in Pavan 1993:73-83). Die Erkenntnis, daß administrativ-militärische Funktionen noch keine Stadtqualität ausmachen, sollte sich noch mehrfach wiederholen. 1693 wurde das Planschema von Palmanova ohne Befestigung für die Anlage von Grammichele in Sizilien, eine der zahlreichen nach einem Erdbeben erfolgten Neuanlagen, wieder aufgegriffen (vgl. Giuffre 1979; Vercelloni 1994:111).
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Der Bau von Festungen und Festungsstädten entwickelte sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zu jenem Bereich, wo die praktische Umsetzung des Idealstadtprinzips am unmittelbarsten vor sich ging. Voraussetzungen waren Fortschritte bei der Angriffstechnik der Artillerie, denen man mit der Verbesserung der Verteidigungseinrichtungen durch Verdickung und Abschrägung der Mauern und die Schaffung von Stellungen für die Defensionswaffen zu begegnen trachtete. Das geometrische Muster, insbesondere der Stern, kam den geänderten Bedürfnissen deutlich entgegen (Schmidtchen 1982). Wohl gab es eine Reihe von Städten, die ihre Befestigungsanlagen aus eigenem Antrieb und mit eigenen Mitteln modernisierten, die Festungsstadt schlechthin gründete hingegen nicht auf Initiativen der Bürger, sondern auf jenen des Staates, der entweder politische Grenzen oder neu eroberte Gebiete strategisch zu sichern versuchte. Ohne ökonomische Verklammerung mit dem Umland war die Mehrzahl dieser Städte allerdings zur Stagnation verurteilt. Als Militärstädten fehlte ihnen ein bürgerschaftliches Selbstverständnis. Trotz Zusicherung konfessioneller und fiskalischer Freiheiten für die Zuziehenden, vielfach Religionsflüchtlinge, füllten sie sich nur langsam mit Bewohnern, da diese die Ansiedlung in älteren Städten einer solchen unter militärischer Leitung und Kontrolle vorzogen (vgl. bes. Ennen 1983a). Eine Schwerelinie der neugegründeten Festungsstadt bildete die Grenze zwischen Frankreich und den südlichen Niederlanden, wo die auf die Festigung der Herrschaft über die niederländischen Provinzen gerichteten habsburgischen Interessen auf jene der die kalvinischen Zentrifugalkräfte unterstützenden Valois trafen (zusammenfassend Stober 1993). Vitry-le-Frangois, das nach 1545 das von kaiserlichen Truppen niedergebrannte Vitry-en-Perthois ersetzen sollte, entsprach mit seinem quadratischen Plan noch traditionellen Mustern. Nach Übernahme des bastionären Systems setzte sich die Form des Sternpolygons durch. Im Falle von Villefranche-sur-Meuse, Charlemont, Philippeville (1555, nach Philipp II.) und Rocroi (ab 1537) kamen bereits von Anfang an die modernen Gestaltungsprinzipien (Bastionen, Radialplan) zum Tragen. Einen Nachzügler des 17. Jahrhunderts bildete Charleroi (1666, nach Karl II. von Spanien), wobei hier mit dem von einheitlichen Hausfronten und Bogengängen umgebenen Marktplatz das schon früher in Charleville an der Maas (1608, nach Karl v. Gonzaga, Herzog von Nevers) realisierte Thema der Pariser „Place royale" (s.u.) aufgegriffen wurde. Charleroi fiel schon 1668 in französische Hand; zusammen mit einer Reihe anderer Festungsstädte wurde es unter Vauban grundlegend ausgebaut. Von den Neugründungen
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im Süden seien nur Navrarrenx in den östlichen Pyrenäen (1548) und das in die Mitte des 15. Jahrhunderts zurückreichende Brouage (zunächst Jacqueville) genannt (Mieck 1982:97f). Eine Ausnahme unter den Sternstädten an der heute französisch-belgischen Grenze stellt der Marienwallfahrtsort Scherpenheuvel dar, den Albrecht VII. als Statthalter der Niederlande 1603 in eine Festung umwandeln ließ, die eine Bastion der Katholiken gegen den holländischen Protestantismus bilden sollte, architektonisch verkörpert durch das ab 1581 angelegte Willemstad südlich Rotterdam. Um das Heiligtum in der Mitte verteilte sich die städtische Struktur auf sieben Einheiten, die von einer Krone von sieben Bastionen umgeben war. Die trotz umfangreicher Privilegien nur schwach besiedelte Stadt konnte selbst der Funktion eines spirituellen Zentrums kaum jemals gerecht werden (Ennen 1981:10). An der Grenze der Niederlande zum Reich wurde 1591 Coewarden (Coeverden) mit einem siebeneckigen Fortifikationssystem ausgestattet (Egli 1967:96). Eine weitere wichtige strategische Zone bildete die Rheinlinie, die als französische Ostgrenze insbesondere im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts unter Vauban (1633-1707) befestigt wurde (Herrmann 1980; Herrmann/Irsigler 1983). Die Absicherung eroberter Gebiete sowie die Schaffung einer operativen und logistischen Basis für Offensiven waren dabei zwei einander ergänzende Zielsetzungen. Im Heer Condes groß geworden, entwickelte Vauban nach seiner Ernennung zum Generalkommissar der Festungen 1678 eine enorme Bautätigkeit. Nach Berechnungen des 18. Jahrhunderts soll er an 300 alten und 33 neuen Festungen die Arbeiten geleitet haben. Den Beginn der Neuanlagen macht Hüningen (1679-81), es folgten Neubreisach (Neuf-Brisach), die wohl bekannteste und am besten erhaltene von Vaubans Festungsstädten, Pfalzburg und Saarlouis sowie die Anlage oder der Ausbau einer Reihe von Hafenfestungen (Brest, Rochefort, Antibes, Toulon, Dünkirchen) (vgl. auch Konvitz 1978). Zum Charakteristikum wurde der regelmäßige Plan mit großem Militärplatz in der Mitte; Militärbereich, Bürgerstadt und öffentliche Einrichtungen bildeten streng getrennte Zonen. Die Vielfalt militärischer Bauten ist beispielsweise für Saarlouis gut überliefert; zu diesen zählten Kasernen, Depots, Pulvermagazine, Militärbäckereien, Zeughaus, Lazarette, Offiziersunterkünfte und Verwaltungsgebäude (Gerteis 1986:26). Aufgrund seiner territorialen Aufsplitterung war das Reich nicht imstande, vergleichbar systematisch seine Grenzlinie zu bewehren. Zum Sperrzentrum wurde der Raum Mannheim-Mainz-Ehrenbreitstein; einige Plätze erhielten neue Fortifikationen, so etwa Rastatt unter
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Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden (1698-1700), die aber bereits 1707 geschleift werden mußten (Stober 1993:444). Von größerer Bedeutung war die 1605 am Zusammenfluß von Neckar und Rhein errichtete Zitadelle Friedrichsburg, die einerseits die ihr vorgelagerte Bürgerstadt bewehren sollte, andererseits hinsichtlich Ökonomie und Rekrutierung von dieser abhing. Nachdem sie bereits zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges von Tilly erobert und auch später mehrmals verwüstet worden war, setzte 1652 ein Wiederaufbau als pfalzgräfliche Residenz ein. Der Plan des Franzosen Jean Marot sah eine Verbindung derselben mit der Bürgerstadt von Mannheim vor, durch Zuzugskonzessionen sollten vor allem reformierte Glaubensflüchtlinge angelockt werden. Neuerliche Kriegsereignisse verzögerten allerdings die Transferierung der Residenz bis 1720, als Carl Philipp die alten Pläne wiederaufgriff. Das kurfürstliche Schloß trat an die Stelle der Zitadelle, die bürgerlich-protestantische Planstadt konnte ihren Charakter bewahren, wogegen im neuen Teil Kirche und Hofadel zu den bestimmenden Elementen wurden. Die Stadt war nun Exulanten-, Handels-, Residenz- und Festungsstadt in einem (Friedmann 1968; J. Voss in Andermann 1992:323-336). In den folgenden 50 Jahren erlebte sie auch eine Verdreifachung ihrer Einwohnerzahl. Ein Großraum, wo im Zusammenhang mit staatlicher Expansion und Absicherung alter und neuer Grenzen eine Politik der Militarisierung zu jener der Urbanisierung, die gleichzeitig als Weg zur Gewerbeförderung und Erziehung verstanden wurde, synchron verlief, erstreckte sich in der frühen Neuzeit von Skandinavien bis ins Baltikum (Eimer 1961; Ericsson 1991). War es zunächst die nordische Hegemonie Dänemarks, so stellte in der Folge insbesondere die Expansion Schwedens in den Ostseeraum den Staat vor die Aufgabe, ältere Städte auszubauen und dem neuen Souverän unterzuordnen sowie Neuanlagen als befestigte Stützpunkte planmäßig über das Land zu verteilen. „Die Baukultur sollte (dabei) eine neue, europäische Lebenskultur programmieren." (W. Braunfels, 1976:145) Übernommen wurde die Idee der Idealstadt, die in der Weiterentwicklung ihrer italienischen Wurzeln insbesondere von niederländischen Praktikern getragen wurde, sowohl unter Christian IV. (1588-1648) in Dänemark-Norwegen als auch unter Gustav II. Adolf (1611-32) in Schweden. Für den dänischen König legte der Holländer Steenwinkel ab 1600 dessen erste Gründung Kristianopel in Blekinge an. Es folgten auf Schonen Kristianstad (1614), in Holstein Glückstadt an der Elbe (1617-21), in Norwegen Kristiania-Oslo (1624), die Bergbaustadt Kongsberg (1624) und als größte Anlage Kristiansand (1641) (vgl. auch
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Fladby 1991). Das als Konkurrenzgründung zu Hamburg in Sternform geplante und bereits 1617 mit dem Stadtrecht bewidmete Glückstadt (in Verbindung mit Glücksburg) konnte allerdings seiner wirtschaftlichen Aufgabenstellung nicht gerecht werden und mußte sich schließlich mit den Funktionen der Festungs- sowie Garnisons- und Verwaltungsstadt begnügen. Von den durch Begünstigungen angelockten Holländern und Portugiesen verließ die Hälfte bereits nach drei Jahren die Stadt (Köhn 1974). Die dänische Urbanisierungswelle setzte sich noch unter Friedrich III. (1648-70, Frederikstad u.a.) fort. Trotz Übernahme vielfach fremder Muster verhalfen die Unterstützung durch niederländische Unternehmer und Siedler sowie der allgemeine Wirtschaftsaufschwung im Merkantilismus dem neuen Städtewesen zu einer gewissen inneren Festigung. Der neuzeitliche, ebenfalls unter dem Vorzeichen der Festungsstadt stehende Städtebau im schwedischen Reich begann nach dem Wiederaufbau von Göteborg (seit 1611) mit jenem der Hafenstadt Kalmar, die 1613 durch die Schweden zerstört worden war. Das Projekt des holländischen Architekten Andries Sersanders sah einen oktogonalen Grundriß vor, 16 Straßen sollten sich in einem zentralen Marktplatz treffen. Zur Belebung der Wirtschaft war an eine Umlegung der Textilindustrie vom Lande gedacht, doch blieben die diesbezüglichen Erfolge bescheiden. Wie in Glückstadt war die militärisch-strategische Funktion bestimmend. Dies auch als nach 1647 auf der vorgelagerten Insel Kovernholmen eine zweite Stadt nach ersten Plänen des Schweden Johan Warnschiöld von Nikodemus Tessin d. Ä. angelegt wurde, die in ihrer Mitte Rathaus, Dom und Bürgerhäuser nach einheitlichem Modell vereinigte. Noch weniger erfolgreich war die Gründung von Landskrona, das nach 1648 als Mittelpunkt von Schonen mit Bastionenkranz und Zitadelle, nach der endgültigen Sicherung der Provinz 1679 sogar als Großstadt für etwa 5.000 Bürger, d.h. ca. 20.000 Einwohner, entstehen sollte. Aber selbst der reduzierte Plan Erik Dahlbergs für 1.500 Bürger sollte sich schließlich als undurchführbar erweisen (Braunfels 1976:148). Die Anlage von Carlsburg, das ab 1672 - an der Stelle des heutigen Bremerhaven - in hypertrophem Rivalitätsdenken als Gegengründung zu Bremen, Hamburg und sogar Amsterdam entstehen sollte, geriet schon aus technischen Gründen über die Planungsphase nicht wesentlich hinaus (B. Scheper in Krüger 1988:355-397). Das Urbanisierungswerk des schwedischen Staates erfaßte auch das Hinterland, wo insgesamt etwa 30 Städte gegründet wurden, die zum
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Kern der wiederhergestellten, in der Regel fortifikatorisch abgesicherten Plätze hinzutraten. Während der Zeit als Großmacht drang man über das deutsche und baltische Gebiet sogar bis an den finnischen Meerbusen vor (Helsingfors/Helsinki, Äbo/Turku, Nyen u.a.). Die beachtliche Zahl kann freilich ihre ökonomisch-strukturelle Bedeutungslosigkeit nicht verdecken. Zumeist fehlte es an Bürgern für diese vielfach als Großanlagen konzipierten Stadtgründungen, da Stockholm die vorwiegend in den Vorstädten angesiedelte Überschußbevölkerung aufnahm und die kleinliche Religionsgesetzgebung Einwanderungen großen Stils unmöglich machte. Hinzu gesellte sich die Tatsache, daß die Abhängigkeit der Baumeister von ihren auf fremden Anregungen beruhenden Idealvorlagen zu Schöpfungen führte, die weder auf die Bedürfnisse der Bevölkerung und deren wirtschaftliche Möglichkeiten, vielfach nicht einmal auf die geographischen Gegebenheiten Rücksicht nahmen. Finanzierungsschwierigkeiten beim Bau und beim Unterhalt der angesetzten Garnisonen, die Hindernisse für die Entwicklung bürgerlichen Lebens und die Opposition der schmalen Bürgerschaft ließen eine günstige Entfaltung dieser Neugründungen nicht zu. Das Urbanisierungsprogramm Schwedens muß daher trotz oder wegen seiner theoretischen Universalität und seiner zentralen Lenk u n g - durch Erik Dahlberg (1635-1703) - als Fehlentwicklung betrachtet werden. Viele der Festungsstädte wurden bald nach der Gründung aufgegeben, so daß oftmals nur die grüne Umwallung erhalten blieb (Eimer 1961; Braunfels 1976:145-150; Stober 1993:445f). Im östlichen Mitteleuropa blieb die Zahl jener Städte, die ihre Anlage überwiegend strategischen Überlegungen und Bedürfnissen verdankten, im Gegensatz zur permanenten Bedrohung durch die osmanische Herrschaft relativ bescheiden. Die hohen Kosten der Festungswerke und die gleichzeitigen Finanzprobleme des Habsburgerstaates liefern hiefür zumindest einen Erklärungsgrund. Investitionen erfolgten eher in die Adaptierung der Fortifikation älterer Städte im Grenzraum, wogegen man die gegen die Türken behaupteten wie auch die später eroberten Gebiete eher durch die Ansiedlung von Wehrbauern („Militärgrenze") abzusichern trachtete. Festungen als städtische Vorformen bildeten die Ausnahme. Hierher zählen etwa Neuhäusel/ firsekiijvär sowie das von Karl II. von Innerösterreich 1579-81 errichtete Karlstadt/Karlovac (I. Kiss in Herrmann/Irsigler 1983:173-194). Letzteres erhielt nach 1699 die typische Struktur der Festungsstadt mit Sterngrundriß und einer Binnengliederung, in der die militärischen Großbauten dominierten, wenngleich die Gebäude der barokken Orden nicht fehlten (Stoob 1985:205). Damit liegt eine Nähe zu
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jenen (groß-) polnischen Residenzstädten vor, die seit Ende des 16. Jahrhunderts als Zentren großer Herrschaften errichtet wurden und beeindruckend von Zamosc (1578) repräsentiert werden. Beispiele vom Beginn des 17. Jahrhunderts sind Bialystok und Rydzyna (Bogucka 1980:284f; A. Milob§dzki in Herrmann/Irsigler 1983:41-47).
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HAUPTSTÄDTE
Im Gegensatz zu den Einzwecksiedlungen der Bautheoretiker, wie sie ansatzweise durch die Festungsstadt verkörpert werden, entsprach die neuzeitliche Residenzstadt durch ihre Funktionsbreite einem umfassenderen Stadtbegriff (Maschke/Sydow 1966; Andermann 1992; Engel/Lambrecht/Nogossek 1995). Aufgrund der ständigen Anwesenheit des Hofes und der Ausweitung und Intensivierung der Verwaltung, die zur Identität von Residenz- und Hauptstadt führen konnte, entstanden wirtschaftliche Impulse seitens der Konsumsphäre, die in weiterer Folge auch die Produktions- und Distributionssphäre beeinflußten und veränderten. Residenzen wurden zudem als Zentralfestungen ausgebaut und bildeten durch Verbindung mit weiteren, im Zuge eines Ausleseprozesses befestigten Städten den Mittelpunkt eines Fortifikationssystems; seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden dort feste Garnisonen. Die Rolle als selbständiges kirchliches Zentrum trat wohl in den Hintergrund, doch konzentrierten die Residenzstädte die vom Staate übernommenen Fürsorge-, Unterrichts-, Erziehungs- und Disziplinierungsfunktionen. Ansätze zur Residenzbildung reichen bis weit ins Mittelalter zurück und werden dort faßbar, wo der König oder Fürst seine Reiseherrschaft zugunsten einzelner bevorzugter Aufenthaltsorte aufgab. Diese deckten sich, in romanischen Gebieten früher als in germanischen, zumeist mit Städten. Burgen entstanden innerhalb der Städte und vielfach gegen den Widerstand der politisch tragenden Bürgerschicht. Sie konnten mit einer Reihe charakteristischer Institutionen in Verbindung stehen, etwa der fürstlichen Grablege, dem Hofkloster, mitunter auch mit einer präuniversitäten Bildungsanstalt. Maßgeblich blieb aber das Verhältnis zwischen dem Herrscher und der Bürgergemeinde. Nicht selten verlegte der Fürst seine Burg an die Peripherie der Bürgerstadt, um seine militärische Dominanz zu wahren: So in Paris, wo der Louvre dem Palast der Cite folgte, oder in München, wo die Neue Residenz den Alten Hof ablöste; dreistufig verlief die Entwicklung in Wien mit den Etappen Berghof - Alte Burg am Hof - Neue Burg. Zuweilen ließen Fürsten Burgen zur besseren Sicherung ihrer Herrschaft
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Residenzen
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Hauptstädte
weit entfernt von ihren Wohnpalästen bauen, wie der Londoner Tower und die Pariser Bastille zeigen, oder sie nützten das Relief zur Verteidigung und Machtdemonstration. Hiefür bilden die Bischofsstädte Würzburg und Salzburg eindrucksvolle Beispiele. Im Falle von Münster ist zu erkennen, daß geistliche Fürsten noch im Barock versuchten, durch mächtige Zitadellen ihren Hoheitsanspruch gegenüber den Städten zu demonstrieren. Und auch in Rom wäre die päpstliche Herrschaft über die in ihrem Selbstbewußtsein sicher nicht sonderlich stark entwickelte Stadt ohne die Stütze der Engelsburg (Castel S. Angelo) in ihrer Dimension schwerlich aufrecht zu erhalten gewesen (Braunfels 1976:162-164). Die Residenz kann auch Element des Hauptstadtbegriffs sein, der als „caput", „houbtstat" oder „metropolis" ebenfalls weit ins Mittelalter zurückreichend - die durch Bevölkerungsagglomeration und Multifunktionalität gekennzeichnete Staats- oder Landesmitte bezeichnet. Im weiteren wurde die Konzentration zentraler politischer Behörden wie Regierung, Parlament, höchster Gerichts- und Verwaltungsstellen als essentiell erkannt (Engel/Lambrecht/Nogossek 1995:16f). Vor allem in den Staaten Randeuropas erscheint ein die Residenzfunktion überlagerndes Hauptstadtprinzip früh ausgebildet wie etwa in Paris, London, Edinburgh, Kopenhagen, Stockholm oder Lissabon. Andere erfüllten die zentrale Funktion nur beschränkt oder wuchsen in die Rolle erst hinein, mitunter bedrängt von wirtschaftlich starken Plätzen, wie Brüssel (Antwerpen), Den Haag (Randstad), Madrid (Toledo) oder Warschau (Krakau) (Clark/Lepetit 1996:6). Im Gegensatz dazu verteilten sich die Hauptstadtfunktionen im römisch-deutschen Reich auf mehrere Zentren, ohne daß diese insgesamt Kontinuität behaupten konnten (Aretin 1983; Stürmer 1992; Schultz 1993). Trotz einer zweifellos starken mittelalterlichen Tradition stellen die Residenzen und Hauptstädte der Neuzeit, sowohl die Neugründungen als auch die Ausbauformen, einen eigenen Typus dar. Maßgeblich dafür war das neue Verhältnis der Stadt zum Staat, aber auch die „Profanierung" der sozialen Struktur, die sprunghafte Entwicklung des Behörden- und Verwaltungsapparats und des zugeordneten Personals, die adelige Residenznahme in der Stadt, die Garnison. Dabei erlebten die Mittelpunkte geistlicher Territorien innerhalb des deutschen Reiches eine ganz ähnliche Entwicklung wie die Residenzen weltlicher Fürsten, die in protestantischen Ländern vielfach auch zu Hauptstädten im kirchlichen Sinne wurden. Residenzen und Hauptstädte können als Ausdruck der absolutistischen Staatstheorie verstanden werden, deren Wandlungen auch im Stadt-
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konzept, insbesondere im Bauprogramm, sichtbar werden. Man hat auf Abweichungen in der Staatsauffassung der französischen, preußischen oder russischen Monarchen verwiesen, die auch in der unterschiedlichen Gesamtstruktur von Versailles, Potsdam oder St. Petersburg ihren Ausdruck gefunden haben (Braunfels 1976:154). Für die mehrheitlich erfolgte Erneuerung überlieferter Bausubstanz wurden freilich auch eine Reihe anderer Faktoren bestimmend: der technische Fortschritt, das Anwachsen der Bevölkerung und der umlaufenden Geldmenge, nicht zuletzt die Notwendigkeit, öffentliche und private Ansprüche repräsentieren zu können (Benevolo 1993:147). L. Mumford (1979:367) nannte die Avenue (auch boulevard, boulevert, cours, mall) „das wichtigste Symbol und die Hauptsache einer barocken Stadt" (vgl. auch Mignot 1999:330). Eine Sichtung des umfangreich überkommenen Planmaterials zeigt rasch, daß dieser die große Platzanlage und das monumentale öffentliche Gebäude nahezu gleichwertig an die Seite zu stellen sind. Es wurde schon auf die mögliche Inkongruenz der Begriffe Hauptstadt und Residenzstadt verwiesen. So wird man weder London, das immer, noch Paris, das die längste Zeit hindurch auch Königsresidenz war, als Residenzstadt im engeren Sinne bezeichnen. In keiner der beiden Großstädte haben die Residenzbauten eine das gesamte Baugefüge beherrschende Stellung erlangt. In Spanien, dessen Zentralismus sich seit dem Fall von Granada 1492 rasch verstärkte, wurde Madrid, wohl aufgrund seiner Lage, 1561 zur Hauptstadt erklärt, ohne dieser Aufgabe voll gerecht werden zu können. „Italien" gleicht in seiner territorialen Zersplitterung „Deutschland", d.h. dem Heiligen Römischen Reich. Hier stellen Turin für Savoyen und Rom für den Kirchenstaat Beispiele einer vorwiegend im 16. Jahrhundert erfolgten Ausgestaltung zur Residenz dar, während es vor dem Risorgimento nicht zur Ausbildung einer Hauptstadt kam (Goez 1979). Die mittelalterlichen Haupt- und Residenzstädte des sizilianischen Königreiches, Neapel und Palermo, waren unter den aragonesisch-spanischen Vizekönigen nicht einmal Sitz eines absoluten Herrschers. Im Norden sind Stockholm und Kopenhagen wohl echte Hauptstädte geworden, ohne daß die Tatsache der königlichen Wohnung eine Ausgestaltung als Residenzstadt nach sich gezogen hätte. Ansätze zur Residenzbildung lassen sich auch in Ungarn unter Matthias Corvinus feststellen; die folgende Verbindung mit Habsburg-Österreich hat hier jedoch andere Wege gewiesen (zuletzt A. Kubinyi in Engel/Lambrecht/Nogossek 1995:145-162). Die polnischen Könige verlegten ab 1596/1611 ihre Residenz von Krakau nach Warschau, das vor allem durch die Bauten
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des Adels sein neues Gepräge erhielt. Trotz der Abhängigkeit von ausländischen Fürsten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts blieb hier der Residenzstadtcharakter erhalten (Bogucka 1995). Die Residenzstadt als Neuschöpfung des 17. und 18. Jahrhunderts besitzt ihre prominentesten Vertreter zweifellos in Frankreich, dazu in Lothringen und Savoyen, im Heiligen Römischen Reich mit einer größeren Zahl von Beispielen und mit St. Petersburg auch solitärhaft in Rußland. Auf letzteres wird im folgenden nicht weiter eingegangen. Frühe Formen der Residenzbildung vollzogen sich im kleinstädtischen Rahmen (Sabbioneta) bzw. innerhalb des alten städtischen Siedlungsverbandes (Vigevano, aber auch Paris). Dazu stellte sich die Variante, wo das fürstliche Schloß in ein lockeres Verhältnis zur Bürgerstadt trat (Neugebäude in Wien, Palazzo del Те vor den Toren von Mantua, ab 1624). Für die Verbindung mit der Neuorganisation eines ganzen beachtlichen Stadtgefüges bietet wohl Turin nach der Rückkehr Emanuele Filibertos von Savoyen 1559 das früheste Beispiel, anfangs noch klar unter Einbeziehung des Festungsgedankens. Die Residenzstadtbildung aus wilder Wurzel und der Verzicht auf starke Fortifikationsanlagen markieren dann eine weitere Entwicklungsstufe (im folgenden nach Braunfels 1976:169-178). In Turin verliefen der durch das rasch einsetzende Bevölkerungswachstum bedingte, dreimal (1620, 1673, 1714) nach drei Seiten erfolgte Ausbau der über römischem Rastersystem errichteten Altstadt und die Ausgestaltung der Residenz, die damit zur Stadtmitte wurde, in beachtlichem Gleichklang. Die nach der letzten Erweiterung gegebene Mandelform täuscht in ihrer Binnengliederung eine Einheitlichkeit vor, die man erst durch exakte Planung und strenge Baugesetze erreichte. Da die Bewohner gezwungen wurden, ihren Palästen und Häusern an allen Straßen der Altstadt und der Neustädte gleichartige Fassaden zu geben, fand die soziale Abstufung nicht - wie im Regelfall - in dem vom Zentrum zur Peripherie hin abnehmenden Bauaufwand ihren Niederschlag. Vielmehr erfolgte eine schichtspezifische Trennung zwischen „piano nobile" und sonstigen Stockwerken einerseits, Haupthaus und Hinterhöfen andererseits. Den Residenzbauten im Inneren entsprach ein Kranz von Kloster- und Wallfahrtskirchen, von Lust- und Jagdschlössern um die Stadt, deren Höhepunkte das gleichzeitig mit Versailles erbaute Venaria Reale im Norden sowie Stupinigi im Süden (seit 1729) darstellen. Frankreich verfügt mit Versailles und dem etwas älteren Richelieu über zwei Residenzstädte mit ähnlichem Grundprogramm, der Verbindung von Schloß und Stadt, und unterschiedlichen Schicksalen. Während
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letzteres, seit 1631 als Rechteck mit regelmäßigem Straßenraster und dominanter Platzanlage errichtet, nach dem Tod des Kardinals 1642 ohne Hof und mangels ausreichender Bevölkerung ein Schattendasein führte (Kruft 1989:82-98), verzeichnete Versailles einen stürmischen Aufstieg. An der Stelle eines kleinen Jagdschlosses erwuchs hier „aus der Einsicht, daß die Distanz zur Hauptstadt und dem irrationalen Verhalten der großstädtischen Massen eine Voraussetzung zur Erhaltung der Königsmacht und ihrer sakralen Würde bilde" (W. Braunfels, 1976: 222), seit den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts der mehrschichtige Riesenbau Mansards, dem seit 1671 die Stadt - für die Höflinge, Beamten, das Militär und die Zivilverwaltung - folgte. In symmetrischer Anordnung sollten links und rechts der drei zum Schloß führenden Hauptachsen regelmäßige Straßenkarrees nach genauen Vorschriften gebaut werden. Die Dynamik des Bevölkerungswachstums erhellt aus dem Mittel der Sterbefälle, das sich zwischen 1661/70 und 1671/80 nahezu verfünffachte und bis 1700 eine weitere Verdreifachung erlebte, was einer Gesamteinwohnerzahl von etwa 30.000 entsprochen haben mag. Dem Abzug des Hofes im September 1715 folgte ein rascher Niedergang, der begleitet war von einer sozialen Umstrukturierung: gegenüber dem bis früher dominanten Baugewerbe (1680 35,5 % der Neuvermählten) und Hausgesinde traten Handwerk und Kleinhandel in den Vordergrund (vgl. Lepetit 1977; Lepetit 1978). Gegenstück zu Versailles ist nicht so sehr das 1766 im französischen Staatsverband aufgegangene Nancy, das seit 1735 von Stanislas Leszczynski, dem Gegenspieler Augusts des Starken (Dresden) um den polnischen Thron (R. Babel in Andermann 1992:223-250), zur Residenzstadt ausgebaut wurde, sondern das Potsdam der preußischen Könige (Braunfels 1976:229-234). 1661, also gleichzeitig mit Versailles, begann Friedrich I. im Anschluß an eine unbedeutende Kleinstadt mit dem Bau eines Schlosses, mit dem Gartenanlagen und kleinere Lustschlösser verbunden werden sollten. Aber schon mit der Stationierung des Leibbataillons der „langen Kerls" unter seinem Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm verschoben sich die Gewichte in Richtung Garnisonszentum. Die Vergrößerung der Truppe zwang zur Erweiterung der Stadt, die in drei Etappen - 1722, 1733 und 1737 - planmäßig erfolgte. Zwischen 1717 und 1740 entstanden mehr als 660 Häuser; Friedrich d. Gr. genehmigte in den vierzig Jahren nach 1748 den Bau weiterer 621 bürgerlicher Wohnbauten, aber auch von 99 Kasernen und 29 Manufakturen. Potsdam, das 1786 bereits 18.503 Einwohner zuzüglich 6.539 Soldaten zählte, wurde zur vom Militär dominierten Musterstadt. Außerhalb dieser und in keiner Weise derselben zu-
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Residenzen
und
Hauptstädte
geordnet erbaute der König sein Wohnschloß (Sanssouci), das im Gegensatz zu Versailles nicht öffentlich war und den Monarchen als ersten Diener des Staates erscheinen lassen sollte. Die Epiphanie der Residenzstadt Potsdam ist freilich ohne jene von Berlin nicht voll zu verstehen (Schultz 1992; Schultz 1996). Nach den Kriegsereignissen des mittleren 17. Jahrhunderts ausgeplündert, besaß die Agglomeration aus - einschließlich des Schloßbezirks, von NeuCölln und Friedrichswerder (1658) - sechs städtebaulichen Einheiten u m 1679 knapp 8.000 Einwohner. Die fürstlicherseits geförderte massive Zuwanderung, zumeist von Glaubensflüchtlingen mit hohem gewerblichem Ausbildungsniveau, und die daraus resultierende Wirtschaftskraft ließen jedoch die Einwohnerzahlen parallel zur planmäßigen Erweiterung rasch ansteigen. 1673 entstanden die Dorotheenstadt, 1688 die Friedrichsstadt - beide wurden 1734 erweitert - im Westen und Südwesten, 1690 Königsstadt und Stralauer Vorstadt im Norden und Osten - hier ging der Planung die Auffüllung mit Siedlern u m nahezu hundert Jahre voraus - sowie die ebenfalls zunächst am Reißbrett entworfenen Erweiterungen Luisenstadt (1695/1802) und Spandauer Vorstadt (1699). Gab es 1700 weniger als 30.000 Berliner, so stieg deren Zahl auf 65.300 im Jahre 1721 und einschließlich der riesigen Garnison auf 147.000 um 1785 an (Braunfels 1976:189). Berlin und Potsdam signalisieren in deutlicher Weise eine neue politische Schwerpunktbildung innerhalb des Heiligen Römischen Reiches, das die größte Zahl an frühneuzeitlichen Residenzstädten hervorbrachte, als Ganzes allerdings nie eine Hauptstadt besessen hat. Wien konnte den Titel „Haupt- und Residenzstadt" nur für die habsburgischen Länder in Anspruch nehmen, und selbst für diese endgültig erst nach dem Tode Kaiser Rudolfs II. (1612), der von Prag aus regiert hatte. Von da an begann sich allerdings das bauliche, aber auch das soziale und wirtschaftliche Bild der Stadt in Richtung der für die Residenzstadt typischen Facetten, d.h. Dominanz der fürstlichen und adeligen Bauten, Spannungen zwischen Bürgerschaft und Hofleuten, Änderungen in der Konsum- und Produktionsstruktur, rasch zu verfestigen (Lichtenberger 1973; Lichtenberger 1977; vgl. auch Spielman 1993). Wien gehörte innerhalb des Reiches zu den wenigen Fällen, in denen Großstädte des Mittelalters zu Residenzen geworden sind. Eine Erklärung hiefür liegt in der Tatsache, daß den großen Kommunen wie Köln, Hamburg oder Frankfurt die Verdrängung des Stadtherrn gelungen war und eigentlich nur im Südosten, in Österreich, Bayern oder Böhmen, der Fürst seine Herrschaft über die Städte voll durchzusetzen vermochte. Wenn man die Residenzen der größeren Territo-
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und neue Typen
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rien dem Typus Mittelstadt zuordnet, ist allerdings nicht zu übersehen, daß es sich dort um die größten, sowohl vom wirtschaftlichen als auch vom politischen Gewicht her, handelte. Als solche wären zu nennen: Dresden, Bayreuth, München, Stuttgart, Heidelberg, Düsseldorf, Kassel oder Hannover (vgl. auch Franfois 1978). Generell entsprechen dann der abnehmenden Größe des Landes oder Herrschaftskomplexes immer kleinere Residenzstädte, von denen nicht wenige vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zufolge des residierenden Hofes überhaupt erst zu städtischer Gestalt gediehen (Maschke/Sydow 1966; Stoob 1970a:277f; Endres 1989). Dazu trat das Phänomen der Sekundär- und Wechselresidenzen (Erlangen, auch Potsdam), die in der Regel auch nicht zum Sitz der Zentralbehörden wurden (Klueting 1993: 21). Die in ihrem Wesen un-, teils sogar antibürgerliche fürstliche und adelige Lebensform als Stimulans städtischer Entwicklung ist hier ein beachtenswertes Phänomen. Die absolutistische Herrschaft hat im Rahmen der Residenzbildung nicht nur die städtische Sozial- und Wirtschaftsstruktur und - mit der Anlage von Schlössern und eigenen Stadtvierteln - das bauliche Erscheinungsbild der Städte verändert, sie hat auch Städte als Residenzen neu geschaffen. Dabei griff man auf die Idealpläne der Renaissance· und Barockarchitekten zurück. Als 1717 der Markgraf von Baden-Durlach Karlsruhe zur Residenz erhob, ließ er gleichzeitig eine völlig neue Stadtanlage projektieren (vgl. E.O. Bräuche in Andermann 1992:199-222). Darnach stand das Schloß im Mittelpunkt der Gesamtanlage, von hier führten 32 Radialstraßen gleichmäßig nach allen Richtungen. Andere Residenzstädte wiederum wurden nach dem Schachbrettmuster angelegt. Überall aber war das Fürstenschloß das beherrschende Element, ob in Ludwigslust, Rastatt oder Oranienburg bei Dessau. Repräsentative Bauten wie Adelspalais, Kirchen, Zeughäuser, Theater, Opernhäuser, Bibliotheken etc. vervollständigten das Bild, während die bürgerliche Bautätigkeit durch genaue Vorschriften eingeengt wurde. Wie in Karlsruhe, so verzichtete man auch im etwa gleichzeitig angelegten Ludwigsburg, das dann abwechselnd mit Stuttgart Residenz war, auf eine bastionäre Befestigungsanlage. Erst als die einliegende Garnison zu viele Deserteure hervorbrachte, wurde um die Stadt eine (Polizei-)Mauer aufgeführt (Stoob 1970a:281). BERGSTÄDTE UND EXULANTΕNSΤÄDΤΕ Ein besonderes Problem der neuzeitlichen Städtegründung stellte naturgemäß die Peuplierungsfrage dar, da man, um Anreize zur An-
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Bergstädte und
Exulantenstädte
Siedlung zu geben, bestimmte Freiheiten gewähren mußte, andererseits aber einer Verproletarisierung durch Forderung eines bestimmten Ansiedlungsvermögens zuvorzukommen trachtete (Rödel 1992:9396). Bei den gewährten Privilegien steht das Recht auf Glaubensfreiheit an vorderer Stelle, daneben die Freiheit von Steuern, Leibeigenschaft und Fron, während über bürgerliche Selbstverwaltung oder Gewerbefreiheit wenig gesagt wird. Damit gelangt man zu einem weiteren Städtetyp, der sich im wesentlichen auf Mittel- und Ostmitteleuropa konzentriert und mit der Flucht als einem erst für die Neuzeit typischen Wanderungsgrund in Zusammenhang steht: den Exulantenstädten (Stoob 1970a:264-275). Der religiöse Antrieb, die Wanderung aus Gewissensgründen, ist gleichsam ein Gegenbild zu gängigen Voraussetzungen für Migration. Motivierte die Hoffnung auf sozialen Aufstieg und ökonomische Verbesserung den Landbewohner beim Zug in die Stadt, so überholte hier die geistige Freiheit die materielle Sicherheit in der Werteskala oftmals der reichsten und am meisten gebildeten Stadtbürger. Sieht man von den Judenverfolgungen des Mittelalters ab, so waren die Glaubensflüchtlinge im wesentlichen eine Folgeerscheinung von Reformation und Gegenreformation. Ansiedlungen in toleranten Städten und Territorien stand die Neugründung von Stadtvierteln, nicht selten in Residenzen, oder ganzer Städte gegenüber. Die ersten Wellen des Flüchtlingsstromes wurden von extrem spiritualistischen und Sozialrevolutionären Gruppen wie den Täufern gebildet, die in Ostfriesland, am Niederrhein und in westfälischen Städten Aufnahme fanden. Ein signifikantes Beispiel ist das niederrheinische Krefeld, das schon nach der gewaltsamen Beendigung der Münsterer Täuferherrschaft 1535 Zuzug erhielt, einen raschen Aufstieg aber vor allem seit der Zuwanderung mennonitischer Flüchtlinge im 17. Jahrhundert erfuhr. Durch Initiative der aus dem Bergischen Land vertriebenen Täuferfamilie von der Leyen, die Leinen- zu Seidenwebern umschulte und diesen Webstühle zur Verfügung stellte, erlangte die Krefelder Seidenfabrikation einen beachtlichen Stellenwert, wobei sie bald den alten Seidenplatz Köln überflügelte. Krefelds Einwohnerzahl stieg von unter 2.000 im Jahre 1716 auf nahezu 6.500 zu Jahrhundertende (1798) (Kriedte 1982:39-41). Überhaupt ist festzustellen, daß die Fremden fast durchwegs neue wirtschaftliche Antriebe mit sich brachten. Wie für die Krefelder Mennoniten gilt dies für Gruppen Böhmischer Brüder, deren Flucht nach dem Schmalkaldischen Krieg einsetzte und die sich 1547 in der Neugründung Lissa/Leszno an der Straße Glogau-Posen ansiedelten. Lissa
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wurde unter dem Südmährer Arnos Comenius geistiges Zentrum der Unität und im Anschluß an alte Tuchmachertradition des Raumes auch bedeutende Tuchstadt mit 12.000 Einwohnern u m 1650 (Stoob 1970a:266). Nach tiefgreifenden Zerstörungen fiel es im 18. Jahrhundert auf die Stufe der Mittelstadt zurück. Eingewanderte Protestanten schufen die von Aachen nach Monschau verlegte Tuchfabrikation sowie die in Stolberg errichtete, durch Großbetriebe und moderne Unternehmerzusammenschlüsse gekennzeichnete Messingindustrie. Die gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Frankfurt am Main u m Aufnahme bittenden flämischen und wallonischen Calvinisten wurden zur Konkurrenz der dortigen Wirtschaft, da sie als Verleger ihre Arbeiter in großer Zahl selbst mitbrachten. Nach anfänglicher Duldung, der aber bald Reibereien wegen des Gottesdienstes folgten, schlossen sie zusammen mit dem Grafen Philipp-Ludwig von Hanau-Münzenberg einen Gründungsvertrag („Kapitulation") und errichteten 15981601 im Anschluß an dessen Kleinresidenz die Neustadt Hanau, eine schachbrettartig angelegte, befestigte Gewerbestadt mit gehobener Weberei und Wirkerei (Stoob 1970a:269f)· Weitere Exulantenstädte in der Pfalz waren Otterberg und Lambrecht, Schönau und Frankenthal, letzteres in Verbindung mit einer Festung. Die gegenüber dem reformierten Gottesdienst wenig tolerante Haltung Hamburgs führte zum Ausbau von Altona. Seit dem Herrschaftsantritt Rudolfs II. wuchs auch in den habsburgischen Ländern der konfessionelle Druck. Die Folgen können an der vielfach als Prototyp der Exulantenstadt bezeichneten württembergischen Bergstadt Freudenstadt beobachtet werden, deren Mannschaft in Ausnutzung des innerösterreichischen Austreibungsedikts von 1598 vor allem auf dem Wege des öffentlichen Aufrufs vergrößert werden sollte (s.o.). Mit dem Dreißigjährigen Krieg erreichte die Auswanderung aus Religionsgründen ihren Höhepunkt. Insbesondere die Niederwerfung Schlesiens durch die Kaiserlichen verursachte seit 1628 eine zunehmende Massenflucht von Lutheranern. In Kursachsen, an den schlesischen Grenzen der Lausitz und Posens reihte sich eine ganze Kette rasch gewachsener Notsiedlungen, die bald städtischen Charakter annahmen. Im polnischen Bereich entstanden bis gegen 1650 rund 25 völlig neue Anlagen, vielfach im Normalschema. Siedlungsbild, Wirtschaftsleben und Verfassungsstruktur wurden von bestehenden Einrichtungen übernommen und weiterentwickelt (Stoob 1970a:271). Die Mehrzahl der Flüchtlingsgründungen im Osten war aus der böhmisch-schlesischen Welle des 16. und besonders 17. Jahrhunderts entstanden. Verschiedene Ursachen, der schwedisch-polnische Krieg,
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Bergstädte und
Exulantenstädte
das Aussterben der letzten evangelischen Piasten in Schlesien, der zahlenmäßige Rückgang der zum Exulantenschutz bereiten polnischen Adeligen, bereiteten der Bewegung ein Ende bzw. führten zum Niedergang bestehender Stadtsiedlungen. Spätere Exulantengründungen traten zumindest nicht so massiert auf; sie verteilten sich weitmaschig auf die Reichsteile unter reformierten oder toleranten Fürsten. Hierher zählen jene Städte, die im Zusammenhang mit der zweiten kalvinischen, der eigentlich hugenottischen Flüchtlingswelle nach 1685 entstanden sind und als deren wichtigste Neuwied zu nennen wäre. 1653 als Kombination von Merkantilsiedlung und Residenzstadt der Grafen von Wied gegründet, entwickelte sich der Ort im Verlauf des folgenden Jahrhunderts vor allem durch Aufnahme von Reformierten, Lutheranern, Katholiken, Mennoniten, Inspirierten, Herrenhutern und Juden zu einem Modell der Toleranz (Th. Kraus in Ennen/Irsigler 1972:17-22; Volk 1991). Auch das bereits angesprochene mehrphasige Wachstum Berlins nach der Mitte des 17. Jahrhunderts stand unter dem kombinierten Vorzeichen von „Commerzium" und „Peuplierung" durch Heranziehung von Exulanten. Die letzte aus Gründen der Konfession vertriebene Gruppe, die Salzburger Protestanten, reicht mit ihren Städtebildungen bereits in einen weiteren Typus, jenen der sogenannten Akzise- oder auch Retablissementsstädte. Man versteht darunter Stadtgründungen, in denen planmäßige Staatsmaßnahmen zur Hebung des Sozialprodukts, zur Mehrung der Einwohnerschaft, zur Steigerung der Wehrkraft und Kräftigung der Finanzen zur Anwendung gelangten. Dieses Konzept wurde sowohl in Litauen als auch besonders im engeren Bereich von Brandenburg-Preußen verwirklicht. Für eine städtische Autonomie war darin allerdings kein Platz; der Steuerrat bildete eine zentrale Verwaltungsinstanz, und erst allmählich erhielten die städtischen Neubildungen ihre Magistrate, die dann für Kriegs- und Domänenverwaltung verantwortlich blieben. Dasselbe galt für die ansehnliche Gruppe von „Akzisestädten", die in Preußens westlichen Landesteilen unter Friedrich Wilhelm I. 1713-20 durch Verwaltungsakte zu städtischem Recht befördert worden sind. Den Typ der Akzisestadt gab es ferner in Westfalen und an der mittleren Elbe (Stoob 1970a:275). Mehrheitlich strebten die Flüchtlinge aus katholisch gebliebenen oder rekatholisierten Räumen hinaus. Fehlen dort somit analoge Städtebildungen, so finden sich dennoch einige Stadtanlagen im gegenreformatorischen Kontext, die sich meist um klösterliche, jesuitische, gymnasiale Zentren entwickelten (Weißwasser/Bilä Voda in Mähren, Haida/Novy Bor in Böhmen, Dyhernfurth/Brzeg Dolny in Schlesien)
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und neue Typen
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(Stoob 1970a:276). Auch der Ring von katholisch-königlichen Festungen um das hugenottische Zentrum La Rochelle war aus vergleichbaren Wurzeln erwachsen, während es sich etwa bei Loreto, Altötting oder Mariazell um Wallfahrtsorte handelt, die erst im Verlauf einer jüngeren Entwicklung zu Kleinstädten heranwuchsen. Den markantesten Typus ökonomisch bedingter Sonderformen im frühneuzeitlichen Städtewesen stellten zweifellos die Bergstädte dar, ohne freilich mittelalterlicher Vorläufer zu entbehren (Stoob 1970a: 253-264). So reichen am Abbau und an der Verhüttung von Erzen orientierte städtische Siedlungen bis vor 1200 zurück - wie Goslar im Harz und Freiberg in Sachsen - und finden sich auch in späteren Epochen (z.B. Iglau/Ihlava in Mähren, Kuttenberg/Kutnä Hora in Böhmen, Kremiiitz/Kremnica, Schemnitz/Banskä Stiavnica oder Neusohl/ Banskä Bystrica in Oberungarn). Spezifische, dem städtischen Rechtsraum verwandte Betriebs- und Organisationsformen wie auch der Bedarf an größeren, kaufmännischen Kapitalien bildeten seit jeher eine feste Klammer zwischen Montanwesen und Stadt. Hinzu kam ein Arbeitskräftebedarf, der die Entwicklung von Großsiedlungen begünstigte. Seit dem 15./16. Jahrhundert markiert die Bergstadt jedoch eine Sondererscheinung in der weitgehend auf anderen Wegen verlaufenden allgemeinen Stadtentwicklung. Über ihre geographische Gebundenheit hinaus war sie in starkem Maße von Konjunkturschwankungen bestimmt, womit sich Aufstieg und Niedergang vielfach innerhalb kurzer Zeit vollziehen konnten. Wie die Exulantenstadt war auch die frühneuzeitliche Bergstadt mit wenigen Ausnahmen in ihrer charakteristischen Ausformung auf Mitteleuropa und dessen Grenzbereiche beschränkt. Vorrangig bildeten die Fundstätten von Edel- und Buntmetallen die Zellen der Stadtbildung, während dem Eisen zufolge der Dezentralisierung von Abbau, Verhüttung und Weiterverarbeitung keine „städtebildende" Kraft innewohnte. Ebensowenig brachte der Kohlenbergbau Städte hervor, sondern er führte nur zur Verdichtung bestehender Stadtsiedlungen und ihres Hinterlandes, wie etwa das Beispiel Charleroi zeigt (Ennen 1981:10). Eine Ausnahme stellte hier vielleicht das englische Whitehaven dar, das nach 1680 auf Initiative des Kohlengrubenbesitzers Sir John Lowther im Rastersystem angelegt wurde, dessen rascher Aufstieg ohne die ergänzende Hafenfunktion jedoch kaum vorstellbar gewesen wäre (Collier/Pearson 1991). Neue umfangreiche Erzfunde in bisher unerschlossenen Gebieten sowie verschiedene Etappen technischen Fortschritts im Untertagbau und in der Verhüttung ließen seit dem zweiten Viertel des 15. Jahr-
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Bergstädte
und
Exulantenstädte
hunderts eine neue Blüte der Edel- und Buntmetallbergbaue entstehen. Zeitlich an der Spitze stand das Tiroler Revier mit dem „Markt" Schwaz, der während der Blütezeit des Bergbaus etwa 15.000 Einwohner gezählt haben mag. Es folgten neue Funde in Böhmen (Gang bei Kuttenberg), im Harz sowie im sächsischen (Altenberg) und böhmischen Erzgebirge. Die Siedlungen bildeten zufolge des raschen Zulaufs von Interessenten zunächst regellose Anlagen; Befestigungen wurden vielfach aus Holz aufgeführt oder unterblieben überhaupt. Neben den führenden Städten des Reviers entstanden Stadtorte minderen Ranges und zahlreiche Knappendörfer, denen der Aufstieg verwehrt blieb. In Oberungarn wurden seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts den alten deutschen Bergstädten neue hinzugefügt (Dilln/Belabänya 1453) (vgl. Vozär 1980). Der Übergang von unkontrollierter zu planmäßiger Erzsuche etwa zwischen 1480 und 1490 führte zu einem wachsenden finanziellen und regulierenden Einfluß von Fürsten und bürgerlichen Unternehmern. Diese Tendenz schlug sich auch in der Übernahme des mittelalterlichen Planschemas bei Neuanlagen nieder, so bei der am Schreckenberg im sächsischen Erzgebirge über gittermäßigem Stadtgrundriß entstandenen Stadt (St.) Annaberg. Diese bedeutendste unter den Neugründungen - sie besaß 1509 8.000 und 1540 bereits 12.000 Einwohner und damit mehr als die älteren Städte Leipzig und Freiberg - erhielt 1497 ein Privileg, das den Bürgern Ratsverfassung, Niedergericht sowie wirtschaftliche Vorteile zusprach. 1503 wurde die Stadt ummauert. In der namengebenden Annakirche erhielt sie eine bedeutende spätgotische Hallenkirche, wie ja überhaupt die Großkirche ein Merkmal der florierenden und bevölkerungsstarken Bergstädte darstellt. Das wenige Jahre später auf böhmischer Seite entstandene, von den Grafen von Schlick geförderte Joachimsthal/ Jächymov soll um 1533 sogar 18.000 Einwohner gezählt haben, um bis 1613 auf unter 3.000 abzusinken (vgl. auch Stoob 1985:210-212). Neben dem sich zur Großstadt entwickelnden Prototyp Annaberg entstanden in den Jahrzehnten zwischen 1500 und 1560 noch gegen 30 größere und kleinere Anlagen. Andere Reviere entwickelten sich in ähnlicher Weise, so im Bereiche des böhmischen Kessels, am Kaiserwald und Böhmerwald. Noch wichtiger war das ebenfalls im frühen 16. Jahrhundert aufblühende sudetische Erzrevier, wo das Joachimsthaler Bergrecht an ungefähr 20 neue Städte entlang des Riesengebirges übertragen wurde. Die Herzoge von Münsterberg und von Jägerndorf konkurrierten hier mit den Fuggern, den Thurzo sowie Leipziger und Breslauer Familien. Hinzuweisen ist ferner auf die zweite bergmännische Erschließung des Oberharzes, wo der ursprünglichere, ge-
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und neue Typen
wachsene Städtetyp vorherrschte; lediglich Zellerfeld, das 1672 abbrannte, wurde im Schachbrettgrundriß wiedererrichtet. In der Spätphase des 17. und 18. Jahrhunderts nahm die Bergstadt vielfach Züge an, mit denen sie sich den vom Exulantenstrom gespeisten Wirtschaftssiedlungen näherte.
HAFENSTÄDTE,
WERFTSTÄDTE,
BÄDERSTÄDTE
Auf die Hafenstadt als Mischform zwischen wirtschaftlich geprägter und Militärsiedlung ist bereits verwiesen worden (s.o.). Ihr Hauptverbreitungsgebiet war mit dem Zurücktreten des Mittelmeerraumes zunehmend die Atlantik- und Nordseeküste. Eine Sonderstellung nahm dabei Calais ein, das als kontinentale Hafenbastide in die Hand der Engländer gekommen war und von diesen zur starken Festung ausgebaut wurde (Braunfels 1976:141-143). Als französische Neuanlagen traten unter Franz I. Le Havre (seit 1517), unter Ludwig XIV. Brest, Lorient, Rochefort und Sete hinzu, die eine Aufgabenteilung in der Form eingingen, daß Sete die Funktionen eines Wirtschaftshafens an der Mündung des Midi-Kanals übernahm, von Lorient aus die Kolonialhandelsgeschäfte mit Übersee betrieben wurden, während man Brest und das planmäßig angelegte Rochefort - zusammen mit Toulon - als Kriegshafen und Arsenal einrichtete (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:113). Bedurfte es bei den französischen Hafenstädten der üblichen, steuerlich-kommerziellen Begünstigungen der Zuzügler zur Hebung der Population, ein Muster, das sich auch beim Ausbau Livornos zum toskanischen Haupthafen unter Ferdinand I. de' Medici nach 1577 wiederfindet und das künstliche Element der Gründung unterstreicht (vgl. auch Kap. VI), so war die Entwicklung der englischen Werft- und Hafenstädte unmittelbarer von rationalen Faktoren bestimmt. Zumeist erfolgten militärische Überlegungen nicht losgelöst von den ökonomischen Bedingungen des Raumes. Der Kreis der Werften - im 16. Jahrhundert in erster Linie Deptford und Woolwich an der Themse - erfuhr nach 1620 unter den Stuarts eine deutliche Erweiterung: Chatham an der Mündung des Medway, Portsmouth, Falmouth oder Plymouth Dock wurden zu Flottenstützpunkten und führenden Plätzen des Schiffsbaus (Clark/Slack 1976:36). Nach 1700 erlebten die Werftstädte ein rasches Wachstum, das - wie im Falle der Städte im Norden und in den Midlands - auf expandierenden Industrien aufbaute. So stieg die Einwohnerzahl von Portsmouth im 18. Jahrhundert von 5.000 auf 33.000, jene von Plymouth 9.000 auf 45.000 (Chalklin 1974:44).
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Hafenstädte,
Werftstädte,
Bäderstädte
Werftstädte waren von Anfang an durch Spezialistentum, großbetriebliche Strukturen und einen deutlichen Männerüberhang gekennzeichnet (im folgenden Corfield 1982:34-50). Für das 18. Jahrhundert liegen Erhebungen vor, die den Schiffsbau und die angeschlossenen Sektoren als Brotgeber von 50-70 % der männlichen Erwachsenen ausweisen. Hingegen waren die Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen eng begrenzt. Eine straffe Organisation nach außen, insbesondere gegenüber dem Navy Board, und eine hohe Konfliktbereitschaft nach innen, die sich in zahlreichen Auseinandersetzungen entlud, waren ebenso Merkmale dieses Stadttyps wie eine hohe Bevölkerungsdichte und das Nachhinken des Ausbaus der Infrastruktureinrichtungen, insbesondere der Wasserversorgung, gegenüber dem Bevölkerungswachstum. Das räumliche Zusammenwachsen mit älteren, traditionellen Städten (Beispiel Rochester - Chatham) schuf zusätzliche Probleme. In der Regel waren die Werftstädte auch mit Häfen verbunden, doch hatten diese nur beschränkten Anteil an der Dynamik des Wachstums, das Hafenstädte und Häfen insbesondere seit dem 18. Jahrhundert erlebten. Eher läßt sich die Errichtung von Docks als zusätzliche bauliche Maßnahme neben der Anlage von Kaufmannshäusern, Warenhäusern oder Kais bei den Übersee- und größeren Regionalhäfen nachweisen. Mit der Expansion des Netzwerks der Überseemärkte begannen eine Reihe von Häfen den alten Umschlagplatz London zu konkurrenzieren. Waren dies zunächst im Norden und Nordosten Bristol, Exeter, Newcastle und Great Yarmouth, also Plätze, die auf eine längere städtische Entwicklung zurückblicken konnten, so traten im späteren 18. Jahrhundert mit Liverpool, Whitehaven und Sunderland neben dem älteren Hull eher Stadtorte einer jüngeren Generation in den Vordergrund. Beeindruckend ist vor allem das Ausbauprogramm von Liverpool, wo das erste Dock 1715 eröffnet wurde und ein Jahrhundert später die Dock Estate Company über eine Dockfläche von mehr als 60 acres (24-25 ha) verfügte. Die Einwohnerzahl der Stadt wuchs im Verlaufe des 18. Jahrhunderts von 6.000 auf 83.000 an (Chalklin 1974:51-54; Konvitz 1978:156-159). In ihren ökonomischen Voraussetzungen ist die Geschichte der Hafenstädte von jener der Gesamtwirtschaft freilich nicht zu trennen. Eine ebenfalls vorwiegend in England vertretene Sondererscheinung bildeten weiters die Bäderstädte, die neben der ab 1767 nach einem Plan von James Craig errichteten Neustadt von Edinburgh (Egli 1967: 135-137; Girouard 1985:230-232) auch die wichtigsten städtebaulichen Leistungen im Vereinigten Königreich darstellen. Reicht die Kenntnis natürlicher Heilquellen hier wie anderswo (Aachen, Aix, Baden-
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Baden, Baden b. Wien usw.) bis in die Römerzeit zurück, so setzte die Ausbildung eigentlicher Bäderstädte, in denen sich der Kurgedanke mit jenem des Vergnügens verband, nicht vor der Mitte des 17. Jahrhunderts ein. Entscheidend war die nach Ersatz verlangende, mit dem Dreißigjährigen Krieg verbundene Rückbildung kontinentaler Bäderkultur. Innerhalb von zwei Generationen entstanden etwa ein Dutzend solcher Kurstädte, die um die Gunst des Publikums, die Förderung seitens der Oberschicht, insbesondere aber u m die Auszeichnung königlicher Besuche miteinander rivalisierten. Zu den binnenländischen Thermalbädern trat der Seekurort (Clark/Slack 1976:33). Die größte Bedeutung erlangten Bath, das um 1700 3.000, um 1800 bereits 33.000 Einwohner zählte, Epsom Wells, Tunbridge Wells, Buxton und Scarborough, letzteres als früher Vertreter des Typus Seebadeorte, deren Zahl dann vor allem seit Ende des 18. Jahrhunderts zunahm. Überragt wurden alle von dem aus der Nähe der Hauptstadt profitierenden und aus einer Fischerstadt (Brighthelmstone) erwachsenen Brighton. Die Bäderstadt unterschied sich in mehrfacher Hinsicht vom traditionellen Städtebild (Chalklin 1974:51-54; Corfield 1982:51-65). Aus der Funktion als Brennpunkt des Freizeitvergnügens resultierte die Ausstattung mit bestimmten, teilweise aus der Metropole entlehnten Einrichtungen wie Promenaden, Ballokalen, Konzerthallen, Theatern (erstmals 1705) und Kaffeehäusern, mit denen sich neue Formen des gesellschaftlichen Lebens verbanden. Die Bandbreite reichte dabei von Exkursionen und Versammlungen bis zu Bällen und Konzerten, die nicht selten als Begegnungsort zum Zwecke der Eheanbahnung aufgesucht wurden. Obwohl der soziale Rang durchaus eine Rolle spielte, waren die öffentlichen Veranstaltungen allgemein zugänglich. Traditionelle Aspekte wie etwa lokale Marktveranstaltungen wurden durch eine neue Form von Freizeitindustrie überlagert. Viele Besucher kamen nur für ein langes Wochenende, was vor allem den Ausbau der Verkehrsverbindungen, insbesondere nach London, stimulierte. Hingegen errichteten die landbesitzenden Eliten und die Kommerzmagnaten feste Residenzen, die zunehmend durch die Errichtung von Häusern weniger Bemittelter ergänzt wurden. Vereinzelte Beispiele des zur Stadt tendierenden Typus Thermalbad finden sich seit dem 18. Jahrhundert auch auf dem Kontinent. Herausgegriffen sei Spa nahe der Tuchmacherstadt Verviers in den südlichen Niederlanden, das nach 1767 zum „Rendezvousplatz der Nationen Europas" wurde und eine den englischen Bäderstädten vergleichbare infrastrukturelle Veränderung erlebte. Die Beharrungskraft tra-
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Hafenstädte,
Werftstädte,
Bäderstädte
ditioneller Ordnung beweist allerdings die Tatsache, daß der Bischof von Lüttich als Stadtherr noch 1784 den Bau eines (3.) Spielsaales erfolgreich verbieten konnte (Lottin/Soly 1983:246-248). Am Beispiel der Bäder- und Kursiedlung wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch ein neuer Weg von der mauerumwehrten mittelalterlichen Stadt zur Auflösung der Stadt ohne Stadtrandbildung gewiesen, der dem Bedürfnis nach Naturnähe und Entspannung entgegenkam (Neale 1990). Intentional ist damit eine gewisse Verbindung zu den Villenbauten Italiens oder den Lustschlössern des französischen oder deutschen Adels gegeben, allerdings auf breiterer, stärker „demokratischer" Basis. Hauptbeispiel einer Stadtanlage mit oftmals gestaffelten Reihenhäusern oder einer Abfolge von Straße, Platz und fürstlichem Monumentalbau ist wiederum Bath (daneben Leamington, Cheltersham, Bristol, Clifton, Harrogate), das in seiner auf Vater und Sohn John Wood zurückgehenden Plansituation als erste moderne Großstadt bezeichnet worden ist (E.A. Gutkind, 1964-72,VI:257). Entscheidend ist, daß die englischen Squares im Gegensatz zu den Places Royales in Frankreich im besonderen auf die Bedürfnisse mittelständischer Käufer und Mieter Rücksicht nahmen. Architektonische Vorbildwirkung erlangte besonders das „Royal Crescent" als halbskreisförmige Anlage von Reihenhäusern (Braunfels 1976:296; Vercelloni 1994:107). Abschließend sei noch darauf verwiesen, daß es neben Neuanlagen nach kriegerischen Zerstörungen (Beispiele Edinburgh, Dorpat, Eger/ Erlau u.a.) oder zufolge raschen Bevölkerungswachstums auch solche gab, die auf vorangegangene Naturkatastrophen zurückzuführen waren. Diese ermöglichten zwar keine so freizügige Neugestaltung wie bei der Anlage von Städten auf grünem Rasen, boten aber doch Gelegenheit zur Verwirklichung praxisbezogener Baukonzepte. Zwei der größten Städte Europas haben sich in einem Abstand von 89 Jahren dergestalt „gehäutet": das 1666 durch ein Feuer vernichtete London sowie Lissabon, das - wie Catania, Noto und andere sizilianische Städte 1693 (auch 1783) - im Jahre 1755 von einem Erdbeben heimgesucht worden ist. Während nun London weitgehend ohne Einflußnahme seitens des Königs und der Regierung vom freien Unternehmertum rasch wieder aufgebaut wurde und dabei sein altes Gesicht im wesentlichen behielt (Bedford 1966), hat man in Lissabon unter Pombai eine ganz neue Stadt errichtet, die das beste Beispiel für die Stadtbaukunst im Zeitalter der Aufklärung darstellt. An die Stelle des Künstlers war der Ingenieur getreten. Man fand technische Lösungen für die Probleme, die der unsichere Boden aufwarf. Man
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legte breite Straßen an, wodurch die Wohndichte vermindert wurde, setzte Höchstausmaße für die Häuser fest und verfügte bestimmte Sicherheitsmaßnahmen. Mittelpunkt der neuen Stadt war der „Platz des Handels" (Praga do Commercio), den ein Standbild des Königs beherrschte. Die wechselseitige Abhängigkeit von Dynastie und dynamischem Bürgertum wird dadurch besonders deutlich (Kendrick 1956).
MODERNE INDIVIDUALITÄT
STADTSANIERUNG:
UND ALLGEMEINE
TENDENZEN
Im Anschluß an jene mit neuen Funktionen versehenen Städtetypen, deren Entstehung sich häufig bis in der Regel mit einer architektonischen Neukonzeption verband, stellt sich nun die Frage nach den baulichen Veränderungen innerhalb überkommener, im Laufe der Jahrhunderte mehrfach veränderter Stadtorganismen. Dabei zwingt die Variantenvielfalt, die bedingt war durch Größe und Sozialstruktur der Stadt, Rolle im Herrschaftskonzept oder ökonomischen Netzwerk sowie individuelle, im besonderen topographische Probleme, zu einer Auswahl von Einzelbeispielen, die dem Versuch einer kurzen Zusammenfassung vorangestellt werden sollen. Ausgegangen wird von fünf neuzeitlichen Großstädten, in deren Baugestalt Bevölkerungswachstum und Bedeutungswandel in unterschiedlicher Weise ihren Niederschlag gefunden haben: die Handelsmetropolen Venedig und Amsterdam sowie die Hauptstädte Rom, Paris und London. Das frühneuzeitliche Venedig entzieht sich einer klaren typologischen Zuordnung (Braunfels 1976:76-87; Benevolo 1993:1200. Als Mittelpunkt eines von Bergamo im Westen bis Dalmatien im Südosten reichenden Staatsgebildes war die Lagunenstadt eher Haupt- als Residenzstadt im eigentlichen Sinne, andererseits existierte ein durch die Ausübung der Herrschaft des Dogen bestimmtes, deutlich aus dem Plangefüge herausgehobenes Zentrum. Für eine Handelsstadt fehlte die vorrangige Prägung durch die Merkantilgebäude sowie die Häuser einer kommerziellen Oberschicht, zumal der Handel zugleich von Adel und Kaufmannschaft betrieben wurde und sich auch deren Wohnplätze im Plan vermischten. Reine Adelsquartiere wie etwa die Strada Nuova im Norden Genuas kannte Venedig nicht. Zahlenmäßig dominierten freilich auch hier die Bürgerhäuser und Mietskasernen des Volkes, deren Höhenwachstum durch den unsicheren Grund, die horizontale Ausweitung, durch die Insellage und den Raumbedarf der machtsichernden Werft (Arsenale im Osten) begrenzt war. Der Druck des Bevölkerungswachstums äußerte sich somit vornehmlich in einer
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Überfüllung bestehender Häuser. Industrien wurden in die Außenbezirke verbannt. Eindeutiges Zentrum ist der Markusplatz, der unter Jacopo Sansovino am Beginn des 16. Jahrhunderts seine zukunftsweisende Neugestaltung erfuhr. 1499 wurde der Uhrturm vollendet, der - „Staatsuhr" und Prunktor zugleich - sich zum venezianischen Wahrzeichen entwickelte und später in zahlreichen Städten der Terra ferma Nachfolger fand. Mit den Procuratorie Vecchie und Nove als Verwaltungsgebäude, der Zecca als „Geldschloß" und der Libreriä als Stätte der Bildungspflege wurden Gegenstücke zum Dogenpalast als Repräsentationsbau der Macht geschaffen, die wohl durch Platzanlagen, Piazza und Piazzetta, voneinander getrennt, insgesamt wiederum Teile eines als Einheit zu verstehenden Gesamtkomplexes darstellen. Den Abschluß bilden auf der Seeseite die mit dem Dogenpalast durch die Seufzerbrücke verbundenen Prigioni, die Staatsgefängnisse. Diese Mitte Venedigs kann auf dem Wasser von zwei Seiten erreicht werden, entweder vom Rialto über den Canal Grande (Landweg über die Merceria), der aus dem Wettbewerb der Besitzenden seine Qualität als aufwendigste Prunkstraße Europas erhielt und zwischen 1580 und 1710 den Bau von 37 neuen Palästen erlebte, oder von der Lagune her, wo die Auffahrt durch eine Kette prächtiger Kuppelkirchen (S. Giorgio Maggiore, II Redentore, S. Maria della Salute), akzentuiert wurde. Die Verdichtung im Inneren ging Hand in Hand mit der reichen Ausgestaltung von Pfarrkirchen sowie Stiftungen in der Verbindung von Kirche und Bruderschaftshaus (Scuole grandi) (vgl. auch Girouard 1985:102). Im Gegensatz zu Venedig, das um 1500 bereits 100.000 Einwohner zählte, war Amsterdam zu dieser Zeit noch eine Mittelstadt mit kaum 14.000 Seelen (Braunfels 1976:94-96; Benevolo 1993:156-158). Sein Aufstieg setzte erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts nach der Zurückdrängung der Spanier ein, allerdings mit bisher nicht dagewesener Dynamik. Ausgangspunkt der schrittweisen Stadterweiterung war der dreigeteilte Flußlauf der Amstel, deren äußere Arme die Festungsgräben für die dazwischen liegenden Stadtareale bildeten. Als Stimulans erwies sich nicht nur der Bevölkerungsdruck, entstanden durch den sprunghaften Anstieg der Zuwanderung, sondern auch der zu erwartende Positionsgewinn als internationaler Wirtschaftsplatz, der von einer bürgerlichen Entscheidungsinstanz rational gegen die erwachsenden Kosten gerechnet wurde. Anders als in Venedig, dessen Schutz in seiner Insellage bestand, mußte auch der Aufwand für die gleichzeitig zu planenden Festungswerke in Rechnung gestellt werden, die sich schließlich über eine Strecke von acht Kilometern erstreckten
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und durch Bastionen, Schleusen und Tore unterbrochen wurden (vgl. auch Wilczek/Van Waterschoot 1993). Zu Beginn des 17. Jahrhunderts kam der berühmte Plan der drei großen Kanäle zur Ausführung, die in einer Breite von etwa 25 m und einer Länge von dreieinhalb bis viereinhalb Kilometern parallel zur Befestigung von 1593 angelegt wurden, wodurch sich das Stadtgebiet auf rund 800 ha verdreifachte. Herengracht, Keizersgracht und Prinsengracht, verbunden durch Radialstraßen und Kanäle, wurden aber nicht nur zu Leitlinien des Schiffsverkehrs, sondern auch zum geplanten und einer strengen Bauordnung unterliegenden Wohngebiet der wohlhabenden Kaufleute und des vermögenden Bürgertums. Entsprechend der kalvinistischen Auffassung von der gottgewollten Trennung von Arm und Reich wies man den weniger Bemittelten, Handwerkern und Zuwanderern einen Siedlungsraum abseits, in den Niederungen des „ Jordaan" im Südwesten an, wo niedere Bebauung vorherrscht und wo sich auch die modernen „Industrien" entwickelten. Da der Stadt keine politische Funktion zukam, fehlen mit dieser korrespondierende Bauten, sofern man vom monumentalen Rathaus des 17. Jahrhunderts (1648-55), dessen Fundament 13.659 Pfähle bilden, absieht. Die Zahl von lediglich vier Pfarrkirchen steht in deutlichem Kontrast zu Städten, wo der Sakralbau als Zeichen für Herrschaft oder Heilserwartung figuriert. Hingegen gab es eine Vielzahl über das ganze Stadtgebiet verstreuter Lagerhäuser, die eine gewisse Konzentration auf den seit dem späten 16. Jahrhundert an der Hafenseite angelegten künstlichen Inseln erkennen ließen (Girouard 1985:158). Ein schon mehrfach genannter städtischer Sondertyp der Frühneuzeit läßt sich auf die in ihrer Gewichtung wechselnde Verbindung von Residenz- und Hauptstadtfunktion zurückführen. Hier gegenübergestellt seien die Beispiele Rom, wo der päpstliche Gestaltungswille während des gesamten behandelten Zeitraums bestimmend blieb, Paris, das mit der Gründung von Versailles eine Konkurrenz seiner Residenzfunktion dulden mußte, und London, wo der königliche Bauherr nur in schmalen Bereichen des sich zu einer riesigen Agglomeration auswachsenden Stadtgefüges bauliche Akzente zu setzen vermochte. Rom stellt in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme dar (Braunfels 1976:301-321; Benevolo 1993:151f; Insolera 1988:97-286). Zum einen durch die Monumentalität und Weitläufigkeit des antiken Erbes, das insbesondere einer Erschließung durch neue Straßen und Wasserleitungen bedurfte; zum anderen durch das weitgehende Fehlen eines kommunalen Gegengewichts zur päpstlichen Bauherrschaft, die neben dem Ausbau der päpstlichen Residenzen (Lateran, Vatikan, Quiri-
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nal) die Schaffung von Familiensitzen mit Stadtpalast und suburbaner Villa als eine ihrer Hauptaufgaben sah. Dazu kamen die gewaltigen Mittel, die den Päpsten als Oberhirten der katholischen Kirche zuflössen, eine von außen kommende Form der Subventionierung, die teilweise wiederum für die Finanzierung der besonderen Ordnungsund Heilsaufgabe der Stadt benutzt wurde. Die Vielschichtigkeit der Bauaufgaben brachte es mit sich, daß im Laufe der Zeit die Schwerpunkte wechselten. Standen im ausgehenden Mittelalter der Ausbau des Vatikans und dessen Borgo sowie die Verbindung derselben mit der Tiberstadt, die Erschließung der letzteren durch einen von der Porta und Piazza del Popolo im Norden ausgehenden Fächer geradliniger Straßendurchbrüche und die Durchdringung des Siebenhügelgeländes im Vordergrund, so trat dieses an praktischen Erfordernissen orientierte Konzept während des Pontifikats Julius' II. (1503-13) gegenüber einer im Neubau von St. Peter reflektierten, universal gedachten „renovatio urbis" zurück. Der Sacco di Roma 1527 beendete die gigantomanen Pläne und leitete ein halbes Jahrhundert stark reduzierter Bautätigkeit ein. Erst unter Sixtus V. (1585-90) setzte zugleich mit rationalen Verwaltungsänderungen die Verwirklichung einer großzügigen Gesamtplanung erneut ein. Nach Lösung der Wasserfrage entstand insbesondere auf den östlichen Hügeln ein neues Straßennetz mit dem Zentrum S. Maria Maggiore und mit dem Ziel, die Verbindungswege zwischen den einzelnen Pilgerkirchen befahrbar zu machen, die nahezu drei Kilometer lange Achse zwischen S. Croce im Süden und Trinitä dei Monti im Norden. Durch eine Reihe von Straßendurchbrüchen wurde ein System von Sichtverbindungen mit Säulen und Obelisken als Markierungspunkten hergestellt. Insgesamt sollen unter Sixtus V. 125 Straßen neu gepflastert worden sein. Sie ergänzen das Bild enormen Bauaufwands, zu dem sich im 16. Jahrhundert 54 Kirchen, etwa 60 Paläste, 20 große Villen, drei Wasserleitungen und 35 öffentliche Brunnen fügten (vgl. auch Delumeau 1975). Neben der Anlage von Straßenachsen gehörte die Gestaltung von Plätzen, die anders als in Bürgerstädten keiner ökonomischen Funktion dienten, zu den päpstlichen Baumaßnahmen. Überwiegend bezweckten sie eine Überhöhung der zugeordneten Monumentalarchitektur, was zur formalen Vielfalt zwang. Der Vatikansplatz oder die Piazza Navona, die Piazza del Popolo, der Quirinalsplatz oder die Piazza di Spagna verkörpern somit unterschiedliche Ansprüche des Papsttums. Im Platz vor dem Kapitol, der für Ehrungen und Dichterkrönungen genutzt wurde, sollte die Irrealität des politischen Anspruchs auf Welt-
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herrschaft, verbunden mit der Forderung einer republikanischen Stadtverwaltung im päpstlichen Rom zum Ausdruck gebracht werden (Braunfels 1976:320). Zumindest während eines Großteils der ersten beiden neuzeitlichen Jahrhunderte dürfte Paris der erste Rang in einer Reihung der europäischen Städte nach ihrer Einwohnerzahl zugekommen sein. Seine Planstruktur baute auf einer historisch gewachsenen Dreigliedrigkeit auf: der Seine-Insel (la cite, später Halles), der Kaufmannsstadt um das Rathaus auf dem Greve-Platz (la ville, Greve) und dem linksufrigen Stadtteil (l'universite, Outre-Pont) (Braunfels 1976:268-287; Benevolo 1993:163-172; Babelon 1986; Descimon 1989:bes. 83). Schon im 16. Jahrhundert zerfiel dieser Stadtraum in 16 Quartiere, die einschließlich mehrerer vorwiegend von Handwerkern besiedelter Faubourgs u m die Jahrhundertmitte über 10.000 Häuser zählten; um 1770 waren es bereits über 23.500 (zur Einteilung vgl. Descimon/Nagle 1979). Lagen 1571 nur drei Quartiere auf dem linken Seine-Ufer, so hat sich der städtische Grundriß zufolge des rascheren Wachstums im Süden in den folgenden Jahrhunderten zu einem Oval geformt, dessen Achsen durch die Seine und die rechtwinkelig zu dieser verlaufenden Transversale Rue St. Jacques-Rue St. Martin gebildet wurden. Aus der Perspektive der Bauaufgaben wird die städtebauliche Entwicklung von Paris durch mehrere Aspekte charakterisiert: Zunächst durch den Versuch zur Bewältigung der Bevölkerungsmassen, der über die üblichen Zuzugsbeschränkungen und Bauverbote hinaus zunächst die Stadtmauer, die im vierten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts im Westen sogar erweitert wurde, als Mittel der Disziplinierung in Anspruch nahm, bis Ludwig XIV. die Mauern in der überkommenen Form abbrechen, anstelle der alten Tore ab 1670 Triumphpforten und auf den Wällen Boulevards mit Alleen anlegen ließ; einem Beschluß von 1676 zufolge, sollten Wall und Cours um die ganze Stadt herumgeführt werden (Girouard 1985:177). Zentral mit dem Residenzgedanken verbunden war die Idee des Ausbaus der „Königsachse", d.h. jener Linie zwischen Louvre im Westen und Bastille im Osten, von Bauplanelementen, die zunächst ihren Festungscharakter und später ζ. T. auch den Wohncharakter zugunsten einer Repräsentationsarchitektur aufgaben. Hierher zählt nach der Anlage der Tuilerien unter Katharina de' Medici als Witwensitz der mehrmalige Umbau des Louvre und die Anlage der Place de la Concorde. Von dieser mit dem Zeitgeschmack sich wandelnden Bauaufgabe ist jene der Gestaltung der Flußufer (Quais), Querachsen und Brücken nicht zu trennen, die sich schließlich mit dem Gedanken der
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korrespondierenden Wirkung von Monumentalbauten über den Fluß hinweg verband (College des Quatre-Nations ab 1662, Hotel und Invalidendom, Palais de Chaillot etc.). Räumlich umfassender waren die Maßnahmen mit der Zielsetzung des „Embellissements", die vor allem in der Übertragung des gleichförmigen Bürgerhaustyps auf die Ausgestaltung von Platzanlagen und Straßenzügen bestand. Unter individuellem Vorzeichen vorangegangen war die aufwendige Gestaltung des Adelsviertels im Marais im 16./17. Jahrhundert bei gleichzeitiger Entwicklung des Typus adeliger Pariser Stadtwohnung (Hotels Carnavalet, Lamoignon, Aumont, Soubis u. a.). Dieser Konzentration adeligen Wohnens folgte zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Faubourg Saint-Germain und nach 1760 eine Verschiebung nach Nordwesten in die Faubourgs von Rule, Chaussee d'Antin und Porchrons, von wo aus eine Verbindung zwischen städtischer Residenz und halbländlicher Umgebung hergestellt werden konnte (Clark/Lepetit 1996:4). Dem Bürgertum hingegen wurde im Widerspruch zu den Wohnbedürfnissen einer breiteren Käuferschicht von Seiten der staatlichen Baubehörde eine mit hohem Aufwand verbundene Gleichartigkeit verordnet (l'ordonnance). Beispiele der Regierungszeit Heinrichs IV. (1589-1610) sind die dreieckige Place Dauphine an der Spitze der Seineinsel und die quadratische Place des Vosges, die ursprünglich als Siedlung für Mailänder Seidenweber geplant war. Die Konzeptänderung schuf das Urbild der Place Royale, dem zahlreiche ähnliche Anlagen in Paris, unter Ludwig XIV. etwa die Place Vendome und die Place des Victoires, und in den Provinzstädten (s. u.) folgten. Vielfach übersehen wird, daß Paris in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein Zentrum der religiösen Erneuerungsbewegung darstellte, was zur Entstehung von sechzig neuen Konventen zwischen 1600 und 1639 und zum Bau von zwanzig Kirchen führte, die aber nur in beschränktem Maße die Revolution überdauerten. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde Paris als größte Stadt Westeuropas von London abgelöst. Auch im Grundriß der Hauptstadt des englischen Königreichs sind mehrere ältere Einheiten zusammengefaßt. Hinzuweisen ist zum einen auf das Nebeneinander zweier Städte im Abstand von nur drei Kilometern: der City of London, mit dem Sonderbereich des Towers, und der City of Westminster, einer um das gleichnamige Kloster entwickelten, niemals befestigten städtischen Siedlung, welche die Parlamente und bis ins 16. Jahrhundert auch die Königsresidenz beherbergte. Gerichtszentrum war seit dem 14. Jahrhundert das Kloster des Templerordens vor den Mauern der City, dem
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die in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Royal Courts of Justice folgten. Zur städtischen Agglomeration zählten weiters eine Reihe von Vororten oder Liberties und die Counties, heute in den „greater London Boroughs" zusammengefaßt, die im 19. Jahrhundert von über 300 Behörden verwaltet wurden. Über die Themse nach Süden griff die Bebauung erst im Verlaufe des 17. Jahrhunderts hinaus (Southwark) (Braunfels 1976:287-298; Benevolo 1993:176-179). Im Gegensatz zu Paris kannte London in der frühen Neuzeit kein kontinuierliches, mit der Residenzidee verbundenes Zentrum. Mit der Verstaatlichung des Kirchenbesitzes (1538—40) verließ Heinrich VIII. Westminster und bezog zunächst den Palast der Erzbischöfe von York in Whitehall, der von ihm und seinen Nachfolgern ausgebaut wurde. Eine im späteren 17. Jahrhundert ins Auge gefaßte Aufwertung der Residenz in die Richtung eines dem Louvre vergleichbaren Stadtschlosses kam zufolge des Ausweichens nach Kensington, insbesondere aber eines Brandes in Whitehall 1698 nicht zur Durchführung. Inzwischen hatte Karl II. im Anschluß an ein Jagdschloß Heinrichs VIII. bei St. James eine Residenz bauen lassen, deren Umfeld im 18. Jahrhundert ausgestaltet wurde und nach dem Erwerb des Stadtpalastes des Herzogs von Buckingham 1762 in Verbindung mit ausgedehnten Parkanlagen seine Abrundung erfuhr. Diese Wanderung des Herrschersitzes vollzog sich durchwegs außerhalb der Londoner City, vorwiegend auf früherem Kirchenland. Gleich anderen Großstädten litt London bald unter Übervölkerung und unkontrolliertem Zuzug, so daß sich Krone und Parlament zu restriktiven Maßnahmen veranlaßt sahen. 1580/92 wurde die Einmietung von mehr als einer Familie in einem Neubau verboten, ein Grundsatz, der wesentlichen Einfluß auf die Bauformen der Metropole und anderer englischer Städte erhalten sollte. Die niedere Bebauung mit Einfamilienhäusern förderte das Flächenwachstum, das weit über den Mauerbereich hinausgriff. Noch stärker wuchsen Gebiete außerhalb der Stadtgrenzen wie Whitechapel, Stepney und Shadwell im Osten und Westminster im Westen, das sich im Gegensatz zur Konzentration der armen und arbeitenden Klassen in den östlichen Vororten („East-End") auch zum bevorzugten Wohngebiet der Wohlhabenden entwickelte („West-End"). Im inneren Stadtbereich blieben hingegen zufolge der Tatsache, daß viele Klöster im 16. Jahrhundert säkularisiert worden waren, größere Flächen unbebaut (Parkanlagen). Wie angedeutet, fielen dem Londoner Stadtbrand von 1666 insgesamt 13.700 Häuser zum Opfer, darunter alle 44 Zunfthäuser, die Kathedrale St. Pauls und weitere 87 Kirchen. Trotz Herausgabe einer stren-
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gen Bauordnung und der Neubaupläne von Christopher Wren unterschied sich das Bild der rasch wiederaufgebauten Stadt nur wenig von jenem der alten. Nur die Monumentalakzente wurden durch den Neubau von Kathedrale und Börse verschoben. Seit dem 17. Jahrhundert entstand im weiten Bereich zwischen der City und den königlichen Parkanlagen im Westen eine neue, sehr große Stadt, in der sich ältere Zentren mit niederen Häusern und jüngere, vornehm geplante Abschnitte abwechselten. Aus den um einen Garten gruppierten Reihenhäusern der Aristokratie und Landbesitzer (2. Drittel 18. Jh. mehr als 2.200) entwickelten sich zahlreiche Platzanlagen, Squares, beginnend mit Covent Garden 1631. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde auch der Planung von Verkehrsverbindungen vom Zentrum nach Norden und in Richtung Regent's Park zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt. Von Charing Cross nahm die ehemalige Spielstraße („Pall Maille", The Mall) ihren Ausgang, die anfangs vorwiegend von Fußgängern frequentiert wurde, sich später aber zur Auffahrtsallee zum Buckingham Palast entwickelte. An fünf großstädtischen Beispielen konnte gezeigt werden, daß sich der Wandel der Stadtform zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert nach unterschiedlichen Mustern vollzog. Bindet man die Frage der Größenabstufungen zwischen den einzelnen Städten in die Überlegungen mit ein, weiters die ungleiche Rolle der Stadtindividuen innerhalb herrschaftlicher Konzepte und wirtschaftlicher Verläufe, so bestätigt sich ein Bild, das eher von Gegensätzlichkeiten als von Gemeinsamkeiten geprägt wurde. Trotzdem erscheint es gerechtfertigt, letzteren als Elementen eines ordnenden Vergleichs nachzugehen. Insbesondere werden sich als solche die Fortifikation, der Tatbestand der Stadterweiterung, im Stadtinneren die Schaffung von Freiräumen in Form von Plätzen und Avenuen sowie die Errichtung von Monumentalgebäuden, wobei zu den kirchlichen zunehmend solche mit zivilen Aufgaben traten, anbieten. Ein seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts rasch zunehmendes Interesse an Stadtansichten, die über das Medium der Druckgraphik überregionale Verbreitung fanden, bietet die Voraussetzung, die einzelnen Schritte in der äußeren Veränderung städtischer Organismen exakt zu verfolgen (Benevolo 1993:150). Anknüpfend an die Darstellung von Idealstadtkonzepten und Festungsstädten läßt sich wiederholen, daß seit dem 16. Jahrhundert, bedingt durch die Entwicklung schwerer Geschütze, neue Befestigungssysteme mit vieleckigem Grundriß den überwiegend rechteckigen Mauerverlauf des Mittelalters ablösten. Für den Umriß einer Stadt bedeutete dies u.a., daß der inneren Ummauerung Bastionen vorgelagert wurden,
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denen ein raumverschlingendes System regelmäßiger oder auch unregelmäßiger Polygonalanlagen folgen konnte (vgl. Eimer 1983). Hatten die mittelalterlichen Mauern bei Entstehen einer Vorstadt die Möglichkeit einer Erweiterung geboten, u m diese einzubeziehen (vgl. Maschke/Sydow 1969a; Czok 1979; Czok 1980), verhinderten die neuen Fortifikationen nicht nur ein organisches Flächenwachstum, sondern sie waren oftmals sogar Ursache einer topographischen Reduktion. Das Beispiel Bonns, dessen fortifikatorischem Ausbau ein Stift samt Zubehör und ein Dorf zum Opfer fielen, oder Malmö, wo zur Schaffung eines Glacis ein Teil der Stadt kurzerhand abgerissen wurde, steht für eine Vielzahl ähnlicher Vorgänge. Im Stadtinneren konnte das Rarwerden der Bauplätze zur Aufgabe überkommener Bauvorschriften zwingen und ein Bauen in die Höhe verursachen. Die damit verbundene Steigerung der Bevölkerungsdichte läßt sich für Straßburg verdeutlichen, das zwischen 1200 und 1480 die Stadtmauer nicht weniger als viermal erweitert hat, während sich die Verdreifachung der Einwohnerzahl zwischen 1580 und 1870 über einer konstanten Fläche abspielte. Italienische Städte wie Florenz oder Siena bzw. ihre Herren bauten freilich noch im 16. Jahrhundert Befestigungsringe, die sie erst im 19. voll ausfüllten. Konnte H. Stoob für Zentraleuropa als eine Zone territorialer Zersplitterung und zahlreicher regionaler Konflikte zu Recht formulieren, daß es „ein Kriterium fortbestehender Autonomie und Prosperität zugleich (war), ob eine mitteleuropäische Stadt bis zur Höhe des 17. Jahrhunderts noch aus freiem Entschluß zur Bastionärbefestigung gelangt ist oder nicht" (1970a:282), so zeichnet sich in anderen Räumen nur wenig später bereits die Tendenz zur Aufgabe der Fortifikationen ab. Dies allerdings unter divergenten Bedingungen. So läßt sich etwa für das von militärischen Aktionen nur ausnahmsweise betroffene englische Königreich die Schleifung zahlreicher Stadtbefestigungen auf deren tatsächlichen Bedeutungsverlust zurückführen. Sie wurden zunehmend als Hindernis für die Kommunikation zwischen Stadt und Umland empfunden, bei den Neugründungen fehlten sie grundsätzlich. Im Unterschied dazu hat der französische Staat die Stadtmauern als bürgerliches Widerstandspotential interpretiert, was allerdings nicht verhindern konnte, daß sie auch weiterhin, etwa zur Zeit der Fronde, gegen die Krone eingesetzt wurden. Die dann von Ludwig XIV. veranlaßte Niederlegung zahlreicher Stadtbefestigungen fand allerdings ihre Rechtfertigung im inneren Befriedungsprozeß sowie im Ausbau eines Fortifikationssystems an den Konfinen des Staates. An die Stelle der Stadtmauern traten lange, baumbe-
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pflanzte Promenaden, erstmals in Rennes 1602 und ab 1670 in Paris, wo zwei Bögen die weiterhin bestehenden Grenzen zwischen der Stadt und den Vorstädten (faubourgs) markieren sollten (Cowan 1998:139). Diese neuen Boulevards konnten auf den Wällen (Antwerpen, Lucca, Perigueux), am Fuße derselben (Riom in der Auvergne) oder an ihrer Stelle (Bordeaux) errichtet werden oder auch im Kern der Stadt, wenn die Wälle infolge der Expansion der Stadt obsolet geworden waren wie in Falle des Cours Mirabeau in Aix-en-Provence (Mignot 1999:330). Daß im 18. Jahrhundert im Umkreis von Großstädten neue topographische Barrieren errichtet wurden, die zunehmend den Charakter von Polizei- oder Zollinien erhielten (Wiener Linienwall gegen die Kuruzzen ab 1704; Pariser Fermiers Generaux 1784-1791), sei nur am Rande angemerkt (vgl. Sauer 1993:24). Abweichend von der Normsituation, daß die Befestigung das städtische Wachstum beschränkte, existierten Fälle, wo die modernen Fortifikationssysteme in engem Konnex zu Stadterweiterungen standen wie in Amsterdam oder mit bescheidenerer Dimension in Leiden (1610) oder Haarlem (1671). In Nancy oder Lille - nach der Eroberung durch die Franzosen - wurden in Erwartung städtischen Wachstums neue Bauflächen gewonnen und mit Festungswerken umschlossen (Hohenberg/Lees 1985:153). Die „spanische", vom Vizekönig Don Pedro de Toledo in Neapel in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts ins Werk gesetzte Stadterweiterung Neapels, welche sich entlang einer das Königsschloß und den Hügel von Capodimonte verbindenden Straße vollzog, wurde ebenso fortifikatorisch gesichert wie die zwischen 1564 und 1570 erfolgte Neugestaltung des Hafens von Palermo (Benevolo 1993:152f). Und auch im Nordosten Italiens vollzog sich der planmäßige mehrstufige Ausbau Turins im 17. Jahrhundert synchron zum Bau neuer Befestigungen. Stadterweiterungen um Bauareale über geradlinigen Rastern wurden im Laufe des 16. Jahrhunderts häufiger und großräumiger und traten zunehmend mit langen Achsen als perspektivischen Fluchtpunkten in Verbindung. Auf die Schaffung von Straßendurchbrüchen in Rom und die Bildung von Sichtachsen in Paris ist verwiesen worden. Gerade Straßen führten zu monumentalen Plätzen und zum Sitz der Macht, Paläste und öffentliche Gebäude wurden zum Endpunkt langer Perspektiven. Insbesondere die Schaffung großer Plätze war eine zentrale Äußerung der königlich gelenkten Bautätigkeit am Übergang ins 17. Jahrhundert. Hierher zählen die unter Heinrich IV. 1604-1606 geschaffenen königlichen Plätze in Paris, die zahlreiche Nachfolger in den Provinzstädten (Dijon, Rennes, Bordeaux, Marseille) fanden, die Plaza
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mayor in Madrid (1617), der Wiederaufbau von Lerma (1604), die Fürstenresidenz in Charleville (1610) usw. (Benevolo 1993:154). Grundsätzlich wurde an diesem Konzept bis weit ins 18. Jahrhundert festgehalten, wobei innerhalb des Stadtgebiets auch Nutzbauten wie Brücken, Aquädukte und Brunnen als Blickpunkte und Bedeutungsträger eingebunden wurden. Bezogen auf die Haupt- und Residenzstädte hat die Möglichkeit, räumlich beschränkte Stadtpalais in ein Beziehungssystem zu suburbanen, mit Gärten und Freiräumen ausgestatteten Sommersitzen zu stellen, eine weitere Demolierung des überkommenen Stadtgefüges verhindert. Abweichende Entwicklungsschritte vollzogen sich hingegen insbesondere seit dem 18. Jahrhundert in England, wo in den Squares und Crescents locker verbundene, symmetrische Einzelanlagen unter geschickter Ausnutzung unregelmäßiger Geländeformen dominierten (Benevolo 1993:180; Girouard 1985:194-198).
KAPITEL STÄDTE
UND
III STAAT
BEZIEHUNGSGEFLECHTE
Konnte für den größeren Teil des Mittelalters der vorwiegend lineare, unmittelbare Bezug der Stadt zum Stadtherrn als verfassungsrechtlich bestimmende Konstante betont werden (z.B. Isenmann 1988:107), so wird für die frühe Neuzeit eher einem Beziehungsgeflecht der Vorrang zu geben sein, wie dies auch in dem von Ch. R. Friedrichs (1995:44) an den Anfang seiner Überlegungen zum Verhältnis von Städten und frühmodernem Staat gestellten Satz: „Every European city was part of a larger political system" zum Ausdruck kommt. Hierin spiegelt sich nicht nur die forschungsgeschichtlich eingetretene Differenzierung des Zugangs zur gegenständlichen Fragestellung, vor allem durch Hereinnahme gesellschaftsgeschichtlicher Aspekte (Schilling 1993:51-56), wider, sondern auch die Einbindung der Stadt in sich ergänzende Systeme politischer Ordnung, die einander oftmals vertikal überlagerten (vgl. zuletzt Bulst/Genet 1988; Tilly/Blockmans 1994). Daß in einzelnen europäischen Regionen Städte zu staatlichen Gebilden werden konnten, die selbst über Städte geboten, andere wieder ihrer mittelalterlichen Autonomie durch den absolutistischen Staat weitgehend entkleidet wurden, steht nur für zwei weit auseinander strebende Entwicklungsmuster. Erheblich ist auch die Feststellung, von welcher Gruppe von Städten man ausgeht; und hier werden rechtliche Kategorien eher zur Schaffung einer sinnvollen Vergleichsebene verhelfen als demographische oder ökonomische. Grundsätzlich hat das Mittelalter der Mehrzahl der europäischen frühneuzeitlichen Staaten eine zweischichtige Städtelandschaft überantwortet: Städte, die in einem unmittelbaren Verhältnis zum Träger der Leitungsgewalt standen, und solche mittelbaren Bezugs in der Hand feudaler „Zwischengewalten" (O. Brunner), des Adels und der Kirche, wobei deren Position in der jeweiligen hierarchischen Ordnung ein weiteres Bestimmungselement abgeben konn-
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Spanien
te. So näherten sich bischöfliche bzw. hochstiftliche Städte nicht selten in ihrem Rang jenen königlicher oder fürstlicher Herrschaft. Im Räume des Heiligen Römischen Reichs wurde die Zweischichtigkeit von königlichen und patrimonialen Städten durch eine dreigliedrige Ordnung ersetzt, zumal im Prinzip der Unmittelbarkeit neben jener gegenüber Kaiser und Reich eine solche gegenüber dem jeweiligen Territorialherrn zu unterscheiden ist (Oestreich 1970). Während die im Laufe der Neuzeit zu Stadtrepubliken mutierenden Freien und Reichsstädte einen Autonomiestandard erreichten, wie ihn einzelne oberitalienische Kommunen kurzfristig im Spätmittelalter besessen hatten, um ihn dann an eine neue Form des Fürstenstaats zu verlieren, erfuhren eine Handvoll bisher weitgehend freier (Hanse-)Städte (Autonomiestädte) letztlich eine Integration in den neuzeitlichen Territorialstaat (zusammenfassend Schilling 1993:40-46). Abweichende Muster bildeten sich in den nördlichen Niederlanden aus, wo eine kleinere Gruppe von Städten im Wechselspiel mit dem Statthalter die politische Macht monopolisierten, sowie in der Schweizer Eidgenossenschaft. Für alle jene Städte, für die sich die Subordination unter einen Herrn nicht auf die Möglichkeit von kontrollierenden und regulierenden Eingriffen desselben im Falle von Sondersituationen reduziert hatte, hat M. Weber 1921 festgestellt, daß die Stadtautonomie (der Territorialstädte) „in der Regel gänzlich vernichtet" wurde (Weber 1972:790). Heute wird man sich dem Problem der grundsätzlich erkennbaren Tendenz zum Abbau städtischer Sonderrechte zweifellos differenzierter annähern. Auszugehen ist bei den weiteren Überlegungen in erster Linie von der Frage, inwieweit stadtbürgerliche „Grund- und Freiheitsrechte", auf denen die mittelalterliche Stadtautonomie aufbaute, in der Neuzeit schrittweise durch die unbeschränkte Befehls- und Verfügungsgewalt des Fürstenstaats ausgehöhlt wurde (Schilling 1991:24). Darüber hinaus ist die Rolle der Stadt im nachmittelalterlichen Ständestaat zu überprüfen, also in einem Herrschaftssystem, das zumindest formal von einer zwischen Fürst und Ständen geteilten Souveränität ausging. Da in beiden Fällen die Betroffenheit vorwiegend bei den Immediatstädten lag, werden diese in der folgenden Darstellung dominieren.
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FRANKREICH,
SPANIEN
Wie die Erreichung städtischer Freiheiten im Mittelalter in den einzelnen Regionen durch ungleiche Niveaus gekennzeichnet ist, reichen auch Tendenzen zu deren Beschneidung unterschiedlich weit vor den
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hier behandelten Zeitraum zurück. Der schon von O. Hintze erkannte Dualismus zwischen Zentraleuropa, dem Reich einschließlich Oberitaliens als dem Raum am höchsten entwickelter städtischer Freiheitsrechte, einerseits und Randeuropa, gebildet aus den zur Flächenhaftigkeit tendierenden „Nationalstaaten" des Westens und Südwestens sowie den „adeligen Freistaaten" (H. Samsonowicz) im Osten andererseits, lassen eine Vorgangsweise in regionalen Schritten als zweckmäßig erscheinen (Hintze 1970). Im Falle der englischen Stadt war es trotz eines seit dem 12. Jahrhundert zunehmenden Autonomiegewinns der bürgerlichen Stadtadministration niemals zu einer wirklichen Verdrängung der königlichen Gewalt gekommen. Im Gegensatz zu Kontinentaleuropa fehlt auch die Bildung von Städtebünden, sieht man von einer vorwiegend der Flottenausrüstung dienenden Vereinigung von Hafenstädten im Südosten (Cinque ports) ab. Politische Bündnisse kamen schon zufolge der unterschiedlichen Interessen der königlichen bzw. Mediatstädte, aber auch der unmittelbaren Zugriffsmöglichkeiten des jeweiligen Herrn nicht zustande. Grundsätzlich wurde der politische Handlungsspielraum einer Stadt durch die vom König verliehenen Charten und sonstigen Privilegien bestimmt. Höchste Norm war die Inkorporierung (d.h. die Ausstattung mit dem Charakter einer Rechtsperson), die ihren Höhepunkt wohl in der Zeit nach 1440 erlebte, im Zeitraum zwischen 1500 und 1700 mit abnehmender Frequenz aber noch an 160 Städte erteilt wurde (Clark/Slack 1976:128). Im 18. Jahrhundert besaßen etwa 200 Städte Munizipalstatus, ohne daß in der Verteilung ein klares System erkennbar wäre oder sich - wie die gegenüber Birmingham (1716) erfolgte Verweigerung beweist - eine direkte Verbindung zwischen Stadtwachstum und Inkorporierung ergeben hätte. Mit dem Munizipalstatus verband sich Rechtskontinuität, insbesondere aber eine Autonomie in Verwaltungs- und Jurisdiktionsangelegenheiten gegenüber dem Lande und der Grafschaft (county) als dessen territorialem Ordnungsprinzip (Corfield 1982:147-149). Vereinzelt wie im Falle von Gloucester 1605 oder Worcester 1621 wurden Städte auch in den Rang von Grafschaften erhoben (Clark/Slack 1976:30). Da die Charten einerseits die Definition der bürgerlichen Eliten als Lenkungsorgan enthielten, andererseits das Verhältnis der Stadt zu äußeren, lokalen und staatlichen Autoritäten regelten, wurden sie zum wichtigsten Element in den Beziehungen zwischen der Krone und den städtischen Oligarchien. Zunächst im Sinne einer Allianz, als sich aus der Sicht des Königs die obrigkeitlichen Befugnisse in der Hand einer
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Meinen, im Hinblick auf die mit der Verwaltung verbundenen hohen Kosten ausreichend vermögenden Gruppe gut kontrollieren ließen, aus der Sicht der Oligarchie, als dadurch ihr eigener Status gefestigt wurde. Die Abhängigkeit der Stadtregimenter von der königlichen Unterstützung, insbesondere in der Sicherung der Macht gegenüber Ansprüchen der Bürgerschaft, machten sie jedoch verwundbar. Die Möglichkeiten zu staatlichen Eingriffen auf lokaler Ebene waren somit grundgelegt, und dies schon in den Krisenjahren des ausgehenden 16. Jahrhunderts (Clark/Slack 1976:128f; Barry 1990:27f). Die Krone war jedoch nicht der einzige Nutznießer der Instabilität in den Städten, sondern auch andere Entscheidungsträger auf lokaler und nationaler Ebene: die Gentry, aus der die Grafschaftsbeamten stammten, und die County-Magnaten, die im Parlament und bei Hof als Patrone fungieren konnten. Entscheidende Voraussetzung war, daß die Städte durch ihre Vertreter in der Ständeversammlung repräsentiert wurden, eine Norm, die ansatzweise schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts faßbar wird. Allerdings mußten sich die Plätze mit Vertretungsrecht (boroughs) keineswegs mit den eigentlichen Städten, gemessen an Wirtschaftsfunktion und Einwohnerzahl, decken. Namentlich seit der Zeit der Stuarts wuchs die Zahl der ParliamentaryBoroughs durch Verleihung von Wahlberechtigungen an loyale Städte durch den König rasch an (Heinrich VIII. 5, Edward VI. 48, Mary 21, Elizabeth 60, Jakob I. 27) (Neale 1950:140f), bis die Commons unter Karl II. selbst die Entscheidung über die Konstituierung derselben beanspruchten. Im Hinblick auf die Frage der bürgerlichen Repräsentation sind weiters erhebliche Unterschiede in der Größe der Wahlkörper zu beachten. Diese konnten sich fallweise auf den Mayor und ihm nahe Personen bzw. Amtsträger beschränken, wogegen einzelne Städte wie Norwich, Bristol oder die City of Westminster zahlenstarke Elektorate aufwiesen, d. h. daß hier die Abgeordneten weitgehend die öffentliche Meinung repräsentierten (Corfield 1982:147). Die englische Stadt war somit in ein dichtes politisches Beziehungsgeflecht eingebunden, dessen einzelne Elemente hinsichtlich ihres Stellenwerts freilich Veränderungen unterlagen. Grundsätzlich nahm der Einfluß der Gentry im Rahmen der parlamentarischen Vertretung zu, besonders als im Laufe des 17. Jahrhunderts 60 Boroughs neu geschaffen bzw. erneuert wurden. Zusätzlich verlief der Trend zur Ausbildung größerer Elektorate, so daß die Meinung der städtischen Mittelschichten nunmehr von den Oligarchien nicht mehr ignoriert werden konnte. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß zahlreiche Parlamentswahlkreise in eher dörflichen Boroughs situiert waren, si-
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cherte das System jenen Städten, die sich der Beherrschung durch die ländlichen Eliten entziehen konnten, bis in die zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts eine beachtliche Position im politischen Entscheidungsprozeß. Erst zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich eine Reduktion der Wahlberechtigungen und eine fortschreitende Kontrolle durch die Patrone ab (Borsay 1990:26). Mit dem Bevölkerungswachstum stieg auch der Anteil der im Parlament nicht direkt vertretenen Städte. Waren es 1700 17 von 68 (mit einer Einwohnerzahl über 2.500), so verschlechterte sich das Verhältnis bis 1801 auf 86 von 188 (Corfield 1982:148). Durch Schwankungen war auch das Verhältnis der Städte zum König sowie folgend zur Regierung bestimmt. Insbesondere führte die mangelhafte Bewältigung innerstädtischer Spannungen durch die Oligarchien zu einem Vertrauensverlust, die zunehmende sozial-religiöse Radikalisierung zu einer weitgehenden Entfremdung gegenüber der Krone. Ohne Verbreiterung der politischen Basis bzw. Erreichung einer inneren Geschlossenheit waren die Städte auch nicht imstande, im Bürgerkrieg eine entscheidende Rolle zu spielen (Clark/Slack 1976:137f). Sieht man von Ausnahmen wie der Metropole London oder dem puritanischen Magistrat von Gloucester ab, war Passivität die vorwiegende Haltung. Veränderungen wurden von außen herbeigeführt, mitunter durch militärische Aktionen. Andererseits gelang es einigen Städten, durch Konfiskation kirchlicher Güter auch ihr politisches Potential zu vergrößern. Deutlich wird in der Mitte des 17. Jahrhunderts der wachsende staatliche Zugriff auf die Städte als privilegierte Korporationen. Insbesondere mußten die Regierungen Vorsorge tragen, daß die städtische Autonomie nicht ihre Zielsetzungen unterlief (Barry 1990:29). Der Plan eines 1649 vom Rumpfparlament eingesetzten Komitees, alle Charten einzuziehen, kam wohl nicht zur Durchführung, doch wurde die Beeinflussung der Korporationen durch Revision der Charten zum Hauptinhalt und Dauerthema der Stadtpolitik. Da man die Städte als korporativ organisierte Staatsanstalten verstand (Corporation Act von 1661), setzte sich die Auffassung durch, daß die Charten einer ständigen staatlichen Kontrolle unterliegen, bis hin zu ihrer Kassierung. Eingriffe in die Zusammensetzung der Magistrate standen im Vordergrund, vielfach in Übereinstimmung mit den Veränderungen der politischen Gewichte auf Staatsebene. Über das ins 13. Jahrhundert zurückreichende Prinzip des Quo Warranto, nach dem gültiges Recht zur Legitimation des schriftlichen Beweises bedarf, wurden die Korporationen zur Vorlage ihrer Charten gezwungen und auf diesem Wege oppositionelle
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Stadtregimenter, darunter auch jenes von London, attackiert (Clark/ Slack 1972:22-24; Poussou 1983b: 51). Gezielt verteilte neue Privilegien schufen veränderte Verhältnisse. So festigten zwischen 1681 und 1686 119 Korporationscharten die Dominanz der Tories in Verbindung mit dem Aufleben anglikanischer Interessen, in den 35 Charten unter Jakob II. 1678/88 schlug das Pendel kurzfristig zugunsten von Dissenters und Katholiken um (Clark/Slack 1976:139f). Nach 1689 geriet dann die formale, vordem beim König liegende Berechtigung, munizipale Charten zu widerrufen, außer Gebrauch. Im 18. Jahrhundert setzten sich wohl die älteren innerstädtischen Konflikte zwischen Oligarchien und Bürgerschaft (freemen) und die Auseinandersetzungen um die Größe der Wahlkörper fort, doch gab es keine einheitlichen Muster. Die Fülle unterschiedlicher Stadtverfassungen verwehrt eine einfache Typisierung. Eindeutig verfolgen läßt sich hingegen die zunehmende Rolle der Magnaten, welche die Nominierung von Leuten ihres Vertrauens als städtische Parlamentsabgeordnete durchzusetzen vermochten. Entsprechen die „rotten" oder „pocket" Boroughs, die nur aus wenigen Häusern oder - wie im Falle von Old Sarum - einer einzigen Farm bestanden, wohl einer Teilrealität, so war doch von erheblicherer Bedeutung, daß eine zunehmende Zahl von Städten und damit immer größere Bevölkerungsmengen von einer direkten Vertretung im Parlament ausgeschlossen waren (Corfield 1982:147), auch wenn sich manche der nicht repräsentierten Städte anderweitig Einfluß auf die Wahlen und den politischen Prozeß sichern konnten. Ansätze zu Reformen brachten hier erst die Gesetze von 1832 und 1835. Eine vom Volk getragene städtische Politik erhielt am ehesten mit dem Einsetzen der Industriellen Revolution spezifische Konturen (Borsay 1990:28). Auch hinsichtlich der Beziehungen der französischen Stadt zu den einander ablösenden staatlichen Ordnungen erweist sich eine Rückblende auf die mittelalterlichen Verhältnisse als zweckmäßig. Und auch hier wird der Blick vorab in zwei Richtungen gehen müssen: in jene des vorwiegend auf dem Privilegienrecht basierenden Verhältnisses zum König, das den Umfang der städischen Selbstverwaltung bestimmte, und in jene der Artikulationsmöglichkeit im Rahmen ständischer Vertretungen. Seit der Zeit Philipps II. August hatte sich die Auffassung durchgesetzt, daß auch die Privilegien der nichtköniglichen Städte einer Bestätigung durch den Monarchen bedürfen. Lief dies zunächst auf die Reduktion des feudalen Einflusses hinaus, ohne denselben freilich durchgehend beseitigen zu können, so kam es in der Folge auch zu
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Beschränkungen der städtischen Rechte selbst, wobei hier ein gewisser Gleichklang mit der Ausdehnung der Macht der Krone nach Norden und Süden konstatiert werden kann. Die Grobeinteilung in lehensherrliche Städte (villes seigneuriales), Bürgerstädte (villes d echevinage oder de prevöte) und Kommunen (communes) reicht wohl bis in die frühe Neuzeit herein, allerdings mit Abweichungen, etwa auch aufgrund der Tatsache, daß einzelne Städte keine rechtliche Einheit bildeten. So bestanden in Paris bis 1539 27 seigneuriale Jurisdiktionen, und auch in Limoges, Moulins, Reims und Rodez gab es ein Nebeneinander rechtlich getrennter Stadtgebiete: zur geistlichen oder herzoglichen Cite stellte sich die eigentliche Bürgersiedlung (ville, bourg, commune) (Mieck 1982:194f). Am Beginn des 16. Jahrhunderts besaßen die meisten bedeutenderen Städte eine Munizipalcharta und das Recht, durch gewählte Organe eine Art Selbstverwaltung auszuüben. Trotz der Tendenz zur Vereinheitlichung der Verfassungstypen behielten diese vielfach ihre alten Bezeichnungen bei. In der Mehrzahl waren die autonomen Befugnisse dieser Gremien beschränkt, zumal in einem monarchischen System alle Gewalt von königlichen Zugeständnissen ausging und darüber hinaus ein System rivalisierender Kräfte, königlicher und seigneuraler, wirksam blieb. Das Fortwirken der Commune, der autonomen Einwohnergemeinde des Hochmittelalters, in der Munizipalverfassung darf nicht überbewertet werden, beruhten die Stadtverwaltungen seit dem 15. Jahrhundert zumeist auf königlichen Konzessionen, die sich nicht selten mit konkreten Situationen verbanden (Petit-Dutaillis 1947; Chevalier 1982). Insbesondere waren es die strategische Bedeutung einzelner Plätze (z.B. Angers, Langres) oder deren Finanzkraft (Etampes), welche die Krone veranlaßten, denselben Autonomiereste zu belassen oder zu gewähren. Die Privilegien blieben somit illusionär, königliche Gnadenakte, und die städtischen Räte sahen ihre eigene Autorität als Ausfluß der königlichen (Benedict 1989b:20). Wurden zwischen 1484 und 1614 etwa 20, in politischer und finanzieller Hinsicht herausragende Städte regelmäßig zu den Versammlungen der Generalstände (etats generaux) und Notabein des Königreichs eingeladen, so zeichnet sich doch eine fortschreitende Aushöhlung ihrer parlamentarischen Funktionen ab. Anders lag die Situation innerhalb der Provinzialstände, wo die Städte noch 1614 einen Großteil der Deputierten stellten (4 von 6 der Provence, 6 von 12 des Languedoc, 10 von 31 der Guyenne) (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:106). Nachdem sich das Pariser Parlement schon im 14. Jahr-
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hundert zu einem bloßen Gerichtshof gewandelt hatte, überwogen hier mehr und mehr die Bürokraten, eine Tendenz, die sich auch unter den Deputierten des dritten Standes der Generalstände verfolgen läßt. Lag der Anteil königlicher Beamter 1576 bei 35,8% (gegenüber 17,6% städtischer Amtsträger), so stieg er bis 1588 auf 43,8% (gegenüber 24,3%) (dazu Bulst 1992). Im Gegensatz zu den Provinzialständen gelang es den Generalständen nicht, Periodizität zu erreichen, was dem absoluten Königtum schließlich die Möglichkeit gab, sich ihrer durch einfache Nichteinberufung zu entledigen. Nach 1614 lebte wohl der Anspruch des Pariser Parlements wieder auf, als eine Art Volksvertretung betrachtet zu werden; besondere Konsequenzen hat dies allerdings nicht mit sich gebracht. Die munizipale Situation am Beginn des 16. Jahrhunderts glich im wesentlichen jener des Spätmittelalters. Auffällig ist der relativ hohe Grad an Autonomie in jenen Regionen, die am stärksten vom Hundertjährigen Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Insgesamt wird jedoch eine Verdichtung des Netzes staatlicher bürokratischer Organisation erkennbar, in das die Stadtverwaltungen einbezogen wurden. 1515 wurde zur Verstärkung der Kontrolle über die Stadtfinanzen das Amt eines Controleur des deniers communes eingerichtet, ein halbes Jahrhundert später begann der Angriff des Staates auf die munizipale Gerichtshoheit. So sollte entsprechend der Ordonnance d'Orleans von 1561 die städtische Gerichtsbarkeit im Falle einer parallel vorhandenen königlichen aufgehoben werden; die Ordonnance de Moulins von 1566 versuchte den Städten die Zuständigkeit für Zivilsachen überhaupt zu entziehen. Allerdings vermochten einzelne Stadtgemeinden bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine funktionierende Rechtsprechung und darüber hinaus auch eine beschränkte Einnahmenverwaltung sowie die Kontrolle der öffentlichen Sicherheit zu behaupten (Mieck 1982:197). Die Eingriffe in die munizipale Gerichtsbarkeit seit den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts signalisieren grundsätzliche Veränderungen im Verhältnis des Staates zu den Städten und deren Administrationsbereichen, wobei zeitlicher Verlauf und Umfang der Maßnahmen unterschiedlichen Mustern unterliegen konnten. Entscheidend wurden äußere Umstände, das Entstehen einer Periode der Unruhe, die mit den Religionskriegen begann und sich in der Fronde (1648-53) fortsetzte, innerhalb der die gescheiterte Volksbewegung der Ormee von Bordeaux mit ihren Sozialrevolutionären Zielen ein spezifisches Element darstellte (zuletzt Beik 1997:219-249). Paris, das Heinrich III. 1588 ausgesperrt hatte, wurde 1594 durch seinen Nachfolger nach
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einer Belagerung in die Pflicht genommen. Im Westen hatte sich in La Rochelle ein protestantischer Staat im Staate gebildet, der 1628 durch eine königliche Armee niedergezwungen wurde, wobei die Stadt im Jahre der Belagerung etwa 15.000 Einwohner verlor (Mackenney 1989:13). Die folgenden, auf breiterer Ebene einsetzenden Disziplinierungsmaßnahmen, die Beschneidung der Gemeinschaftsrechte und Jurisdiktionsbefugnisse, verbunden mit einer Steigerung der Steuerlast, gingen erheblich über das Prinzip der Friedenswahrung hinaus. Formal unangetastet blieb zwar das Recht auf eigene städtische Milizen und Schützenkompanien, die mitunter kleinen Armeen entsprachen, doch modifizierte man in einzelnen Städten deren Form bzw. Zusammensetzung und reservierte die Befehlsstellen für königliche Beamte. In anderen Fällen wurden Kontrollmechanismen hinsichtlich der Wahl der städtischen Amtsträger eingeführt oder verschärft. Zäsurcharakter besaß die Einsetzung der Intendanten, der königlichen Provinzialbeamten neuen Typs, und die schrittweise Verschärfung der Aufsicht über die städtischen Finanzen. Sie erreichte einen Höhepunkt im königlichen Edikt von 1683, das die Kommunitäten des Königreichs als im Status von Minderjährigen befindlich erklärte. Eine Sonderentwicklung nahm Paris, wo 1667 Nicolas La Reynie als erstem „Generalleutnant der Polizei" die Kompetenz hinsichtlich der Gesamtheit der politischen Agenden übertragen wurde. Wenig später traten an die Stelle der Bürgerwehr königliche Garden als öffentliche Ordnungsorgane (Benedict 1989b:33-35; am Einzelbeispiel Schneider 1989a; Schneider 1989b). Die weitgehende Beseitigung der letzten Autonomiereste der französischen Stadt wird nur vor dem veränderten militärisch-politischen und finanziellen Hintergrund voll verständlich. Wie schon im Zusammenhang mit den Religionskriegen hat das Paktieren einzelner Städte mit der Fronde die Gefahren aufgezeigt, die sich mit dem Tatbestand der Unbotmäßigkeit verbinden konnten. Die von Ludwig XIV. veranlaßte Demolierung der Stadtmauern sowie die Requirierung der Artillerie war hierauf, gestützt auf das militärische Machtpotential der Monarchie, eine eindeutige Antwort. Für weitere Schritte wurde dann der aus der Notwendigkeit der Kriegsfinanzierung abzuleitende Geldbedarf konstitutiv: der Eingriff in die Stadtregierungen und die Ausbeutung derselben für fiskalische Zwecke. Ansätze zur Umwandlung von Ratsstellen in käufliche königliche Ämter reichen wohl bis 1581 zurück, mit dem Anwachsen der Kriegsausgaben unter Ludwig XIV. verstärkten sich jedoch die Attacken auf die traditionellen Formen der Stadtadministration, so daß nach 1690
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mit der Installierung einer Fülle neuer Amtsstellen mit unterschiedlichen Titeln und Funktionen die überkommenen Strukturen weitgehend beseitigt wurden (vgl. bes. Kap. IV). Wie in England, so kennt auch in Frankreich die Entwicklung des Verhältnisses von städtischer Autonomie und staatlicher Souveränität am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit keine eindeutige Bruchstelle. Etappen des Abbaus des städtischen Freiheitsraumes wurden hier bereits zu einem Zeitpunkt erreicht, als etwa im Reich in den Zunftregimentern einzelner Reichsstädte ein großer Teil der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß teilnahm, und dies weitgehend ohne Beeinflussung seitens eines nur formal existenten Staates. Andererseits bedeuten die Regierungszeit Karls IX. (1560-74) und dann jene Ludwigs XIII. (1610-43) tiefe Einschnitte in den überkommenen Verfassungsstrukturen, auch hinsichtlich des Stellenwerts parlamentarisch-ständischer Mitbestimmung. Und hierin ergeben sich Übereinstimmungen mit anderen Staaten Randeuropas wie Kastilien, Aragon und Sizilien, auf die nur in groben Zügen hingewiesen werden soll. Die spanische Städtelandschaft war im Mittelalter durch eine ständige Wehrbereitschaft gekennzeichnet. Dies gilt von der Zeit der Reconquista bis herauf zur Eroberung von Granada 1492, bei der die Städte eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Die früh erstarkte Königsmacht war im Gegenzug imstande, den Städten ausreichende Privilegien zu gewähren, ohne die Kontrolle über deren Handhabung zu verlieren. Inhalte derselben waren wie anderswo die Inkorporierung, aber auch die Verteidigung gegen feudale Kräfte und Ansprüche. Im Regimiento, der vom Monarchen unterstützten oligarchischen Form der Munizipalgewalt, erfolgte ein Zusammenwirken verschiedener sozialer Elemente wie des Stadtadels (caballeros villanos), von Vertretern kirchlicher Einrichtungen sowie Rechtsgelehrten, oftmals abgehoben oder im Gegensatz zu den Interessen der Mehrheit der Stadtbewohner, dem Comun (Albaladejo 1994:172; Recio 1985:34-48). Grundsätzlich besaß die Führungsgruppe ritterlichen Charakter, doch schaffte auch eine beschränkte Zahl kommerziell-finanzieller Aufsteiger den Eintritt. Nach dem kastilischen Bürgerkrieg zur Zeit Heinrichs IV. (1454-74), der für die Städte neben der Entladung innerer sozialer Konflikte im besonderen eine Auseinandersetzung mit dem Hochadel um Freiheiten und Gebietsansprüche bedeutete und das Aufleben alter Schutzverbände (hermandades) zur Folge hatte, zeichnete sich im Zusammenwirken mit der Krone eine Konsolidierung der städtischen Positionen ab. Hier grundgelegt wurde mit der Überlassung der Alcabalas
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als eines Teils der königlichen Steuern (seit 1495) die Ausbildung von städtischen Steuerbezirken. Das System des „Encabezamiento" erlaubte es den Städten im Zusammenhang mit der wachsenden politischen und administrativen Rolle der städtischen Oligarchien, die fiskalische Kontrolle über das Umland zu verstärken (Gelabert 1994:192) und so eine embryonale stadtstaatliche Organisation aufzubauen. Das gute Verhältnis zwischen Krone und Städten geriet allerdings sehr bald in eine Krise. Zäsurcharakter trug vor allem der sogenannte Comuneros-Aufstand der Jahre 1520/21. Der Name Comunero (comunidad) meinte zwar die unteren städtischen Schichten, die vom politischen Entscheidungsprozeß ausgeschlossen waren, ihre Ursache besaß die Rebellion gegen die neue habsburgische Herrschaft allerdings in der nationalen Frage in Verbindung mit einer Brüskierung der kastilischen Stände durch Karl I. (V.). Getragen wurde sie von den Cortes und den Städten Altkastiliens mit Toledo an der Spitze, und hier wiederum von einer von den Unterschichten bis zum Adel reichenden Allianz, wogegen die Einbindung Aragöns und Andalusiens aufgrund des überkommenen Partikularismus nicht gelang (ausführlich Maravall 1970; Perez 1970; Gutierrez/Ignacio 1973; Haliczer 1981). Getrennt verlief auch die Entwicklung der Städte Kataloniens, insbesondere von Barcelona, das bis ins 18. Jahrhundert einen hohen Standard an Unabhängigkeit bewahren konnte (Mackenney 1989:27). Im Comuneros-Aufstand manifestierte sich somit weder der Bürgerstand im staatsweiten Verständnis, noch eine mit dem (Woll-)Handel in Verbindung stehende bürgerlich-fortschrittliche Klasse, zumal sich das merkantile Element - etwa in Burgos - royalistisch verhielt (vgl. auch Berengo 1975:28). In zahlreichen Städten entsprachen die Auseinandersetzungen zwischen Comuneros und Königstreuen vorab den Parteiungen rivalisierender Adelsfamilien, in anderen nahm die Bewegung den Charakter einer Vergeltung gegenüber den aus der Stadtoligarchie stammenden Vertretern bei den Cortes an. Das Hinübergleiten der Führungsrolle aus den Händen von Adel und Bürgerschaft in jene der unteren Schichten, verbunden mit den Elementen eines innerstädtischen Klassenkampfes, leitete mit dem Wechsel der Adeligen zur royalistischen Seite den Zusammenbruch der Erhebung ein. Ohne Verbindung zur Revolte der Comuneros verlief die Germania (Bruderschaft) von Valencia, eine Auseinandersetzung vor sozialem und religiösem Hintergrund zwischen niedrigem Volk und Adel, aber ohne deutliche Opposition zur Krone. Nachdem die sogar durch den König legitimierte Bruderschaft ein aus 13 Personen bestehendes Komitee, vorwiegend aus Handwerkern und Gilden gewählt hatte,
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versuchte dieses, seine politischen Ansprüche auszuweiten und unter der Leitung des Tuchscherers Vincente Peris mit militärischer Gewalt abzusichern. Auch diese Bewegung, die lediglich in Mallorca Echo gefunden hatte, erwies sich nach anfänglichen Erfolgen als Fehlschlag (Trevor Davies 1964:50-53). Die Revolten in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts führten der spanischen Krone mit Deutlichkeit die von einer kommunalen Bewegung ausgehenden Gefahren vor Augen und veranlaßten diese zu Vorsorgemaßnahmen. Um die politische Ruhe in den Städten zu garantieren, sollte auch hier an die Stelle weitreichender Freiheiten die Machtausübung in den Händen einer kleinen loyalen Gruppe konzentriert werden. Dies führte zur Begünstigung des niederen Adelsstandes der Hidalgos, dem nunmehr die bisher dem höheren Adel vorbehaltenen städtischen Ämter wie jene des Alcalde (Bürgermeister), des Alguazil mayor (Chef der Polizei und der Miliz) sowie der Regidores (Ratsmänner) geöffnet wurden. Von den Hidalgos dominierte Ratsgremien (ayuntamientos) lösten in den größeren Kommunen die Versammlung aller Haushaltsvorstände (consejo abierto) als politische Entscheidungsinstrumente ab. Königliche, in ein Rotationssystem eingebundene Beamte, die Corregidores, saßen im Stadtrat und beeinflußten dessen Entscheidungen (Friedrichs 1995:54). Zufolge des bei der Gentry liegenden Delegationsrechts für die Cortes, zu denen die (18) Städte weiterhin ihre Vertreter (procuradores) entsandten, verstärkte sich der royalistische Gleichklang auf lokal-kommunaler und parlamentarischer Ebene. Absolut gesehen unterlag freilich die politische Rolle der Städte einer zunehmenden Aushöhlung, wobei Wandlungen im Steuersystem den Hintergrund abgaben (vgl. Kap VI). Hatte das System der Alcabalas zunächst die Städte gegenüber dem Land begünstigt, so wuchsen seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die direkten und indirekten Belastungen, teilweise mit Zustimmung der Städte selbst, da diese um ihre Privilegien fürchteten. Als die Cortes im 17. Jahrhundert die Steuer nicht mehr gewährleisten konnten, trat der König mit einzelnen Städten in direkte Beziehungen, unabhängig von der Tatsache ihrer Vertretung im Parlament, so daß zur Beschneidung der alten städtischen Steuerbezirke der Verlust ihrer politischen Prärogative hinzutrat (Albaladejo 1994:178; vgl. auch Fortea Perez 1990). Aus der reduzierten fiskalischen Leistungsfähigkeit resultierten im 18. Jahrhundert verstärkte Kontrolle und letztlich Absinken in die politische Bedeutungslosigkeit. Auf die Städte des schon unter den Normannen, dann den Staufern und Anjou straff organisierten Staates in Unteritalien, von denen ins-
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besondere Neapel und Palermo herausragen, soll nur allgemein verwiesen werden. Es versteht sich von selbst, daß sich hier mit dem Anfall des Königreichs Neapel-Sizilien an die Habsburger (endgültig im Frieden von Cambrai 1529) die für die Städte bestimmenden Strukturen denjenigen in Spanien annäherten: vom Staat reduzierte bzw. kontrollierte Selbstverwaltung und Jurisdiktion, sich abschwächende Finanzhoheit, hingegen zumindest vor 1642 eine, allerdings auf die Hauptstadt beschränkte Artikulierungsmöglichkeit innerhalb des Parlaments (vgl. Villari 1993:8; D'Agostino 1988). ADELIGE FREISTAATEN IN ОSΤΜIΤΤΕLΕURΟΡΑ Ο. Hintze hat im Rahmen seiner vergleichenden Untersuchung des mittelalterlichen europäischen Ständewesens auf strukturelle Übereinstimmungen in der Verfassung der das ehemalige karolingische Reich umgebenden „Randländer" hingewiesen. Besonders deutlich wurde dieser Tatbestand für die englischen Stände einerseits, die ungarischen und polnischen auf der anderen Seite aufgezeigt. Es scheint daher gerechtfertigt, im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Städten und Staat, bei der sich der Parlamentarismus als wichtige städtische Aktionsplattform herausgestellt hat, in Kürze auf politisch-rechtliche Elemente der mittelosteuropäischen Städtelandschaft einzugehen. Die Städte der mittelosteuropäischen Wahlkönigreiche unterschieden sich von jenen in Westeuropa in mehrfacher Hinsicht. Vor allem durch die Tatsache, daß sie relativ klein blieben und die Urbanisierung, von der demographischen Seite betrachtet, nur eine geringe Intensität erreichte. Innerhalb der Vielfalt herrschaftlicher Beziehungen wird im 15. Jahrhundert eine Polarisierung in der Form faßbar, daß einer relativ kleinen Zahl von Städten in königlicher Hand eine immer größer werdende und im Besitz von Sonderrechten hierarchisch abgestufte Gruppe von Stadtorten gegenübertrat, die zwar unter feudaler Obrigkeit standen, von dieser aber gefördert wurden. Aus dem verschärften Wettbewerb ging die königliche Stadt in zweifacher Weise als Verliererin hervor. Zum einen mußte sie große Marktanteile an die feudalen Konkurrenten abtreten, zum anderen verlor sie mit ihrem ökonomischen auch das politische Gewicht; in Polen früher als in Ungarn oder vergleichsweise auch in Böhmen. Es mag aus dem Zusammenhang mit der ethnischen Struktur der bürgerlichen Oberschicht, d.h. dem Vorherrschen der Fremdstämmigkeit in den Kaufmannspatriziaten, zu erklären sein, daß die königli-
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Ostmitteleuropa
che Stadt in beiden Staaten ein relativ hohes Maß an Autonomie erringen konnte. Ansätze zur Heranziehung der Städtevertreter bei politischen Entscheidungen auf Staatsebene, wie sie im frühen 15. Jahrhundert erkennbar werden, blieben jedoch stecken. In Polen wurden die Städte nach 1450 nur einmal, 1466 beim Vertrag mit dem Deutschen Orden, zu ständisch-qualifizierten Aktionen herangezogen, und sie scheiterten auch mit ihrem Rechtsanspruch auf allgemeine Vertretung im Reichsparlament (Koranyi 1960:49). Die ungarischen Städte nahmen wohl seit den vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts an den Reichstagen teil, ohne allerdings mehr als eine besondere bürgerliche Gerichtsbarkeit (Tavernikalgericht) durchzusetzen. Immerhin bestätigte das Rechtsbuch des Istvän Werböczy von 1514 die Qualität der königlichen Freistädte als Landesmitglieder, ein Grundsatz, der 1608 auch vom Adel anerkannt wurde und mit zur Aufrechterhaltung ihrer privilegierten Stellung beigetragen haben mag. Der 1649 den städtischen Gemeinschaften verbriefte Adelsrang steht in einem wechselseitigen Verhältnis zum Herrschaftsrecht der Städte über ihren auch Leibeigenendörfer umfassenden Land- und Grundbesitz (Koranyi 1960:47f; Källay 1981:74,78), wogegen etwa die böhmischen Königsstädte bereits nach dem Verdikt von 1547 ihre Landgebiete verloren hatten und der Kontrolle königlicher Beamter, von Hauptleuten und Richtern, unterstellt wurden. Formal blieben die Städte wohl Landstand, doch war ihre Beteiligung an den Landtagen von der Zustimmung des Königs abhängig. Dem Aufstand von 1618-20, dessen Ziele mit ihren eigenen nur partiell korrespondierten, schlossen sie sich nur zögernd an, wurden allerdings nach 1620 umso härter bestraft (Janäcek 1980:300-307; Pänek 1991). In Polen verdrängte die Konzentration der Macht in den Händen von Adel und Magnaten die Städte weitgehend aus dem politischen Leben. Der Zutritt der Bürger zu öffentlichen Ämtern verengte sich auf jene der Stadtregimenter, diese gerieten allerdings in deutliche Abhängigkeit von den lebenslänglich oder erblich eingesetzten Starosten, königlichen, vielfach adelige Interessen vertretenden Beamten. Die parlamentarische Repräsentation blieb den alten „Hauptstädten" (civitates capitales) mit Adelsrang Krakau, Wilna und fallweise Lublin vorbehalten, zu denen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die strategisch wichtigen Plätze Lemberg (1658) und Kamieniec Podolski hinzutraten. Da auf den Reichstagen die Behandlung städtischer Angelegenheiten der Genehmigung durch König und Adelsdelegierte bedurfte, blieb ihre Rolle eine symbolische (Koranyi 1960:50f). Lediglich Danzig/Gdarisk, Elbing/Elbl^g und Thorn/Torun hoben sich aus
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dem Kreis der politisch ohnmächtigen polnischen Städte ab, ohne allerdings für die Interessen der übrigen aktiv zu werden. Der polnische König behauptete wohl bis zum Ende des Reiches das Recht, Städte zu gründen, Privilegien zu erteilen oder Jahrmärkte zu genehmigen, doch verschoben sich die eigentlichen Initiativen zunehmend zum Adel. Dieser war es auch, der seine Sitze in die Städte verlegte, in das städtische Wirtschaftsleben eingriff und schon im 16. Jahrhundert die Steuerautonomie der Städte einzuschränken begann. Der auch vom ungarischen Bürgertum gesuchte Weg, durch Nobilitierung adeligen Rang und damit politisches Mitspracherecht zu erlangen, wurde seit 1578 vom Sejm kontrolliert. Wenn 1562 ein Sprecher desselben feststellte, daß „towns are not lesser parts of the Polish Commonwealth, and the stronger they become, the more the Commonwealth might use them with respect and profit..." (Wyrobicz 1994: 159f), so entsprach dies einer Ideologie, die mit der Realität wenig zu tun hatte. Vielmehr disqualifizierte sie ihre Schwäche als Partner sowohl des Königs als auch der Adelsrepublik. Die Auswahl von fünf Beispielen zur Frage der politischen Stadtaußenbeziehungen aus dem randeuropäischen Bereich hat bei der Vielfalt von Abweichungen einige gemeinsame Züge aufgezeigt: Der „moderne" Staat, sowohl in der Ausformung mit einem starken Königtum wie in Frankreich oder Spanien - als auch mit einer zwischen König und Parlament geteilten Souveränität - wie in England, Ungarn oder Polen - bedurfte der Städte zur Herrschaftsausübung nicht mehr. Entweder waren diese schon längst ihrer politischen Kraft beraubt und mit ihrer ökonomischen Potenz den staatlichen Interessen untergeordnet, oder ihre Wirtschaftskraft war überhaupt zu schwach, um zwischen den um die Macht ringenden Parteien eine Entscheidung herbeiführen zu können. Es ist ja eine nicht auf Zentraleuropa beschränkte Tatsache, daß besonders seit dem 16. Jahrhundert nicht die Kommune, sondern der kapitalistische Unternehmer als Finanzier fürstlicher Ambitionen in Erscheinung trat. Wie sind nun die Beschränkungen der städtischen Rechte durch die Staatsgewalt, die an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert und dann im 16. Jahrhundert mit steigender Intensität deutlich werden, überhaupt zu interpretieren? Es geht hier um das Prinzip der Ordnung durch Subordination. Die „mittelalterliche" ständische Gesellschaft ist durch das Neben- und Übereinander unterschiedlich privilegierter Verbände und Personen charakterisiert. Der moderne Staat zeichnet sich wiederum durch ein verstärktes Streben nach Macht aus, die nach außen wirksam wird, eine innere Festigung dabei aber voraussetzt.
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Norditalien
und das Heilige Römische
Reich
Diese steht im Zusammenhang mit dem Aufbau eines rationalen Verwaltungsapparats, dessen Organisationsbemühungen der rechtliche Partikularismus zuwiderläuft. Die Beseitigung oder Vereinheitlichung von Sonderrechten dient vorzüglich der Effektivierung des im Aufbau befindlichen Behördenapparats. Ob die Städte bzw. ihre Organe als Teil desselben aufgefaßt wurden oder lediglich als jederzeit ihrer Privilegien entkleidbare Verbände daneben weiterbestanden, spielte in diesem Konzept eine untergeordnete Rolle.
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Im Gegensatz zu den Staaten Randeuropas steht der zentraleuropäische Raum, zusammengesetzt aus den deutschen Territorien des Reichs und den Gebieten, die schon früh aus dem Reichsverband hinausdrängten und Ansätze zu einem politischen Eigenleben entwickelten wie die Confoederatio Helvetica, die Niederlande, vor allem aber Oberitalien. Hier hat sich schon seit dem 13. Jahrhundert eine Vielzahl kleinerer, untereinander konkurrierender Herrschaftsgebilde entfaltet, die an der Wende zur Neuzeit hinsichtlich der ihnen zugeordneten Städte keineswegs einem einheitlichen Muster entsprachen. Vereinfacht finden sich in diesem alle im Spätmittelalter durchlaufenen Entwicklungsstufen wieder (vgl. Chittolini 1994). Der Kreislauf der italienischen Städte von Bestandteilen patrimonialer oder feudaler Verbände durch eine Zeit revolutionär errungener Selbständigkeit und eigenständiger Honoratiorenherrschaft, fallweise auch der Zunftherrschaft, weiter zur Signorie und schließlich wie in Mailand, Mantua, Ferrara oder im Florenz der Medici zu Elementen relativ rationaler patrimonialer Verbände hat in dieser Art kein vollständiges Gegenbild (M. Weber, 1972:788). Städte als Teile von Fürstentümern finden sich in der frühen Neuzeit jedenfalls in der Überzahl gegenüber kommunalstaatlichen Resten wie Lucca oder aristokratisch-republikanischen Sonderwegen wie Venedig und Genua. Im Rahmen der Diskussion um die neuzeitliche Stadt ist zunächst nach dem Zeitpunkt des Übergangs vom Stadtstaat zur Signorie (signoria) und zum Regionalstaat zu fragen. Die frühesten Signorien in Ferrara und in Venetien lassen sich noch vor die Mitte des 13. Jahrhunderts datieren, in den achtziger Jahren war diese Herrschaftsform in der gesamten nördlichen Ebene zur Norm geworden. Im Verlauf des 14. Jahrhunderts gewann sie in der Toskana an Boden, ebenso in den päpstlichen Provinzen (Umbrien, Lazium), bis im folgenden Säkulum die Kommune eher die Ausnahme bildete (Waley 1969:138-140;
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Jones 1997). Vielfach erscheint es schwierig, eine klare Trennungslinie zwischen dem Stadium der Republik unter der straffen Führung einer Oligarchie und der eigentlichen Signorie zu ziehen. Essentiell war die Konzentration der Macht des Signore, die dadurch möglich wurde, daß synchron dazu ein Transformationsprozeß der städtischen Gesellschaft verlief, der im wesentlichen einem Niedergang des Patriziats als kommunaler Funktionsträger und einer Rationalisierung von Administration und Militärwesen entsprach (Berengo 1975:34). Das Dominium des Stadtfürsten war mehrfach und schließlich überwiegend Herrschaft über mehrere Städte. Diese bildeten jedoch keinen einheitlichen Staatsverband, sondern bestanden mit unterschiedlichen Verfassungssystemen nebeneinander fort, gut verfolgbar in der Sonderstellung Sienas nach der endgültigen Unterwerfung unter Florenz 1559 oder in jener Spoletos als Hauptstadt des Ducato innerhalb des Papststaates. Die Städte wurden auch nicht zu Gemeinden, welche kraft Delegation einen Teil der Aufgaben des Staates übernahmen. Ständische Vertretungen fehlten in den aus Stadtterritorien hervorgegangenen Herrschaftsgebilden meist gänzlich, zumal den Kommunen des Contado die Bildung politischer Verbände untersagt blieb. Dasselbe gilt für die dem Staate einverleibten Städte der Lombardei (Berengo 1975:53). Im Falle der Republik Venedig verbanden sich absolutistische mit föderalistischen Elementen: den Städten des Hinterlands blieben ihre überkommenen Organe erhalten, etwa Ratsgremien in Verona und Brescia oder Gilden in Vicenza und Treviso (Mackenney 1989:49). Für die Rolle der Mehrzahl der italienischen Städte innerhalb der frühmodernen Staatengebilde erscheinen drei Elemente von vorrangiger Bedeutung. Die Ergänzung und Überlagerung der aus der republikanischen Epoche stammenden, meist für kurze Zeit gewählten kommunalen Organe durch die von Herrschaftsseite mit unbegrenzter Funktionsdauer eingesetzten Amtsträger. Weiters die Kontinuität oder Transformation der bisherigen sozialen und politischen Eliten, einschließlich der Organisationsformen der Bürgerschaft, und letztlich die Behauptung der Herrschaft über den Contado durch die Stadt. Dies gilt freilich vorwiegend für ein fortgeschrittenes Stadium, wogegen sich die Frage des Stadt-Staat-Verhältnisses zu Beginn des 16. Jahrhunderts mitunter erheblich einfacher darstellt. In Abweichung von anderen europäischen Regionen erfolgte die Staatsbildung am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit in Ober- und Mittelitalien vielfach in archaischer Weise mit militärischer Gewalt. Die kriegerische Eroberung, die im 15. Jahrhundert zur beträchtlichen
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Erweiterung des venezianischen Stato da Mar durch einen Stato di Terra ferma mit einer Fläche von etwa 35.000 km 2 um 1548 geführt hatte, fand im 16. mit Erfolgen der Medici in der Toskana sowie des Papstes in Umbrien und in der Emilia ihre Fortsetzung. Als äußeres Zeichen der Unfreiheit entstand eine Militärarchitektur in Nachfolge der 1534 von den Medici gegen mögliche innere Konkurrenten errichteten Fortezza da Basso in den Cassari von Siena, San Gimignano, Pistoia oder Arezzo und den päpstlichen Fortezze in Ancona, Perugia und Fano. Darüber hinaus galt es allerdings, französische, deutsche und spanische Herrschaftsambitionen abzuwehren, mit denen sich selbst so mächtige Metropolen wie Florenz, Mailand oder Genua konfrontiert sahen (Gambi 1982:33; Confurius 1991:123; vgl. auch Kellenbenz 1991:4f). Im Ruf nach „libertä" konnte daher bei zahlreichen Städten das Streben nach Unabhängigkeit vor dem Prinzip der Wahrung autonomer Rechte rangieren (Berengo 1975:28f). So verteidigten die Pisaner ihre alte Kommune gegen Florenz, in Perugia wehrte man sich 1540 im Salzkrieg gegen die völlige Vereinnahmung durch den Papststaat, nachdem das päpstliche Gubernium der Stadt bereits 1528 die Souveränität über das extramurale Territorium entzogen hatte (Paci 1978:230), und Siena kämpfte durch mehrere Jahrzehnte um die republikanische Form des Staates und zugleich um sein Überleben. Wie bekannt ist, mit geringem Erfolg. Der Variantenreichtum in Verlauf und Strukturen zwingt zu einer Auswahl, für die sich vor allem das Beispiel des Herzogtums Florenz und vergleichsweise jenes des Kirchenstaats anbieten. Zunächst zu Florenz (im folgenden nach Litchfield 1978; Litchfield 1986). Aufgrund der 1532 durchgeführten Verfassungsreform wurde hier mit Unterstützung des Papstes ein monarchisches Regierungssystem installiert, das den Herzog zur Quelle des Gesetzes werden ließ. Die letzten Spuren zünftischer Mitregierung verschwanden, die politische Berechtigung hinsichtlich der Maggiori der Republik wandelte sich in solche gegenüber dem Herzogtum. Andererseits blieben einzelne republikanische Einrichtungen, wenn auch unter Beschränkung ihrer Ansprüche, erhalten. Obwohl sich das politische Gewicht eindeutig auf die Seite des Fürsten verschoben hatte, fand keine vollständige Entmachtung der bisherigen politischen und sozialen Eliten statt. Die Grundstruktur, daß der Adel einen Raum für die Mitwirkung bei der Ausübung der Herrschaft behauptete, findet sich noch im 18. Jahrhundert, so daß Franz Stephan von Lothringen als neuer Herrscher das Gubernium als „un miscuglio di aristocrazia, democrazia e monarchia" bezeichnen konnte (1739) (Litchfield 1978:142). Erst nach 1740 wur-
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de dieses endgültig durch eine bürokratische Hierarchie von Funktionären ersetzt, die durch den Herzog oder in dessen Namen eingesetzt wurden. Freilich sollten bei allen Hinweisen auf Kontinuität die Zeichen des Wandels nicht übersehen werden. So mehrten sich die Fälle der Ernennung von Senatoren und Räten als Ausfluß fürstlicher Autorität (a mano). Darüber hinaus versuchten die Medici, durch Schaffung eines Kreises von Beamten und Sekretären das Gubernium vom Einfluß der Oligarchie zu befreien und mit einem diversifizierten bürokratischen Apparat die Herrschaft über das Herzogtum neu zu strukturieren. Wenn dies auch nur zum Teil gelang, so erfolgte doch, mitbedingt durch die Krise der städtischen Wirtschaft, allmählich eine Nivellierung der großen Familien des 15. Jahrhunderts (benefiziati) in Richtung Hofadel und eine Konzentration der Macht in den Händen von permanenten Funktionären, deren Zahl parallel zum Wachstum ihrer Einflußbereiche zunahm. Aber auch diese gehörten zumeist dem Adel an, wogegen sich eine Noblesse de robe, die ihren Aufstieg fürstlichen Ämtern verdankte, nur ansatzweise ausbilden konnte. Hat man im Falle der Toskana von einem Fürstenabsolutismus in aristokratischem Kontext gesprochen, so ändert sich das Bild, wenn man die benachbarte Region Umbrien betritt (Paci 1978). Deutlicher als in Florenz, das ja selbst Hauptstadt und Residenz war, werden vom päpstlichen Gubernium in Rom gesteuerte Tendenzen zur Zentralisierung erkennbar. Sie umfaßten zum einen die Aushöhlung der vom Volk getragenen Vita comunale, einschließlich der Zuständigkeit für die lokale Gerichtsverwaltung, weiters die Einsetzung päpstlicher Gouverneure wie in Cittä di Castello schon Ende des 15. Jahrhunderts, in Perugia 1535, später auch in Terni, Foligno usw., und zuletzt die Begünstigung privilegierter Corpi mit dem Ziel der Überwindung der munizipalen Strukturen. Zur zunehmenden Präsenz von Adeligen in den traditionellen städtischen Magistraturen traten neue Ämter, die überwiegend vom Adel besetzt werden, vor allem wenn es um die Durchsetzung der staatlichen Steuerhoheit über den Contado ging. Das Muster der Übertragung lokaler Macht an Adel und Magnaten unter der Kontrolle des Staates setzte sich im 17. Jahrhundert auch in Spoleto durch, das zu Beginn des 16. Jahrhunderts - als Gegenbeispiel zur bürgerlichen Freiheitsbewegung von Perugia (1527) - die Kirche gegen adelige Herrschaftsansprüche (Colonna) unterstützt hatte. Damit fand es sich in der Nähe zu Lösungen, wie sie im Herrschaftsbereich der Republik Venedig oder in Mailand nachweisbar sind (vgl. auch St. Rowan in Brady/Oberman/Tracy 1994:197-229).
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Der im folgenden zu behandelnde deutsche Kernraum des Reichs hatte mit Oberitalien seit dem 13. Jahrhundert das Fehlen einer starken Zentralgewalt gemeinsam. Anders als dort bildeten aber nicht die großen Kommunen, sondern überwiegend Territorium und Landesfürstentum die Ansätze zur Ausformung des frühmodernen Staates. Die dem Territorialstaat untergeordneten Landstädte waren somit ein zentrales Element, das hinsichtlich des Stadt-Staat-Verhältnisses zu analysieren sein wird, während die Geschichte der Reichsstädte seit dem ausgehenden Mittelalter selbst durch die Tendenz zur Territorialisierung (Stadtrepublikanismus) geprägt erscheint. Am deutlichsten kommt die stadtstaatliche Entwicklung bei einzelnen schweizerischen Mittelstädten zum Ausdruck, die sich verstärkt 1499-1536 (staatsrechtlich 1648) zusammen mit den Landkantonen vom Reich loslösten und ihre Souveränität im Rahmen der Confoederatio Helvetica bewahrten (vgl. Friedrichs 1981). Daß sich die auf dem Solidaritätsgedanken und dem Verständnis der Bürgerschaft als religiöse Korporation basierende Inklination zahlreicher süddeutscher Städte (Nürnberg, Augsburg, Straßburg, Konstanz etc.) zur „Schweizerei" (turning swiss) nicht zu einem größeren Aderlaß auswuchs, ist sowohl auf innerstädtische Schwierigkeiten als auch die zwischen Deutschland und der Schweiz bestehenden historischen Unterschiede zurückzuführen (Brady 1985; Mackenney 1989:34f). Von den deutschen Reichsstädten, deren Zahl von etwa 70 im Jahre 1521 auf 51 gegen Ende des Reichs zurückgegangen war - Gründe waren neben dem Übertritt zur Eidgenossenschaft der Verlust von Städten an Frankreich (1552 Metz, Toul, Verdun, 1648 Elsaß, 1679 Besan^on, 1681 Straßburg) (Stolleis 1991 :XI) sowie die Einverleibung einer größeren Zahl in den Territorialstaat - , blieben nach dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 nur sechs, 1806 nur mehr vier (Bremen, Hamburg, Lübeck, Frankfurt) bestehen. Obwohl der Autonomiestatus der Städte eher durch mehrfache Abstufungen und weniger durch klare verfassungsrechtliche Distinktionen charakterisiert erscheint (Schilling 1993:39), verhilft dennoch eine Typenbildung nach der herrschaftlichen Zuordnung zu einer praktikablen Gliederung. Über der Vielzahl patrimonialer Städte (Mediatstädte) und städtischer Minderformen, deren generell eingeschränkte Selbständigkeit mit der Unterordnung unter einen Feudalherrn korrespondierte, der entweder landsässig oder reichsunmittelbar sein konnte, rangierten die zumeist auch in den Landständen vertretenen Territorialstädte. Bei diesen handelte es sich um eine breite Mittelgruppe von Stadtorten mit oftmals erheblicher Autonomietradition, die einem fürstlichen Stadtherrn unterstanden. Eine Randgruppe zu
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den Patrimonial- oder Mediatstädten bildeten Städte solcher Reichsfürsten, die zwar in den Reichsfürstenstand gelangt waren, ohne jedoch ein „Land" mit allen Pertinenzen auszubilden bzw. über die jeweilige Stadt volle landesherrliche Gewalt auszuüben (Isenmann 1988:109f; Gerteis 1986:71-75; Knittler 1985:54f), eine solche zu den Reichsstädten die sogenannten „Semireichsstädte" oder „Autonomiestädte", die lange Zeit weitgehende Selbständigkeit von ihrem Stadtbzw. Landesherrn behaupten konnten. Diese für das frühneuzeitliche deutsche Städtewesen als Indikator für den Fortschritt bei der Formierung von Reichssystem und Territorialstaat wichtige Gruppe hatte ihre stärkste Verbreitung entlang der Ostseeküste sowie im Westen und Nordwesten bis nach Mitteldeutschland. Neben Großstädten wie Magdeburg und Braunschweig zählten zahlreiche Mittelstädte, etwa die wendischen Hansestädte Rostock und Stralsund, dann Erfurt, Lüneburg, Soest, Münster, Wesel usw., hierher. Hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft konnten sie sich durchaus mit Reichsstädten messen, dasselbe gilt in Einzelfällen auch in bezug auf den rechtlichen Handlungsspielraum (Schilling 1993:40). Innerhalb der faktisch autonomen Stadtrepubliken werden Freie und Reichsstädte unterschieden, eine Differenzierung, die entwicklungsgeschichtlich bedingt ist und in der neuzeitlichen Realität kaum von Belang erscheint. Zu den Freien Städten gehörten vor allem ehemalige Bischofsstädte, welche die Herrschaft ihres Stadtherrn abzuschütteln vermochten, während die eigentlichen Reichsstädte auf Reichsland entstanden waren oder Teile von solchen Territorien darstellten, über die der König im ausgehenden Hochmittelalter die Landeshoheit zu beanspruchen hatte. Ihr zahlenmäßiges Schwergewicht lag daher von Anfang an in Oberdeutschland und blieb hier bis zum Ende des Reiches: Um 1800 standen den 37 Mitgliedern der schwäbischen Bank der Städtekurie des Reichstags nur 14 der rheinischen Bank gegenüber (Oestreich 1970:427). Bestanden bis ins späte 15. Jahrhundert oftmals nur graduelle Unterschiede zwischen der Rechtsstellung einer Reichsstadt und der gehobenen Schicht der Landstädte, so änderte sich dies im Zusammenhang mit der Festigung und flächenhaften Abrundung der Territorien einerseits, der Institutionalisierung des Reichs andererseits. Diesen Prozessen entsprach seitens der Territorialstaaten das mitunter erst im 16. oder 17. Jahrhundert zu einem Abschluß gelangende Bestreben, die bisher recht lockeren Abhängigkeiten einzelner Kommunen in ein festes Herrschaftsverhältnis umzuwandeln, seitens des Reiches und seines Oberhaupts die Tendenz, bei innerstädtischen Spannun-
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gen durch Mandate und Kommissionen unmittelbar in die Verhältnisse der Reichsstädte einzugreifen. Bemerkenswert ist der fehlende Zusammenhang zwischen verfassungsrechtlicher Position und wirtschaftlichem Stellenwert, wie das Beispiel der vielen kleinen Reichsstädte des Südwestens oder der erst im 18. Jahrhundert endgültig gegen dänische Ansprüche behaupteten Reichsfreiheit der Handelsmetropole Hamburg beweist (Oestreich 1970:427). Überhaupt darf das Problem der Integrierung der Stadt in staatliche Ordnungen nicht ohne Berücksichtigung der regionalen Sonderentwicklungen vereinfacht werden. In jenen Gebieten, wo sich früh eine starke Landesherrschaft mit einigermaßen geschlossenen Hoheitsgebieten ausgebildet hat - wie etwa in den böhmischen und in den österreichischen Ländern, in Bayern oder in Brandenburg - hat der Fürst trotz einer mitunter redundanten Privilegienvergabe von Anfang an die Grenzen des Autonomieraumes der Städte bestimmt. Hier kam es bestenfalls im 15. und frühen 16. Jahrhundert zu konzertierten Aktionen der Städte im Rahmen der Städtekurien und fallweiser Zusammenarbeit mit Adel und Prälaten in der ständischen Organisation. Auch konnten die Zielsetzungen des Staates variieren und zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorangetrieben werden (vgl. allgemein Toepfer 1980). Trotz der Fülle an Varianten erscheint das Eingehen auf einige zentrale Entwicklungsstränge als unumgänglich. Es ist darauf verwiesen worden, daß sich der Rahmen der Selbstbestimmung bei Freien und Reichsstädten, Autonomiestädten und sogar zahlreichen Territorialstädten bis ins späte 15. Jahrhundert nicht grundsätzlich unterscheiden mußte. Erheblicher war, daß sich im Falle der letzteren die politische Partizipation im Rahmen ihres Landes, bei den Reichsstädten auf der Ebene des Reiches abspielte (Schilling 1993:40). Freilich sollten die Möglichkeiten der Städte gerade auf den reichsständischen Versammlungen nicht überbewertet werden, zumal sie vor 1495 nicht einmal ein unbestrittenes Teilnahmerecht an den den Reichstagen des 16. Jahrhunderts vorangehenden Hoftagen besaßen (Schmidt 1991:53). Andererseits sind die ergänzenden Artikulationsebenen, wie sie in den seit 1481 abgehaltenen Städtetagen als Medium eines eigenen korporativen Verbunds sowie der deutlich lockerer organisierten Interessengemeinschaft der Städtehanse im Norden, die mit der Konföderationsnotel von 1557 in die Richtung eines Städtekorpus politisch reorganisiert wurde, nicht zu übersehen. Dazu kamen das im 16. Jahrhundert zunehmende Arrangement mit benachbarten Territorialfürsten und bilaterale Beziehungen zum Kaiser und zu den Reichsinstitutionen (Schmidt 1991:58, 61).
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Während der ersten anderthalb Jahrhunderte der Neuzeit erhielt nun die reichsstädtische Qualität insofern eine klare Aufwertung, als nur die über die Reichsmatrikel nachgewiesene Vertretung auf dem Reichstag Autonomie im reichsrechtlichen Sinne garantierte. Für Städte ohne die genannte Beschaffenheit erwuchsen neben der latenten Gefahr, den mit Hilfe von Römischem Recht und Souveränitätslehre untermauerten Integrationsansprüchen der Territorialstaaten zu unterliegen, gefährliche Augenblickssituationen. Eine Zäsur in diesem Sinne war das Gesetzeswerk von 1555, das hinsichtlich der Religionsfrage die Zweiteilung in Reichsstädte und Territorialstädte festschrieb, womit die protestantischen Autonomiestädte des Nordens und Nordwestens (civitates mixtae status) mit ihren Bemühungen um Zuerkennung eines eigenen Hansestadtartikels gescheitert waren. Die endgültige Unterwerfung unter die Territorialgewalt konnten die mittleren und größeren Autonomiestädte meist noch aufgrund ihrer hohen Wirtschafts- und Finanzkraft sowie, daraus abgeleitet, durch entwickelte machtpolitische Ressourcen über eine längere Frist hinausschieben (Schilling 1991:31f). Den Umschwung brachte hier erst der Dreißigjährige Krieg, und dies auf unterschiedlichen Ebenen. Zum einen gelang den Freien und Reichsstädten 1648 mit der Zubilligung des Votum decisivum die zumindest formale institutionelle Verankerung in der Reichsverfassung (Reichsstandschaft), wenngleich damit weder ihre ebenbürtige Mitgliedschaft im Reichstag anerkannt, noch die kaiserliche Autorität abgeschafft wurde. Aufgrund des Ius territorii et superioritatis erhielten sowohl Reichsstädte mit umfassendem Stadtgebiet (Nürnberg, Ulm, Rothenburg, Straßburg bis 1681, usw.) als auch Zwergrepubliken (Buchau, Isny, Weißenburg im Nordgau, Zell am Harmersbach u.a.) die souveräne Landeshoheit zuerkannt. Im Gegensatz dazu spielte der Krieg vor dem Hintergrund ökonomischer Schwierigkeiten zahlreicher Autonomiestädte den Territorialfürsten Werkzeuge in die Hand, mit denen sich der Widerstand gegen eine Mediatisierung endgültig brechen ließ. Dabei kam über die juristisch-politischen Argumente häufig geballte militärische Macht zum Einsatz. So fielen im Vierteljahrhundert nach dem Westfälischen Friedensschluß „die letzten großen Bastionen städtischer Unabhängigkeit" (Schilling 1993:45): 1660/61 kam Münster, das 1534-35 das sozial-reformatorisch bestimmte Blutregiment der Wiedertäufer als Herrschaftsform erlebt hatte, an den hier residierenden Bischof (vgl. auch Hsia 1989), 1664 Erfurt mit Hilfe einer innerstädtischen Opposition an den Kurfürsten von Mainz, Magdeburg wurde 1666 von Brandenburg eingenommen und zur Festungsstadt gemacht, 1671 folgte Braun-
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schweig auf demselben Weg. Der bis ins Spätmittelalter zurückverfolgbare Prozeß, innerhalb dessen die Statusminderung von Trier 1580 und Göttingen 1611 wichtige Etappen dargestellt hatten, kam zwar im ausgehenden 17. Jahrhundert noch nicht zu seinem Ende, doch stellten die noch später ihre Selbständigkeit behauptenden Städte wie Emden (bis 1744), Lemgo oder Rostock (bis 1788) strukturell eher unbedeutende Ausnahmen dar (vgl. auch Gerteis 1986:75f). An dieser Stelle erscheint die Feststellung angebracht, daß die in ihrer formalen Rechtsposition gefestigte Reichsstadt weder vor der Bedrängung durch angrenzende Territorialstaaten verschont blieb (Beispiele Reutlingen, Eßlingen, Goslar, Konstanz, Regensburg), noch daß es zu einer völligen Abschaffung der Autorität des Kaisers und seiner Behörden gekommen wäre (Brunner 1963). Direkte Einflußnahmen des Reichs auf die Verfassungsverhältnisse der Reichsstädte sind während der gesamten Frühneuzeit nachweisbar, wobei Auseinandersetzungen zwischen Bürgerschaft und oligarchisch-patrizischer Obrigkeit den auslösenden Faktor darstellen konnten. Sie erfolgten meist über einzelne durch den Reichshofrat legitimierte und instruierte Kommissionen oder Exekutivausschüsse. So hat Karl V. nach seinem Sieg im Schmalkaldischen Krieg in etwa 25 zumeist evangelischen Reichsstädten in Oberdeutschland das Zunftregiment durch Geschlechterräte ersetzt, um den alten Glauben zwangsweise sicherzustellen, was allerdings nur kurzfristig gelang (Naujoks 1958). Auch später, insbesondere im 18. Jahrhundert, sind kaiserliche Kommissionen bei Streitigkeiten in den Reichsstädten tätig geworden (z.B. Hamburg 1708-12, Frankfurt a. Main 1727-32), die dann neue Verfassungen mit Rezeß festlegten. Die Reichsstädte blieben somit trotz ihrer Entwicklung zu Stadtrepubliken der kaiserlichen Gewalt verbunden (Gerteis 1986:65-67; Koch 1983; Soliday 1974:13-32). Der Druck, den die Landesherren gegenüber den zu integrierenden Autonomiestädten ausübten, charakterisiert mit seinen rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Akzenten auch das vorherrschende Muster im Verhältnis des Fürstenstaats zu den überkommenen Territorialstädten in der Neuzeit. Neben regionalen Unterschieden und zeitlichen Verzögerungen konnten dabei auch funktionale Faktoren eine Rolle spielen. Hierher zählte besonders die Ausgestaltung einzelner Städte zu fürstlichen Residenzen, zu Mittelpunkten eines großräumigen militärischen Sicherungsnetzes (Festungen) oder zu Zentren der lokalen Landesverwaltung (Amtsstädte). Nicht selten setzte die bürokratische Bevormundung und Reglementierung der Stadt und die Entmündigung der autonomen städtischen Verwaltung gerade bei
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den Sonderformen ein. Die für diese erlassenen Stadtordnungen lösten das mittelalterliche Privileg ab und wurden in weiterer Folge auch auf andere städtische Glieder des Territoriums übertragen, bis im Absolutismus die flächendeckende Einordnung der Städte in den Fürstenstaat das Grundprinzip darstellte. Vielfach trat an die Stelle der städtischen Verwaltungsautonomie das Modell der „beauftragten Selbstverwaltung" (Wiese-Schorn 1976:30,57), innerhalb dessen die Kompetenzen der Gemeinde nicht mehr als autochthon, sondern aus der fürstlichen bzw. staatlichen Gewalt abgeleitet interpretiert wurden. Die Herabdrückung der Städte zu staatlichen Verwaltungsbezirken, also eine „Verstaatlichung" der Gemeinde, gelang allerdings nur in den großen Territorialstaaten wie Österreich, Preußen und Bayern, und auch dort verhältnismäßig spät. SONDERENTWICKLUNGEN: ÖSTERREICH,
BAYERN,
BRANDENBURG
Worin bestanden nun die vom Staat verfügten substanziellen Minderungen der Städteautonomie seit dem 16. Jahrhundert im einzelnen? Geht man vom österreichischen Fallbeispiel aus, so ist zunächst auf die Institutionalisierung der fürstlichen Kontrolle des Stadtrates durch die Einsetzung von Stadtanwälten seit dem späteren 15. Jahrhundert zu verweisen. In der Folgezeit verstärkte sich die Tätigkeit der für bestimmte Zwecke abgeordneten Kommissionen (insbesondere Wahlkommissionen), die sich personell aus Beamten der Landesregierungen und Kammern rekrutierten und aufgrund ihrer Instruktionen in die städtische Geschäftsführung unmittelbar eingriffen. Der Einbruch lief über die Finanzen, wogegen Polizei und Rechtsprechung zunächst unberührt blieben. Obwohl formal gewählte Obrigkeit der Bürgergemeinde, entwickelte sich der Rat schrittweise zur untersten Instanz des staatlichen Verwaltungsapparats, bis unter Josef II. 1783-85 dieser Zustand zur Rechtsnorm erhoben und auch auf die Gerichtsbarkeit ausgedehnt wurde (Brunner 1955; Knittler 1985:57-59). Ein etwas abweichendes Verlaufsmuster läßt sich für Bayern skizzieren. Hier waren die sogenannten sechs „Hauptstädte" unmittelbar den Regierungen bzw. im Rentamt München dem Hofrat unterstellt. Die Entwicklung von der bürgerlichen zur herzoglichen Stadt ist am besten am Beispiel München zu verfolgen, das im 16. Jahrhundert zur vornehmlichen Herzogsresidenz geworden war und dessen Verwaltung einer immer dichter werdenden Kontrolle unterlag. Ziel der 1670 erlassenen und 1748 revidierten Stadt- und Marktordnung war eine
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Sonderentwicklungen:
Österreich,
Bayern,
Brandenburg
einheitliche gesetzliche Regelung der städtischen Administration im gesamten Territorium und die faktische Außerkraftsetzung der obsoleten Stadtautonomie durch weitreichende staatliche Eingriffsmöglichkeiten (Hoffmann 1997:89-94). - Daß sowohl in den habsburgischen Territorien wie auch in Bayern die Landstandschaft der Städte, wenngleich mitunter in sehr reduzierter Form (Städtemarschall in Niederösterreich), erhalten blieb, war realpolitisch - im Gegensatz zu zahlreichen kleineren Territorien - von untergeordneter Bedeutung. Der kräftigste Abbau der Stadtautonomie erfolgte in BrandenburgPreußen, wo der Kurfürst zu Ausgang des Mittelalters die Mehrzahl der bedeutenderen Städte besaß. Schon bald nach Beginn des 16. Jahrhunderts verfügte er den Austritt von Berlin, Frankfurt a. d. Oder, Stendal und Salzwedel aus der Hanse und entzog den Städten Teile der Selbstverwaltung: in Berlin und Coelln wurden wichtige Verordnungen durch die kurfürstlichen Räte formuliert und als Mandate im Namen des Kurfürsten verkündet. Gleichzeitig erfolgte eine Verdrängung des alten Patriziats durch bürgerliche Juristen aus den Ratsstellen (Dietrich 1980:bes.l79). Grundlegende Veränderungen ergaben sich nach 1641 mit der Einführung einer neuen indirekten Verbrauchssteuer (Akzise) anstelle des alten Steuersystems, deren Einhebung nach und nach von städtischen auf staatliche Organe überging (commissarius loci seit 1688). Der Ausbau von Garnisonen und Festungen bedingte zunehmende polizeiliche Eingriffe. Friedrich Wilhelm I. (1713-40) brachte die Beschneidung ständisch-korporativer Selbständigkeit insofern zu einem ersten Abschluß, als er die Städte der militärisch-wirtschaftlichen Kommissariatsverwaltung unterstellte, einem System, das diesen nach weiteren Modifizierungen lediglich Polizei und Gerichtsbarkeit beließ. Zum maßgeblichen Organ wurde der Steuerrat, der aber heute nicht mehr einseitig als ein die Magistrate zu staatlichen Behörden verkürzender Repräsentant der königlichen Gewalt, sondern mit Blick auf seine volkswirtschaftliche Tätigkeit auch als ein zum Vorteil der Städte agierendes Ordnungsinstrument verstanden wird (Heinrich 1981). Die Wiedereinführung der Wahl der Ratsmitglieder unter Friedrich II. erweiterte den städtischen Freiheitsraum nur unerheblich.
DIE
NIEDERLANDE
Nach dem Aufgehen der überwiegenden Mehrzahl der italienischen Stadtrepubliken in patrimonialstaatlichen Systemen bildeten die deutschen Reichsstädte (libere Imperii civitates) neben den aus vergleich-
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baren Wurzeln hervorgegangenen Schweizer Stadtkantonen als Territorien auf kommunaler Basis zweifellos eine verfassungsrechtliche Sonderform in Europa. Sieht man von den bereits angesprochenen Möglichkeiten ordnenden Eingriffs durch Kaiser und Reichsbehörden ab, besaßen sie alle landesherrlichen Rechte: das Recht, Steuern zu erheben, in ihrem Territorium Recht zu sprechen, eine eigene unabhängige Verwaltung zu errichten, die Wehrhoheit, das Bündnisrecht sowie das Statuarrecht (Gesetzgebungsrecht) auszuüben. Wenn nun die Landeshoheit von den Magistraten, gleichgültig wie sich dieselben zusammensetzten, ausgeübt wurde, war dennoch - und dies im Unterschied zu den fürstlichen Territorien - die „Burgerschaft das eigentliche Corpus der Reichsstadt" und der „Magistrat... der Burgerschaft Obrigkeit, aber nicht ihre Herrschaft" (Johann Jacob Moser, 1701-85) (Laufs 1963:31). Somit erscheint abschließend noch ein Überblenden zu einem Territorienkomplex angebracht, in dem zumindest die großen Städte schon im Spätmittelalter zentrale Elemente der Verfassung darstellten, nämlich Flandern. Vergleichend werden auch andere Teile des Konglomerats von Fürstentümern im Raum der Niederlande in die Überlegungen miteinzubeziehen sein. Im 15. Jahrhundert war die Grafschaft Flandern wohl formal ein Fürstenstaat, doch bildeten die ausschließlich kommunal verfaßten Stände - die Städte Gent, Brügge und Ypern sowie der ländliche Kommunalverband der „Brugsen Vrije" die neben der ländlichen Bevölkerung 48 Städte vertraten, schon aufgrund ihrer enormen Wirtschaftskraft ein starkes Gegengewicht (Blockmans 1987). Strukturen mit einer klaren Präponderanz der Hauptstädte stellten sich nach 1629 auch in Brabant (Löwen, Brüssel, Antwerpen) und später in den Generalstaaten ein; weniger deutlich war die Verdrängung der kleinen Kommunen, die erst 1754 überwunden wurde, in der Grafschaft Hennegau und im Fürstentum Lüttich. Delegiert wurden die Deputierten von den Stadtmagistraten, die im Falle von Brügge allerdings schon seit 1399 durch den Fürsten bestellt wurden (Woltjer 1980:155). Von den in diesem Sinne nachfolgenden Städten ist der Fall Gent, wo Karl V. nach der Rebellion von 1539 den zünftischen durch einen patrizischen Rat ersetzte, wohl am geläufigsten, doch zeichnet sich schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts nicht nur in Flandern, sondern auch in anderen niederländischen Territorien der burgundischen und später habsburgischen Dynastie die Tendenz zur Ernennung der Magistrate durch staatliche Kommissare ab. Weitgehend unabhängig von der Form ihrer Bestel-
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Die
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lung, rekrutierten sich die Magistrate aus einer schmalen Oberschicht aus Großkaufleuten, Unternehmern und Rentiers mit der Tendenz zur Oligarchisierung, wogegen Reste eines an der Verwaltung beteiligten Zunftelements mit wenigen Ausnahmen (Lüttich, Huy, Dinant u.a.) schrittweise beseitigt wurden. Zudem strebte die Zentralregierung nach einer Kodifizierung eines einheitlichen (Stadt-)Rechts, das etwa im „Ewigen Edikt" von 1611 für zahlreiche Städte Geltung erlangte. Unterstützt wurden ihre Eingriffsmöglichkeiten in den Städten der südlichen Niederlande, vor allem in Form von Reglementierungen der städtischen Ämter und Finanzen, durch die Anwesenheit eines staatlichen Organs, dessen Namen von Stadt zu Stadt variierte (Van Uytven 1991:20). Nach dem Aufstand gegen die spanische Herrschaft und dem seit 1572 folgenden offenen Krieg, der schließlich 1579 zur Utrechter Union und 1581 zur Lossagung der sieben nördlichen Provinzen führte, polarisierte sich zunächst das staatliche Bezugssystem. Während sich im Süden das monarchisch-absolutistische Prinzip weiter verfestigte, ohne die lokale Autonomie völlig auszuschalten und die ständische Mitbeteiligung in Frage stellen zu können, trat im Norden eine durch ihre Stände (Staten) repräsentierte Föderation (Generalstaten) von souveränen Provinzen mit autonomen finanziellen Einrichtungen an seine Stelle. Den Haag wurde zum bürokratischen Mittelpunkt und zum Sitz der zentralen Einrichtungen, u.a. auch des Statthalters. Da sich im Amt des Statthalters zahlreiche Funktionen verbanden er war nicht nur Funktionär der Generalstaaten, sondern auch jeder einzelnen Provinz, Oberbefehlshaber über die Truppen der Republik usw. -, wurde es zum politischen Gegengewicht der mit den städtischen Patriziaten verbundenen Magistrate und Ämter (Pensionär-Syndikus, Stadtschreiber etc.). Die Beziehungen Statthalter - Städte waren jedoch keineswegs einseitig fixiert. So findet sich sowohl das Zusammengehen von Amsterdam mit anderen Städten gegen den Statthalter als auch die Unterstützung des Statthalters gegen die Stände von Holland, bestehend aus einer Koalition zwischen dem Großpensionär Jan van Oldenbarnevelt und acht Städten 1616/17 oder gegen den Pensionär Jan de Witt und drei Städte 1672 ('t Hart 1994:202). Die Tatsache, daß der Statthalter in Amsterdam kein Nominationsrecht besaß, gab dieser Stadt im bilateralen Verhältnis ein besonderes politisches Gewicht. In anderen Fällen konnte er mit der Begünstigung willfähriger Familien seinen Einfluß deutlich ausdehnen. Der insbesondere in Holland gegebene enge Zusammenhang zwischen Stadt und Provinzialregierung (Schlagwort vom „Staat im Staate",
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A. van der Woude) verursachte nicht nur eine Vermehrung und Professionalisierung der politischen Funktionen auf allen Ebenen (Van der Woude 1983:357), er begünstigte auch deren Oligarchisierung, zumal der Einfluß der Vroedschappen (Ratskollegien) zugunsten einer kleinen Zahl an den Ämtern beteiligter Familien zurückgedrängt werden konnte. Die Inhaber städtischer Ämter entwickelten sich zufolge ihrer Teilhabe an der souveränen Gewalt zur herrschenden Gruppe im Staat und wurden folgerichtig auch als Regenten bezeichnet. Nach einer zunächst auf das konfessionelle Problem und dessen Wandel zurückzuführenden Diskontinuität in den Patriziaten verstärkten sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts nepotistische Vorgangsweisen bei der Vergabe von Ämtern (u.a. in den contracten van correspondentie). Sie mündeten in der ersten Hälfte des 18. in eine Phase beschleunigter Aristokratisierung und - zufolge zeitweiligen Fehlens eines Statthalters - geminderter Kontrolle von oben (Gabriels 1985:4551). Hingegen blieben vereinzelte Versuche demokratischer Bewegungen zur Änderung des Systems ohne Erfolg.
KAPITEL VERFASSUNG
UND
IV VERWALTUNG
HERRSCHAFT UND GENOSSENSCHAFT Es entspricht einem Paradoxon, daß die Behauptung, jede Stadt der frühen Neuzeit habe eine Administration sui generis besessen, ebenso berechtigt ist wie eine Darstellung, die sich um das Herausarbeiten der grundlegenden, der überwiegenden Mehrzahl der europäischen Städte gemeinsamen administrativen Elemente bemüht. Problematisch wäre freilich ein Versuch, die Grundzüge einer städtischen Verwaltungsgeschichte, entsprechend der in der modernen Staatslehre begründeten Gewaltenteilung, herausgelöst aus den verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Bezügen zu betrachten (Gerteis 1986:85). Wiederholungen und Überschneidungen mit an anderer Stelle behandelten Themenfeldern erscheinen daher als unumgänglich. Teil des mittelalterlichen Erbes der frühneuzeitlichen Stadt war die Rechtstatsache, daß sich neben der Herrschaft des Stadtherrn eine Leitungsobrigkeit von Kollektivorganen entwickelt hatte, die ihre Legitimation aus dem Gemeinde- bzw. Genossenschaftsgedanken bezog und zur stadtherrlichen Machtfülle in unterschiedlicher Form und Dimension in Konkurrenz getreten war. Die im Rahmen der Übernahme stadtherrlicher Ämter und Befugnisse erzielten Erfolge divergierten nach inhaltlichen, regionalen und zeitlichen Kategorien. Grundsätzlich gilt auch hier das zwischen dem Reich und den randeuropäischen Städtelandschaften bestehende Autonomiegefälle, doch läßt sich die Vielfalt der gegen Ende des Untersuchungszeitraums bestehenden Varianten ratsherrlicher Kompetenz keineswegs aus diesem allein begründen. Hinzu kommen die Existenz und Ansprüche älterer rivalisierender Institutionen, aber auch die sukzessiven Eingriffe des Staates und die Schaffung neuer Funktionsträger, wodurch zeitweilig erreichte Positionen wieder in Frage gestellt wurden. Konfessionelle Faktoren spielten ebenso eine Rolle wie die Stellung der Städte im politischen (Residenzstädte) und ökonomischen (Handels-
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Komplexe
Strukturen:
Von Venedig bis
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metropolen) Netzwerk. Wo die Stadtbehörden gleichzeitig Elemente der Staatsadministration darstellten, wie in einzelnen italienischen Fürstenstaaten der Neuzeit, konnten sich komplexe Ämterhierarchien entwickeln. Geht man von einem umfassenden Idealtypus aus, so läßt sich der Aktionsrahmen der Stadtobrigkeit und -administration etwa in sechs Teilbereiche gliedern: • die politische Ebene einschließlich des Gesetzgebungs- und Verordnungsrechts, • die Stadtverteidigung und militärische Organisation, • die Finanz- und Wirtschaftsverwaltung, insbesondere die Überwachung von Marktordnung und Handelsverkehr, • die Kirchen- und Schulverwaltung, • Maßnahmen zur Wahrung der inneren Ordnung (polizey) sowie • die Gerichtsbarkeit (Isenmann 1988:131-198; Gerteis 1986:87f) Verfügte eine Stadt über ein untertäniges oder sonstwie abhängiges Landgebiet, so zählten auch die Herrschafts- bzw. Kontrollrechte über dasselbe in die Kompetenz der obersten Stadtbehörde, wobei wiederum der Finanzhoheit ein erheblicher Stellenwert zukommen konnte (Leiser 1975; Wunder 1979; Zahnd/Endres 1990). Es ist selbstredend, daß es zu Überschneidungen zwischen den verschiedenen Bereichen kam, einzelne Agenden in seigneuraler Hand verblieben oder - sofern von der Stadt verwaltet - vom Stadtherrn als delegiert betrachtet wurden und zahlreiche Städte nur über einzelne der genannten Zuständigkeiten verfügten bzw. diese zu behaupten imstande waren.
KOMPLEXE VON VENEDIG
STRUKTUREN: BIS
AMSTERDAM
Die Komplexheit des Systems der Stadtobrigkeit konnte sich innerhalb einer Bandbreite entwickeln, die vom Beispiel der City of Bath, wo um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine politisch starke Persönlichkeit wie Ralph Allen als „one-headed-corporation" die Macht nahezu monopolisierte (Corfield 1982:154), bis hin zur 151 Mitglieder zählenden Regierung von Venedig reichen (im folgenden nach Burke 1994:32-41; vgl. auch Davis 1962). Diese gliederte sich in das Kollegium (pien collegio), den Senat und den Rat der Zehn. Das Kollegium bestand aus 26 Personen, dem Dogen als höchstem bürgerlichem Funktionär, seinen sechs Räten, den 16 Savi, von denen fünf für die Terra ferma und fünf für Seeangelegenheiten zuständig waren sowie den drei Vorsitzern des Großen Gerichtshofes (quarantia criminale). In die Kompetenz des
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Senats fielen Entscheidungen in Kriegs- und auswärtigen Angelegenheiten, der Rat der Zehn war mit Fragen der Staatssicherheit befaßt. Neben der Regierung im engeren Sinne gab es in der Republik Venedig eine Gruppe von wichtigen Ämtern auf lokaler und staatlicher Ebene, die von insgesamt 111 Personen der Elite besetzt wurden. Hierher zählten beispielsweise die jeweils zwei Regierer (podestä und capitano) der wichtigsten abhängigen Städte sowie die gleichsam die Funktion von Vizekönigen versehenden Proweditori generali von Palma in Friaul und Candia auf Kreta. 75 Amtsträger in den Bereichen Militär und Flotte, 74 im diplomatischen Dienst und eine größere Zahl in untergeordneten städtischen Verwaltungsfunktionen runden das Bild einer Ausnahmesituation ab, in der sich die Überformung einer Stadt zum beherrschenden Zentrum territorialstaatlicher Organisation widerspiegelt, die sich zugleich über Land- und Seegebiete einschließlich zahlreicher Inseln erstreckte (vgl. auch G. Cozzi in Koenigsberger 1988:41-56). Elemente der mittelalterlichen Entwicklung bestimmten die Magistraturen im florentinischen Staat (Litchfield 1978; Litchfield 1986:65109). Dies bedeutete zunächst eine stärkere Beteiligung der nichtadeligen Behausten, wenngleich sich das Wahlrecht auf eine klar aus dem Gros der Bevölkerung herausgehobene Gruppe konzentrierte. Die höchste Ebene bildeten in republikanischer Zeit die drei Consigli maggiori einschließlich des Gonfaloniere della giustizia: die acht Priori della signoria, die zwölf Buonuomini und die 16 Gonfalonieri dei due collegi. Mitglied dieser Räte wurde man aufgrund der Steuerleistung, wobei den Arti maggiori eine größere Zahl von Stellen reserviert waren. Allerdings besaß auch derjenige, der für die oberen Ämter nicht qualifiziert war, volle Rechte und wurde zur Schätzung (scrutino) für die unteren Magistraturen zugelassen. Das System war wohl vertikal durchlässig, doch verfestigte sich eine Einteilung in Patrizier, jüngere Familien (nobili) und andere amtsfähige, jedoch nichtadelige Häuser (1800 382 Familien der Patrizier und 133 der nobili). Mit der Reform von 1532 wurden Gonfaloniere und Prioren durch ein nach dem Rotationsprinzip agierendes Komitee von vier Senatoren (magistrato supremo) ersetzt, das im Sinne des Herzogs exekutive und legislative Gewalt ausübte. An republikanischen Einrichtungen blieben die Buonuomini di collegio für die Überwachung der Besetzung der Ämter und die Procuratori di palazzo für die Annahme von Petitionen erhalten; daneben bestanden verschiedene Kanzleien. Neu war die Schaffung zweier vorwiegend Wahl- und Beratungsfunktionen ausübender Generalräte (senato dei 48, consiglio dei 200) mit auf Lebenszeit
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Komplexe Strukturen:
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ernannten Mitgliedern. Den Übergang zum monarchischen System überlebt haben zahlreiche untere Magistraturen, die sich entsprechend ihren Aufgaben in Gerichte, Behörden der Einkünfteverwaltung und der Kontrolle über den florentinischen Staat gliedern lassen. Bis 1560 entwickelten sich sechs neue Ämter, der Auditore della camera (erster Sekretär des Fürsten), der Auditore della giurisdizione, der Auditore fiscale, der Auditore delle riformagioni, der Depositario generale sowie der Soprassindico delle nove conservatori del dominio, die gleichzeitig als Mitglieder einer neuen Kammer, der Pratica segreta, mit zunehmenden Kompetenzen, besonders hinsichtlich des Dominiums, fungierten. Hingewiesen sei letztlich noch auf die - ähnlich Venedig - zur Verwaltung der (Provinz-)Städte ausgesandten Capitani, Podestä und Vicari, die zu den lokalen Munizipalorganen (camarlinghi u.a.) hinzutraten. Vergleichbar komplizierte Verwaltungsstrukturen finden sich selten. Daß fallweise aber auch nördlich der Alpen binnenländische Großstädte eine auf mehrere Gremien verteilte Ratsregierung entwickelten, beweist der Fall der Reichsstadt Straßburg, wo der als Gerichtshof fungierende Senat mit 30 Mitgliedern (zehn Patrizier, 20 Zunftmeister), der für die Militär- und Außenpolitik zuständige Rat der Dreizehn sowie der vorwiegend mit inneren Angelegenheiten befaßte Rat der Fünfzehn getrennte Aufgaben wahrnahmen. Die Exekutivgewalt lag in den Händen des für ein Jahr bestellten Ammeisters (dazu fünf Altammeister) sowie der vier im Rotationsprinzip einander als Stadtoberhaupt abwechselnden Stettmeister. Aus Mitgliedern der oben genannten Gremien zusammengesetzt war das legislative Organ, als Senat und die Herren der Einundzwanzig bezeichnet, das auch die eigentliche Stadtautonomie verkörperte (Brady 1978:163-166). Besaß für eine Stadt an der Grenze mit umfangreichem Territorium die rationale Organisation der Außenbeziehungen einen eminent politischen Stellenwert, so erforderte in einer Handelsmetropole wie Amsterdam die Administration unterschiedlicher kommerzieller Agenden einen besonderen Apparat an Funktionären (Burke 1994:41-47). Neben den Bürgermeistern und Stadträten als dem eigentlichen Regierungsorgan, dem Pensionär als oberstem Beamten, dem Friedensrichter (schout) sowie den mit der Gerichtsbarkeit betrauten Schöffen (schepenen) gab es Schatzmeister, Verwalter der Waisengelder (weesmeesteren), der Versicherungen (assurantie-meesteren), Kommissare für maritime Angelegenheiten (zeezaken), die Wechselbank (wisselbank), die Vorschußkasse (bank van leening), die Akzise und für Bankrottverfahren, daneben aber auch eine 'Welzahl untergeordneter und bezahlter Ämter. Entsprechend den für das 18. Jahrhundert erhaltenen Listen teilten sich
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etwa 3.000 bis 3.500 Personen in unterschiedliche städtische Verwaltungsfunktionen (Van der Woude 1983:366).
FRANKREICH
In der Mehrzahl der europäischen Städte gestaltete sich die Zusammensetzung der Stadtobrigkeit erheblich einfacher, wobei sich mit dem Nebeneinander von Bürgermeistern und Ratskollegien als legislativen und exekutiven Organen auf der einen sowie den in erster Linie die Rechtsprechung vollziehenden Schöffenkollegien auf der anderen Seite in größeren Kommunen zumindest Ansätze zu einer Gewaltenteilung erkennen lassen. Dies im Unterschied zu Mittel- und Kleinstädten, die eher durch die personelle Identität der einzelnen Gremien charakterisiert erscheinen (zusammenfassend Friedrichs 1995:43-60). In Frankreich bestand die munizipale Obrigkeit bzw. das Corps de ville (Magistrat) in der Regel aus mehreren gewählten Personengruppen, deren Zahl, Titel und Aufgaben von Stadt zu Stadt variierten. Den gemeinsamen Hintergrund bildete die Polarisierung nach drei Ebenen: zwischen Notabein und Volk, innerhalb der Eliten zwischen Beamten und Kaufleuten und letztlich zwischen den oligarchischen Regimentern und dem Staat. Vereinfachend lassen sich Bürgermeister (maire), Konsuln (consuls), Schöffen (echevines) und eine weitere Gruppe von Beratern als die Hauptelemente der bürgerlich-städtischen Verwaltungen herausstellen. Die unterschiedliche Bezeichnung des Bürgermeisters wie Maieur (Dijon, Amiens), Prevot (Limoges), Prevot des marchands (Paris), Lieutenant du capitaine (Reims) oder Capitaine de la ville (Angouleme) hat historische Gründe, ohne daß durchgehend unmittelbare Beziehungen zwischen den Munizipalverwaltungen der Neuzeit und den mittelalterlichen K o m m u n e n a n g e n o m m e n werden dürfen (Benedict 1989b: 19). War das Amt des Bürgermeisters nicht institutionalisiert, führte ein Schöffe den Vorsitz in der Ratsversammlung (Doucet 1948:370). Auch die Leitungsobrigkeit erscheint unter verschiedenen Titeln: im Süden zumeist als Consuls, im Norden als fichevines, aber auch Bezeichnungen wie Gouverneurs (Senlis), Menagers (Honfleur), Capitouls (Toulouse) oder Jurats (Bordeaux) sind nachweisbar. Die Zahl der Mitglieder war gering und lag zwischen zwei und 18. Vorwiegend beratende Aufgaben besaßen die Stadträte (conseilleurs, jures), in Paris 24, sonst meist 12 Personen. Darüber hinaus verfügten die Städte über beamtete Funktionäre, die sich je nach Größe und Aufgabenrahmen
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Frankreich
in solche für die allgemeine Verwaltung, die Justiz, für Finanzfragen, die Kanzlei etc. gliedern konnten (Mieck 1982:196f). Für die Beratung besonders wichtiger Angelegenheiten konnte ein Großer Rat bestehen, oder es wurde eine Gemeindeversammlung (assemblee generale d'habitants) einberufen, die allerdings nur in kleinen Städten allgemein war, unter dem Vorsitz von königlichen Beamten (Bailly, Senechal) tagte und in ihrer Zusammensetzung vielfach schon im 16. Jahrhundert auf eine Gruppe von Notabein beschränkt blieb, die sich durch Reichtum, Stand, Lebensalter, Dauer der Ansässigkeit oder moralisches Gewicht auszeichneten. In der Regel bestand ihre Hauptaufgabe in der Wahl der städtischen Magistrate oder zumindest in der Überwachung des Wahlvorgangs (Benedict 1989b:20). Die Mitglieder der Ratskörper wurden durch Wahl oder Kooptation, mitunter auch durch eine Verbindung beider Formen bestimmt. Vorwiegend in Städten des Südens war eine gewisse Anzahl von Ratsstellen ständisch gebunden. So kam in Romans jeweils ein Konsul aus den Reihen der Laboureurs, der Handwerker, der Kaufleute, aus dem Adel bzw. alternativ dem Stand der Ärzte, der Juristen sowie der Rentenbezieher. In anderen rekrutierten sich die Räte aus den Quartieren (Marseille) oder unter Mitwirkung der Zünfte (Lyon, Le Puy) (Benedict 1989b:21). In Chartres waren zwei Sitze im vierzehnköpfigen Rat den Advokaten der königlichen Gerichte und weitere zwei den Delegierten des Kathedralkapitels vorbehalten. Im Falle von Paris, wo auch die Vertreter der 16 Quartiers eine gewisse politische Rolle behaupten konnten, wurde ein Gleichgewicht gesucht zwischen den beiden großen Gruppen der Notabein, den Kaufleuten der Six-corps (Tuchkaufleute, Wechsler, Gewürzhändler, Hut- und Strumpfmacher, Kürschner, Goldschmiede) und den königlichen Beamten unter der Führung des Prevöt (Diefendorf 1983; Babelon 1986). Wenngleich die Wahl in den Stadtrat nur in wenigen Städten das Privileg der Noblesse de cloche einschloß, u.a. in Angers, Arras, Bourges, La Rochelle, Lyon, Nantes, Poitiers, Toulouse, Tours und Perpignan, war die Tendenz zur Oligarchisierung eine allgemeine. Immer weniger Personen und Familien hatten tatsächlich Anteil an den städtischen Regierungsgeschäften, wobei es mitunter vorkam, daß ganze Gruppen zeitweilig oder auf Dauer durch andere ersetzt wurden. So bemächtigten sich in Lyon nach 1520 die Kaufleute der vordem von den Juristen (robine) besetzten Ämter, um sie gegen Ende des 16. Jahrhunderts wieder an erstere abtreten zu müssen (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:1611163; zu Lyon Gascon 1971:412). Durch Übernahme königlicher Ämter vermochte man in bisher von den Bür-
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gern besetzte Positionen einzudringen: Auf diesem Wege sicherte sich das Beamtenelement in einigen wichtigen Städten bereits im 17. Jahrhundert einen deutlichen Vorrang (Amiens, Angers, Pontoise u.a.). Begrenzt wurden die Wirkungsfelder der Magistrate mitunter durch das Fortwirken seigneuraler Ansprüche und - auf breiterer Ebene durch die zunehmende Bevormundung seitens neugeschaffener staatlicher Institutionen und Amtsträger, die neben die kommunale Verwaltung traten und sich zu Elementen der Kontinuität entwickelten. Der von Seiten der Städte organisierte Widerstand gegenüber diesen Tendenzen blieb in der Regel erfolglos (Mieck 1982:197). Ein permanenter Gegensatz existierte auch zwischen den Regierenden und dem Volk, also der überwiegenden Mehrheit der städtischen Einwohnerschaft. Allerdings finden sich etwa im Vergleich zum Reich offene, die einzelnen städtischen Schichten erfassende Konflikte zunächst eher selten, beispielsweise in Marseille zwischen 1598 und 1612 im Zusammenhang mit der Anhäufung öffentlicher Schulden. Zurückgeführt wurde dies auf die im 16. Jahrhundert vorherrschende Auffassung, daß die Übernahme eines öffentlichen Amtes die Hintanstellung privater Interessen hinter die Idee der „res publica" erfordere. Im 17. Jahrhundert läßt sich dann freilich die Entwicklung erkennen, daß Familien in Ämter drängten, um aus diesen einen persönlichen, ökonomischen oder sozialen Vorteil zu ziehen (Benedict 1989b:22). Wie schon an anderer Stelle bemerkt worden ist, bot die in der zweiten Hälfte des 16. sowie im 17. Jahrhundert einsetzende politische Unruhe (Religionskriege, Fronde) für die Krone Ansatzpunkte für einen massiven Eingriff in städtische Angelegenheiten. Konkret bedeutete dies neben der Reduktion der Ratsstellen (in Lyon 1595 von zwölf auf vier, in Amiens 1597 von 24 auf sieben) vor allem eine konsequentere Einflußnahme auf die Auswahl der städtischen Beamten, z.B. die Wahl des Bürgermeisters oder der Stadträte aus einer Kandidatenliste. In einzelnen an der Rebellion beteiligten Städten (Bordeaux, Angers) führten die staatlicherseits gesetzten Maßnahmen zu einer gänzlichen Umorganisierung der bestehenden Verwaltungseinrichtungen (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:164f). Dies gilt im übrigen auch für die im 17. Jahrhundert von Frankreich annektierten Städte wie Lille und Besangon. Systematisch erfolgte auch die Beschneidung der städtischen Wehrhoheit, indem die Bürgergarden unter den Befehl königlicher Beamter gestellt und sonstige paramilitärische Einrichtungen (Jugendverbände) überhaupt abgeschafft wurden. Nachdem sich im Laufe des späteren 17. Jahrhunderts die Abhängigkeit der gesamten Stadtadministration von den Intendanten sukzessi-
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Frankreich
ve verstärkt hatte und der König die Nominierung für die städtischen Magistraturen weitgehend kontrollierte, wurde ein letzter Schritt mit der Umwandlung derselben - in Analogie zu zahlreichen Funktionen auf Staatsebene - in käufliche und erbliche Ämter gesetzt. Den Anfang machte 1692 die Schaffung neuer einheitlicher Strukturen mit der Einführung der Ämter des Maire und der Assesseurs in allen Städten mit Ausnahme von Paris, die Ersetzung der Hälfte der alten Ratsämter durch neue und schließlich - mit unterschiedlichen, auf bisherige Mißstände verweisenden Argumenten - die Käuflichmachung der Ämter zugunsten der Staatskasse. Bis 1709 erfolgte in mehreren Schüben nicht nur die Kreierung neuer käuflicher munizipaler Ämter, sondern auch jene von verschiedenen Rängen der Miliz, 1699 des Leutnants und Polizeikommissars. Die Folgen dieses Prozesses waren mehrschichtig. Zum einen lag hier ein Grund für eine neuerliche Umschichtung der ständischen Zusammensetzung der Stadträte - so wurden z.B. in Amiens nach 1705 die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts dominierenden Juristen wieder von Kaufleuten abgelöst zum anderen wirkte die Möglichkeit des Rückkaufs der Ämter destabilisierend, da einzelne derselben rasch ihren Inhaber wechselten (Petit-Dutaillis 1947:315-322; R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:168f). Die Beherrschung der munizipalen Ämter durch eine schmale profitorientierte Oligarchie und die Ersetzung der alten gewachsenen Mechanismen von Ratswahl und -ergänzung durch die seitens des Königs und zu seinem fiskalischen Nutzen erfolgte Nominierung kennzeichneten die Situation im größeren Teil des 18. Jahrhunderts. Politische Krisen, gepaart mit Finanzproblemen, bildeten die Voraussetzung, daß der Mißstand des Ämterkaufs in mehreren Wellen wiederauflebte, wenngleich das im 17. Jahrhundert feststellbare Anschwellen einer „bourgeoisie de fonctions" (Ch. Seignobos) im 18. eher einer Stagnationsphase Platz machte. Mit ein Grund dafür war zweifellos die Tatsache, daß die Städte vermehrt selbst als Käufer der Ämter auftraten. Nicht unerhebliche Folgen für die Zusammensetzung der magistratischen Organisation zeitigte das Vordringen von Großkaufleuten, vielfach von Mitgliedern der zahlreichen an der Überseeexpansion beteiligten Handelsgesellschaften, und von Manufakturisten und Fabrikanten. Häufig ergaben sich fließende Übergänge zwischen den Inhabern städtischer und staatlicher Ämter, die nicht mit der Erhebung in den Adelsstand verknüpft waren, z.T. aber auch mit dem Amtsadel selbst. Eine als Reaktion auf die Mißstände vom Generalkontrolleur Laverdy 1764/65 in Angriff genommene grundsätz-
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liehe Reform der Stadtadministrationen trat nur in Teilen des Königreichs in Kraft und fand bereits sieben Jahre später ihr Ende, um neuen Runden des Ämterverkaufs Platz zu machen (Benedict 1989b:45). ENGLAND
Wenn hinsichtlich der Verwaltungsstrukturen der französischen Städte auf die Vielfalt der Erscheinungsformen hingewiesen worden ist, so gilt diese Feststellung für die englische Stadt aufgrund der größeren neuzeitlichen Dynamik umso mehr. Wesentliches Kriterium war wie bei allen politischen und verfassungsrechtlichen Fragen das Vorhandensein von Charten und königlichen Privilegien, insbesondere von solchen, welche die Form der bürgerlichen Elite und deren Verfügung über die Bürgerschaft sowie darüber hinaus das Verhältnis zu äußeren Autoritäten definierten. Gegen Ende des Mittelalters war hier ein Niveau erreicht worden, das für die folgenden Jahrhunderte bestimmend blieb und auch eine große Zahl kleinerer „corporated towns" miteinschloß (Poussou 1983b:43). Aber auch im Falle mangelnder Inkorporierung wurden rudimentäre Verwaltungseinrichtungen geschaffen, aufbauend auf lokalen oder ständischen Institutionen wie Pfarre und Gilde und in Zusammenarbeit mit grundherrschaftlichen Organen. Diese vor allem bei Marktstädten gängige Variante konnte sich mitunter über die Phase beschleunigten Städtewachstums hinaus behaupten (Clark/Slack 1976:126f). Vereinfacht dominierte im Falle höher entwickelter Stadtregierungen eine Form von Zweikammernsystem mit Bürgermeistern (mayors) und engerem Rat (senior magistrates) auf der einen und einem weiteren Rat (aldermen, common councillors) auf der anderen Seite. Letzterer konnte in entwicklungsgeschichtlicher Verbindung zu umfassenderen Organisationsformen, etwa der Bürgerversammlung, stehen. Schon im 15. Jahrhundert hatte das Interesse der Krone an von oben kontrollierten munizipalen Autoritäten die Ausbildung geschlossener Oligarchien begünstigt, der im Gegenzug als Reaktion von Gemeinde und Bürgerschaft die Einrichtung weiterer Räte mit Mitsprache- und Kontrollrecht folgen konnte, so beispielsweise 1489 für Leicester und Northampton (Clark/Slack 1976:128f). Mehrheitlich war jedoch die realpolitische Position dieses weiteren Gremiums eher schwach: So traten die 24 Councillors in York nicht selbständig agierend, sondern nur in Verbindung mit der Gruppe der zwölf Aldermen in Erscheinung (Palliser 1979:61-67), in Worcester diente das Council of Forty Eight nur als willfähriges Scheininstrument bürgerschaftlicher Parti-
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zipation usw. Sofern sie überhaupt einen festen Platz in der Stadtregierung erhielten, verloren die Common Councils im Verlaufe des 16. Jahrhunderts zunehmend ihre Kompetenz an besondere Cliquen von Aldermännern, die alten Status mit neuen Funktionen, etwa jenen von Friedensrichtern, verbanden. Gegen Jahrhundertende war ein Heiner geschlossener Rat die Norm, in dem man lebenslänglich vertreten war und der sich durch Selbstergänzung kontinuierte. In der Ausübung politischer Macht war dieser weitgehend autonom, d.h. er bedurfte weder der Legitimierung durch die Gemeinde, noch leitete er die Amtsgewalt von einem Mandat derselben ab (vgl. Corfield 1982:153). Ausgangspunkt der Ratsoligarchien war vielfach die Verbindung mit älteren Gruppierungen im lokalen Wirkungsbereich, so vor allem mit religiösen Bruderschaften und Gilden, die selbst Exklusivität und Autonomie beanspruchten wie die Trinity-Gilden in Coventry und Worcester oder die St. Georgsgilde in Norwich. Mit der Expansion des Handels in elisabethanischer Zeit kam der merkantilen Gruppe der Merchant Adventurers eine steigende Bedeutung zu, so daß sich in Seehandelsplätzen wie London, Exeter oder Newcastle eine Teilidentität zwischen diesen und den Ratseliten einstellte. Durch spezifische Heiratsmuster wurde diese zusätzlich verstärkt (Clark/Slack 1976:129f). Mitunter blieben innerhalb der Administration Elemente der lokalen Gliederung bestimmend, aufbauend auf einer Einteilung in Viertel. So stand in Leicester jedes der zehn Quartiere unter der Verantwortung eines der 24 Schöffen, die von Constables und Heirdboroughs unterstützt wurden und mit den Organen der Pfarre zusammenarbeiteten. In Hull wählte jedes Stadtviertel zwei Schöffen und zwei Constables. Die Rolle der pfarrlichen Organisation, die mit dem Anwachsen des Armutsproblems im 16. Jahrhundert und den daraus abzuleitenden karitativen Verpflichtungen an Bedeutung gewann, läßt sich auch in einer Vielzahl städtischer Gebilde ohne formale Inkorporierung verfolgen. Häufig behauptete sich die städtische Pfarre als Leitungsinstanz in Fällen, wo die alte Stadt über ihre Grenzen hinauswuchs und diese vorstädtischen Gebilde nun durch Pfarrbeamte administriert wurden. Ähnliches kann für die grundherrliche Organisation und deren Funktionäre gelten, die teils als unmittelbares Exekutivorgan des Lords oder auch ohne nominellen Bezug auf dessen Autorität agierten. Letzteres war etwa in Birmingham der Fall, wo das Hofgericht (Court Leet) erst im späteren 18. Jahrhunderts in seinen Kompetenzen durch die neu errichtete Lamp and Street Commission beschnitten wurde (Corfield 1982:152).
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In den verfassungsrechtlich am einfachsten konstruierten Stadtorten bildeten die reicheren Mitglieder innerhalb von Grundherrschaft und Pfarre das entsprechende Rekrutierungsbecken für die Träger der Lokalverwaltung. Im Laufe der Zeit konnten sich allerdings auch diese zu einem komplexeren Organismus entwickeln. So baute die städtische Verwaltung von Birmingham auf pfarrlichen Einrichtungen auf, in Taunton wurde das Grundherrschaftsgericht des Bischofs von Winchester von einer Gruppe vermögender Einwohner gelenkt, die innerhalb eines Jahres dreißig Beamte nominierte und somit einen umfangreichen Zuständigkeitsbereich beanspruchte. Dies bedeutet, daß auch Städte ohne Charten eigene Oligarchien produzierten, von denen nicht wenige die Rechte älterer Institutionen an sich gezogen hatten (Clark/Slack 1976:127). Die nahezu regelhafte Beherrschung der Stadtmagistrate durch eine kleine und sich selbst ergänzende Gruppe der reichsten Bürger ist jedoch nicht nur Resultat einer deutlichen sozialen Ungleichheit, sondern gründet auch in der Diversifizierung kommunaler Aufgaben. Politische Macht bedeutete gleichzeitig eine Bürde, die nur von einer ökonomisch starken Elite getragen werden konnte. Häufig wurde diese zum schlecht bezahlten Gläubiger der durch sie regierten Stadt, finanzielle Verluste oder die Furcht vor denselben führten zur Verweigerung der Übernahme städtischer Ämter. Diese Tatbestände förderten eine Sicht von der Elitenherrschaft, bei der Zwang, im weiteren Eigennutz und der Abbau von Rücksichten gegenüber den von der Stadtregierung ausgeschlossenen Personengruppen dominierte. Gestützt wurde diese durch die in allen Stadttypen nachweisbaren Konflikte zwischen den Oligarchien und dem Gros der Bürgerschaft, vor allem seit den neunziger Jahrendes 16. Jahrhunderts, als sich Mißernten, hohe Preise und ein wachsender fiskalischer Druck überlagerten. Andererseits gibt es Stimmen, die von Strukturen mit partizipatorischem Charakter sprechen und hiefür u.a. in der Vielzahl von Pfarr- und Zechenämtern sowie städtischen Funktionen niederer Ordnung eine Bestätigung sehen (Barry 1990:24). Als Beispiel eines stärker „demokratischen" Modells der Stadtregierung gilt London, und hier wiederum die City of London. Diese kannte nicht nur eine lange Tradition der Mitwirkung der Freemen und der Gilden an der Regierung, sondern unterschied sich hinsichtlich ihres Organisationsniveaus auch klar von den expandierenden Vororten, die trotz ihrer Größe weiterhin durch die Institutionen von Grundherrschaft, Pfarre und Grafschaft regiert wurden. Das Londoner Munizipalsystem (nach Poussou 1983b:45-47) bestand aus drei Kammern: dem Court des Lord Mayors und der Aldermen
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(Schöffen) mit vorwiegend exekutiven Aufgaben, dem Court of Common Council, dem legislativen Organ, sowie dem Court of Common Hall, der lediglich als Wahlkörper - für Schöffen, Sheriff und Parlamentsabgeordnete - fungierte und sich aus den etwa 4.000 Liverymen zusammensetzte. Voraussetzung waren die Zugehörigkeit zum Stand der Freemen, dem die Mehrzahl der männlichen Haushaltsvorstände in der City zuzuzählen war, und die Mitgliedschaft im Rahmen der Viertelsorganisation. Grundsätzlich sollte im Common Council die Gesamtheit der Freemen vertreten sein, tatsächlich lag die Zahl der Abgeordneten, die von den Stadtquartieren (wardmotes) delegiert wurden, im 16. und 17. Jahrhundert jedoch zwischen etwa 180 und 240. Ein Ausschuß von sechs Räten und vier Schöffen bildete das sogenannte „Lauds Comittee", das wohl mit legislativer Kompetenz ausgestattet, in seinen Beschlüssen aber seit 1725 durch ein Veto der ersten Kammer begrenzt war. Im Aldermen's Court finden sich aber alle jene Merkmale wieder, die für die Mehrheit der Oligarchien inkorporierter Städte als charakteristisch angesprochen werden können. Inbesondere ging es um die Monopolisierung der Macht in den Händen einer exklusiven Gruppe, die spezifische Rekrutierungsmuster entwickelte und Zutrittsbarrieren aufbaute. In London bestand die regierende Schicht im 17. Jahrhundert aus etwa 15 miteinander verwandten bzw. verschwägerten Familien, für deren Zugehörigkeit der Besitz neben dem Nachweis der Geburt im Königreich, als Sohn eines englischen Vaters und der Rechtsqualität als Freeman das entscheidende Kriterium darstellten. Betrug der Grenzwert zur „Insuffiency of Wealth" im Jahre 1525 1.333 Pfund Sterling und 1640 noch 10.000, so stieg er bis 1737 auf 15.000 und bis 1799 auf 20.000 Pfund Sterling an. Die Mitgliedschaft bei einer der zwölf großen (Liveiy-)Companies (von insgesamt 89 in der Stadt) verlor wohl im Laufe der Zeit ihren obligatorischen Charakter, doch war dies für die große Mehrheit der Aldermen kein Problem (vgl. auch Pearl 1990). Kontrovers war hingegen die durch Corporation Act (1661) und Test Act (1673) festgeschriebene Beschränkung öffentlicher Ämter auf Mitglieder der Church of England. Wenngleich in einzelnen Städten durch den Indemnity Act (1727) eine Lockerung dieser konfessionellen Norm zugunsten protestantischer Nonkonformisten eintrat, so zeigte sich doch die ungebrochene Brisanz der Religionsfrage in der Tatsache, daß die wesentlichen Anstöße zur Munizipalreform seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Dissidenten der Mittelschicht kamen (Corfield 1982:154). Neben den Schwierigkeiten der munizipalen Oligarchien nach außen, im Verhältnis zur Krone bzw. bei kleineren Städten auch in der Aus-
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einandersetzung mit den Ansprüchen von Adel und Gentry, waren es seit dem 16. Jahrhundert zunehmend ökonomische und soziale Probleme, die einer Lösung bedurften. Insbesondere die Frage der Armut bedeutete im Zusammenhang mit Krisen in der Landwirtschaft und im Textilgewerbe, im Zuge von Epidemien und Hungersnöten, eine erhebliche Belastung der kommunalen Administration. Dabei waren größere Städte zumeist im Vorteil, da sie zur Unterstützung der Armen auf ein größeres finanzielles Reservoir zurückgreifen konnten. Zumeist verfügten sie auch über reiche karitative Einrichtungen, beispielsweise die Stiftung Sir Thomas Whites in Bristol (1566), die Vorbildcharakter erlangten. Mittelalterliche Hospitäler lebten wieder auf, neue wurden in größerer Zahl gegründet - so besaß Exeter im Jahre 1640 neun Versorgungshäuser, York am Ende des 17. Jahrhunderts gar zwölf. Mit der Entwicklung neuer Beschäftigungsmuster, der Gründung von Arbeitshäusern (workhouses), aber auch von kommunalen Einrichtungen zugunsten der Armen wie des Brauhauses in Dorchester schuf man eine Ergänzung der staatlichen Armenpolitik, in der sich Unterstützung mit Repression verband (poor laws) (Poussou 1983b:48). In Abweichung zur Situation in Frankreich hatten sich die städtischen Oligarchien in England in der beginnenden Neuzeit ein gutes Maß an Verwaltungskompetenz bewahren können. War die munizipale Administration im 16. Jahrhundert im wesentlichen durch die Konzentration der politischen Macht innerhalb festumrissener Magistrate gekennzeichnet, so führten die Veränderungen im Verlaufe des 17. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Varianten, die sich einer einfachen Typisierung entziehen (Barry 1990:2f)· Insbesondere seit 1660 verursachen sukzessive Säuberungen und neue Charten erhebliche Konfusion innerhalb der regierenden Eliten, doch war dies nur ein Vorspiel zu tiefergreifenden Wandlungen. Nach außen wurden diese vor allem in der Dezimierung der Zahl der Ratsstellen sichtbar, von denen in einzelnen Städten wie Reading, Gloucester, Leicester oder Shrewsbury mehr als die Hälfte eliminiert wurden. Die in den achtziger Jahren abwechselnd unter Ausnutzung des Quo-Warranto-Grundsatzes einzelnen politischen Parteien die Führung zuspielenden neuen Charten komplettierten die Störungen einer kontinuierlichen Stadtpolitik (Clark/ Slack 1972:22-24; Clark/Slack 1976:140). Beispielhaft für den Wandel sei in diesem Zusammenhang wieder auf London verwiesen, wo die konservativen Tories bis in die 1690er Jahre den Court of Aldermen und die reformistischen Whigs den jüngeren Körper des Common Council kontrollierten. Mit der Etablierung vermögender Whigs im lukrativen Finanzgeschäft und der zunehmen-
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den Präsenz im Court of Aldermen änderte sich jedoch die Situation, so daß die Tories zur Volkspartei mutierten und die Kontrolle des Common Council erreichten (Borsay 1990:24). Die für den Großteil der englischen Städte feststellbaren erheblichen konstitutionellen und administrativen Unterschiede blieben mangels ernster Versuche einer generellen Reparatur des Munizipalsystems während des gesamten 18. Jahrhunderts und darüber hinaus bis zu den Gesetzen von 1832 und 1835 bestehen. Dies bedeutet auch das Nebeneinander von oftmals unbedeutenden inkorporierten Städten und Großstädten ohne Inkorporierung, von offenen Korporationen, bei denen die Wege zur Erreichung der Qualität als Freeman vielfältig gestreut waren (Abstammung, Dienst, Kauf, Schenkung etc.), und geschlossenen, die nicht einmal einer beschränkten Zahl von Residenten eine aktive Rolle in der Stadtpolitik zubilligten. Aus dem Wachstum der Städte resultierten neue finanzielle Aufgaben. Zu den in erster Linie sozialpolitische Zielsetzungen verfolgenden Poor Law Commissions traten Improvement Commissions im Sinne von ad-hocEinrichtungen mit speziellen Funktionen, so etwa im Zusammenhang mit Straßenbau und Straßenreinigung: „Reforms began ... in the street" (Corfield 1982:157). Diese neuen Körperschaften bezogen ihre Autorität nicht aus der Tradition, sondern aus der ortsbezogenen Parlamentsgesetzgebung und schufen so neben den verkrusteten Strukturen etwas wie eine stille Innovation. Obwohl sie formal nicht Vorgänger der reformierten Gemeinde des 19. Jahrhunderts waren, nahmen sie eine Vielzahl von Aufgaben derselben vorweg.
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Hinsichtlich Verfassung (und Verwaltung) der deutschen Städte wurde zu Recht betont, daß trotz der im Laufe der Frühneuzeit anwachsenden Typenvielfalt, bedingt durch Auffächerung nach Größe, Funktion und Herrschaftsbezügen, zufolge vergleichbarer mittelalterlicher Wurzeln eine Fülle von Übereinstimmungen erhalten blieb. Gemeinsames Anliegen von Reichsstädten und mediatisierten Territorialstädten, aber auch von Städten in hierarchisch niederen Rängen war die Aufrechterhaltung einer Autonomietradition, die hier tiefer und breiter verwurzelt war als in der Mehrzahl der übrigen europäischen Stadtrechtslandschaften (Schilling 1993:39). Grundlage derselben waren wohl wie anderswo Stadtrechte und -Privilegien, über welche die Mehrzahl der Stadtorte, mitunter in Bündeln und Ketten, verfügte, doch hat die Schwäche der Reichsgewalt - wie bereits angedeu-
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tet - einer größeren Zahl von „Stadtrepubliken" die Möglichkeit geboten, eigenrechtliche Selbstverwaltung bis zum Ende des Ancien regime zu behaupten. Rat und Bürgermeister bildeten hier die städtische Obrigkeit und übten eine sich nach und nach auffüllende Form von Landeshoheit aus, die seit der Reformation sogar das Recht einschloß, den Glauben der Bürger und der Untertanen der Stadtterritorien zu bestimmen (Oestreich 1970:427). Sie besetzten das oberste Gericht und in protestantischen Städten auch das Konsistorium. Im Falle einer Reihe von sogenannten „Autonomiestädten" wurde von einem „Wandel von der freien zur beauftragten Selbstverwaltung" gesprochen (Wiese-Schorn 1976:bes.30, 57). Die autonome Selbstverwaltung des Mittelalters wurde zwar durch den zum Auftraggeber werdenden Territorialstaat als solche aufgelöst, sie erhielt sich aber in delegierter Form zur Wahrnehmung innerstädtischer Ordnungsfunktionen. Im weiteren Sinne ist dieses Modell auch auf die übrigen, einem Territorialherrn unterstehenden Städte - und dies waren in manchen Gebieten die überwiegende Mehrheit - sowie auf Mediatstädte in adeliger oder geistlicher Hand zu übertragen, wobei die dem Ratsregiment immanente herrschaftliche Qualität eine dem Range des Herrn folgende Abstufung erfuhr. Formal unterschieden sich die reichsstädtischen Ratsgremien nicht grundsätzlich von den Magistraten als sekundäre Obrigkeiten. Wo die Voraussetzungen zur oligarchischen Gruppenbildung gegeben waren, erhielt sich der Dualismus von Rat und Gemeinde. Wohl sollte der Rat auch als Repräsentant der Bürgerschaft fungieren, doch hatte diese Idee bereits im Mittelalter eine deutliche Rückbildung erfahren. So wird schon in der Nürnberger Stadtrechtsreformation (1479) und auch in jener von Worms (1498) das die Obrigkeit oder das Regiment einschließende „ius magistratus" mit dem gemeinen Recht und der königlichen Rechtsverleihung begründet (Isenmann 1988:131). Die Entfremdung zwischen den beiden Pfeilern der Stadtverfassung hat früh neben dem engeren Rat (mit Bürgermeistern), dem man in zahlreichen Städten lebenslänglich angehörte und der sich meist durch Kooptation aus bestimmten Familien ergänzte, zur Einrichtung sogenannter weiterer, äußerer, größerer Räte geführt, die vielfach aus den Zünften oder aus Vertretern der Stadtquartiere gebildet wurden (Gerteis 1986:66). Daneben gab es aber auch Sonderformen wie in Hamburg, wo die Geschichte der bürgerlichen Kollegien aufs engste mit der Reformation verbunden war. Hatten hier schon im Spätmittelalter die vier Kirchspiele mit dem Sechziger-Ausschuß ein Gegengewicht zum Rat gebildet, so entstand 1527 mit den Gotteskästen zur Versor-
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gung Bedürftiger und den diesen entsprechenden Verwaltern (48, daraus Oberalte) ein Organ, das gleichzeitig Element der evangelischen Gemeindefürsorge und politischer Ausschuß war, kontinuierlich und in einer zur Elite mutierten Form allerdings erst seit Ende des 16. Jahrhunderts wirksam wurde (Postel 1980). In Lübeck entsprachen die Korporationen der Kaufleute und die Ämter der Handwerker als politische Institutionen den Zünften in süddeutschen Städten (Oestreich 1970:428). In der Regel fungierte das weitere Gremium als Kontrollorgan bei der Rechnungslegung, bei allen ökonomischen, insbesondere die zünftische Organisation betreffenden Angelegenheiten sowie in Verfassungsfragen im Zusammenhang mit den Stadtprivilegien. Auch in jenen Städten, wo der Rat nicht von vornherein mit patrizischen Oligarchien korrespondierte, zeigt sich die Tendenz, als eine gegenüber Bürgerschaft und Gemeinde nicht verantwortliche Stadtobrigkeit aufzutreten. Charakteristisch für die Neuzeit wurde, daß im Anschluß an Phasen einer umfassenderen bürgerschaftlichen Beteiligung am Regiment eine Reoligarchisierung eintrat, entweder dadurch, daß frühere Zustände wiederhergestellt wurden oder daß sich die aufsteigenden Gruppen ebenfalls abzuschließen begannen. Dies führte nicht selten zu erneuten Konflikten mit der Bürgerschaft, wobei diese in häufig wiederholten Anläufen neue Repräsentativorgane gegenüber dem Rat entwickelte (Gerteis 1986:67). Stimmten die Varianten der bürgerschaftlichen Rekrutierungsebene der frühmodernen deutschen Stadt mit solchen mittlerer und größerer Städte in nahezu allen europäischen Regionen weitgehend überein, so blieben Intensität und Kontinuität städtischer Revolten ein für die deutsche Stadt stärker exklusives Charakteristikum. In der Regel überschnitten sich dabei sozialökonomischer und institutioneller Rahmen. Vielfach entzündeten sich die Konflikte an konkreten wirtschaftlichen oder finanziellen Streitpunkten, um im weiteren Verlauf die grundsätzlich politische oder verfassungsrechtliche Dimension freizulegen. Die konfessionelle Frage konnte dabei eine stimulierende Funktion besitzen, zumal sie den Beherrschten gegenüber der Obrigkeit, den wirtschaftlich Erfolgreichen gegenüber Anhängern verfestigter Traditionen Argumente lieferte. Freilich lassen sich nicht alle Auseinandersetzungen auf den Gegensatz zwischen obrigkeitlichem Herrschaftsanspruch und demokratischem Selbstverständnis zurückführen. Konflikte zwischen einzelnen Honoratiorenparteien, beispielsweise in Aachen im Zeitraum 1550 bis 1620, sind ebenso mitzudenken wie solche vor dem Hintergrund territorialherrlicher Eingriffe (für das Folgende vgl. auch Friedrichs 1982; Hildebrandt 1974; Schilling 1975).
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In den städtischen Volksbewegungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbanden sich vielfach Angriffe gegen die Ratsoligarchie und Auflehnung gegen die etablierte kirchliche Hierarchie. Akzeptiert man als Ergebnis Fortschritte in der „Demokratisierung" der Stadtverfassung, so müssen kurzfristige von längerfristig wirksamen Erfolgen unterschieden werden (Czok 1981). So blieb in Süddeutschland die unter Beteiligung der Handwerker errichtete und zeitweilig dominante Zunftherrschaft zufolge des energischen Eingreifens Karls V. nur Episode, andererseits konnte in zahlreichen Fällen eine Verbreiterung des Wahlkörpers behauptet werden. Als Sieger ging häufig eine Honoratiorenschicht hervor, die vordem trotz ökonomischen Aufstiegs nur unzureichend an der Führung der Stadt beteiligt war. Einerseits war es das Handelsbürgertum, das nun in den Bürgerausschüssen führend wurde, andererseits aber auch das Element der Zunftmeister, das vermehrte Kontrollrechte über den Rat erlangte. Im Zusammenhang mit der Bindung der Ratsfunktion an bestimmte Ämter ist auch eine Zunahme juristisch gebildeter Akademiker in den Ratsgremien erkennbar. So gewann etwa in Rottweil, dem Sitz des kaiserlichen Hofgerichts, die Gruppe der Juristen erheblich an Bedeutung. Im 18. Jahrhundert bestand hier der Rat aus acht studierten Hofgerichtsassessoren, einem Syndikus und 18 Vertretern der neun Zünfte (Gerteis 1986:70). Daß die Verdünnung des Konfliktgeschehens im fortschreitenden 16. Jahrhundert nicht unbedingt mit der erfolgten Bereinigung kontroverser Fragen begründet werden darf, zeigt das neuerliche Aufleben politischer Gegensätze an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Wieder war es vorwiegend der Widerspruch zwischen einem verstärkt die Rolle als Obrigkeit beanspruchenden Rat, der seine Position auch ökonomisch ausbeutete, und der in festen Korpora oder neuen Repräsentativorganen sich organisierenden Bürgerschaft. Auch wiederholte sich das Phänomen, daß die Führer der Unruhen aus Honoratiorenschichten bzw. neuen, ökonomisch potenten Eliten kamen, die mit den patrizischen Oligarchien konkurrierten. Zusätzlich erhielten die Bewegungen aber auch eine deutliche soziale Färbung. Unterbeschäftigungskrise und Nahrungsverknappung, die gewerbliche Tätigkeit von Nichtbürgern und Hintersassen sowie das Anwachsen ökonomisch abhängiger, in ihrer Existenz gefährdeter Schichten waren Faktoren, welche die bestehende Ordnung in Frage stellten. Aus den sozialen und ökonomischen Komponenten des Konflikts fand die Tendenz zur Radikalisierung ihre Nahrung. Der nach dem Anführer der Opposition benannte Fettmilch-Aufstand in Frankfurt (1612-1616)
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(Friedrichs 1986) muß hier ebenso erwähnt werden wie die Brabandtschen Wirren in Braunschweig (1604), die Reiserschen Unruhen in Lübeck (1598-1605) und die bereits genannten Konflikte in Aachen (Gerteis 1981:48). Mit dem Dreißigjährigen Krieg erfuhr die zweite Welle frühneuzeitlicher Volksbewegungen in den deutschen Städten eine Unterbrechung. Im dritten Anlauf nach Beendigung der Kriegswirren änderten sich die Auseinandersetzungen in mehrfacher Hinsicht. Wohl reflektieren sie weiterhin das Unbehagen benachteiligter Gruppen mit den Verfassungszuständen, doch traten an die Stelle offener Tumulte - möglicherweise in Erinnerung an die harten obrigkeitlichen Strafmaßnahmen früherer Zeiten - vermehrt Prozesse, die von großen Teilen der Bürgerschaft unterstützt wurden. Dazu stellten sich Eidesverweigerungen, die Bildung von Ausschüssen und das Sammeln von Gravamina (Gerteis 1981:49f). Als Nebenerscheinung der endgültigen, oftmals gewaltsamen Integration einzelner Autonomiestädte in den Territorialstaat ergab sich das Ausscheiden derselben als Artikulationsebene traditioneller Verfassungskonflikte; jedenfalls änderten sich die Fronten. In mancher Reichsstadt setzten sich die Fraktionskämpfe zwischen den Honoratioren allerdings bis zur Jahrhundertwende fort. Größere Bedeutung erlangten allerdings jene späten innerstädtischen Bewegungen, in deren Rahmen vor allem Handwerker zur Verteidigung ihrer autonomen Handlungsräume und zur Kontrolle des Arbeitsmarktes antraten. Sie wurden wohl nicht durch die Französische Revolution ausgelöst, doch nahm ihre Dynamik seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts rasch zu. Sieht man von der reichsstädtischen Ebene ab, wo sich die am Beginn der Neuzeit erreichten Strukturen verfestigten, mitunter im Sinne von Korruption und Klüngelwirtschaft regelrecht erstarrten, so wurden Stadtverfassung und -Verwaltung seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend vom Aufbau eines fürstlichen Absolutismus geprägt. Mit zu dessen Strategie gehörte die fallweise Parteinahme (in Braunschweig, Stralsund, Erfurt, Rostock) für oppositionelle Bewegungen mit dem Ziel, die Ratsoligarchien rascher zu entmachten. Der folgende Schritt ging in die Richtung einer Umfunktionierung der Ratsoligarchien zu Vollzugsorganen des Staates. Ergebnis der Regulierung konnte zum einen die Reduktion der Zahl der Ratsmitglieder und deren Bestellung auf Lebenszeit sein (senatus perpetuus in Göttingen bereits 1611); erheblicher veränderte allerdings die Einsetzung neuer leitender Funktionäre (Stadtpräsident in Magdeburg, Statthai-
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ter in Erfurt, Syndicus in Göttingen) neben dem Bürgermeister die überkommenen Strukturen. Juristische Ausbildung gewann an Gewicht. In welchem Maße Vertreter der bürgerlichen Opposition die Möglichkeit erhielten, an Ratsämtern zu partizipieren, hing meist von staatlicher Entscheidung ab (Czok 1981:31f). Die Frage nach der Kontinuität zwischen den städtischen Verfassungsinstitutionen des 16. sowie jenen des 17. und 18. Jahrhunderts sieht sich mit einer erheblichen Bandbreite von Varianten konfrontiert. Klar in Erscheinung tritt eine beschleunigte Auseinanderentwicklung zwischen Reichsstädten als „Stadtrepubliken" auf der einen und der Vielzahl territorialer Mediatstädte auf der anderen Seite. Bei letzteren ging im Extremfall der Vertretungscharakter der neuen Repräsentanten bzw. Institutionen gänzlich verloren. Entsprechend ihrer römischrechtlichen Definition waren sie Korporationen ohne politische Kompetenz, als Vertreter von Eigentümergemeinschaften wurden sie privatisiert. Ihre Aufgaben reduzierten sich auf die Kontrolle der Stadtfinanzen, des Gemeindebesitzes, die Steuerverwaltung, dazu mitunter auf Polizei- und Zunftaufsicht und zivile Gerichtsbarkeit. Besonders deutlich vollzog sich die Außerkraftsetzung der überkommenen Ratsordnung in Garnisonen und Residenzstädten. In ersteren übernahm das Militär alle Macht- und Ordnungsfunktionen. Der Stadtrat besaß über das militärische Potential keine Verfügungsgewalt. In Residenz- und Hauptstädten geriet die Stadtverwaltung gänzlich unter den Einfluß von Hof und staatlicher Bürokratie. Landesfürstliche Baukommissare regelten auch das Bauwesen der Stadt, Gouverneure die „Polizey". Vielfach wiesen die zentralen Behörden der absolutistischen Verwaltungen personelle und institutionelle Verzahnungen mit dem Regiment der Städte auf, die autonome Verwaltung wurde auf marginale Bereiche eingeengt (Gerteis 1981:80). Auf die Vorreiterrolle der großen Territorien an der Ostgrenze des Reiches bei der Eingliederung der Stadtverwaltungen in die staatliche Bürokratie wurde an anderer Stelle verwiesen. ELEMENTE DES ÜBERREGIONALEN VERGLEICHS Überblickt man die Entwicklung städtischer Verfassung und Verwaltung im frühneuzeitlichen Europa, wie sie skizzenhaft für drei große Stadtregionen vorgeführt wurde, so lassen sich trotz der Vielzahl regionaler Besonderheiten und individueller Ausformungen eine Reihe deutlicher Übereinstimmungen erkennen. Eine dieser Konstanten ist die schon im Mittelalter entwickelte Norm der Ausübung der Macht
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durch Gruppen, die ausschließlich von Männern gebildet wurden. Es wurde mit Recht darauf verwiesen, daß es ein Paradoxon frühneuzeitlichen Rechtsverständnisses darstellt, daß eine Frau als Regentin eines mächtigen Königreichs wie England akzeptiert wurde, hingegen dieselbe als Bürgermeisterin einer Kleinstadt nicht vorstellbar war (Friedrichs 1995:47). Weitere Kriterien für die städtische Leitungsobrigkeit konnten Vermögen (Reichtum) und Stand darstellen, mit der konfessionellen Polarisierung im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts gewann mitunter auch der Faktor Religion an Bedeutung. Dies gilt insbesondere für reformierte Gesellschaften. Im Vergleich zur englischen Stadt findet sich allerdings bei den Kalvinern in den nördlichen Niederlanden ein Mehr an Toleranz und ein Weniger an Dogmatismus, eine Haltung, die schließlich einer zunehmenden Dekonfessionalisierung Platz machte (Van der Woude 1983:359). In der Regel erscheinen die Mitglieder der (inneren) Ratsgremien formal gleichberechtigt, auch wenn sie sich aus sozial nicht gleichrangigen Schichten rekrutierten. Dies gilt etwa für das Nebeneinander von Patriziern, Kaufleuten und Handwerkern in deutschen oder von Kaufleuten, Schiffahrtsunternehmern und Gewerbetreibenden in holländischen Städten (vgl. Rotterdam 1580); oder auch für die mitunter in Frankreich anzutreffende Gewohnheit, die Ratsstellen paritätisch auf einzelne Stände zu verteilen, oder für Städte, wo vereinzelt Ritter in den bürgerlichen Gremien saßen (Ehbrecht 1994:275). Vorwiegend für die mediterrane Stadt charakteristisch ist das Überwiegen des adeligen Elements in den städtischen Leitungsgremien. Hier reichen die Varianten vom Ausnahmefall Venedig, das alle politischen Ämter als Wahlinstitutionen einer Kaufmannsaristokratie vorbehielt, oder Ragusa/Dubrovnik, wo die Versammlung aller majorennen Adeligen als Großer Rat fungierte (L. Dobronic in Rausch 1980:150), über oberitalienische Territorien, wo die alten Stadtämter zu Sinekuren der aus der Staatsregierung verdrängten großen Familien wurden, bis hin zur spanischen Stadt. Hier stellt die Beherrschung der Magistrate durch Adelsgruppen unterschiedlichen Ranges das Ergebnis einer „Aristokratisierung" des gesamten politischen Lebens im Zuge der Festigung der absoluten Königsmacht dar. Bleibt man auf der Ebene der mittleren bis großen Stadt, so erscheint die Tendenz zur Oligarchisierung und zum Nepotismus als vorherrschendes Prinzip der neuzeitlichen Entwicklung. Ihm entgegengesetzt verläuft der verbreitete und sich mehrmals wiederholende Versuch an der Macht nichtbeteiligter Gruppen, sich Elemente der Partizipation oder zumindest der Kontrolle anzueignen.
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Mit der Oligarchisierung verbunden ist die häufig nachweisbare Verringerung der Zahl der Ratsstellen, sei es aufgrund autonomer Willensakte des Gremiums selbst, sei es zufolge obrigkeitlicher Mandate bis hin zur staatsseitig vorgenommenen Normierung wie etwa in Frankreich am Ende des 17. oder in Habsburg-Österreich am Ende des 18. Jahrhunderts. Gegenläufige Tendenzen sind häufig dann feststellbar, wenn städtische Ämter zugunsten der königlichen Kammer verkauft wurden, etwa im Falle von Madrid, wo die Zahl der Ratsmitglieder von 15 um die Mitte des 16. Jahrhunderts auf 40 im Jahre 1621 anstieg (L0pez Garcia/Madrazo Madrazo 1996:124). Die Mitgliederzahl des Rates schwankte zwischen zwei und 36, wobei einer Bevorzugung der Idealzahl zwölf oder einer davon abgeleiteten Zahl (Hälfte/Teil, Vielfaches) größeres Gewicht zugekommen sein mag als einer Festlegung aufgrund realer Bedürfnisse. Wenig einheitlich waren auch die Verfahren zur Ratswahl, die in offenen Gesellschaften die Rolle und Bedeutung der verschiedenen soziopolitischen Kräfte widerspiegeln können, tendenziell sich aber von Mustern breiterer Beteiligung über kooptationsartige, z.B. Wahl männerverfahren hin zur Kooptation aus einem beschränkten Kreis stadtadelig-großbürgerlicher Führungsschichten entwickelten. Aus diesem Reservoir rekrutierten sich die Ratsmitglieder in der Regel auch dann, wenn an die Stelle autonomer Entscheidung des Gremiums die Nominierung seitens des Herrschaftsträgers getreten war, sofern dieser nicht Stadtfremde, etwa Militärs oder Beamte, bevorzugte. Wo das Prinzip der Wahl durch Elektorate erhalten blieb, wie beispielsweise in zahlreichen Städten Englands, konnten sich erhebliche Widersprüche zwischen dem Umfang der Wahlgremien und jenem der anwachsenden Stadtbevölkerung einstellen (Corfield 1982:147). Auf die unterschiedliche Bezeichnung des Ratsprimus in den einzelnen Städteregionen ist verwiesen worden. Im Falle der deutschen Stadt signalisiert das Bürgermeisteramt eine vielfach schon im Laufe des Spätmittelalters vollzogene Verdrängung des stadtherrlichen Beamten (Schultheiß, Ammann) aus dem Vorsitz im Ratsgremium. Neben der Wahl für die Dauer einer mit jener des Rates korrespondierenden Amtsperiode finden sich Varianten in der Bandbreite von der Wahl oder Ernennung auf Lebenszeit bis hin zur Rotation innerhalb des Gremiums. Häufig war die Teilung des Geschäftsjahres in zwei oder vier Abschnitte, in Nürnberg wechselten sich alle 26 Ratsherren im Vorsitz ab (Isenmann 1988:134). Wo der Bürgermeister spezifische, vom Rat gesonderte Kompetenzen an sich zog, wie in einzelnen Städten der südlichen Niederlande, konnte es auch zur Duplikation des
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Amtes kommen. So versah in Antwerpen der aus dem College gewählte erste Bürgermeister (forain, buitenburgemeester) politische und militärische Funktionen, er vertrat die Stadt in den Brabanter Ständen sowie gegenüber dem Souverän und war auch Chef der bewaffneten Gilden und Bürgergarden. Der zweite Bürgermeister (dedans, binnenburgemeester), der aus den Schöffen gekürt wurde, führte hingegen den Vorsitz in Zivil- und Kriminalgerichtsangelegenheiten (Lottin/Soly 1983:268). Auch das Bürgermeisteramt konnte Tendenzen zur Beherrschung des Stadtrats aufweisen, was die Schaffung von Gegenpositionen, normative Beschränkungen der Amtszeit oder zumindest Koalitionen gegen die Wiederwahl bewirkte (Van der Woude 1983:364). Reduzierte sich mit der Oligarchisierung der (inneren) Ratskollegien der Einfluß der Gemeinde auf deren Struktur zumeist erheblich, so entwickelte sich in den großen Räten ein Institut, durch das der Verlust an Mitbestimmungsbefugnissen zumindest in Grenzen gehalten werden konnte. Bei diesen weiteren Gremien konnte es sich einerseits um zumeist von ständischen oder lokalen Gruppierungen delegierte Kontrollorgane handeln, oder um eine Erweiterung der mächtigen Gremien u m bürgerschaftliche Organe. Im letzteren Sinne hat z.B. der Brede Raad einer Reihe südniederländischer Städte in seiner Zusammensetzung aus amtierendem Magistrat, alten Schöffen und Repräsentanten der Gilden seine Kompetenz in der Frage neuer Steuern oder der Aufnahme von Anleihen wahrgenommen (Lottin/Soly 1983:271). In Augsburg wiederholten sich im „Äußeren" oder „Größeren" Rat unter Beteiligung der Zünfte die Parteien des „Kleinen", doch kam ihm keine Kontrollfunktion zu, sondern er wurde nur gelegentlich zu Beschwichtigungsversuchen zusammengerufen (Gerteis 1986:69). Mitunter wurde die Mitwirkung der Zünfte durch obrigkeitliches Reglement festgeschrieben, wie etwa 1603 hinsichtlich der 32 Lütticher Metiers, und somit ein Modell der Partizipation geschaffen, das sich auch auf andere Städte übertragen ließ. Häufiger wurden die gemeindlichen Interessen aber von Vertretern der Zünfte, Pfarren, Stadtviertel (quartieri, wards), militärischen Verbänden (Bannern, gonfaloni) oder religiösen Bruderschaften repräsentiert, die auf kollektivem Wege an der Entscheidungsfindung teilnahmen oder die Ratspolitik zu beeinflussen trachteten. Ihr Beharrungsvermögen variierte nach Zeit, Region und politischem System und war dort am wenigsten erfolgreich, wo es den staatlichen Kräften gelang, die oligarchischen Magistrate zu willfährigen Objekten ihrer Politik umzufunktionieren.
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Nur kurz soll nochmals auf die bereits an anderer Stelle angesprochene, zunehmende Präsenz stadtherrlicher bzw. staatlicher Organe innerhalb der städtischen Verwaltungskörper verwiesen werden. So nahm in der Mehrzahl der kastilischen Städte ein königlicher Beamter, der Corregidor, an den Ratssitzungen teil und beeinflußte die Entscheidungen (zur Munizipalorganisation vgl. Fortea Perez 1990:179206). Um seine Loyalität gegenüber dem König sicherzustellen und der Gefahr einer Vereinnahmung durch lokale Interessen wirksam zu begegnen, begrenzte man seine Amtsdauer an einem Ort. Im Falle der Hauptstadt usurpierte die Krone die Funktion des Stadtrats und kontrollierte lokale Angelegenheiten durch den Rat von Kastilien sowie die Sala de alcaldes de casa у corte (Lopez Garcia/Madrazo Madrazo 1996:125). Ihrem spanischen Gegenstück vergleichbar waren die portugiesischen Corregedores, Wanderrichter mit der Aufgabe der Überwachung der örtlichen Administration und Rechtsprechung; sie wurden ebenso unmittelbar vom König ernannt wie die Juizes de forza, Berufsmagistrate für den Dienst in königlichen Kommunen (Hespanha 1994:192). In den Niederlanden kam dem fürstlichen Vertreter, dessen Name von Stadt zu Stadt variierte (ecoutete/schout, amman, mayeur, bailli, grand-bailli) vor allem die Aufgabe zu, die Ordonnanzen der Zentralregierung zu veröffentlichen und ihre Beobachtung zu kontrollieren (Lottin/Soly 1983:267). Und selbst für die Ratsgremien der österreichischen Kleinstädte schuf das Territorialfürstentum bereits im ausgehenden Mittelalter Kontrollorgane, die im 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit Reformation und wachsender Ständemacht - wenn auch nur kurzfristig - größere Bedeutung erlangten (Knittler 1985:57). Eine Stadt konnte über eine Reihe königlicher Beamter verfügen, die unabhängig von munizipalen Amtsträgern mit analogen Aufgaben agierten, beispielsweise in Paris die königlichen Amtleute der Prevote, so daß sich die Jurisdiktionsbereiche derselben und des Stadtrates überschnitten. Konkurrenzverhältnisse eines ähnlichen (älteren) Typs waren weiters dann gegeben, wenn Gemeinden unterschiedlicher herrschaftlicher Zuordnung nebeneinander bestanden wie Kommune und Feudalherr in französischen Städten bzw. Gemeinde und Fiskus im oberungarischen Bergbaurevier (Vozär 1980:316). Ein erhebliches Gewicht erhielt die Nominierung von staatlichen Repräsentanten in jenen Fällen, wo deren Kompetenz den Aktionsrahmen der munizipalen Autoritäten als Ganzes oder einen zentralen Bereich desselben einschränkte. Dies gilt etwa im Falle der Einsetzung von Militärkommandanten in Festungs- oder Residenzstädten oder von Regional-
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beamten, den Lord Lieutenants oder Grafschaft-Sheriffs in England sowie den Provinzialgouverneuren oder Intendanten in Frankreich (zusammenfassend Friedrichs 1995:54). Wo die Stadt zum Teil der Territorialverwaltung wurde, ist die Verbeamtung der Mitglieder der Ratsregimenter ein weiteres, häufig erkennbares Phänomen in der frühen Neuzeit. Ursprünglich entbehrten die Ämter einer regulären Besoldung; neben der beruflichen Abkömmlichkeit (M. Weber) stellten Prestige und Einfluß den maßgeblichen Hintergrund für die Amtsübernahme dar, wenngleich diese nicht selten mittelbar auch ökonomischen Zielen nützlich sein konnte. Gerichtliche Funktionen verbanden sich hingegen zumeist seit dem Mittelalter mit einer Bevorschussung der zu erwartenden Eingänge in der Rechtsform der Pacht, ein Prinzip, das in veränderter Form im Anleihegeschäft des Ämterkaufs seit dem 16. Jahrhundert Nachfolger erhielt. Besonders seit dem 17. Jahrhundert beschleunigte sich nun die Entwicklung in mehrere Richtungen. Vor allem im Reich gewann in dem Maße, in dem die Ämter zu Beamtungen der territorialen Verwaltung wurden, das Prinzip ihrer Besoldung an Boden, woraus sich auch der Wandel im Charakter der Institutionen ablesen läßt. Zumeist nahmen die Räte, Mitglieder der Gerichte, die Zunft- und Bürgermeister mehrere solcher Ämter wahr, was auch zu Fehleinschätzungen der Zahl der Mitglieder städtischer Verwaltungen geführt hat (Gerteis 1986:86). Die Tendenz zur Besoldung städtischer (Rats-)Ämter stieg sowohl mit zunehmender Rückbildung des Wahlprinzips, mit der Spezialisierung der Aufgabenstellung als auch mit der Verortung der Stellen in der Hierarchie eines bürokratischen Apparats auf gesamtstaatlicher Ebene. Dies zeigt sich u.a. in beiden Niederlanden und im besonderen in Frankreich. Für das spätere Belgien wurde festgestellt, daß Schöffenämter größerer Städte jährlich im Durchschnitt bei 550 fl. (zuzüglich Zulagen) einbrachten und darüber hinaus das Tor zu höheren und besser bezahlten Funktionen wie jenen der Bürgermeister (in Antwerpen 2.600 + 3.000 bzw. 1.800 fl.) oder des Generalschatzmeisters (Tresorier-general, 1.200 fl.) öffneten - ein Weg, der vor allem von Adeligen gesucht wurde (Lottin/Soly 1983:274f). Auf die in Frankreich gegebene Sondersituation, daß neben die traditionellen Formen der städtischen Verwaltung das käufliche, zumeist aber neu geschaffene Amt trat, eine Entwicklung, die ihre Ursprünge im ausgehenden 16. Jahrhundert besaß und vielfach in eine „Privatisierung" der Stadtadministrationen mündete, ist oben bereits verwiesen worden. Von den Munizipalfunktionen sind die Bediensteten zu unterscheiden, die eine feste Besoldung oder einen Teil der Gebühren und Та-
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xen, die aus den von ihnen verwalteten Amtsbereichen resultierte, erhielten. Am Anfang stand mehrheitlich das Amt des Ratsschreibers, welcher der städtischen Schreibstube (Kanzlei) vorstand und mit unterschiedlichen Bezeichnungen (in England Town clerk, in Frankreich Greffier de la ville oder Clerc de la ville, in Spanien Escribano mayor, in deutschen Städten Stadtsyndicus, in den Niederlanden Pensionär, Sekretär usw.) in nahezu allen europäischen Stadtlandschaften im 16. Jahrhundert als Zentralbeamter der Stadtverwaltung auftritt. Mit dem Anwachsen und der Auffächerung kommunaler Aufgaben vergrößerte sich nicht nur die Zahl von Ämtern und Diensten, es zeigt sich auch ein Trend, im Sinne der häufiger werdenden Rechtsgeschäfte und des sich ausdehnenden Prozeßwesens studierte Juristen, Doktoren oder Lizentiaten der Rechte mit diesem Amt zu betrauen. Zufolge der Unterschiede in der Größe der Städte und der im autonomen Bereich zu vollziehenden Aufgaben, der Tradition des Einsatzes juristischer Bildung im Stadtalltag etc. entwickelte sich eine Vielzahl von Varianten in der Struktur des nachgeordneten Beamtenapparats, entsprechend den eingangs genannten Sektoren städtischer Zuständigkeit. Beispielsweise sei nur auf das flandrische Gent verwiesen, wo der Magistrat 1734 durch ein ganzes Heer von mehr als hundert Beamten, die unter der Leitung des Ratspensionärs standen, unterstützt wurde, darunter fünfzehn Akademiker (Van Uytven 1991:24). Es mag auf das Zusammenwirken von alter, ständisch aktiver Urbanität und modernen Einflüssen zurückzuführen sein, daß sich in den beiden Niederlanden ein besonders komplexes System des Munizipalbeamtentums entwickelte. An der Spitze desselben stand der Pensionär, der Bürgermeister und Ratsgremien in Rechtsfragen beriet und zumeist auch der städtischen Delegation bei den Provinzialständen angehörte. Seine Besoldung überstieg jene eines Schöffen und lag beispielsweise in Antwerpen im 18. Jahrhundert bei 5.250 fl. Ihm untergeordnet waren die Ämter der Sekretäre und Greffiers (Gerichtsschreiber) sowie eine größere Zahl subalterner Offiziale. Aufgrund der Käuflichkeit der Ämter und der obligatorischen Erlegung einer Antrittstaxe bildeten diese einen wichtigen Einnahmeposten für die Stadtkasse. Abgesehen von den Spitzenfunktionen waren sie auch für Personen der unteren Einkommensklassen zugänglich (Lottin/Soly 1983: 275; Van der Woude 1983:367). Entwickelte munizipale Organisation fand seit dem Mittelalter ihren Niederschlag in der Errichtung kommunaler Gebäude, die zugleich als Identifikationsinstrument der dahinter stehenden Personen und Gruppen dienten. Die Bezeichnung dieser zumeist aus festem Materi-
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al gefügten und repräsentativ gestalteten Objekte variierte daher auch entsprechend der jeweiligen Verfassung. Korrespondiert die frühe Erreichung hoher Autonomiestandards der Stadt als Ganzes oder die mächtige Position einzelner Stadtorgane zumeist mit einer weit ins Mittelalter zurückreichenden Bautradition, wie sie in Nord- und Mittelitalien, den Niederlanden, Nordfrankreich und Deutschland gegeben erscheint, so folgten Südfrankreich oder England erst in der Neuzeit nach. Häufig verbanden sich das Anwachsen und die Auffächerung kommunaler Aufgaben in den ersten neuzeitlichen Jahrhunderten mit Vergrößerungen, Zu- oder sogar Neubauten. So wurde das komplexe Ensemble des Capitole in Toulouse im 16. Jahrhundert um den Archivturm und die Front des Grand Consistoire erweitert, in Bordeaux kam es zur Wiedererrichtung des Beifrieds (Glockenturms) nach dem Aufstand von 1548. Zahlreiche Hotels de ville entstanden im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts neu. Herausgehoben seien nur jene von Angers (1529), Lille (1594), Orleans (1598) oder von Rouen, Troyes, Reims, Aix, Lyon oder Marseille im 17. Jahrhundert (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:169-171). England besitzt keine mittelalterliche Tradition des Rathausbaus, doch begannen die Town Halls seit dem 16. Jahrhundert zunehmend eine Rolle in der „political culture" (R. Tittler 1991) der Stadtgemeinden zu spielen. Monumentale Anlagen finden sich erst seit dem 17. Jahrhundert, beispielsweise in Newcastle 1691, in York 1724-30 oder in der City of London 1738-52 (Corfield 1982:149). Für die Niederlande und das Reich sei zuletzt nur auf den Signalcharakter eines monumentalen Rathausbaus für ökonomische Prosperität und neues bürgerliches Selbstgefühl verwiesen: Antwerpen 1561-65, Augsburg 1615-26 sowie Amsterdam 1648-55 (vgl. zuletzt Tipton 1996).
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INSTITUTIONEN
ORDNUNGSMUSTER
Die Frage, ob die Gesellschaft der frühneuzeitlichen Stadt eher durch Strukturen des mittelalterlichen Erbes oder durch neu hinzutretende Elemente charakterisiert erscheint, ist in dieser Alternative zweifellos zu einfach und undifferenziert gestellt. Zu verschiedenartig waren die einzelnen Wirkkräfte, zu breit die Palette ihrer Mischungsverhältnisse, die im Erscheinungsbild der Stadtindividualität ihren Niederschlag fanden. Grundsätzlich blieb freilich zunächst das Prinzip der sozialen Ungleichheit erhalten, das Über- und Unterordnung und den Aufbau hierarchisch abgestufter Ordnungsmuster impliziert. Weiters auch die Tatsache, daß ökonomische Stärke, sozialer Vorrang und politischer Einfluß eine Verbindung darstellten (Isenmann 1988:245), die sich in einer Annäherung von gesellschaftlicher Ordnung und Verfassungsrealität widerspiegelte. Auf letztere ist bereits an anderer Stelle, unter Betonung der Perspektive des Wandels verwiesen worden, der wiederum seine Bestimmung aus politischen und sozio-ökonomischen Faktoren erhielt. So war es die Herausbildung des frühmodernen Staates, der alte Herrschaftsmuster auflöste, unterwanderte oder substituierte und damit den Weg für das Aufkommen neuer Eliten bereitete. Mit der Einbindung überkommener Städte in veränderte Ordnungssysteme, noch mehr aber mit der Schaffung neuer städtischer Gebilde als Zentren derselben in Form von Haupt- und Residenzstädten erfuhr auch die städtische Gesellschaft eine Neubestimmung. Die Entstehung vom Staate unabhängiger Wirtschaftssysteme, wie sie besonders von I. Wallerstein (1974-1980) so eindrucksvoll dargestellt worden sind, konnte eine weitere Voraussetzung zur Umorientierung städtischer Sozialordnungen werden. Strukturveränderungen blieben nicht auf einzelne Städte begrenzt, sondern erfaßten zumeist ganze Städtelandschaften und -regionen, vielfach im Sinne von Ablöse und
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Ordnungsmuster
Austausch. Daß sich Fortschritt und Wandel auf der einen sowie Traditionalismus und Beharrung auf der anderen Seite eine über Perioden währende Auseinandersetzung liefern konnten, sei nur angedeutet. Zweifellos wuchsen in den neuzeitlichen Jahrhunderten die in der Stadt gebotenen Chancen zu individuellem oder kollektivem Aufstieg auf der Grundlage wirtschaftlicher und zunehmend auch intellektueller Leistung. Formen der Subsistenzbegründung aus den ökonomischen Mechanismen des freien Arbeits-, Boden- und Kapitalmarktes stand andererseits die Vielfalt neu geschaffener Muster ökonomischer und im weiteren gesellschaftlicher Abhängigkeit gegenüber. Mit dem Hinweis auf die Bergstadt, die frühen Industriestädte sowie die Rolle städtischer Gebilde im Prozeß der Proto-Industrialisierung seien zentrale Felder der Ausbildung von Sonderformen angesprochen (Hohenberg/ Lees 1985:bes.l59-169). Erheblich wurden die zunehmende Einbindung der Stadt in überregionale ökonomische Prozesse und die zum Größenwachstum komplementär steigende Abhängigkeit städtischer Massen von konjunkturellen Bewegungen. Das Problem der Armut unterzog die frühneuzeitliche Stadt einer ersten Bewährungsprobe. Eine Bestimmung städtischer Sozialstrukturen wird von Maßstäben auszugehen haben, welche die Bevölkerung in ihrer vertikalen Verteilung zu erfassen suchen. Demgegenüber besitzen horizontale Muster nur einen ergänzenden Stellenwert, wobei zwar eine Abnahme des sozialen Ranges vom Zentrum der Stadt zur Peripherie hin als allgemein gelten kann, Sondersituationen zufolge spezifischer Segregationsmuster allerdings mitzudenken sind (Rublack 1979; Lichtenberger 1973:297-331). Hierher zählt die Konzentration der Reichen in den „uppertowns" wie etwa am Kathedralhügel von Lincoln (Corfield 1982:130) oder deren Zusammensiedeln in Zonen, die deutlich von den Wohngebieten der ärmeren und zuziehenden Bevölkerung getrennt erscheinen (Westend) (Clark/Slack 1976:63; Langton 1990; Descimon 1989:80-101). Bewohner der Vorstädte konnten über die gesellschaftliche Minderstellung hinaus durch eine solche der Rechtsqualität betroffen sein (bes. Czok 1979). Freilich sind auch Segregationsvorgänge in der Form von neuen Wohnvierteln der Eliten außerhalb der alten Stadtkerne nachweisbar, etwa wenn sich Londoner Kaufleute Refugien auf dem Lande errichten, die nur wenige Meilen von der City entfernt sind (Borsay 1990:19), oder Pariser und Wiener Adelige ihre Häuser und Paläste in verkehrsmäßig gut aufgeschlossene Vororte verlegen (Clark/Lepetit 1996:4; Lichtenberger 1977). Zur Rekonstruktion sozialer Hierarchien auf der Basis zeitgenössischer Einteilungsschemata, wie sie sich in Form von Speise-, Kleider-
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und Luxusordnungen zum Zwecke der Normierung standesgemäßen Aufwands besonders in deutschen Reichsstädten oder in der auf die Teilnahmefähigkeit an der Regierung abzielenden Gliederung in nobili cittadini -popolani in italienischen Stadtstaaten häufig finden (vgl. auch Friedrichs 1995:139), tritt jene ex posteriori über die Feststellung spezifischer Lagemerkmale. Dabei lassen Steuerregister und Vermögens(Verlassenschafts-)Inventare Schlüsse auf die (absolute) Höhe des Vermögens zu (für Sevilla vgl. Aguado de los Reyes 1994; für Kleinstädte Knittler 1997), was freilich ebenso nur einen mittelbaren Zugang zur Frage der sozialen Rangigkeit eröffnet wie die Zugehörigkeit zu den in ihrem Prestige und Rechtsstatus abgestuften städtischen (Berufs-)Verbänden. Da das Ziel der „gleichen Nahrung" innerhalb einzelner Handwerke in der Regel nicht erreicht wurde, konnten die Positionen aufgrund individuellen Vermögens oder zufolge sozialer Verbandszugehörigkeit klar voneinander abweichen. Obwohl aus dem Gesagten die Problematik jeden Versuchs zur Generalisierung ausreichend erhellt, läßt sich mit einiger Vorsicht doch ein allgemeiner Rahmen für die verschiedenen Muster städtischer Stratifikation abstecken. Dieser kann in seiner Vereinfachung sowohl für das ausgehende Mittelalter wie für den Beginn der Neuzeit gelten und faßt die entscheidenden Kriterien der Rangigkeit in einem Bündel zusammen, basierend auf Familienzugehörigkeit, Amtsausübung, beruflicher Tätigkeit und Vermögen (E. Maschke in Maschke/Sydow 1972:bes.3-12). Mit zeitlichem Fortschreiten konnte freilich innerhalb verschiedener Stadttypen ein soziales Absinken des Zunftbürgertums in die Richtung unterbürgerlicher Schichten stattfinden (Ebeling 1993:77). Geht man zunächst von dem traditionellen Verteilungsmuster mit Ober-, Mittel- und Unterschicht sowie Marginalen aus, bietet erstere mit ihrem Konnex zur Adelsqualität schon zufolge der am weitesten fortgeschrittenen Ergebnisse sozialhistorischer Forschung den besten Einstieg. STADTADEL ITALIEN
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Adeliger Rang als Kriterium städtischer Eliten hatte am Beginn der Neuzeit in einzelnen europäischen Regionen bereits eine längere Geschichte hinter sich. Italien und das Reich stellen dabei zwei Städtelandschaften mit hohem Stellenwert adeliger Bürgerlichkeit, aber mit hinsichtlich Richtung und Kontinuität klar unterschiedenen Entwicklungen dar. Wurde im Süden der im Contado begüterte Adelige viel-
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fach schon im Hochmittelalter zur Residenznahme in der Stadt gezwungen und waren hier Adelsqualität und (Groß-)Handelsausübung einander nicht ausschließende Elemente, so verlangte im größeren Teil Mittel- und Nordeuropas stadtadelige Standesqualität den Verzicht auf Beteiligung am Handel und eine Lebensform auf der Basis von Renten. Unterschiedliche Muster, wie die Kontinuierung adeliger Gruppierungen aus der stadtherrlichen Ministerialität oder freien Gefolgschaft, die Verfestigung von Eliten aufgrund von Nobilitierungen, aber auch die Unterbindung adeliger Residenznahme in der Stadt, stehen hier nebeneinander. Zeitlich begrenzt blieb hingegen die Disqualifizierung des Adeligen für Ämter im Falle popolarer Regimentsbildung in den italienischen Stadtrepubliken (Waley 1969:111). Für England, die Niederlande und selbst den größeren Teil Frankreichs stellte sich das Problem zunächst kaum, hinsichtlich der deutschrechtlich bestimmten Städte Mittelosteuropas, d.i. Böhmens, Polens und Ungarns, konnte der Adelsrang zunächst sogar den Eintritt in die städtische Rechtsgemeinschaft verwehren. Hier entwickelten sich im Verlaufe der Neuzeit allerdings unterschiedliche Abweichungen. Zum einen durch die zunehmende Residenznahme des Adels an zentralen Plätzen, insbesondere in Haupt- und Residenzstädten (vgl. etwa Bogucka 1995:79), zum anderen auch durch die Tendenz, daß in kleineren städtischen Sonderformen eine größere Zahl von Bürgern durch Nobilitierungsakte niederen Adelsrang erhielten. In Rust/Burgenland waren dies beispielsweise zwischen 1620 und 1770 etwa 30 Familien bei weniger als 1.000 Einwohnern. Wie im Falle anderer Eliten bedeuten auch für die adelige städtische Führungsschicht Form und Wege der Ergänzung, oder anders ausgedrückt: die Konstituierung als geschlossene oder offene gesellschaftliche Gruppierung, ein zentrales Einteilungskriterium. Den klassischen Fall einer geschlossenen Elite bildete jedenfalls Jahrhunderte hindurch der Adel von Venedig, zurückgehend auf die „serrata" (Schließung) von 1297 (im folgenden nach Davis 1962). Die Zugehörigkeit zu der mit etwa 200 Familien begrenzten Kaufmannsaristokratie garantierte die Mitgliedschaft im Maggior Consiglio (Großer Rat) und das passive Wahlrecht für die höheren Staatsämter. Nach einer letzten Nobilitierungswelle 1381 im Anschluß an den Sieg über die Genuesen bei Chioggia (1379) wurde die Zahl der stadtadeligen Familien bis zur kriegsbedingten Finanzkrise von 1645/46 nicht mehr erweitert. Um 1650 gab es etwa 2.500 männliche Adelige im amtsfähigen Alter, denen eine etwas größere Zahl von eigentlichen Beamten der Mittelschicht (cittadini originali) gegenüberstand. Konstitutiv für die Teilnahme am politi-
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sehen Geschehen war die Eintragung einer Familie im Libro d'Oro, dem Goldenen Buch, ein Prinzip, das - von Venedig ausgehend (1509) in der Folge zahlreiche andere italienische Städte erfaßte (Brescia 1509, Genua 1528, Vicenza 1567, Bologna 1567/90, Jesi 1575, Cremona 1576, Carrara 1595, Padua 1623, Lucca 1628) (Cowan 1998:56). Seit dem 17. Jahrhundert zeichnen sich nun innerhalb der adeligen Führungsschicht Venedigs deutliche Veränderungen ab. War ihre ökonomische Position insbesondere auf dem Außenhandelsgeschäft begründet worden, so trat dieses als Quelle des Reichtums zunächst nach 1500 und - nach einer Erholung um 1550 - endgültig ab 1570 in den Hintergrund. Zahlreiche Familien zogen sich aus dem Handel zurück und wandten ihr Interesse mangels industrieller Traditionen (ausgenommen Schiffsbau) vorab dem landwirtschaftlichen Sektor zu, der trotz zeitweilig günstiger Preisentwicklung nur mäßige Einkommen abwarf. Die parallel dazu verlaufende Steigerung der Luxusbedürfnisse führte dazu, daß nicht nur das Interesse an der Übernahme von Staatsämtern zurückging, sondern auch - mit der allmählichen Verarmung zahlreicher adeliger Familien - die finanzielle Voraussetzung hiezu nicht mehr gegeben war. Aufgrund der fehlenden Aufstiegschancen nichtadeliger Reicher reduzierte sich ferner die Zahl der potentiellen Amtsträger bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts um etwa 50% auf ca. 1.200. Die Krise in der Verwaltung wurde nun durch die seit 1646 vorgenommenen Nobilitierungen (Kaufleute, cittadini, Adelige aus der Terra ferma) nur unwesentlich entschärft, war das Hauptmotiv derselben doch die Auffüllung der leeren Kriegskasse durch Erhebung hoher Eintrittsgebühren (bis 1718 insgesamt 127 Familien) (Cowan 1986:66-74). Zumeist blieb den neuen Familien die Übernahme der wichtigen - und lukrativen - Ämter verwehrt, vielfach zeigten sie für den Staatsdienst wenig Interesse, oder es fehlte die Erfahrung. Ansätze einer Cliquenbildung innerhalb des Adels (grandi) werden feststellbar. Eine 1775 eingesetzte Kommission zur Abschaffung der Mißstände, die u.a. eine vermehrte und vereinfachte Nobilitierung vorschlug, konnte den endgültigen Niedergang der Republik nicht mehr aufhalten. Die in Venedig feststellbare Erstarrung der Oberschicht findet sich auch in anderen italienischen Städten. Deutlich etwa in Genua auf der Basis sippenmäßiger Zusammenschlüsse, die als feudales Element neben den kaufmännischen Traditionen, wie vor allem dem Bankgeschäft, bestimmend waren (Kellenbenz 1991:5). Nach einer krisenhaften Periode der Popolarenherrschaft wurde 1528 im Zusammenhang mit der Vertreibung der Franzosen aus der Stadt durch Andrea Doria das Adelsregiment wiederhergestellt. Politische Macht basierte auf der
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Zugehörigkeit zu einem der insgesamt 24 Familienbünde (alberghi), von denen 23 zur alten Stadtaristokratie gehörten und nur einer (später fünf) dem Kreise reicher Popolarer entstammte. Um der Schwächung und Überalterung der herrschenden Schicht vorzubeugen, war die Aufnahme verdienstvoller Bürger in den Adel vorgesehen, doch bestanden erhebliche Gegensätze zwischen altem und aggregiertem Adel, die erst 1576 beseitigt wurden. Noch tiefer war allerdings die Kluft zwischen der Aristokratie insgesamt und den nicht im Liber Civitatis Eingetragenen, woraus mehrere, in der Regel aber erfolglose Revolten entstanden, so etwa der von Savoyen geförderte Aufstand des reichen Bürgers Vachero 1628. In der Folge verstärkten sich die Abschließungstendenzen das alten Stadtadels (vgl. Nicora 1961). Nahmen Venedig und Genua mit ihrer formal republikanischen Staatsform auch hinsichtlich der Beharrungskraft ihrer adeligen Eliten eine Sonderstellung ein - in Lucca bedurfte es hiezu 1532 der Unterstützung durch den Kaiser -, so konnte sich im Falle von Städten, die zu Bestandteilen frühabsolutistischer Staaten wurden, eine abweichende Situation ergeben. Jedenfalls ist mit einem politischen Konkurrenzverhältnis zwischen Adel und Monarchie zu rechnen, wobei sich der Sieger - und dies war in der Regel der Fürst - in der Folge auch bestimmenden Einfluß auf die Gesellschaftsstruktur von Staat und Stadt sichern konnte. Grundgelegt war damit der Vorrang des Prinzips der Veränderung gegenüber jenem der sozialen Erstarrung. Vielfach war schon das 15. Jahrhundert durch Assimilationsprozesse zwischen altadeligen und neuen merkantilen Geschlechtern geprägt worden, was M. Berengo zur Feststellung veranlaßte, daß - etwa im Falle der Medici in Florenz oder der Borromeo oder Litta in Mailand nur bösartige Genealogen auf die Vorväter hinwiesen, die Weber oder Arbeiter gewesen waren (Berengo 1975:31). In der Hauptstadt der Toskana folgte auf die Angleichung innerhalb des Standes während des Prinzipats der Medici eine Subordination des Adels, allerdings in der Form eines Kompromisses, indem man denselben mit Ämtern ausstattete und gleichzeitig die Bindungen an den Hof festigte. Da die oberen Ränge der Magistraturen weiterhin an den Zensus gebunden waren, blieben die politischen Vorrechte der Oberschicht im wesentlichen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erhalten, wenngleich der Kreis der Wahlberechtigten niemals fest geschlossen war. Unterschieden wurde zwischen alten Geschlechtern, die schon vor 1532 passiv wahlberechtigt waren (magnati), und jüngeren Familien (nobili). Unterhalb dieser im Libro d'Oro eingetragenen Oberschicht rangierten die wohl amtsfähigen, aber nichtadeligen Cittadini. Die Dominanz des
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alten Patriziats erhellt schon aus der Tatsache, daß von den 650 zwischen 1532 und 1782 in den Senat nominierten Personen - darunter etwa 28 Capponi und 20 Strozzi - 85% aus Familien stammten, die der Patrizierdefinition (von 1750) entsprachen. Im Jahre 1800 standen 382 patrizischen Familien aus 292 Häusern (casate) 133 solche der Nobili gegenüber (Litchfield 1986:bes. 127-261). Ein Merkmal der adeligen Elite der großen italienischen Städte war die Verbindung von Landbesitz und Handel, d.h. von feudalen Renten und Geschäftseinkünften. Adeliger Stand korrespondierte eher mit der Zugehörigkeit zu einem alten Sippenverband als mit Akten individueller Nobilitierung, für die vor allem in Norditalien der Kaiser als zuständige Instanz schrittweise abhanden gekommen war (Friedrichs 1995:189). Anders lag die Situation im Süden, wo der Papst oder der König von Neapel-Sizilien zwar als Souveräne außer Streit standen, die Stadtherrschaft adeliger Patriziate aber schon im Mittelalter durch Organe der staatlichen Zentralverwaltung begrenzt war. Dieser formale Unterschied sollte allerdings nicht überbewertet werden. Grundsätzlich waren die Machtmechanismen und -ziele im Falle der Republiken und der Städte innerhalb der Fürstentümer und Königreiche weitgehend dieselben. Der Adel genoß wirtschaftliche und soziale Privilegien, oftmals auch solche der Rechtsprechung, die ihn über die übrigen Teile der Gesellschaft emporhoben (F. Saba in Fischer 1986:685). So besorgten in Neapel Delegierte der fünf lokalen Adelsgruppen (seggi, piazze) das Stadtregiment, wogegen nur ein Seggio vom Volk gebildet wurde (Villari 1993:23; Marin 1996:145). Beispiele für geschlossene Eliten, sei es in der strengen Form Venedigs oder in der eher durchlässigen von Florenz, finden sich auch in Städtelandschaften nördlich der Alpen. Vereinfachend läßt sich wohl ein Zusammenhang zwischen einer Stadtautonomie auf hohem Niveau und der Ausbildung (adeliger) Patriziate, gekennzeichnet durch die wechselseitige Abhängigkeit von politischer Berechtigung und sozialer Vorrangstellung, festmachen. Es sind vor allem die Führungsschichten einzelner deutscher Reichsstädte („Stadtrepubliken"), die sich für einen Vergleich mit dem italienischen Stadtadel in besonderer Weise eignen. Auch wurde der gelehrte wissenschaftliche Ordnungsbegriff „patricii'VPatriziat für die Angehörigen der Nürnberger „Geschlechter" zuerst vom Juristen Dr. Christoph Scheuerl in deutlicher Anlehnung an römische Verfassungszustände, den geburtsständischen altrömischen Adel, verwendet. Bezeichnenderweise setzte sich das als „Stadtadel" rückübersetzte Wort Patriziat erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in seiner vollen Breite durch (Isenmann 1988:276).
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Das grundsätzliche Bestreben der sozio-politischen Eliten größerer deutscher Reichsstädte, sich als geschlossene Patriziate mit adeligem oder quasi-adeligem Status zu behaupten, war nur in wenigen Fällen erfolgreich. Herausgegriffen seien die Beispiele Nürnberg, Frankfurt am Main und Augsburg. In der Bischofsstadt Münster erreichte die elitäre Schicht der „Erbmänner" die Anerkennung als westfälische Ritter erst 1715 nach mehr als 150jährigen Bemühungen (H. Lahrkamp in Rössler 1968:195-207). Für Nürnberg, wo mit der Ergänzung der Oberschicht um Gesellschafter der großen Firmen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der veränderten ökonomischen Rangordnung Rechnung getragen worden war, bedeutete das Tanzstatut der Älteren Herren von 1521 die Schließung des Patriziats als Geburtsstand. Es nennt bei gleichzeitigem Hinweis auf eine interne, auf Alter und Vornehmheit begründete Rangordnung 43 Geschlechter, die zum Tanz auf dem Rathaus geladen werden müssen, und gewährt Sonderkonditionen für mit denselben verwandte Familien. Wurde die Abschließung als Reaktion auf spätmittelalterliche Distanzierungsversuche des niederen Landadels interpretiert, so gelang es den Nobiles Norimbergenses 1697 schließlich selbst, von Leopold I. die „Bestätigung" des adeligen Standes (Edel) und des ausschließlichen Rechts zur Besetzung des Rates sowie zur Kooptation zu erhalten. Allerdings wurden bis 1728 mit einer Ausnahme keine neuen Familien zugelassen, so daß sich die mittelalterliche Ordnung - bei Schrumpfung der Familienzahl auf 22 - bis zur Verfassungsreform von 1794 behaupten konnte (Hofmann 1966; Hirschmann 1968; vgl. auch R. Endres in Krüger 1988:141-167). Zur Abgrenzung des Patriziats gegenüber den übrigen sozialen Schichten der Stadt wurde die Forderung nach standesgemäßer Lebensweise, d.h. Enthaltung von bürgerlicher Erwerbstätigkeit, Übergang zu adeligen Lebensformen, der Erwerb von Landgütern und das Eingehen von Turnier- und Ehegemeinschaften mit dem Landadel, aufgestellt. Dies bedeutete insbesondere eine Absperrung gegen den nichtpatrizischen, aber oftmals sehr vermögenden Großhandel. So vermochte das auf einem Schließungsakt von 1383 basierende Augsburger Patriziat seine Exklusivität bis ins erste Drittel des 16. Jahrhunderts aufrecht zu erhalten. Erst nach mehrfacher Aufforderung durch den Kaiser und zufolge biologisch bedingter Dezimierung von etwa 50 auf zehn Familien öffnete man 1538 den Zutritt für 39 Familien, darunter - als eklatantes Beispiel für den Bestand sozio-politischer Aufstiegsbarrieren - die Fugger als Europas damals reichste Kaufleute, die bereits 1530 in den Reichsgrafenstand erhoben worden waren (Bätori
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1969:18-21). Im 17. Jahrhundert erfolgten Neuaufnahmen auf Betreiben Kaiser Ferdinands III. sowie König Gustav Adolfs von Schweden unter konfessionell diametralem Vorzeichen, nach 1649 bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit im Umfang von 23 Familien. Zählten Nürnberg und zeitweilig auch Augsburg sowie Ulm zur Gruppe der Städte mit streng geschlossenen Patriziergesellschaften, so entsprach Frankfurt am Main - wie Lindau, Ravensburg oder Rottweil - jenem Typ, wo trotz grundsätzlicher Schließung Aufnahmen möglich waren (vgl. auch Bätori 1975:bes.20). Hier hatte sich schon 1357 die Patriziergesellschaft „Alten Limpurg" gebildet, die zu Beginn der Neuzeit mit Erfolg die Majorität der Ratssitze für sich beanspruchte. Obwohl mehrheitlich von Kaufmannsfamilien abstammend, distanzierte sie sich zunehmend vom Handelsgeschäft; Bewerbern, deren Väter oder Großväter im Handwerk oder Detailhandel tätig waren, blieb entsprechend dem Statut von 1584 der Zutritt verwehrt. Gesellschaftlich konnte sie wohl ihren Standard aufrechterhalten, politisch, d.h. hinsichtlich der Besetzung der Ratssitze, war sie hingegen zufolge oppositioneller Bürgerbewegungen im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts (vgl. Kap. IV) zu Zugeständnissen gezwungen (Soliday 1974:231-236). Wie Augsburg mit der „Gesellschaft der Mehrer der Geschlechter" bildete Frankfurt am Main mit der Frauensteingeseilschaft ein Beispiel für Städte, wo sich eine deutlich abgrenzte Schicht von Subpatriziern ausbildete, die sich sozialhierarchisch zwischen Patriziat und Bürgerschaft schob. Wenn in Frankfurt neben den von Alt-Limpurg und Frauenstein besetzten Ratssitzen (zwischen 1612 und 1714 47% und 27%) auch Akademikern Plätze zugewiesen wurden, so beweist dies wohl, daß diese den Patriziern nach Bildung und Herkunft näher standen als die Kaufleute (Francois 1985a:69). Im Gegensatz zu den eben genannten Beispielen stehen Städte, und diese waren eindeutig in der Mehrheit, in denen es nicht zur Bildung einer organisierten Patriziergesellschaft gekommen ist bzw. die durch die Existenz einer offenen Oberschicht gekennzeichnet waren. Der Zugang konnte hier über den ökonomischen Aufstiegsmechanismus, zumeist in Verbindung mit patrizischem Konnubium, oder - wie bereits gezeigt wurde - über Intervention des Hofes erfolgen. Mitunter war eine bestimmte Dauer der Ansässigkeit eine weitere Voraussetzung. BÜRGERLICHE
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Die Frage, ob in einzelnen Städten eine patrizisch-geburtsständische oder eine bürgerlich-berufsständische Ober- und Führungsschicht
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vorlag, kann nicht immer eindeutig entschieden werden (Isenmann 1988:282). Dies gilt im besonderen für einzelne Hansestädte im Ostseeraum. Wohl gab es auch hier seit dem Spätmittelalter eine reiche städtische Führungsschicht mit Abschlußtendenzen, wie in Lübeck in der Zirkelkompanie, in Danzig im Artushof oder in den Gilden Revals und Rigas, doch war die Fluktuation in den Eliten erheblich stärker als etwa in Süddeutschland, und das kaufmännische Element behauptete sich länger gegenüber der adeligen Attitude (Cowan 1986:193f). Wie H. Schilling (1985) gezeigt hat, erfuhr die politische bürgerliche Elite im deutschen Nordwesten durch „drei miteinander verkoppelte Wandlungs- und Differenzierungsprozesse eine neue, ihre frühneuzeitliche Gestalt": durch von Ort zu Ort zeitlich unterschiedliche Veränderungen in der sozialen Rekrutierung der Ratsgremien, durch das allmähliche Vordringen von zumeist juristisch gebildeten Akademikern vom Rand in das Zentrum der Machtausübung und durch die Entstehung eines territorialen Beamtenbürgertums, das sich in Selbstverständnis und Funktionen von den Führungsschichten der mittelalterlichen Städte unterschied. Im Kontrast zu den zur geburtsständischen Schließung hin tendierenden Patriziaten des 15. Jahrhunderts bildete sich im 16. in zahlreichen Städten Nordwestdeutschlands eine relativ offene, aktiv im Wirtschaftsleben stehende, sich vielfach aus den Gilden rekrutierende und mit dem Kunstwort „Honoratiorentum" bezeichnete Elite aus. Die Ereignisse der Reformation wurden als beschleunigender Faktor innerhalb dieses langfristig und zeitverschoben zu fassenden Transformationsprozesses angesprochen. Ein weiterer ergab sich aus den mit dem dynamischen Aufstieg des Atlantikraums resultierenden ökonomischen Veränderungen, welche die Entwicklung eines neuen Kaufmannstyps sowie des als Vermittler zwischen - vielfach ländlicher - Produktion und Distribution auftretenden Verleger-Unternehmers schufen. Eine Ausnahme bildete dabei Hamburg, das niemals Ratsgeschlechter im engeren Sinne kannte und sein weit ins Mittelalter zurückreichendes aktives „Kaufmannshonoratiorentum" beibehielt, wobei sogar die in den Rat eindringenden Juristen über Familienkontakte mit Handel und Seefahrt verbunden waren (Schilling 1985:5f). Der im Laufe des 17. Jahrhunderts folgende Übergang vom „Honoratiorentum" zur „Beamtenaristokratie" erfolgte in Zusammenhang mit den Bestrebungen des Fürstenstaats, den Anspruch der stadtbürgerlichen Ratsherren auf autonome Herrschaftsrechte zu beseitigen. Er war somit in erster Linie ein Phänomen der Territorialstädte, und hier wiederum der maßgeblichen. Damit verbunden war eine steigende Pro-
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fessionalisierung, wobei die Mitgliedschaft im Rat zunehmend als Art „Beruf" mit bestimmten Einkünften verstanden wurde (Hildebrandt 1974:235). Die nach dem Prinzip der städtischen Selbstverwaltung auf der Grundlage eines vom Staate delegierten Rechts sich neu formierenden Eliten bestimmten das Bild dann bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, wobei hinsichtlich der politischen, im Falle der Festungsstädte auch der militärischen Belange die traditionelle Rolle des Handels- und Gewerbebürgertums in den Hintergrund gedrängt wurde. Verschränkt mit dem Wandel der Eliten im zeitlichen Verlauf ergaben sich spezifische Sonderentwicklungen. Hierher zählt etwa die Integration von Einwanderern in den oberen gesellschaftlichen Ebenen, vor allem von Hafen-, Messe- oder Residenzstädten. So waren zwischen 1713 und 1815 20% der Oberalten in Hamburg Zuwanderer, in Berlin wurde ein „Ersatzbürgertum" geschaffen, in dem Hugenotten und Juden dominierten, und auch in Frankfurt am Main bildete sich eine merkantile Oberschicht aus Reformierten, katholischen Italienern oder jüdischen Bankiers (Francois 1985a:76-78). In den Residenzen stellten die Beamten der staatlichen Einrichtungen und die daran anschließenden Berufe (Juristen, Advokaten, Ärzte etc.) eine besonders dynamische Gruppierung dar, der es nach anfänglicher Randständigkeit im späteren 18. Jahrhundert gelang, sich ihren Platz in der Elite zu sichern. Die sozialgeschichtliche Forschung hat nun gewisse Übereinstimmungen in der Entwicklung der Eliten in Norddeutschland mit jener in den benachbarten Niederlanden festgestellt. Hier waren im Spätmittelalter erkennbare Tendenzen zur Konzentration der Macht in den Händen einer kleinen sozio-politischen Elite und die Annäherung derselben an die Lebensform des Adels unter dem doppelten Druck der Fürstengewalt und der Zünfte zum Erliegen gekommen (Blockmans 1993). Daraus resultierte ein Defizit an Kontinuität, ein Tatbestand, der sich nach den politischen Ereignissen im ausgehenden 16. Jahrhundert in den nördlichen Provinzen noch erheblich verschärfte. Begünstigte im Süden die Tatsache, daß „Adel und Klerus (nach 1585) als die Standpfeiler der neuen Ordnung hervortraten" (Soly 1991:38), in Verbindung mit den ökonomischen Schwierigkeiten nach 1650/60 die „Privatisierung" des Kaufleuteelements der gehobenen Ebene, so lagen im Norden mit den Auswirkungen der Reformation, dem Autonomiegewinn der Stadtadministrationen und den wirtschaftlichen Erfolgen die Voraussetzungen für die Entstehung neuer Patriziate durchaus günstig. Veränderungen vollzogen sich bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert auf der Grundlage des Zusammenspiels von konfessionellen und sozia-
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len Faktoren. So erreichte im Zuge der Amsterdamer „Alteratie" von 1578 die in Gilden und Milizen zusammengeschlossene Bürgerschaft einen erheblichen Partizipationsschub, und auch in Leiden wurde trotz deutlicher familialer Kontinuität für die Jahre 1572-1574 ein reformatorisch-revolutionärer Elitenaustausch konstatiert (Lamet 1981). Auf diese erste, zufolge der Teilnahme von Vertretern des lokalen Handels und Gewerbes an der Herrschaft noch durchaus bürgerliche Phase bis etwa 1650 folgte in einer zweiten seit dem späteren 17. Jahrhundert die Umformung der merkantilen Eliten in ein „Regentenpatriziat". Im Gegensatz zu den territorialstaatlichen Verhältnissen in Deutschland erfuhren die Juristen, obwohl mit dem Patriziat in enger Verbindung stehend („Dienstämter"), keine ständische Aufwertung (Schilling 1985:15). Die Zunahme der Exklusivität der Ratsgeschlechter vollzog sich auf verschiedenen Ebenen. Zum einen auf der politischen, als die bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts gegebene Offenheit des Zutritts von Homines Novi zu den Ratsgremien schrittweise abgebaut wurde, zum anderen auf der gesellschaftlichen, als eine deutliche Distanzierung gegenüber dem Gros der Bürger eintrat. In dieser Zeit entwickelte sich der Typus des Mynheer, der Grundbesitz (heerlijkheden) und Herrensitze auf dem Land erwarb oder innerhalb erreichbarer Distanz zu den Städten ansehnliche Landhäuser bauen ließ; in den Städten entstanden entlang der Grachten aufwendige Häuser, für die ein zahlreiches Dienstpersonal unterhalten wurde. Akademische Bildung der Söhne und kulturelle Betätigung prägten den Typus eines „bourgeois gentilhomme", der wohl vom Adel Anregungen zur Lebensführung bezog, aber trotzdem nicht zu einem Teil desselben mutierte. Mit der Investition des in Handel und Gewerbe erworbenen Kapitals in Grundstücken korrespondierte vielfach ein Rückzug aus dem bürgerlichen Geschäft, so daß die Zahl der Rentiers anstieg. Der Zwang, die lukrativen Ämter in ihren Kreisen zu behalten, war eine weitere Voraussetzung der Oligarchisierung der neuen Patriziergesellschaft, die bis zum Einmarsch der französischen Heere 1795 und zur folgenden „samtenen" Revolution ihren Anteil an der Regierungsmacht in Stadt und Staat fest in ihren Händen behielt (Gabriels 1985:42f).
SONDERENTWICKLUNGEN: SPANIEN,
FRANKREICH,
ENGLAND
Verläßt man den europäischen Zentralraum (Reich), so zeigen sich bei der Analyse des Begriffspaares Patriziat und Stadtadel gewisse Abweichungen, ohne daß der Zusammenhang zwischen wirtschaftli-
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chem Vorrang und politischem Machtanspruch obsolet würde. Als Reflexion der gegenüber Deutschland, den Niederlanden oder Italien beschränkten Autorität der munizipalen Leitungsgremien waren es in erster Linie solche der Durchlässigkeit in Verbindung mit ökonomischer oder intellektueller Qualifikation. Innerhalb der Königreiche der iberischen Halbinsel unterschieden sich die Gesellschaftsmuster der Städte im Mittelalter zunächst durch die Tatsache, daß jene in Katalonien und Aragon eine vom weiterhin auf dem Land lebenden Adel klar abgesetzte städtische Oberschicht besaßen, die sich aus reichen Kaufleuten, Schiffseignern, Bankiers, Steuerpächtern und (bürgerlichen) Landbesitzern zusammensetzte, wogegen es in Kastilien keine strikte Abgrenzung zwischen dem Patriziat und dem häufig in den Städten lebenden Adeligen (Hidalgos) gab. Bis zum Beginn der Neuzeit hatten sich diese Divergenzen allerdings weitgehend aufgelöst, so daß das Patriziat überall ähnliche Merkmale aufwies: „Es kontrollierte das Stadtregiment, war von Steuern befreit, genoß die Privilegien und Lebensformen der adeligen Ritterschaft, tendierte dazu, mit dem Niederadel zu verschmelzen, und lebte von den Renten, die der Landbesitz einbrachte, ebenso wie von Handel und Kapitalerträgen" (Ladero Queseda 1993). Bemerkenswert erscheint, daß sich trotz der Annäherung an ein System, das dem Adel ein Monopol auf alle wichtigen Positionen innerhalb des Stadtregiments sicherte, die Existenz offener Eliten in mehreren Städten nachweisen läßt. So konnte für Sevilla gezeigt werden (Pike 1972:21-52), daß es reich gewordenen Bürgern durchaus möglich war, in die sozio-politische Oberschicht einzudringen. Der Weg nach oben führte sowohl über den Erwerb von Adelstiteln, welche die Wählbarkeit in die Stadträte in sich schlossen, als auch über den Kauf von Ratssitzen, die für den adeligen Stand qualifizierten. Unter den Newcomers dominierten naturgemäß die Kaufleute, daneben auch jüdische Konvertiten (conversos) und Nachkommen königlicher Beamter. Die im 16. Jahrhundert entsprechend dem dynamischen ökonomischen Wachstum von Sevilla stark gestiegene Mobilität ließ wohl in der Folgezeit mit der Kontraktion der Wirtschaft nach, und es mehrten sich Versuche zur Monopolisierung der Macht, doch hielt das fiskalisch abgesicherte Prinzip des Titel- und Ämterkaufs die Chancen für Aufsteiger am Leben. Letztgenannter Tatbestand ist auch ein Grund für die Offenheit französischer städtischer Eliten, deren Heterogenität schon im ausgehenden Mittelalter vorlag, wobei folgend auch das Ausländerelement in Verbindung mit der konfessionellen Zugehörigkeit zur Desintegration bei-
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trug. Insbesondere war es aber die Existenz von im Namen der Krone agierenden Behörden, die eine Schicht von Juristen und Beamten erzeugte, welche die genuin bürgerliche bzw. bürgerlich-kommerzielle Oberschicht penetrierte (Friedrichs 1995:202). Daneben gab es aber auch Fälle, wo eine klare Trennung zwischen der munizipalen, die Ratsstellen besetzenden Oberschicht einerseits, den mit den verschiedenen Gerichtshöfen korrespondierenden „robe"-Gruppen andererseits erhalten blieb. Beispielsweise bildeten im Toulouse des 16. Jahrhunderts die sich vielfach aus den führenden Waidhändlern rekrutierenden Mitglieder der Stadtbehörde, des Capitoulats, und die Beamten des Parlements scharf unterschiedene Eliten, wenngleich den Vertretern beider Gruppen der adelige Stand eignete und auch über das Konnubium familiale Kontakte bestanden. Mit dem Niedergang des Waidgeschäfts reduzierte sich allerdings die Präsenz von Kaufleuten im Capitoulat, so daß dort zunehmend Juristen und Adelige Einzug hielten. Die adelige Qualität (noblesse de cloche) der Mitglieder seiner Munizipalbehörde teilte Toulouse mit weiteren neun französischen Städten (Schneider 1989a). Trotz der erheblichen Variantenvielfalt wurde hinsichtlich der Anteils des Adels an den städtischen Oberschichten im Ancien Regime für ein zweischichtiges Modell plädiert. Vereinfachend kann gelten, daß in den großen Städten, sowohl mit als auch ohne Parlement, der Adel die führende Stellung einnahm. Nicht nur hinsichtlich des sozialen Prestiges, sondern auch bezogen auf Vermögen und Grundbesitz je Familienoberhaupt. Selbst reiche Kaufleute bildeten dort nur einen nachgereihten Stand (second ordre). So waren in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Lyon die großen Adelsvermögen dreimal so hoch wie jene der großen Kaufleute, und im kleineren Chälons-surMarne besaßen die Adeligen mit dem Anteil eines Fünfzehntels an der Bevölkerung etwa 60% des Nachlaßvermögens (Benedict 1989b:42). Diesem „aristokratischen" Typus stand ein eher „demokratischer" gegenüber, wo der Adel besitzmäßig hinter das Bürgertum, insbesondere das Kaufleutebürgertum, zurücktrat. Diese Variante fand sich neben großen Städten wie Marseille vor allem in mittleren und kleineren (Le Roy Ladurie 1981:401). Unter den Marchands dominierte naturgemäß der Groß- und Fernhändler, der zumeist über umfangreicheren städtischen und ländlichen Grundbesitz verfügte. Sondergruppen bildeten ausländische Kaufleute und Bankiers, aber auch reich gewordene Handwerker oder gewerbliche Kollektive, wie die bereits genannten Pariser Six corps des marchands (Mieck 1982:104f). Generell bildeten ökonomische Konjunkturen und die Präsenz des Staates auf lokaler Ebene zentrale Parameter für die Zusammenset-
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zung der städtischen Eliten, für Aufstiegschancen und vielfach den Ersatz der einen durch eine andere Gruppe. Trotzdem haben die Retardierung der staatlichen Expansion und die Dynamisierung von Handel und Industrie im 18. Jahrhundert kaum zu einem Rückgang des Adels- und Rentierselements in den Städten geführt, zumal steigende Agrareinkommen ein zivilisatorische und kulturelle Anreize bietendes Stadtleben begünstigten (Benedict 1989b:40). Dem abschließenden Blick auf die Urbanen Eliten in England ist zunächst die Erinnerung an die bescheidene Dimension der insularen Städte während des 16. und eines großen Teils des 17. Jahrhunderts voranzustellen. Im weiteren erscheint vorwegnehmend die Feststellung angebracht, daß im Gegensatz zu allen bisher behandelten Regionen der Adelsrang innerhalb der städtischen Oberschichten nahezu keine Bedeutung besaß. „The English peerage ... encompassed such a small segment of the population that even the most prosperous merchant would have been wasting his time to fantasize about joining it" (Friedrichs 1995:191). Faßt man freilich die englische Gentry als einen mit einer Reihe kontinentaler niederer Adelsgesellschaften vergleichbaren Stand auf, so verändern sich die Relationen. Die Blüte des Tuchgeschäfts in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts begünstigte die Entstehung städtischer Eliten, bei denen sich neuer Reichtum mit der Besetzung der wichtigsten Stadtämter verband. Auf dem Wege von Heiraten wurden familiale Zusammenhänge geschaffen, ohne daß es allerdings zur Ausbildung über mehrere Generationen reichender Ratsdynastien gekommen wäre. Dies gilt beispielsweise für Worcester oder auch für York, wo sich der Stadtrat aus Kaufleuten, vermögenden Handwerkern sowie Gentry-Familien des Umlandes zusammensetzte, die Teilnahme allerdings mehr durch das Prinzip der Fluktuation als durch jenes der Kontinuität bestimmt war (Dyer 1973:224-226; Palliser 1979:92-110). In der Regel blieben die Urbanen Eliten für jedermann offen, der über größere Mittel und ein entsprechendes Maß an Abkömmlichkeit verfügte. Seit dem späten 16. und im 17. Jahrhundert nahm in Fortsetzung einer ersten, durch die Säkularisierung des geistlichen Besitzes bedingten Welle der Landbesitz in den Händen der neuen Träger des internationalen Handelsgeschäfts zu, doch ist diese Tendenz schon vom quantitativen Aspekt her nicht im Sinne einer Bewegung von städtischen zu ländlich-feudalen Gesellschaftsformen überzubewerten. Vielmehr bildete sich in den größeren Städten aus der Verbindung von Handel und permanentem Finanzgeschäft eine in Vermögen und Lebensformen der Gentry ähnliche, allerdings stadtsässige Gesellschafts-
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schicht (grundlegend Mingay 1976). Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurden die Verbindungen zwischen der städtischen und der ländlichen Oberschicht intensiver, insbesondere dadurch, daß junge Angehörige der Countyeliten in städtische Geschäfte eintraten, aber auch erfolgreiche Kaufleute zu Landedelleuten wurden. Für London war schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts die soziale Gleichrangigkeit der führenden Familien der City mit der englischen Landbesitzergesellschaft weitgehend akzeptiert (Corfield 1982:130). Der zunehmende Kontakt zwischen ländlichen und städtischen Führungsschichten führte von Assimilationsprozessen, die sich etwa in der Annahme des Titels „Master" oder „Gentleman" durch die städtischen Regierer äußern - die formale Erhebung zum Adeligen (knight) findet sich hingegen erheblich seltener -, bis zu einer vollkommenen Beherrschung, insbesondere der Landstädte, durch residierende GentryFamilien und Angehörige der gehobenen Lokalverwaltung. Die in großen Teilen des Kontinents feststellbare Inkompatibilität zwischen adeligem Status und bürgerlichen, vor allem merkantilen Geschäften blieb in England allerdings ohne Bedeutung (Clark-Slack 1976:120). Die Charakterisierung der Oberschicht englischer Städte als weitgehend offene Eliten schließt nicht aus, daß bestimmte Voraussetzungen den Zutritt für den Newcomer erleichterten. Neben dem Vermögen waren dies in erster Linie Einheirat in sozial gehobene Familien, der Besitz eines Titels oder die Zugehörigkeit zu einem qualifizierenden Verband, einem Trinkklub oder einer Bruderschaft. In vielen Städten war es üblich, freie Positionen eher mit Newcomers als mit Langsamaufsteigern zu füllen (Clark/Slack 1976:119). Dies gilt auch für das fortgeschrittene 18. Jahrhundert, als zu den Großkaufleuten als dem Kern der englischen gehobenen Stadtgesellschaft die führenden industriellen Kapitalisten, aber auch Juristen und Doktoren hinzutraten (Corfield 1982:13 lf). Aber nicht allen gelang die vollständige Integration. Mit Recht wurde auf den hohen Anteil von protestantischen Dissidenten innerhalb dieser neuen Unternehmerschaft hingewiesen und darin eine gewisse Parallele zum so bezeichneten „frühneuzeitlichen Wirtschaftsbürgertum" in deutschen Städten gesehen (Schilling 1985:25f). Nicht selten ging der rasch akkumulierte Besitz auch wieder verloren. Aufstiegsmuster korrespondierten sowohl mit dem Eintritt in die Reihe der Landbesitzer als auch mit horizontaler Mobilität, etwa der Niederlassung in der Metropole oder in Bath (Corfield 1993). Die vor allem für England gemachte Feststellung, daß in der offenen Form der städtischen Elite die wirtschaftliche Qualifikation, zu der weitere Faktoren hinzutreten konnten, die bestimmende Konstante
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blieb, führt weg vom „Patriziat" als Sondererscheinung. Dies gilt insbesondere auch in quantitativer Hinsicht, als in der Mehrzahl der europäischen Städte gesellschaftliche Gruppen schon aus biologischen Gründen kaum imstande waren, politische Monopole in Verbindung mit exklusivem Sozialprestige über längere Zeit zu behaupten. Die Existenz von Urbanen Eliten als einer nach Region, Zeit und Umständen wechselnden Führungsschicht wird hingegen freilich außer Streit zu stellen sein. Sie wird sich als gesellschaftliche Kategorie von der kleinen österreichischen Ackerbürgerstadt mit ihren um den Marktplatz angesiedelten Besitzbürgern ebenso finden wie in einer französischen Hafenstadt mit Kaufleuten und Schiffseignern oder einer jungen deutschen Residenz, wo hofzugewandte Gruppen jene der älteren Eliten überlagerten (Klueting 1993:23-27). VARIANTEN STÄDTISCHER MITTELSCHICHTEN Der Oberschicht, sei es in der Form adeliger Patriziate oder eher zur Offenheit tendierender Eliten, wären nun entsprechend der eingangs skizzierten Gliederung die städtischen Mittelschichten gegenüberzustellen (E. Maschke in Maschke/Sydow 1972:1-31; Mieck 1982:106f; Le Roy Ladurie 1981:411-417, u.a.). Dabei erscheint es geradezu als Paradoxon, daß sich jene Sozialschicht, der anfangs und in zahlreichen Städten auch durch längere Zeit der weitaus größte Teil der städtischen Bevölkerung zuzurechnen ist, einer übersichtlichen Klassifizierung weitgehend entzieht. Dies gilt schon hinsichtlich einer räumlich beschränkten Städtelandschaft, umsomehr innerhalb von Großregionen, wie sie die hier behandelten Teile Europas darstellen. Elemente der Qualifikation für die Mittelschicht werden sowohl im ständischen Bereich zu suchen sein, der Zugehörigkeit zur Bürgerschaft im engeren Sinn mit den daraus resultierenden politischen Berechtigungen, als auch im ökonomischen, wobei hier das Berufseinkommen, sei es aus merkantiler oder handwerklich-gewerblicher Tätigkeit, einen von jenem der Unterschichten sich klar abhebenden Lebensstandard gewährleisten sollte. Dieses Grundmuster konnte freilich nach Raum, Zeit und Stadttyp variieren und unterlag erheblichen Schwankungen. In Frankfurt am Main erließ der Magistrat 1621 eine Ordnung, in der die Einwohnerschaft in fünf Rechtsstände gegliedert wurde: Der erste umfaßte die alten patrizischen Familien mit quasi-adeligem Status, der zweite die nichtpatrizischen Mitglieder des Stadtrates, zusammen mit anderen hervorragenden Bürgern und Kaufleuten. Der dritte Stand
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wurde von gehobenen Einzelhändlern und Juristen gebildet, im vierten, dem umfassendsten, folgten die übrigen Händler und alle Handwerker, im fünften die ungelernten Lohnarbeiter und alle übrigen. Spätere Revisionen (1671, 1731) nahmen Präzisierungen vor und signalisieren eine Zunahme des Qualifikationsfaktors Reichtum (Soliday 1974:61-65). Eine vergleichbare Gliederung in sechs Stände, von den Angehörigen der alten Geschlechter über Kaufleute unterschiedlichen Reichtums und politischer Qualifikation herunter zu den einfachen Krämern und Handwerkern sowie letztlich den Handwerksgesellen, Dienstknechten und -mägden findet sich in einer zuletzt 1693 vom Nürnberger Rat herausgegebenen Kleiderordnung wieder (R. Endres in Frühsorge/Klueting/Kopitzsch 1993:48). Der besondere Rang staatlicher Funktionäre innerhalb der städtischen Gesellschaft erhellt aus dem Reglement, das im 18. Jahrhundert die Teilnahme an Festivitäten und öffentlichen Sitzungen des Capitols von Toulouse regelte: Hier rangierten die Jurisdictions, d.h. die leitenden Beamten der staatlichen Verwaltung, der Senechausee, der Gewässerund Waldbehörde, des Münzgerichts und der Börse, vor den Freien Berufen als Vertretern der Universität, den Advokaten des Parlements, der medizinischen Fakultät, den Beamten der Münze, den Prokuratoren von Parlement und Seneschall, den Notaren usw. Die dritte Schicht bildete das kommerzielle Korps, die Großkaufleute (Grand Tableau) und die Händler (Petit Tableau), die vierte die Bourgeois oder Rentner. Es folgten die Handwerker und Gewerbetreibenden, die in insgesamt 81 Zünften zusammengefaßt waren, und zuletzt als größte Gruppe die Nichtkorporierten. Der klare Vorrang (berufs-)ständischer Kriterien vor solchen des Einkommens oder Vermögens ist unverkennbar (Le Roy Ladurie 1981:408). Wieder andere Ordnungsprinzien werden wirksam, wenn vor dem Hintergrund einer auf das gesamte Staatswesen abgestellten „Polizey" die städtische Einwohnerschaft nur als Teil eines umfassender gedachten Untertanenbegriffs figurierte. So beispielsweise in der 1671 für die österreichischen Länder erlassenen Polizeiordnung Leopolds I., von der die „oberen Stände" (Prälaten, Adel und Ritterschaft) ausgenommen, die diesen Nachgeordneten aber in fünf Klassen eingeteilt wurden. Ohne auf Details eingehen zu wollen, wird deutlich, daß der „Dienst", insbesondere der Hofdienst, die zentrale Kategorie bildete und die Stellung im Produktionsprozeß sowie das Vermögen in den Hintergrund traten. So erscheint das Gros der Stadtbevölkerung im alten und engeren Sinne, die gemeinen Bürger und Handwerksleute, im gesellschaftlichen Rang eines Torstehers oder Sesselträgers, die
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vornehmen bürgerlichen Handelsleute in jenem eines Gardesoldaten, Tafeldeckers oder Trompeters des Hofes (Bruckmüller 1985:277f). In Anbetracht der beträchtlichen Variantenbreite städtischer Sozialstrukturen soll von den oben angesprochenen Lagemerkmalen der Mittelschichtangehörigen insbesondere auf jenes der beruflichen Selbständigkeit und der fachlichen Berufsausbildung ausführlicher eingegangen werden, nicht zuletzt deshalb, weil es die engste Verbindung zur Ausbildung genossenschaftlicher Substrukturen aufweist. Vielfach war der im lokalen oder regionalen Bereich tätige Kaufmann, mehrheitlich der Handwerker oder Gewerbetreibende Mitglied einer Zunft oder Gilde, wobei allerdings räumliche und inhaltliche Differenzierungen gegeben waren (vgl. zuletzt Cerutti 1990; Crossick 1997). Hinsichtlich des politischen Gewichts bestand etwa ein deutliches Gefälle zwischen den Handwerkervereinigungen im Reich und jenen des Mittelmeergebiets, in dessen Städtelandschaften in den Viertelsverbänden stärker das Prinzip der Nachbarschaft wirksam wurde. Zufolge des adeligen Elitecharakters der Oberschicht waren hier insbesondere die Übergänge nach unten fließend. Positionsbestimmend wirkten Vermögen und Einkommen, zu dem in der Mehrzahl der Städte seit dem 16. Jahrhundert aufgrund der Steuerlisten Informationen vorliegen, die Verfügung über Gesinde oder - wie in Südspanien - ausnahmsweise über Sklaven. Die Handwerksverbände des französischen und des englischen Königsreichs nahmen bezogen auf ihre politische Bedeutung eine Mittelstellung zwischen den genannten Polen ein. Im Falle des Reiches ist schon für das Spätmittelalter festgestellt worden, daß die sozialen Unterschiede zwischen Kaufleuten und Handwerkern mitunter so erheblich waren, daß von zwei Mittelschichten gesprochen werden kann, wobei die Grenzen nicht nur die kommerziellen von den manuellen Zünften und Berufen trennten, sondern aufgrund der Betätigung von Handwerkern im Handel auch durch die untere der beiden Schichten hindurchgingen (E. Maschke in Maschke/Sydow 1972:30). Dieses Bedeutungsgefälle bestand auch in jenen Städten, wo die Zünfte am Rat beteiligt waren, zumal sich die Kaufleute nicht nur durch größere berufliche Beweglichkeit, sondern in der Regel auch durch höhere Vermögen auszeichneten, was ihnen bessere Startplätze im Rahmen von Aufstiegsvorgängen sicherte. Mit der um die Mitte des 16. Jahrhunderts in zahlreichen oberdeutschen Reichsstädten erfolgten Ersetzung der Zunftregimenter durch patrizische und der Aufhebung von Ämtern, Gilden und Zünften waren diese allerdings nur als Träger der politischen Macht beseitigt oder dem Rat untergeordnet worden. Als unpolitische bzw. halbpolitische
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Vereine bestanden sie vielfach fort. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert sind dann mehrere Typen gildemäßiger Zusammenschlüsse zu unterscheiden (Walker 1971:73-107). Zum ersten solche, deren Wirkungsbereich auf den ökonomischen Sektor beschränkt blieb, wie etwa die oberdeutschen Kaufleutezünfte. Ihre Rolle wurde auch im wirtschaftlichen Bereich durch das Aufkommen der großen Handelsgesellschaften mit ihrem ausgedehnten Faktoreinetz eingeschränkt. Im hanseatischen Bereich wiederum spielten die Kaufleutegilden entweder in „demokratischen" Städten selbst die Führungsrolle, oder sie bildeten in „aristokratischen" die Opposition zum Rat. Mischzünfte von Kaufleuten und im Handel tätigen Handwerkern waren ebenso eine häufige Erscheinung wie Koalitionen mit dem Handwerk oder Teilen desselben. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde weiters eine Vielzahl von Handwerkszünften auf ihre berufsordnende und sozial-kultische Funktion beschränkt, ohne daß allerdings diese Reduktion in jedem Fall von Dauer gewesen wäre, traten doch nach und nach eine Reihe von Zünften, die ihren politischen Einfluß wiedererlangen konnten, zu jenen, die ihn bewahrt hatten, hinzu. Sie sind dann entweder als Gliederungsprinzip der Gesamtbevölkerung oder von Teilen derselben aufzufassen. So hatten in Köln die Zünfte(bürgerschaft) in den 22 Gaffeln ihre Vertretung, die auch nach einem festen Schema 36 Personen für den Rat nominierten. Im zünftlerischen Lübeck (seit 1665 bzw. 1669) setzte sich der Rat aus vier Bürgermeistern und 16 Ratsherren zusammen, von denen acht aus den Zünften, drei aus der Zirkel-, drei aus der Kaufleutekompanie und zwei aus den Gelehrten genommen wurden (Asch 1961). In Königsberg gab es neben dem großteils juristischen Kreis der Ratsmitglieder zwei Bürgerstände, die „Großbürgerzünfte" der Kaufleute und Mälzerbrauer und die „Kleinbürger'-Gewerken. Es wurde darauf verwiesen, daß die Grenzen zwischen Kaufleuten und wohlhabenden Handwerkern bzw. ihren Berufsvereinigungen unscharf sein konnten, wie natürlich auch beträchtliche Unterschiede bezüglich der ökonomischen und politischen Rangigkeit der einzelnen Zünfte bestanden. In Städten mit hohem Stellenwert der Produktion vermochten einzelne Zünfte, insbesondere wenn sie den Absatz in die Hand bekamen, zumeist auch das Stadtregiment an sich zu ziehen (Brauer in Preußen, Ehrbarkeit der Landstädte im Südwesten). Auch Besitz- und Bildungsbürgertum blieben in ihren Heiratskreisen mit Handel und Handwerk verknüpft. Eine Vielzahl von Handwerkern am unteren ökonomischen Rand sahen sich hingegen permanent der Gefahr der Pauperisierung gegenüber. Hier genügte ein
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kurzfristiger Konjunkturabschwung oder eine sich im Rahmen der Proto-Industrialisierung verschärfende Konkurrenzsituation, um sie rasch unter die Armutsgrenze zu drücken (Ebeling 1993:76). Die Verbindung von Gewerbe mit eigener Landwirtschaft, mit Weinbau oder Hausbrauerei war ein Kennzeichen vieler kleiner, sozial nur schwach differenzierter Landstädte. Die bisherigen Aussagen betrafen im wesentlichen Zustände und Entwicklungen innerhalb traditioneller Stadtbilder. Neue Typen, wie sie sich etwa mit der Ausformung städtischer Residenzen oder Festungen seit dem 16./17. Jahrhundert ergeben haben, lassen sich dagegen im entwickelten Bild kaum einordnen. So wirkte sich in der Residenzstadt der Gegensatz zwischen elitär-oligarchischem Rat und Bürgerschaft wohl schwächer aus als jener zwischen eingesessenen Bürgern und zugezogenen Hofleuten; dasselbe gilt für das Verhältnis zwischen Bürgerschaft sowie Militär und Beamten in der Mehrzahl der Festungsstädte (Czok 1981:32). Neugründungen mangelte es vielfach an den ökonomischen Voraussetzungen, die eine rasche vertikale Sozialdifferenzierung zur Folge gehabt hätten, während in anderen Fällen - wie etwa bei der Bergstadt - das am Anfang gegebene gegensätzliche Rollenbild von Unternehmern und Arbeitern bei weitgehendem Fehlen einer Mittelschicht mit dem Abschwung der Konjunktur einer Statusannäherung Platz machte. Die Reagrarisierung von Städten mit einseitigen Wirtschaftsfunktionen ist keine Seltenheit. Auch das Fehlen des Rechts auf Selbstverwaltung (z.B. Karlsruhe 1715) wirkte nivellierend auf die innerstädtische Gliederung; mit der Forderung eines Mindestvermögens für Ansiedler (Ludwigsburg 1712 1.000 Taler) sollten bestimmte Einkommensgruppen von vornherein von der Stadt ferngehalten werden. Daß dies oftmals nicht gelungen ist, zeigt die bald nach der Stadtgründung erfolgte Einrichtung von Armenhäusern, Zucht-, Arbeits- und Waisenhäusern etc. Wie stark fremdkonfessionelle Kräfte als Katalysator der Wirtschaft und damit auch der Gesellschaftsstruktur wirken konnten, wurde vermerkt (vgl. Kap. II); auch bei der Flüchtlingsstadt wird mit einer Kopierung aus der Erfahrung lebendiger Verfassungsmuster zu rechnen sein, wenngleich das „gemeinsame Schicksal" der Neusiedler ein rasches Anwachsen sozialer Unterschiede zunächst verhinderte und man von hier aus dem Staatsprinzip der Schaffung eines einheitlichen Untertanenstandes wesentlich entgegenkam. Fehlte die Flüchtlingskomponente, so waren doch Beamte und Soldaten als ganz neue, die städtische Sozial- und Verfassungsstruktur verändernde Elemente wirksam. Die Tendenz einer Bürokratisierung und
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Militarisierung bei gleichzeitiger Aushöhlung der eigentlich bürgerlichen Eigenständigkeit ist Kennzeichen jener Städte, die zu Residenzen umfunktioniert oder als Festungen ausgestaltet wurden. Neue Garnisonsstädte wie Theresienstadt an der Egermündung oder die Neustädte der Militärgrenze entbehrten der überkommenen Bürgergemeinde vollständig (Stoob 1970a:283). Nun ergeben sich zweifellos von jenen Plätzen, die vom 16. bis 18. Jahrhundert zufolge des residierenden Hofes zu städtischer Gestalt und Lebensform gelangten, zur Gruppe der aus Klein- und Mittelstädten erwachsenen Residenzen beträchtliche Unterschiede. Ähnlich verlief hingegen, und dies gilt etwa auch für die „Haupt- und Residenzstadt" Wien als Großstadt, die Zunahme „unbürgerlicher" Bevölkerungsgruppen, die Rückbildung der Selbstverwaltungsrechte, der Anstieg besonderer Konsumbedürfnisse und damit die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Abhängigkeiten. Der alten Ordnung entzogene Produktionsformen (Manufakturen, Arbeitshäuser) veränderten hier stärker als anderswo die gewerbebürgerlichen Einkommensbedingungen. Nach den für Wien geschätzten Zahlen hatten die „hof- und staatszugewandten Sozialgruppen", die um die Mitte des 16. Jahrhunderts nur etwa ein Drittel der Wohnparteien stellten, um 1730 nahezu die Zweidrittelmehrheit erreicht. Eine Eliminierung der bürgerlichen Mittelschicht im Hausbesitz und das Hinausdrängen des zünftisch organisierten Handwerks in die Vorstädte werden faßbar (Lichtenberger 1977:98ff; vgl. auch Klueting 1993:27f). Befanden sich 1566 über 70% des Hausbesitzes in der Hand des Bürgertums, so waren es 1664 56%, 1779 nur mehr 45%. Über die 1563 eingeführte Hofquartierspflicht sollte Platz für Adel und Beamtenschaft geschaffen werden. Der hohe Stellenwert des Beamtenelements läßt sich auch für eine Reihe westeuropäischer Hauptstädte festmachen. So zählte London um 1725 etwa 2.700 Berufsbeamte, das deutlich kleinere Madrid um die Mitte des 18. Jahrhunderts etwa 3.000. In Paris wohnten ein Drittel der königlichen Beamten im Zentrum, zusammen mit den Militärund Zivilbeamten machten sie dort 1749 ein Zehntel der Bevölkerung aus (Clark/Lepetit 1996:4). Waren im Falle der Residenzstadt Adel und Bürokratie die Träger der neuen Entwicklung, so bildete bei den Festungs- und späteren Garnisonsstädten das Militär ein zahlenmäßig rasch zunehmendes Element. Die überkommene Bürgergemeinde wurde gezwungen, sich gesellschaftlich und wirtschaftlich auf dieses einzustellen. In Preußen setzte die angesprochene Entwicklung im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges ein. Sukzessive erfolgte die Übertragung der effektiven Amts-
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gewalt von den bürgerschaftlichen Organen auf Stadtkommandant und Behördenchef, auch in den der Form nach beibehaltenen Verfassungseinrichtungen setzte sich das militärische Element durch. Direkte staatliche Eingriffe beseitigen den letzten Rest ratsfamiliarer Sonderherrschaft, die Mittelschicht erhielt ein völlig anderes Gesicht, das zufolge der Versetzungspraxis einem stetigen Wandel unterworfen war. Freilich entwickelte auch das „Beamten- und Soldatengewerbe" eine grundsätzlich städtische Lebensart und blieb seinen wirtschaftlich-sozialen und geistigen Interessen nach an die Stadt gebunden (Stoob 1970a:284). Auch in Frankreich bildeten Handwerkerund kleine Händler den Kern der zahlenmäßig dominierenden Mittelschichten. Allerdings besaßen hier die Zünfte und Gilden (corporations de metiers) im Vergleich zu Deutschland deutlich schwächere mittelalterliche Wurzeln. Sie wuchsen sich aber seit dem 15./16. Jahrhundert im Zusammenhang mit königlichen Privilegierungswellen, die sie sowohl der fiskalischen Nutzung als auch der berufsordnenden Kontrolle zuführten, zu einem Instrument sozialer Identifikation aus. Keineswegs standen die Gewerbetreibenden auf der gleichen sozialen Ebene, es gab - wie anderso - nicht nur Abstufungen zwischen selbständigen und verlegten Handwerksmeistern, zwischen einzelnen Meistern innerhalb desselben Gewerbes (hierarchie interne) wie auch zwischen reicheren und ärmeren Handwerken (hierarchie externe), wozu die Feststellung zu addieren ist, daß die Zünfte weder alle Stadtbewohner derselben Profession umfaßten, noch in allen Regionen gleicherweise vertreten waren (nicht in der Provence) (Mieck 1982:106f). Ähnliche Ziele wie die Zünfte verfolgten Bruderschaften, die selteneren Kaufleuteassoziationen sowie die Organisationen der Juristen und Beamten (corps, compagnies, baroche). Jeder dieser Verbände hatte seine feste Position innerhalb der städtischen Gemeinschaft, die nach außen in der Rangabfolge bei Prozessionen, nach innen in der unterschiedlichen Mitwirkung an städtischen Angelegenheiten zum Ausdruck kam. Insgesamt signalisieren sie aber eher die sich zwischen Eliten und Stadtarmut erstreckende Bandbreite gesellschaftlicher Mediokrität als eine Ausgangsbasis für die Teilnahme an der politischen Macht. Hatte die Gegenreformation eine Wiederbelebung der alten Bruderschaften und Kaufleutegilden als vorwiegende Organisationsformen der Mittelschicht gebracht, wobei grundsätzlich ein hohes Maß an Interaktion zwischen den einzelnen Gruppen und Schichten bestand (Benedict 1989b:38), so veränderten sich die Muster im 18. Jahrhun-
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dert erneut. Ökonomisch läßt sich, wie am Beispiel mehrerer Städte (Paris, Toulouse, Lyon, Chartres, Angers) gezeigt worden ist, ein durchgehender Anstieg der Vermögen erkennen. Diesem folgte die Ausbildung einer Form gehobener Mittelschicht (Begüterte - aises), die sich in elitären Vereinigungen wie Klubs, Lesezirkeln und Freimaurerlogen organisierte und im Zusammenhang mit der Aufklärung Ansätze zur Ausbildung eines neuen Bürgertums entwickelte, wogegen der schwindenden Bedeutung des traditionellen Katholizismus und der Tendenz zur Säkularisierung insgesamt auch der Niedergang der Konfraternitäten entsprach (Benedict 1989b:43). Am Vorabend der Revolution besaßen die französischen Städte im Vergleich zur Ausgangssituation am Ende des Mittelalters ein durchaus geändertes Gesicht. Insbesondere hatten sich die Sozialstrukturen nach oben ausgedehnt, Elemente des Adels, Rentiers und Teile der Handelsbourgeoisie besetzten die Übergangszonen von der Mittelschicht zu den eigentlichen Eliten. Neue Formen der Assoziation, des Zusammenlebens und der kulturellen Aktivitäten korrespondierten mit einer wachsenden Unterscheidung zwischen einer „gens de qualite" und dem „menu peuple" (Benedict 1989b:47). In verstärktem Maße muß auch in der offenen englischen Stadtgesellschaft mit Veränderungen bei der Abgrenzung einer Mittelschicht gerechnet werden, wobei ökonomische neben politischen und Statusmerkmalen zu beachten sind. Über die Verteilung von Besitz und Vermögen hinaus war in den meisten Boroughs und inkorporierten Städten vorab die Unterscheidung zwischen den berechtigten Bürgern (freemen) und allen übrigen (foreigners) erheblich. Weitere Abstufungen ergaben sich auch hier zufolge der Mitgliedschaft bei religiösen Gilden und Gewerbeverbänden. Kaufleutegilden (Beispiel Twelve Great Livery Companies in London) waren nicht nur durch eine vermehrte Teilhabe an der Stadtregierung, sondern auch durch einen allgemeinen Prestigevorrang gegenüber den Handwerkerzünften ausgezeichnet. Vielfach entsprachen die Regierer dieser Gilden sogar der ökonomischen und politischen Elite (Clark/Slack 1976:115). Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts verloren nun manche Gilden an Einheitlichkeit, zumal sich die ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder veränderten. Als einflußreiche soziale Clubs blieben sie freilich auch in der Folge erhalten. Sie bildeten dann ebenso wie Sozietäten und Vereine neue Bausteine einer sich zunehmend klassenorientiert entwickelnden Gesellschaft (Borsay 1990:15). Weiters reduzierte sich der direkte Zusammenhang zwischen der Freeman-Qualität und den zunächst damit verbundenen Wirtschaftsvorteilen. Wurde für das
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17. Jahrhundert festgestellt, daß mit zunehmender Polarisierung zwischen Arm und Reich die Mittelschicht ihre Position kaum verbessern konnte, so hat man im 18. Jahrhundert ein Wachstum gerade der Gruppierungen in der Mitte der Gesellschaftspyramide konstatiert. Dies sowohl in zahlenmäßiger Hinsicht als auch bezogen auf den Einfluß und die soziale Einschätzung (Corfield 1982:132). Die Antwort auf die Frage, ob damit auch eine Abschwächung der sozialen Gegensätze eingetreten ist, wurde allerdings offen gelassen. P. Borsay (1990:15) konnte vier Stränge dieser Entwicklung isolieren: eine Zunahme der Zahl und des Einflusses der freien Berufe, besonders zwischen 1680 und 1730, das Aufkommen einer als „Pseudogentry" bezeichneten stadtsässigen Gruppe von Nichtstuern (A. Everitt), ein Anwachsen der Gruppe der Kaufleute, Manufakturisten, Financiers und reichen Händler sowie die Konsolidierung eines Kleinbürgertums, bestehend aus erfolgreichen Handwerkern und Gewerbetreibenden bzw. Geschäftsinhabern. Der gehobene Stellenwert der Mittelschicht im sozialen Gefüge der Stadt reflektiert auch aus zeitgenössischen Bewertungen, wenn etwa 1800 von „the middling, comfortable, modest and moderate, sober and satisfied, industrious and intelligent classes" gesprochen (Rev. J. Larwood) und die Bedeutung der „middling rank of men" für die Stärke des Staatswesens, auch im Vergleich zu anderen Regionen (z.B. Italien), betont wird. Freilich war dieser Sektor der Gesellschaft schon zufolge unterschiedlicher Interessen, Betätigungen und beruflicher Erfahrungen sowohl strukturell als auch entwicklungsgeschichtlich keineswegs homogen. Zu ihm zählten Ladenbesitzer und kleine Geschäftsleute, Handwerker und die untere Schicht der freien Berufe, Autoren und Journalisten, Juristen und Beamte der verschiedenen Verwaltungseinrichtungen. Entscheidend war, daß sich die Mittelschicht zumindest in ökonomisch günstigen Zeiten einer gewissen Unabhängigkeit erfreute, die ihr Investitionen und Geldgeschäfte erlaubte. In Krisenphasen konnten freilich rasch Probleme für die Gruppen am unteren Rand auftauchen (Corfield 1982:133).
UNTERSCHICHTEN,
STADTARMUT
UND
AUSSENSEITER
Ein mit dem frühneuzeitlichen Städtewachstum eng verknüpftes Problem war jenes der Armut. Allerdings läßt es sich, wie viele Fragen sozialer Dimension, nur begrenzt quantifizieren. Die Gründe hiefür sind vielfältig. Einer davon ist die Heterogenität jener Schichten und Gruppen, die mit dem Begriff Armut assoziiert werden. Entsprechend
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Unterschichten,
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Außenseiter
dem bisher zugrunde gelegten Schichtmodell sind dies zum einen alle noch zur Bürgergemeinde im weiteren Sinne zu zählenden Personen, d.h. jene, die vielfach auch das Bürgerrecht besaßen, aufgrund ihres geringen Einkommens oder Vermögens aber qualifizierter politischer Rechte entbehrten. Zu einem Teil waren sie in den Handwerkszünften organisiert, meist arbeiteten sie aber als unzünftische Tagelöhner oder Stückwerker (Gerteis 1986:169). Ersparnis- und Vermögensbildung war kaum möglich. Sofern sie steuerlich überhaupt erfaßt wurden dies war verstärkt dann der Fall, wenn sie über ein Kleinhaus verfügten -, zählten sie zur untersten Steuerklasse. Grundsätzlich seßhaft, konnten sie, im Falle widriger Umstände wie Kriege, Seuchen und Mißernten zufolge der damit verbundenen Teuerungen und Reallohnrückgänge unter das Existenzminimum gedrückt und unterstützungsbedürftig werden (Isenmann 1988:261). Zu unterscheiden von dieser Schicht wirtschaftlich Schwacher sind die eigentlichen Armen und Bedürftigen, die kein Bürgerrecht besaßen und sich im wesentlichen aus Kranken und Behinderten, Alten und Obdachlosen sowie Arbeitslosen und Arbeitsunwilligen zusammensetzten. Der Anteil von Witwen, ledigen Frauen und zunehmend Kindern war hier erheblich, Vagantentum und Fluktuation, vor allem in Regionen, wo das Leben auf der Straße nicht den deutlichen klimatischen Einschränkungen des Nordens unterlag, figurieren als häufige Begleiterscheinung. So machten 1561 in Segovia Frauen 60% der erwachsenen Armen aus, in Medina del Campo gar 83%. Der Kinderanteil lag 1570 in Norwich bei etwa der Hälfte, in Huddersfield 1622 bei 54% (Kamen 1984:168). Mitunter ernährte sich diese Gruppe von Gelegenheitsarbeiten, in der Regel lebte sie aber vom Bettel sowie von Unterstützungen seitens der schon am Ausgang des Mittelalters breit gefächerten Palette privater, kirchlicher und kommunaler Sozialfürsorge. Ein besonderes Phänomen stellten die Berufsbettler auf der einen, die unverschuldet in Armut geratenen Hausarmen oder verschämten Armen auf der anderen Seite dar (Isenmann 1988:261). Im Laufe des 16. Jahrhunderts erfuhr das Problem der Armut in Westeuropa eine dramatische Verschärfung, resultierend aus einander negativ verstärkenden Prozessen wie der Preisrevolution, von Bevölkerungswachstum, sozialem Wandel und politischen Krisen. Auf einigermaßen gesicherten Einzeldaten aufbauende Schätzungen machen einen Anteil der Armen und Bedürftigen von einem Fünftel an der Stadtbevölkerung wahrscheinlich. So wurden im französischen Troyes 1551 17% der Bevölkerung als Bettler und Vagabunden klassifiziert, d.h. ohne Einschluß der ansässigen Armen. Etwa zur gleichen Zeit
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betrug der Armenanteil in Löwen 28, in Brüssel 21 und in Leiden über 40%. In Segovia zählte 1561 ein Sechstel (ohne Unstete) und in Bergamo 1575 mehr als ein Drittel zur armen Bevölkerung (Kamen 1984: 167). Vielfach erklären sich diese hohen Ziffern nicht primär aus einer Pauperisierung der genuinen Stadtbevölkerung, sondern aus einer Zuwanderung vom Land, zumal erhoffte Einkommenschancen oder zumindest gesicherte Nahrungsbedingungen zunehmend LandStadt-Migrationen begünstigten. Armut war zum einen eine religiöse Herausforderung, verstand sich andererseits aber auch als ein die städtische Gemeinschaft als Ganzes tangierendes, eminent soziales Problem, das ein Reagieren notwendig machte. Zufolge der Entwicklung zum Massenphänomen erwiesen sich die bisher angewandten Maßnahmen weitgehend als obsolet. Nach der Publikation des Liber Vagatorum in Deutschland 1510 und der Vertreibung der Vagabunden aus Paris durch das Parlement 1516 läßt das Einsetzen von Bemühungen um Armenversorgung in den 1520er Jahren in ganz Europa die von der neuen Dimension bestimmte Umbruchsphase klar erkennen (vgl. Friedrichs 1995:219). Die Bewegung gegen die Auswüchse der Armut begann in den Städten und erfaßte, oftmals nach mehreren Etappen, schließlich auch die nationale Ebene. Trotz vorhandener Unterschiede innerhalb der einzelnen Kommunen wiesen die angestrebten Reformen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Hierher zählt vor allem die Verhinderung des unbeschränkten öffentlichen Bettels und die Unterscheidung nach Ursache und Voraussetzungen, die zu einer individuellen Bewertung des Einzelfalls und zu Abstufungen hinsichtlich der Unterstützungsansprüche führten. Die Implementierung des Prinzips der Differenzierung verband sich mit einer gesteigerten administrativen Koordination und führte nicht selten zum Aufbau neuer munizipaler Einrichtungen und Strukturen (Friedrichs 1995:220). In zahlreichen Städten ging die Reorganisation der Armenunterstützung Hand in Hand mit der Durchsetzung der Reformation. Obwohl die protestantische Theologie von einer auf Almosen basierenden Heilserwartung abging, verstand sie die Armenfürsorge sowohl als moralische wie auch als praktische Verpflichtung. Dazu kam, daß diese mit der Aufhebung von bisher der Wohlfahrt dienenden geistlichen Einrichtungen den Stadtadministrationen in Konnex mit anderen Aufgaben etwa der Kirchen- und Schul- bis hin zur Stadtorganisation (Gotteskastenordnung des Hamburger Nikolai-Kirchspiels 1527)- verstärkt zufiel. Insgesamt zeichnen sich die Maßnahmen durch einen hohen Grad an Übereinstimmung aus. So untersagte Augsburg bereits 1522
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den Straßenbettel und setzte sechs Armenwächter zur Kontrolle der Armenunterstützung ein. Nürnberg, Straßburg, Breslau, Regensburg und Magdeburg folgten unmittelbar, und bis 1545 hatten etwa sechzig Städte auf dem Kontinent, davon dreißig im Reich und fünfzehn in den Niederlanden, ihre Armenversorgung reformiert. Luther unterstützte die Reorganisation des Armenwesens in Sachsen (1523), Zwingli in Zürich (1526) und Calvin in Genf (1541) (Kamen 1984:180). In katholischen Städten behielt das Problem der aktuellen Krise einen erheblichen Stellenwert, der vielfach durch die Koinzidenz von Hungersnöten, Verknappung und Verteuerung der Lebensmittel und das Hereindrängen von arbeitslosen Zuwanderern vom Land bestimmt wurde. In Venedig, wo bisher die religiösen Bruderschaften (scuole grandi) karitative Aufgaben versehen hatten, begann man 1528 mit dem Aufbau eines Systems von Armenhäusern. Berühmt wurde die im Gefolge der Grande Rebeyne vom April 1529, einer von sozialen und fiskalischen Motiven verstärkten Hungerrevolte, im Jahre 1531 als Behörde eingerichtete Lyoner Aumone-Generale, die Brot und Gelder nach Häuserlisten an die Stadtarmen verteilte. Bemühungen um die Schaffung von Arbeitsplätzen in der aufstrebenden Seidenindustrie (l'art de la soie) sollten die traditionelle Genueser Produktion treffen (Mieck 1982:117). Ähnliche Ämter zur Armenunterstützung gab es auch in Florenz oder Lucca. Vielfach wurde allerdings scharf zwischen armen Fremden und armen Einheimischen unterschieden, wobei es nur für letztere Unterstützung gab, während die übrigen mit Stadtverweis, körperlicher Züchtigung oder Gefängnis rechnen mußten (Venedig 1528/29, Bologna 1548). Daß die Grenzziehung zwischen Fremden (forestieri) und Ansässigen deutlicher ausfiel als jene zwischen wirklichen Armen und arbeitsscheuen Vaganten, wurde als ein Alarmzeichen für eine bestehende oder drohende Überbevölkerung interpretiert. So sprechen die Armenzählungen in Siena in den letzten Jahren der Republik nicht von Vagabunden oder schlechten Armen, sondern von unnützen Mündern. Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts nahm deren Vertreibung einen festen Rhythmus an, als dessen Stimulans anstelle von Konjunkturabschwung und Hungersnot der Verlust des früheren Gleichgewichts zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung getreten war. In Mailand, Venedig, Modena, Florenz und anderen Städten richtete sich der Bann gegen Bravi, Vagabondi, Forfanti, Otiosi, Scrocchi, Malviventi, weiters gegen Birboni, Cantimbanchi, Cerretani. In Bologna (1600) und Modena (1621) ergingen Ordonnanzen gegen alle diejenigen, die keinen Beruf ausübten (Fasano Guarini 1982b:82).
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Das Problem der Armut erreichte gegen Ende des 16. Jahrhunderts auch in englischen Städten einen ersten Höhepunkt, wobei zum älteren, von den Pfarren versorgten und aus Witwen, Waisen und Arbeitsunfähigen bestehenden Typus zunehmend der jüngere der „kräftigen" Armen trat, der sich vorwiegend aus Zugewanderten und Arbeitslosen rekrutierte. Im Gegensatz zu Italien versuchte man allerdings, diese Armen - zum Teil über neue Mechanismen - in die städtische Gesellschaft zu integrieren. Ein Weg hiezu, den man schon nach der Jahrhundertmitte etwa in London, Norwich, York oder Ipswich beschritt, war die Einhebung von Zwangsauflagen, ein anderer - seit den 1570er Jahren - die Gründung von Werk- und Korrektionshäusern. Waren bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts vorwiegend kirchliche Institute Nutznießer des Stiftungswesens, so verlagerte sich das Gewicht in der Folge zunehmend hin zur Armenunterstützung. Zentralisation und verstärkte Kontrolle der parochialen Beamten verweisen vor dem Hintergrund wachsender Verpflichtungen ebenso auf ein Engagement der munizipalen Administrationen wie die Schaffung neuer Institutionen wie etwa der Corporation of the Poor (1649) in London und ähnlicher Korporationen in anderen größeren Städten (Clark/Slack 1976:124). Vergleichbare Züge besaß die Armenpolitik in Frankreich. Hier folgte in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts auf eine Phase günstiger Konjunktur ein tiefgreifender Verfall der Reallöhne, der zur Grundlage eines permanenten Armenproblems mit aggressiven Zügen wurde. Dreizehn Jahre nach der Lyoner Aumöne schuf man in Paris mit dem Grand Bureau des Pauvres eine ähnliche Einrichtung, weitere Städte wie Amiens, Dijon, Poitiers, Rouen, Orange übernahmen in der Folge das System. Als flankierende Maßnahmen ergingen strenge, mit Strafandrohung versehene Vorschriften gegen Bettel und Landstreicherei. 1554 wurde in Paris-Saint-Germain das erste Armenspital gegründet, das als Höpital des Petites Maisons bis zum Ende des Ancien Regime bestand. Eine Unterscheidung zwischen Spitälern zur Versorgung von Kranken und Invaliden sowie Werkhäusern zur Aufnahme arbeitsfähiger Armer zeichnet sich ab, ohne allerdings zum durchgehenden System zu werden, wie die Einrichtung von Großspitälern wie der Pitie in Paris 1612 oder der Charite in Lyon 1614 beweist. Mitunter ging die Differenzierung sogar weiter: 1640 entstanden in Aix-en-Provence die Charite als allgemeines Hospital, die Refuge für Prostituierte und die Providence für Frauen ohne Heim. Trotz mehrerer Versuche einer Lösung des Problems der Armenfürsorge auf nationaler Ebene (1611 u.a.) konzentrierte sich die Kontrolle der Armenunterstützung wie in England zunächst in den Händen der Lokalbehörden; durch die Ordon-
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nanzen von Moulins (1566) und Blois (1579) sollte die Aufbringung der Mittel - über Pfarrsammlungen und Zwangsauflagen - sichergestellt werden. Erst mit der Konsolidierung nach 1650 verstärkte der Staat seine direkte Einflußnahme im Sinne einer forcierten Hospitalisierung. Einen Eindruck von der Dimension vermittelt das 1657 gegründete Pariser Höpital-General, das über 10.000 Insassen zu gleicher Zeit beherbergt hat (Mieck 1982:109f). Ein Edikt von 1662 schrieb dann die Einrichtung von Hopitaux Generaux in jeder Stadt und in jedem Marktflecken vor, und nach 1680 nahm die Gründung von Spitälern rasch zu. Freilich waren die Kosten für deren Unterhalt hoch, und viele Betroffene zogen das unsichere, aber freie Leben der zwangsweisen Sicherheit vor. Nicht grundsätzlich durch wirtschaftliche Merkmale, sondern durch Normen und Werte aus einem Bündel politischer, ökonomischer, religiöser und sozio-kultureller Bedingungen bestimmt waren die städtischen Randgruppen und Außenseiter, wenngleich sich gerade hinsichtlich des Armutssektors der städtischen Gesellschaft deutliche Überschneidungen ergeben. Bettler und Vagabundierende markieren zweifellos einen breiten Übergangsbereich, doch sind auch Dirnen und Spieler, Gaukler und Komödianten hierher zu rechnen. Aufgrund ihrer ethnisch-religiösen Zugehörigkeit wurden Zigeuner und Juden marginalisiert, christliche religiöse Splittergruppen, wie die Wiedertäufer in Mitteleuropa, sahen sich ähnlichen Mechanismen der sozialen Ächtung unterworfen wie nichtchristliche (moslemische) Elemente in Teilen der Mediterranregion. Weiters waren einzelne Berufe und Berufsgruppen mit dem Makel der Unehrlichkeit behaftet. Die Diskriminierung unehrlicher Geburt findet sich vor allem in Handwerk und Gewerbe, Deliktsunehrlichkeit im Falle von Leibesstrafen wiederum besonders innerhalb der Unterschicht (Isenmann 1988:264). Wurde oben auf Überschneidungen zwischen den Phänomenen Armut und Marginalität verwiesen, so gilt dies in ähnlicher Weise für den Grenzbereich zur Kriminalität, dem ja auch der Bettel zunehmend zugeordnet wurde. Es ist evident, daß vor allem in größeren Städten eine Gruppe von Personen zur Sicherung ihrer biologischen Existenz zu Aneignungspraktiken gezwungen war, die in der öffentlichen Meinung als Vergehen oder Verbrechen galten. Eigentumsdelikte fanden daher neben Verbalinjurien und (leichten) Körperverletzungen in allen lokalen Gerichtsprotokollen ihren entsprechenden Niederschlag, mitunter in Verbindung mit Trunkenheit, wie ja auch die zunehmende Zahl von Schenken, Kneipen und Tavernen die Bandenbildung begünstigte. Insgesamt dürfte das Problem der organisierten
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Kriminalität aber selbst in Großstädten wie London noch im 18. Jahrhundert nicht jene Dimension erreicht haben, die von den zeitgenössischen Kritikern mahnend angesprochen wurde (Friedrichs 1995:232; Corfield 1982:144). Koinzidierten Alkoholismusexzesse zumeist mit Zeiten niedriger Getreidepreise - in England beispielsweise in den 1730er- und 1740erJahren, so begünstigten Nahrungsmittelteuerung und Unterbeschäftigung die seit dem späteren 16. Jahrhundert zunehmend an Umfang gewinnenden proletarischen Revolten. Das Konfliktpotential wird etwa am Beispiel von Amiens faßbar, wo 1578 bei einer Gesamteinwohnerzahl von etwa 30.000 ungefähr 6.000 Arbeiter von der Unterstützung der Vermögenden lebten. Hier war Wohltätigkeit wohl nur ein Mittel, um die soziale Unruhe in Grenzen zu halten. Arbeitslosigkeit und Armut erklären die Vorgänge in Tours im Mai 1640, als sich 800 bis 900 unzureichend entlohnte Seidenweber erhoben und erst nach Einsatz von Militär und einem weiteren, gewalttätigen Aufstand im September ein Kompromiß zustande kam. Wohl noch extremer war die Situation in der „Industriestadt" Lyon mit ihren 75.000 Einwohnern (um 1650), von denen etwa zwei Drittel vom sekundären Bereich abhängig waren und 1619 etwa 6.000, um 1642 sogar 10.000 Personen von Armenhilfe unterschiedlichster Art lebten. Arbeitslosigkeit war ein regelmäßig wiederkehrendes und zahlreiche Familien treffendes Phänomen (Kamen 1984:173; vgl. zuletzt Beik 1997). Letztlich sei darauf verwiesen, daß bei einer Vielzahl von Aufständen gegen Steuerbedrückungen der Pöbel eine maßgebliche Rolle spielte. Mehrheitlich als unmittelbar betroffene und in der Existenz bedrohte Bevölkerungsgruppe, teils aber auch als Werkzeug in der Hand politischer Führer mit unterschiedlichen Zielen. Die unter Führung des Fischers Tommaso Aniello (Masaniello) 1647 gegen die Steuerpraxis der spanischen Vizekönige geführte Erhebung der proletarischen Gelegenheitsarbeiter (Lazzaroni) in Neapel ist wohl das bekannteste Beispiel. Skurril erscheint dabei die Abfolge der Ereignisse: Als Generalissimus der Aufrührer wurde Masaniello wegen der Hinrichtungen, die er trotz erreichten Erfolgs vornehmen ließ, am 16. Juli 1647 von eigenen Anhängern ermordet, am folgenden Tag aber mit großen Ehren beigesetzt (Villari 1993).
KAPITEL REGION
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ENGLAND
VI
WIRTSCHAFT
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Das Königreich England ist einer der großen Staaten im frühneuzeitlichen Westeuropa, der kaum Gebietsveränderungen erfahren hat, eine Tatsache, die zweifellos durch die Insellage begünstigt wurde. Sieht man vom Verlust der auf dem kontinentalen Ufer des Kanals gelegenen Hafenbastide Calais 1558 ab, so korrespondierte das englische Städtenetz vom 16. bis zum 19. Jahrhundert immer mit derselben Flächeneinheit. Völlig getrennt verlief hingegen die urbane Entwicklung in Schottland, das im 17. und 18. Jahrhundert durch die Gründung zahlreicher Kleinstädte gekennzeichnet war, so daß diese ungeachtet der seit 1707 bestehenden Realunion der beiden Königreiche (Vereinigtes Königreich Großbritannien) - hier von einer weiteren Betrachtung ausgeklammert bleibt (zu Schottland vgl. zuletzt I.D. Whyte u. D.G. Lockhart in M^czak/Smout 1991: 11-66). Der vielfach kolportierte Satz, daß England in den beiden neuzeitlichen Jahrhunderten eine ländliche Region war und blieb, gilt freilich wie anderswo zunächst nur im statistischen Sinne, d.h. unter Einziehung eines städtischen Schwellenwerts von zumindest 5.000 Einwohnern. Geht man von der Gesamtheit der Stadtcharakter tragenden Siedlungen aus, ergibt sich ein wesentlich anderes Bild. So läßt sich für den Beginn der Regierungszeit Königin Elizabeths die Existenz von etwa 750 bis 810 Städten (Clark/Slack 1976:7f; Corfield 1990:47 mit Berufung auf A. Everitt), überwiegend Klein- oder Marktstädten (market- oder country-towns), wahrscheinlich machen, eine Zahl, die mangels exakter Kriterien, aber auch des Abkommens bzw. Hinzutretens von Städten Veränderungen unterlag. Abweichende Annahmen, wie etwa jene von C.W. Chalklin (1974:7f), der von etwa 500 Stadtorten mit 400/500 bis 1.500/1.800 Einwohnern um 1700 spricht, sind zunächst aber eher von der Seite des Maßstabs als von jener konjunktureller Schwankungen begründet. Um 1700 dürften vier Fünftel
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der Städte eine Einwohnerzahl unter 2.000 besessen haben, wobei einer starken Basis die dominante Spitze London gegenüberstand. Im 18. Jahrhundert füllte sich dann die statistische Mitte auf, was in der Zunahme des Städteranteils (Städte zwischen 2.500 und 100.000 Einwohner) an der Gesamtpopulation von 7,6% um 1700 auf 20% nach 1800 (einschließlich Londons von 18,7% auf 30,6%) zum Ausdruck kommt (Corfield 1982:7-9). Die räumliche Verteilung der größeren Städte zeigt im frühen 16. Jahrhundert eine Konzentration in den Lowlands im Süden und Osten und mit dem Aufstieg der Textilindustrien eine Zunahme im Westen; seit dem 17. Jahrhundert und wiederum im Zusammenhang mit industriellen Prozessen, dem Aufstieg von Birmingham sowie der Lancashire- und West-Riding-Städte, nahmen der Norden und die Midlands an Gewicht zu, wenn auch der Schwerpunkt in den Lowlands verblieb. Die geringe Größe der englischen Stadt und das weitgehende Fehlen von einwohnerstarken Zentren sind wohl mit eine Voraussetzung dafür, daß auch der Kleinstadt im Rahmen von Überlegungen über den hierarchischen Aufbau der Städtelandschaft von Anfang an ein fester Platz zugewiesen wurde (zum Forschungsstand vgl. Barry 1990:1-34; Borsay 1990:1-38). Über dem Basiselement der etwa 500 bis 600 Marktstädte im 16. Jahrhundert, die sich - wenn in der Regel auch nicht ummauert - neben Besonderheiten in der sozialen und politischen Struktur vielfach durch eine ökonomische Spezialisierung von dörflichen Siedlungen abhoben, lag eine Gruppe von (um 1700) etwa 100 County-Towns (Clark/Slack 1976:17-32). Diese waren regionale, durch einen höheren Grad der Arbeitsteilung gekennzeichnete Mittelpunkte, denen bereits ein größeres Hinterland zugeordnet war. Königliche Freibriefe (charters, Inkorporierung) und Stadtmauern waren ihre rechtlichen und topographischen Merkmale. Fallweise reichten jüngere Sonderformen wie Häfen, Manufakturstädte und Kurstädte, aber auch Universitäts- und kleinere Bischofsstädte in diesen Typus herein. Ihre Einwohnerzahlen lagen am Beginn des 16. Jahrhunderts zwischen 1.500 und 5.000, um 1700 zwischen 5.000 und 8.000 und ein Jahrhundert später bereits bei 10.000 bis 15.000 (Clark/Slack 1976:3345; Corfield 1982:17-65; ferner Patten 1978). Die nächsthöhere Ebene bildeten die Provinzhauptstädte (Clark/Slack 1976:46-61; Corfield 1990:49-51). Anfangs etwa fünf bis sieben Stadtorte, die trotz ihrer - europaweit betrachtet - bescheidenen Dimension ganze Regionen zu ihrem Einflußbereich zählten, ohne dieselben freilich ökonomisch voll unterordnen zu können. In der Regel besa-
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ßen sie auch zentrale administrative Funktionen; sie waren Bischofssitze, daneben Vororte der Viertelssitzungen (quarter sessions), der Musterung und Steuererhebung. Norwich, die spätmittelalterliche Hauptstadt von East Anglia, Bristol und York als Zentren des Westens und Nordens zählen ebenso hierher wie Exeter und das gegen Ende des 16. Jahrhunderts hinzutretende Newcastle, das wohl nicht die Funktion eines Diözesanmittelpunkts, jedoch jene einer Festung gegen die Schotten besaß. Die Einwohnerzahl dieser Provinzhauptstädte lag um 1520 zwischen 8.000 und 12.000, um 1660 zwischen 12.000 und 20.000. Zeitweilig - wie um 1500 Salisbury, Colchester, Coventry und Canterbury - schoben sich einige andere Kommunen an diese Kategorie heran, ohne allerdings die Integration auf Dauer zu erreichen. Erst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts gelang es Hafen- und Industriestädten wie Liverpool, Birmingham, Manchester und Leeds in die oberen Ränge der Hierarchie einzudringen. Räumlich finden sich die großen Provinzstädte weder in den Midlands, noch im Süden vertreten. Dies einerseits wegen der Dominanz der Metropole London, die ihr Aufkommen verhinderte, andererseits zufolge der wechselseitigen Konkurrenz. Letzteres kann auch für den Grenzbereich gegen Wales gelten, wo Städte wie Worcester, Gloucester oder Shrewsbury auf einer mittleren Ebene stehen blieben und keiner derselben eine hegemoniale Entwicklung gelang. Eine Ausnahmeposition hinsichtlich funktionaler Bedeutung und Dimension kommt letztlich London zu (R. Finlay/B. Shearer in: Beier/ Finlay 1986:45; vgl. auch Poussou 1983b:25-32,58f; Reed 1996). Wenngleich mit etwa 50.000 bis 60.000 Einwohnern (einschließlich der City of Westminster) zu Beginn der Neuzeit nur an 15. Stelle innerhalb einer europäischen Rangordnung gelegen, konzentrierte die Metropole über 40% der Urbanen englischen Bevölkerung in Städten mit über 5.000 Einwohnern. Mit dem exzessiven Wachstum im Verlaufe des 16. und 17. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl zunächst auf ca. 200.000 um 1600, verdoppelte sich bis 1650 auf 400.000 und wuchs bis 1700 auf 575.000 an. Damit wurde Paris als volkreichste Stadt Westeuropas überholt. Bemerkenswert ist neben der Zunahme in absoluten Werten auch die steigende Quote von 2 auf 11% Anteil an der Gesamtbevölkerung Englands innerhalb zweier Jahrhunderte. Für 1800 (1801) wird mit 948.000 (959.000) eine Bevölkerungsziffer angegeben, die bereits knapp unter der Millionengrenze lag. Zu diesem Zeitpunkt entsprach die Metropole, die seit dem 18. Jahrhundert deutlich über die mittelalterlichen Grenzen hinausgewachsen war, einer Urbanen Region von mehr als 12 Quadratmeilen (ca. 23 km2).
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London profitierte zum einen aus seiner Rolle als politisches und administratives Zentrum eines in die Richtung des einheitlichen Staates tendierenden Organismus (zusammenfassend Barry 1990:39-43). Bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust kirchlicher und herrschaftlicher Gerichte sowie dem Verschwinden provinzialer Einrichtungen (Council of the North, Council in the Marches of Wales) erhielten die königlichen Gerichtshöfe und Behörden zunehmend nationalen Charakter. Nicht weniger bedeutend war die expandierende Autorität des Parliament von Westminster. Die Hauptstadt- und ergänzend dazu die Residenzfunktion müssen daher als zentrale Elemente eines Wachstums angesprochen werden, dessen Dimension im Hinblick auf die Ausschöpfung des Urbanen Potentials des ganzen Königreichs nur unter Hinweis auf die negative natürliche Bevölkerungsbilanz Londons voll bewußt gemacht werden kann. Die Zuwanderung, für die aufgrund einer exorbitant hohen Mortalität eine Mindestgrenze von 8.000 Individuen pro Jahr angenommen wurde und die anfangs auch Schottland und Irland als Rekrutierungsbecken miteinschloß, änderte im 18. Jahrhundert insofern ihr Gesicht, als die ländlichen Immigranten nunmehr häufig näher gelegene Wachstumspunkte aufsuchten. Im weiteren ist auf die Gunst der geographischen Situation zu verweisen, die hier schon im Mittelalter die Schaltstelle für den Warenaustausch zwischen England und dem Kontinent, insbesondere den Niederlanden und dem Hanseraum, hatte entstehen lassen. In Verbindung mit einem in der Frühneuzeit rasch expandierenden Binnenhandel, der die Metropole zufolge des Fehlens starker Provinzstädte im Umfeld nahezu monopolartig begünstigte, sowie der Zunahme der lokalen Produktion konzentrierte London alle wichtigen ökonomischen Funktionen (Wrigley 1987b). London war nicht nur Nachfrager nach Nahrungsmitteln und Rohstoffen im großen Stil, sondern auch Zentrum des internationalen Handels der Insel, der sich - bei relativem Rückgang des Überseegeschäfts - im 18. Jahrhundert weiter ausdehnte und zu einem guten Teil in der Hand einer kleinen Gruppe von Kaufleuten und Faktoren monopolisiert wurde. Eine Spezialisierung und Arbeitszerlegung von Industrie und Handwerk wird aus dem Anstieg der unterschiedlichen Gewerbesparten von 215 im Jahre 1747 auf 492 im Jahre 1792 erkennbar (Corfield 1982:73). Die enorme demographische Expansion der Hauptstadt, die sich erst in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts verlangsamte, fand innerhalb des Kreises der Provinzstädte keine Entsprechung. Wenn festgestellt wird, daß im Laufe des 16. Jahrhunderts der Anteil der
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Städter an der Gesamtbevölkerung von 2,25 auf 5% anstieg, so war hiefür nahezu ausschließlich London verantwortlich. Hingegen veränderte sich die Quote der übrigen größeren Städte lediglich von 3 auf 3,25%, und dies auch nur, weil im genannten Zeitraum zehn Städte die 5.000-Einwohnermarke überschritten, nämlich Plymouth, Kings Lynn, Gloucester, Chester, Hull, Great Yarmouth, Ipswich, Cambridge, Worcester und Oxford. Freilich sollte nicht übersehen werden, daß diese Städte in mehrfacher Hinsicht mit dem Hinterland verbunden waren: so besonders durch den Handel, der mit einer erheblichen Zahl gewerblicher Industrien korrespondierte, sowie durch Dienstleistungen, die sich aus ihrer Funktion als County-Towns ergaben (Corfield 1990: 43f). Zu diesen älteren Binnenmarktzentren trat eine Gruppe von Aufsteigern, die typologisch bis etwa 1650 durch ein Nebeneinander von Hafen- und Handelsstädten, Universitätsstädten sowie einzelnen administrativen Zentren gekennzeichnet erscheint. Bemerkenswert ist weiters, daß Manufakturstädte trotz der Verlagerung von großen Teilen der Textilindustrie aufs Land ihre Mittelpunktsfunktion, u.a. in Verbindung mit der Endfertigung, bewahrten oder sogar ausbauten, von den kleineren etwa Colchester oder Worcester. Eine Form der Spezialisierung war jene im Küsten- sowie im Überseehandel: Newcastle produzierte Kohle und exportierte diese nach London, Chester und das als Mittelstadt ältere Bristol dominierten den Handel nach Irland, Great Yarmouth fungierte als Hafen für Norwich und die Heringfischerei und Ipswich als Ausfuhrhafen für die Broadcloth-Industrie von Suffolk. Werftstädte wie Plymouth, Portsmouth und Chatham erlebten eine Konjunktur in Verbindung mit der Seekriegsführung. Hingegen blieben die alten Provinzhauptorte zusammen genommen im Zeitraum 1520 bis 1600 in ihren Wachstumsraten mit 15 bis maximal 28% hinter jener des Gesamtstaats mit 70% erheblich zurück (Wrigley 1990:46; vgl. auch Tabelle 1-3). Eine befriedigende generelle Erklärung des provinzstädtischen Verlaufsmusters ist teils aufgrund der Unscharfe der überlieferten Daten, teils zufolge der voneinander abweichenden Trends kaum möglich. Demographisch einigermaßen sicheren Boden betritt man erst zum Schnitt 1520. Damals zählte England zehn Städte mit mehr als 5.000 Einwohnern. Während für einige, beispielsweise für Coventry, eine vom Spätmittelalter bis ins frühe 16. Jahrhundert reichende Wachstumsphase angenommen wird, expandierten andere (s.u.) eher im Jahrhundert nach 1550. In weiteren Fällen wechselten Spurts mit Zeiten beschränkten Wachstums: Für York, das von 8.000 um 1520
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auf 12.000 um 1630 anwuchs, bildete die dem Verlust des „Councils of the North" 1641 folgende Aufwertung als Handelszentrum für Yorkshire-Textilien keine entsprechende Kompensation. Norwich erlebte eine Verdoppelung seiner Einwohnerzahl zwischen 1570 und 1620 auf 20.000, um in den folgenden vier Jahrzehnten zu stagnieren und im letzten Jahrhundertdrittel erneut - auf 29.000 Bewohner - anzuwachsen. Im Falle der Hafen- und Werftstadt Plymouth folgte auf einen Bevölkerungsboom zwischen 1550 und 1603 ein Stillstand bis gegen 1700 und hierauf ein rasches Wachstum bis 1740 (Corfield 1990: 44f). Am Übergang ins 17. Jahrhundert zählte England insgesamt zwanzig Städte über der 5.000-Einwohner-Grenze, siebzig Jahre später waren es mit sechsundzwanzig nur unerheblich mehr. Die Spitzengruppe nach London mit Norwich, Bristol, York und dem vor 1600 hinzugetretenen Newcastle blieb mehr als 150 Jahre konstant, die absoluten Spitzenwerte (Norwich und Bristol um 1670 ca. 20.000) erscheinen im Vergleich mit jenen regionaler Zentren auf dem Kontinent bescheiden. Sieht man von London und einigen wenigen Aufsteigern ab, so muß der größere Teil des 17. Jahrhunderts als Periode der Krise der englischen Stadt bezeichnet werden. Versuche zur Erklärung der Stagnation und Überlegungen zum Zeitpunkt ihres Einsetzens haben bisher noch keinen gemeinsamen Nenner gefunden. Eine vorwiegend auf Steuer- und Bevölkerungsdaten basierende Annahme, das Anwachsen der ökonomischen und demographischen Schwierigkeiten hätte bereits vor 1570 eingesetzt, wird heute eher auf den lokalen Kontext beschränkt (Barry 1990:7). Ebenso zu relativieren ist der generelle Stellenwert der Depression der 1590er Jahre, wenngleich eine sinkende Produktivität im Agrarbereich eine Unterversorgung der größeren, von landwirtschaftlicher Erzeugung entlasteten Städte nach sich ziehen mußte und der Abschwung der Reallöhne hier das Leben besonders verteuerte. Weiters besitzt das Phänomen gegenläufiger Prozesse, der Aufstieg einer Städtegruppe auf Kosten einer anderen, wie das auch in anderen Städtelandschaften nachgewiesen werden konnte (vgl. Spanien, Ungarn), einen partiellen Erklärungswert. Während London zunächst keine Konkurrenz zu befürchten hatte, dürften die Umstände im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts kleinere Städte gegenüber mittleren und größeren begünstigt haben, wogegen sich die Verhältnisse nach der Restauration umkehrten bzw. um 1700 eine gleichmäßigere Verteilung der Chancen eingetreten war (Clark/Slack 1976:3 lf; Dyer/PhythianAdams 1979; Dyer 1991). Darüber hinaus ist festzuhalten, daß die
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Bestimmung des wirtschaftlichen Stellenwerts einer Stadt ausschließlich aus der Sicht ihrer Bevölkerungskurve von der Bewertung ihrer Fähigkeit ablenkt, sich durch inneren strukturellen Wandel innerhalb veränderter ökonomischer Systeme neu zu positionieren. Wenn der Anteil der Bevölkerung in Städten mit mehr als 5.000 Einwohnern im Laufe des 17. Jahrhunderts von 8,3 auf 17,0% (UK 7,9 auf 11,8%) anstieg, so war auch dieser Urbanisierungsschub zum größeren Teil auf die hohen Wachstumsraten der Metropole zurückzuführen, während jene der meisten Provinzstädte niedrig blieben. Wie am Ausgang des Mittelalters wohnte noch um 1700 die Mehrzahl der Engländer in kleinen Dörfern - Gregory King gibt für 1690 eine Zahl von etwa 20.000 an die von einem Netzwerk von Marktstädten mit weniger als 2.000 Einwohnern bedient wurden (Wrigley 1990:45; abweichend Corfield 1982:8; vgl. auch Bairoch/Batou/Chevre 1988:259). Zu den etwa 40 bis 50 kleineren regionalen Zentren mit Bevölkerungszahlen zwischen 2.000 und 5.000 stellten sich 31/32 Provinzmittelpunkte mit mehr als 5.000 Bewohnern (Corfield 1990:50). Um 1700 dürften vier Fünftel der englischen Städte, also jener Siedlungen, die aufgrund ihres Rechtscharakters und abgestufter ökonomischer Funktionen als solche zu bezeichnen sind, weniger als 2.000 Einwohner besessen haben. Kontrastiert mit der Megalopolis London, wird eine stark ungleiche Verteilung mit Schwerpunkten an der Basis und an der Spitze deutlich. Im Laufe des 18. Jahrhunderts füllte sich dann unter dem Vorzeichen funktionaler Diversifizierung und neuer regionaler Zentrumsbildung die mittlere Zone auf. Hatten unter Ausschluß von London - um 1700 67 Städte eine Einwohnerzahl über 2.500, so waren es im Volkszählungsjahr 1801 bereits 187. Der Anteil dieser Städte an der Gesamtbevölkerung verdreifachte sich im Laufe eines Jahrhunderts nahezu, von 7,5% auf 20% (Corfield 1982:9). Grundsätzlich verlief der Aufstieg der mittelgroßen Zentren auf Kosten der Kleinstädte. A. Everitt (1976) hat festgestellt, daß um 1770 ein Drittel der Marktstädte der Tudor- und Stuartzeit als solche sekundäre Mittelpunkte verschwunden waren. Eine Hauptursache des Ausscheidens aus dem ökonomischen Kreislauf wird in der Verbesserung der Transportverhältnisse gesehen, welche die mittleren Stadtorte begünstigte. Freilich darf nicht unerwähnt bleiben, daß noch am Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 700 städtische Mittelpunkte mit ihrer Einwohnerzahl unter der lO.OOOer-Grenze lagen. Als Teil eines Grundgerüsts Urbanen Lebens konnte sich somit auch die englische Kleinstadt - wenn auch in reduzierter Form - behaupten (Borsay 1990:6).
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England (mit
Wales)
Das Einsetzen jener Entwicklungsschübe, die zur Neustrukturierung der Städtehierarchie in England im 18. Jahrhundert führten, wird wohl zu Recht für die Zeit nach etwa 1650 angenommen. Bis 1700 waren zumindest ein Dutzend neuer Industriestädte entstanden, von denen einige - wie etwa Birmingham - ihre Wurzeln bis weit ins 16. Jahrhundert zurückführten. D. Souden hat darauf verwiesen, daß die Hälfte bis zwei Drittel der Städter des späten 17. Jahrhunderts Newcomer waren (Souden 1984), eine hohe Wanderungsbereitschaft stellte somit eine maßgebliche Voraussetzung des Städtewachstums dar. Im Gegensatz zu einigen Regionen des Kontinents, wo zugleich mit dem Vordringen der Protoindustrialisierung zahlreiche Städte an Attraktivität verloren, war die Industrie in England ein Phänomen sowohl des städtischen als auch des ländlichen Raumes. Die Verdichtung gewerblicher Aktivitäten konnte daher zum Wachstum bestehender Städte wie auch zur Urbanisierung dörflicher Siedlungen führen. Dazu kam, daß es keine so klare Arbeitsteilung in dem Sinne gab, daß dem Land die frühen Stadien der Produktionskette, den Städten die späteren sowie die Vermarktung zufielen. Hatten die alten Industriestädte die Gewerbeentwicklung auf dem Lande gebremst, so wurde dieselbe von den neuen begünstigt (Clark/Slack 1976:40). Da die Mehrzahl der Aufsteigerstädte ihre Entwicklung von niedrigem Niveau aus angetreten hatten, ergaben sich hohe Wachstumsraten. Während der Anteil Londons an der Gesamtbevölkerung Englands im Laufe des 18. Jahrhunderts um 0,4 Prozentpunkte fiel, konnten die Städte über 5.000 Einwohner ihre Quote von 5,3 auf 16,2 etwa verdreifachen (Corfield 1982:9). Die Urbanisierung zahlreicher industrieller Prozesse mußte aber nicht unbedingt das Entstehen einer exklusiven Kategorie von Industriestädten hervorrufen. Vielmehr bestimmten traditionelle gewerbliche Organisationsformen auch weiterhin das Bild alter und neuer Städte, von Hafen- und Industriestädten. Wohl wurde die erste mit Wasserkraft arbeitende Fabrik bereits 1719 in Derby eingerichtet, und seit den siebziger Jahren nahm die Verwendung von Spinnmaschinen insbesondere in Lancashire und in den Midlands rasch zu, doch war ihr Standort keineswegs von Anfang an ein städtischer (Corfield 1982:23f)· Die Ablösung durch Fabriken und Dampfkraft setzte erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ein, früh in Birmingham ab 1830. Während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren zahlreiche der später so bezeichneten Industriestädte eher Marktzentren von ländlich-protoindustriellen Regionen als Gewerbestädte. In einer Periode der Konsolidierung der Binnenmarktbeziehungen spielte vor allem die Beherrschung des Verkehrs und Transportwesens und damit die
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Wirtschaft
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Tabelle 13: Zahl der Städte nach Größenklassen und Anteil an der Gesamtbevölkerung von England und Wales 1700-1801 (nach Corfield) 1700 Zahl %
1750 Zahl %
1801 Zahl %
2.500- 5.000 5.000- 10.000 10.000- 20.000 20.000-100.000 über 100.000
37 24 4 2 1
2,3 3,2 1,1 1,0 11,1
53 31 14 5 1
2,7 3,3 2,9 2,6 11,1
94 45 33 15 1
3,7 3,5 4,8 7,9 10,7
Gesamt
68
18,7
104
22,6
188
30,6
Nutzung des Fluß- und Kanalnetzes eine eminente Rolle. Organisatorisch verstärkte sich die Tendenz vom öffentlichen Markt zum Kaufgeschäft in Gasthäusern und sonstigen privaten Gebäuden. Sofern jedoch die ökonomische Funktion vorwiegend auf den Binnenmarkt beschränkt blieb, hielt sich das Bevölkerungswachstum in Grenzen, zumal der Inlandshandel nicht so arbeitskräfteintensiv war wie das Überseegeschäft oder die eigentliche Industrieproduktion. Beispielsweise verzeichnete York als größte jener Binnenhandelsstädte während des 18. Jahrhunderts nur ein bescheidenes Wachstum von 11.000 auf 16.000. In einer Rangordnung der größten Städte fiel es allerdings vom 6. auf den 24. Platz zurück (Borsay 1990:9-12; vgl. auch Everitt 1990). Mit der Verbindung expandierender kommerzieller Aktivitäten und der Entstehung von Manufakturen stiegen die Voraussetzungen für ein urbanes Wachstum dieser embryonalen Industriestädte, die sich meist zu Zentren einer industrialisierten Region entwickelten, rasch an. Auf den Gegensatz zwischen der Größe derselben und ihrer vom tradierten Bild einer Stadt abweichenden Rechts- und Gesellschaftsordnung verweist Daniel Defoe, wenn er 1728 hinsichtlich Manchester, Warrington, Macclesfield, Halifax, Leeds, Wakefield, Sheffield, Birmingham, Froom, Taunton oder Tiverton bemerkt, daß einige derselben „meer villages" seien (Corfield 1982:23; vgl. auch Poussou 1983b:79). Das Größenwachstum setzte sich fort. 1801 befanden sich unter den 15 Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern sieben Industriestädte, davon aus einer jungen Generation Manchester, Birmingham, Leeds, Sheffield und Nottingham. Die urbane Struktur zahlreicher industrialisierter Regionen bestand in einem Nebeneinander mehrerer mittelgroßer Städte, die auf ein kommerzielles und gewerbliches Zentrum hin orientiert waren. Dies
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England
(mit
Wales)
gilt etwa für Manchester, das Zentrum der Textilindustrie von Lancashire, das wohl am besten die Dynamik des neuen Städtetyps verkörpert, der mit seinen Wachstumsraten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sogar die Metropole hinter sich ließ. Um 1670 mit etwa 6.000 Einwohnern an 15. Stelle gereiht, erlebte die Stadt zwischen 1750 und 1801 eine Bevölkerungsexplosion von 18.000 auf 84.000 und sicherte sich damit den zweiten Platz im Königreich (Chalklin 1974:42-47; Corfield 1982:24-28). Leeds, das - am Rande der Textilproduktionslandschaft der West Riding gelegen - als „gateway town" für den Süden und Westen sowie die Weidezonen des Vale of York fungierte und um 1670 ebensoviele Einwohner wie Manchester zählte, wuchs zwischen 1750 und 1801 von 16.000 auf 53.000 Einwohner an (vgl. auch Rimmer 1976; M. Beresford in Chalklin/Havinden 1974:281-320). Die für das Städtewachstum des 18. Jahrhunderts entscheidende Rolle der englischen Textilindustrie, die lokale Wolle als Rohstoff, die Wasserkraft für den Walkvorgang und das Flußnetz als Transportweg nutzte, wird dadurch besonders unterstrichen. War um 1700 mit Norwich die zweitgrößte Stadt ein mit kommerziellen Funktionen ausgestattetes Textilzentrum, so rangierten um 1800 unter den zehn größten Städten gleich drei Textilzentren: Manchester, Leeds und Norwich, dazu kam das etwa an 30. Stelle gelegene Oldham. Freilich entwickelten sich nicht alle Textilstädte gleich oder durchgehend erfolgreich. Wandlungen der Produktionsmethoden und Änderungen der Nachfrage bedeuteten für mehrere der alten Mittelpunkte das Ende einer florierenden Tradition. So geriet Exeter mit seiner Serge-Produktion zuerst gegenüber der Konkurrenz von Norwich und folgend jener von Yorkshire ins Hintertreffen, konnte sich allerdings durch den Rückzug auf seine Funktion als Handels- und Bankzentrum auf niedrigerem Niveau stabilisieren. Norwich selbst erlitt gegen Jahrhundertende in seiner Worsted-Produktion Rückschläge durch den Verlust von Überseemärkten und die Konkurrenz der Yorkshire-Industrie (Corfield 1982:26-28). Auch Spezialisierung innerhalb der Textilbranche konnte den Grundstein für urbanes Wachstum legen. Dies gilt etwa für Nottingham, Leicester und Derby, drei Städte, die vor allem von der Strumpfwirkerei lebten und aus kleinen Anfängen als County-Städte zu mittelgroßen Plätzen mit zwischen 11.000 (Derby) und 29.000 Einwohnern (Nottingham) aufstiegen. Erheblichen Stellenwert besaßen neben den Textilstädten auch Mittelpunktsbildungen auf der Basis metallverarbeitender Industrien, insbesondere dort, wo abbauwürdige Lager von Kohle und Eisen vor-
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Wirtschaft
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handen waren. Zum größten derselben entwickelte sich Birmingham, das ursprünglich durch ein Nebeneinander von Gerberei, Landwirtschaft und Metallverarbeitung bestimmt war. Seine Einwohnerzahl verdreifachte sich zweimal: zunächst zwischen 1700 und 1750 von 7.000/8.000 auf 24.000, und nochmals in der zweiten Jahrhunderthälfte auf 71.000. Vier Fünftel der Zuwanderer kamen während dieser Zeit aus der näheren Umgebung, aus Warwickshire, Staffordshire und Worcestershire. Auch hier ist auf die Multifunktionalität zu verweisen. Die Stadt war nicht nur ein großes kommerzielles Zentrum der Region, sie organisierte auch die ländliche Industrie im Umland und war selbst Industriestandort. In dieselbe Reihe zählt Sheffield, ein alter Mittelpunkt der Metallwarenproduktion, das sich seit den 1740er Jahren der Erzeugung hochwertigen Stahls zuwandte und gegen Jahrhundertende zum Mittelpunkt einer großen Eisenproduktionslandschaft wurde, die nach Südwales hinüberreichte. Mit 46.000 Einwohnern im Jahre 1801 nahm es den siebenten Rang innerhalb der englischen Städtehierarchie ein (Chalklin 1974:47-51; Corfield 1982:28-33; Daunton 1978). Abschließend sei noch auf die Hafenstädte als weitere erfolgreiche Kategorie, die insbesondere seit dem späten 17. und im 18. Jahrhundert zufolge der Zunahme und Umorientierung des Außenhandels stark expandierte, verwiesen (Chalklin 1974:47-51; Corfield 1982:34-50). Das erweiterte Sortiment von Gütern, insbesondere von Produkten der englischen Industrien, die für den Export zur Verfügung gestellt, und die Ausdehnung des Netzwerks der Überseemärkte, die von englischen Schiffen bedient wurden, verursachte eine Umgewichtung innerhalb der Hafenstädte des Landes auf zwei Ebenen. Zur Aufweichung der Vorrangstellung Londons trat eine regionale Verschiebung im Sinne eines Bedeutungsgewinns zahlreicher Hafenplätze im Nordosten und Westen des Landes. Letztere ging vielfach zu Lasten von Plätzen, die erst im Verlaufe des 16. und 17. Jahrhunderts ihre Position gefestigt hatten, wie Bristol, Exeter, Newcastle oder Great Yarmouth, und nun in Liverpool, Whitehaven, Sunderland und Hull eine teils übermächtige Konkurrenz erhielten. Der in Hafenstädten übliche Männerüberschuß fand in abweichenden Mustern des generativen Verhaltens und damit nicht grundsätzlich in einem starken Anstieg der Bevölkerung seinen Niederschlag. Eine Bewertung des Geschicks der einzelnen Häfen ist zu einem guten Teil eine Frage des Maßstabs. So war Bristol, gemessen an der Einwohnerzahl, bis etwa 1780, als es von Liverpool überholt wurde, wohl die größte Hafenstadt (1801 Liverpool 83.000, Bristol 64.000),
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England (mit Wales)
doch begannen seine Schwierigkeiten schon erheblich früher. Nach der Tonnage der auslaufenden Schiffe wurde es bald nach Jahrhundertbeginn (1709) von Scarborough im Nordosten, vor 1751 auch von Liverpool überholt. Gegen Jahrhundertende (1792) hatten sich die Reihenfolge mit Newcastle, Liverpool, Kingston-upon-Hall, Sunderland, Whitby, Bristol neuerdings erheblich verändert. Abgesehen von Liverpool befand sich unter den Aufsteigern jedoch keine Stadt, welche die 20.000-Einwohnergrenze überschritt, sofern sie nicht auch Dockstadt wie Plymouth, Portsmouth war. Zu beachten ist freilich auch die Konzentration des traditionellen Außenhandels parallel zur Spezialisierung, etwa hinsichtlich Tiefseefischerei und Walfang, und zur Arbeitsteilung. Hier ergänzten sich innerhalb des 18. Jahrhunderts insbesondere sechs Hafenstädte. Im Nordosten waren Newcastle und Sunderland Wettbewerber im Kohleexport, während Hull insbesondere den Handel nach Nordeuropa und ins Baltikum beherrschte. An der Westküste konkurrenzierten sich Bristol und Liverpool hinsichtlich des irischen, atlantischen und Sklavenhandels, wogegen Whitehaven vor allem im Tabak- und Kohlegeschäft engagiert war (Collier/Pearson 1991). Der Erfolg der jeweiligen Hafenstadt konnte somit durch recht unterschiedliche Faktoren determiniert werden: durch weltwirtschaftliche, im Zusammenhang mit dem atlantischen und Kolonialhandel, regionale, abhängig vom Aufstieg und von der verkehrsmäßigen Erschließung einzelner Industrie- und Agrarreviere, und letztlich von der Konjunktur des gehandelten Produkts selbst (zu den Dock- und Bäderstädten vgl. Kap. II). Um 1800 hatte England mit 30% der Bevölkerung in Städten mit mehr als 2.500 Einwohnern zu den am stärksten urbanisierten Ländern aufgeschlossen und wies damit einen etwa dreimal so hohen Wert wie Frankreich auf. Das Anwachsen der Gesamtbevölkerung um 280% gegenüber 50 bis 80% bei Staaten des Kontinents seit der Mitte des 16. Jahrhunderts war außerordentlich, sieht man von den Niederlanden ab. Ε. A. Wrigley (1990:51-60) hat die entscheidenden Voraussetzungen hiefür sowie für das industrielle Wachstum im 18. Jahrhundert in der gehobenen Agrarproduktivität und - daraus abgeleitet einer Zunahme der Realeinkommen gesehen. Der Agrarfortschritt ermöglichte die massenhafte Umschichtung von Produzenten zum sekundären und tertiären Bereich und damit auch das Wachstum der Städte. Gestiegener Bedarf an Nahrungsmitteln wiederum führte zu Investitionen im Agrarbereich, der Anstieg der Realeinkommen aber auch zur zunehmenden Nachfrage nach industriellen Gütern und Dienstleistungen. Aus der daraus resultierenden Synergie profitierten
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Wirtschaft
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Tabelle 14: Einwohnerzahl wohnern
1500-1800
englischer
Städte
mit mehr als 10.000
(nach
De Vries, Bairoch/Batou/Chevre,
1500
1550
EinWrigley,
Corfield)
Bath Birmingham Blackburn Bolton Bristol Cambridge Carlisle Chatham Chester Colchester Coventry Derby Exeter Greenwich Halifax Hudders field Hull Ipswich King's Lynn Leeds Leicester Liverpool London Manchester Newcastle Norwich Nottingham Oldham Oxford Plymouth Portsmouth Preston Reading Salford Sheffield Shrewsbury Stockport Sunderland Warrington Wenlock Wigan Wolverhampton Worcester Yarmouth York
1
10
10
1600
1650
1700
1750
1800
2
1 4
3 7
20 9
25 9 4 5 10 10 7 14
9 24 4 4 45 6 4 5 13 9 12 6 16
3
6
400 5 13 20 6
6 8 5 6 6 6 575 9 14 29 7
6 12 9 16 8 22 675 18 29 36 12
9 7 4
8 9 5
8 15 10 6 7
10 10
12 13 3 10 4
33 71 12 13 64 10 10 11 15 12 16 11 17 14 12 11 30 11 10 53 17 83 948 84 33 37 29 12 12 43 33 12 10 14 46 15 15 24 11 15 11 13 11 15 16
11
1 5 7
7
7
8 10 7
10
8
10
10
5 4
3
5
50
80
200
10 10
10 12 3
10 15 5
4
7
5 2
5 5 5
2 5
5
5 8
2 3
6
8
12
4 8 10 12
9 10 11
4 7 10 10 11
194
Frankreich
Karte IV: Großstädte in England um 1700
0
10
MO 430 К» Im
sowohl das Land, die Städte wie auch die zunächst nicht eindeutig standortfixierten Industrien. FRANKREICH
Die politischen Grenzen Frankreichs am Ende des Mittelalters und am Vorabend der Revolution waren nicht dieselben, wenngleich die Änderungen der drei frühneuzeitlichen Jahrhunderte, bezogen auf die Gesamtfläche, weniger ins Gewicht fielen als bei anderen Großstaaten (vgl. B. Chevalier in Brady/Oberman/Tracy 1994:369-401). Im Norden zählten die Grafschaften Artois und Hennegau als Teile der spanischen Niederlande zum Heiligen Römischen Reich, ebenso die Freigrafschaft Burgund (Franche-Comte) und das Herzogtum Lothringen. Die Provinz Roussillon im Süden wurde der aragonesischen Krone 1642 abgenommen, zu einem Zeitpunkt, als der französische Staat auch im Norden und Osten vorzurücken begann. Die endgültige Angliederung des lothringischen Herrschaftskomplexes erfolgte mehr als 120 Jahre
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später, 1766. Alle diese Gebietszuwächse veränderten auch das Bild der französischen Städtelandschaft, insbesondere aus der Sicht der Statistik. Lille, Valenciennes oder Saint-Omer im Norden, Metz, Strasbourg und Nancy bleiben somit in einer nicht weiter zu verfolgenden Zwischenzone, ebenso wie Tournai, die einzige größere Stadt, die dem französischen Staat verloren ging. Eine beachtliche Beharrungskraft hinsichtlich der Bestimmung der großen Linien des Städtenetzes kennzeichnet die kirchliche Organisation. Um 1500 existierten 116 Bischofsstädte, davon viele als Zentren von kleinen Bistümern im Süden (Mieck 1982:102). Freilich verdeckt auch die durchaus berechtigte Feststellung, daß die französische Krone relativ früh zu einem geschlossenen Staatsgebilde gelangt ist, bis weit in die Neuzeit hinein wirkende Sonderentwicklungen. Hinsichtlich der Ausformung eines Städtenetzes fanden diese einerseits im großen Gewicht alter, mitunter bis in gallo-römische Zeit zurückreichender Mittelpunktsbildungen (z.B. Paris, Lyon, Toulouse, Bordeaux), anderseits in der Beharrungskraft vom Gesamtstaat unabhängiger zentralörtlicher Systeme einzelner Territorien ihren Niederschlag. So gingen das burgundische Städtewesen, vor allem aber jenes der Grafschaft Provence lange Zeit eigene Wege. Grundsätzlich blieb Frankreich vor dem 19. Jahrhundert ein vorwiegend von der Landwirtschaft geprägtes Land. Selbst wenn man die Grenze zur dörflichen Siedlung beim Schwellenwert von 2.000 Einwohnern zieht, lebten vor der Revolution kaum 20 (30)% der Bevölkerung in Städten (vgl. auch Meyer 1983:122f); mißt man den Urbanisierungsgrad auf der Grundlage der Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern, wurde nicht einmal die Zehnprozentmarke erreicht (8,8%). Im Zeitraum 1500 bis 1700 lag der entsprechende Wert zwischen 4,2 und 5,9% (De Vries 1984:39). Verglichen mit städtisch verdichteten Regionen wie den Niederlanden oder Italien war dies niedrig, gegenüber anderen Großregionen wie dem Reich oder England lag man jedoch voran. Abgesehen von der Sonderstellung von Paris als damals größter Stadt (West-)Europas ist auch der Vorrang der großen französischen Provinzhauptorte vor den deutschen und englischen Zentren festzuhalten. Trotz erheblicher Wachstumsfortschritte in den ersten beiden frühneuzeitlichen Jahrhunderten, auch im 17. Jahrhundert, das anderswo von krisenhafter Deurbanisierung gekennzeichnet erscheint, blieb das „reseau urbain presque immobile" (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:23). Dies gilt in erster Linie für die Kontinuität der Fixpunkte des Netzes, weniger jedoch für die Einwohnergröße, die durchaus Schwankungen unterworfen war (Benedict
196
Frankreich
1989b:24). Die Ursachen hiefür dürften zum Teil in der hohen Wertigkeit administrativer Funktionen der Provinzstädte zu sehen sein, die sich wohl fallweise mit solchen des Kommerzes verbanden, ohne daß die französischen Handelsplätze jemals eine führende Rolle in der Weltökonomie spielten. Von der Wanderung der europäischen Wirtschaftsmetropolen von Venedig bis London, auf die F. Braudel aufmerksam gemacht hat (Braudel 1985-86:3:24-33), wurde das französische Territorium nicht unmittelbar berührt. Exakte Bevölkerungszahlen als Grundlage für die Rekonstruktion des frühneuzeitlichen Städtenetzes lassen sich auch für Frankreich nur mit Einschränkungen erheben. Einen indirekten Zugang vermittelt eine Liste, die 1538 im Zusammenhang mit der Verteilung der Soldquote für 20.000 Fußsoldaten auf die Städte erstellt wurde. Mit 246 steuerpflichtigen Städten ist sie zweifellos unvollständig, zumal sogar größere Kommunen - neben Amiens und Bayonne auch jene der Provence - fehlen. Grundsätzlich stellt sich hier natürlich auch die Frage nach dem Stadtbegriff. Während in Nordfrankreich viele Plätze, die zufolge ihrer Ummauerung und Privilegierung als Stadt verstanden wurden, unter tausend Einwohner zählten und damit größenmäßig hinter den ansehnlicheren „bourgs" rangierten, existierte im Süden eine Masse „urbanisierter Dörfer", die zum Teil auf hochmittelalterliche Wehrsiedlungen (bastides) zurückzuführen sind. Im 16. Jahrhundert dürften etwa 85% der Städte dem Kleinstadttypus angehört haben. Erste exakte Informationen zu einem quantitativ-demographischen Stadtbegriff aus 1809 lassen erkennen, daß 498 von 722 Kommunitäten über 2.000 Einwohnern über der 5.000er-Grenze blieben (Benedict 1989b: 10). Entsprechend der Liste von 1538 stellt sich die französische Städtehierarchie in Form einer Pyramide dar, mit Paris an der Spitze. Mit etwa 250.000 Einwohnern um 1550 (vgl. Jacquart 1996:106f) übertraf die Seinemetropole die nachfolgenden großen vier Provinzstädte Lyon (70.000), Rouen (65.000), Orleans (47.000) und Toulouse (40.000) zusammengenommen. Noch 1725/1727 lebten von 10.000 Franzosen 758 in Paris, 696 in großen Städten (über 10.000 Einwohner), 273 in mittleren (5.000-10.000) und 322 in kleinen Städten (2.000-5.000) (J. Dupäquier in Bardet/Dupäquier 1997:459). Paris war aber weder erstrangiger Mittelpunkt des Kapitalmarkts, noch großer internationaler Hafen oder zentraler Industriestandort, sondern wurde in seiner Position bestimmt durch das Zusammenspiel von Hof, Parlement, Chambre des Comptes und Grand Conseil, woraus sich die Anwesenheit einer großen Zahl von Amtsträgern und nach-
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geordneten Beamten ableitet; hinzu kam die Rolle als Universitätsstadt. Rouen wurde von Franz I. als erste Stadt nach Paris gepriesen, wogegen andere Zeitgenossen den Rang als „le second ceil de la France" Lyon zusprachen (Mieck 1982:99; zu Lyon vgl. Gascon 1971; Zeller 1983). Eine Ebene darunter, mit Einwohnerzahlen zwischen 10.000 und 30.000, befanden sich u.a. Bordeaux (33.000), Poitiers, Nantes und Rennes; die 1538 steuerlich nicht erfaßten Städte Amiens und Marseille zählten wohl ebenso hierher. Auf die Landkarte umgelegt, zeichnen sich einzelne Regionen mit einer besonders dichten Präsenz mittelgroßer Städte ab: das Languedoc mit Toulouse als Zentrum, die Guyenne mit Bordeaux, die Saone-Rhone-Furche mit Lyon, vor allem aber das Pariser Becken; durch Verdünnung gekennzeichnet sind hingegen das Zentralmassiv, die Bretagne und Korsika, wo es noch 1780 nur vier als Stadt zu bezeichnende Orte gab (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:28f). Mit den Annexionen im Laufe des 17. Jahrhunderts sollten dann Teile zweier externer Systeme integriert werden, die jeweils eine intensive Verbindung großer (Strasbourg, Lille) und mittlerer Städte aufwiesen. Trotz eines Defizits an ausreichend exakten Informationen wird man die Entwicklung der französischen Stadt im größeren Teil des 16. Jahrhunderts als günstig annehmen dürfen. Dabei muß offen bleiben, ob der demographische Aufschwung bis gegen das Jahrhundertende anhielt oder ob früher anzusetzende Zäsuren, deren regionale Wirksamkeit feststeht, interne Verschiebungen hervorriefen. Der Ausbruch der Religionskriege 1562, aber auch die Pest des Jahres 1564, die etwa in Lyon zu großen Bevölkerungsverlusten führte, könnten solche Grenzmarken des Aufschwungs darstellen. Städtisches Bevölkerungswachstum geht nur in seltenen Fälle ohne Steigerung ökonomischer oder administrativer Funktionen vor sich. Vor dem Hintergrund einer generellen Expansion des Handels etablierte sich in zahlreichen Städten eine reiche Kaufmannschaft mit internationalen Beziehungen. Neben der „zentralen Niederlage" Paris, wo die Erzeugnisse der verschiedenen Provinzen gegeneinander getauscht wurden, gilt dies insbesondere für Lyon, zum Teil auch für Rouen, das vor der Gründung von Le Havre als Vorhafen von Paris fungierte. Lyon war unter Ludwig XI. mit der Zielsetzung, den Geldabfluß nach den Genfer Messen zu unterbinden, zum zentralen Bankund Messezentrum bestimmt worden. Die Umbenennung des Tuchmarkts (Place de la Draperie) in Wechselmarkt (Place du Change) signalisiert das Zurücktreten des Warenverkehrs gegenüber dem Geld-
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handel. Träger des Lyoner Geschäfts waren vor allem Florentiner Bankiers, daneben aber auch oberdeutsche, besonders Nürnberger Häuser (Gascon 1971; Bardet 1983). Mittelalterliche Wurzeln hatte der Weinhandel von Bordeaux sowie der Waidhandel von Toulouse, wobei in beiden Fällen ein breites semiagrarisches Hinterland mit zahlreichen Kleinstädten das Produkt erarbeitete. Von Bedeutung für eine prosperierende Entwicklung war weiters das Vorhandensein von zentralen Einrichtungen der Verwaltung, die eine Gruppe von etwa 100 Städten auszeichneten (Mieck 1982:101). Am untersten Ende standen die Hauptorte einer Baillage oder Senechaussee, darüber jene, die zusätzlich einen der 1552 ins Leben gerufenen Presidiaux beherbergte. Ihre Zahl lag zunächst bei 60, verdoppelte sich aber nahezu im Zeitraum zwischen 1580 und 1710. Die oberste Ebene bildeten jene acht Stadtorte, die Sitz eines Gerichtshofs (Parlement) waren: Paris, Toulouse, Bordeaux, Grenoble, Dijon, Rouen, Aix-en-Provence und Rennes (1554). In der Regel wiesen die genannten Zentral orte seit dem 16. Jahrhundert eine deutliche Zunahme der königlichen Beamten und Juristen auf. So wuchs deren Zahl in Bordeaux zwischen 1515 und 1543 von 25 auf 62, ähnlich verlief die Entwicklung in Dijon (Benedict 1989b: 16; zu Dijon vgl. Farr 1989). Der wachsenden Bedeutung des tertiären Sektors entsprach allerdings vielfach ein rasches Ansteigen der Stadtarmut, eine Polarisierung, die zum Teil auch auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß das Bevölkerungswachstum die Produktionsmöglichkeiten des Landes überholte. Die Lage der Handwerker hingegen ist weniger eindeutig. In einzelnen Fällen wie etwa in Amiens erlebte die Tuchindustrie eine hohe Blüte, in anderen zeichneten sich bereits protoindustrielle Tendenzen ab, im Rahmen derer die Textilproduktion auf das Land abgesiedelt wurde. Der Zeitraum zwischen dem Ausbruch der Religionskriege und dem Tod Ludwigs XIV. (1715) bzw. dem Beginn des Jahrhunderts vor der Revolution ist durch mehrmalige Trendwenden gekennzeichnet. Krisenzeiten wie jene der Hugenottenkriege, der Verstrickung Frankreichs in den Dreißigjährigen Krieg, der Fronde sowie des Spanischen Erbfolgekriegs standen Erholungs- und Aufschwungsphasen, vor allem nach dem Bürgerkrieg und in der Periode relativer Prosperität unter Colbert gegenüber (Benedict 1989b:27f). Damit nimmt das Königreich eine Zwischenstellung zwischen dem durch die langanhaltende Rezession gekennzeichneten Mediterrangebiet und den Fortschrittslandschaften Nordwesteuropas ein. Demographisch ist die Entwicklung unsicher. Neueren Schätzungen zufolge wird, unter Ausschluß der annektierten Gebiete, zwischen 1600
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und 1700 ein mäßiges Wachstum der Gesamtpopulation von etwa 18/ 20 Millionen auf 21,5 Millionen angenommen. Hinsichtlich der Städte wurde vor allem auf die Stabilität des Netzes verwiesen. Kaum eine der Neugründungen schaffte den Eintritt in die Gruppe der führenden Provinzmittelpunkte (R. Chartier/H. Neveux in Le Roy Ladurie 1981:26). Dies gilt insbesondere für Charleville, das die Position von M6zieres nicht wirklich gefährden konnte, für Richelieu (Kruft 1989: 82-98) und Lorient, sowie für die Festungsstädte Mont-Louis, NeufBrisach/Neu Breisach oder Mont-Dauphin. Lediglich die Hafenstädte, Villefranijoise-Le Havre, das 1517 durch Franz I. gegründet und 1540 planmäßig erweitert wurde, daneben auch Toulon, Rochefort und Brest, sowie die Residenzstadt Versailles bildeten hier Ausnahmen (zu Versailles vgl. Lepetit 1977; Lepetit 1978). Die Stabilität des Netzes korrespondierte mit einem Wachstum seiner wichtigsten Knotenpunkte, daneben aber auch mit Verlusten der kleineren Städte in deren Umfeld. Daß sich die Einwohnerzahl der Metropole bis 1680 auf 530.000 (?) verdoppelte, ging zu einem großen Teil zu Lasten des ländlich-kleinstädtischen Raumes und betraf die mittleren Plätze erheblich weniger. Wie J. Dupäquier (1977) gezeigt hat, blieb die 1538 gegebene Gruppe führender Städte im Pariser Bekken bis 1725 weitgehend erhalten. Freilich schließt diese Feststellung rangmäßige, mitunter zeitlich begrenzte Verschiebungen nicht aus. Dies gilt auch für die französische Städtehierarchie als Ganzes. So setzten die Religionskriege der Rolle Lyons als Bankenzentrum ein Ende, die Einwohnerzahl sank von 70.000 um die Mitte des 16. Jahrhunderts auf 40.000 um 1600, um in der Folgezeit auf der ökonomischen Grundlage der florierenden Seidenindustrie wieder rasch anzusteigen; knapp nach 1700 wurde bereits die lOO.OOOer-Marke überschritten. Rouen, lange Zeit zweitgrößtes städtisches Zentrum Frankreichs (1650: 82.000), verlor Verkehrsfunktionen an Le Havre und einen Teil seiner gewerblichen Produktion an das sich industrialisierende Umland. Deutlicher zeigt sich die Stagnation im Falle von Toulouse, dessen Rolle im internationalen Waidhandel erheblich reduziert wurde. Erfolgreicher waren hingegen die meisten der Provinzhauptstädte, die Gerichtshöfe beherbergten: Rennes, das wie das erheblich kleinere Grenoble seine Einwohnerzahl zwischen 1550 und 1700 auf 45.000 mehr als verdreifachte, oder Aix-en-Provence, Dijon sowie Montpellier, wo immerhin etwa eine Verdoppelung zu konstatieren ist (zu Montpellier vgl. Irvine 1989). Nancy profitierte von seiner Hauptstadtfunktion. Neben den oben genannten Hafenstädten erlebten auch die Atlantikhäfen Nantes (von
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19.000 auf 42.000) und Saint-Malo (von 5.000 auf 25.000) sowie - für eine Hafenstadt des Mittelmeeres unerwartet deutlich - Marseille einen Aufschwung, das um 1550 etwa 30.000, um 1700 aber bereits 75.000 Einwohner zählte und damit hinter Paris und Lyon den dritten Platz im Königreich einnahm. Weniger erfolgreich war dagegen die Hafenstadt La Rochelle, die wohl den Sklavenhandel mit Westindien an sich zog, damit aber die durch den Verlust der Steuerbefreiung und des Stapels, den Rückgang im Salzhandel und den Wegzug mehrerer führender Kaufmannsfamilien im Gefolge des Widerrufs des Edikts von Nantes eingetretenen Rückschläge nur teilweise kompensieren konnte. Insgesamt war das französische Städtewesen im 17. Jahrhundert durch ein gemäßigtes Wachstum gekennzeichnet, das allerdings jenes auf dem Lande übertraf. Das Städtenetz profitierte von der Festigung des Staates und vom weiteren Ausbau seines Verwaltungsapparats, des „Etat d'Offices", der seine Grundlegung vor allem während des 16. Jahrhunderts erhalten hatte, in der Folge aber Ergänzungen erfuhr. Bürokratische Amtsträger hoben nicht nur den zentralörtlichen Charakter der Städte, als politische und soziale Eliten repräsentierten sie Kaufkraft und sorgten damit für Aufträge zugunsten des sekundären und tertiären Sektors. In der Zeit Ludwigs XIV. wuchsen mit den vermehrten Ausgaben für Militär und Marine die staatlichen Investitionen in bestimmte Stadttypen, gut sichtbar etwa am Ausbau der Arsenale in Brest, Rochefort und Toulon, an der Erweiterung und am Neubau zahlreicher Fortifikationen sowie an der Einrichtung fester Garnisonen. Da die Truppen vom Staate aus Steuergeldern bezahlt wurden, die überwiegend das Land belasteten, sah man im Militär einen Beförderer der städtischen Ökonomie. Zudem bedeuteten die Garnisonen auch keinen Eingriff in die - bereits stark reduzierten - autonomen Rechte, so daß man ihnen freundlicher als beispielsweise in deutschen Städten gegenüberstand (zusammenfassend Benedict 1989b:28-30). Die Rolle der Städte in der Zivil- und Militärverwaltung vollzog sich auf verschiedenen Ebenen, die sich im Falle einer Bündelung verschiedener Aktivitäten auch überschneiden konnten. Erheblich blieb der Stellenwert innerhalb der Organisation der Gerichtsbarkeit. Für Besanfon, um 1790 eine Stadt mit etwa 32.000 Einwohnern, wurde eine Zahl von 500 Personen, die dem Parlement und den nachgeordneten Gerichten unmittelbar zugeordnet waren, d.h. zusammen mit ihren Familien ein Anteil von 7-8% an der Gesamtbevölkerung, errechnet. In 13 weiteren der in ihrer Zahl gegenüber 1610 um zehn auf 18 angewachsenen Parlamentsstädte, Grenoble, Dijon, Aix-en-Provence,
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Trevoux, Rennes, Pau, Metz, Colmar, Perpignan, Arras, Douai, Bastia und Nancy, die etwa gleichgroß wie Besang:on oder kleiner waren, waren die Verhältnisse ähnlich. Toulouse bildete den Übergang zu jenen großen Städten, wie Paris, Bordeaux oder Rouen, die durch eine Vervielfachung der Funktionen des Behördenapparats gekennzeichnet waren (Meyer 1983:117f). Am Städtenetz orientierten sich auch die im 17. Jahrhundert zusätzlich geschaffenen Einheiten der staatlichen politischen Administration, insbesondere die Intendanturen (36) mit ihren Subdelegationen. Die Städte profitierten von diesen Einrichtungen, da diese zu einer Konzentration von Eliten führten und in weiterer Folge ein den Residenzstädten vergleichbares, durch Kaufkraft charakterisiertes soziales Milieu schufen, wie es sich beispielsweise in Grenoble, Rennes oder Dijon, in Städten, die auch Sitz von Provinzialständen waren, nachweisen läßt. Ein vielfach von bestehenden hierarchischen Mustern abweichendes Netz schuf die Militärorganisation, zumal die hier wirksamen besonderen Bedürfnisse eine Stationierung von Soldaten in grenznahen Kleinstädten des Nordens und Nordostens sowie in einigen Alpenstädten (Впапфоп, Embrun) notwendig machten. Dazu kamen die Arsenale, die großen Festungsstädte (Neuf-Brisach, Toulon) sowie die Sonderfälle Metz und Paris (Meyer 1983:120). Das Wachstum der Städte im 17. Jahrhundert wurde über die Anreicherung mit Verwaltungsfunktionen hinaus auch durch den Zuzug des alten Adels stimuliert, was in weiterer Folge die Ausbildung einer städtisch-aristokratischen Kulturpraxis auf hohem Niveau bedeutete. Vorrangig läßt sich dieses Phänomen natürlich in Paris nachweisen, wo große Familien etwa im Marais schon im 16. Jahrhundert „hotels" für kurze Aufenthalte erwarben oder vorhandene ausgestalteten (vgl. Descimon 1989; ferner Wilhelm 1977). Im darauffolgenden Jahrhundert nahm die Zahl dieser Gebäudekomplexe, die sich mit der Verlängerung der Verweildauer der adeligen Hofhaltung zu Hauptresidenzen wandeln konnten, zu. In den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts machten die „hotels" bereits 2,12% der Pariser Häuser aus (Meyer 1983:144). Vergleichbare Veränderungen finden sich in geringerem Umfange aber auch in einzelnen Provinzstädten. So zählte Aix-en-Provence 400 Familien des Schwertadels neben 193 der Noblesse de la Robe (Benedict 1989b:30), daneben konnten fallweise auch Kleinstädte eine aristokratische Färbung erhalten. Zur verstärkten Einnistung des adeligen Rentiers in den Städten korrespondierend verlief die Ausdehnung stadtbürgerlicher Kontrolle über
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das Land. Hatte das Bevölkerungswachstum zu Beginn der Neuzeit zu einer Fragmentierung der bäuerlichen Betriebseinheiten geführt, so führten die Steuereintreibungen und Plünderungen des 17. Jahrhunderts häufig zu deren Verschuldung, meist gegenüber städtischen Kreditgebern. Die Folge war die Vergrößerung des ländlichen Grundbesitzes in der Hand reicherer Stadtbewohner und die Zunahme bürgerlicher Rentenbezieher (Clark/Lepetit 1996:13). Das Verhältnis der Städte zu ihrem Umland wies aber noch eine weitere Facette auf: die Verlagerung der gewerblichen Produktion auf das Land, insbesondere seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. So waren vor 1700 zwei Drittel der Wollzeugweberei in der Picardie und im Beauvaisis landsässig, 1737 schon drei Viertel der Feinleinenerzeugung der einst hochentwickelten Textilstadt Valenciennes. Für die Städte bedeutete dies zweierlei: einerseits steigende Einkünfte der Kaufleute und Verleger, anderseits sinkende Einnahmen der Handwerker. Freilich entsprach dies nur einem zunehmend häufiger werdenden Muster und galt weder für alle Städte noch für alle Gewerbeprodukte. In der Regel stadtsässig blieb die Luxusgüterindustrie; hierher zählten etwa die Seidenindustrie von Lyon und Tours, aber auch zahlreiche Pariser Luxusgewerbe, die nicht nur die einheimischen Eliten versorgten, sondern zunehmende Absatzgewinne auch im Ausland erzielten (Benedict 1989b:32). Auf das mit der Intensivierung des Atlantikhandels wachsende Geschäft einzelner Hafenstädte und deren Kaufleute wurde bereits verwiesen. Faßt man den Zeitraum vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Revolution von 1789 wiederum als Einheit auf, so gelten hinsichtlich des Städtenetzes bei durchaus erkennbarer Verlangsamung des Wachstums einige der schon für das 17. Jahrhundert gemachten Feststellungen. Die oberen Ebenen der Hierarchie wurden von jenen Städten eingenommen, die schon im 16. und 17. Jahrhundert führend waren. Paris lag mit 510.000 Einwohnern um 1700 und mit 660.000 (mit Vororten) um 1790 unangefochten an der Spitze. Sein Wachstum wurde allerdings durch den Aufstieg von Le Havre und Versailles gebremst und blieb mit 29% gegenüber 63 Provinzstädten, die um 32% zunahmen, und sogar gegenüber dem Gesamtstaat mit 31% leicht zurück (Benedict 1989b:39). Verglichen mit der demographischen Entwicklung in (acht) Provinzhauptstädten, deren Zunahme bei nur 21% lag, blieb die Dynamik nicht unerheblich. Für den am stärksten wachsenden Städtetyp, die Hafenstädte, lag die Quote hingegen bei 47%. Vereinfacht bedeutet dies die Zunahme des Gewichts ökonomischer gegenüber administrativen Faktoren für das Städtewachstum und ein Zurücktreten des Staates als Stimulans. So stieg auch die Zahl der königlichen Ämter ledig-
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lieh von 45.800 im Jahre 1664 auf 60.000 am Vorabend der Revolution. Das Adels- und Rentierselement in den Städten blieb wohl erhalten, verlor allerdings an Stellenwert (Benedict 1989b: 40f). Unterzieht man die nach der Volkszählung von 1806 neun größten Städte des Königreichs einer funktionalen Bewertung, so läßt sich feststellen, daß neben Paris nur Bordeaux, Rouen, Lille, Toulouse und Strasbourg eine erstrangige Rolle im politischen Leben des Ancien Regime gespielt haben. Hingegen besaßen weder Nantes noch Lyon, wo die Quote der gerichtszugeordneten Personen an der Gesamtbevölkerung nur bei 1% lag, oder Marseille innerhalb des institutionellen Rahmens ein besonderes Gewicht. Vielmehr stand Marseille diesbezüglich im Schatten von Aix-en-Provence und Nantes in jenem von Rennes (Meyer 1983:120-127). Das 18. Jahrhundert war für Frankreich eine Epoche, in der Handel und Industrie mit neuer Dynamik expandierten, zumindest bis zur Wirtschaftskrise nach 1775. Dies gilt nicht nur für die Binnenbeziehungen, sondern vor allem für den Außenhandel in Verbindung mit der Vervielfachung von Dimension und Kontakten im Kolonialhandel. Es waren daher die großen Hafenstädte, die hohe Wachstumsraten aufwiesen. Von den größeren derselben wuchsen Nimes bis 1797 um 194% auf 50.000, Bordeaux mit seinen zwei „moteurs", dem Wein vor bzw. dem Zucker der Antillen nach 1730, bis 1790 um 144% auf 110.000, Brest und Nantes bis 1789 um 100% auf 30.000 bzw. 80.000; um die Hälfte nahm auch das nunmehr standortmäßig weniger begünstigte Marseille zu. Der Außenhandel legte zudem den Grundstein für die Entstehung neuer, exportorientierter Industrien. So entstand in Nimes eine vorwiegend auf den Absatz nach Südamerika ausgerichtete Seidenindustrie, in Toulouse eine Industrie für Getreidemühlen; Marseille entwickelte sich zum Zentrum der Seifenerzeugung und Orleans zu einem solchen der Zuckerraffinerie. Die Verknüpfung der großen Fernhandelsplätze mit dem Binnenland wurde durch die Verdichtung und den technischen Ausbau der Verkehrsverbindungen erreicht. Es ist hier sogar von einer „Revolution des Transports" gesprochen worden (Meyer 1983:133f), die in ihrer Dimension sonst in keinem europäischen Staat erreicht wurde. Dies gilt zum einen für den Straßenbau, der mit der Einführung der allgemeinen Robotpflicht für Anlage und Erhaltung der Fernstraßen seit dem frühen 18. Jahrhundert eine systematische verkehrsmäßige Erschließung des Reiches ermöglichte, weiters für die Anlage eines das System der schiffbaren Flüsse ergänzenden Kanalnetzes, womit beste Voraussetzungen für die Beschleunigung und Verbilligung des Ver-
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Tabelle 15: Einwohnerzahl französischer Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern 1500-1800 (nach De Vries, Bairoch/Batou/Chevre, Benedict) 1500 Abbeville Agen Aix-en-Provence Albi Αΐεηςοη Amiens Angers Angouleme Arles Arras Auxerre Avignon Bayeux Bayonne Beauvais Besanfon Beziers Blois Bordeaux Boulogne Bourges Brest Caen Cahors Cambrai Carcassonne Castres Chalons-sur-Marne Chalons-sur-Saöne Chartres Cherbourg Clermont-Ferrand Colmar Dieppe Dijon Douai Falaise Grenoble La Rochelle Laval Le Havre Le Mans Le Puy Limoges Lisieux Lorient Lyon Macon Marseille Metz
1550
1600
1650
1700
1750
1800
15 10 28 10 12 30 27
15 10 27 8 12 35 25
20 15 10 23 7 12 12 15 12 14 45
23 17
15 15 27
25 20 35
18 10 21 10 13 40 32 14 20 19 12 21 10 12 13 30 14 13 96 12 18 26 34 10 14 14 13 11 11 12 14 30 13 17 22 18 10 23 21 12 19 18 12 16 11 15 110 10 101 39
15
20 12
28 17
8 25 25
11 27 32
10 11 7
11
15
25
10 6 9
8 11
8
10
11
13
20 2
33
16 35
18 40
12
12 11 9 11
12 12 9 15
12 4
14 3
14 4 12 7 15 21 13 9 20 21 10 9 17 10 12
13 6 24
5 13
12 25 13 11 62
12
9 12 3
22 8
8 12
14
18
6
10 23
14 17
3
6
18 20 21 24 19 10 14 16 10 18
50
70
40
75
4 97
114
21 15
30
45 19
66 15
75 22
68 29
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Fortsetzung Tabelle 15:
Montauban Montpellier Moulins Nancy Nantes Nevers Nlmes Niort Orleans Paris Perpignan Poitiers Reims Rennes Riom Rochefort Rouen Saint-Etienne Saint-Malo Saint-Omer Saint-Quentin Strasbourg Toulon Toulouse Tours Troyes Versailles Vienne
1500
1550
1600
1650
1700
1750
1800
12
17 15
17
6
14
4 19
8 25
5 40
18 23 11 15 42
16 35 11 22 57
15 12 52 450 11 23 35 36
17 12 32 510 17 20 25 45
29
19 31 13 29 74 11 41 14 48 581 13 20 31 28 13 15 81 18 18 20 10 49 32 50 23 23 27 10
12 12
13
13 8 37 250 12 18 22 22
40
65
60
82
15 64
67
4 11
5
10 12
15 13
25 15
15 16
20
24
35 16 23
40
25 10 40
23 20 42
26 25 43 32 21 25
40 26 45 22 18 30
200
8 47 250 13 15
25 5
37 570 18 30 30
kehrs geschaffen wurden. So kostete der Transport einer Last von 1,2 t über eine Strecke von 85 km im Jahre 1702 18 Livres, 1725 12 und 1750 gar nur mehr 3 Livres. Die Ausdehnung der Manufakturproduktion konnte sich für die einzelnen Punkte des Städtenetzwerks mit unterschiedlichen Konsequenzen verbinden. Innerhalb des Textilsektors, der innerhalb eines Jahrhunderts um 76,4% expandierte, wobei zahlreiche neue Produktionszentren für bedruckte Baumwollstoffe entstanden, setzte sich z.T. die schon früher erkennbare Verlagerung aufs Land fort. Dies gilt etwa für Rouen, Valenciennes, Caen, Reims oder Aumale. Der Bevölkerungsanstieg in diesen alten Textilstädten blieb daher zumeist auch relativ bescheiden und überschritt nur ausnahmsweise die 30-Prozentmarke. Andererseits verhalf die steigende Nachfrage auch zu einer Vergrößerung des Produktionsumfangs in einzelnen Städten, etwa in Amiens, Louviers oder Sedan, wo die Zahl der städtischen Webstühle und somit eine stadtsässige Protoindustrie zunahm.
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Karte V: Großstädte in Frankreich um 1700
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Insgesamt begünstigte die neue Prosperität vor allem das kommerzielle Element in den Städten, das mitunter zum Adel aufschloß, wogegen den Beamten- und Juristen die Partizipation am Aufschwung weniger gelang. Die Ausdehnung der Besitzrechte der Eliten aufs Land verlor an Stellenwert. Wie aus einzelnen Untersuchungen zur Sozialstruktur zu erkennen ist, konzentrierte sich der Reichtum auch weiterhin bei den Adeligen und erst in zweiter Linie bei den Kaufleuten. Dies gilt für die Binnenplätze Dijon und Toulouse ebenso wie für die Hafenmetropole Bordeaux, wo „negociants" wie die Gradi und Bonaffe bemerkenswerte Handelserfolge erzielten. Aber selbst in einer Manufakturstadt wie Lyon korrespondierte Reichtum vorab mit adeliger Standesqualität. Um 1780 waren hier die großen Adelsvermögen dreimal so groß wie jene der großen Kaufleute (Benedict 1989b:42). Es gab natürlich auch Verlierer im Zuge des 18. Jahrhunderts. Dies gilt vor allem für eine größere Zahl kleiner und mittlerer Städte, welche die Konjunkturimpulse nicht für sich zu nutzen vermochten. Beispiele einer demographischen Stagnation waren etwa Aurillac oder Angers. In anderen Fällen führten äußere Ereignisse einen Rückschlag oder den Eintritt in eine Rezession herbei. So brachte für Aix-en-Provence die Pest von 1720, die bekanntlich auf die Provence, die Grafschaft Venaissin und Gevaudan beschränkt blieb, deutliche Verluste. Hatte die Stadt um 1700 28.500 Einwohner, so waren es nach dem Seuchenzug nur 16.600; bis 1790 war allerdings das alte Niveau wieder erreicht. Avignon konnte die Verluste weniger gut verkraften. Im Falle von Caen, das bis 1775 von 26.500 zu Jahrhundertbeginn auf 41.000 angewachsen war, bedeutete die Versorgungskrise der Jahre 1771-1772 den entscheidenden Einbruch (Le Roy Ladurie 1981:295-300). SPANIEN
Das frühneuzeitliche Spanien war trotz seiner klaren Grenzbildung nach außen im Inneren ein inhomogenes Kompositum. Diese Feststellung betrifft zum einen die alten historischen Gebietseinheiten, die ab 1474/79 in Form einer Personalunion unter einer Herrschaft zusammengefaßt waren, zum anderen auch die unregelmäßige Verteilung der Städte, nicht zuletzt deren unterschiedliche Verankerung in der Verfassung des Königreiches. Mit der Vereinigung der Kronen von Kastilien und Aragon wurden allein auf der Iberischen Halbinsel nicht weniger als sechs alte Territorien in einer Machtkonzentration verbunden. Es waren dies einerseits Alt- und Neukastilien (einschließlich Andalusien, Murcia) sowie
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Leon, andererseits Aragon und Valencia sowie das Prinzipat Katalonien, als Inselkomplex kam noch Mallorca hinzu. Mit der aragonesischen Krone verbunden waren weiters die Königreiche Neapel und Sizilien, auf die hier im weiteren ebensowenig eingegangen wird wie auf die spanischen Niederlande. Die Eroberung von Granada 1492 sowie die Annexion der südlichen Teile Navarras ab 1512 vollendeten die peninsulare Herrschaftsbildung, sieht man von der zwischen Spanien und Portugal im Zeitraum von 1581 bis 1668 bestehenden Personalunion ab. Schwankte der Urbanisierungsgrad der Großregionen trotz der divergierenden geographischen Voraussetzungen und ökonomischen Ressourcen - Kastilien verfügte etwa über drei Viertel der Fläche und vier Fünftel der Bevölkerung (ohne Portugal) - zunächst nur unerheblich, so ergaben sich doch deutliche Unterschiede im Verteilungsmuster der größeren Städte. Von den im Zeitraum zwischen 1500 und 1699 nachgewiesenen 41 Städten mit über 10.000 Einwohnern (mit Palma 42, nach 1700 mit Bilbao 43) lagen 36 in Kastilien und nur fünf in den übrigen Fürstentümern. Von letzteren konzentrierte Barcelona, die Hauptstadt Kataloniens, 10,4% der Bevölkerung am Ende des 15. bzw. 13,8% am Ausgang des 18. Jahrhunderts, Zaragoza als altes Zentrum Aragons etwa 8%, während auf die drei größeren Städte des Königreichs Valencia, die gleichnamige Stadt, weiters Alicante und Orihuela vor der endgültigen Vertreibung der Moriscos 1609 18,4% der Bevölkerung entfielen (Gelabert 1994:183f). Die einwohnerstärkste Stadt der Iberischen Halbinsel war um 1500 mit 50.000-70.000 Granada, das etwa ein Sechstel der Gesamtbevölkerung des 1492 von Kastilien eroberten islamischen Reiches beherbergte. Unter Einschluß der größeren Städte Malaga und Almeria dürfte der Urbanisierungsgrad des ehemaligen Königreichs zu Beginn des 16. Jahrhunderts bei nahezu 30% gelegen haben (Ladero Quesada 1989:48f). Kastilien als Region mit der größten Städtezahl erlebte im 16. Jahrhundert ein rasches urbanes Wachstum, das an der Wende zum 17. Jahrhundert von einer demographischen Krise abgelöst wurde, die bis ins 18. Jahrhundert andauerte. Eine gegen Ende des 17. Jahrhunderts einsetzende Erholung betraf vor allem den ländlichen Raum. Der hohe Urbanisierungsstandard, wie er vor 1600 gegeben war, konnte nicht mehr bzw. nur in Teilregionen erreicht werden (vgl. allgemein Perez Moreda 1980; Molinie-Bertrand 1985). Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf die Unterscheidung zwischen dem Rechtsterminus „villa", der Orte mit einer bestimmten Privilegierung meint, und denjenigen Städten (ciudades), in der Regel größeren Ge-
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meinwesen, denen dieser Titel durch den König für besondere Verdienste verliehen wurde (Gelabert 1995:273). Dies ist insofern von besonderem Belang, als die größeren Städte nach 1600 einen demographischen Kollaps erlebten, während die Zahl der privilegierten Orte im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts rasch anstieg. So sollen in den 180 Jahren vor 1700 insgesamt 146 Dörfer zu Kleinstädten (villas) gemacht worden sein, im folgenden Jahrhundert allerdings nur mehr 48 (Nader 1990:3). 1787 besaß Spanien 145 Städte, davon lediglich 38 in den Territorien von Valencia, Aragon, Mallorca sowie in Katalonien, daneben über 4.000 Klein- und Marktstädte, zumeist auf Adelsbesitz. Diese bildeten im 17. und 18. Jahrhundert die Grundlage für den Aufbau neuer, desintegrierter Städtelandschaften, die das zunächst international angebundene, nunmehr fragmentierte Netzwerk des 16. Jahrhunderts überlagerten oder ersetzten. Die günstige ökonomische Entwicklung des 15. Jahrhunderts hat die Voraussetzung dafür geschaffen, daß, gleichzeitig mit der Orientierung des Handels zum Atlantik hin, die Städte Kastiliens in einen weltwirtschaftlichen Kontext eingefügt wurden. Es entstand eine Städtehierarchie, deren Spitze zunächst Toledo, die Hauptstadt Neukastiliens, bildete. Dieses besaß 1561 11.272 Vecinos, d.s. etwa 50.000 Einwohner (Weisser 1973:621; vgl. auch Montemayor 1991), war als Seiden- und Tuchproduktionsstadt zugleich aber auch industrielles Zentrum und koordinierte die Handelskontakte mit Valencia im Osten, dem einwohnerstarken Atlantikhafen Sevilla (65.000 um 1550) im Süden sowie der internationalen Achse Burgos-Bilbao-Flandern im Norden. Das nur wenig kleinere Valladolid beherrschte das urbane Altkastilien und stand sowohl mit Burgos als auch mit den Messeplätzen Medina del Campo und Medina del Rioseco in kommerzieller Verbindung. Aus der Funktion als Residenzstadt abzuleiten ist hier der Vorrang der administrativen und politischen Bezüge vor jenen des Handels, mit denen Valladolid weder an Toledo, aber auch nicht an Städte wie Sevilla oder Burgos heranreichte (Ringrose 1983:279). Eine weitere Gruppe größerer Städte mit einer Einwohnerzahl zwischen 10.000 und 25.000, Segovia, Avila, Guadalajara, Cuenca oder Salamanca, war zumeist durch eine kräftige Textilindustrie charakterisiert. Dazu kamen solche mit speziellen merkantilen Funktionen (Medina del Campo, Burgos) und jene Städte, die vorwiegend als Zentren eines agrarischen Umlandes fungierten, darunter etwa Leon, Ciudad Real oder Soria. Die ersten beiden Drittel des 16. Jahrhunderts waren durch eine Bevölkerungszunahme in den Städten gekennzeichnet, die auf Kosten
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des agrarischen Hinterlandes erfolgte. Wuchs die Gesamtbevölkerung in Kastilien zwischen 1526/1528 und 1591 um 48,4%, so betrug das Wachstum der Städte während dieses Zeitraums 62%. In Einzelfällen, beispielsweise in Segovia, machte die Zunahme in der Stadt das Doppelte jener des Umlandes aus; hohe Werte lassen sich auch für Zamora, Burgos, Palencia oder Guadalajara nachweisen. Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts mehren sich allerdings die Zeichen einer demographischen Erschöpfung, und dies gilt in gleicher Weise für den ländlichen Raum wie für die Städte. Wenn Übereinstimmungen in der Entwicklung sowohl in Neukastilien als auch in Andalusien konstatiert wurden, so muß auch auf einige Ausnahmen verwiesen werden. Beispielsweise erreichte Sevilla seinen höchsten Wert mit 25.886 Haushalten (126.000 Einwohner ?) erst um 1597, zu einem Zeitpunkt, der mit den Spitzen der amerikanischen Silberlieferungen zusammenfiel, und auch für Murcia hielt die gute Entwicklung bis gegen 1600 an. Bei einer Vielzahl von Städten machen Rückgänge der Geburtenzahlen (in Cuenca ab 1561, Toledo ab 1571, Ciudad Real ab 1575) aber eine Umkehr der Bevölkerungskurve erheblich früher wahrscheinlich (Gelabert 1994:184f). Die Stagnation setzte hier im Jahrzehnt zwischen 1561/1571 ein und mündete in den krisenhaften neunziger Jahren bereits in eine deutliche Abwärtsbewegung. Die Trendwende korrespondiert zunächst recht auffällig mit dem Aufstieg Madrids, das 1561 durch Philipp II. zur Hauptstadt erklärt worden war (ursprünglich mit villa-Charakter) und die Einrichtungen des Hofes aufnahm (zuletzt Lopez Garcia/Madrazo Madrazo 1996). Hatte in Staaten mit vergleichbarer Tendenz zum Zentralismus das alte Herrschaftszentrum von vornherein in der engeren Nachbarschaft keine größere Mittelpunktsbildung zugelassen, so bedingte die Entstehung der neuen Hauptstadt eine Umstrukturierung des gesamten städtischen Systems. Betroffen waren nicht nur Städte wie Valladolid, Segovia oder Toledo, die jene zentralen Funktionen verloren, die sie groß gemacht hatten, sondern vor allem die nachfolgende Gruppe kleinerer Städte, deren Einkommen zugunsten der größeren umgeleitet wurde (Ringrose 1983:286). Madrid überflügelte Toledo bereits an der Jahrhundertwende in der Einwohnerzahl, um sich bis 1630 auf die dreifache Größe auszudehnen. Dann erst setzte auch hier der das spanische Städtewesen generell betreffende, die größeren Urbanen Gebilde aber stärker als die kleineren erfassende Niedergang ein. Im Falle Valladolids konnte die Rückkehr des Hofes in den Jahren zwischen 1601 und 1606 den Bedeutungsverlust nur kurzfristig aufhalten
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(Bennassar 1967:127). Die Verlegung der Chancilleria, des Obersten königlichen Gerichtshofes, nach Medina del Campo, ist wohl mehr Ausdruck als Ursache dieses Prozesses. Die Probleme des spanischen Städtewesens seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts, dem sich nur administrative Mittelpunkte und als regionale Sonderentwicklung einige Zentren im südlichen Andalusien entziehen konnten, sind wohl auf ein Bündel von Ursachen zurückzuführen, die teilweise viel ältere Wurzeln erkennen lassen (im folgenden nach Gelabert 1994:191-205; Gelabert 1995:275-280). Eine Ursache war die zunehmende Beanspruchung durch das Fiskalsystem. Imperialistische Bestrebungen und daraus resultierende Kriegskosten führten schließlich 1557 zum ersten Staatsbankrott und in der Folge zu einer Steigerung der Alcabalas, ursprünglich munizipaler Steuern, welche die Städte umso mehr bedrängte, als sie mit einer sich verstärkenden wirtschaftlichen Rezession zusammenfiel. Dazu kam, daß das System die städtischen gewerblichen Aktivitäten, insbesondere die Textilmanufaktur, stärker besteuerte als das zur Kopfsteuer tendierende Land. Nach der Niederlage der Armada (1588) mußten die Städte ab 1590 hohe Kredite (servicios) gewähren, die für Investitionen verloren gingen. Zunehmender Druck entstand mit dem Rückzug der ausländischen Kreditoren, insbesondere der Genueser Bankleute, mit der Mutation der Millones, einer ursprünglich außerordentlichen Steuer, zur staatlichen Haupteinnahmsquelle. Steuersenkungen nach 1601 korrespondierten mit der Einführung zusätzlicher Akzisen auf Wein, Essig, Öl und Fleisch (sisas), die eine neuerliche Mehrbelastung der Städter, und hier vor allem der weniger bemittelten, verursachten. Für Sevilla wurde eine Versiebenfachung der Steuerlast zwischen 1590 und 1650 errechnet. Der Anstieg der Steuerforderungen in absoluten Werten fiel für die Städte in desaströser Weise mit der Beschränkung oder gar dem Verlust der ländlichen Distrikte ihrer Jurisdiktions- und Finanzhoheit zusammen. Hatten es die Städte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verstanden, aus dem Repartitionsrecht (encabezamiento) der Alcabalas die politische und fiskalische Kontrolle über das Hinterland zu verstärken und dieses zu belasten, so versuchte der Staat in der Folge, die Berechtigung auf dem Privilegienwege zwischen Städten, ländlichen Gemeinden und adeligen Patronen im Hinblick auf die zerrütteten Staatsfinanzen neu zu verteilen. Insbesondere seit 1537 schufen die häufig erteilten „privilegios de villazgo" auf Kosten älterer Städte neue Selbstverwaltungseinheiten und Jurisdiktionsbezirke, wodurch Massen von bisherigen Zahlern der städtischen Steuerhoheit entzogen wurden.
212
Spanien
Den Städten blieben zwei Möglichkeiten, dem Verlust der abhängigen Dörfer zu entgehen. Entweder man zahlte eine Steuersumme, die zumindest gleichhoch war wie die von den Landgemeinden entrichtete, oder man erlegte für die Beibehaltung des Status quo größere Summen an die königliche Kammer. Letztere Option wurde u.a. von Cordoba, Toledo oder Sevilla, also reicheren Städten, ergriffen, was jedoch keine lückenlosen Garantien implizierte, da später Fälle des Rückkaufs zur Wiedererrichtung des Territoriums nachzuweisen sind. In der ersten Welle kam daher die Mehrzahl der entfremdeten Neustädte aus dem Senorio der mittelgroßen und weniger reichen Städte. Beispielsweise verlor Alcalä de Henares bis 1565 15 seiner 24 abhängigen Dörfer. Die fiskalische Belastung der Städte wurde in ihrem vollen Gewicht erst aus ihrer Koinzidenz mit wirtschaftlichen und strukturellen Wandlungen wirksam. Erheblich war die auf dem Lande einsetzende Rezession, für die neben den genannten Faktoren auch eine Reihe schlechter Ernten verantwortlich war, die Getreideimporte aus Nord- und Osteuropa notwendig machten. Der Rückgang der ländlichen Nachfrage schlug unmittelbar auf die wenig gefestigten städtischen Manufakturen zurück, deren Produkte gegenüber den Importwaren an Konkurrenzfähigkeit verloren. Dazu kam, daß das ausländische Kapital nicht nur die Staatsfinanzen, sondern auch den Handel und damit die Produktion und den Export von Rohstoffen beherrschte. Der einsetzende Verlust an Vitalität erfaßte mit Ausnahme Madrids nahezu alle Hauptzentren des städtischen Netzwerks. Hatte im 16. Jahrhundert das Wachstums der Städte Kastiliens aus einer intensiven Zuwanderung aus den umgebenden ländlichen Bezirken resultiert, so geriet dieses nunmehr ins Stocken, eine Situation, die über eine lange Zeit anhalten sollte. Folgt man H. Nader (1990:154), so wurde die Qualität der Lebensbedingungen zum Maßstab für die Attraktivität städtischer Siedlungen, wobei die größeren Ciudades den unteren, die königlichen Kleinstädte den oberen Rand der Palette markieren. Lebensmittelpreise und Reallöhne, Steuerleistung und Zugangsmöglichkeit zum Gewerbe wurden zu den entscheidenden Parametern der Wanderungsbewegungen. Die Rezession betraf zum einen jene alten Mittelpunkte, deren Erfolgskurve bereits durch den Aufstieg Madrids unterbrochen worden war. So verlor Toledo im Verlaufe des 17. Jahrhunderts den Großteil seiner Seiden-, Wollstoff- und Leinenproduktion, die Zahl der Haushalte fiel von etwa 11.000 1591 auf weniger als 5.000 im Jahre 1639 (vgl. auch Lees/Hohenberg 1989:448). Valladolid, das 1601 durch die
Region und
Wirtschaft
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Rückkehr des Hofes kurzfristig profitiert hatte, sank auf etwa 3.000 Familien im Jahre 1646. Ähnliche Verluste hatten mit der Verdünnung der Außenbeziehungen die führenden Handelsstädte zu verzeichnen. Burgos, Sitz des Konsulats der Kaufleutegemeinschaft und Vermittler des Handels mit Nordwesteuropa, fiel bis 1631 unter ein Drittel seiner Bevölkerungszahl von 1591, und Sevilla verlor etwa 40% seiner Einwohner, wofür allerdings der Pestzug von 1649 in einem hohen Maße verantwortlich gewesen sein dürfte (zuletzt Aguado de los Reyes 1994). Hier folgte nach einer Erholung in der zweiten Jahrhunderthälfte eine neuerliche Rezession, die wohl im Zusammenhang mit dem Verlust des Monopols im spanischen Westindienhandel stand, welches die Stadt am Guadalquivir 1717 an das günstiger gelegene Cädiz abgeben mußte (zu Cadiz Garcia/Gonzäles 1976). Aber auch die Städte der zweiten Reihe wurden vom wirtschaftlichen Niedergang erfaßt. Dies gilt ebenso für die industriellen Plätze Segovia, Cuenca und Avila wie für die kommerziellen Mittelpunkte. Von letzteren hatten Medina de Rioseco und Villaion ihre Märkte bereits 1567 zugunsten einer Konzentration in Medina del Campo abtreten müssen, das mit dem Aufstieg Madrids als Geschäftsplatz eine Konkurrenz in den näher zur Hauptstadt gelegenen Messen von Alcalä de Henares erhielt. Letztere wurden ihrerseits wiederum 1599 nach Guadalajara verlegt, während man in Nordkastilien 1602 Burgos als Messezentrum einrichtete, um dort den Ruin der Stadt aufzuhalten. Vergeblich, wie bereits gezeigt wurde (Ringrose 1983:280f; Albaladejo 1994:176). Stabilisierend wirkte letztendlich nur die Behauptung zentraler, meist ins Mittelalter zurückreichender Institutionen der Verwaltungsebene, von Gerichtshöfen, kirchlichen oder militärischen Einrichtungen, Universitäten oder Kathedralkapiteln (Gelabert 1995:292). Im Hinblick auf die Beschäftigungsziffern wurden die von einem Bischofshof ausgehenden Impulse für den Dienstleistungssektor mit solchen, die ein halbes Dutzend (Groß-)Kaufleute zu entwickeln imstande war, gleichgesetzt. Die „Deurbanisierung", sofern man diesen Begriff auf die Kennzeichnung der Entwicklung der früheren Großstädte beschränkt, und eine Rustikalisierung, die wiederum die Bildung neuer kleinstädtischer Mittelpunkte in sich schloß, setzte sich während der zweiten Hälfte des 17. und noch in Teilen des 18. Jahrhunderts fort. Betroffen waren in erster Linie Zonen des Binnenlandes, während im Falle der Hafenstädte die Abkoppelung von den internationalen Märkten niemals eine vollständige war. Zudem waren sowohl das Baskenland als auch Andalusien durch das Steuersystem begünstigt. Das Verhältnis Madrids
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Spanien
als Haupt- und Residenzstadt zum gemeinurbanen Trend war weiterhin mehr durch Abweichungen als durch Übereinstimmungen charakterisiert. Nach vierzig Jahren eines durchaus ruhigen Wachstums, in dessen Verlauf sich die Einwohnerzahl Madrids von etwa 35.000 auf 49.000 (65.000?) gesteigert hatte, warnach 1600 eine bis ca. 1630 anhaltende dynamische Phase gefolgt (Ringrose 1983:331f; Carbajo Isla 1987). Ihre Voraussetzung bildete die endgültige Residenznahme durch den König, die wiederum einen verstärkten Zuzug des Adels und die Einrichtung von Ämtern und Behörden auslöste. Das Bevölkerungswachstum zwischen 1606 und 1630 korrespondierte nicht nur mit einer Hausse der Bauwirtschaft, sondern auch mit der Konzentration der Nachfrage nach Lebensmitteln, Gütern des täglichen und letztlich auch des über Importe befriedigten gehobenen Bedarfs. Ökonomisch bestimmend wurde der für Residenzstädte charakteristische Tausch politischer Dienstleistungen gegen Steuern und Einkünfte (Ringrose 1983:314). Folgt man D. Ringrose (1983:287), so hat der Druck der Metropole auf die Regionalmärkte hinsichdich wichtiger Nahrungsmittel wie Fleisch, Olivenöl, Wein und Weizen die regionalen städtischen Netzwerke unterminiert, wie der permanente Abfluß von Geldern aus den Feudalbesitzungen in die Metropole, wo sie für Dienstleistungen und Luxuswaren ausgegeben wurden, die ländliche Wirtschaft aushöhlte und in ihrer Leistungsfähigkeit beschränkte. Die Fortschritte zur Sicherung des Primates auf hohem Niveau kamen in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts plötzlich ins Stokken. Gründe hiefür waren zum einen die dramatisch zurückgehenden Einkünfte der Krone aus dem amerikanischen Silbergeschäft, zum anderen politische Faktoren, der Eintritt Frankreichs in den Dreißigjährigen Krieg (1635) sowie Aufstände in Katalonien, Portugal (1640) und Neapel (1646), die zu einem raschen Anwachsen der Militärausgaben führten. Zu deren Bestreitung war die Regierung gezwungen, den Geldmarkt voll auszuschöpfen und das Steuersystem zu verschärfen. Hatte Madrid bisher von einer Reihe von Institutionen gelebt, die öffentliche und private Mittel in die Metropole gelenkt hatten, so flössen die neuen Steuern letztlich in die Gegenrichtung. Die Folgen lassen sich am Rückgang des Konsums (von Wein und Öl), vor allem aber im Abschwung bzw. der Stagnation der Bevölkerungskurve gut ablesen. Die vor 1630 erreichte Einwohnerzahl von 130.000 ging zunächst zufolge hoher Seuchenmortalität und rückläufiger Zuwanderung zurück und stabilisierte sich gegen Jahrhundertende; der Spanische Erbfolgekrieg verursachte ein weiteres Absinken auf 109.000.
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Wirtschaft
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Nach 1714, deutlicher aber nach 1730, setzte dann ein - bedingt durch niedrige Sterberaten und einen hohen Wanderungsgewinn - dynamisches Wachstum ein (Löpez Garcia/Madrazo Madrazo 1996:121). Wie massiv die Krise des 17. Jahrhunderts das spanische Städtewesen erfaßte, ist schon daraus ersichtlich, daß es nahezu keinem der alten Zentren gelang, aus den zwischenzeitlichen Schwierigkeiten Madrids Kapital zu schlagen. Sieht man von Barcelona und den wichtigeren Hafenplätzen ab, so läßt sich die urbane Situation vereinfacht in der Aussage zusammenfassen, daß eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau mit Konzentration der Aktivitäten auf einen begrenzten Marktbereich eingetreten war. Seit dem späteren 17. Jahrhundert läßt sich diese Feststellung auch anhand seriellen Quellenmaterials für eine größere Zahl von Städten exakt quantifizieren. Sie trifft zu für Burgos, Palencia und Leön sowie Städte dieser Provinz wie Astorga und Benaventa, weiter zum Zentrum hin für Segovia und Cuenca, das allerdings als Wollieferant von den steigenden Exportaktivitäten über Valencia begünstigt wurde. Einzelne Städte, wie Ciudad Real, Toledo oder Segovia, profitierten aus der Besitzkonsolidierung im ländlichen Umfeld, andere aus der Konzentration spezialisierter handwerklicher Produktion. Hierher zählen etwa Talavera de la Reina und Alcalä de Henares. Aus der Festigung einer regionalen Subsistenzwirtschaft resultierte auch der Aufschwung kleinerer Städte, die wie das feudale Land von ihren Steuervorteilen profitierten und Menschen anzogen, darüber hinaus aber auch neue gewerbliche Ansätze entwickelten. Die Parallelität zwischen der (Proto-)„Industrialisierung" des Landes und der „Ruralisierung" der Städte läßt sich etwa am Beispiel der Region von Toledo gut verfolgen (Gelabert 1995:286f). Noch im 16. Jahrhundert arbeiteten die „villas" Orgaz, Ajofrin und Sonseca für Toledaner Kaufleute. 1623/1624 erhielten sie ein eigenes Privileg für die Herstellung leichter und billiger Wollstoffe für eine breite Nachfrage, und im 18. Jahrhundert dürften bereits einige dieser Kleinstädte jeweils mehr als das alte Textilzentrum produziert haben. Die Ursachen für die Verlagerung der Textilproduktion von der Stadt aufs Land sind hier wie auch anderswo vielschichtig. Für Toledo wird dem zünftischen Protektionismus ein hoher Stellenwert beigemessen (Montemayor 1991a: 334ff), doch sollten auch Kostenüberlegungen nicht unterbewertet werden. In den demographischen Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Erholung im Laufe des 18. Jahrhunderts besaß das Land jedenfalls Startvorteile gegenüber den Städten. Sofern die fallweise nur sehr unzureichend überlieferten demographischen Einzeldaten ein einigermaßen verläßliches Gesamtbild er-
Spanien
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möglichen, war die Rate der Urbanisierung in Spanien zwischen 1500 und 1600 von 6,1% auf 11,4% angestiegen. Während des krisenhaften 17. Jahrhunderts fiel sie auf 9%, in den fünfzig Jahren zwischen 1700 und 1750 weiter auf 8,6%. Der daraufhin folgende Anstieg erbrachte für 1800 einen Wert, der mit 11,1% noch immer unter jenem des 16. Jahrhunderts lag. Die Zählung von 1827 ergab für Spanien als Ganzes eine Zahl, die um 16,3% jene des späten 16. Jahrhunderts übertraf, der Anteil der in Städten über 5.000 Einwohner lebenden Bevölkerung hatte sich jedoch kaum erhöht (Gelabert 1995:286f). Die inzwischen in Kastilien eingetretenen Verschiebungen lassen sich aus dem Vergleich der beiden Ziffern freilich nicht verdeutlichen. Wie Tabelle 16 zeigt, hatten die alten städtischen Zentren Kastiliens an der allmählichen demographischen Erholung des 18. Jahrhunderts nur wenig Anteil. Dies gilt im wesentlichen für alle Großstädte des ausgehenden 16. Jahrhunderts, mit Ausnahme von Madrid, im besonderen also für Toledo, Valladolid, Sevilla im Süden, aber auch für Burgos, Ciudad Real und Cuenca (zu diesen vgl. Rahn Philips 1979; Reher 1990). Madrid hingegen profitierte in deutlicher Weise von der politischen Konsolidierung des Staates. In den zwanziger Jahren wurde die Flotte reorganisiert, Fortschritte gegenüber Schmuggel und Piraterie verbanden sich mit einem Anstieg der amerikanischen Silberproduktion und des Güteraustausches. Die Einwohnerzahlen began-
Tabelle 16: Urbanisierungsraten in Alt- und Neukastilien 1591, 1750, 1827 (Städte mit mehr als 1250 Haushalten [ca. 5.000 Einwohnern]) (nach Gelabert) Provinz
1591
1750
1827
7,27 3,27 13,02 4,23 9,68
5,22 ? 7,17 3,75 9,43
1 6,47
7,49
5,11
4,45
Neukastilien Cuenca Guadalajara Toledo La Mancha Extremadura
9,00 8,83 22,12 25,54 16,88
5,34 5,13 15,95 28,81 14,56
14,30 4,88 18,12 31,21 25,61
Gesamt
16,47
13,95
18,82
Altkastilien Avila Soda Segovia Burgos Salamanca Gesamt
•>
9,28 6,53
Region und
Wirtschaft
217
Tabelle 17: Einwohnerzahl wohnern
1500-1800
spanischer
Städte
mit mehr als 10.000
(nach De Vries, Bairoch/Batou/Chevre,
Ein-
Abaladejo,
Correas)
1500 Alcalä la Real Alcazar de San Juan Alcoy Alicante Almeria Andujar Antequera Aracena Arcos de la Frontera Avila Badajoz Baeza Barcelona Bilbao Burgos Cadiz Caravaca Cartagena Castellon Cordoba Cuenca Ecija Elche Gijon Granada Jaen Jerez de la Frontera La Corufia L6nda Loja Lorca Lucena Madrid Mälaga Medina del Campo Medina del Rioseco Montilla Moron Murcia Ocana Orihuela Osuna Oviedo Palencia Palma Priegoe Cordoba
1550
1600
20
10 10 11
10 6 12 16 14 29
18 35
8 2
22
4 27
33 14 17
70 10
22 18
1650
12
9 16
19 7
22 5 4 5 8 7 43 6 9 33
20 6 7 6 10 10 50 7 9 60
12 4 28 7 10
20 10 34 8 20
70 20 13 5
70 22 31 9
8 11
10 33
12 44
23 5
3 7
69 22 27 3
1750
11
12 16 10 4 14 11 21 43
8 3 45 25 22
1700
6
32 20
18 17
13
30
7 10 18 49
42 21 16
13 16 11
13 14 10
3 6
30 5 7
32 5 8
10
13
8 17
20
25
32
8 13
18
130
110
109
13 10 10 14 13
8
12 23
4
4
11 28
1800 12 10 11 18 15 10 20 10 12 4 12 10 115 11 14 70 11 30 12 40 6 29 18 12 70 28 35 14 10 11 38 18 169 184? 51 3 5 14 11 40 66? 23 16 14 10 32 10
218
Spanien
Fortsetzung Tabelle 17:
Reus Ronda Salamanca San Fernando Sancar San Sebastian Santander Santiago Segovia Sevilla Tineo Toledo Tortosa Ubeda Utrera Valencia Valladolid Zaragoza (Saragossa)
1500
1550
1600
11
8 20
8 25
1650
15
4
1700
1750
12
10
6
12
4 14 25
1 22 65
1 28 90 126?
10 16 60
8 8 96
20 11 66
32
40
50
20
20
22
13
12 11 52
10 8 50
11 60
15 30
18 30
19 35
40
37
19 11 65
25 20
45 18
40 25
1800 14 11 9 28 15 11 10 25 10 96 80? 14 18 16 11 11 80 101? 21 43
nen wieder zu wachsen: bis zum Jahrhundertende auf über 169.000 (184.000?). Das Wachstum der Metropole wurde zum konstitutiven Faktor für die Gesamtwirtschaft der Halbinsel. Für 1789 wurde der Marktwert der Importe nach Madrid auf 400 Millionen Reales geschätzt; davon ging die Hälfte über Cädiz. Barcelona hatte mit 250 Millionen seinen zweiten Platz im Königtum bereits klar gesichert. Die Feststellung fortgesetzter demographischer Stagnation gilt mehr für Altkastilien, wo erst mit dem Aufstieg Santanders als Hafen- und Gewerbestadt nach 1750 das gängige Muster durchbrochen wird, nicht jedoch für Neukastilien, wo vor allem in den Provinzen La Mancha und Extremadura neue städtische Verdichtungsprozesse einsetzten, ausgehend von feudalen Mittelpunkten. Beispielsweise blieb Cuenca in Neukastilien, zu Ende des 16. Jahrhunderts mit etwas mehr als 6.000 Haushalten einziges großes Zentrum der Provinz, 1827 mit 1.775 deutlich unter dieser Marke, wogegen fünf kleinere Städte im Umfeld zusammen über 10.300 Haushalte zählten. In der Region La Mancha stieg die Zahl kleinstädtischer Haushalte von 7.300 auf 32.500, in Extremadura von 19.400 auf 36.100 (Ringrose 1983:317). Eine Entwicklung von Agrostädten fand auch im südlichsten Teil Kastiliens statt. Obwohl hier die Aussagen des Quellenmaterials weniger präzise sind, steht auch in Andalusien einer Stagnation der alten bedeutenden Zentren wie Granada und Cördoba ein Aufschwung ehedem
Region und
Wirtschaft
Karte VI: Großstädte in Spanien um 1700
0
-J0
100
200hm
219
220
Zwei oder drei
Italien
kleinerer, aus dem landwirtschaftlichen Sektor erwachsener Städte wie Ubeda, Ronda, Osuna oder Jerez de la Frontera gegenüber. Dazu stellt sich die Sondersituation in den Küstenstädten und Häfen. Wohl hatte Sevilla seinen Vorrang an Cadiz verloren, doch blieb es mit einer Einwohnerzahl von etwa 70.000 (um 1800) weiterhin die größte Stadt des Südens. Wie sehr aber agrarische Produkte die Wirtschaftsstruktur der Region bestimmten, beweist ihr Anteil an den Exporten nach Amerika, der für Wein, Essig, Olivenöl und Branntwein, gemessen an der Tonnage, im Zeitraum zwischen 1720 und 1751 bei 45,6% lag. Die mit der Verlagerung der Casa de la Contratacion nach Cadiz vollzogene Verschiebung des Schwerpunkts des Amerikahandels nach dem Westen Andalusiens erfuhr ihre Festigung im Zeichen wiederbelebter merkantiler Aktivitäten seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert. Mit der Privilegierung für den direkten Amerikahandel, die 1765 für die Städte Alicante, Barcelona, Cadiz, Cartagena, Malaga und Sevilla ausgesprochen und später auch auf Almeria, Palma de Mallorca und Los Alfaques ausgedehnt wurde, entstand ein breiter Gürtel handelsaktiver Hafenplätze, zu denen 1778 mit der Einführung des generellen Freihandels weitere hinzutraten. Im Binnenland hatte sich die industrielle Produktion in den Klein- und Marktstädten festgesetzt, wogegen Madrid den Handel und das Finanzgeschäft konzentrierte. Die alten Zentren wurden zu „impotent spectators of a sustained population" (Gelabert 1995:293). Ein aufgeklärter Beobachter aus der Mitte des 18. Jahrhunderts bezeichnete den Hof, als Synonym für die Haupt- und Residenzstadt, als die Lunge und das Herz des politischen Körpers, Organe, in denen alles Blut aus den anderen Gliedern zusammenfließt, ohne daß diese wiederum im selben Maße mit dem lebensnotwendigen Saft versorgt würden. ZWEI
ODER
DREI
ITALIEN
Die Behandlung des frühneuzeitlichen Städtewesens in Italien, das als staatliches Gebilde erst durch die Einheitsbestrebungen des Risorgimento vor weniger als 150 Jahren geschaffen wurde, bedarf einer besonderen Systematik. Dabei reicht es wahrscheinlich nicht aus, die süditalienische Entwicklung mit jener in Nord- und Mittelitalien zu kontrastieren, wie es vielfach von einer die unterschiedliche verfassungsrechtliche Entwicklung betonenden Forschung bevorzugt wird. Auch die Orientierung an den politischen Grenzen der Großräume, ausgehend von einer Gegenüberstellung der formal zum Heiligen Römischen Reich zählenden Fürstentümer in Nord- und Mittelitalien
Region und
Wirtschaft
221
einschließlich des Patrimonium Petri einerseits, des Königreichs Neapel-Sizilien im Süden andererseits, bringt kaum weiter. Vorwiegend einem statistisch-heuristischen Prinzip folgt die von J. de Vries vorgeschlagene Dreiteilung, die ein Mittelitalien, entsprechend einer Addition der Räume des Großherzogtums Toskana sowie des Kirchenstaats, zwischen das territorial geschlossene Königreich im Süden und das mosaikartige Nebeneinander von Klein- und Mittelstaaten des Nordens schiebt (De Vries 1984:109-112; dazu Malanima 1998b:94f). Sie besitzt trotz der räumlich-geographischen Übersichtlichkeit das Manko, daß gerade im „mittelitalienischen" Städtewesen nicht nur Stadtindividuen divergierender historischer, vor allem verfassungsrechtlicher Tradition, sondern auch von unterschiedlicher Wertigkeit innerhalb der von staatlichen Gebilden weitgehend unabhängigen ökonomischen Städtenetzwerke verbunden werden. Der deutlich faßbare Gegensatz zwischen den beiden großen Monarchien im Süden, dem Königreich Neapel-Sizilien und dem Kirchenstaat, sowie den zahlreichen Kommunen bzw. Republiken Mittel- und Norditaliens (zuletzt Jones 1997) hat schon gegen Ende des Mittelalters eine gewisse Abschwächung dadurch erfahren, daß auch im Norden eine Vereinfachung der Territorialstruktur eingetreten war (vgl. J.A. Marino in: Brady/Oberman/Tracy 1994:331-367). Im wesentlichen hatten drei auf kommunale Wurzeln zurückgehende Regionalstaaten den Ausleseprozeß für sich entscheiden können: das Herzogtum Mailand, das 1535 kaiserlich wurde und dann als „Estado de Milan" unter spanische Herrschaft gelangte, jedoch sein patrizisches Stadtregiment behauptete, die Republik Venedig, die sich auf Kosten der Herren von Carrara und der della Scala von Verona nach Westen sowie in das Gebiet des Patriarchats von Aquileia nach Norden ausgedehnt hatte, und das spätere Großherzogtum Toskana, wo zum Stadtgebiet von Florenz die Territorien zahlreicher ehemals freier Städte wie Arezzo, Cortona, Pistöia, Prato, Empoli, San Gimignano sowie Pisa geschlagen worden waren. 1559 wurde auch Siena endgültig einverleibt; lediglich Lucca, eine Stadt ohne Hafen und mit nur kleinem Territorium, konnte seine 1369 erkaufte Reichsunmittelbarkeit bis in napoleonische Zeit behaupten (Kellenbenz 1991:4f)Die einst mächtige Republik Genua blieb trotz der unter Andrea Doria 1528 formal wiedererreichten Selbständigkeit in einem zwischen Frankreich, dem habsburgischen Spanien und später Österreich strittigen Einflußbereich. Nach dem gescheiterten Fieschiaufstand von 1547 regierte hier ein aus Adel und reichen Bürgerfamilien gebildetes oligarchisches Regime. Einziges großes, nicht auf ein Stadtterritorium
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Zwei oder drei Italien
zurückzuführendes Staatsgebilde des Nordens war das Herzogtum Savoyen, das sich in der Neuzeit als Teil des Heiligen Römischen Reiches (bis 1796) zu einem kompakten Herrschaftsverband zwischen Frankreich, der Schweiz, Mailand und Genua auswuchs (zu Genua vgl. Grendi 1987). Erwiesen sich schon bei der Mehrzahl der genannten Staatengebilde die vordem kommunalen Strukturen als überholt, so gilt dies in noch stärkerem Maße für jene Städte, die seit dem 16. Jahrhundert dem Kirchenstaat einverleibt wurden. Typologisch der monarchischen Zone des Südens zuzurechnen, wohin auch das Herrschaftszentrum Rom zu stellen ist, integrierte der Kirchenstaat im Zuge seiner Expansion nach Osten und Norden zunehmend stadtstaatliche Einheiten: 1506 Bologna, 1509 Ravenna, 1510/1512 Modena, Parma und Piacenza, 1528 Rimini, 1532Ancona, 1534 Perugia, 1597 Ferrara und schließlich 1631 Urbino. Wurde der Besitzstand mitunter durch die Bildung von Nepotenherrschaften geschmälert, so gingen auf Dauer doch nur Parma und Modena verloren. Mit der Einbindung in einen größeren Staatsverband verloren die meisten der bisher kommunal-signorialen Mittelpunkte elementare, aus dem Partikularismus resultierende Entwicklungsfaktoren (vgl. Paci 1978). Im Süden wurden seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts das Festland (Neapel) und die große Insel Sizilien von Monarchien regiert. Der Herrschaftszersplitterung des Nordens stand ein flächenhaft zentralistisches Staatsgebilde gegenüber, das in der Neuzeit kaum Gebietsveränderungen erlebte, sieht man von der schwankenden Zuordnung von Sardinien ab. Eine Sondersituation war insofern gegeben, als das Königreich nach dem Verzicht Frankreichs auf das anjousche Erbe zugunsten Aragons bzw. Spaniens jeweils durch bestellte Amtsträger (Vizekönige) administriert wurde. Im Gegensatz zu Paris, Madrid oder London war die Hauptstadt Neapel somit nicht Sitz eines königlichen Hofes im eigentlichen Sinne. Noch prekärer war die „Hauptstadtfunktion" Palermos für den Herrschaftsteil Inselsiziliens. Italien war um 1500 nach den Niederlanden die am stärksten urbanisierte Region Europas und verfügte darüber hinaus über die Mehrzahl an Großstädten mit über 50.000 Einwohnern wie Mailand, Venedig, Genua, Florenz oder Bologna im Norden und Neapel, Palermo und Rom im Süden. Im innerregionalen Vergleich und unter Zugrundelegung eines städtischen Schwellenwerts von 10.000 Einwohnern erweist sich der Norden mit 15,1% als deutlich stärker urbanisiert als die Mitte (11,4%) und der Süden (11,9%), dessen Verhältniswert freilich durch das riesige Neapel nach oben verzerrt wird (De Vries
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Wirtschaft
1984:39). Andere Grenzziehungen vermitteln freilich abweichende Prozentzahlen (vgl. Tabelle 18). Tabelle 18: Gesamtbevölkerung und Anteil der Städte (über 5.000, über 10.000 Einwohner) in Nord- und Mittelitalien sowie in Süditalien und auf den Inseln 1500-1800 (nach Malanima) Gesamtbevölkerung Süd/Inseln Nord/Mitte 1500 1600 1700 1800
5.310 7.828 8.051 10.212
3.690 5.445 5.430 7.880
Anteile in % Nord/Mitte Süd/Inseln > 5.000 > 10.000 > 5.000 > 10.000 21,6 19,0 17,5 18,4
16,4 14,8 13,3 15,0
22,4 30,3 29,5 37,2
12,7 19,7 16,8 22,7
Beachtlich ist der Vorsprung Italiens auch hinsichtlich der Zahl der Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern. Diese wuchs im 16. Jahrhundert von 44 auf 59 (De Vries; 51 auf 82 Malanima), bis 1800 auf 74 (De Vries) bzw. 141 (Malanima). In Frankreich lag sie um 1500 bei 32, in den Niederlanden und in Deutschland bei 23, in Spanien bei 20; ohne Berücksichtigung der Agrostädte des Südens fiel Italien bis 1800 wohl gegenüber Frankreich (78) auf die zweite Position zurück (74), konnte aber diese gegenüber England (60), Deutschland (53) und den Niederlanden (39) noch klar behaupten. Das häufig verwendete Schlagwort von der „Deurbanisierung" der Apenninen-Halbinsel in der frühen Neuzeit ist somit eher in die Richtung von Stagnation und Verlangsamung des Städtewachstums zu korrigieren. Anders als im übrigen Europa mit Ausnahme „Deutschlands" verteilten sich die großen italienischen Städte auf verschiedene staatliche Einheiten, was zur Frage Anlaß gegeben hat, ob es überhaupt berechtigt ist, hier von einem Urbanen System zu sprechen. In diesem Zusammenhang verweist De Vries auf die Existenz mehrerer Subsysteme, angebunden an große Städte ähnlicher Dimension, die sich trotz der zeitweilig äußerst vitalen Außenkontakte von Venedig und Genua der Einbeziehung in ein einheitliches, hierarchisch gestuftes Netz entzogen (De Vries 1984:110). Und in der Tat korrespondierten alle oben genannten Großstädte, von Bologna abgesehen, mit den Mittelpunkten der sich stabilisierenden politischen Ordnung. Sie fungierten als „Hauptstädte" und Antriebskräfte für den jeweiligen Staat (A. Tenenti in Fischer 1986:666), so daß es gerechtfertigt erscheint, im weiteren von diesem als Bezugsebene auszugehen. Der hohe Stellenwert außerökonomischer Faktoren - zu politischen und militärischen traten vor allem die Auswirkungen der großen Pest-
224
Zwei oder drei Italien
züge - erklärt zu einem guten Teil die schon im 16. Jahrhundert erkennbaren Abweichungen der demographischen Entwicklung einzelner Städte von jener der Gesamtbevölkerung (Del Panta 1980; Preto 1987; Del Panta/Livi Bacchi/Pinto/Sonnino 1996). Letztere war beispielsweise in Norditalien zwischen 1550 und 1600 durch ein Wachstum um 15% gekennzeichnet, das in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einem Rückgang um 20% und bis 1700 einem leichten Anstieg u m 5-6% der Ausgangssituation Platz machte (nach De Vries 1984:36). In der Republik Venedig war die Vorrangstellung der Markusstadt unbestritten. Ihre Einwohnerzahl hatte um 1550 mit 158.000 den höchsten Stand erreicht, sank in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf 140.000 und bis 1650 auf 120.000 ab, wobei das zweimalige Wüten der Pest (1575/77, 1630/31) als Hauptfaktor der Verluste, noch vor der wirtschaftlichen Rezession, figurierte (P. Preto in Venezia e la peste 1979:97f; Sonnino 1982:53-58). Im Falle der Städte der nächsten Gruppe, die mit Padua (1550: 32.000), Vicenza (21.000), Verona (52.000), Brescia (41.000) und Bergamo (18.000) geographisch nahezu auf einer von Ost nach West verlaufenden Linie liegen, folgte auf zumeist bescheidene Zuwächse bis zur Jahrhundertwende nach derselben ein scharfer Einbruch, der allerdings ab der Mitte des 17. Jahrhunderts vielfach in ein langsames Wachstum überging (Ciriacono 1988:43). Ähnlich verlief die Tendenz bei den metropolennahen Mittelstädten Treviso und Chioggia, in Crema im Westen sowie im Hauptort Friauls, Udine (Beloch 1937-61/3:49f; Sonnino 1982:58-65). Die lange Zeit vertretene Meinung, der Niedergang Venedigs wäre als konsequente Folge der Verlagerung des ökonomischen Schwergewichts vom Mittelmeer zu sehen, ist spätestens seit F. Braudel einer stärker differenzierten Sicht gewichen, in der neben Fragen der internationalen Konkurrenz im Angebot von Fertigwaren, Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Rohstoffen, das zunehmende wirtschaftlich-politische Gewicht der Nationalstaaten sowie der Verlust der Rolle als Tauschzentrum zwischen Ost und West Berücksichtigung fanden. Die Tonnage der Flotte verringerte sich wohl seit 1567, allerdings im Gegensatz zu den Aktivitäten des Hafens und den kommerziellen Verbindungen. So war Venedig vor den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts weder aus dem Gewürzhandel mit der Levante ausgeschieden, noch hatte es die Umstrukturierung zum eigenständigen Absatz- und Versorgungsmarkt versäumt (Pullan 1968; Sella 1961; Malanima 1998a:112). Rückschläge im Handel mit traditionellen Gütern der Orientroute wurden im Verlaufe des 16. Jahrhunderts durch das vermehrte Ange-
Region und
Wirtschaft
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bot eigener Manufakturwaren kompensiert, in deren Rahmen Wolltuche und Seidenwaren vordere Plätze einnahmen. Der Forcierung des „industriellen" Weges innerhalb der Republik entsprach eine rückläufige Nachfrage nach den vordem am Markte führenden Textilprodukten der Lombardei und der Toskana, wo die industrielle Krise entsprechend früher einsetzte. Seit den ersten Dezennien des 17. Jahrhunderts geriet freilich auch Venedig von mehreren Seiten unter Druck. So erhielt die Seidenindustrie Konkurrenz von Lyon und Genua, von neuen Produktionsstätten im Trentino, aber auch von anderen Städten der Republik, die zu niedrigeren Kosten und mit geringeren Behinderungen seitens der Zünfte produzierten. Beispielsweise steigerte Vicenza die Zahl seiner Webstühle von etwas mehr als 100 im Jahre 1675 auf ungefähr 400 im Jahre 1713, daneben lassen Brescia, Padua oder Verona in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen demographischen Wiederaufschwung erkennen (Ciriacono 1988:47). Die überlieferten Zahlen legen die Annahme nahe, daß sich die Festlandsstädte auch hinsichtlich der Wollstoffproduktion gegenüber der Konkurrenz, die nunmehr vorwiegend von den Niederlanden und England verkörpert wurde, besser zu behaupten vermochten. Hier begann der Angriff zunächst von Seiten der billigeren groben Sorten, um schließlich auch hochwertige und teure Stoffe zu erfassen, aus deren Endfertigung die höchste Wertschöpfung erfolgt war. Änderungen des Geschmacks einerseits und mangelnde Flexibilität von Produzenten und Regierung andererseits bestimmten dann den endgültigen Niedergang der venezianischen Textilproduktion im 18. Jahrhundert und eine Deindustrialisierung der Städte, die schließlich sogar alte Luxusgüter wie Spiegel und Glas betraf, in deren Herstellung Venedig seit dem hohen Mittelalter tonangebend gewesen war. Die Gefahr, auf das Niveau einer „Karnevalsstadt" herabgedrückt zu werden (K. Glamann in Cipolla/Borchardt 1979:275), ergab sich allerdings erst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts mit dem raschen Aufstieg des im Zuge der Wirtschafts- und Seehandelspolitik des Habsburgerreichs ausgebauten Triest (1719 Freihafen, 1800: 24.000 Einwohner). Genua als zweite italienische Seemetropole unterschied sich nicht nur als „Hauptstadt" eines relativ kleinen und an größeren Stadtorten armen Territoriums erheblich vom Fall Venedig, aufgrund der unterbliebenen Fixierung auf den Gewürzhandel schuf auch die Entdeckung der neuen Indienrouten kaum Nachteile, so daß das wirtschaftliche Geschick in völlig anderen Bahnen verlief (Braudel 1990/ 2:497-507).
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Zwei oder drei Italien
Bestimmend wurden die alten Beziehungen zur Iberischen Halbinsel, die der genuesische Kaufmann im Zusammenhang mit dem Aufbau des habsburgischen Weltreiches zur Fixierung der Stadt als Schaltstelle des Güter- und Geldverkehrs zwischen den einzelnen spanischen Provinzen zu nutzen vermochte. Als Kreditgeber des Staates genossen die Genuesen aber auch in einzelnen derselben wie in Neapel und Sizilien Vorzugsrechte, wodurch sie einen Großteil der dort zum Verkauf anstehenden Überschüsse unter ihre Kontrolle brachten. Mit amerikanischem Silber erwarben sie unter Umgehung des Marktes spanische Produkte und finanzierten aus den Gewinnen den Ausbau der ligurischen Seidenindustrie (Massa Piergiovanni 1988). Der Rückzug auf die Eckdaten der eher in kleinen Schritten - von 60.000 Einwohnern um 1500 auf 71.000 um 1600 und schließlich bis 1650 auf 90.000- ansteigenden Bevölkerungskurve verschleift jene Einbrüche, die durch die Pestwellen von 1579/80 und 1656/57 sowie die mediterrane Hungerskrise von 1590/92 verursacht wurden. Strukturell verbanden sich dieselben mit einem Abzug der Seidenindustrie aufs Land (besonders Riviera di Levante), von dem die Produzenten durch bessere Lebensbedingungen, die Kaufleute durch niedrigere Kosten profitierten. Auch hier ging das Volumen der Flotte seit 1575/ 80 zurück, das Hafengeschäft oszillierte, verlor zwischen 1635 und 1687/88 etwa zwei Drittel seines Werts, um gegen 1700 wieder anzusteigen (Malanima 1998a:114). Es wurde vorgeschlagen, Genua als Ausnahmefall innerhalb des Niedergangs Italiens und seiner Städte im 17. Jahrhundert zu verstehen. Allerdings wurden nach 1650 jene Strukturen verfestigt, die zur Stagnation des 18. Jahrhunderts hinüberführen (1800: 91.000 Einwohner) (F. Saba in Fischer 1986:697). Der zum Teil gegenläufigen Entwicklung von Venedig und Genua in der frühen Neuzeit läßt sich jene von Mailand und Turin an die Seite stellen. Die Lombardei, d.h. der große Herrschaftsbereich der Visconti, ergänzt um die Kleinstaaten der Farnese, Gonzaga und Este (und den venezianischen Anteil), wies am Beginn der Neuzeit einen hohen Urbanisierungsgrad auf. 1550 lebten hier 14% der Bevölkerung in Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern. Während der spanischen Herrschaft besaß Mailand innerhalb des Herzogtums eine Venedig vergleichbare Vorrangstellung, die, bezogen auf die Einwohnerzahl, vielleicht noch deutlicher zum Ausdruck kommt. Um 1500 etwa von 100.000 Menschen bevölkert, eine Zahl, die sich im Gefolge der zweimaligen Besetzung durch Frankreich bis 1550 auf 69.000 reduzierte, konnte die Metropole um 1600 die Ausgangsposition mit 120.000 klar übertreffen. Im 17. Jahrhundert bedingten Seuchen (Pest 1630/31) und
Region und
Wirtschaft
227
Tabelle 19: Veränderungen in der Produktion von Tuchen und Seide in einzelnen oberitalienischen Städten vom 16. Jahrhundert bis 1650 (um 1600 = 100) (nach Malanima)
Bologna Como Cremona Florenz Genua Lucca Mailand Mantua Monza Padua Parma Pavia Venedig Verona
Tuche
Seide
20 20 40 20
10
+
10-20 20 10 10-20 20 30 10
+
20 25 20
20 35 +
die wirtschaftliche Krise eine Stagnation, die erst nach 1750 überwunden wurde. Die zweite Größenkategorie der lombardischen Städte war - wohl aufgrund des klaren Vorrangs und der zentralen Lage der Metropole sowie der zumeist frühen Unterwerfung der kleineren Kommunen - mit Cremona (1550: 34.000) nur schwach besetzt. Um die 10.000 Einwohner zählten Alessandria, Como, Lodi, Monza, Pavia (13.000), Vercelli und das erst 1530 von Francesco II. Sforza zur Stadt erhobene Vigevano (zuletzt Subacchi 1997). Trotz durchaus entwickelter internationaler Verbindungen der Mailänder Kaufleute und Bankiers, insbesondere nach Frankreich und ins Reich, war die Wirtschaft der lombardischen Städte durch den Vorrang einer exportorientierten gewerblich-industriellen Produktion charakterisiert, wobei Woll- und Seidenweberei deutlich vor anderen Sektoren (Metallverarbeitung, Papier in Pavia usw.) rangierten. Nach den Turbulenzen der ersten Jahrhunderthälfte soll die städtische Herstellung hochwertiger Wolltuche ab 1550, besonders aber nach 1580 noch einen Aufschwung erlebt haben, der in der Folge von der Verlagerung der Erzeugung einfacher Ware in Kleinstädte und aufs Land begleitet war. Von anderer Seite wird den beiden großen Pestwellen ein stark negativer Effekt auf die Tuchindustrie zugeschrieben, der ab 1630/50 in Kombination mit der nordwesteuropäischen Konkurrenz zu ähnlichen Ergebnissen wie in Venedig führte: einer Deindustrialisierung der größeren Städte bei gleichzeitiger Vermehrung der kleinstädtischen und ländlichen Produktion (vgl. auch Lees/Hohenberg 1989:445-448).
228
Zwei oder drei Italien
Auch die lombardische Seidenproduktion, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts floriert, allerdings nur 2,5% der Bevölkerung beschäftigt hatte, geriet im Verlaufe des 17. in eine tiefgreifende Krise, von der sie sich aber durch Investition bisher in der Tuchherstellung gebundener Kapitalien in Zwirnmühlen auf dem Lande teilweise erholte, wogegen der Niedergang in der Stadt erheblich war. So arbeiteten 1606 in Mailand 3000 Webstühle, 1713 nur mehr 469, allein zwischen 1679 und 1709 betrug der Rückgang 75% (Felloni 1988; Subacchi 1997:71f). Grundsätzlich waren die Städte im 18. Jahrhundert weniger industrialisiert als im 16. Der industrielle Abschwung übertraf jenen der Bevölkerungszahlen, die zwischen 1650 und 1800 nur unwesentliche Veränderungen erfuhren. Fehlte die Dynamik, so blieb auch die Rangordnung stabil. Mit der Feststellung, daß Mailand vom Zentrum eines Netzwerks zum Mittelpunkt eines Systems ländlicher Orte abgestiegen war (Lees/Hohenberg 1989:457), ergeben sich Parallelen zu anderen norditalienischen Stadtregionen. Darüber hinaus lassen sich im spanisch- wie im venezianisch-lombardischen Gebiet seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gewisse Positionsgewinne der Kleinstädte verfolgen. Dies gilt etwa für zahlreiche borghi-Marktstädte in der Poebene und in der Nachbarschaft zu größeren Städten wie etwa Casalmaggiore oder Codogno (vgl. auch Musgrave 1995). Dem relativen Niedergang Mailands wird häufig der Aufstieg Turins gegenübergestellt, der freilich nur aus der zunächst vom ökonomischen Geschehen weitgehend unabhängigen Entwicklung des savoyischen Staates zu verstehen ist. Noch um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit etwa 14.000 Einwohnern nur Teil einer Region von etwa 20 Kleinstädten, wurde Turin in der Folge durch Ansiedlung des Hofes zur begünstigten Residenz und zum bürokratischen Zentrum. Die durch die Funktionsanreicherung, insbesondere die umfangreiche öffentliche Bautätigkeit entstehende Sogwirkung auf potentielle Zuwanderer erfuhr eine Unterstützung durch populationistische Maßnahmen seitens der Regierung (Oktroi von 1631). Kontinuierlicher als dies vielleicht die dreimalige Stadterweiterung (s.o.) vermuten ließe, verlief die demographische Expansion - auf 22.000 Einwohner um 1600,37.000 um 1650,42.000 um 1700 und 57.000 um 1750. Die höchsten Wachstumsraten mit nahezu 0,9% pro Jahr gab es allerdings erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als verschiedene Versuche, die Industrie und hier vor allem die Textilerzeugung zu beleben, deutliche Erfolge zeitigten. Die Hauptstadtbildung hat wohl zur Transformation des regionalen städtischen Netzwerks geführt (Fasano Guarini 1982b:86), andererseits den Aufstieg der übrigen Zentren be-
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Wirtschaft
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schränkt, so daß noch im Jahre 1800 keine weitere piemontesische Stadt die 20.000-Einwohnergrenze überschritt. Im mittleren Abschnitt der Apenninenhalbinsel, in den sich politisch gesehen im wesentlichen das (Groß-)Herzogtum Toskana und der Kirchenstaat teilten, wiederholten sich mehrere der für den Norden festgehaltenen Kontrastphänomene. Insbesondere im 17. Jahrhundert stand einer Urbanen Stagnation, im florentinischen Staat zu einem guten Teil resultierend aus dem Niedergang der städtischen Textilindustrie, der Aufstieg städtischer Einzelindividuen gegenüber. Von diesen hat Rom zufolge seiner doppelten Funktion als Hauptstadt, für das Patrimonium Petri und die gesamte „ecclesia catholica" (Goez 1979:70), Livorno (Leghorn) aufgrund öffentlicher Förderung seine Position ausbauen können. In den der päpstlichen Herrschaft im Norden (Romagna) einverleibten Städten gingen hingegen wirtschaftliche und politische Faktoren eine unheilvolle Allianz ein. Im Staat der 1512 aus der Verbannung zurückgekehrten Medici stand Florenz als ökonomisches und politisches Zentrum unbestritten an der Spitze einer Städtehierarchie, die durch große demographische Abstände zwischen der Metropole und den nachgereihten Städten gekennzeichnet war. Sieht man von der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ab, in der die Stadt von inneren Unruhen und äußeren politisch-militärischen Auseinandersetzungen (1530 Eroberung durch Philibert v. Oranien in kaiserlichem Dienst) erschüttert wurde, lag ihre Einwohnerzahl zwischen 1550 und 1750 immer bei etwa 60.00070.000, um erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlicher anzusteigen. Aus der beachtlichen Gruppe der ehemaligen Kommunen mit mehr als 5.000 Bewohnern hoben sich nur Pisa und das erst 1559 endgültig annektierte, mit der gleichnamigen Diözese weiterhin eine eigene Verwaltungseinheit bildende Siena mit jeweils etwa 10.000 unerheblich ab. Trotz der vom 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts anhaltenden Bevölkerungszunahme, besonders im Osten und Nordwesten des Herzogtums, änderte sich diese Ordnung nur wenig. Zwischen 1550 und dem Anfang des 17. Jahrhunderts fiel dann die Entwicklung zeitweilig auseinander: Während Florenz und einzelne Städte des Westens, allen voran Pisa und die Gründung Livorno, deutlich wuchsen, blieb die Zunahme im Falle von Arezzo und Prato bescheiden, wogegen sekundäre Plätze wie Cortona, Montepulciano oder S. Gimignano sogar abnahmen (Della-Pina 1982). Der Mangel der Toskana an einem voll funktionsfähigen Hafen hatte seit dem ausgehenden Mittelalter die Begünstigung von Pisa, seit dem späteren 16. Jahrhundert die Anlage von Livorno und damit im Zu-
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Zwei oder drei
Italien
sammenhang die Förderung einer zweiten Wirtschaftszone PisaLivorno zur Folge. 1577 als Hafenplatz für etwa 600 Leute gegründet, zählte die Stadt 1601 bereits 3.100, 1622 9.100 und 1642 über 12.000 Einwohner. Auch Pisa erfuhr zwischen 1551 und 1613 eine Verdoppelung auf etwa 15.000 Ansässige, wobei sich die Zuwanderer sowohl aus fremden Kaufleuten (Levantiner, Spanier, Portugiesen, Juden u.a.) als auch Leuten aus der Toskana, aus dem Arnotal und vom Apennin rekrutierten. Bemerkenswert ist der Kontrast der allgemeinen demographischen Entwicklung der italienischen Stadt zwischen 1622 und 1642 mit einem durchschnittlichen jährlichen Rückgang von 3,06%o und dem gleichzeitigen Anstieg Livornos um 13,5% (vgl. Sonnino 1982:73). Wenn festgestellt wurde, daß sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein Großteil der städtischen Bevölkerung der Toskana lediglich zwei Städten zuordnen ließ, Florenz und Livorno, die an den entgegengesetzten Enden expandierender Agrarzonen situiert waren, so ist dies nur ein Teilaspekt einer viel komplexeren Entwicklung. Zumindest hinsichtlich der Metropole bleiben die neben den Epidemien (Pest, Flecktyphus) auftretenden ökonomischen Probleme unterbelichtet. Im Textilzentrum Florenz hatte schon nach 1575 ein Niedergang der Tuchexporte eingesetzt, der ähnliche Ursachen, aber auch Begleiterscheinungen wie in Venedig oder Mailand aufwies. Letztere bestanden vor allem in einer Verlagerung der Wollindustrie in kleinere Städte, z.B. Prato, die jedoch die Verluste der Hauptstadt auszugleichen nicht imstande waren (Malanima 1982; Malanima 1988). Erfolgreicher war man hingegen beim Aufbau einer exportorientierten Seidenindustrie, die ländliche Rohstoffproduzenten an städtische Grundbesitzer und Unternehmer band. Die Krise der toskanischen Stadt, in die sich auch eine deutliche Verlangsamung des Wachstums von Livorno ab etwa 1630/40 fügt, hielt bis nach der Mitte des 18. Jahrhunderts an, und auch die nachfolgende demographische Expansion wurde eher vom Land und einzelnen protoindustrialisierten Zonen (Carrara) als von den Städten getragen (Sonnino 1982:74). Die frühneuzeitliche Stadtentwicklung im Kirchenstaat vollzog sich vereinfacht innerhalb zweier Systeme. Nördlich und östlich des Apennins verband sich eine starke, zur Multikephalie tendierende stadtstaatlich-signoriale Tradition mit ökonomischen Mustern, in denen wie auch in der Toskana, Venezien oder der Lombardei - dem industriellen Sektor innerhalb der Wirtschaftsbeziehungen ein erheblicher Stellenwert zukam. Im Süden hingegen verhinderte die Dominanz
Region und
231
Wirtschaft
Tabelle 20: Entwicklung des städtischen Bevölkerungsanteils in der Toskana 1552-1794 (in %) (nach Sonnino, Del Panta) 1552
1642
1794
Florentinischer Staat (ohne Livorno und Vorstädte) 15,2
18,4
14,8
1596
1640
1794
51,6
48,1
42,1
Territorium
Diözese Siena
Roms größere Mittelpunktsbildungen innerhalb eines engeren Umkreises, wobei sich die wenigen Städte als vorwiegende Zentren der Umverteilung des Agrarprodukts einem weiter im Süden gehäuft anzutreffenden Typus annäherten. Entsprechend verschieden waren auch die Geschicke im Zeitraum zwischen 1500 und 1800. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts war Bologna mit 62.000 Einwohnern die größte Stadt des Kirchenstaats (Sonnino 1982:69), gefolgt von Rom mit 45.000, dem allerdings erst 1597 vereinnahmten Ferrara mit 42.000 und Perugia mit 20.000. Der Gruppe um die lO.OOOer-Marke gehörten im Norden und Osten (Delegationen der Romagna) Ravenna, Rimini, Faenza, Forli und Ancona, im Süden lediglich Viterbo an. Sieht man von der Kapitale Rom ab, hat keine der genannten Städte in den folgenden 200 Jahren ihre Dimension oder auch Position innerhalb einer Rangordnung deutlich verändert, wobei letztere keineswegs im Sinne eines hierarchisch aufgebauten Netzwerks verstanden werden sollte. Die Verbindung der Romagna mit dem Papststaat hat bereits vor der Mitte des 16. Jahrhunderts zu einem Niedergang der in der vorangehenden, venezianischen Phase nicht unerheblichen Außenbeziehungen (Agrarexporte) geführt. Der gleichzeitige politische Bedeutungsverlust in Verbindung mit dem Anwachsen des Steuerdrucks läßt sich in der Stagnation der städtischen Bevölkerungszahlen gut verfolgen: Im datenmäßig gut belegten Zeitraum zwischen 1656 und 1782 blieben die Städte Ravenna, Faenza, Forli, Cesena oder Rimini größenmäßig nahezu unverändert (7.300-13.900 bzw. 7.300-15.100), ganz im Gegensatz zur Land- und auch Gesamtbevölkerung, die etwa um 30% anstieg (Bolognesi 1982a). Im wesentlichen gleichbleibende, erst im späteren 18. Jahrhundert ansteigende Ziffern kennzeichnen auch den Vorort der Emilia, Bologna (vgl. Bellettini 1987), der allerdings hinsichtlich seiner industrialisierten Struktur Ausnahmestatus besaß. Um 1600 hatte die Stadt etwa 63.000,1799 71.000 Einwohner. Die hier teils unter organisatorischer Einbeziehung des Landes, teils zentralisiert und
232
Zwei oder drei Italien
mechanisiert betriebene Seidenproduktion bildete seit dem 17. Jahrhundert ein wichtiges ökonomisches Standbein (Poni 1980). Ein klares Gegenbild zur ausgebliebenen demographischen Dynamik bildet wiederum Rom, das selbst keine nennenswerten ökonomischen Aktivitäten entwickelte und als Nutznießer zufließender Renten voll der Weberschen Konsumentenstadt entsprach. Wohl haben Reformation und Sacco di Roma (1527) einen Großteil der kirchlichen Stiftungen versiegen lassen, doch erscheint die Stadt schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wieder als „großes Wirtshaus" (Montaigne), wo sich alle Nationen einquartierten, die mit der Kurie zu tun hatten (Berengo 1975:46). Auf die städtebauliche Dynamik der ersten beiden neuzeitlichen Jahrhunderte mit ihrem enormen Angebot an Arbeitsplätzen im industriellen und Dienstleistungssektor ist an anderer Stelle verwiesen worden. Hier seien lediglich einige demographische Daten nachgetragen. Zwischen 1550 und 1600 soll die Einwohnerzahl von 55.000 auf 100.000 angestiegen sein, Rom wurde zur viertgrößten Stadt „Italiens" nach Neapel, Mailand und Venedig. Zufolge der seit 1598 vorliegenden „Listen" betritt man für die Folgezeit immerhin einigermaßen gesicherten Boden, und wiederum erweisen sich Hungerkrisen und Seuchen als die entscheidenden Parameter. Schwankte die Bevölkerung bis zur Pest von 1631/34 zwischen 110.000 und 120.000, so fiel sie nach dem Seuchenzug von 1656/57 nochmals knapp unter die lOO.OOOer-Marke, um allerdings in den folgenden nahezu 150 Jahren, auf 132.000-135.000 zwischen 1705 und 1720 bzw. 158.000 im Heiligen Jahr 1750 anzusteigen. Erst die Eroberung durch die Franzosen 1797 bereitete dem Aufstieg in einer Zeit des Friedens und des wiedergewonnenen kulturellen Splendors ein abruptes Ende (Schiavoni 1982; Schiavoni/Sonnino 1982). Das größte Staatengebilde auf italienischem Boden, das Königreich Neapel-Sizilien, bedeckte nahezu die Hälfte der Fläche, besaß zu Beginn des 16. Jahrhunderts aber weniger als 30% der Bevölkerung. In Städten mit über 10.000 Einwohnern lebten um 1500 etwa 13% derselben, um 1800 22,7% (nach Malanima 1998b:104f). Freilich wäre es verfehlt, aus diesen Ziffern einen zum übrigen Italien gegenläufigen Urbanisierungsschub abzuleiten. Zum einen, weil die Metropole mehr als einem Drittel der Stadtbewohner der Monarchie Quartier gab, zum anderen, weil die Mehrzahl der übrigen Städte, von einigen alten Zentren Apuliens und Siziliens mit kommerziellen oder administrativen Funktionen abgesehen, vorwiegend Vororten eines agrarischen Umlandes entsprachen. Daß die Agrarbevölkerung „städtisches" Wohnen jenem in Dörfern und Weilern vorzog, führte zu einem Wachstum die-
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und
Wirtschaft
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ser Landstädte ohne gleichzeitige ökonomisch-soziale Diversifikation. So fehlte außer bestimmten, vielfach mit der Agrarproduktion in Verbindung stehenden Grundgewerben ein entwickeltes städtisches Handwerk, wogegen sich mitunter Kleinstädte durch Spezialisierung auf exportfähige Industrieerzeugnisse auszeichneten, beispielsweise Castelli für Keramik oder Gaeta für Seife (De Rosa 1988). Die Konzentration der kommerziellen Aktivitäten des Königreichs in der Hauptstadt Schloß den Bestand sekundärer Exporthäfen an der apulisch-adriatischen (Molfetta, Bitonto, Monopoli etc.) sowie an der tyrrhenischen Küste (Salerno) nicht aus, doch dominierten mit der Ausfuhr von Getreide, Wein, Olivenöl, Mandeln oder Safran vorwiegend Agrarprodukte. Lediglich die im Laufe des 16. Jahrhunderts rasch an Bedeutung gewinnende Erzeugung von Seide in Neapel selbst, aber auch in anderen kalabrischen Städten stellte hier - vor der auch von den Grundbesitzern forcierten Expansion der Wolltucherzeugung gegen Jahrhundertende - eine Ausnahme dar. Vergleicht man die für das 16. Jahrhundert überlieferten demographischen Daten, so spiegelt sich die kontinuierliche wirtschaftliche Expansion des Königreichs auch im Wachstum seiner Städte wider. So konnten die größten Zentren sowohl des Festlands als auch Siziliens ihre Einwohnerzahl zwischen 1500 und 1600 nahezu verdoppeln: Neapel von 150.000 auf 280.000 (vor der Pest von 1656 365.000), Palermo von 50.000 auf 105.000, Messina von 28.000 auf 50.000, das durch eine rasante Baukonjunktur geprägte Lecce von 15.000 auf 36.000 und Catania von 14.000 auf 25.000. Das Bevölkerungswachstum stimulierte die Ausdehnung der Flächen für den Getreideanbau und der Eintritt in das riesige spanische Imperium die industrielle exportfähige Produktion. Seit dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts kündigte sich jedoch eine Trendwende an. Exportrückgänge, insbesondere aber der Abfluß von Kapitalien in andere spanische Provinzen, den man durch fiskalischen Druck zu kompensieren versuchte, markieren die Entwicklung vor der antispanischen Revolte des Jahres 1647 und dem Masanielloaufstand. Erheblich beschleunigt wurde der Niedergang der neapolitanischen Wirtschaft durch die Pest von 1656, mit ihren exorbitant hohen Todesraten in den großen Städten und damit auch unter den städtischen Exporthandwerkem. Die Tuch- und Seidenproduktion, die noch in der ersten Jahrhunderthälfte etwa 25% der bürgerlichen Aktivitäten ausgemacht hatte, sank auf ein bescheidenes Niveau. Die Hauptstadtfunktion Neapels zog nicht nur zahlreiche Fremde an, zufolge des Zusammenflusses eines großen Teils der Feudalrente und Steuern entstand auch ein enormes Angebot von Arbeitsmöglichkei-
234
Zwei oder drei Italien
Tabelle 21: Einwohnerzahl wohnern
1500-1800
italienischer
(nach
De Vries,
Städte
mit mehr als 10. ООО Ein-
Bairoch/Batou/Chevre,
Beloch,
Malanima) 1500
1550
1600
1650
6 8 5 15
8 8 18
14 9 7 18
20
48
41
40
25
1700
1750
1800
12 12 7 20 7 35
12 13
19 15 10 36 10 30 10 16 11 19 15 9 25 18 14 91 16 25 135 22 18 10 20 12 32 34 25 28 12 10 18 11 13 82 11 24 15 135 13 42 29 12
Norditalien Alessandria Asti Bassano Bergamo Bra Brescia Carmagnola Casale Monferrato Chieri Chioggia Como Crema Cremona Cuneo Fossano Genova (Genua) Lodi Mantova (Mantua) Milano (Mailand) Modena Mondovi Monza Nizza (Nice) Novara Padova (Padua) Parma Pavia Piacenza Racconigi Ravenna Reggio Emilia Saluzzo Savigliano Torino (Turin) Treviso Trieste (Triest) Udine Venezia (Venedig) Vercelli Verona Vicenza Vigevano
7 6 6 10 9 40 5 7 60 8 28 100 15 10 12 7 27 18 16 25 7 10 7 6 10 6 13 100 7 37 20 10
10 11 34 6 9 65 9 38 69 16
32 25 13
13
14 12 15 158 9 52 21 7
10 11 9 12 11 37 7 10 71 14 31 120 18 11 9 16 8 36 23 25 33 5 8 11 5 9 22 13 5 14 140 10 45 36 8
7 15
90 14 100 15
25 19 19 17
10
37 9
120 30 25
10 8 10 9 7 22 12 11 67 14 24 109 20 7 6 15 8 38 25 23 30 7 8 15 7 11 42 9 6 13 138 8 36 26 9
29 29
14 9 24 13 12 87 14 24 124 18 7 9 16 9 31 35 24 31
16 11 57 10 14 149 8 45 28 9
Mittelitalien Ancona Aquila Arpino Ascoli Piceno
15 10
10 9
9 7
5
7
8
10
15 14 10 12
Region und Wirtschaft
235
Fortsetzung Tabelle 21 Bologna Chieti Fabriano Faenza Fermo Ferrara Firenze (Florenz) Forli Gaeta Lanciano L'Aquila Livorno Lucca Macerata Osimo Perugia Pesaro Pisa Pistoia Rimini Roma (Rom) Siena Velletri Viterbo
1500
1550
1600
1650
1700
1750
1800
55 6 8 10 7
62
63 10 10 12 8 42 75 11 10 8 9 3 24 6 6 20 7 15 8 8 100 19 5 10
59
69
11
63 9 7 11 8 25 72 12 10 5 8 20 24 10 7 16 7 13 10 8 135 16 10 12
64 13 8 15 11 30 81 16 13 12 13 53 23 12 10 16 10 15 12 13 163 18 11 13
9
12
55 7 5 6 6
40 60
18 6
24
13 6 8
20
8 55 20 6 12
45 10
33 70
12 25
16 13 124 19
13 27 74 14
32
14 14 9 10 158 15 13
Süditalien Acireale Afragola Agrigento Alcamo Altamura Andria Ariano Augusta Avellino Aversa Bari Barletta Benevento Bisceglie Bitonto Cagliari Calatafimi Caltagirone Caltanissetta Canicatti Castelvetrano Castrogiovanni, Enna Castroreale Catania Catanzaro Cava dei Tirreni Comiso
14 8 5 6 5 5 12 6 6
10 8 12 14 8
8
3 6 6 10 5 5 8
7 15
14 5 6
22
6 15 14 7 10 12 10 5 12 9 11 17 10 25 10 13 5
13
11 7 12 7
15
12 11 10 15 11 11
7 8 8 14 9 8 10 10 17 6 11 13 8 10 9 11 16 10 15 5
18 10 9 19 17 15 8 10 26
15 12 18 13 18 14 10 10 11 14 18 16 14 11 15 20 10 20 16 16 15 11 11 45 12 20 11
Zwei oder drei Italien
236
Fortsetzung
Tabelle 21 1500
Corato Corleone Cosenza Foggia Francavilla Gallipoli Gravina Lecce Leonforte Licata Maddaloni Marsala Martina Franca Mascali Matera Mazzarino Melfi Messina Mistretta Modica/Pozzallo Molfetta Monopoli Monreale Napoli (Neapel) Naro Nicosia Noto Palermo Partanna Partinico Paternö Piazza Armerina, Enna Procida Ragusa Salemi Salerno San Severino Sansevero Sarno Sassari Sciacca Scicli Siracusa (Syrakus) Taranto (Tarent) Terlizzi Termini Torre Annunziata Torre del Greco Trani Trapani Vittoria
1550
1600
6 5
7 10 5
5 9 15
6 12 36
26
6
7
5
8 9
8 8 28 15 5 5 150
212
5 9 10 50
70
12
12
17
15 6 10 75 6 18 5 12 7 280 6 20 8 105 5 6 16
7 5 6 6
9 7 11 13
12 10 10 10 10
14 9 10 12 15
13
12 21
16
1650
16
11
50 16
176
12 10 129
14 9
14
10
9
5 17
19
1700 7 7 8 8 7 10 20 6 9 14 8 10 8 9 50 7 18 8 10 6 220 8 11 7 110 7 6 8 8 9 7 8 10
1750
13
15 9 11 11 29 20
305
12 11 118
12 12
14 8 9 17 12 5 7 10 10
15
17 5
17
18 14 10
1800 10 12 9 17 11 13 8 20 10 11 10 21 14 14 12 11 8 55 11 20 12 17 13 430 320? 11 12 11 135 11 10 10 12 12 17 12 9 18 18 11 17 11 10 16 17 10 14 14 16 14 24 10
Region und
237
Wirtschaft
Karte VII: Großstädte in Italien um 1700
0
50
100
Ί50
2