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German Pages 266 Year 2018
Sascha Pöhlmann Stadt und Straße
Lettre
Sascha Pöhlmann (Dr. phil. habil.) lehrt Amerikanistik an der LMU München.
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Sascha Pöhlmann, Chicago, 2005 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4402-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4402-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Für Jakob und Gregor
Inhalt
1.
Einleitung: Wo anfangen? | 9
2.
Die Stadt als Anfangsort | 17
2.1 2.2 2.3 2.4
Benjamin Franklin und Philadelphia | 21 Walt Whitman und Washington, D.C. | 35 Richard Wright und Memphis/Chicago | 59 Don DeLillo und New York City | 90
3.
Die Straße als Anfangsort | 117
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Jack Kerouac, On the Road | 122 John Steinbeck, Travels with Charley: In Search of America | 157 Kathy Acker, Empire of the Senseless | 197 Cormac McCarthy, The Road | 213 Mark Z. Danielewski, Only Revolutions | 234
Literatur | 259
1. Einleitung: Wo anfangen?
Amerika ist ein Anfangsort. Selbst als Amerika noch nicht das fragwürdige Synonym für die USA war, weil es diese noch nicht gab, war die europäische Vorstellung von Amerika zutiefst von Fantasien des Anfangs geprägt, die dann im 18. Jahrhundert zentraler Bestandteil eines nationalen Selbstverständnisses wurden und dies bis ins 21. Jahrhundert hinein auch bleiben. Der nach wie vor ebenso sorgsam gepflegte wie viel kritisierte Mythos der USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten, als Ort der zweiten Chance und des Neuanfangs, ist das Resultat einer jahrhundertelangen kulturellen Imagination, in der die Literatur eine zentrale Rolle spielt. Im vorliegenden Band möchte ich dieser literarischen Imagination in der amerikanischen Prosa nachgehen, und zwar jenseits einer Darstellung dessen, was man mit Irving Howes Begriff als ‚American Newness‘ fassen kann. Stattdessen will ich dieser inzwischen klischeehaften Konzeption des Neuen in den USA selbst etwas Neues hinzufügen, indem ich mich in meiner Interpretation literarischer Texte gerade nicht auf das Neue konzentriere, sondern auf ein Konzept, das darüber hinausgeht und von größerer Komplexität ist: der Anfang. In meiner Betrachtung werde ich dieses Konzept mit einem weiteren verknüpfen, das nicht weniger komplex und bedeutsam ist, und das von fundamentaler Bedeutung für Anfänge und das Anfangen ist: der Ort. Kurz gesagt geht es mir hier also um die Imagination von Anfangsorten in der US-amerikanischen Literatur, und damit um die Frage, wie in verschiedenen Texten Anfänge und Orte gemeinsam gemacht, konstruiert und markiert werden, und zu welchem Zweck. Dabei beschränke ich meine Analyse hauptsächlich aus praktischen Gründen auf jene beiden Anfangsorte, die mir in der amerikanischen Prosa am wichtigsten erscheinen, nämlich die Stadt und die Straße. Natürlich sind nicht wenige andere Anfangsorte denkbar, welche die amerikanische Literatur ebenso geprägt haben; man denke nur an große Orte wie den Westen oder das Meer, oder an
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kleinere Orte wie die Hütte in der Natur, die allesamt wichtige Bestandteile einer Vorstellung von US-amerikanischer Identität bieten, da über diese Motive zentrale Fragen von Individualismus, Gesellschaft, Demokratie, Konformität und Widerstand verhandelt wurden.1 Dies gilt nicht minder für Stadt und Straße, und sie sind jeweils für sich genommen schon spannende Anfangsorte, die vielfältige Bearbeitungen in dieser Hinsicht erfahren haben. Gerade aber der Kontrast dieser beiden Orte erlaubt es, deren spezifische Anfänglichkeit noch differenzierter hervorzuheben und daran exemplarisch zu zeigen, auf welch vielfältige Weise Anfangsorte in der amerikanischen Prosa konstruiert werden, und wie diese Texte sich dadurch kritisch mit dem uramerikanischen Motiv des Anfangens auseinandersetzen. Um diese Auseinandersetzung in ihrer Vielfalt darlegen zu können, greife ich bei meiner Textauswahl dabei sowohl auf kanonische Werke der amerikanischen Literatur zurück als auch auf jene Texte, die aus verschiedenen Gründen nicht im Zentrum der akademischen Literaturkritik stehen. Das Kapitel zur Stadt behandelt fünf Orte: Philadelphia im 18. Jahrhundert in Benjamin Franklins Autobiographie (1791); Washington, D.C. im 19. Jahrhundert in den journalistischen Texten, Briefen und Prosawerken Walt Whitmans; Memphis und Chicago im 20. Jahrhundert in Richard Wrights Black Boy (1945); und New York City im 21. Jahrhundert in Don DeLillos Falling Man (2007). Das Kapitel zur Straße umfasst Jack Kerouacs On the Road (1957), John Steinbecks Travels with Charley: In Search of America (1962), Kathy Ackers Empire of the Senseless (1988), Cormac McCarthys The Road (2006) und Mark Z. Danielewskis Only Revolutions (ebenfalls 2006). Franklins Autobiographie sowie On the Road sind grundlegende, kanonische Texte, die zutiefst formativ für die Imagination von Stadt und Straße als Anfangsort in der amerikanischen Literatur waren und sind, aber es wäre zu kurz gegriffen, sie als bloßen Hintergrund späterer Bearbeitungen dieser Themen zu betrachten oder diese nur als Variationen eines einmal in Stein gemeißelten Motivs zu lesen. So geht es mir hier nicht um einen Vergleich von Originalen mit Kopien, sondern um eine Darlegung einer gewissen Kontinuität innerhalb der amerikanischen Literatur, die nicht in linearen Begriffen von Einfluss und Wirkung bzw. Ur-Text und Variation zu fassen ist, sondern als Vielfalt an Perspektiven verstanden werden soll. Nicht zuletzt deshalb greife ich über Franklin und Kerouac hinaus auf Texte zurück,
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Natürlich sind auch konkretere Orte als diese für eine Analyse denkbar; hier sei auf Arno Hellers empfehlenswertes Buch Wo sich Amerika erfand: Große Erinnerungsorte in Neuengland verwiesen, das sich etwa mit Plymouth Rock, Salem oder Boston beschäftigt.
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die keine so zentrale Position im Kanon der amerikanischen Literatur einnehmen. Während Whitmans Gedichte zweifellos unentbehrlich für jegliche literaturhistorische Konzeption amerikanischer Lyrik sind, so finden seine Prosatexte und Briefe, um die es mir hier gehen wird, keine auch nur annähernd vergleichbare Beachtung. Richard Wrights Black Boy hingegen darf mit Fug und Recht als ein Klassiker afro-amerikanischer Literatur bezeichnet werden, auch wenn das Werk normalerweise hinter seinem Roman Native Son zurücksteht und sich durch seine umstrittene Publikationsgeschichte einer Kanonisierung eher widersetzt hat. Ähnliches gilt für John Steinbecks autobiographischen Roman Travels with Charley, der üblicherweise eher vernachlässigt wird, während Steinbecks Romane The Grapes of Wrath (1939) und East of Eden (1952) mehr Aufmerksamkeit erfahren. Kathy Acker hingegen gilt seit jeher als postmodernistischer Geheimtipp, wie ihr großes Vorbild William S. Burroughs als writer’s writer, deren Bücher von anderen AutorInnen hoch geschätzt werden, aber nie ein breiteres Publikum fanden. Auch Mark Z. Danielewski ist das, was man gemeinhin als ‚Kultautor‘ bezeichnet, auch wenn er inzwischen durchaus populär ist; Cormac McCarthy hingegen hat es nach einer jahrzehntelangen Autorenkarriere erst im 21. Jahrhundert wirklich ins Rampenlicht der amerikanischen Literatur geschafft und gilt Kritikern heute als einer der wichtigsten Gegenwartsautoren. Diese sehr verschiedenen AutorInnen eint nun, dass sie in ihren Werken entweder Stadt oder Straße als Anfangsort entwerfen, während sie zugleich sehr unterschiedliche Zwecke damit verfolgen. Die Konstruktionen dieser Anfangsorte dienen einer Idealisierung Amerikas ebenso wie einer harschen Kritik, sie betonen Individualismus ebenso wie Gemeinschaftlichkeit, sie mögen feministische Ziele verfolgen oder die Rassendiskriminierung anprangern, oder sie präsentieren Utopien ebenso wie Dystopien. Der Vergleich und die Kontrastierung dieser Werke zeigen, dass Stadt und Straße als Anfangsorte nicht auf eine einzige Bedeutung reduzierbar sind, sondern dass diese Motive eine Vielfalt an Symboliken entwickeln können, die zwar Familienähnlichkeiten miteinander aufweisen mögen, aber dennoch zu ganz eigenen Zwecken eingesetzt werden. Dies heißt ausdrücklich nicht, dass Stadt und Straße als Anfangsort eine willkürliche Bedeutungszuschreibung erfahren und sie sozusagen alles und nichts bedeuten; stattdessen meine ich damit, dass all diese Texte auf bereits bestehende literarische Imaginationen von Stadt und Straße zurückgreifen, sich in diese Tradition einschreiben, ihr aber zugleich auch neue Bedeutungsebenen verleihen und frühere Bedeutungen zu kritisieren oder gar zu überschreiben versuchen. Die folgende Analyse bietet also keine lineare Motivgeschichte, sondern will eher ein Netzwerk an Bedeutungen darlegen, in
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dem jeder Text einen eigenen Knotenpunkt bildet und ebenso neue Anknüpfungsmöglichkeiten bietet wie sich insgesamt in eine komplexe Imagination einfügt. Bevor ich aber damit anfange, über Anfangsorte in der amerikanischen Literatur zu schreiben, will ich beim Anfang anfangen und kurz mein Verständnis der beiden zentralen theoretischen Konzepte dieses Buches erläutern. Ich betone deshalb, dass es mein Verständnis ist, weil insbesondere der Ort auf eine jahrtausendealte Begriffsgeschichte zurückblicken kann, die eine solche Vielzahl an Definitionsmöglichkeiten bereithält, dass es sich verbietet, eine davon herauszugreifen und als allgemeingültig zu präsentieren. Der amerikanische Philosoph Edward Casey schildert diese Philosophiegeschichte des Ortsbegriffs in seinem Hauptwerk The Fate of Place (1997) auf eindrucksvolle Weise, wobei mir insbesondere seine Betonung von Körperlichkeit als zentrales Kriterium von Örtlichkeit wichtig erscheint (mit der er an die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys anschließt). Er unterscheidet den Ort von semantisch verwandten Konzepten wie Raum, Position, Stelle, Region und anderen, und er betont, dass der Ort etwas ist, dass (im Gegensatz zu vielen dieser Konzepte) erfahren werden muss, wobei der Körper eine absolut notwendige Rolle spielt: „The lived body not only activates places but needs them in turn; it finds them as well as founds them“ (Casey 226). Körper und Ort bedingen einander also in einer symbiotischen Beziehung; so wie ein Körper notwendigerweise verortet sein muss, so muss ein Ort notwendigerweise auch durch körperliche Erfahrung zustande kommen. Die Subjektivität dieser phänomenologischen Erfahrung bedeutet dabei, dass ein Ort niemals wirklich stabil ist, „[…] place is neither just where it is nor just what it is: only concerning the simple location of a site can we say these things. Hence place is not the content of a definite representation“ (Casey 231). Dieser Umstand ist besonders dann von Bedeutung, wenn man sich den Repräsentationen von Orten in der Literatur zuwendet, die diese Orte zwar nicht über eine direkte Körperlichkeit vermitteln, sondern den Weg über eine symbolische Darstellung durch Text und Imagination gehen müssen (auch wenn das Lesen sicherlich keine entkörperte Handlung ist). Da Orte sich einer endgültigen Repräsentation verweigern, weil sie nur durch eine Ortserfahrung zustande kommen und immer wieder neu zustande kommen können und müssen, werden sie in der Literatur auch nicht unbedingt am besten durch eine bloße Beschreibung des Ortes vermittelt, sondern durch eine Imagination der Ortserfahrung. Neil Evernden bezeichet diese literarische Praxis somit zurecht einerseits als „cultural simulation of a sense of place“, da sie dieses Gefühl für einen Ort nur simulieren, aber nicht unmittelbar erfahrbar machen kann; zugleich aber zeigt er,
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dass Literatur es dennoch schafft, einen entsprechenden phänomenologischen Effekt auf ihre Leser zu haben, indem sie eine „sensation of knowing, the sensation of being part of a known place“ (100) vermittelt. Bei aller Betonung von Körperlichkeit als konstitutives Element des Ortes sollte nicht vergessen werden, dass die Imagination Teil dieser Körperlichkeit ist und Orte zu einem nicht unerheblichen Teil durch kognitive Akte der Bedeutungszuschreibung zustande kommen. Deshalb erscheint mir folgende Definition von Lawrence Buell am nützlichsten, da sie diese Vielfalt körperlicher Erfahrung ebenso beinhaltet wie die materielle Realität des Ortes selbst und zudem betont, dass Orte ebenso individuell wie gemeinschaftlich konstruiert werden: „place is succinctly definable as space that is bounded and marked as humanly meaningful through personal attachment, social relations, and physiographic distinctiveness. Placeness, then, is co-constituted environmentally, socially, and phenomenologically through acts of perception“ (145). Die Literatur spielt eine wichtige Rolle bei dieser Bedeutungszuschreibung, und auch in der Literatur werden Orte über diese Begriffe erschaffen. Stadt und Straße sind dabei besonders bemerkenswerte Orte, da sie noch deutlicher jene Stabilität vermissen lassen, die bei Orten ohnehin schon schwach ausgeprägt ist; weder Stadt noch Straße sind als Ganzes als Orte erfahrbar und vermittelbar, und doch nehmen sie immer wieder Ortscharakter an. Diese Flexibilität macht sie zu besonders geeigneten Anfangsorten, da sie voller Potential stecken und nicht bereits auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt sind; der Prozess der menschlichen Bedeutungszuschreibung kann besonders an jenen Orten gut in Bewegung bleiben, deren Kernmerkmale Vielfalt und Veränderlichkeit sind. Kann eine Arbeitsdefinition des Ortes auf diese umfassende Philosophiegeschichte zurückgreifen, so findet sich für den Anfang keine vergleichbare Tradition, aus der man schöpfen kann. Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung (1959) bietet zwar die meines Erachtens umfassendste und differenzierteste Studie zum Konzept der Zukunft, bietet aber dabei trotz ihrer wiederholten Bezüge auf Anfänge und das Anfangen keine Erläuterung dieser Konzepte. Dies ist erstaunlicherweise auch bei jenen wenigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Werken der Fall, die sich ausdrücklich mit Anfängen beschäftigen, etwa Terence Martins Parables of Possibility: The American Need for Beginnings (1995) oder Edward Saids Beginnings: Intention & Method (1975), die beide keinerlei Arbeitsdefinition ihres zentralen Begriffs anbieten. Besonders Saids Studie ist dennoch nützlich für eine genauere Begriffsbestimmung, die ich im Folgenden vornehmen will, und die insgesamt sechs Aspekte des Anfangs und des Anfangens umfasst.
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Der erste dieser Aspekte adaptiert Lawrence Buells Ortsdefinition und definiert den Anfang als Zeit, die begrenzt und als menschlich bedeutsam markiert ist. Das bedeutet nicht, dass sich der Anfang zur Zeit verhält wie der Ort zum Raum, und dennoch können Anfang und Ort parallel zueinander verstanden werden (nicht zuletzt vielleicht durch ihre mögliche konzeptuelle Verbundenheit im Anfangsort). Der Anfang ist notwendigerweise begrenzt, da er einen Bruch oder Wandel in Bezug auf ein Vorangegangenes impliziert; man mag sich einen endlosen Anfang vorstellen können, aber keinen anfangslosen Anfang. Noch wichtiger ist allerdings, dass ein Anfang als bedeutsam markierte Zeit ist: ihr wird symbolischer Gehalt verliehen, und genau das bringt den Anfang als solchen hervor. Der Anfang ist ebenso wie der Ort ein menschliches Konzept, und gäbe es keine Menschen, die Anfänge machen oder markieren, so gäbe es auch keine Anfänge. Anfänge werden nicht vorgefunden, sondern konstruiert, und sie existieren, weil sie imaginiert werden. Zweitens kann ein Anfang ein Zeitpunkt oder eine Zeitspanne sein. Er kann ein Moment oder ein Prozess sein, also entweder der Schuss aus der Startpistole, der ein Rennen beginnt, oder der Anfang menschlicher Zivilisation, der sich über Jahrtausende hinziehen mag. Während der Anfang notwendigerweise begrenzt ist, ist seine Dauer innerhalb dieser Grenzen beliebig. Drittens weist ein Anfang stets über sich selbst hinaus. Selbst ein Anfangsmoment wird einen Effekt auf die Zeit nach diesem Moment haben, und selbst wenn das Angefangene so kurzlebig sein mag wie der Anfang selbst, so zeigt es doch, dass jeder Anfang stets mehr als einen Moment beinhalten muss und somit immer mindestens zwei Zeitpunkte miteinander verbindet (meistens Gegenwart und Zukunft, aber keineswegs nur diese). Indem man bei der Konstruktion des Anfangs Zeit mit Bedeutung versieht, konstruiert man also auch das Angefangene und erschafft eine Kontinuität zwischen zwei Zeiten. Viertens sind Anfänge nichts, das einfach passiert, sondern sie werden gemacht. Ein Anfang kann ein Ereignis sein, aber auch eine Handlung: „Beginning is an activity“ (Said 19), und als Handlung hat der Anfang immer symbolische Bedeutung, auch wenn diese ihr vorher, während, oder nach der tatsächlichen Handlung zugeschrieben werden mag. Während Said das Anfangen als „consciously intentional, productive activity“ (372) beschreibt, so würde ich die Notwendigkeit dieses Bewusstseins abstreiten, auch wenn es sicherlich oftmals vorhanden sein mag. Stattdessen können Anfänge im Nachhinein als solche markiert werden, auch wenn sie von den Individuen oder Gruppen, die sie vollzogen haben, gar nicht als solche intendiert waren. Die Beschreibung eines Anfangs als solchen konstituiert ihn.
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Fünftens ist ein Anfang potentiell wiederholbar. Er kann – muss aber nicht – wiederholt und in eine Reihe von Anfängen gestellt werden, die sich allesamt unterscheiden. Hier ist Saids äußerst wichtige Unterscheidung von Anfang und Ursprung relevant: „we generally locate origins before beginnings, since the Origin is a latent state from which the beginnings of action move forward: retrospectively considered, then, the Origin is a condition or state that permits beginning“ (316). Ein Ursprung impliziert eine absolute, singuläre Grenze der zeitlichen Imagination, und er ist das, vor dem nichts ist. Ein Anfang hingegen hat selbst Anfänge und erlaubt weitere Anfänge, er ist nicht einzigartig, sondern seriell und iterativ. Viele Anfänge in einer Reihe sind denkbar, wohingegen eine Reihe an Ursprüngen ein Widerspruch in sich ist. Laut Said implizierten Anfänge Aktivität und Ursprünge Passivität (vgl. 6), was darauf zurückführbar ist, dass Ursprünge unerreichbar und unhintergehbar sind und sich menschlichem Zugriff entziehen, während Anfänge performativ sind und ohne menschliches Zutun nicht existieren würden. Salopp gesagt kann man anfangen, aber nicht ursprungen, und vor allem kann man wieder und wieder anfangen, während Ursprünglichkeit Einzigartigkeit impliziert. Hier zeigt sich, warum man den Anfang nicht mit dem Neuen gleichsetzen sollte: Man mag immer wieder neu anfangen, aber man fängt deshalb nicht unbedingt etwas Neues an. Das Neue beinhaltet notwendigerweise einen Anfang, aber der Anfang beinhaltet nicht notwendigerweise das Neue. Zudem verweist die potentielle Wiederholbarkeit des Anfangs auch darauf, dass Anfänge scheitern können, da sie stets zwischen Unsicherheit und Bestimmtheit schwanken und nur in diesem Zwischenraum als Anfänge existieren können. Sechstens hat ein Anfang soziale Bedeutung, und seine Konstruktion und Imagination hat politisches Potential. Anfänge und ihre Bedingungen sind ebenso wie die menschlichen Mechanismen ihrer Bedeutungszuschreibung stets in einen gesellschaftlichen und historischen Kontext eingebunden, und somit sind ihre Darstellung und Vorstellung politisch relevant. Die Imagination von Anfängen und des Anfangens ist keine rein ideelle oder abstrakte Handlung, sondern sie strukturiert das menschliche Leben und Zusammenleben, indem sie eine Kohärenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft projiziert, die fundamental für Entwürfe individueller und sozialer Identität ist. Natürlich gründen sich die politischen Konzepte von Subjektivität, Identität, Gesellschaft, Gemeinschaft, etc. nicht nur auf eine Imagination von Anfängen, aber diese ist dennoch ein wichtiges Element. Zuletzt bleibt noch anzumerken, dass ein Anfang jenseits dieser zeitlichen Aspekte natürlich auch immer verortet ist, auch wenn diese räumliche Komponente mal mehr, mal weniger ausgeprägt sein mag. Said beginnt seine
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Studie mit der Frage „What is special about beginning as an activity or a moment or a place?“ (xi), geht aber danach nie wieder auf diese Verortung ein, sondern beschränkt sich auf Anfänge als Handlungen mit Intention und Methode, wie es der Titel seines Werkes anzeigt. Genau diese Vernachlässigung möchte ich in der folgenden Analyse vermeiden, indem ich das oben umrissene Anfangskonzept grundlegend in Verbindung mit dem ebenfalls vorgebrachten Ortskonzept denke und somit prinzipiell von Anfangsorten ausgehe, auch wenn die Betrachtung durchaus auch wechselnde Schwerpunkte auf eine der beiden Komponenten legen mag. Kurz gesagt geht es nicht um die Frage, wie Anfänge oder Orte in der amerikanischen Literatur imaginiert werden, sondern stattdessen um die Frage, wie Anfänge und Orte gemeinsam konstruiert werden, und wie sich diese symbiotische Bedeutungsproduktion gestaltet. Stadt und Straße erscheinen mir besonders exemplarisch für diese Symbiose, womit es nun fast an der Zeit ist, den theoretischen Anfang abzuschließen und die Analyse der Texte anzufangen. Einige Worte aber noch zu diesem Buch: Meine Diskussion der Texte richtet sich an ein breiteres deutschsprachiges Publikum, das an amerikanischer Literatur interessiert ist und diese auch zumeist im Original liest, das aber nicht im selben Maße am akademischen Fachdiskurs der Literaturwissenschaft Interesse hat. Während ich also die Zitate im amerikanischen Original belassen habe, so habe ich gleichzeitig Referenzen auf Sekundärtexte im Fließtext weitgehend vermieden, verweise aber in den Endnoten auf ausgesuchte relevante Werke, die eine Vertiefung und Erweiterung der von mir angesprochenen Aspekte ermöglichen und zugleich auch oftmals die Grundlage meiner eigenen Analyse bilden.
2. Die Stadt als Anfangsort
Die Stadt war selbst dann schon ein Ort des Anfangs in der amerikanischen Imagination, als weder von den USA noch von Städten im modernen Sinn die Rede sein konnte. John Winthrops Predigt A Model of Christian Charity, die er 1630 an Bord des Schiffes Arbella auf dem Weg nach Amerika hielt, kann insbesondere seit ihrer erstmaligen Veröffentlichung im Jahre 1838 durch die Massachussetts Historical Society als beispielhaft und zutiefst prägend verstanden werden. Winthrop legt in seiner Predigt nicht nur die Grundlagen des puritanischen Weltbildes dar, welche die Kolonie nach der Ankunft leiten sollen, sondern betont insbesondere, dass die Gemeinschaft in der Kolonie selbst ein Vorbild sein solle: For we must consider that we shall be as a city upon a hill. The eyes of all people are upon us, so that if we shall deal falsely with our God in this work we have undertaken, and so cause him to withdraw his present help from us, we shall be made a story and a by-word throughout the world. (Winthrop 11)
Durch die berühmte Formulierung der „city upon a hill“, die immer wieder gerne von US-amerikanischen Politikern wie John F. Kennedy und Ronald Reagan aufgegriffen wurde, zieht Winthrop Parallelen zwischen seiner eigenen Predigt vor der Gemeinde an Bord des Schiffes und der Bergpredigt, wodurch er die Migration der Puritaner in einen biblischen Kontext stellt und somit religiös rechtfertigt. Diese Vorbildfunktion bildet den ständigen Hintergrund für den Neuanfang der Puritaner in Amerika, und Winthrop vermittelt so seinen Zuhörern eindringlich die globalen Implikationen ihres Projekts: Egal, ob er Erfolg hat oder scheitert, die Welt schaut genau auf diesen Anfang, den die Puritaner an Bord der Arbella begehen werden, sobald sie das amerikanische Festland betreten. Nicht nur Gott, auch der Mensch wird dieses soziale
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Experiment des Neuanfangs der Puritaner in Amerika beurteilen, das dann gelänge, wenn man von späteren Besiedelungen sagen würde: „‚the Lord make it like that of New England‘“ (Winthrop 11). In Winthrops Rede zeigen sich zentrale Aspekte des Anfangs. Zunächst ist der Anfang performativ und selbstreflexiv, das heißt, er wird bewusst vollzogen: Winthrops Predigt handelt nicht nur vom Neuanfang der puritanischen Gemeinschaft in Amerika, der durch die Verfolgung in England nötig geworden war, sondern sie markiert selbst diesen Anfang. Anders gesagt: Winthrop spricht nicht nur vom Anfang, sondern er selbst fängt an. Der Ort dieses Anfangens ist dabei besonders bedeutsam, denn die Predigt wird an Bord des Schiffes gehalten und nicht etwa kurz nach der Ankunft in der Neuen Welt. Sie kann als vorbereitender Anfang gelten, als Anfang eines andauernden Anfangs: Winthrop stellt durch die vorgezogene Predigt sicher, dass der Anfang in Amerika bereits im erwünschten Rahmen stattfinden wird, während das Leben in Amerika selbst als zeitlich ausgedehnter Anfang projiziert wird, dessen Signalwirkung nicht in einem kurzen Anfangspunkt erschöpft sein wird. Zudem weiß Winthrop nicht nur um die Notwendigkeit der Konstruktion, sondern auch um die Notwendigkeit der Rezeption des Anfangs. Es gelingt ihm, durch Bedeutungszuschreibung einen Anfang in der Zeit zu markieren, indem er dies erstens vor Publikum tut und indem er zweitens ein viel größeres Publikum impliziert und anspricht, das den Anfang der Puritaner in Amerika auch als solchen wahrzunehmen hat (und nicht etwa als Flucht). Winthrops Anfang hat, wie es Edward Said im Titel seiner Studie des literarischen Anfangens bezeichnet, Intention und Methode; auf dem Nicht-Ort des Schiffes Arbella formt der sprachlich-performative Anfang bereits die Spielregeln der Massachusetts Bay Colony und konstruiert diese als Anfangsort, noch bevor sie überhaupt erreicht ist. Es ist bemerkenswert, dass Winthrop diesen Anfangsort über das Bild der Stadt erschafft, obwohl der von den Kolonisten allzu oft als leer empfundene Kontinent Amerika mit seiner scheinbar unbegrenzten Natur eher zu anderen Metaphern einladen musste. Jedoch sagt diese Wortwahl schon einiges darüber aus, wie Winthrop den Anfangsort für die Puritaner konzipiert: Er soll Zivilisation und kulturelle Leistung symbolisieren, auch wenn die tatsächliche Lebenswelt in der Kolonie mehr Überlebenskampf denn Kulturschöpfung forderte. Von Beginn europäischer Besiedelung an ist also die Stadt ein überaus wichtiger Anfangsort in der amerikanischen Imagination, auch wenn tatsächliche Städte noch lange nicht vorhanden waren. Natürlich ist jene Stadt, von der Winthrop spricht, kein urbaner Raum im heutigen Sinne, ja sie ist nicht einmal ein Ort: Seine „city upon a hill“ ist allein die soziale Gemeinschaft der Puritaner,
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die von einem tatsächlichen Lebensort abstrahiert ist. Winthrop behält durch seine Verwendung des Begriffs die Konnotation von Zivilisation und Komplexität bei, löst ihn jedoch von jeglicher Materialität einer tatsächlich vorhandenen Umwelt. Auch wenn diese Abstraktion natürlich insbesondere für Winthrops frühmoderne Zeit naheliegend erscheint, da kaum echte Stadträume vorhanden waren, die diesen Namen verdienten, so findet sie auch in späteren Zeiten, in denen zweifellos von Urbanität gesprochen werden kann, ihre Verwendung, wenn es darum geht, die Erfahrung städtischen Lebens in Text zu fassen. Die Stadt ist praktisch per Definition sprachlich unvermittelbar, da sie zu komplex ist, um komplett erfasst zu werden, und sie unterwandert dadurch stets jene Struktur, die gleichzeitig auf dieser Vielfalt basiert: „Diversity is a key to urban beginnings and continuities, and diversity is also the snake in the urban garden, challenging systems of order and encouraging disorder and chaos“ (Lehan 8). Durch diese Unmöglichkeit einer einfachen, stabilen Ordnung in Wahrnehmung und Repräsentation entwickeln Stadt-Texte notwendigerweise ganz eigene Darstellungsstrategien, um eine Imagination der Stadt möglich zu machen – eine dieser Möglichkeiten besteht eben darin, den tatsächlichen Stadtraum hinter eine subjektive und erfahrungszentrierte Narration zurückzustellen und ihn sozusagen hinter dem Individuum auszublenden. Der Kritiker John Henry Raleigh beispielsweise definiert den „City-Novelist“ als denjenigen, der die Stadt als Hintergrund verwendet und sie dadurch erschafft: „one who uses as a background, and therefore renders, a large metropolitan City“ (295). Dies geschieht beispielsweise in John Dos Passos Manhattan Transfer (1925). In diesem Roman wird New York City indirekt über eine Vielzahl an einzelnen Geschichten beschrieben, in denen insbesondere die Erfahrungen der jeweiligen Individuen in Bezug auf die Stadt vermittelt werden, denen gleichzeitig aber auch unpersönlichere Zeitungsberichte gegenüberstehen. New York City wird somit durch den erzählerischen Fokus auf seine Bewohner und die Medien diskursiv konstruiert, wobei jederzeit klar bleibt, dass diese Zusammenstellung zwar auf gewisse Weise repräsentativ ist, jedoch nie die Stadt wirklich in ihrer Vollständigkeit repräsentieren kann. (Die Figur Bud Korpenning scheitert sogar tragisch an genau dieser unbegreiflichen Vielfalt, da seine Suche nach „the center of things“ (Dos Passos 4) an einem Ort fehlschlagen muss, der von keinem Zentrum zusammengehalten wird.) Klar ist auch, dass durch diese Vermittlung der Stadt als Hintergrund und die Konzentration der Erzählperspektive auf Individuen diverse Aspekte von Urbanität vernachlässigt werden. Andere Erzählstrategien in Stadttexten betonen stattdessen die Materialität der Stadt durch eine Beschreibung ihrer Architektur oder ‘
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Infrastruktur; all diese Möglichkeiten haben jedoch gemein, dass sie sich notwendigerweise als unvollständig und fragmentarisch begreifen und somit deutlich machen, dass sie die Stadt bestenfalls über ein pars pro toto darstellen können. Die Stadt teilt nicht nur diese Problematik der Repräsentation mit den Konzepten von Anfang und Ort, die in dieser Arbeit eine zentrale Rolle einnehmen; die Fragen der Darstellung überlappen sich sogar weitgehend. Die Stadt kann beispielsweise als Sonderfall eines Ortes gelten. Versteht man den Ort mit Buell als „space that is bounded and marked as humanly meaningful through personal attachment, social relations, and physiographic distinctiveness“ (145), so präsentiert sich die Stadt als ein Ort, an dem diese Definitionsmerkmale bis zu einem kritischen Punkt ausgedehnt wurden, und womöglich darüber hinaus. Die Kategorien der Bedeutsamkeit – persönliche Bindung, soziale Beziehungen und physiographische Unterscheidbarkeit – gelten kaum für ein Dorf, dessen soziales Geflecht schon unüberschaubar sein mag, geschweige denn für eine Millionenstadt. Die physiographische Vielfalt einer Metropole übersteigt alle einfachen Kategorisierungsmöglichkeiten bei weitem; persönliche Bindung sucht sich dementsprechend kleinere Ortseinheiten innerhalb der Stadt, wie etwa eine Straße oder ein Viertel. Dennoch ist die Stadt sicherlich ein Ort, und zwar gerade weil sie es möglich macht, diese Vielfalt als Einheit zu begreifen, imaginativ wie soziopolitisch oder infrastrukturell. Während Buells Kriterien der Ortsdefinition für sich genommen weniger relevant sind, wird die imaginative Konstruktion des Ortes immer wichtiger, die sich aus all diesen Komponenten speist. Die Stadt ist streng genommen kein erfahrbarer Ort für das Individuum, wird jedoch erfahrbar gemacht, indem sie vorstellbar ist. Literarische Texte spielen für diese Imagination von Urbanität eine wichtige Rolle, und zwar nicht erst im Modernismus im frühen 20. Jahrhundert, auch wenn dieser mit Werken wie James Joyces Ulysses (1922), Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) oder eben Manhattan Transfer einen Höhepunkt der Stadtliteratur markiert. Man könnte sogar sagen, das Phänomen der Stadtliteratur sei generell ein Zeichen von Modernität, nicht nur ein Symptom des Modernismus, da die Moderne durchaus als Zeitalter der Stadt definiert werden kann. Die Passagiere der Arbella erwarteten noch keine modernen Städte in Amerika, allerdings nahm Winthrop in seiner Predigt bereits die Stadt als zentrales Motiv amerikanischer Imagination vorweg. Zudem gab er dieser Imagination eine bedeutsame Richtung, die sich in der amerikanischen Literatur immer wieder finden lassen wird, und der in diesem Kapitel nachgegangen werden soll: die Imagination der Stadt als Anfangsort. Zu diesem Zweck sollen beispielhaft vier Städte und ihre literarischen Darstellungen betrachtet werden:
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Philadelphia im 18. Jahrhundert in Benjamin Franklins Autobiographie (1791); Washington, D.C. im 19. Jahrhundert in den journalistischen Texten, Briefen und Prosawerken Walt Whitmans; Memphis und Chicago im 20. Jahrhundert in Richard Wrights Black Boy (1945); und New York City im 21. Jahrhundert in Don DeLillos Falling Man (2007). Diese Auswahl an Stadttexten könnte natürlich fast beliebig erweitert werden, da sich die amerikanische Literatur wie kaum eine andere mit der Großstadt beschäftigt. Es existiert jeweils ein ganz eigener Literaturkanon von Texten über New York City, Los Angeles, San Francisco, Chicago, und vielen mehr, in dem auch die Idee des Anfangs zweifellos immer wieder zu finden ist: Charles Brockden Browns Arthur Merwyn (1799), Edgar Allen Poes „The Man of the Crowd“ (1840), William Dean Howells A Hazard of New Fortunes (1890), Stephen Cranes Maggie: A Girl of the Streets (1893), Theodore Dreisers Sister Carrie (1900), Nella Larsens Passing (1929), Ralph Ellisons Invisible Man (1952), Saul Bellows The Adventures of Augie March (1953), Jay McInerneys Bright Lights, Big City (1984), Paul Austers New York Trilogy (1985-86), James Ellroys L.A.-Quartett bestehend aus The Black Dahlia, The Big Nowhere, L.A. Confidential und White Jazz (1987-1992), Bret Easton Ellis‘ Less Than Zero (1985), American Psycho (1991) und Glamorama (1998), Karen Tei Yamashitas Tropic of Orange (1997), etc. Die hier zur Analyse ausgewählten Stadttexte sollen Beispiele aus vier Jahrhunderten bieten, die zumindest einige der wichtigsten Problemstellungen amerikanischer Stadtliteratur aufzeigen und dabei verschiedene narrative Vorgehensweisen darbieten. Ihnen gemeinsam ist der Versuch, die Stadt nicht nur als Stadt, sondern insbesondere als Anfangsort zu vermitteln, für das Individuum wie für die gesamte (amerikanische) Gesellschaft. Dieser Imagination des städtischen Anfangsortes steht zudem in allen Texten eine Krise gegenüber, die von individueller Armut bis hin zum drohenden Zusammenbruch des nationalstaatlichen soziopolitischen Systems reichen kann; die Stadt ist nicht nur der Ort, an dem ein Anfang möglich ist, sondern auch der Ort, an dem er nötig wird. ‘
2.1
BENJAMIN FRANKLIN UND PHILADELPHIA
An Benjamin Franklins Autobiographie zeigt sich wohl am deutlichsten, wie sich ein Text über einen städtischen Anfangsort – in diesem Fall Philadelphia im 18. Jahrhundert – immer auch selbst als Anfangsort präsentiert, bzw. wie er stark als Anfangsort rezipiert wird. Franklins Autobiographie wird oft als Anfangspunkt einer genuin amerikanischen Literatur begriffen, etwa wenn J.A. Leo
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Lemay erklärt, sie sei „the first great book in American literature, and, in some ways, it remains the most important single book“ (349). Lemay betont zudem, es handele sich dabei um eine Darstellung der ersten vollständig modernen Welt in der westlichen Literatur: „nonfeudal, nonaristocratic, and nonreligious“ (353). Dieser Aufzählung kann man hinzufügen, dass es die Darstellung der Stadt ist, die das zutiefst moderne Thema des Textes ausweist. Franklin bietet in seiner Autobiographie die Vorlage für den amerikanischen self-made man an, das früheste und wohl prägendste Vorbild für den amerikanischen Traum; wichtig für die Frage der Anfangsorte ist, dass er diesen Aufstieg in Philadelphia verortet und die Stadt zum integralen Bestandteil seiner Erfolgsgeschichte macht, so dass die Bezeichnung Franklins als „greatest urban intellectual of the period“ (White & White 6) insbesondere in ihrem Ortsverweis angemessen ist. Auch wenn Franklins Narration stark individualistisch ist und er seine Leistungen als durch sein eigenes Handeln hervorgebracht präsentiert, so bietet die Stadt dennoch den Rahmen für diesen selbstgemachten Anfang, und die Darstellung impliziert, dass dieser nur im komplexen sozialen Gefüge einer Stadt möglich war, außerhalb eines urbanen Netzwerks allerdings nicht vorstellbar gewesen wäre. Während Winthrop die Stadt als utopisches Zukunftsbild gebraucht, das noch zu verwirklichen ist, ist bei Franklin die Stadt vorhanden: Er kommt per Schiff in das bereits etablierte Stadtgebiet von Philadelphia und muss sich dort zurechtfinden. Diese Situation wird später besonders deutlich, wenn er beispielsweise berufliche Konkurrenz vorfindet: „[…] I had to contend with for Business two Printers who were establish’d in the Place before me“ (64). Winthrop konnte eine Stadt nach seinen Vorstellungen erschaffen; Franklin muss sich zunächst mit den Gegebenheiten arrangieren. Winthrops imaginäre Stadt ist deshalb ein Anfangsort, weil sie als Bild den Anfang der tatsächlichen Ortsbildung durch die Besiedelung leitet; Franklins Philadelphia, mit 70.000 Einwohnern zu seiner Zeit die größte Stadt an der Ostküste und zeitweise sogar die Hauptstadt der USA, ist ein Anfangsort, weil er die Stadt für sich dazu macht und in ihr anfangen kann. Erst später wird sich diese Dynamik umkehren, wenn Franklin genug Geld und Macht hat, auf die Stadt einzuwirken. Während die Stadt dem machtlosen Individuum anfangs noch die Möglichkeiten bot, sich zu verändern und zu entfalten, wirkt das mächtige Individuum später stark auf die Stadt ein und verändert sie durch seine eigenen Ideen und Handlungen. Philadelphia wird so für Franklin zum Anfangsort einer persönlichen Erfolgsgeschichte, der durch diese Erfolgsgeschichte selbst neue Anfänge erfährt. Bevor jedoch diese Stadtgeschichte erzählt wird, bereitet Franklins Autobiographie den Leser schon darauf vor, dass in ihr die Idee des Anfangs eine zentrale Rolle spielen wird, wodurch der Verständnisrahmen für die spätere
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Narration bereits vorgeformt wird. Franklin erklärt gleich im ersten Absatz seine Motivation, seine Autobiographie zu schreiben, indem er seinen Sohn als Adressaten des Textes anspricht und darauf verweist, wie gerne er Geschichten seiner Vorfahren erfahre: „I have ever had a Pleasure in obtaining any little Anecdotes of my Ancestors“ (1). Diese Aussage verfolgt zwei Ziele. Einerseits betont Franklin durch den Verweis auf seine familiäre Vergangenheit seine eigenen Anfänge; andererseits vermittelt er, dass die darauffolgende Erzählung innerhalb dieser Familiengeschichte einen weiteren Anfang markieren wird, auf den sich spätere Generationen beziehen werden. Das Individuum ist für Franklin zwar nie ein unbeschriebenes Blatt, jedoch ist es stets in der Lage, aus dem jeweils vorhandenen Kontext für sich einen Neuanfang zu schaffen. Indem Franklin seine Autobiographie zu Papier bringt, ermöglicht er einen solchen Anfang für seine Leser, indem sein Werk als Vorbild dienen soll: „they may find some of them suitable to their own Situations, and therefore fit to be imitated“ (1).2 Der Text wird somit selbst zum Anfangsort, wodurch er eine andere Qualität erlangt als die Anekdoten über die Vorfahren, die Franklin gerne sammelte, da er diese in seiner Autobiographie nie ausdrücklich zum Vorbild nimmt. Der Grund liegt darin, dass Franklin sich als den ersten in seiner Familie präsentiert, der sich wirklichen Erfolg erarbeitet hat, wodurch seine Lebensgeschichte von einer Anekdotensammlung zum Vorbild werden kann: „Having emerg’d from the Poverty and Obscurity in which I was born and bred, to a State of Affluence and some Degree of Reputation in the World […]“ (1). Franklin beschreibt hier seine eigene familiäre Situation noch nicht als Anfang, sondern als unproduktiven Grundzustand, aus dem er sich selbst herausheben wird. Franklin zeigt zwar seine Herkunft auf, lässt sie jedoch gleichzeitig in den Hintergrund treten, um vor diesem seinen persönlichen Erfolg darzustellen. Dieser beinhaltet bemerkenswerterweise zwei wichtige Elemente, nämlich den Aufstieg aus „Poverty and Obscurity“ (1): Erfolg besteht für Franklin nicht aus wirtschaftlichem Reichtum, sondern auch aus Bekanntheit und der damit verbundenen Macht. Hier zeigt sich, wie Franklins Erzählung seiner familiären Anfänge funktioniert, da er einerseits natürlich darlegen muss, aus welcher Situation er sich befreit hat, er aber gleichzeitig seine Familie nicht durch seine
2 Dabei ist zu bemerken, dass sich der erste Teil des Textes zwar wie ein privater Brief an den Sohn darstellt, er aber durchaus zur Veröffentlichung – nach Franklins Tod – gedacht war, wie Robert Freeman Sayre überzeugend argumentiert, indem er nicht nur auf die literarischen Stilmittel im Text verweist, sondern auch anführt, Franklins Sohn sei zu diesem Zeitpunkt vierzig Jahre alt und Gouverneur von New Jersey gewesen, also „considerably beyond paternal counsel“ (516).
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Erzählung aus dem Zustand der Obskurität erheben kann, ohne seinen eigenen Aufstieg zu mindern. Auch wenn Franklin sein Werk als lehrreiches Vorbild betrachtet, macht er es dadurch letztlich jedoch auch seinen Nachkommen unmöglich, einen ähnlichen Anfang zu machen, da er die Situation von „Poverty and Obscurity“ (1), in der sich seine Familie befand, dauerhaft verändert hat. Indem Franklin seinen persönlichen Erfolg als Anfangspunkt präsentiert, stellt er sich paradoxerweise auch als Endpunkt seiner Familiengeschichte dar, da ein noch erfolgreicherer Aufstieg eines Familienmitglieds nach ihm praktisch unvorstellbar ist. Franklin gebraucht ein weiteres Anfangsbild, um sein erfolgreiches Leben zu beschreiben, indem er erklärt: „were it offer’d to my Choice, I should have no Objection to a Repetition of the same Life from its Beginning, only asking the Advantage Authors have in a second Edition to correct some Faults of the first“ (1). Die Metapher entstammt nicht nur Franklins Metier des Buchdruckers, sondern vermittelt auch ein Verständnis dafür, wie ein erfolgreiches Leben zu verstehen ist. Franklin würde sich keinen kompletten Neuanfang seines Lebens wünschen, sondern stattdessen die Zeit nach dem bereits geleisteten Anfang bestenfalls verbessern wollen. Die Erstausgabe soll nicht ersetzt, sondern nur stellenweise korrigiert werden: Der gemachte Anfang wird bestätigt und nicht an sich hinterfragt, nur die Folgen des Anfangs sind verbesserungsfähig. Franklin betont durch dieses Bild die Bedeutung des Anfangs für seine Lebensphilosophie; indem er den richtigen Anfang innerhalb der Grundsituation von Armut und Unbekanntheit gemacht hat, waren ihm danach auch Erfolge (und weitere Anfänge) möglich. Generell ist der Anfang bei Franklin nicht einfach ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Erfolg, sondern der Schritt überhaupt. Um seine Philosophie des Anfangens zu vermitteln gebraucht Franklin Ortsmetaphern. Wenn er sein Projekt der Arbeit an sich selbst beschreibt, bei dem er tugendhafter zu werden versucht, vergleicht er sein Vorgehen mit dem Jäten von Unkraut und bevorzugt ein streng lineares Vorgehen, das einen deutlichen ersten Schritt erfordert: And like him who having a Garden to weed, does not attempt to eradicate all the bad Herbs at once, which would exceed his Reach and his Strength, but works on one of the Beds at a time, and having accomplish’d the first proceeds to a second; so I should have, (I hoped) the encouraging Pleasure of seeing on my Pages the Progress I made in Virtue, by clearing successively my Lines of their Spots, till in the End by a Number of Courses, I should be happy in viewing a clean Book after a thirteen Weeks’ daily Examination. (70)
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Später stellt Franklin Überlegungen an, welche Sprache zuerst zu erlernen sei, und er begründet seine Ansicht, man solle zuerst Französisch, Italienisch oder Spanisch und dann Latein lernen, mit einem aufschlussreichen Bild, das für Franklins Verständnis des Anfangs generell Gültigkeit hat: „It is true, that if you can clamber and get to the Top of a Staircase without using the Steps, you will more easily gain them in descending: but certainly if you begin with the lowest you will with more Ease ascent to the Top“ (83). Der Anfang ist von zentraler Bedeutung, und er soll daher bewusst und umsichtig begangen werden, wenn das spätere Projekt Erfolg haben soll. Franklins Perspektive in seiner Autobiographie ist jedoch eine andere, da er darin nur insofern einen Anfang begeht, als er Vorbild sein will, ansonsten aber über Anfänge berichtet beziehungsweise sie überhaupt erst identifiziert und konstruiert. Eine der wichtigsten Passagen des Textes zeigt dies deutlich. Sucht man in Franklins Autobiographie den zentralen Moment des Anfangs, wird man zweifellos bei der berühmten Szene fündig werden, in der Franklin seinen persönlichen Anfang untrennbar mit einem Ort verknüpft: seine Ankunft in Philadelphia. Passend zum Genre der Autobiographie, die rückblickend erzählt, auswählt, kommentiert und Handlungen und Ereignissen Bedeutung verleiht, handelt es sich bei dieser Ankunftsszene um einen Anfang, der erst im Nachhinein als solcher markiert wird. Dies wird dadurch deutlich, dass Franklin den Leser ausdrücklich dazu auffordert, seinen Moment des „first Entry into that City“ (20) nicht als zeitlich klar abgeschlossenes Ereignis, sondern als Anfang zu verstehen, der in Bezug zu Franklins späterem Leben steht: „that you may in your Mind compare such unlikely Beginning with the Figure I have since made there“ (20). Erst in Abgrenzung zu diesem Anfang wird deutlich, wie groß der spätere Erfolg wirklich ist, und daher geht Franklin bei der Erzählung dieses Anfangs sehr sorgfältig und detailliert vor, um das angemessene Bild von seinem „low Beginning“ (101) zu vermitteln, vor dem seine späteren Leistungen umso bemerkenswerter erscheinen werden. Philadelphia spielt in diesem Vergleich eine zentrale Rolle und wird zur Szenerie des individuellen Aufstiegs: Franklins Situation bei seiner Ankunft soll mit der Stellung verglichen werden, die er seitdem dort erlangt hat. Es zeugt vom oft ignorierten satirischen Charakter von Franklins Autobiographie, dass er diese Situation wirkungsvoll darstellt, diese Darstellung aber gleichzeitig ironisiert, indem er zeigt, dass der Anschein wichtiger ist als tatsächliche Gegebenheit, und indem er durch seinen Text natürlich genau jenen Schein erneut erschafft. Franklins „unlikely Beginning“ in Philadelphia erweckt zunächst ein Bild der Armut:
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I was in my working Dress, my best Clothes being to come round by Sea. I was dirty from my Journey; my Pockets were stuff’d out with Shirts and Stockings; I knew no Soul, nor where to look for Lodging. I was fatigu’d with Travelling, Rowing, and Want of Rest. I was very hungry, and my whole Stock of Cash consisted of a Dutch Dollar and about a Shilling in Copper. (20)
Während Franklin dem Leser beschreibt, wie er auf die Einwohner von Philadelphia gewirkt haben muss, verrät er gleichzeitig, dass dieser Schein trügt: Auch wenn Franklin sicherlich arm war, so war er dennoch nicht so arm, wie er schien, da seine beste Kleidung noch unterwegs war. Sein Anfang in Philadelphia ist somit bereits von der Täuschung geprägt, die er später absichtlich zu seinem Vorteil fortführen wird, etwa wenn er Papier in einer Schubkarre durch die Straßen fährt, um den Bewohnern von Philadelphia seinen Fleiß zu demonstrieren – mit Erfolg: „Thus being esteem’d an industrious thriving young Man, and paying duly for what I bought, the Merchants who imported Stationery solicited my Custom, others propos’d supplying me with Books, and I went on swimmingly“ (54). Diese Betonung des Scheins beginnt Franklin noch während seiner Ankunft, wenn er mit seinem Geld die Überfahrt bezahlt, obwohl die Besatzung es nicht annehmen will, weil er beim Rudern geholfen hat. Seine Begründung lautet „[…] I insisted on their taking it, a Man being sometimes more generous when he has but a little Money than when he has plenty, perhaps thro’ Fear of being thought to have but little“ (20). Somit besteht Franklins Anfang in Philadelphia darin, die Figur des Benjamin Franklin zu erschaffen. Philadelphia ist deshalb für ihn ein Anfangsort, weil er dort ein zahlreiches Publikum vorfindet, vor dem er diese Figur aufführen kann. Noch scheitert diese Aufführung gelegentlich, jedoch wird diese Erzählung des Scheiterns durch auktoriale Kommentare vom Fehlschlag in einen Anfang umgedeutet, was sich im weiteren Verlauf der Ankunftsszene zeigt: Then I walk’d up the Street, gazing about, till near the Market House I met a Boy with Bread. I had made many a Meal on Bread, and inquiring where he got it, I went immediately to the Baker’s he directed me to in Second Street; and ask’d for Biscuit, intending such as we had in Boston, but they it seems were not made in Philadelphia, then I ask’d for a three-penny Loaf, and was told they had none such: so not considering or knowing the Difference of Money and the greater Cheapness nor the Names of his Bread, I bad him give me three pennyworth of any sort. He gave me accordingly three great Puffy Rolls. I was surpriz’d at the Quantity, but took it, and having no Room in my Pockets, walk’d off, with a Roll under each Arm, and eating the other. Thus I went up Market Street as far as Fourth Street, passing by the Door of Mr. Read, my future Wife’s Father, when she
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standing at the Door saw me, and thought I made as I certainly did a most awkward ridiculous Appearance. (20)
Franklin spricht hier durch seine retrospektive Erzählweise auf zwei Ebenen von der Stadt: Einerseits stellt er sich durch seine Unwissenheit über die Gebräuche in Philadelphia noch als Außenseiter dar, andererseits zeigt er durch die sichere Verwendung von Straßennamen seine Vertrautheit mit der Stadt, die er seitdem während seines sozialen Aufstiegs erlangt hat. Er stellt es so als Zufall dar, dass er den Anschein eines Jugendlichen erweckt hat, der sich mehr Essen leisten kann als er braucht, erwähnt dabei allerdings auch, dass er für sein städtisches Publikum zugleich ein komisches Bild abgegeben hat. Hier findet die Umwertung von scheiternder Performanz in einen erfolgreichen Anfang statt: Auch wenn das Mädchen, das ihn mit seinen Einkäufen unter den Armen sieht, ihn noch für lächerlich hielt, so ist dies dennoch kein Fehlschlag, da es sich bei ihr um seine zukünftige Ehefrau handelt. Diese retrospektive Umdeutung trägt dazu bei, Philadelphia als Anfangsort zu konstruieren. Franklin ist kaum gelandet, als er nicht nur schon mit der Schöpfung seines öffentlichen Images beginnt, sondern auch noch seine zukünftige Frau trifft. Durch diese Erzählstrategie, die einen kommentierenden Rückblick mit der Darstellung eines Stadtraumes kombiniert, versieht der Text sowohl den Ort als auch die Zeit mit besonderer Bedeutung und markiert diese ersten Stunden als Anfang und Philadelphia als Ort dieses Anfangs. Kurz darauf wird Franklin nochmals auf diesen Moment eingehen, eine erste Wendung zum Erfolg beschreiben und erneut darauf verweisen, dass der erste Anschein der Armut bei seiner Ankunft getrogen hat: „And my Chest and Clothes being come by this time, I made rather a more respectable Appearance in the Eyes of Miss Read, than I had done when she first happen’d to see me eating my Roll in the Street“ (22). Noch ist jedoch seine erste Erkundung Philadelphias nicht abgeschlossen; die Erzählung beschreibt ein letztes Mal Franklins Weg und erlaubt das präzise Nachvollziehen seiner ersten Schritte in der Stadt. Der urbane Raum wird nicht in seiner Gänze präsentiert, sondern anhand von Straßennamen, welche die Bewegung des Erzählers implizieren: Anstelle der Stadt in ihrer für das Individuum überwältigenden Größe wird dem Leser die Position des herumgehenden Individuums in diesem Stadtraum anhand identifizierbarer Orte vermittelt. Diese Beschreibung verwendet die scheinbare Objektivität der Kartographie anstelle der Subjektivität individueller Erfahrung. Franklins eigene Eindrücke und Handlungen werden anekdotisch zu diesem Stadtraum hinzugefügt. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, die Stadt sei für Franklin schon vorhanden, und er müsse sich in ihr zurechtfinden; das Individuum findet
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sich an einem Ort, an dem die Straßen schon benannt sind, und noch fehlt ihm die Sicherheit im Gebrauch dieser Namen, die erst der retrospektive Blick des autobiographischen Erzählers aufweisen wird. So zeigt sich, dass Philadelphia ein Anfangsort ist, der dem Individuum die Möglichkeit bietet, sein Potential zu erfüllen, aber kein Ort, der selbst vom Individuum abhängig wäre. Die Stadt ist für Franklin kein zu gründender Ort, sondern ein vorhandener Ort, an dem er seine Zukunft begründen kann. Das Anfangspotential, das die Stadt dem Individuum bietet, zeigt sich darin, dass Franklins erster Gang durch die Straßen ihn direkt zu seinem Ankunftsort zurück führt: „coming round found myself again at Market Street Wharf, near the Boat I came in“ (20). Er ist im Kreis gegangen, hat aber bereits eine Entwicklung durchgemacht; die Bewegung innerhalb der Stadt (und nicht etwa die Bewegung zur Stadt hin oder von ihr weg) hat schon dazu beigetragen, dass Franklin in den ersten Stunden seines Aufenthalts eine andere, scheinbar erfolgreichere Person geworden ist, die es sich offenbar leisten kann, ihr restliches Essen zu verschenken: „being filled with one of my Rolls, [I] gave the other two to a Woman and her Child that came down the River in the Boat with us and were waiting to go farther“ (20). Auch wenn sich an Franklins Situation eigentlich nichts geändert hat – sie hat sich finanziell sogar verschlechtert – so wird sie dennoch als verbessert präsentiert, indem sie retrospektiv als Anfang gelesen und mit dem späteren Erfolg in Verbindung gebracht wird. Diese positive Veränderung durch den gemachten Anfang lässt sich bemerkenswerterweise auch an der Beschreibung des Anfangsorts ablesen, der sich seinerseits verändert zeigt, als Franklin zum zweiten Mal vom Schiff aus aufbricht: „Thus refresh’d I walk’d again up the Street, which by this time had many clean dress’d People in it who were all walking the same Way“ (20). Die Stadt wird über ihre Bewohner, allesamt gut gekleidet und in dieselbe Richtung unterwegs, als angenehmer, gemeinschaftlicher Ort dargestellt; es spielt dabei keine Rolle, dass dieser positive Eindruck nur daher rührte, dass die Menschen zu einer Versammlung der Quäker unterwegs waren. Wo Franklin vorher noch ein Außenseiter war, der sich mit dem Leben in Philadelphia nicht auskannte, findet er nun nicht nur eine Gemeinschaft vor, sondern tritt ihr zudem noch spielend leicht bei: „I join’d them, and thereby was led into the great Meeting House of the Quakers near the Market“ (20). Auch wenn Franklin die Versammlung komplett verschläft, markiert seine Teilnahme seine vollzogene Ankunft in Philadelphia: „This was therefore the first House I was in or slept in, in Philadelphia“ (21). Dieser Schluss der Ankunftserzählung stellt somit das vorläufige Ende des Anfangs dar, jedoch ist Philadelphia damit effektiv als
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Anfangsort für Franklin präsentiert worden, und es besteht kein Zweifel, dass dort weitere Anfänge folgen werden. Franklins Aufstieg begründet sich aus dieser Vernetzung mit den Bewohnern der Stadt, die er nach seiner Ankunft begonnen hatte und die er stetig erweiterte: „I began now to have some Acquaintance among the young People of the Town […]“ (22). Gleichzeitig hat sein Aufstieg laut Franklin mit individualistischer Planung zu tun, durch die er sein Leben gestaltete. Dieser Entwurf wird wieder mit Philadelphia in Verbindung gebracht, als Franklin nach seiner Druckerlehre in England dorthin zurückkehrt. Er schreibt, vielleicht der wichtigste Teil seines Tagebuches aus dieser Zeit sei folgender: „the Plan to be found in it which I formed at Sea for regulating my future Conduct in Life. It is the more remarkable, as being form’d when I was so young, and yet being pretty faithfully adhered to quite thro’ old age“ (40). Franklin plant auf See einen weiteren Neuanfang in Philadelphia, und diesmal hat sich sein Verhältnis zur Stadt schon zu seinen Gunsten gewandelt. Zwar findet er in Philadelphia „sundry alterations“ (41) vor, hat jedoch keine Schwierigkeiten, sich damit zu arrangieren und seinen geplanten Anfang dort durchzuführen. Die Stadt bietet dem Individuum zwar den Ort für dessen Anfänge und ist eine hinreichende Bedingung, jedoch sind diese Anfänge nicht durch die Stadt allein determiniert, sondern Produkt des individuellen Bewusstseins, wie daran ersichtlich ist, dass Franklin auf diesen Anfang verweist, um zukünftige Entwicklungen zu erklären: „Before I enter upon my public Appearance in Business, it may be well to let you know the then State of my Mind, with regard to my Principles and Morals, that you may see how far those influenc’d the future Events of my Life“ (45). Die Stadt wird nicht (wie so oft) als der Ort präsentiert, an dem Moral und Tugend korrumpiert werden, sondern als Labor für Moral und Tugend, in dem das Individuum sich verbessern und überhaupt erst verwirklichen kann. 3 Die Stadt ist der Ort, der Anfänge belohnt: Franklins Fleiß, Antrieb und Erfindergeist finden hier ihren Nährboden. Zugleich muss das Individuum das Potential dieses Ortes auch anerkennen und zu nutzen wissen, damit das produktive Zusammenspiel zwischen Stadt und Individuum funktionieren kann. Um dies zu verdeutlichen, verweist Franklin auf ein Negativbeispiel einer Person, die zu ihrem eigenen Schaden nicht imstande oder willens ist, die Stadt als Anfangsort zu begreifen:
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Ein zeitgenössischer Stadttext, Charles Brockden Browns Arthur Merwyn, kombiniert diese Aspekte beispielsweise und konstruiert die Stadt als Anfangsort für Laster wie Tugend gleichermaßen: „if cities are the chosen seats of misery and vice, they are likewise the soil of all the laudable and strenuos productions of mind“ (221).
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There are Croakers in every Country always boding its Ruin. Such a one then lived in Philadelphia, a Person of Note, an elderly Man, with a wise Look and very grave Manner of Speaking. His Name was Samuel Mickle. This Gentleman, a Stranger to me, stopped one Day at my Door, and ask’d me if I was the young Man who had lately opened a new Printing-House: Being answer’d in the Affirmative; He said he was sorry for me; because it was an expensive Undertaking, and the Expense would be lost, for Philadelphia was a sinking Place, the People already half Bankrupts or near being so; all Appearances of the contrary such as new Buildings and the Rise of Rents, being to his certain Knowledge fallacious, for they were in fact among the Things that would soon ruin us. And he gave me such a Detail of Misfortunes now existing or that were soon to exist, that he left me half-melancholy. Had I known him before I engag’d in this Business, probably I never should have done it. This Man continu’d to live in this decaying Place, and to declaim in the same Strain, refusing for many Years to buy a House there, because all was going to Destruction, and at last I had the Pleasure of seeing him give five times as much for one as he might have bought it for when he first began his Croaking. (47)
Samuel Mickle wird als Typ eines Individuums präsentiert, das anders als Franklin nicht in der Lage ist, die Stadt als Anfangsort zu begreifen und sich dessen Potential zunutze zu machen (und so das eigene Potential auszuschöpfen). Stattdessen stellt er Philadelphia als „sinking place“ (47) dar und deutet Anfänge zu Endpunkten um. Neue Gebäude werden als Anzeichen des bevorstehenden Ruins interpretiert. Man kann Mickle als pessimistischen Spielverderber oder weitsichtigen Kapitalismuskritiker sehen; Franklin präsentiert ihn als ein Individuum, das sich durch seine radikale Fehleinschätzung der urbanen Situation in eine finanziell wie moralisch missliche Lage bringt. Dabei zeigt sich jedoch auch, dass sich Franklins Anfänge keineswegs nur ihm geboten haben, sondern sich theoretisch jedem Bürger der Stadt hätten bieten können. Hier macht sich Franklin den retrospektiven Blick der Autobiographie zunutze, der es dem Leser als vermessen erscheinen lässt, den Erfolg von Franklins Druckerei anzuzweifeln. Genau dieser Erfolg ist es, der es im Nachhinein erlaubt, seinen Anfang so deutlich zu markieren. Hier muss kein Scheitern zum Anfang gedeutet werden; stattdessen wird so klar der Anfang einer Erfolgsgeschichte herausgearbeitet, dass die Idee eines Scheiterns absurd erscheint. Im weiteren Verlauf dieser Erfolgsgeschichte verändert sich das Verhältnis von Individuum zur Stadt immer mehr. Nachdem Franklin seinen persönlichen Anfang in Philadelphia gemacht hat, unternimmt er zunehmend Anfänge, die die Stadt betreffen. Selbst als Franklin noch nicht mit großer Macht auf die Stadt einwirken kann, erlebt sie einen Aufschwung, der parallel zu Franklins Aufstieg
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präsentiert wird, indem erneut auf Franklins Situation bei seiner Ankunft Bezug genommen wird: […] I now saw all the old Houses inhabited, and many new ones building, where as I remember’d well, that when I first walk’d about the Streets of Philadelphia, eating my Roll, I saw most of the Houses in Walnut Street between Second and Front Streets with Bills on their Doors, to be let; and many likewise in Chestnut Street, and other Streets; which made me then think the Inhabitants of the City were one after another deserting it. (53)
So wie Franklin darauf achtet, bei seinen Mitbürgern den richtigen Anschein zu erwecken, so vermittelt er auch die Stadt über sichtbare Merkmale. Die Stadt wird hier zwar über die subjektiven Erzählperspektive eines Individuums dargestellt, jedoch vermittelt dieser Eindruck beim Leser eine objektivere Einsicht über den Zustand der Stadt, da er von Franklins wahrgenommenen Äußerlichkeiten auf die generelle ökonomische Situation Philadelphias schließen kann. Franklin gebraucht nach wie vor Straßennamen, um dem Leser die Stadt darzustellen, schließt nun aber auch die Häuser in diesen Straßen in die Repräsentation mit ein, ohne jedoch konkreter zu werden. Während dies ein Aufschwung ist, den Franklin nur erlebt, so werden viele der darauffolgenden Verbesserungen der Stadt von ihm verursacht werden: Der Anfangsort erlebt so durch das Individuum neue Anfänge, und Franklin revanchiert sich gewissermaßen bei der Stadt dafür, dass er dort so erfolgreich anfangen konnte. Er betont beispielsweise schon bei der Erwähnung seines ersten finanziellen Ertrags als Publizist, wie wichtig dieser Anfang für ihn war, und erklärt daraus seine Tendenz, die Anfänge anderer zu unterstützen, nachdem er dazu aufgrund seines Reichtums und Einflusses in der Lage war: All our Cash was now expended in the Variety of Particulars we had been obliged to procure, and this Countryman’s Five Shillings, being our First Fruits and coming so seasonably, gave me more Pleasure than any Crown I have since earn’d; and from the Gratitude I felt towards House, has made me often more ready than perhaps I should otherwise have been to asssist young Beginners. (47)
Die Wortwahl ist an dieser Stelle besonders bemerkenswert: Franklin unterstützt nicht die Projekte anderer Leute, sondern deren Anfänge, da er um ihre Bedeutung für den späteren Erfolg weiß. Daher stellt er auch weiterhin deutlich heraus, welche Anfänge er selbst unternimmt, und nennt besonders sein erstes Projekt für das öffentliche Leben in der Stadt:
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And now I set on foot my first Project of a public Nature, that for a Subscription Library. […] This was the Mother of all the North American Subscription Libraries now so numerous. It is become a great thing itself, and continually increasing. These Libraries have improv’d the general Conversation of the Americans, made the common Tradesmen and Farmers as intelligent as most Gentlemen from other Countries, and perhaps have contributed in some degree to the Stand so generally made throughout the Colonies in Defense of their Privileges. (57)
Franklin hebt diesen Anfang schnell von städtischer auf nationale Ebene: Indem er in Philadelphia die erste Bibliothek gründet, die von Mitgliedsbeiträgen getragen wird, trägt er nicht nur zur Bildung der Einwohner dieser Stadt bei, sondern letztlich zur Bildung aller Amerikaner, da sich dieses System weit verbreitet hat. Franklins Projekt, sich selbst als Individuum zum Besseren zu entwickeln, geht hier nahtlos über in ein Projekt zur Entwicklung seiner Mitbürger, das von Philadelphia aus seinen Anfang nimmt und so von diesem Ort aus dazu beiträgt, einen viel größeren Ort zu definieren: Amerika. Bei allem nationalen Erfolg dieses Projekts weist Franklin im zweiten Teil seiner Autobiographie jedoch erneut darauf hin, wie es begonnen wurde: So few were the Readers at that time in Philadelphia, and the Majority of us so poor, that I was not able with great Industry to find more than Fifty Persons, mostly young Tradesmen, willing to pay down for this purpose Forty shillings each, and Ten Shillings per Annum. On this little fund we began. (63)
Wieder stellt Franklin einem großen Erfolg einen kleinen Anfang voran. Seine Aussage über die Bibliothek Philadelphias, deren Gründung er sich ausdrücklich selbst zuschreibt, trifft auch auf seine eigene Lebensgeschichte zu: „[…] which from a small Beginning is now become so considerable […]“ (62-63). Indem Franklin seine Anstrengungen dem öffentlichen Leben zuwendet, verändert er die Stadt, in der er zunächst an sich selbst gearbeitet hat; dies drückt sich nicht nur in intellektuellen Veränderungen wie durch die Bibliotheksgründung aus, sondern auch in materiellen Dimensionen, etwa durch den Bau der entsprechenden Gebäude. Franklin führt einige Beispiele dafür an, wie seine Unterstützung der Projekte anderer zu Veränderungen im Stadtbild führten: It was about this time that another Projector, the Revd. Gilbert Tennent, came to me, with a Request that I would assist him in procuring a Subscription for erecting a new Meetinghouse. […] he obtain’d a much larger Sum than he expected, with which he erected the capacious and very elegant Meetinghouse that stands in Arch Street. (104)
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Er setzt sich selbst sogar ins Zentrum aller öffentlichen Projekte in der Stadt, wenn er berichtet, Thomas Bond habe ihm bei einer Unterstützungsanfrage das folgende Kompliment gemacht: he found there was no such thing as carrying a public-spirited Project through, without my being concern’d in it; „for, says he, I am often ask’d by those to whom I propose Subscribing, Have you consulted Franklin upon this Business? and what does he think of it? And then I tell them that I have not, (supposing it rather out of your Line,) they do not subscribe, but say they will consider of it.“ (102)
Auch wenn Franklin die Rolle, die ihm in dieser Anekdote zugeschrieben wird, dadurch vordergründig etwas abschwächt, dass er die Aussage über seinen Status zitiert und ihn sich nicht selbst zuschreibt, so ändert dies nichts an ihrem Kern: Franklin wird hier selbst zum personifizierten Anfangsort im Anfangsort Philadelphia, da in Bezug auf Erneuerungen kein Weg an ihm vorbeiführt. Er präsentiert die von ihm herbeigeführten Veränderungen an der Stadt immer als Verbesserungen der Lebensqualität und verknüpft so die Materialität der Stadt mit ihren Bewohnern. Während er anfangs Straßennamen gebrauchte, um die Stadt zu vermitteln, so wendet er sich in seiner Erzählung mehr und mehr den Bewohnern der Stadt zu, die er entweder beim Namen nennt oder als homogene Gruppe von Bürgern versteht, deren Leben in der Stadt es zu verbessern gilt. Auch wenn er diese Bürger nur sehr selten individualisiert, so zieht er sie dennoch in ihrer Masse zur Definition der Stadt heran, indem er diese als Summe ihrer Teile darstellt. Dieses Verständnis der Stadt zeigt sich beispielsweise daran, wie Franklin seine Bemühungen um die Verbesserung der Straßen in London verteidigt: Some may think these trifling Matters not worth minding or relating. But when they consider, that tho’ Dust blown into the Eyes of a single Person or into a single Shop on a windy Day, is but of small Importance, yet the great Number of the Instances in a populous City, and its frequent Repetitions give it Weight and Consequence; perhaps they will not censure very severely those who bestow some of Attention to Affairs of this seemingly low Nature. (108)
Ähnliche Bemühungen in seinem eigenen Anfangsort Philadelphia präsentiert Franklin als eine Erzählung kleiner Anfänge: „I began now to turn my Thoughts a little to public Affairs, beginning however with small Matters. The City Watch was one of the first Things that I conceiv’d to want Regulation“ (85). Der große
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Erfolg, der sich durch seine Bemühungen einstellt, verändert das Leben in Philadelphia grundlegend und wird zum Alleinstellungsmerkmal dieses Ortes: […] I question whether there is a City in the World better provided with the Means of putting a Stop to beginning Conflagrations; and in fact since these Institutions, the City has never lost by Fire more than one or two Houses at a time, and the Flames have often been extinguish’d before the House in which they began has been half-consumed. (87)
Indem er die Feuerwehr reformiert, macht Franklin die Stadt zu einem sicheren Ort; er wirkt nicht nur auf die Stadt ein, indem er sie erweitert, sondern auch, indem er sie bewahrt. Das Individuum, das die ihm fremde Stadt bei seiner Ankunft vorfand und darin erst anfangen musste, wird hier durch sein Streben zu der Instanz, die diese Stadt erhält und vor Schaden bewahrt. Die Hierarchie hat sich umgekehrt. Am besten zeigt sich dieser Einfluss des Individuums auf den Stadtraum in Franklins Projekt zur Befestigung der Straßen. Franklin erkennt zwar an, dass die Stadt, wie er sie vorfindet, gut geplant ist, möchte aber über diesen Zustand hinausgehen und sie selbst gestalten: „Our City, tho’ laid out with a beautiful Regularity, the Streets large, straight, and crossing each other at right Angles, had the Disgrace of suffering those Streets to remain long unpav’d […]“ (104). Dieses Projekt verfolgt nicht nur das Ziel, die Lebensqualität der Bewohner zu erhöhen, sondern hat auch ein ökonomisches Anliegen, denn bemerkenswerterweise geht es Franklin vor allem darum, den Zugang zum Markt zu verbessern: I had liv’d near what was call’d the Jersey Market, and saw with Pain the Inhabitants wading in Mud while purchasing their Provisions. A Strip of Ground down the middle of that Market was at length pav’d with Brick, so that being once in the Market, they had firm Footing, but were often over Shoes in Dirt to get there. (104)
Die Stadt wird bei Franklin von Anfang an in kapitalistischen Begriffen verstanden: Fast die erste Handlung nach seiner Ankunft war eine Kaufhandlung; er äußerte große Befriedigung darüber, dass Samuel Mickle seinen Pessimismus hinsichtlich der Stadtentwicklung buchstäblich teuer bezahlen musste; und hier verfolgt er ein Sanierungsprojekt mit der ausdrücklichen Priorität, den Bürgern Zugang zum Markt zu gewähren. Franklin erreicht dieses ökonomische Ziel jedoch nicht durch den Einsatz von eigenem Geld, sondern durch den Einsatz von diskursiver, aber auch individueller Macht: „By talking and writing on the Subject, I was at length instrumental in getting
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the Street pav’d with Stone between the Market and the brick’d Foot-Pavement that was on each side next the Houses“ (104). An der ökonomischen Zielsetzung ändert dies jedoch nichts. Letztlich begründet Franklin seine Stadtsanierung nur vorübergehend mit der verbesserten Lebensqualität und führt stattdessen steuerliche Argumente an: „All the Inhabitants of the City were delighted with the Cleanliness of the Pavement that surrounded the Market; it being a Convenience to all; and this rais’d a general Desire to have all the Streets paved; and made the People more willing to submit to a Tax for that purpose“ (105). Später wird er sich noch um Straßenkehrer und Straßenbeleuchtung kümmern; man darf seine Beschreibung doppeldeutig verstehen, wenn er dabei von „enlightening all the city“ (105) schreibt, denn diese Beleuchtung, die er (neben anderen) Philadelphia hat zukommen lassen, ist auch Erleuchtung im Sinne von Aufklärung. Franklin schätzt die klar angeordneten Straßen der Stadt, die so rational organisiert sind wie die Linien seiner Tabelle zur Buchführung über seine Tugendhaftigkeit, aber erst er fügt der Stadt weitere zentrale Aspekte der Aufklärung hinzu und macht sie damit modern: Bildung, Kapitalismus, Bürgerlichkeit, Individualismus, soziale Ordnung, und einige mehr. Philadelphia wird so durch Franklin Anfangsort einer amerikanischen Aufklärung. So wie Franklin als Figur des amerikanischen öffentlichen Lebens in Philadelphia seinen Anfang nahm, so hat er Philadelphia – und gleichzeitig auch Amerika – durch seine neuen Anfänge geformt. Indem er diese verschränkte Formung von Individuum, Stadt und Nationalstaat in seiner Autobiographie so konsequent als Anfang präsentiert, trug Franklin vielleicht wie kein zweiter Autor dazu bei, dass das urbane Amerika in der kulturellen Imagination als Anfangsort verstanden wurde.
2.2
WALT WHITMAN UND WASHINGTON, D.C.
Etwa ein Jahrhundert später hatte Amerika einen neuen Anfangsort bitter nötig. Der Bürgerkrieg (1861-65) hatte die USA fast an ihr Ende gebracht, und selbst der Sieg der Nordstaaten und die abgewendete Sezession des Südens erforderten einen radikalen Neuanfang, um die nationale Kohäsion auf Dauer zu gewährleisten. Walt Whitman (1819-92) hatte schon mit der Erstauflage seines Gedichtbands Leaves of Grass im Jahr 1855 versucht, eine wirklich amerikanische Literatur zu schaffen, die den Geist des Neuen ebenso vermitteln sollte wie das produktive Spannungsverhältnis zwischen Individualismus und Demokratie. Erst gegen Ende des Bürgerkriegs begann er jedoch damit, diese Anfänge an einen bestimmten Ort zu knüpfen: Washington, D.C. Das folgende
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Unterkapitel soll zeigen, auf welche Weise und mit welchen Zielen Whitman diese imaginative Konstruktion vornahm, wie er dabei den Stadtraum Washingtons darstellt und politisch deutet, und wie er die Hauptstadt der USA zum Zentrum des ständigen Neuanfangs macht, den er als Grundlage Amerikas betrachtet. Dabei wird weniger Whitmans dichterisches Schaffen im Vordergrund stehen als vielmehr seine journalistischen Texte und seine Briefe.4 Diese Auswahl an Texten, die oftmals zugunsten der Lyrik vernachlässigt werden, passt sehr gut zur in Bezug auf Whitman eher marginalen Stellung der Stadt, von der sie handeln. Eigentlich gilt Whitman nämlich als der Dichter New York Citys: Seine Texte sind zutiefst mit seinem Geburtsort Long Island, Brooklyn und Manhattan verbunden. „Crossing Brooklyn Ferry“ ist das wohl berühmteste amerikanische Stadtgedicht, und Whitman arbeitete über Jahre hinweg daran, die Stadt als ideales „Mannahatta“ imaginativ neu zu erschaffen (während er gleichzeitig in seiner journalistischen Arbeit sehr hart mit der Stadt und ihren Einwohnern ins Gericht ging). So sehr Whitman daran auch gelegen war, in seiner Lyrik dieses Mannahatta als zentralen städtischen Anfangsort für Amerika zu konstruieren, ist es aber doch Washington, D.C., dem er diese Rolle in größtem Maße zukommen lässt. Diese Konstruktion beschränkt sich zwar auf einen kürzeren Zeitraum von etwa zehn Jahren mit Unterbrechungen, ist allerdings umso intensiver und dringlicher als Whitmans jahrzehntelange poetische Kultivierung New York Citys. Der Grund dafür ist die soziopolitische Krise des Bürgerkriegs, die Whitman in Washington, D.C. erlebte, und die er in seinen Texten dadurch mitbewältigen wollte, dass er eben jene Stadt zum Ort des Neuanfangs nach dem Bürgerkrieg stilisierte, als dieser noch gar nicht zu Ende war. Whitman verschlug es nach Washington, D.C., da er im New York Herald den Namen seines zehn Jahre jüngeren Bruder George Washington Whitman auf der Liste der Verwundeten gelesen hatte und sich sofort auf den Weg machte, ihn zu suchen. George Whitman kämpfte im Bürgerkrieg als Freiwilliger auf der Seite des Nordens und wurde bei der Schlacht von Fredericksburg im Dezember 1862 verwundet – allerdings nur leicht, wie Whitman herausfand, nachdem er von Washington nach Falmouth weitergereist war. Dennoch blieb Whitman einige Wochen bei ihm, und nachdem er beim Transport von Verwundeten nach Washington geholfen hatte, blieb er bis 1873 in der Stadt (vgl. Murray). Dort stand er in den Kriegslazaretten den Verwundeten bei und arbeitete im Büro des Zahlmeisters, führte aber auch nebenbei seine journalistische Arbeit fort. In
4
Für eine ausführliche Analyse Whitmans zukunftsbegründender Lyrik verweise ich auf meine Monographie Future-Founding Poetry: Topographies of Beginnings from Whitman to the Twenty-First Century.
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diesen Texten, wie auch in seinen Briefen, berichtete er von seinen Erlebnissen in Washington, und hier begann er bereits das Projekt, die Stadt für seine Leser – privat wie öffentlich – zum Anfangsort für Amerika zu machen. Sein eigener Anfang in der Gegend hätte kaum schrecklicher sein können. Ende Dezember 1862 schreibt er seiner Mutter vom ersten Anblick, der sich ihm beim Lazarett von Falmouth bot: „One of the first things that met my eyes in camp, was a heap of feet, arms, legs, &c. under a tree in front of a hospital, the Lacy house“ (I.59). Whitman wird diesen ersten Eindruck in seinen Texten variieren und ihn als Grundsituation des ganzen Landes im Bürgerkrieg präsentieren: Amerika hat unvorstellbaren Schaden genommen, die Verletzungen sind grauenerregend. All die Verwundeten in den Lazaretten stehen symbolisch für die USA allgemein; in einem Brief an Ralph Waldo Emerson (der Washington als „that least attractive (to me) of cities“ (C I.66) bezeichnete) schreibt Whitman im Januar 1863 von „America, already brought to Hospital in her fair youth – brought and deposited here in this great, whited sepulchre of Washington itself“ (C I.69). Whitman bezeichnet Washington in diesem Brief noch als Grabstätte, wird jedoch immer mehr dazu übergehen, anstelle auf den Tod auf den Aspekt der Heilung in den Lazaretten einzugehen und sie – wie Washington überhaupt – als Orte des Anfangs zu deuten. Ende des Jahres wird er in seinem Notizbuch schreiben: „Probably no greater year has ever sped to its close, in the world’s history, than the one now about terminating. At all events the year 1863 is by far the most important in the hitherto history of America“ (NUPM II.660). Zunächst erkennt Whitman jedoch für die Verwundeten selbst keinerlei Anfangspotential, sondern charakterisiert ihre Situation des dauernden Wartens als enttäuschenden Stillstand: „Here they wait in Washington, perhaps week after [week], wretched and heart sick – this is the greatest place of delays and puttings off, and no finding the clue to any thing […]“ (Brief an Martha Whitman, C I.63). Während Washington für sie ein Ort der andauernden Frustration ist, hält er für Whitman einen Neuanfang bereit, wie er Emerson gegenüber schon im Dezember 1862 äußert: Die Reise nach Washington breche „my New York stagnation“ (C I.61). In der Tat werden Whitmans persönliches Leben wie auch sein künstlerisches Schaffen durch seinen Aufenthalt in Washington nachhaltig verändert. Seinem dichterischen Hauptwerk Leaves of Grass, das er bis zu seinem Tod immer wieder erweitern und verändern wird, fügt er die wichtige Sektion Drum-Taps hinzu, die sich mit dem Bürgerkrieg befasst. Whitmans Lyrikproduktion im allgemeinen richtet sich noch deutlicher darauf aus, eine amerikanische Nationalidentität zu schaffen, als dies in den ersten beiden Ausgaben von Leaves of Grass vor dem Bürgerkrieg der Fall war. Zudem konzipiert Whitman in Washington sein autobiographisches Prosawerk
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Specimen Days, in dem er seine Bürgerkriegserfahrungen verarbeitet. Diese Neuanfänge markieren in der Tat einen Bruch mit der Situation, in der Whitman sich in New York befunden hatte. Nicht wenige Kritiker betrachten die Zeit vor dem Bürgerkrieg als Whitmans große Krise, in der Erfolg wie Kreativität an einem Tiefpunkt angelangt waren: These were shaky years. […] Whitman did not know who he was any more. If not America’s ‚giant,‘ then who? Maybe the lone boy without friends; the job-hopping and house-hopping young man; the failure who, like his father, had a stubborn, angry streak that brought his professional activities to nought. (Zweig 306)
In Whitmans Notizbüchern findet sich der Eintrag „Quicksand years than whirl me I know not whither 1861-2“ (NUPM II.517), der nicht nur den Entwurf eines späteren Gedichts darstellt, sondern auch knapp zusammenfasst, in welcher Situation er sich selbst sah. Diese Unsicherheit setzte sich durch die politische Situation durchaus auch 1863 noch fort. So schrieb Whitman Mitte Juli 1863 etwa seiner Mutter anlässlich seiner Meinungsänderung zur Einberufungsregelung der Regierung: „[…] I have changed my opinions & feelings on the subject – we are in the midst of strange & terrible times – one is pulled a dozen different ways in his mind, & hardly knows what to think or do – […]“ (C I.117). Dies waren jedoch eher die letzten Ausläufer von Whitmans New Yorker Krise, und Washington, D.C. bot ihm insgesamt einen Ausweg, der sich später in Leaves of Grass niederschlug, sich aber schon während der ersten Monate seines Aufenthaltes in seinen Briefen andeutete. Whitmans persönlicher Neuanfang läuft parallel zum Neuanfang Amerikas, und beide werden in Washington, D.C. verortet. Im selben Brief an Emerson, in dem Whitman die Stadt als Grabstätte bezeichnet, beginnt er bereits mit ihrer Konstruktion als Anfangsort. Auf persönlicher Ebene geschieht dies, indem Whitman die kreative Verarbeitung seiner Erfahrungen in Washington in einem neuen Prosawerk ankündigt, das später Specimen Days heißen wird: „I desire and intent to write a little book out of this phase of America, her masculine young manhood, its conduct under most trying of and highest of all exigency […]“ (C I.69). Während Amerika selbst noch im Anfangsstadium ist – „young manhood“ impliziert den produktiven Entwicklungszustand der Jugend – so fehlt es seiner Hauptstadt an Identität: Whitman bezeichnet Washington als „this union Capital without the first bit of cohesion“ (C I.69). Drum-Taps wird 1867 ein Gedicht enthalten, das erklärt, wie dieser soziale Zusammenhang hergestellt werden kann. „Over the Carnage Rose Prophetic a Voice“ endet mit der Frage:
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(Were you looking to be held together by the lawyers? Or by an agreement on a paper? or by arms? – Nay – nor the world, nor any living thing, will so cohere.) (LoGV II.374)
Die Antwort gibt das Gedicht selbst; anstelle von legalen, bürokratischen, staatlichen oder gar kriegerischen Mitteln, die keine dauerhafte Gruppenidentität herbeiführen können, ist es „the love of lovers“, die im urbanen Kontext präsentiert wird: It shall be customary in the houses and streets to see manly affection; The most dauntless and rude shall touch face to face lightly; The dependence of Liberty shall be lovers, The continuance of Equality shall be comrades. (LoGV II.374)
Whitmans Lyrik schreibt sich selbst bei dieser nationalen wie urbanen Identitätsbildung eine große Rolle zu. So wie die Gedichte die imaginäre Stadt Mannahatta erschaffen und somit das reale New York neu erfinden, verleihen sie ganz Amerika jene Kohäsion, die Whitman in Washington noch vermisst. Seine Lyrik begreift sich als Anfangsort dieser kameradschaftlichen Liebe und als identitätsstiftendes Zentrum von ganz Amerika; in Democratic Vistas (1867) bezeichnet Whitman die moralische und künstlerische Identität als „the only reliable identity“ für die Vereinigten Staaten (PP 959). Da der Dichter durch sein Werk in der Lage ist, diese Identität zu erschaffen, ist seine Bedeutung für den Nationalstaat unermesslich. Schon in der zweiten Ausgabe von Leaves of Grass (1856) legte Whitman im Gedicht mit dem aussagekräftigen Titel „Poem of Many in One“ (später „By Blue Ontario’s Shore“) dar, was er nach dem Bürgerkrieg bekräftigen wird: By great bards only can series of peoples and States be fused into the compact organism of one nation. To hold men together by paper and seal, or by compulsion, is no account, That only holds men together which is living principles, as the hold of the limbs of the body, or the fibres of plants. Of all races and eras these States with veins full of poetical stuff most need poets, and are to have the greatest, and use them the greatest, Their Presidents shall not be their common referee so much as their poets shall. (LoGV I.198)
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In Washington, D.C. findet Whitman bei seiner Ankunft jedoch keine solche authentische Identität vor und bezeichnet die Stadt sogar als „collect of proofs how low and swift a good stock can deteriorate“ (C I.69). Er argumentiert im Brief an Emerson, das Problem dieser Identitätslosigkeit und Degeneration in der Hauptstadt sei eine Korruption des Anfangs, denn Parteipolitiker hätten dort die gesunde Grundlage des Volkes ruiniert: […] Capital to which these deputies most strange arrive from every quarter, concentrating here, well-drest, rotten, meagre, nimble and impotent, full of gab, full always of their thrice-accursed party – arrive and skip into the seats of mightiest legislation, and take the seats of judges and high executive seats – while by quaint Providence come also sailed and wagoned hither this other freight of helpless worn and wounded youth, genuine of the soil, of darlings and true heirs to me the first unquestioned and convincing western crop, prophetic of the future, proofs undeniable to all men’s ken of perfect beauty, tenderness and pluck that never race yet rivalled. (C I.69)
Die verwundeten Soldaten werden als unschuldige junge Männer glorifiziert, die aus Amerika selbst geboren wurden, „genuine of the soil“, und die ihrerseits zum Anfangsort werden, da sie auf eine große Zukunft verweisen. Whitman verklärt die Soldaten gegenüber Emerson als Symbole eines reinen, echten Amerikas: […] I find the best expression of American character I have ever seen or conceived – practically here in these ranks of sich and dying young men – nearly all I have seen, (fivesixths I think of those I have seen,) farmers’ sons from the West, northwest – and from Pennsylvania, New York, and from largely among the rest your Massachusetts, &c– […] (C I.69)
Die Politik hat zwar das Potential dieser Männer durch den Krieg korrumpiert, allerdings ist es nach wie vor sichtbar, und vielleicht sogar umso größer in diesem Zustand der Krise. Whitman wird in seinen Texten das Projekt unternehmen, Washington, D.C. aus dieser Krise heraus zum Anfangsort zu entwickeln, indem er diese Korruption und Degeneration rückgängig macht. Dabei macht er sich eine radikale Zukunftsperspektive zunutze, die in jeder Ausgabe von Leaves of Grass in Variationen enthalten ist; so auch in „Poem of Many in One“: Others take finish, but the republic is ever constructive, and ever keeps vista; Others adorn the past – but you, O, days of the present, I adorn you! O days of the future, I believe in you!
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O America, because you build for mankind, I build for you! O well-beloved stone-cutters! I lead them who plan with decision and science, I lead the present with friendly hand toward the future. (LoGV I.197)
Die letzte Zeile umschreibt Whitmans Vorhaben zur Konstruktion von Washington, D.C. als Anfangsort recht präzise. Um Amerika eine dauerhafte moralische und künstlerische Identität zu verleihen, präsentiert er es als ständigen Ort des Neuanfangs, als ewiges Projekt ohne Abschluss, dessen Konstruktivität immer ein Zukunftsversprechen ist, das nie endgültig eingelöst wird. Als Hauptstadt dieses Ortes des stetigen Anfangs soll Washington natürlich dieselben Eigenschaften aufweisen; eine Hauptstadt als Anfangsort wird so für Whitman zum symbolischen Stellvertreter für die gesamte Nation. Er fasst diesen positiv unfertigen Zustand der Stadt am besten in einem Brief an Nathaniel Bloom und John F.S. Gray vom 19. März 1863 zusammen: Washington and its points I find bear a second and a third perusal, and doubtless indeed many. My first impressions, architectural, &c. were not favorable; but upon the whole, the city, the spaces, buildings, &c make no unfit emblem of our country, so far, so broadly planned, every thing in plenty, money & materials staggering with plenty, but the fruit of the plans, the knit, the combination yet wanting – Determined to express ourselves greatly in a capital but no fit capital yet here – (time, associations, wanting, I suppose) – many a hiatus yet – many a thing to be taken down and done over again yet – perhaps an entire change of base – may-be a succession of changes. (C I.82)
Whitman beklagt den Mangel an Kohäsion und Identität, und er erkennt Washington nur sehr zögerlich und einschränkend als angemessene Hauptstadt an. Auch wenn er viele weitere Veränderungen ankündigt und als notwendig bezeichnet, so sind es doch Veränderungen in Washington, und der Ort dieser Anfänge wird kaum in Frage gestellt. Im Brief an Emerson erkennt Whitman bei aller Kritik an den Zuständen in der Stadt dieses Anfangs- und Wandlungspotential der Stadt an, das er literarisch herausarbeiten will: But more, a new world here I find as I would show – a world full of its separate action, play, suggestiveness – surely a medium world, advanced between our well-known practised one of body and of mind, and one there may-be somewhere on beyond, we dream of, of the soul. (C I.69)
Die Konstruktion dieser neuen Welt, die Schöpfung der Hauptstadt als Anfangsort, unternimmt Whitman über eine sehr subjektive Perspektive. Ähnlich wie
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Franklin beschreibt er Washington, D.C. über seine persönlichen Eindrücke; die Stadt wird über das Individuum vermittelt und reicht oftmals für den Leser nicht weiter, als der Erzähler sehen kann. Dies wird im bereits zitierten Brief an Nathaniel Bloom und John F.S. Gray vom 19. März 1863 deutlich: I take a pause, look up a couple of minutes from my pen and paper – see spread, off there, the Potomac, very fine, nothing petty about it – the Washington monument, not halffinished – the public grounds around it filled with ten thousand beeves, on the hoof – to the left the Smithsonian with its brown turrets – to the right, far across, Arlington Heights, the forts, eight or ten of them – then the long bridge, and down a ways, but quite plain, the shipping of Alexandria – opposite me, and in stone throw, is the Treasury building – and below the bustle and life of Pennsylvania avenue. I shall hasten with my letter, and then go forth and take a stroll down „the avenue“ as they call it here. (C I.84-85)
Neben dieser Perspektive des Autors am Schreibtisch, die ihn und seinen Arbeitsplatz eindeutig in der Stadt verortet, wählt Whitman in seinen Stadtbeschreibungen oftmals den individuellen Blickwinkel des Spaziergängers. In einem Brief an seine Mutter im Juli 1863 kündigt Whitman einen solchen Spaziergang sogar an, um danach die ausgewählten Aspekte der Stadt zu beschreiben, die er dabei üblicherweise sieht. Dabei erwähnt er weder Straßennamen noch Bewohner, wie es Franklin tat. Stattdessen zeichnet er mit breitem Strich das Bild einer weiten Landschaft, deren Urbanität nur durch die Erwähnung von Gebäuden angedeutet wird: After I finish this letter I am going out there for an hour’s recreation – The great sights of Washington are the public buildings, the wide streets, the public grounds, the trees, the Smithsonian Institute & grounds – I go to the latter occasionally – the Institute is an old fogy concern, but the grounds are fine – (C I.115)
Diese Beschreibungen von offenen Räumen kehren regelmäßig in Whitmans Texten über Washington wieder. Diese Räume erschließen sich dem Individuum entweder durch das Betrachten oder Begehen; zudem betrachtet Whitman als Spaziergänger insbesondere Architektur, nicht selten um dem Leser sogleich auch Interpretationen ihres symbolischen Gehaltes anzubieten. Die Stadt wird so im Text ein erfahrbarer Ort, den das Individuum körperlich wahrnimmt, dessen materielle Bestandteile aber gleichzeitig in dieser Erfahrung eine imaginäre Komponente von Bedeutsamkeit erhalten. Dieses narrative Vorgehen zeigt sich besonders in einigen journalistischen Texten Whitmans aus dem Herbst 1863, in denen Washington, D.C. dadurch
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stark als Anfangsort vermittelt wird. In der Brooklyn Daily Union vom 22. September 1863 präsentiert Whitman zunächst dem Leser als seinem imaginären Begleiter einen Blick auf die Stadt: „Rich green, and plenty of it, with the full verdure of our many trees, through all the streets and in the well-kept public grounds, and through this green the milky white of the national architecture“ (UPP II.26). Whitman verwischt hier gezielt die Grenze zwischen kultivierter Natur und Architektur, um dem Leser eine homogene, lebendige Stadt zu präsentieren, in der die Regierungsgebäude nicht fehl am Platze sind, sondern genau am richtigen Ort. Indem er den Begriff „national architecture“ (UPP II.26) gebraucht, geht seine Darstellung weit über die Beschreibung von Verwaltungsgebäuden hinaus; die Architektur nimmt symbolischen Gehalt an und trägt zur Imagination nationaler Identität bei. Whitman hat die Funktion repräsentativer Architektur verstanden und trägt sie bereitwillig weiter, indem er für seine Leser seinerseits die Gebäude liest. Durch diese Bedeutungszuschreibung kann Washington von der Stadt zur Hauptstadt werden, und so wird es bei Whitman auch zum Anfangsort. Aus diesem Grund erwähnt er beispielsweise die enorme Bautätigkeit in der Stadt: „Quite a good deal of house-building is in progress in one part of Washington and another. (And well they may build houses, considering the rents here now, the price of board, &c.)“ (UPP II.27). So wie Franklin das Bauen als Zeichen des Wachstums in Philadelphia richtig erkannt hat (und nicht als Zeichen der Degeneration wie Samuel Mickle), so präsentiert Whitman diese Erweiterung als positives Zeichen und stellt Washington als Stadt dar, in der ständig etwas angefangen wird, und nicht als Stadt, die ihrem Ende nahe ist. Dies steht in krassem Gegensatz zur Realität des Bürgerkrieges, dessen Zerstörungen Washington, D.C. nicht nur in Form von Verwundeten erreichten, sondern auch über tatsächliche Kampfhandlungen in der Umgebung. Whitman betont seinen Lesern gegenüber jedoch den konstruktiven Charakter der Stadt selbst dann, wenn er von den destruktiven Effekten des Krieges berichtet. Wenn er die Versorgung der „crowds of sick and dying young soldiers“ beschreibt, fügt er hinzu: „(for they are almost always young and far more American than is thought)“ (UPP II.27). Die Tragödie der verwundeten und sterbenden Soldaten wird so zur Tragödie des jungen Amerikas, doch Whitman wertet sie schnell zum tragischen Anfang um, indem er schreibt: […] O! how much deeper than words […] lies the mysterious, the convulsive want I see every day or night in the expressions, the silent yet eloquent faces, even the attitudes of the maimed forms of these thousands of brave and loving youngsters who lie on hospital cots, or hobble on crutches here around Washington! (UPP II.27-28)
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Whitman nimmt hier die Rolle ein, die er in einem Gedicht von 1865 beschreiben wird, und dessen endgültiger Titel von 1876 zusammenfasst, was er hier literarisch versucht: Er ist „The Wound-Dresser“ (LoGV II.479-82). Das Verbinden der Wunden der Soldaten, im Rückblick erzählt, wird zugleich zum imaginativen Akt der Heilung für die ganze Nation, der durch das Gedicht vollzogen werden soll. In seinem Artikel verortet Whitman diesen Heilungsprozess deutlich im symbolischen Raum der Hauptstadt: Washington mag die Stadt der Verwundeten sein, in der sich keine Menschenmassen bewegen wie in New York, sondern an Krücken humpelnde Veteranen, aber sie ist dennoch ein Ort des Anfangs, da diese Verletzten jenes mysteriöse Begehren in sich tragen, dessen genaue Eigenschaften Whitman offen lässt, während er impliziert, es sei die Grundlage einer neuen Zukunft Amerikas. In einem anderen Artikel in der New York Times vom 4. Oktober 1863 geht Whitman noch detaillierter auf die Architektur und Stadtgestaltung Washingtons ein. Im Text vom 22. September hatte noch seinem New Yorker Publikum geschmeichelt, indem er Washington gegenüber ihrer Stadt herabsetzte: „Pennsylvania avenue looks unusually fine to-day. Of course it has not the character of Broadway, nor even your Fulton street, but it has a style of its own“ (UPP II.27). Die spätere Veröffentlichung erlaubt sich schon weniger eingeschränktes Lob: „It is doubtful whether justice has been done to Washington, D.C.; or rather, I should say, it is certain there are layers of originality, attraction, and even local grandeur and beauty here, quite unwritten, and even to the inhabitants unsuspected and unknown“ (UPP II.29). Whitman arbeitet in seiner Konstruktion des Anfangsortes besonders diese Schichten der Originalität heraus, während er die individuelle Perspektive des um sich blickenden Spaziergängers einnimmt: I continually enjoy these streets, planned on such generous scale, stretching far, without stop or turn, giving the eyes vistas. I feel freer, larger in them. Not the squeezed limits of Boston, New-York, or even Philadelphia; but royal plenty and nature’s own bounty – American, prairie-like. It is worth writing a book about, this point alone. I often find it silently, curiously making up to me the absence of the ocean of tumult of humanity I always enjoyed in New York. Here, too, is largeness, in another more impalpable form; and I never walk Washington, day or night, without feeling its satisfaction. (UPP II.29)
Die Stadt wird hier in ihrer Räumlichkeit durch den Blick des Individuums konstituiert: Whitman beschreibt die Stadt als Prärie, indem er sie visuell entgrenzt. Weder Gebäude noch Menschenmassen verstellen die Sicht, „giving the eyes vistas“ (UPP II.29), und so kann Washington so offen und ausgedehnt
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wirken wie der weite Raum Amerikas. Diese Offenheit des Anfangsortes schlägt sich für den Spaziergänger dadurch nieder, dass er immer wieder eine andere Stadt vorfindet: „In my walks I never cease finding new effects and pictures, and I believe it would continue so if I went rambling around here for fifty years. […] You can go on looking forever, and never hit the same combination in two places“ (UPP II.36). Durch diese Wandelbarkeit, Vielfalt und visuelle Offenheit bleibt Washington eindeutig ein urbaner Raum, nimmt aber die Eigenschaften des amerikanischen Westens an und teilt so auch dessen Symbolik, die Whitman in seiner Lyrik wie Prosa ebenfalls perpetuierte: Freiheit, Potential, die Vereinigung von Individualismus und Demokratie. In einem Artikel im Brooklyn Eagle vom 26. Dezember 1846 beschrieb er den Westen beispielsweise als steten Anfangsort der amerikanischen Demokratie; diese Eigenschaften überträgt er durch das Bild der Prärie auf Washington, D.C.: Radical, true, far-scoped, and thorough-going Democracy may expect, (and such expecting will be realized,) great things from the West! The hardy denizens of those regions, where common wants and the cheapness of the land level conventionalism, (that poison to the Democratic vitality,) begin at the roots of things – at first principles – and scorn the doctrines founded on mere precedent and imitation. (UPP I.151)
In den „Enfans D’Adam“-Gedichten der Ausgabe von Leaves of Grass von 1860 verortete sich Whitman als Barde des Anfangs gleichzeitig im Westen und in urbanen Räumen. Seine Darstellung Washingtons als städtische Prärie folgt einer ähnlichen Logik: „I, chanter of Adamic songs, / Through the new garden, the West, the great cities, calling“ (LoGV II.362-3). Während Whitman eine Überlappung dieses neuen Gartens des Westens mit der Stadt Washington herstellt, kritisiert er gleichzeitig das Alte in der Stadt, das wie so oft in seinen Werken mit Europa gleichgesetzt wird: Like all our cities, so far, this also, in its inner and outer channels, gives obedient reflex to European customs, standards, costumes, &c. There is the immortal black broadcloth coat, and there is the waiter standing behind the chair. But inside the costume, America can be traced in glimpses. (UPP II.30)
Dieses Herausarbeiten des Amerikanischen, des Neuen, ist die Aufgabe des Schriftstellers, der auf der Suche nach nationaler wie personaler Identität ist. Zu diesem Zweck betont Whitman im Vergleich mit europäischen Kulturmetropolen besonders die symbolische Funktion Washingtons, aber auch die materiellen Gegebenheiten der Stadt:
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(Our writers, writing, may pen as much as they please of Italian light, and of Rome and Athens. But this city, even in the crude state it is to-day, with its buildings of to-day, with its ample river and its streets, with the effects above noted, to say nothing of what it all represents, is of course greater, materially and morally, to-day than ever Rome or Athens.) (UPP II.35)
Der wichtigste Aspekt dieses Urteils ist jedoch der, dass Washington als zukunftsträchtig dargestellt wird: Die Stadt übertrifft zwar bereits Rom und Athen, befindet sich aber eigentlich noch im Rohzustand. Ihre moralische Größe findet sich weniger im dort Bestehenden sondern im dort Anfangenden, worin sich deutlich der Unterschied zu Europa zeigt, wo nichts mehr beginnen kann. 1860 beschrieb Whitman in Leaves of Grass Amerika als „the continent of glories, and of the triumph of freedom, and of the Democracies, and of the fruits of society, and of all that is begun“ (LoGV II.305); 1863 verortet er diese kontinentalen Anfänge in Washington, D.C. Es ist dabei bemerkenswert, dass Whitman diese Verortung allerdings als vorläufig betrachtet, was seiner Forderung nach ständigen Anfängen geschuldet ist. Im selben Artikel, der Washington über Athen und Rom stellt, spricht Whitman die seiner Meinung nach offensichtliche Tatsache an, dass die Stadt nicht dauerhaft die Hauptstadt der USA sein kann: It seems strange that one never meets here, in the people’s talk of deeds, any consciousness of Washington’s one day necessarily ceasing to be the Capital of the Union. None sees that the locale of America’s Government must be permanently founded far West before many years. I say I never hear this alluded to here. Everything proceeds irrespective of it. Costly and large additions are this day being made to most of the public buildings – especially the Treasury – and the prices of real estate are kept up at high and advancing rates. So much architecture and outlay – and must all indeed be lost? A handsome and stately city, designed for a future it may never see; admirable in plan, only time and filling up needed. Yet, its fate would seem stern, certain, relentless. (UPP II.35)
Hier zeigt sich Whitman am deutlichsten kritisch gegenüber den Anfängen in Washington, da er das Ende der Stadt in Betracht zieht. Diese Denkweise findet sich nur sehr selten in seinen Texten, und selbst diese negative Haltung kommt durch eine positive Sicht auf Anfänge zustande, da für Whitman das Anfangspotential des Westens am größten ist und Amerika daher auch von dort regiert werden sollte. Diese Frage wird sich nach dem Krieg stellen, wenn der Neubeginn vollzogen ist und ein weiterer Anfang im Frieden möglich ist:
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There are questions necessarily affecting this question deeper still; after the war what new combinations? Given the changes of Capital twenty, forty years hence, where the new one located? In the tongue formed by the Missouri and Mississippi? In Kansas? Nebraska? Illinois? Missouri? (UPP II.36)
Auch wenn Whitman in seiner Darstellung Washingtons schon über neue, unbenannte Anfangsorte im Westen Amerikas nachdenkt, so ändert dies letztlich nur wenig an seiner Absicht, die Stadt zum Anfangsort für das Amerika der Kriegszeit und unmittelbaren Nachkriegszeit zu stilisieren. Zu diesem Zweck betont Whitman nicht nur die Offenheit und Weite der Stadt und ihrer repräsentative Architektur, sondern auch ihre staatliche Funktion als Machtzentrum und Anfangsort nationaler Gesetzgebung selbst während der Krise des Bürgerkriegs: This city, concentre to-day of the innauguration [sic] of the new adjustment of the civilized world’s political power and geography, with vastest consequences of Presidential and Congressional action; things done here, these days, bearing on the status of man, long centuries; the spot and the hour here making history’s basic materials and widest ramifications; the city of the armies of the good old cause, full of significant signs, surrounded with weapons and armaments on every hill as I look forth, and THE FLAG flying over all. The city that launches the direct laws, the imperial laws of American Union and Democracy, to be henceforth compelled, when needed, at the point of the bayonet and the muzzle of the cannon – launched over continental areas, three million of square miles, and empire large as Europe. (UPP II.30-31)
Die Handlungen in Whitmans Gegenwart werden auf Jahrhunderte hinaus Konsequenzen haben, und zwar für die Menschheit generell, nicht nur für Amerika. So konstruiert er Washington als Anfangsort zukünftiger globaler Geschichte und bleibt in seiner Anfangsphantasie fest in räumlicher Metaphorik verankert: Von Washington aus werden die Gesetze, die notfalls mit Gewalt verteidigt werden sollen, nicht nur eingeführt, sondern über die gewaltige Fläche des Landes buchstäblich verbreitet. Die Kohärenz dieses amerikanischen Reiches wird über dieses Zentrum der Hauptstadt hergestellt, wo symbolische, legale, soziale und politische Prozesse die Nation produzieren (ökonomische Prozesse werden dabei von Whitman eher vernachlässigt). Whitman führt seine Auflistung zur Darstellung Washingtons fort, indem er erneut die dortigen Verwundeten zur positiven Grundlage Amerikas umdeutet: „The city of wounded and sick, city of hospitals, full of the sweetest, bravest children of time and lands; tens of thousands, wounded, bloody, amputated,
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burning with fever, blue with diarrhoea“ (UPP II.31). Durch die Verklärung der Soldaten als „sweetest, bravest children of time and lands“ gewinnt die drastische Beschreibung ihrer Leiden zwar noch an Wirkung, jedoch impliziert diese Gegenüberstellung auch, dass dieses Leiden ein Märtyrertum für die Nation ist, aus dem das wahre Amerika entstehen wird. Dementsprechend gering ist der narrative Bruch, wenn Whitman sofort im Anschluss damit fortfährt, Washington als „[t]he city of the wide Potomac, the queenly river, lined with softest, greenest hills and uplands“ zu beschreiben (UPP II.31). In diesem Willen zum Positiven kann Whitman selbst der Politik in Washington noch etwas abgewinnen, obwohl er ähnlich wie im zitierten Brief an Emerson kaum ein gutes Haar an den Politikern lässt: The city of Congress, with debates, agitations, (petty, if you please, but full of future fruit,) of chaotic formings; of Congress knowing not itself, as it sits there in its rooms of gold, knowing not the depths of consequence belonging to it, that lie below the scum and eructations of its surface. (UPP II.31)
Der Kongress mag chaotisch sein, fehlgeleitet, kurzsichtig und pompös, und der Begriff des Abschaums kann kaum deutlicher gewählt sein, doch selbst seine kleinlichen Aufregungen beinhalten Anfänge und sind „full of future fruit“ (UPP II.31). Vielleicht liegt es an dieser deutlichen Abneigung, dass Whitman seinen Blick ungern auf Politiker richtet, sondern vielmehr auf die Gebäude, in denen Politik gemacht wird. Besonders ein Gebäude in Washington, D.C. wird immer wieder Objekt seiner konstitutiven Betrachtung, die es zum architektonischen Zentrum eines Anfangsortes machen: das Kapitol. Dabei ist es wörtlich zu nehmen, dass Whitman dieses Gebäude ins Zentrum seiner Wahrnehmung der Stadt stellt, wo er ihm umso mehr Bedeutung zuschreiben kann: „There is no place in the city, or for miles and miles off, or down or up the river, but what you see this tiara-like dome quietly rising out of the foliage (one of the effects of first-class architecture is its serenity, its aplomb)“ (UPP II.31). Vor seiner Zeit in Washington war Whitman allerdings keineswegs von diesem Bauwerk angetan. 1854 schrieb er beispielsweise in einem Zeitungsartikel: „I do not think so highly of what is to be done at the Capitols of Washington or Albany“ (UPP I.262). Gegenüber seinem Bruder Thomas Jefferson Whitman zog er im Februar 1863 noch einen sehr negativen Vergleich zwischen dem Kapitol und den Lazaretten, in denen er verkehrte; ihm scheint der Kontrast zwischen dekadenter Dekoration politischer Macht einerseits und Leid und Sterben aus politischen Gründen andererseits geradezu ekelerregend. Dabei wirkt seine Beschreibung
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des Kapitols zunächst durchaus beeindruckt, bis Whitman die sorgfältig aufgebaute Stimmung kippen lässt: I spend several hours in the Capitol the other day – the incredible gorgeousness of some of the rooms, (interior decorationc &c) – rooms used perhaps but for merely three or four Committee meetings in the course of the whole year,) is beyond one’s flightiest dreams. […] These things, with heavy, elaborately wrought balustrades, columns, & steps – all of the most beautiful marbles I ever saw, some white as milk, others of all colors, green, spotted, lined, or of our old chocolate color – all these marbles used as freely as if they were common blue flags – with rich door-frames and window-casings of bronze and gold-heavy chandeliers and mantels, and clocks in every room – and indeed by far the richest and gayest, and most un-American and inappropriate ornamenting and finest interior workmanship I ever conceived possible, spread in profusion through scores, hundreds, (and almost thousands) of rooms – such are what I find, or rather would find to interest me, if I devoted time to it – But a few of the rooms are enough for me – the style is without grandeur, and without simplicity – These days, the state our country is in, and especially filled as I am from top to toe, of late with scenes and thoughts of the hospitals, (America seems to me now, though only in her youth, but brought already here feeble, bandaged and bloody in hospital) – these days I say, Jeff, all the poppy-show goddesses and all the pretty blue & gold in which the interior Capitol is got up, seem to me out of place beyond anything I could tell – and I get away from it as quick as I can when that kind of thought comes over me. (C I.74-75)
Mit der Zeit änderte Whitman seine Meinung über das Kapitol, bis er im April 1864 an seine Mutter schrieb: „the Capitol grows upon one in time“ (C. I.211). In Specimen Days schreibt er sogar von der tröstenden Wirkung, die das Gebäude auf ihn habe: „I like to stand aside and look a long, long while, up at the dome; it comforts me somehow“ (PP 781). Seine Darstellung des Gebäudes in den Monaten davor zeigen deutlich, dass er es trotz seiner obigen Kritik als Anfangsort schätzen lernte und es so auch in seinen Artikeln und Briefen vermittelte. Thomas Jefferson Whitman schrieb er Anfang März 1863 schon weitaus positiver als noch im Februar: I go to the hospitals about the same as ever – the last week or so, I have been most every night to the Capitol, which has been all lit up – I should never get tired of wandering through the Senate wing at night – it is the most costly, splendid and rich-painted place in its interminable mazes (I wander around and lose myself in them) of corridors and halls, that I ever dreamed of, or thought possible to construct – The great Halls of the H[ouse] of
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R[epresentatives] and the Senate, are wonderful and brilliant at night – they show best then, (in some respects.) They are probably the most beautiful rooms, ornamented and gilded style, in the world. (C I.76)
Auch wenn Whitman hier die Lazarette wieder erwähnt, setzt er sie nicht mehr in Kontrast zum Kapitol, sondern bewundert die Schönheit der Architektur für sich genommen. Auch vom Vorwurf, das ganze Gebäude sei zutiefst unamerikanisch, ist nichts mehr zu lesen; stattdessen gebraucht Whitman einmal mehr globale Superlative für sein Lob. Im Brief an Nathaniel Bloom und John F.S. Gray einige Tage später bezeichnet er diese ziel- und oftmals orientierungslosen Spaziergänge durch das Kapitol als „a new sensation, rich & strong, that endless painted interior at night)“ (C I.81). Whitman beginnt hier, den Aspekt des Neuen zu betonen, der sich noch auf individuelle Erfahrung beschränkt, sich aber bald erweitern wird, so dass sich das Kapitol zum Symbol urbanen und nationalen Neubeginns wandelt. Whitman erreicht dies, indem er das Gebäude als unfertig beschreibt. Dieser Zustand ist jedoch kein negatives Symptom von Problemen oder Unfähigkeit, sondern ein positives Zeichen für den gesamten Zustand der Hauptstadt und der Nation, den das Kapitol symbolisiert. Wenn Whitman in einem Brief an William D. O’Connor vom 6. Januar 1865 von „the pending action of this Time & Land we swim in“ (C I.246) schreibt, ist dies keine negative Formulierung für eine Zeit und einen Ort in der Schwebe, sondern die positive Umschreibung eines Anfangsortes. Das Kapitol ist ein solcher Ort: Es hat wie Amerika seinen Endzustand noch nicht erreicht, sondern befindet sich immer noch im Anfangsstadium, und daher ist es auch nach wie vor möglich, Korrekturen anzubringen. Whitman definiert Washington über das stetig wachsende, sich verändernde Kapitol als Anfangsort eines ganzen Landes, für das auch ein Bürgerkrieg kein Niedergang ist, sondern nur eine weitere Phase einer Entwicklung, die nie enden wird. Wenn Anfänge gemacht werden müssen, wenn sie Intention und Methode haben, dann zeigt sich hier ein deutlich verorteter Anfang: Whitman gebraucht den Stadtraum und die bedeutungsbehaftete Architektur dazu, nationale Identität zu erschaffen. Terence Martin schreibt: „Whitman found a way to always wipe the slate clean whenever events corroded the promise of America“ (193). Über die Darstellung von Washington als Anfangsort versucht Whitman, ganz Amerika einen Neuanfang zu ermöglichen, der es intakt aus dem Bürgerkrieg in die Zukunft führen würde. Dieser Anfangsort zeichnet sich dadurch aus, dass es ein Ort des ständigen Anfangs ist. Die Offenheit, die Washington in Bezug auf den Raum aufweist, findet sich dort auch in Bezug auf die Zeit. Die Stadt wird nicht
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zu ihrem Abschluss geführt, sondern entwickelt sich stets weiter. Dies ist der größte Gegensatz zu Athen und Rom, den europäischen Städten, vor denen Whitman Washington bereits den Vorzug gegeben hat: Sie sind historisch, abgeschlossen, fertig, während Washington genau wie Amerika nie fertig sein wird. In einem Notizbucheintrag stellte Whitman schon vor seinem Aufenthalt in Washington dar, dass genau dieser Umstand Amerika erst seine Größe verleihe: A main part of the greatness of a humanity is that it never at any time, or under any circumstances, arrives at its finality – never is able to say, Now, as I stand, I am fixed forever. – If any one has the feeling to say, I am fixed – and retains that feeling – then a longer or shorter farewell to the greatness of that humanity – (NUPM I.365)
Da für Whitman jeder Endzustand ein Zeichen von Dekadenz und Degeneration ist, versetzt er durch seine Beschreibung das Kapitol in einen fortwährenden Zustand des Anfangs. Er beschreibt beispielsweise in seinem Artikel in der New York Times vom 4. Oktober 1863 eine wichtige Veränderung an dem Gebäude nicht in ihrem ausgeführten Zustand, sondern stattdessen im Vorfeld, in Erwartung der Änderung: „We are soon to see a thing accomplished here which I have often exercised my mind about, namely, the putting of the Genius of America away up there on top of the dome of the Capitol“ (UPP II.31). Whitman meint damit jedoch nicht die Skulptur „Genius of America“, die über dem östlichen Eingang des Kapitols zu sehen ist, sondern die Figur auf der Kuppel, die den Titel „Armed Freedom“ trägt. Die Beschreibung des bisherigen Schicksals dieser Figur in Washington drängt dem Leser implizit Parallelen zur Situation des Landes auf, das sie symbolisieren soll: „The Genius has for a year or two past been standing in the mud, west of the Capitol; I saw her there all Winter, looking very harmless and innocent, although holding a huge sword“ (UPP II.32). Amerika steckt auf den Schlachtfeldern bei Washington fest, unschuldig und bewaffnet, und wartet auf seine Befreiung; dementsprechend wird das Errichten der Statue eine Befreiung für Amerika symbolisieren. Sowohl Amerika als auch die Statue sind bereit zur Regeneration: „I have a curiosity to know the effect of this figure crowning the dome. The pieces, as I have said, are at present all separated, ready to be hoisted to their place“ (UPP II.32). Dieser symbolische Akt wird jedoch bei weitem keinen Endzustand herbeiführen, und das Kapitol wird wie das Land selbst noch lange work in progress bleiben: On the Capitol generally, much work remains to be done. I nearly forgot to say that I have grown used to the sight, over the Capitol, of a certain huge derrick which has long surmounted the dome, swinging its huge one-arm now south, now north, &c., that I
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believe I shall have a sneaking sorrow when they remove it and substitute the Genius. (I would not dare say that there is something about this powerful, simple and obedient piece of machinery, so modern, so significant in many respects of our constructive nation and age, and even so poetical, that I have even balanced in my mind, how it would do to leave the rude and mighty derrick atop o’ the Capitol there, as fitter emblem, may be, than Choctaw girl and Pallas). (UPP II.32-33)
1851 befand Whitman noch, Amerika sei „a nation of whom the steam engine is no bad symbol“ (UPP I.241); in seiner Lyrik ist es allerdings schon seit der zweiten Ausgabe von Leaves of Grass (1856) vor allem die Axt, die als Symbol der kreativen Zerstörung und des ständigen Anfangs in Amerika fungiert („Broad-Axe Poem“, nach 1867 „Song of the Broad-Axe“ (LoGV I.176-89)). Der Kran ist ein ähnliches Symbol, „the very sign of a nation always under construction, never finished“ (Folsom 90), das jedoch die Modernität der Dampfmaschine mit der Produktivkraft der Axt verbindet und zudem dem urbanen Kontext weitaus angemessener ist. Dieses Bild, das Whitman in seiner Lyrik allerdings nie gebraucht, fasst präzise zusammen, welche Intention und welche Methode Whitmans Konstruktion von Washington, D.C. als Anfangsort zugrunde liegen. In der Situation des andauernden Bürgerkriegs vermeidet er die kriegerischen Implikationen des Bildes der Axt, sondern präsentiert den temporär mit dem Kapitol verbundenen Kran als Nationalsymbol. Indem die Einheit des „one-arm“ sich mal nach Süden, mal nach Norden bewegt, deutet der Kran an, welcher Anfang durch die Bautätigkeit am Kapitol gelegt wird. Whitmans Stadtdarstellung, die sich so stark auf einzelne Gebäude konzentriert, lässt für seine Leser keine Zweifel daran, dass hier der Grundstock der neuen nationale Einheit gelegt wird. Whitmans eigene Wahrnehmung des Kapitols verändert sich durch die errichtete Figur auf der Kuppel endgültig zum Positiven hin, wie er im Brief an seine Mutter vom 19. April 1864 erklärt: […] the Capitol grows upon one in time, especially as they have got the great figure of on top of it now, & you can see it very well, it is a great bronze figure, the Genius of Liberty I suppose – it looks wonderful toward sundown, I love to go down & look at it, the sun when it is nearly down shines on the headpiece & it dazzles & glistens like a big star, it looks quite curious – (C. I.211)
Wieder präsentiert sich Whitman als Spaziergänger, und wieder sind es vor allem seine subjektiven visuellen Eindrücke, mit denen er seine Stadterfahrung darstellt. Selbst in diesem privaten Brief besteht Whitman auf der leuchtenden
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Symbolkraft der Statue für Süden wie Norden, indem er schreibt, sie glänze wie ein Stern. Diese Formulierung findet sich auch in einem seiner Notizbücher, wo er der Statue sogar globale Bedeutung zukommen lässt: „the Figure on the Capitol every bright day at evening the helmet shines like a star glistening against the sky / with her heavy cape her shield leaning against her & her sword– & what is it she stands on? Is it the whole globe?“ (NUPM II.673) Dieses ambivalente Bild der Statue auf der (Welt-)Kuppel impliziert Herrschaft, aber auch die Idee der USA als einer globalen Nation; zudem weist es mehr als zwei Jahrhunderte nach Winthrop einmal mehr die Vorbildfunktion Amerikas für die ganze Welt aus. An William D. O’Connor schrieb Whitman am 7. April 1865, am Ende des Bürgerkrieges: „The grand culminations of past weeks impress me profoundly of course. I feel more than ever how America has been entirely restated by them – and they will shape the destinies of the future of the whole of mankind“ (C. I.257-58). Der Sieg des Nordens bedeutet nicht nur die vollständige Erneuerung Amerikas, sondern auch einen Anfang für die gesamte Menschheit. Auch nach dem Ende des Bürgerkriegs blieb Whitman fasziniert vom Kapitol und benutzte es noch Jahre später als eindrucksvolles Symbol nationaler Einheit. Zwei Artikel aus dem New Yorker Daily Graphic von 1873 sollen abschließend beispielhaft darstellen, wie Whitman seine Präsentation von Washington, D.C. als Anfangsort auch nach dem Bürgerkrieg aufrechterhielt, wenn auch in abgeschwächter und veränderter Form. In „Halls of Gold and Lilac“ vom 24. November nimmt Whitman die Versammlung des 34. Kongresses zum Anlass, seinen Lesern ein weiteres Mal einen Blick auf das Kapitol zu bieten, das er als Versammlungsort zum architektonischen Symbol nationaler Einheit und Vielfalt macht. Dabei legt seine Beschreibung nicht mehr die Dringlichkeit der Anfangskonstruktion zutage, die Whitmans Texte der Bürgerkriegszeit auszeichnete. Fast zehn Jahre nach dem Krieg bedürfen die Vereinigten Staaten zwar immer noch Whitmans imaginativer Einigungskraft, sind allerdings in dieser Rekonstruktionszeit durchaus recht konsolidiert. 1873 bietet sich Washington für Whitman nicht mehr als Ort der nationalen Stunde Null an, wird aber nach wie vor zum Ort des Aufbruchs. Die Versammlung des Kongresses kann als einer der ständigen Anfänge gelesen werden, die Whitman von Amerika forderte, und auch wenn es sich dabei von der Größenordnung des Anfangs her nicht um einen kompletten Neubeginn wie nach dem Bürgerkrieg handeln mag, so ist der kleine Anfang dennoch ein Zeichen, dass dieser radikale Neubeginn erfolgreich war. Whitmans Beschreibung des Kongresses bietet ein umfassendes Panorama amerikanischer Vielfalt, Produktivität und nicht zuletzt Harmonie:
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Room for the Forty-third Congress! […] The spectacle is a significant one. From busy New England, with its factories, fisheries, teeming villages and towns; from the wealthy and populous Empire State; from Pennsylvania, regions of iron and coal and oil; from Ohio and the Prairie States, and the states that the large lakes lave; from Missouri and Kansas; from California and the broad lands toward the Western shore; and from Virginia, Tennessee, and Texas, and the regions of cotton and sugar; from all the far and separate parts and localities – Atlantic, Pacific, the Mississippi Valley, and so down to the Mexican Gulf – come wending their way to Capitol Hill the Representatives of the People, and the Senators of this peerless Republic of ours, now approaching, in all majesty and prosperity, the centennial of its birth and growth. (UPP II.42)
Dieser Absatz betont mittels der Aufzählung von Orten und Ressourcen die Einigkeit der Vereinigten Staaten und ihren Wohlstand, und er schließt mit einem Hinweis auf ihr kommendes Jubiläum. Daran ist besonders bemerkenswert, dass Whitman nicht das hundertjährige Bestehen der USA nennt, sondern das Jubiläum ihrer „Geburt“ und ihres „Wachstums“ betont. Dies steht in Einklang mit seiner Forderung nach Anfängen, denn so sind die USA noch weit davon entfernt, ihren Endzustand erreicht zu haben, und selbst der Bürgerkrieg kann so noch als Teil der Entwicklung verstanden werden anstatt als existentielle Bedrohung der USA. Whitman behält diesen unbedingt positiven Ton in seinem Artikel konsequent bei und präsentiert das Kapitol mehr und mehr als Ort nationaler Einheit und Konstruktivität. Intention und Methode des Anfangs zeigen sich auch im Blickwinkel des Textes: Whitman nimmt seine Leser mit auf einen nächtlichen Spaziergang zum Kapitol, um ihnen eine neue Perspektive auf ihre Nation zu bieten. Dies zeigt sich am besten an seiner Beschreibung der Flagge: THE FLAG (AS NEVER SEEN BEFORE)
Passing down Pennsylvania avenue and entering the Capitol grounds, the first thing that strikes one is the Flag, beautiful and spiritual, up aloft there, out of the darkness, floating lovely as a dream, translucent the red stripes, with the spangled blue and white stars illuminated, delicate, very singular and clear, while all below is a mass of shade. Our Flag looks well anywhere, but it is never seen to more advantage than beaming there in the darkness, as if emanating its own light above the great dusky outlines of the architecture of the Capitol. (UPP II.43)
Die Flagge ist hier zugleich ein vertrautes wie neues Objekt, ein Symbol der Heimat und des Aufbruchs zugleich. Whitman kontrastiert (durchaus kitschig) ihre leuchtende, zarte Schönheit mit der Dunkelheit, die sie umgibt, und bietet so eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten. Die Flagge erfüllt wie schon die
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Statue auf der Kuppel symbolisch die Signalfunktion, die von Amerika ausgehen soll; gleichzeitig zeigt sie, dass Amerika unbeschadet aus der Finsternis des Bürgerkriegs erstiegen ist. Für den individuellen Spaziergänger wird sie zum Leuchtturm, das ihm den Weg weist, und dementsprechend bewegt sich Whitman mit seinen Lesern genau darauf zu. Whitman wechselt immer wieder die Erzählperspektive von „we“ zu „you“. Das „we“ macht den Leser zum Gruppenmitglied und verleiht ihm letztlich die nationale Identität, die darüber definiert wird, dass das Kapitol nicht nur ein Gebäude, sondern unser Gebäude ist; das „you“ erschafft eine Unmittelbarkeit an Erfahrung, die den Leser imaginativ direkt in das Gebäude versetzt und erneut dazu beiträgt, dass er es als sein Gebäude wahrnimmt, während er vergisst, dass die Erfahrung eigentlich durch den Erzähler vermittelt und bereits interpretiert wird: We ascend the steps. Take it leisurely, for there are several long flights. The Rotunda makes a fine show to-night. There are groups of people around the old pictures in the panels. The dome towers in its unsurpassedly perfect proportions, and you stop to look at the American mythology frescoed on the ceiling. You pass along through the old hall of the House of Representatives – now beginning to be peopled with statues, surrounded by the heavy columns of mottled marble, and overlooked by a colossal and helmeted Liberty – and entering the new South Wing of the building another generation makes itself at once apparent. (UPP II.44)
Whitman formt die Eindrücke und Meinungen seines Lesers durch seine Beschreibung, verbirgt aber diese Einflussnahme durch die scheinbare Direktheit der Erfahrung des „you“. Dabei gelingt es ihm, das Kapitol nach wie vor als Anfangsort zu vermitteln, auch wenn die Bautätigkeit nicht mehr so offensichtlich ist wie im Bürgerkrieg, als Whitman der Kran noch als Symbol dienen konnte. Stattdessen kombiniert er das Neue mit dem Alten und macht den Spaziergang durch das Kapitol zur identitätsstiftenden Handlung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für den Amerikaner kohärent kombiniert. Das Kapitol hält nicht nur die Erfahrung neuer Gebäudeteile bereit, sondern auch die neue Erfahrung der Politik: Come, we begin to enter into the spirit of this business. A new experience, and we like it. Now the members are called upon to pass between tellers, as between two human gateposts, dressed in black. The matter is more than we were thinking. We are in for a firstclass modern, American, really representative debate and legislative scene – better than all those schoolbook orations after the classical models. (UPP II.47)
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Whitman ist Politikern 1873 keineswegs wohlgesonnener als 1863, und doch stellt er seine Animositäten hier zurück, um der Leserin ein rundum positives Bild der Legislative zu bieten. So wie er Washington von Athen und Rom abgrenzte, um die Fortschrittlichkeit der amerikanischen Hauptstadt zu betonen, zieht er nun den Vergleich auf rhetorisch-politischer Ebene, um deutlich zu machen, dass die Leserin hier in der Tat Zeuge des Modernen wird, das sich in Amerika manifestiert. Wieder betont Whitman die Unmittelbarkeit der Erfahrung, während er seine Mittlerrolle verbirgt: Anstelle von „schoolbook orations after the classical models“ (UPP II.47) wird die Leserin direkt Zeuge dieser Szene, die keines Modells bedarf, sondern für sich selbst stehen kann. Erzählperspektive und Symbolik machen die Erfahrbarkeit des Anfangs in diesem Text möglich. Es geht nicht darum, der Leserin ein akkurates Bild des Kapitols zu vermitteln, sondern sie dazu zu bringen, sich Amerika als einen Ort des Anfangs vorzustellen. Washington, D.C. steht bei diesem Projekt inzwischen weit im Hintergrund, da das Kapitol Whitman für die Aufgabe der Anfangsvermittlung mehr als ausreicht. Auch im zweiten Teil des Artikels, vom 29. November 1873, geht Whitman kaum auf die materielle Stadt ein, in der das Kapitol steht, dafür aber mehr auf die Menschen, die er dort antrifft. Er vermittelt der Leserin zwar durchaus die Erfahrung von Urbanität, allerdings nicht über eine Beschreibung der Materialität der Stadt, sondern dadurch, dass er die Leserin gleichzeitig in die Masse der Bewohner einschließt und sie als Individuum davon abhebt. Die Darstellung des Kapitols wird durch diese Konzentration auf die Menschen zur Darstellung Amerikas, so wie Whitman Jahre vorher die Repräsentation Washingtons durch den Fokus auf die verwundeten Soldaten zur allgemeingültigen Beschreibung Amerikas gemacht hatte: As we resume our explorations – as we stand or wander in the midst of this bewildering and florid palace fully lit up – the tessellated pavement, the space, the broad and free arches, the medallions, cartouches, the long vistas, through which crowds of gay people are streaming; the distant rumbling of some door, shut with an exceptional bang; the peculiar echo of many footsteps near and far moving over the hard floors; the Rotunda, with its noble and perfect-shaped dome that it will need repeated visits to appreciate; the pictures, foliage, birds, groups, blooming faces looking out everywhere, profusely covering the ceiling and walls in vivid colors in oil or distemper, make up a scene indeed as of some sensuous poet’s dream realized. (UPP II.52)
Das Kapitol wird zum amerikanischen Mikrokosmos, in dem sich „crowds of gay people“ bewegen, und der ausdrücklich in Bezug zur literarischen Imagina-
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tion gesetzt wird. Wenn dieser hochgradig stilisierte Ort tatsächlich die Verwirklichung des Traumes eines Dichters ist, dann ist dieser Dichter der Whitman aus der Zeit des Bürgerkriegs, und der Whitman der Rekonstruktionszeit arbeitet durch Texte wie diesen weiterhin daran, die Umsetzung dieser Vorstellung herbeizuschreiben. Selbst die hässlichen Seiten dieses Ortes deutet Whitman als schlimmstenfalls unansehnlich um und interpretiert sie als bedeutsam und von eigener Schönheit: Then down below, in the basement – comparatively deserted – a change from the scene above, but with its own sombre and unique beauty. The coils of pipe, the heating and ventilating apparatus, the upright engines, the hot well, the gigantic fly-wheels, the great fan (what a draft!) and all the appointments of the boiler-rooms and engine-rooms of the ground story of the Senate wing, with the huge supports and arches of masonry, looking larger in the dim light, all through, and especially in the central part, under the dome – all these, too, must be well investigated before one can say he has seen the Capitol. (UPP II.51-52)
Selbst in diesen Kellerräumen findet Whitman Bewundernswertes und deutet die Modernität der Technik als Unterbau, der das Kapitol – wie auch ganz Amerika – am Laufen hält (die Arbeiter an den Maschinen fehlen bemerkenswerterweise). Whitman zielt durch die symbolische Darstellung von beiden Ebenen des Kapitols als Räume voller Bewegung darauf ab, den Anfang nach dem Bürgerkrieg aufrechtzuerhalten, anstatt Amerika in einen Zustand der Stagnation verfallen zu lassen. Hat er 1863 das Kapitol noch als unfertigen Anfangsort vermittelt, indem er die Bautätigkeit daran betonte, so stellt er es 1873, als es architektonisch vollständig war, dadurch als Anfangsort dar, dass er die Besucher darin zum Teil des Gebäudes erklärt: It is, indeed, a human panorama of this kind – thousands of Americans, both sexes, most of them young and magnetic, moving an evening through the brilliantly lit halls and passages with bright eyes and resonant voices – that gives the true finishing touch to the effects of our National Palace. (UPP II.52-53)
Diese Vollendung des Kapitols durch die Menschen darin ist ein Prozess, kein Zustand. Die Masse an Menschen verändert sich ständig, und noch dazu besteht sie größtenteils aus jungen Menschen, die eine Ausrichtung auf die Zukunft implizieren. Indem Whitman Kapitol und Bürger verschmelzen lässt, stellt er ein deutliches Bild nationaler Einheit her, das Architektur und Mensch im politischen und urbanen Raum der Hauptstadt vereinigt. Washington, D.C. bleibt so
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für Whitman der Anfangsort für die USA und spielt eine wichtige Rolle im Prozess der Rekonstruktion, auch wenn sich dieser nicht mehr im Frühstadium befindet. Dennoch ist für Whitman die Arbeit am Anfang (und am Anfangsort) nicht beendet. Die Notwendigkeit dieser andauernden imaginativen Formung der Zukunft zeigt sich an einem Detail in Whitmans Beschreibung des Kapitols: „(Not a vestige, not a picture or print, not a flag, anywhere through the Capitol, of our own civil war – which is, of course, as it should be)“ (UPP II.49). Whitman lobt dieses radikale Fehlen von Verweise auf den Bürgerkrieg im Kapitol, weil dies mit seiner zukunftsorientierten Haltung übereinstimmt. Dies hat kaum mit Geschichtsfälschung zu tun; Whitman wird den Rest seines Lebens das Ziel verfolgen, die Erinnerung an den Bürgerkrieg, die Soldaten und insbesondere die Ermordung Lincolns wach zu halten. Stattdessen weiß Whitman um die Bedeutung des symbolischen Raums, den das Kapitol für die nationale Imagination darstellt, und nur durch diese Selektion oder Manipulation wird sichergestellt, dass die Symbolik der Zukunft verhaftet bleibt und nicht der Vergangenheit. Aus ähnlichen Motiven bezeichnete Whitman den Sezessionskrieg auch als „the ‚Union War‘“ (NUPM II.851). Anfang bedeutet hier für Whitman auch das gezielte Verleugnen des Vorherigen. Katherine Kinneys Urteil in Bezug auf Whitmans Texte während des Krieges trifft auch hier zu: „In the war prose it is dangerous to forget and dangerous to remember“ (177). Whitmans Anfänge waren 1863 noch positive Umdeutungen von klar dargestellten negativen Ereignissen; 1873 sind sie positive Darstellungen mit minimalen Verweisen auf vorherige Ereignisse (immerhin erwähnt Whitman das Fehlen der Hinweise auf den Bürgerkrieg, anstatt es zu verschweigen). Die Konstruktion der Stadt als Anfangsort hat sich parallel dazu gewandelt: War für Whitman Washington, D.C. im Bürgerkrieg noch der Nullpunkt für einen bitter notwendigen Neubeginn der USA, ein Ort, der die besten amerikanischen Qualitäten in sich vereinte, so ist die Stadt in den Artikeln von 1873 praktisch nicht mehr vorhanden, da das Kapitol als politisches Zentrum eine größere Rolle für die Rekonstruktion spielt als der gesamte urbane Raum, der Whitman während des Krieges durch die Vielzahl an Lazaretten noch sehr viel wichtiger war. Whitmans Projekt der imaginativen Einschreibung von Bedeutung in den Stadtraum Washingtons findet hier seinen Endpunkt, allerdings weicht selbst dieser Abschluss nicht von seiner grundlegenden Konstruktion der Stadt ab: Sie bleibt der zentrale Anfangsort für die USA.
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RICHARD WRIGHT UND MEMPHIS/CHICAGO
Wenn Whitmans Texte wieder und wieder nationale Einheit beschwören und vom menschlichen Panorama im Kapitol sprechen, drängt sich insbesondere durch den Kontext des Bürgerkriegs die Frage auf, wer genau mit dieser Gruppe von Menschen gemeint ist. Whitman ignoriert die Frage der Sklaverei in den oben zitierten Texten völlig, und es besteht der berechtigte Verdacht, dass dieses angebliche Panorama der Menschheit keine Afro-Amerikaner beinhaltet, auch wenn Whitman an anderer Stelle durchaus in der Lage war, sich über den Rassismus seiner Zeit (und seiner selbst) hinwegzusetzen.5 Für das gegenwärtige Thema der Stadt als Anfangsort sind vor allem die ideologischen Fragen wichtig, die solche Darstellungen mit sich bringen. Wenn Franklin und Whitman Städte als Anfangsorte entwerfen, für wen geschieht dies dann? Wer kann in diesen Städten anfangen? Von welchen Umständen sind diese Anfänge abhängig, und wie unterscheiden sich gegebenenfalls die Stadterfahrungen? Franklins individualistische Philosophie behauptete, dass der Anfang des persönlichen Aufstiegs (in der Stadt) jedermann möglich sei, was auch heute noch ein verbreitetes Verständnis des amerikanischen Traums ist; es bestehen allerdings starke Zweifel daran, ob damals wie heute nicht diejenigen benachteiligt sind, die nicht wie Franklin männlich, heterosexuell und von weißer Hautfarbe sind. Diese Diskrepanz, die sich in praktisch allen Bereichen amerikanischen Lebens zeigt, trifft natürlich auch auf den Bereich der Stadtliteratur zu. Deshalb wird das folgende Unterkapitel einen Text des 20. Jahrhunderts besprechen, der zwar die Stadt als Anfangsort begreift, aber dabei stark auf die Schwierigkeiten der Marginalisierung und Unterdrückung von Afro-Amerikanern eingeht: Richard Wrights Autobiographie Black Boy, die nach ihrer Erstveröffentlichung 1945 ein höchst umstrittener Bestseller war. Dabei stehen zwei Städte im Vordergrund: Memphis und Chicago. Black Boy ist über weite Strecken alles andere als ein Stadttext. Wright, geboren 1908, beschreibt seine Kindheit und Jugend im Süden der USA, während der er – bis auf kurze Zeit in Memphis – hauptsächlich in ländlichen Gegenden und kleineren Orten wohnte. Wrights retrospektive Erzählung, fiktionalisiert wie jede Autobiographie, ist geprägt von familiärer Armut, Instabilität und Gewalt, sowie vom alltäglichen Rassismus in der Zeit der Jim Crow Laws, welche die Rassentrennung auch lange nach dem Ende der Sklaverei gesetzlich festschrie-
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Whitmans Verhältnis zur Sklaverei ist zu komplex, um hier angemessen behandelt zu werden; eine ausführliche Diskussion findet sich in Martin Klammers Whitman, Slavery, and the Emergence of Leaves of Grass.
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ben. Dabei nimmt die Stadt in Black Boy auf ganz andere Art die Eigenschaften des Anfangsorts an, als dies bei Franklin oder Whitman der Fall war, denn es dauert recht lange, bis Wright überhaupt eine Stadt erreicht, geschweige denn dauerhaft in ihr lebt. Stattdessen ist die Stadt ein projizierter Anfangsort, der eine lebenswerte Zukunft verheißt, und erfüllt somit eine imaginative Funktion, hinter der kein tatsächlicher Stadtraum steht, wie es bei Franklin oder Whitman der Fall war. Chicago ist für Wright eine Utopie, und die Stadt funktioniert solange für ihn als erhoffter Anfangsort eines freien Lebens, bis er tatsächlich dorthin kommt. Wright vermittelt die Unterdrückung der Afro-Amerikaner im Süden in Black Boy durchweg dadurch, dass keiner der Orte im Süden für ihn zum Anfangsort werden kann, da keiner von ihnen die Stabilität und Sicherheit bietet, die einen wirklichen Anfang möglich machen würden. Dies ist die Finsternis der „Southern Night“, wie der Titel des ersten Teil des Buches lautet. Entweder wird dort jeder Anfang im Keim erstickt, oder er wird nach kurzer Zeit vernichtet, ohne Früchte zu tragen; es ist bezeichnend, wie spät in seiner Erzählung sich Wright halbwegs positiv über seine Zukunftsaussichten äußert, und wie düster diese im Süden selbst im besten Fall noch scheinen: „I knew that my life was revolving about a world that I had to encounter and fight when I grew up. Suddenly the future looked tangible for me, as tangible as a future can loom for a black boy in Mississippi“ (125). Diese Unmöglichkeit des Anfangs und dieser Mangel an einem Anfangsort nutzt Wright, um Chicago zunächst als imaginäres wie reales Ziel des Individuums aufzubauen. Einerseits betont er die Rastlosigkeit seiner Kindheit und Jugend bei gleichzeitiger Einschränkung, die ihr glückliches Ende in diesem urbanen Raum finden könnte; andererseits lässt er durch die schonungslose Darstellung rassistischer Gewalt im Süden – physisch wie psychisch – die Metropole im Norden als Fluchtmöglichkeit und Ort der Befreiung erscheinen. Bewegungszwang, Gefangenschaft und Flucht gehören zu den durchgängigsten Motiven in Black Boy, mit denen Wright geschickt ein Bild des schwarzen Lebens im Süden entwirft, in dem das Individuum zwar nie zur Ruhe kommt, aber gleichzeitig auch nie sein Potential entfalten kann. Schon im ersten Absatz wird diese komplexe Situation über den vierjährigen Richard dargestellt, der nicht aus dem Haus darf: „[I] looked yearningly out into the empty street. I was dreaming of running and playing and shouting […]“ (3). Diese fundamentale Unruhe führt dazu, dass er sich schon als Kind als grundlegend misstrauisch und antagonistisch charakterisiert: „Dread and distrust had already become a daily part of my being and my memory grew sharp, my senses more impressionable; I began to be aware of myself as a distinct personality striving against others“ (29-30). Immer und immer wieder wird Richard davon-
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laufen oder darüber nachdenken: „My imagination soared; I dreamed of running away. Each morning I vowed that I would leave the next morning, but the next morning always found me afraid“ (30). Seine erfolglose Flucht aus einem Waisenhaus in Memphis endet damit, dass er vom urbanen Raum überwältigt wird und orientierungslos aufgibt. Es ist ihm nicht gelungen, sich in diesem Ort zurechtzufinden und Kontrolle über ihn zu erlangen: I went on, coming to concrete sidewalks. People passed me. Where was I going? I did not know. The farther I walked the more frantic I became. In a confused and vague way I knew that I was doing more running away from than running toward something. I stopped. The streets seemed dangerous. The buildings were massive and dark. The moon shone and the trees loomed frighteningly. No, I could not go on. I would go back. But I had walked so far and had turned too many corners and had not kept track of the direction. Which way led back to the orphan home? I did not know. I was lost. (31)
Diese negative Erfahrung der Ortslosigkeit hält Richard jedoch nicht dauerhaft zurück. Kaum wieder zurück im Waisenhaus, beschließt er schon wieder den nächsten Fluchtversuch: „Sobbing, I slunk off to bed, resolved to run away again. But I was watched closely after that“ (32). Dies ist jedoch für lange Zeit die letzte Stadterfahrung, die Richard machen wird. Die nächsten Jahre wird er bei wechselnden Verwandten in kleinen Orten wie Elaine, Arkansas, oder Jackson, Mississippi verbringen, und er wird so oft umziehen, dass er nur noch lakonische Kommentare dafür übrig hat: „Again we packed. Again we said good-bye. Again we rode the train“ (59). Es ist ein weiteres Anzeichen für die Unruhe als fundamentale Tatsache seines Lebens, dass diese Ortswechsel als radikale Brüche präsentiert werden, die keine übergreifende Identität stiften, aber auch nicht positiv als Anfänge interpretiert werden können, da sie nie eine grundlegende Änderung der Lebenssituation bereithalten. Dies ist beispielsweise ersichtlich, wenn Richard das Waisenhaus verlässt: The moment I had learned that I was to leave, my feelings had recoiled so sharply and quickly from the home that the children simply did not exist for me any more. Their faces possessed the power of evoking in me a million memories that I longed to forget, and instead of my leaving drawing me to them in communion, it had flung me forever beyond them. (36)
Kaum wird das Leben im Waisenhaus von Gegenwart zu Vergangenheit, wird diese Vergangenheit ausgelöscht, ohne dass jedoch der Gedanke an die Zukunft wirklich ins Zentrum des Textes rücken würde, da Wright diese Veränderung
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nur als Änderung innerhalb der Parameter der Unterdrückung der AfroAmerikaner präsentiert, die keine echte Verbesserung für das Individuum oder die Gruppe bereithalten können. Da im rassistischen Jim-Crow-System des Südens keine sozialen Anfänge möglich sind, gibt es in Wrights Autobiographie stattdessen nur Veränderungen. Individuelle Anfänge stellt Wright stark internalisiert dar. Es ist dem Individuum nicht erlaubt, sein Potential in der Gesellschaft zu entfalten, ja überhaupt wird einer schwarzen Person Potential wie Individualität generell abgesprochen; im Angesicht dieser strukturellen Gewalt entwickeln sich daher Wrights Potential und Individualität im Geheimen, in seinem Geist. Die Imagination wird zu dem Ort, an dem er Anfänge findet und seine Persönlichkeit ausbildet. So beschreibt er beispielsweise die Erzählung einer Geschichte durch eine Untermieterin als prägendes Erlebnis, dessen Effekt er allerdings vor seiner Familie verbergen muss, da diese fantastische Geschichten als gefährlich betrachtet: „They could not have known that Ella’s whispered story of deception and murder had been the first experience in my life that had elicited from me a total emotional response“ (40). Wright beschreibt dieses einschneidende Erlebnis wie auch spätere Bezüge auf die Macht der Fiktion bezeichnenderweise in räumlichen Begriffen: „I burned to learn to read novels and I tortured my mother into telling me the meaning of every strange word I saw, not because the word itself had any value, but because it was the gateway to a forbidden and enchanting land“ (40). Da der jugendliche Wright im Süden keinen real existierenden Anfangsort für sich finden oder konstruieren kann und darf, verschiebt er diese Suche in den Bereich der Imagination. Dies hat zur Folge, dass sich seine Imagination ihrerseits mit der Realität zu überlappen beginnt und er diese fiktionalisiert, etwa durch Aberglauben, da dies überhaupt die einzige Möglichkeit der Einflussnahme darauf für ihn ist: Anything seemed possible, likely, feasible, because I wanted everything to be possible… Because I had no power to make things happen outside of me in the objective world, I made things happen within. Because my environment was bare and bleak, I endowed it with unlimited potentialities, redeemed it for the sake of my own hungry and cloudy yearning. (72-73)
Fand Benjamin Franklin in Philadelphia eine Stadt voller Potential vor, das ihm seine persönliche Entfaltung ermöglichen würde, so befindet sich Richard Wright in Jackson in der gegenteiligen Situation. Seine ländliche Umgebung ist ein Ort ohne Potential, und alles, was Wright übrig bleibt, ist die imaginäre Neueinschreibung seiner Umwelt, die jedoch ohne reale Folgen bleibt, allerdings
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zumindest seinen Hunger nach einem anderen Leben aufrechterhält. Dabei spielt die Stadt eine wichtige Rolle in der imaginären Konstruktion einer Realität, die von Freiheit und nicht von Unterdrückung geprägt ist. In Wrights pubertärem Gespräch mit anderen Jugendlichen zeigt sich, wie sehr sie ihre Hoffnungen und Träume auf den urbanen Raum im Norden projizieren; gleichzeitig kommentiert Wrights rückblickende Erzählerstimme fast zynisch die eigentliche Funktion und den Wahrheitsgehalt der Aussagen: „Shucks, man. I’m going north when I get grown.“ Rebelling against futile hope and embracing flight. „A colored man’s all right up north.“ Justifying flight. „They say a white man hit a colored man up north and that colored man hit that white man, knocked him cold, and nobody did a damn thing!“ Urgent wish to believe in flight. „Man for man up there.“ Begging to believe in justice. Silence. „Listen, you reckon them buildings up north is as tall as they say they is?“ Leaping by association to something concrete and trying to make belief real. „They say they gotta building in New York forty stories high!“ A thing too incredible for belief. (80-81)
Der Norden und New York sind irreale Orte, die sich für die jungen AfroAmerikaner aus Geschichten zusammensetzen, die man vom Hörensagen kennt. Sie sind weit entfernt von einer wirklichen Erfahrung eines Stadtraumes, aber genau dies erlaubt es ihnen, die Stadt als vages Ziel ihrer Träume zu konstruieren. Wright erhält diese Illusion streckenweise auch für den Leser aufrecht, zeigt aber wieder und wieder, wie stark Chicago dabei verklärt wird. Nachdem Wright feststellen muss, dass die Zeitung, die er in seinem Viertel ausgetragen und wegen der fantastischen Geschichten in ihrer Magazinbeilage sehr geschätzt hat, rassistische Inhalte propagiert, verteidigt er sie ungläubig durch den Verweis auf ihren Publikationsort: „‚But these papers come from Chicago,‘ I protested naïvely, feeling unsure of the entire world now, feeling that racial propaganda surely could not be published in Chicago, the city to which Negroes were fleeing by the thousands“ (131). Nicht zum letzten Mal trifft Verklärung auf Realität, jedoch erlaubt es vielleicht gerade die Vielfalt und Komplexität des Stadtraums, solche negativen Aspekte zu ignorieren oder zumindest in die Erzählung der Stadt als Zufluchtsort so zu integrieren, dass sie dem positiven Bild letztlich nichts anhaben können. Schlicht gesagt ist die Stadt als vorgestellter Ort einfach zu kompliziert, als dass man sie auf einen Aspekt reduzieren könnte, und so wird die Tatsache, dass dort eine Zeitung mit rassistischen Inhalten veröffentlicht
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wird, zu einer Tatsache unter vielen, während dieser Umstand in einem kleinen Ort weitaus bedeutsamer schiene und der Ort davon nicht mehr trennbar wäre. Wrights Flucht in fantastische, fiktionale Welten beinhaltet immer ein Element von Urbanität: Er schreibt etwa von „fantasies about cities I had never seen and about people I had never met“ (133), und er verknüpft diese Stadtfantasien rückblickend mit einer ersten Vorstellung von Modernität, die sich dem jungen Richard im ländlichen Süden bietet: When I returned home at night, I would go to my room and lock the door and revel in outlandish exploits of outlandish men in faraway, outlandish cities. For the first time in my life I became aware of the life of the modern world, of vast cities, and I was claimed by it; I loved it. Though they were merely stories, I accepted them as true because I wanted to believe them, because I hungered for a different life, for something new. The cheap pulp tales enlarged my knowledge of the world more than anything I had encountered so far. To me, with my roundhouse, saloon-door, and river-levee background, they were revolutionary, my gateway to the world. (129)
Wenn man die Stadt als Anfangsort in Black Boy finden möchte, so muss man sie somit zunächst als fiktionalen Ort begreifen, der nur über die Imagination einen Anfang für das Individuum bereithält. Erst später wird die Erfahrung einer realen Stadt, zuerst Memphis und dann Chicago, damit abgeglichen. Wrights Anfänge sind einerseits stadtlos, da sie als Produkte seiner Vorstellungskraft im ländlichen Raum stattfinden, sind aber andererseits auch stadtzentriert, da sie meistens Städte als Symbol der Flucht benutzen. Dabei stellt Wright die Situation so dar, dass er sich auch in jungen Jahren schon der Diskrepanz zwischen Realität und Vorstellung bewusst war, wenn es um den Norden ging: The North symbolized to me all that I had not felt or seen; it had no relation whatever to what actually existed. Yet, by imagining a place where everything was possible, I kept hope alive in me. But where had I got this notion of doing something in the future, of going away from home and accomplishing something that would be recognized by others? (168)
Hier fällt nicht nur der rückblickend erzählende Richard Wright ein Urteil über seine damaligen Ansichten, sondern er unterstellt auch seinem jüngeren Ich diese Einsicht. Wichtig ist dabei vor allem die Orientierung auf die Zukunft hin, die Wright hier identifiziert. Er schreibt später von anderen Afro-Amerikanern, die in ihrer Haltung zur Zukunft von ihrer sozialen Situation der Unterdrückung zutiefst beeinflusst sind, ohne sich dessen bewusst zu sein:
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I began to marvel at how smoothly the black boys acted out the roles that the white race had mapped out for them. Most of them were not conscious of living a special, separate, stunted way of life. Yet I knew that in some period of their growing up – a period that they had no doubt forgotten – there had been developed in them a delicate, sensitive controlling mechanism that shut off their minds and emotions from all that the white race had said was taboo. Although they lived in an America where in theory there existed equality of opportunity, they knew unerringly what to aspire to and what not to aspire to. (196-97)
Wright selbst ist sich dieser fundamentalen und sehr effektiven Manipulation der Haltung des schwarzen Individuums zur Zukunft nicht nur bewusst, sondern widersteht ihr erfolgreich. Im Gegensatz zu vielen anderen Afro-Amerikanern kann er sich einen Anfang vorstellen, und somit genau das, was ein schwarzes Individuum im Süden der Jim-Crow-Gesetze eigentlich nie hätte denken sollen: „I was building up in me a dream which the entire educational system of the South had been rigged to stifle“ (169). Wright betont jedoch immer wieder, dass diese Vorstellungskraft des Anfangs, die Imagination eines lebenswerten Lebens, eine Ausnahmeerscheinung unter den Afro-Amerikanern im Süden ist, und dass sie ihn zum Außenseiter machte, der den sozialen Gesetzmäßigkeiten einer rassistischen Gesellschaft zuwiderläuft, obwohl die Chancen dafür eigentlich dagegen sprechen: I was in my fifteenth year; in terms of schooling I was far behind the average youth of the nation, but I did not know that. In me was shaping a yearning for a kind of consciousness, a mode of being that the way of life about me had said could not be, must not be, and upon which the penalty of death had been placed. Somewhere in the dead of the southern night my life had switched onto the wrong track and, without my knowing it, the locomotive of my heart was rushing down a dangerously steep slope, heading for a collision, heedless of the warning red lights that blinked all about me, the sirens and the bells and the screams that filled the air. (169)
Vorher schrieb Wright in einem ähnlichen Zusammenhang von „this hunger of mine, this apartness, this eternal difference“, deren Bedeutung ihm erst rückblickend voll bewusst werden sollte: „[…] I did not suspect that I would never get intimately into their lives, that I was doomed to live with them but not of them, that I had my own strange and separate road, a road which in later years would make them wonder how I had come to tread it“ (126). Wright spricht in diesen Passagen nicht nur davon, einen anderen, gefährlicheren Weg zu gehen als andere Afro-Amerikaner im Süden; er weist ausdrücklich darauf hin, dass diesen vor allem der Anfang seines Weges ein Rätsel bleiben würde. Hierbei
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handelt es sich natürlich einerseits schlicht um die Frage, die in einer Autobiographie oft beantwortet werden soll und die von Franklins modellhaftem Text vorgeformt wurde: Wie kam das Individuum dorthin, wo es nun ist? Welche Anfänge gingen dem gegenwärtigen Status voraus? Andererseits ist diese Frage in Wrights Autobiographie umso brisanter, als es genau diese Anfänge waren, die dem schwarzen Individuum im Jim-Crow-System eigentlich nie hätten möglich sein dürfen. Indem Wright sie nachzeichnet, widerspricht er deutlich der zeitgenössischen rassistischen Meinung, Afro-Amerikaner hätten keinerlei Potential, während er gleichzeitig die sozialen Mechanismen darstellt, die dafür sorgen, dass dieses Potential entweder unterdrückt, versteckt oder verleugnet wird. Genau deshalb ist Wrights Anfang an dieser Stelle noch nicht wirklich gemacht; noch geht es um „this notion of doing something in the future“ (168) und nicht um die Tat selbst. Die Imagination des Anfangs im Süden bleibt Imagination, weil diesem Anfang der Ort fehlt. Der Norden, und insbesondere die Stadt im Norden, soll erst diesen Ort bieten, und dann werden die erträumten Anfänge tatsächlich gemacht werden können. Wright kommt jedoch in Black Boy nicht allzu schnell an diesen urbanen Anfangsort. Zwar wirkt er im Vergleich zu anderen schüchternen Kindern „bold and city-wise“ (136), obwohl auch er auf einer Plantage geboren wurde; allerdings wird er immer wieder daran erinnert, dass Jackson keine wirkliche Stadt ist, sondern ein Ort, mit dem man einen Bereich von Wissen und Fähigkeiten verbindet, die definitiv nicht urban sind: „‚You mean to stand there, nigger, and tell me that you live in Jackson and don’t know how to milk a cow?‘ she demanded in surprise“ (148). Mehr und mehr wird dieses Umfeld zum Ort der Gefangenschaft und Stagnation für Wright, aus dem eine Befreiung immer unmöglicher scheint. Die qualvolle Apathie des Jugendlichen, der in einer inakzeptablen Situation festsitzt und sich nicht aus eigener Kraft befreien kann, wird in sehr knappen Worten beschrieben, als wäre sie keine wirkliche Beschreibung wert: „Loneliness. Reading. Job hunting. Vague hopes of going north. But what would become of my mother if I left her in this queer house? And how would I fare in a strange city? Doubt. Fear“ (161). Die Situation verschlimmert sich nur noch dadurch, dass Wrights soziales Umfeld ihm am Ende seiner Schulzeit gute Ratschläge für seine Zukunft geben will. Ein Mitschüler sagt ihm: „Look, Dick, you’re throwing away your future here in Jackson“ (176), und sein Onkel Tom schlägt in dieselbe Kerbe: „Now, look, Richard, this is your future…“ „Uncle Tom, I don’t care to discuss this with you,“ I said. (177)
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Als Wright sich dem biographischen Wendepunkt des Schulabschlusses nähert, steht für ihn nicht weniger auf dem Spiel als das Recht auf einen Anfang, was auch seine schroffe Antwort erklärt. Während andere Personen versuchen, ihm vorzugeben, wie er den Weg in seine Zukunft gestalten soll, beziehungsweise wie er sich diesen Weg nicht durch seine Starrköpfigkeit verbauen soll, weigert sich Wright standhaft, sich in diesem richtungsweisenden Moment so zu entscheiden, wie man es von ihm fordert. Sein Anfang ist beschlossene Sache: „I was hating my environment more each day. As soon as school was over, I would get a job, save money, and leave“ (177). Wieder verdeutlicht Wright die Radikalität dieses Schrittes, indem er ihn in knappen, unzweideutigen Worten erneut als vollständigen Bruch darstellt, der sofort nach dem Verlassen der Abschlussfeier eintritt: „I walked home, saying to myself: The hell with it! With almost seventeen years of baffled living behind me, I faced the world in 1925“ (178). Nachdem er sein Recht auf seinen eigenen Anfang behauptet hat, wird der nächste Schritt in Wrights Leben, die Fahrt nach Memphis, dementsprechend auch als erster Schritt beschrieben: „[…] I was sitting in a Jim Crow coach, speeding northward, making the first lap of my journey to a land where I could live with a little less fear. Slowly the burden I had carried for many months lifted somewhat“ (207). Auch wenn diese Bewegung nach Norden bereits eine Entlastung für Wright darstellt, so ist sie weit davon entfernt, eine vollständige Befreiung darzustellen. Noch reist Wright im „Jim Crow coach“ (207) und somit im System der Segregation, und auch wenn die Stadt Memphis zumindest eine Verbesserung gegenüber der ländlichen Umgebung für ihn ist, so gelten dort nach wie vor dieselben rassistischen Gesetze. Wichtig ist jedoch, dass diese Bewegung nach Norden immer als Etappe einer Reise begriffen wird, deren Ziel Chicago ist; die Zeit in Memphis ist immer als Übergangsphase gedacht. Wright erlebt und unternimmt bereits in diesem urbanen Raum einige Anfänge, so dass die Stadt schon als angemessenerer Ort dafür eingeführt wird. Hier beschließt er, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen, nachdem er sich aus den früheren Zwängen befreit hat: „Well, it’s my life, I told myself. I’ll see now what I can make of it…“ (207). Auch wenn dieser Satz bereits die Zeit in Memphis für den Leser als Anfang markiert, so stellt Wright auch klar, dass diese Stadt nach wie vor im Süden liegt, daher kein echter urbaner Anfangsort für das afroamerikanische Individuum sein kann und somit eher einen Übergang zum Anfang darstellen muss. Wie Franklin präsentiert auch Wright eine Ankunftsszene in der Stadt. Diese wirkt vor dem Hintergrund von Franklins sehr einflussreicher Autobiographie umso eindrucksvoller, da sie einen krassen Gegenentwurf anbietet. Es handelt sich zunächst einmal nicht um seine erste Ankunft in der Stadt, da er als Kind
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schon einmal dort gelebt hat, so dass allein dadurch schon nicht der Eindruck eines kompletten Neuanfangs erweckt wird. Ein weiterer Grund dafür ist, dass Memphis in diesen Kindheitsdarstellungen als leblos und unfruchtbar beschrieben wurde, als ein Ort, aus dessen kalter Urbanität heraus nichts entstehen kann: The stone buildings and the concrete pavements looked bleak and hostile to me. The absence of green, growing things made the city seem dead. Living space for the four of us – my mother, my brother, my father, and me – was a kitchen and a bedroom. In the front and rear were paved areas in which my brother and I could play, but for days I was afraid to go into the strange city streets alone. (10)
Die Stadt ist für Wright fremd und furchterregend, und die eigene Wohnung bietet keinen Schutz davor, sondern Enge, welche die einschränkenden Familienverhältnisse widerspiegelt. Es gelingt Wright später nach einem Kampf gegen andere Kinder, seinen Teil des städtischen Territoriums zu behaupten und sich die Stadt anzueignen: „That night I won the right to the streets of Memphis“ (18). Allerdings erfordert diese Annäherung erstens einen Akt der Gewalt, ist zweitens nicht von Dauer, und verbessert drittens die Lebensumstände für Wright in der Stadt nur in so geringem Maße, dass Memphis dadurch bei weitem noch nicht zum Ort des Anfangs werden kann. Der Siebzehnjährige ist allerdings weitaus befreiter von familiären Zwängen als das Kind, wodurch Memphis im zweiten Anlauf in der Erzählung durchaus noch zum Anfangsort werden kann, und so wird wie bei Franklin die Ankunft besonders hervorgehoben, wenn sie auch kaum gegenteiliger verlaufen könnte als bei ihm: I arrived in Memphis on a cold November Sunday morning, in 1925, and lugged my suitcase down quiet, empty sidewalks through winter sunshine. I found Beale Street, the street that I had been told was filled with danger; pickpockets, prostitutes, cutthroats, and black confidence men. After walking several blocks, I saw a big frame house with a sign in the window: ROOMS. I slowed, wondering if it was a rooming house or a whorehouse. I had heard of the foolish blunders that small-town boys made when they went to big cities and I wanted to be very cautious. I walked past the house to the end of the block, then turned and walked slowly past it again. Well, whatever it was, I would stay in it for a day or two, until I found something I was certain of. I had nothing valuable in my suitcase. My money was strapped to my body; in order for anybody to get it, they would have to kill me. (208)
Auf den ersten Blick hat Wright gegenüber Franklin den Vorteil, dass er zumindest weiß, wo er eigentlich nicht nach einer Bleibe suchen sollte, und er also
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wenigstens mit etwas Vorwissen die Stadt betritt. Er weiß jedoch, dass dies bei weitem nicht ausreicht, um ihn von seinem Status des „small-town boy“ zu befreien und zum Stadtbewohner zu machen. Es fehlt ihm letztlich doch wie Franklin das nötige Wissen über die Stadt und ihre Sitten und Gebräuche, und er ist sich seiner Unzulänglichkeiten im urbanen Raum sehr bewusst. Dabei hat es nicht (wie bei Franklin) nur den Anschein, als würde Wright in der Stadt wirklich bei Null anfangen. Während Franklin bei seiner Ankunft nur deshalb Arbeitskleidung trug, weil seine bessere Kleidung noch unterwegs war, so befindet sich in Wrights Gepäck rein gar nichts von Wert. Am deutlichsten zeigt sich der Unterschied in der Situation beider Individuen während ihrer jeweiligen autobiographischen Anfangsszene jedoch am Finanziellen. Franklin verweist auf seine mageren Mittel: „I was very hungry, and my whole Stock of Cash consisted of a Dutch Dollar and about a Shilling in Copper“ (20). Wright hingegen liegt nichts daran, einen geringen Betrag an den Anfang einer Geschichte wirtschaftlichen Erfolges zu stellen. Stattdessen zeigt seine Beschreibung deutlich, dass sein Anfang in Memphis in weitaus schwierigeren Umständen stattfand: „My money was strapped to my body; in order for anybody to get it, they would have to kill me“ (208). Diese lakonische Bemerkung erweckt den Eindruck, dass Wright diese Möglichkeit durchaus realistisch in Betracht gezogen hat, wodurch klar wird, dass hier kein Individuum eine Stadt betritt, die nur darauf wartet, ihm einen Ort für seine persönliche Erfolgsgeschichte zu bieten, sondern dass Wright einen gefährlichen Ort betritt, der dem Individuum weit weniger wohlgesonnen ist. Sein erster Weg in der Stadt führt ihn wie Franklin im Kreis herum, doch hier handelt es nicht um die erste Erfahrung und Aneignung eines positiven Stadtraums, der danach noch freundlicher wirkt, sondern um das sehr vorsichtige, skeptische Abtasten einer urbanen Gefahrenzone. Wright erwarten keine gesprächsbereiten Menschen, die ihm Essen verkaufen, sondern er gerät mitten ins Rotlichtviertel, in dem er „pickpockets, prostitutes, cutthroats, and black confidence men“ (208) erwartet. Umso überraschter ist Wright (und mit ihm der Leser), gerade in diesem Milieu ihm wohlgesonnene Menschen zu treffen, und so wird der eingangs bestenfalls ambivalente, schlimmstenfalls schädliche Raum der Stadt doch noch zum Ort eines Anfangs für ihn: „It was on reputedly disreputable Beale Street in Memphis that I had met the warmest, friendliest person I had ever known, that I discovered that all human beings were not mean and driving, were not bigots like the members of my family“ (210). Wrights Neuanfang wird dabei gleichzeitig in Abgrenzung zu seinem vorherigen Leben präsentiert, das weitaus stärker nachwirkt, als es bei Franklin in seiner Autobiographie der Fall war. Während dessen Ankunft in Philadelphia scheinbar seine frühere Identität auslöscht und
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einen kompletten Neuanfang erlaubt, kann Wright sich nicht aus seinen Leben vor Memphis lösen. Wrights zukünftige Vermieterin erkennt ihn sofort als Fremden, der wie so viele andere sein Glück in der Stadt sucht: „‚Lotta boys run off to Memphis from little towns. They think they gonna find it easy here, but they don’t‘“ (210). Sie kategorisiert ihn im Vergleich zu anderen Menschen aus Jackson, von denen er sich für sie erst noch abzugrenzen haben wird: „Where might you be from?“ she asked. „Jackson, Mississippi.“ „You act mighty bright to be from there,“ she commented. „There are bright people in Jackson,“ I said. „If there is, I got yet to see some of ‘em. Most of ‘em can’t talk. They just stand with their heads down, with one foot on top of the other and you have to guess at what they’re trying to say.“ (209)
So wie Wright frühere Veränderungen nicht als echte Anfänge präsentieren konnte, weil sie nur radikale Brüche innerhalb derselben Parameter waren, so stellt er auch in der Erzählung von seiner Ankunft in Memphis keine vollständige Befreiung des Individuums dar, die ein gründlicher Neuanfang mit sich bringen würde. Identität ist für Afro-Amerikaner im Süden der Jim-CrowGesetze nichts, mit dem man spielen oder das man gar völlig verändern könnte; es kann dort keinen schwarzen Franklin, keinen self-made man geben, da es nur weißen Menschen erlaubt und ermöglicht wird, sich in diesem Sinne selbst zu machen. Wright kann nicht an diese Geschichte des amerikanischen Traums glauben, und so betont er während der Ankunftsszene in Memphis durch das Gespräch mit der Vermieterin, dass dieser Moment zwar einen Anfang für ihn bildet, dieser aber nicht als komplette Befreiung von seiner früheren Identität verstanden werden kann. Insgesamt ergibt sich ein ambivalentes Bild zwischen Hoffnung und Frustration. Einerseits erkennt Wright durchaus die radikale (und in diesen Umständen erstaunliche) Veränderung an, die ihm widerfahren ist: „The truth was that I had – even though I fought against it – grown to accept the value of myself that my old environment had created in me, and I had thought that no other kind of environment was possible. My life had changed too suddenly“ (219). An anderer Stelle beschreibt er zum ersten Mal eine innere Ruhe, welche seine frühere Getriebenheit ablöst: „Tonight I would begin my new job. I knew how to save money, thanks to my long starvation in Mississippi. My heart was at peace. I was freer than I had ever been“ (220). Andererseits ist diese neue, ehemals unvorstellbare Umwelt, die Wright in Memphis erfährt, noch nicht befreiend genug;
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die wahrhaft radikale Veränderung, der echte Anfang, kann nicht im Süden stattfinden. Nicht zuletzt deshalb bleibt Chicago immer noch das eigentliche städtische Ziel für Wright, auch wenn er sich im urbanen Memphis befindet. Er betont gleich nach seiner Ankunft: „I would pay two dollars and a half a week for my room and I would save the balance for my trip to Chicago. All my thoughts and movements were dictated by distant hopes“ (215). Trotz dieser Ausrichtung auf die Zukunft beginnt Wright damit, sich den Stadtraum von Memphis anzueignen. Auch wenn er sich an einem Sonntag keine Arbeit suchen kann, will er doch zumindest mit seiner eigenen Verortung beginnen: „‚But I can learn the streets tonight anyway,‘ I said“ (213). Indem Wright die Straßen kennenlernt, macht er den Stadtraum zu einem Ort; durch die körperliche Wahrnehmung wird Memphis vom abstrakten, imaginären Konstrukt zu einer stückweise erfahrbaren Wirklichkeit für ihn und für den Leser. War dieser urbane Raum bei Wrights Flucht aus dem Waisenhaus Jahre vorher noch verwirrend und feindselig – „The streets seemed dangerous. The buildings were massive and dark. The moon shone and the trees loomed frighteningly“ (31) – so ist er nunmehr vertraut und sogar produktiv für Wright: While wandering aimlessly about the streets of Memphis, gaping at the tall buildings and the crowds, killing time, eating bags of popcorn, I was struck by an odd and sudden idea. If I had attempted to work for an optical company in Jackson and had failed, why should I not try to work for an optical company in Memphis? Memphis was not a small town like Jackson; it was urban and I felt that no one would hold the trivial trouble I had had in Jackson against me. (223)
Wright ist mit den Straßen vertraut genug, um sich darin absichtlich zu verlieren, und die Angst vor den hohen Gebäuden ist einem Staunen gewichen. Dieser urbane Ort erlaubt es Wright, sich konstruktive Gedanken über seine berufliche Zukunft zu machen, und er erhofft sich, dass er dort nicht dieselben Probleme am Arbeitsplatz haben werde wie auf dem Land. Wright führt ausdrücklich die Urbanität von Memphis als Grund für seine Hoffnung an, dass er dort auf weniger Rassismus stoßen würde als in Jackson. Diese verbesserte Situation spürt er auch im Alltag: „I was now rapidly learning to contain the tension I felt in my relations with whites, and the people in Memphis had an air of relative urbanity that took some of the sharpness off the attitude of whites toward Negroes“ (224). Auch wenn Wright hier verhalten optimistisch ist, sollte man allerdings nicht übersehen, dass er von „relative urbanity“ schreibt: Memphis wird nach wie vor von Chicago als Ziel afro-amerikanischer Träume von Urbanität und Freiheit übertroffen. Die Stadt ist sozusagen vorerst nur ein buchstäblich vorläufiger An-
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fang, ein erster Schritt hin zu dem Ort, an dem wirklich neu begonnen werden kann. Es ist nämlich nach wie vor ein zentraler Aspekt dieser relativen Urbanität, dass nicht allen Bewohnern auch Zugang zu ihr gewährt wird. Als Stadt im Süden ist Memphis von Segregation geprägt, und somit steht Afro-Amerikanern nicht jeder Bereich städtischen Lebens offen, wie Wright besonders schmerzhaft bemerkt, als er versucht, ein Buch von Henry Louis Mencken zu bekommen: „Now, how could I find out about this Mencken? There was a huge library near the riverfront, but I knew that Negroes were not allowed to patronize its shelves any more than they were the parks and playgrounds of the city“ (245). Hier zeigen sich die Beschränkungen, denen Wright in der rassistischen Gesellschaft des Südens unterliegt: Sein Prozess der persönlichen Bildung wird ebenso beschnitten wie seine Verortung in der Stadt. Memphis kann nie wirklich Wrights Stadt werden, da ihm die Möglichkeit einer vollständigen Erfahrung der Stadt verwehrt bleibt. Er darf sich nicht selbst verorten, sondern er wird verortet; indem ihm Räume zugewiesen werden, wird ihm auch eine Identität auferlegt. Dieser Ort, der bei aller Freiheit doch wieder schmerzlich beschränkt ist, kann somit für Afro-Amerikaner nur begrenzt oder bestenfalls gegen große Widerstände zum Anfangsort werden. Wright kommt nur durch Tricks an die Bücher, die er lesen möchte, denn er gibt sich mit einem gefälschten Brief als Kurier aus, der von einem Weißen zur Bibliothek geschickt wurde. Auch wenn Memphis als Stadt dem Individuum überhaupt erst die Möglichkeiten bereithält, sich weiterzuentwickeln, so ist die Situation kaum besser als auf dem Land, da der Zugang zu diesen Möglichkeiten beschränkt bleibt. Somit ist die Stadt im Süden immer noch ungenügend, und der Norden – und insbesondere Chicago – bleibt das Ziel afro-amerikanischer Träume, auch wenn diese oft unscharf und ironisch gebrochen geäußert werden: „I’m going north one of these days,“ Shorty would say. We would all laugh, knowing that Shorty would never leave, that he depended too much upon the whites for the food he ate. „What would you do up north?“ I would ask Shorty. „I’d pass for Chinese,“ Shorty would say. And we would laugh again. (230)
Wright ist allerdings so entschlossen, von Memphis nach Chicago weiterzuziehen, dass er sein Geld lieber für die Reisekosten spart als für Essen: „[…] I was starving myself to save money to go North“ (231). Nirgendwo wird der Drang zur Flucht aus dem Rassismus des Südens deutlicher als hier: Die Bewegung
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nach Norden wird zur lebenswichtigen Funktion, hinter der sogar die Ernährung zweitrangig wird. In Black Boy ist der Hunger6 eine komplexe Metapher, die körperliches wie geistiges Begehren mit einem grundlegenden Mangel verbindet; hier nimmt Wright den körperlichen Hunger in Kauf, um den Hunger nach Freiheit, Bildung, Kreativität und Selbstentfaltung zu stillen. Dieser vormals diffuse Hunger bekommt jedoch erst in Memphis ein Ziel und eine Richtung, als Wright sich den Zugang zur Bibliothek verschafft. Insofern kann Memphis durchaus als Anfangsort für Wright verstanden werden, da er erst dort – wenn auch ausdrücklich gegen die Gesetze der Segregation – ein wirklich fundamentales Erlebnis der Veränderung in seinem Leben hat, das durch das Vorhandensein einer Bibliothek in der Stadt ermöglicht wurde. Er findet in der Literatur jenen imaginären Anfangsort, der ihm in seiner Umwelt versagt bleibt, und er beschreibt diese Veränderung, die einem Erweckungserlebnis gleichkommt, in räumlichen Begriffen wie einen Übertritt an einen neuen Ort beziehungsweise in eine neue Welt: But what strange world was this? I concluded the book [H.L. Menckens A Book of Prefaces] with the conviction that I had somehow overlooked something terribly important in life. I had once tried to write, had once reveled in feeling, had let my crude imagination roam, but the impulse to dream had been slowly beaten out of me by experience. Not it surged up again and I hungered for books, new ways of looking and seeing. It was not a matter of believing or disbelieving what I read, but of feeling something new, of being affected by something that made the look of the world different. (249)
Die Welt, in die Wright durch die Lektüre von Menckens amerikakritischer Prosa gelangt ist, ist vor allem eine Welt des Neuen. In diesen Passagen stellt sich Wright dar, wie er am Anfang einer fundamental wichtigen Entwicklung steht. Dies ist die eigentliche Ankunftsszene in Memphis: Nicht sein Eintreffen in der Beale Street, sondern der Zugang zu Literatur markiert den Anfang, den das Individuum Richard Wright in seiner Autobiographie als zentralen Ausgangspunkt seiner persönlichen Entwicklung definiert. Zum ersten Mal schreibt Wright hier von wirklicher Veränderung, von einem echten Anfang in seinem Leben durch „books that opened up new avenues of feeling and seeing“ (252). Die Leserin erkennt die Wahrhaftigkeit dieser Entwicklung dadurch, dass Wright seine Haltung zur weißen Bevölkerung in Memphis verändert und sich darum sorgt, dass sein neuer Blick auffallen könnte: „But I could not conquer my sense
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Eine differenzierte Analyse des Hungermotivs bei Wright findet sich in Daniel Rees‘ Studie Hunger and Modern Writing: Melville, Kafka, Hamsun, and Wright.
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of guilt, my feeling that the white men around me knew that I was changing, that I had begun to regard them differently“ (250). Der Anfang wirkt so authentisch, weil Wright sich deshalb schuldig fühlt: Er weiß, dass er gegen die ungeschriebenen und geschriebenen Gesetze im rassistischen Süden verstößt, indem er sich Zugang zu Literatur verschafft und sich bildet. Würde er sich innerhalb der erlaubten Parameter verändern, wie er es bisher so oft getan hatte, gäbe es keinen Anlass zur Sorge. Indem er aber diese Struktur hinter sich lässt, tritt er in einen intellektuellen Bereich des Lebens ein, der ihm als Afro-Amerikaner ebenso verwehrt war wie die materiellen Orte städtischer Parks oder Bibliotheken. Die Literatur bietet ihm das, was er früher nie finden konnte: „nothing less than a sense of life itself“ (250). Gleichzeitig ist diese Erfahrung zutiefst unbefriedigend für Wright, da er erst durch sie wahrnimmt, an was es ihm bisher eigentlich gefehlt hat: „In buoying me up, reading also cast me down, made me see what was possible, what I had missed“ (251). Kaum ist Wright scheinbar befreit, nimmt er erst seine Situation als Gefangenschaft wahr: „I seemed forever condemned, ringed by walls“ (251). Aufgrund dieser Dualität ist es angemessen, Wrights Erfahrung als Anfang zu verstehen: Er beschreibt keine abgeschlossene Entwicklung, sondern stellt in seiner Autobiographie besonders jenen Punkt heraus, an dem er zum ersten Mal seine individuelle Position in der amerikanischen Gesellschaft erkannt hat: „I could calculate my chances for life in the South as a Negro fairly clearly now“ (252). Wright lässt keinen Zweifel daran, dass aus dieser anfänglichen Einsicht jahrelange Anstrengungen und Kämpfe resultieren werden: Could I ever learn about life and people? To me, with my vast ignorance, my Jim Crow station in life, it seemed a task impossible of achievement. I now knew what being a Negro meant. I could endure the hunger. I had to learn to live with hate. But to feel that there were feelings denied me, that the very breath of life itself was beyond my reach, that more than anything else hurt, wounded me. I had a new hunger. (250)
Dieser neue Hunger verleiht Wright neuen Antrieb, endlich in den Norden weiterzuziehen, nachdem er erkannt hat, dass er auch in Memphis nur einen Teil seines Potentials ausschöpfen können wird. Memphis kann nur insofern als Anfangsort dienen, als es Wright die Notwendigkeit eines weiteren, besseren Anfangsortes aufzeigt. Kaum hat Memphis durch seine Bibliothek diese Aufgabe erfüllt, erscheint Wright nichts mehr an der Stadt lebenswert, und er entfremdet sich von dem Ort, an dem die Welt sich ihm literarisch offenbart hat:
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My reading had created a vast sense of distance between me and the world in which I lived and tried to make a living, and that sense of distance was increasing each day. My days and nights were one long, quiet, continuously contained dream of terror, tension, and anxiety. I wondered how long I could bear it. (253)
Da Memphis zur Sackgasse geworden ist, denkt Wright offen über einen Neuanfang im Norden nach: „If I went north, would it be possible for me to build a new life then? But how could a man build a life upon vague, unformed yearnings?“ (251). Mehr und mehr rückt Chicago ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, und die Absicht, dorthin zu gehen, wandelt sich von vager Hoffnung zu einem konkreten, drängendem Bedürfnis. „My mother, Aunt Maggie, my brother, and I held long conferences, speculating on the prospects of jobs and the cost of apartments in Chicago“ (254). Als der Entschluss gefasst ist, bleibt Wright nur noch, dies seiner Umwelt mitzuteilen, was insbesondere hinsichtlich der weißen Arbeitgeber und Kollegen ein Problem ist: „I knew that southern whites hated the idea of Negroes leaving to live in places where the racial atmosphere was different“ (254-55). Die Dialoge, die Wright darstellt, zeugen von Ignoranz und Rassismus, aber auch von Hilflosigkeit angesichts eines AfroAmerikaners, der tatsächlich entschlossen ist, den Süden der Jim-Crow-Gesetze zu entfliehen: „Chicago?“ he repeated softly. „Yes, sir.“ „Boy, you won’t like it up there,“ he said. „Well, I have to go where my family is, sir,“ I said. The other white office workers paused in their tasks and listened. I grew self-conscious, tense. „It’s cold up there,“ he said. […] „You think you’ll do any better up there?“ he asked. „I don’t know, sir.“ „You seem to’ve been getting along all right down here,“ he said. […] „The North’s no good for your people, boy.“ „I’ll try to get along, sir.“ „Don’t believe all the stories you hear about the North.“ „No, sir. I don’t.“ „You’ll come back here where your friends are.“ „Well, sir. I don’t know.“
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„How’re you going to act up there?“ „Just like I act down here, sir.“ „Would you speak to a white girl up there?“ „Oh, no, sir. I’ll act there just like I act here.“ „Aw, no, you won’t. You’ll change. Niggers change when they go north.“ I wanted to tell him that I was going north precisely to change, but I did not. (255-56)
Insbesondere der letzte Satz ist aufschlussreich: Wright verschweigt absichtlich seine Motivation, sich im Norden zu verändern, da er weiß, dass einem AfroAmerikaner ein solcher persönlicher Neuanfang nicht zugestanden, ja vermutlich sogar die Möglichkeit überhaupt geleugnet werden würde. Wrights schwarze Kollegen wissen allerdings genau um die Bedeutung seines Schrittes: „You lucky bastard,“ [Shorty] said bitterly. „Why do you say that?“ „You saved your goddamn money and now you’re gone.“ „My problems are just starting,“ I said. „You’ll never have any problems as hard as the ones you had here,“ he said. „I hope not,“ I said. „But life is tricky.“ (257)
Auch wenn Wright sich hier schon relativierend über seine Bewegung nach Norden äußert, wird Chicago von seinen Mitmenschen nach wie vor als Anfangsort verstanden, auch wenn sich die jeweiligen Bewertungen radikal unterscheiden – Afro-Amerikaner werten ihn als positives Ziel der Flucht aus dem Süden, Weiße misstrauen ihm als Ort der Emanzipation, welche das Jim-Crow-System und seine Prämissen fundamental in Frage stellt. Wrights Erzählung endet in diesem Kapitel mit der Feststellung eines doppelten Anfangs: „This was the culture from which I sprang. This was the terror from which I fled“ (257). Die Dopplung besteht darin, dass Wright einerseits betont, wie stark ihn die Zeit im Süden geprägt hat und wie sehr die Anfänge seiner persönlichen Entwicklung dort verortet sind, er aber andererseits seine Flucht nach Chicago als radikalen Neuanfang präsentiert, der so gründlich wie möglich mit dieser früheren Situation brechen sollte. Wrights Leser mögen schon dadurch, dass er seinem jüngeren Ich den skeptischen Satz „‚My problems are just starting‘“ (257) in den Mund legt, am Erfolg dieser Flucht zweifeln; ob Chicago für den Protagonisten tatsächlich zu dem Anfangsort werden kann, der Memphis nur bedingt sein konnte, ist buchstäblich Ansichtssache, was an dieser Stelle durch die Publikationsgeschichte von Black Boy erklärt werden muss.
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Diese Unsicherheit beruht darauf, dass Black Boy bei der Erstveröffentlichung 1945 nicht vollständig publiziert wurde, obwohl das Manuskript damals schon komplett vorlag. Der Grund dafür liegt beim Verlag Harper & Row ebenso wie beim amerikanischen Book of the Month Club. Dieser hatte zwar 1940 mit Wrights Roman Native Son zum ersten Mal einen Text eines afroamerikanischen Autors in seinem Programm verbreitet, aber bereits Änderungen am Text gefordert, um anstößige Passagen sexueller wie politischer Natur zu streichen. Wright kam diesen Forderungen nach, und ebenso brachte er fünf Jahre später Black Boy in die Form, die eine Verbreitung über den Book of the Month Club ermöglichte, wobei die Trennung in zwei separate Publikationen ursprünglich eigentlich vom Verlag ausging (vgl. Karolides et al 23). Dies bedeutete, den zweiten Teil des Manuskripts, der in Chicago spielt, komplett wegzulassen, und dem Buch so ein weitaus hoffnungsvolleres und versöhnlicheres Ende zu geben, als es im vollständigen Text der Fall gewesen wäre. Michel Fabre sieht diese positive Färbung von Black Boy als Merkmal eines Textes, der sich dem autobiographischen Genre des slave narrative zurechnet: „It thus corresponsed to the very American type of success story characteristic of slave narratives – the journey from hard times to freedom, if not exactly from rags to riches“ (136-37). Jeff Karem beschreibt die sich ergebende Veränderung im Ton des gekürzten Textes als die Wandlung von „comprehensive critique“ zu „tale of triumph“ (695). Erst 1977 nach Wrights Tod wurde der zweite Teil unter dem Titel American Hunger veröffentlicht; 1991 erschien erstmals das gesamte Werk in einem Band als gesamte Werk als Black Boy (American Hunger) bei Library of America. Für die Einschätzung von Chicago als Anfangsort ist diese Spaltung in zwei Versionen sehr wichtig: In der gekürzten Fassung von 1945 bleibt Chicago der positiv utopische Ort, an dem Wright sich einen Neuanfang erhofft, weil er im Text nie dort ankommt; in der vollständigen Fassung wird dieses hoffnungsvolle Idealbild mit der harten Realität konfrontiert, und auch wenn Wright durchaus bedeutsame Anfänge in diesem urbanen Raum machen kann, so bleibt von seinen ursprünglichen Vorstellungen nicht mehr viel übrig. Wright verzichtete 1945 auf diesen kritischen zweiten Teil, fügte aber ein neues Schlusskapitel an den ersten Teil, das in der vollständigen Ausgabe nicht enthalten ist. Diese Absätze verdeutlichen das Bild der Dualität des Anfangs, das Wright bereits mit dem Satz „This was the culture from which I sprang. This was the terror from which I fled“ (257) skizzierte: The next day when I was already in full flight – aboard a northward bound train – I could not have accounted, if it had been demanded of me, for all the varied forces that were making me reject the culture that had molded and shaped me. I was leaving without a
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qualm, without a single backward glance. The face of the South that I had known was hostile and forbidding, and yet out of all the conflicts and the curses, the blows and the anger, the tension and the terror, I had somehow gotten the idea that life could be different, could be lived in a fuller and richer manner. As had happened when I had fled the orphan home, I was now running more away from something than toward something. But that did not matter to me. My mood was: I’ve got to get away; I can’t stay here. (BB 259)
Wright betont erneut die Radikalität des Bruches, den seine Flucht nach Norden darstellt, während er gleichzeitig anerkennt, dass die Umstände im Süden, welche diese nötig machten, ihm gleichzeitig auch jenen Hunger nach Leben verliehen haben, der ihm als positiver Antrieb dient. Er stellt seine Flucht am Ende der Ausgabe von 1945 als Anfang dar, indem er offen lässt, was ihn in Chicago erwartet. Wright schreibt zwar, er laufe mehr von etwas weg als auf etwas zu, womit dieser Anfang keineswegs nur positiv erscheint, aber da der Leser nur Wrights ersten Schritt erlebt, bleiben die weiteren Schritte seiner Imagination überlassen, und es bleibt die Möglichkeit, das Ende der schockierenden Erzählung hoffnungsvoll zu deuten. Diese Ausgabe von Black Boy endet auf für eine Autobiographie unkonventionelle Weise: Während der Autor, Erzähler und Protagonist in vorgeblicher Personalunion üblicherweise in seiner Erzählung davon berichtet, wie er an jenen Punkt gelangt ist, von dem aus er nun schreibt – wie er also seinen Anfängen nachspürt und von seiner Selbstfindung und Selbstformung spricht – so endet Black Boy genau an jenem Punkt, an dem der Prozess der Selbstfindung überhaupt erst beginnt, obwohl diesem eine lange Erzählung vorausgegangen ist. Dies erklärt Wright mit den Umständen im Süden, die eine afro-amerikanische Selbstformung praktisch unmöglich machen, und somit kann sein wirklicher persönlicher Anfang erst in dem Moment stattfinden, in dem er sich aus dem Süden wegbewegt: Well, I had never felt my „place“; or, rather, my deepest instincts had always made me reject the „place“ to which the white South had assigned me. […] Not only had the Southern whites not known me, but, more important still, as I had lived in the South I had not had the chance to learn who I was. (BB 261)
Wright stellt allerdings auch klar, dass es ein Teil seiner Selbstfindung sein würde, mit seinen Anfängen im Süden klarzukommen und sie zu verstehen. Wieder präsentiert er die Dualität des Anfangs, die einerseits einen Bruch mit der Vergangenheit, andererseits ihre Verarbeitung beinhaltet:
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I was leaving the South to fling myself into the unknown, to meet other situations that would perhaps elicit from me other responses. And if I could meet enough of a different life, then, perhaps, gradually and slowly I might learn who I was, what I might be. I was not leaving the South to forget the South, but so that some day I might understand it, might come to know what its rigors had done to me, to its children. (BB 261-62)
Bei dieser Einschätzung ist die Perspektive des rückblickend erzählenden Autobiographen wichtig, denn diese Erkenntnisse über sich selbst sind natürlich genau jene, die Wright laut eigener Aussage im Süden nie hätte erlangen können. Sie scheinen sich erst nach seiner weiteren Entwicklung im Norden ergeben zu haben, was seine Erzählung zur Erfolgsgeschichte machen würde, die selbst der beste Beleg dafür ist, dass Wrights Flucht nach Chicago ihn zu der Person gemacht hat, die er im Süden nie hätte sein dürfen. Allerdings bleibt Wright in diesen Passagen eher verhalten. In vorsichtigen Formulierungen schreibt er von „vague glimpses of life’s possibilities“ (BB 260), „a tinge or warmth from an unseen light“ (BB 261) und „the hope of its faint promise“ (BB 261), wodurch dem Leser bei allem Bedürfnis nach einem positiven Ende klar werden muss, dass dieser Anfang sehr prekär ist. Der Grund dafür liegt darin, dass die Lebensumstände im Süden das afro-amerikanische Individuum so tief geprägt haben, dass es keinen reinen Tisch machen sondern bestenfalls einen Neuanfang unternehmen kann, um sich so viel wie möglich von dieser Prägung zu lösen, während es immer in Betracht ziehen muss, dass dieser Einfluss vorhanden und nicht abzuschütteln sein könnte. Wrights Strategie im Umgang mit dieser Präsenz kann als Formung von Örtlichkeit verstanden werden, die einen Anfangsort sucht, um dem Süden einen neuen Anfang zu ermöglichen. So wie Franklin irgendwann Einfluss auf die Stadt nehmen konnte, die ihm seinen Erfolg ermöglicht hat, so will Wright Einfluss auf ganz Amerika nehmen, indem er den Süden neu verortet und ihn durch seinen eigenen Neuanfang ebenfalls erneuert: Yet, deep down, I knew that I could never really leave the South, for my feelings had already been formed by the South, for there had been slowly instilled into my personality and consciousness, black though I was, the culture of the South. So, in leaving, I was taking a part of the South to transplant in alien soil, to see if it could grow differently, if it could drink of new and cool rains, bend in strange winds, respond to the warmth of other suns, and, perhaps, to bloom… And if that miracle ever happened, then I would know that there was yet hope in that southern swamp of despair and violence, that light could emerge even out of the blackest of the southern night. I would know that the South too could overcome its fear, its hate, its cowardice, its heritage of guilt and blood, its burden of anxiety and compulsive cruelty. (BB 262)
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Wright macht hier seine persönliche Geschichte zu der des Südens; seine Autobiographie ist die des Südens, und sein Erfolg – der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits unbestritten war – wird zum Zeichen dafür, dass der Süden anders sein kann, da Wright zwar ein Produkt des Südens ist, das den Regeln des Südens gemäß eigentlich nicht existieren dürfte. Es ist letztlich eine Geschichte der Erlösung: Der Süden wird durch Wrights Projekt der Verpflanzung imaginativ erneuert, indem er seiner alten Heimat einen Weg jenseits ihrer Sünden zeigt. Dies mag übertrieben und weltfremd erscheinen, auch wenn Wright hier noch von der Zukunft und nicht von der Gegenwart spricht, allerdings geht es hier nicht um die Darstellung von Wirklichkeit, sondern um deren Imagination und Formung. Wright beschreibt in Black Boy nicht nur seine Anfänge, sondern der ganze Text ist ein Anfang, die performative Grundlage für die Entwicklung, die Wright in diesen letzten Absätzen skizziert. Die abschließenden Sätze verbinden diese utopische Hoffnung auf einen Neuanfang mit der Einsicht in die Realität einer rassistischen Gesellschaft: With ever watchful eyes and bearing scars, visible and invisible, I headed North, full of a hazy notion that life could be lived with dignity, that the personalities of others should not be violated, that men should be able to confront other men without fear or shame, and that if men were lucky in their living on earth they might win some redeeming meaning for their having struggled and suffered here beneath the stars. (BB 262)
So endet Black Boy in der Ausgabe von 1945 mit abstrakten, universellen Gedanken über Gerechtigkeit und Menschenwürde. Im vollständigen Werk fehlen diese Passagen, die erste Sektion endet mit dem Satz „This was the culture from which I sprang. This was the terror from which I fled“ (257), und der zweite Teil des Textes führt die persönliche Geschichte Wrights fort, ohne dass der Leser von seinen Hoffnungen für den Süden erfahren würde. Endlich gelangt Wright nach Chicago, an den erhofften Ort der Anfänge und wieder trägt die Ankunftsszene schon die folgenden Ereignisse in sich: My first glimpse of the flat black stretches of Chicago depressed and dismayed me, mocked all my fantasies. Chicago seemed an unreal city whose mythical houses were built on slabs of black coal wreathed in palls of gray smoke, houses whose foundations were sinking slowly into the dark prairie. Flashes of steam showed intermittently on the wide horizon, gleaming translucently in the winter sun. The din of the city entered my consciousness, entered to remain for years to come. The year was 1927.
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What would happen to me here? Would I survive? My expectations were modest. I wanted only a job. (261)
In der Einleitung zur berühmten soziologischen Studie7 Black Metropolis: A Study of Negro Life in a Northern City von St. Clair Drake und Horace R. Cayton erklärt Wright seine Motivation (und die der beiden Autoren), nach Chicago zu ziehen, mit den folgenden Worten: „all three of us migrated to Chicago to seek freedom, life […]“ (xvii). Diese hoffnungsvolle Suche trifft in obiger Ankunftsszene auf die harte urbane Realität, und die Stadt entpuppt sich keineswegs als das Paradies, das sich so viele Afro-Amerikaner im Süden vorstellen, sondern präsentiert sich als industrieller Moloch, der langsam von dem Land verschluckt wird, auf dem er gebaut wurde.8 Dieses Chicago ist kein Ort des Anfangs und der Produktivität, sondern eine Stadt, die eine Tendenz zum Verfall, zum Ende aufweist. Der Anblick vernichtet Wrights Hoffnungen auf einen persönlichen Anfang und ein lebenswertes Leben zwar nicht, stutzt sie aber sehr schnell auf ein realistisches Maß zurecht. Zugleich erklärt Wright, dass die Stadt (über ihren allgegenwärtigen Lärm) zu einem Teil von ihm werden wird, so wie der Süden ein Teil von ihm war. Auch wenn dies durch den negativ besetzten Ausdruck „din“ ein wenig wünschenswerter Umstand zu sein scheint, so kann man ihn jedoch auch positiv interpretieren: Die Stadt nimmt zumindest einen Teil des Bewusstseins ein, das vorher fast vollständig durch den Süden der Jim-
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Carla Capetti liest in Kapitel 9 in Writing Chicago: Modernism, Ethnography, and the Novel Wrights Autobiographie selbst als soziologische Fallstudie, als „exemplary product of the sociological imagination of the 1930s“ (209).
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Als Wright später nach New York kommt, fällt ihm besonders der Kontrast zu dieser Industrielandschaft Chicagos auf: „Long used to the flat western prairie, I was startled by my first view of New York. We came in along the Hudson River and I stared at the sweep of clean-kept homes and grounds. But where was the smoke pall? The soot? Grain elevators? Factories? Stack-pipes? The flashes of steam on the horizon? The people on the sidewalks seemed better dressed than the people of Chicago. Their eyes were bold and impersonal. They walked with a quicker stride and seemed intent upon reaching some destination in a great hurry“ (346). Durchweg positiv wird Wright sich allerdings erst über eine Stadt äußern, als er 1946 nach Paris zieht: „Paris is all I ever hoped to think it was, with a clear sky, buildings so beautiful with age that one wonders how they happen to be, and with people so assured and friendly and confident that one knows that it took many centuries of living to give them such a poise. There is such an absence of race hate that it seems a little unreal. Above all, Paris strikes me as being truly a gentle city, with gentle manners“ (Thaddeus 212).
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Crow-Gesetze geprägt war, und somit findet eine neue Prägung statt, die nur besser sein kann. Diese Veränderung ist ein bedeutsamer Teil der Ankunftsszene: „The train rolled into the depot. Aunt Maggie and I got off and walked slowly through the crowds into the station. I looked about to see if there were any signs saying: FOR WHITE – FOR COLORED“ (261). Die Stadt ist hier nicht mehr nur Architektur, sondern auch der Ort der Menschenmassen, und am wichtigsten an dieser Masse ist, dass sie nicht durch Segregation strukturiert ist. Wright findet das Schild nicht, nach dem er instinktiv sucht, und somit kann endlich ein Leben jenseits der Prägung durch den Rassismus im Süden für ihn beginnen (auch wenn er bald erfahren wird, dass auch der Norden keineswegs frei von Rassismus ist). Die Ambivalenz, die Wright dem Neuanfang im Norden während seiner Flucht aus dem Süden beimaß, bleibt allerdings auch bei seiner Ankunft vorhanden. Während die Befreiung aus den Jim-Crow-Gesetzen einen positiven Anfang bedeutet, wird Wright auch auf negative Beweise bewusst, dass er sich ganz am Anfang eines Lebensabschnitts an einem Ort befindet, der ihm nicht vertraut ist, und er erlebt den Schrecken der Ungewissheit und Verunsicherung, die einem Anfang innewohnen können: […] because everything was so new, I began to grow tense again, although it was a different sort of tension than I had known before. I knew that this machine-city was governed by strange laws and I wondered if I would ever learn them. As we waited for a streetcar to take us to Aunt Cleo’s home for temporary lodging, I looked northward at towering buildings of steel and stone. There were no curves here, no trees; only angles, lines, squares, brick and copper wires. Occasionally the ground beneath my feet shook from some faraway pounding and I felt that this world, despite its massiveness, was somehow dangerously fragile. Streetcars screeched past over steel tracks. Cars honked their horns. Clipped speech sounded about me. As I stood in the icy wind, I wanted to talk to Aunt Maggie, to ask her questions, but her tight face made me hold my tongue. I was learning already from the frantic light in her eyes the strain that the city imposed upon its people. I was seized by doubt. Should I have come here? But going back was impossible. I had fled a known terror, and perhaps I could cope with this unknown terror that lay ahead. (262)
Nicht umsonst trägt die zweite Sektion des Buches, die in Chicago spielt, den Titel „The Horror and the Glory“. Das Neue bringt eine ebenso neue Anspannung mit sich, und Wright sorgt sich darum, ob ihm diese Stadt jemals vertraut werden würde. Die Beschreibung der Stadt verheißt in diesen Absätzen nichts Gutes, und die Darstellung versetzt den Leser in Wrights Position der furchtsa-
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men Distanz. Die Stadt wird mit einer Maschine verglichen, sie ist laut, gewaltig und kalt, aus Stahl und Stein, und es gibt nur rechte Winkel und verbaute Materialien, keine organischen oder natürlichen Formen und Objekte. Gleichzeitig interpretiert Wright die Erschütterungen als Beleg für die Zerbrechlichkeit der Stadt, die parallel zu seinem prekären Anfang zu lesen ist. Dieser Umstand überträgt sich auch auf die Bewohner: „I was baffled. Everything seemed makeshift, temporary. I caught an abiding sense of insecurity in the personalities of the people around me“ (263). Wrights Tante Maggie weist bereits die psychischen und physischen Spuren auf, welche die Stadt bei ihren Bewohnern zu hinterlassen scheint, und als Wright erkennt, dass dieser Ort seinen Tribut fordert, zweifelt er an seiner Entscheidung, dort zu leben. Bemerkenswerterweise wird hier aber die Unwägbarkeit des Anfangs zu einem vorsichtig positiven Umstand umgewertet. Wright fürchtet zwar „this unknown terror that lay ahead“ (262), weiß aber auch, dass er diesem zumindest potentiell angemessen begegnen können mag, während der „known terror“ (262) des Südens unumstößlich und definitiv nicht zu verarbeiten war. Wright bleibt bei dieser Ankunftsszene ein Außenseiter, der sich noch nicht in der Stadt zurechtfindet, während die anderen Stadtbewohner schon mit der Stadt verschmolzen zu sein scheinen: The car swept past soot-blackened buildings, stopping at each block, jerking again into motion. The conductor called street names in a tone that I could not understand. People got on and off the car, but they never glanced at one another. Each person seemed to regard the other as a part of the city landscape. (262)
Positiv gesprochen handelt es sich hierbei um jene Vertrautheit mit einem Ort, die Wright noch erlangen muss; negativ gesehen stellt diese Verschmelzung aber auch den Verlust an Individualität in der Masse dar, den das Leben in einer Millionenstadt mit sich bringt. Wright erkennt, dass Chicago zwar durchaus ein Anfangsort voller Potential für ihn ist, er aber gleichzeitig auch das Risiko eines Anfangs auf sich nehmen muss. Das mögliche Scheitern wird ihm von seiner Tante vor Augen geführt, der die Stadt kein Glück gebracht hat: „My aunt […] was beaten by the life of the city, just as my mother had been beaten“ (263). Wright betont diese Dualität, indem er schreibt: „I had fled one insecurity and had embraced another“ (263). Allerdings enthält diese Formulierung einen positiven Rest an Optimismus, denn zumindest hat Wright sich bewusst für die Unsicherheit in Chicago entschieden, während er der Unsicherheit im Süden nur mit seiner Flucht begegnen konnte und keine andere Handlungsmöglichkeit hatte. Sein erster Morgen in Chicago erscheint ihm trotzdem so als hätte er den Süden nie verlassen: „The house was as cold to me as the southern streets had
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been in winter“ (263). In diesen Absätzen präsentiert Wright eine Ankunftsszene, die durchdrungen ist von der überwältigenden Zwiespältigkeit, die sich ihm durch den Anfang in Chicago bietet. Seine Beschreibung verweigert dem Leser eine eindeutige Interpretation dieser Ankunft als positiv oder negativ und vermittelt dadurch nicht nur autobiographisch Wrights eigene damalige Unsicherheit, sondern stellt auch das positive, fast utopische Bild von Chicago als Anfangsort in Frage, das im ersten Teil des Textes aufgebaut wurde. Somit hinterfragt Wright auch die Idee des amerikanischen Traums, Franklins kapitalistisches Märchen vom self-made man, indem er zeigt, dass für Afro-Amerikaner ein rein positiver Anfang eines erfolgreichen, selbstbestimmten Lebens auch im Norden nicht möglich war. In einem auktorialen Kommentar des Autobiographen, der sein jüngeres Ich und dessen Umwelt kommentiert, verstärkt Wright noch das Bild seine prekären Anfangs in Chicago: (Slowly I began to forge in the depths of my mind a mechanism that repressed all the dreams and desires that the Chicago streets, the newspapers, the movies were evoking in me. I was going through a second childhood; a new sense of the limit of the possible was being born in me. What could I dream of that had the barest possibility of coming true? I could think of nothing. And, slowly, it was upon exactly that nothingness that my mind began to dwell, that constant sense of wanting without having, of being hated without reason. A dim notion of what life meant to a Negro in America was coming to consciousness in me, not in terms of external events, lynchings, Jim Crowism, and the endless brutalities, but in terms of crossed-up feeling, of psyche pain. I sensed that Negro life was a sprawling land of unconscious suffering, and there were but few Negroes who knew the meaning of their lives, who could tell their story.) (267)
Wright verallgemeinert seine damalige Situation und kommentiert so die Situation der Afro-Amerikaner in den gesamten USA Mitte des 20. Jahrhunderts zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Black Boy. Wright präsentiert seine Lage als paradox: Einerseits befindet er sich in einer zweiten Kindheit, an einem Punkt des Neuanfangs, aber andererseits hat er keinerlei Hoffnung auf echte Veränderung. Um diese Situation grundlegend zu verändern, fordert er nichts weniger als ein neues Amerika, einen Neuanfang der USA: As I, in memory, think back now upon those girls and their lives I feel that for white America to understand the significance of the problem of the Negro will take a bigger and tougher America than any we have yet known. I feel that America’s past is too shallow, her national character too superficially optimistic, her very morality too suffused with color hate for her to accomplish so vast and complex a task. […] And I really do not think
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that America, adolescent and cocksure, a stranger to suffering and travail, an enemy of passion and sacrifice, is ready to probe into its most fundamental beliefs. (272-73)
Die Forderung nach diesem Anfang ist zugleich selbst dieser Anfang: Wright verlangt nicht nur nach einer grundlegenden Veränderung der USA, sondern er versucht, sie durch seinen Text anzustoßen und letztlich herbeizuführen. Black Boy verfolgt nicht nur das Ziel der Autobiographie, dem Leser die Geschichte eines Individuums und seiner Zeit zu erzählen, sondern es ist auch ein dezidiert politisches Buch, das versucht, seine eigene Zeit zu beeinflussen. Wright bezeichnet es später als „the single aim of my living,“ dem Leser durch seine Texte eine neue Welt vorzuführen, so wie ihm Literatur neue Welten eröffnet hat: „an emotional climax that would drench the reader with a sense of a new world“ (280). Die neue Welt, mit der sich Wright in Chicago mehr und mehr vertraut macht, entpuppt sich jedoch zunehmend als selbst erneuerungswürdig. Wright verortet dort und in dieser Zeit den Moment seiner persönlichen Formung; im Chicago der späten zwanziger Jahre erlebt Wright seinen letzten prägenden Anfang: „At twenty years of age the mold of my life was set, was hardening into a pattern, a pattern that was neither good nor evil, neither right nor wrong“ (283). Dabei ignoriert Wright durch seine Konzentration auf Literatur aber einen anderen Anfang von globaler Bedeutung, der sich auch auf ihn auswirken wird: „I sensed that something terrible was beginning to happen in the world, but I tried to shut it out of my mind by reading and writing“ (287). Die Wirtschaftskrise von 1929 führt nicht nur dazu, dass Wright arbeitslos wird, sondern sie gewährt ihm auch neue Einsichten in das gesellschaftliche System der USA. Chicago verliert unter diesen Umständen fast vollständig sein Anfangspotential und wird zum Zentrum von Armut, Not und Hunger, was im Stadtbild sichtbar wird: „Unemployed men loitered in doorways with blank looks in their eyes, sat dejectedly on front steps in shabby clothing, congregated in sullen groups on street corners, and filled all the empty benches in the parts of Chicago’s South Side“ (288). Wright wendet sich angesichts der wirtschaftlichen Not immer mehr dem Kommunismus zu, wird allerdings immer ein bestenfalls angespanntes Verhältnis dazu haben, was nicht zuletzt an der Kommunistischen Partei liegt, in der Wright nie wirklich seinen Platz findet. Ab diesem Zeitpunkt wird Black Boy zur Geschichte dieser schwierigen Beziehung, die durchaus auch eine Abrechnung darstellt. Wright stellt sein kommunistisches Engagement bemerkenswerterweise nicht als Anfang dar, sondern eher als Folge eines Endes, das sich durch seine Arbeitslosigkeit und Not ergibt. „I had not done what I had come to the city to do. […] As I walked toward the Cook County Bureau of Public Welfare to plead
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for bread, I knew that I had come to the end of something“ (299). Wright deutet seinen sozialen Abstieg als Scheitern in der Stadt, und der dadurch nötige Neuanfang hat nichts mit Franklins Ideal von Fleiß und Erfolg zu tun, sondern ist mehr von Verzweiflung und Notwendigkeit geprägt. Wrights Wunsch, diese Situation für sich, für Afro-Amerikaner und für das Proletariat zu verbessern, führt dazu, dass er aktives Mitglied der kommunistischen Partei wird, wo er allerdings aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit oft skeptisch als Intellektueller betrachtet wird. Im Gegenzug ist er mit vielen Aspekten der kommunistischen Bewegung in den USA nicht einverstanden; beispielsweise kritisiert er insbesondere die Unfähigkeit oder Weigerung, Neues zuzulassen: „An hour’s listening [to Negro Communists in Washington Park] disclosed the fanatical intolerance of minds sealed against new ideas, new facts, new feelings, new attitudes, new hints at ways to live“ (295). Wright gebraucht auch hier wieder Bilder des Anfangs, um Kritik zu üben, und er stellt die Kommunisten als ebenso unfähig dar, Anfänge zuzulassen, wie er es mit den Rassisten im Süden der Jim-Crow-Gesetze getan hat. Dabei sieht Wright eigentlich gerade in der Wirtschaftskrise das Potential für einen Neuanfang in Amerika, den die Kommunisten allerdings nicht für sich nutzbar zu machen wissen. Diese Einsicht kommt ihm beim Anblick der Menschen bei der Armenspeisung: These people now knew that the past had betrayed them, had cast them out; but they did not know what the future would be like, did not know what they wanted. Yes, some of the things that the Communists said were true; they maintained that there came times in history when a ruling class could no longer rule, and I sat looking at the beginnings of anarchy. To permit the birth of this new consciousness in these people was proof that those who ruled did not quite know what they were doing, assuming that they were trying to save themselves and their class. Had they understood what was happening, they would never have allowed millions of perplexed and defeated people to sit together for long hours and talk, for out of their talk was rising a new realization of life. And once this new conception of themselves had formed, no power on earth could alter it. (300-01)
Nicht nur dass Wright die Anfänge eines neuen Bewusstseins im amerikanischen Proletariat beobachtet, er fühlt sich sogar dazu in der Lage, dieses Bewusstsein zu formen und den Anfang mit ihnen und für sie zu machen: „I had felt the possibility of creating a new understanding of life in the minds of people rejected by the society in which they lived […]“ (301). Der Anfang dieser neuen Denkweise ist für Wright der Beweis dafür, dass Amerika verändert werden kann und nicht so sein muss, wie es ist. Wenn es diese „new realization of life“ (301) zu-
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lässt, so ist es auch zu einem Neuanfang imstande (auch wenn dieser die Herrschaftsverhältnisse gründlich verändern würde). Indem Wright sich dem Vorantreiben dieses Anfangs verschreibt, durchlebt er ein weiteres Mal selbst einen Anfang, und endlich kann Chicago als angemessener Ort dafür gelten, da Wright nur im urbanen Raum das Potential der Masse in der Krise hat erkennen können: I was slowly beginning to comprehend the meaning of my environment; a sense of direction was beginning to emerge from the conditions of my life. I began to feel something more powerful than I could express. My speech and manner changed. My cynicism slid from me. I grew open and questioning. I wanted to know. (301)
In anderen Worten lernt Wright, seine Umwelt zu lesen und zu interpretieren. Sein Bedürfnis nach Bildung und Wissen geht mit der Notwendigkeit einher, die Wirklichkeit zu verstehen und sie zu verändern. Sein eigenes Potential bringt ihn mit anderen Kommunisten zusammen, die dem Leser als geballte Konzentration von menschgewordenen Anfängen präsentiert werden: He took me to an office and introduced me to a Jewish boy who was to become one of the nation’s leading painters, to a chap who was to become one of the eminent composers of his day, to a writer who was to create some of the best novels of his generation, to a young Jewish boy who was destined to film the Nazi invasion of Czechoslovakia. I was meeting men and women whom I would know for decades to come, who were to form the first sustained relationships in my life. (317)
1934 tritt Wright in die kommunistische Partei ein. Endlich hat er ein Milieu gefunden, indem er zukunftsorientiert denken und tatsächlich Anfänge wagen kann. Die kommunistische Szene Chicagos erlaubt ihm (zeitweise) intellektuelle Arbeit, die direkt politischen Einfluss auf Gegenwart und Zukunft nehmen soll. Beispielsweise ist Wright zeitweise wirklich überzeugt, politisch-kulturelle Aufbauarbeit leisten zu können, als er im Theater arbeitet: „I was happy. At last I was in a position to make suggestions and have them acted upon. I was convinced that we had a rare chance to build a genuine Negro theater“ (364). Allerdings währt diese hoffnungsvolle Stimmung nicht lange, und Wright wird nicht zuletzt aufgrund seiner Weigerung, seine schriftstellerische Tätigkeit den Bedürfnissen der Partei anzupassen, bald in interne Machtkämpfe der Kommunisten hineingezogen, die sogar in seiner Denunziation gipfeln. Wright erkennt, dass ihm erneut die Anfänge unmöglich gemacht werden, die er sich vorgestellt hatte, und so siegt sein Individualismus (und sein Anspruch an sein
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künstlerisches Schaffen) über den organisierten Kommunismus: „I wanted to be a Communist, but my kind of Communist“ (358). Der Ausschluss aus der Organisation, der sich auch als soziale Entfremdung vollzieht, schwächt Wrights kommunistische Überzeugungen kaum ab, aber er steht den Strukturen, welche die kommunistische Ideologie in den USA vorantreiben und kontrollieren, überaus skeptisch und sogar feindselig gegenüber. Wieder findet er sich in einer isolierten Position, und wieder wird die Stadtbeschreibung zum Medium dieser Darstellung für den Leser: „I went into the dark Chicago streets and walked home through the cold, filled with a sense of sadness. Once again I told myself that I must learn to stand alone“ (375). Später verschlimmert sich diese Situation sogar noch, als Wright während einer Demonstration der Kommunisten auf deutliche Ablehnung stößt und als Verräter beschimpft wird. Auch hier wird wieder ausdrücklich die Stadt als Schauplatz betont, als wäre die Szene vor dieser urbanen Kulisse noch unerträglicher als anderswo: „For a moment it seemed that I had ceased to live. I had now reached that point where I was cursed aloud in the busy streets of America’s second largest city. It shook me as nothing else had“ (377-78). Die Wortwahl impliziert, dass diese Beschimpfungen Wright nicht zuletzt deshalb besonders treffen, weil sie in Chicago geäußert werden, einer Stadt, die wenige Jahre zuvor utopisches Potential verheißen hat und selbst bei allen Schwierigkeiten noch mehr Offenheit und Anfänge bereitzuhalten schien als jeder andere Ort. Wright zerstört aber selbst in dieser kritischen Szene nicht das Bild von Chicago als Anfangsort, sondern er regeneriert es, indem er seine Distanzierung und Befreiung von den Anfeindungen seiner ehemaligen Genossen erneut vor dem urbanen Hintergrund inszeniert: I followed the procession to the Loop and went into Grant Park Plaza and sat upon a bench. I was not thinking; I could not think. But an objectivity of vision was being born within me. A surging sweep of many odds and ends came together and formed an attitude, a perspective. They’re blind, I said to myself. Their enemies have blinded them with too much oppression. (381)
Wright entwirft in diesem weiteren Entwicklungsschritt seiner Persönlichkeit eine deutliche Dichotomie zwischen seinen eigenen Erkenntnissen, für die er Objektivität geltend macht, und den Ansichten der anderen, der Kommunisten, die er als ideologisch kennzeichnet und verwirft. Die folgenden Absätze vertiefen diesen Bruch, und sie präsentieren ein weiteres Mal ein Bild des Anfangs des isolierten Individuums, das sich von allen sozialen Zwängen befreien muss:
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The days of my past, of my youth, were receding from me like a rolling tide, leaving me alone upon high, dry ground, leaving me with a quieter and deeper consciousness. […] My thoughts seemed to be coming from somewhere within me, as by a power of their own: It’s going to take a long and bloody time, a lot of stumbling and a lot of falling, before they find the right road. They will have to grope about blindly in the sunshine, butting their heads against every mistake, bruising their bodies against every illusion, making a million futile errors and suffering for them, bleeding for them, until they learn how to live, I thought. (382)
Das Urteil, das Wright über seine Mitmenschen fällt, könnte kaum härter ausfallen, und er impliziert, dass er bereits den richtigen Weg gefunden hat, den alle anderen noch zu suchen haben, ohne es zu wissen. Indem Wright das Bild einer Straße gebraucht, impliziert er, dass es sich bei diesem wahrhaftigen Zustand um einen Prozess handelt und nicht um ein letztes Ziel, so dass er seine Autobiographie nicht mit einem Ende abschließt, sondern seine weitere persönliche Entwicklung offen lässt, deren Anfänge allerdings so gemacht wurden, dass sie erwartungsgemäß in den Bahnen verlaufen wird, die das Individuum als richtig erkannt hat. Kurze Zeit vorher in New York erkannte er die Notwendigkeit, erneut einen Anfang zu machen, und zwar erneut allein: „I lay in bed thinking: I’ve got to go it alone… I’ve got to learn how again…“ (350). Auf dem Heimweg vom Park in Chicago ist die Grundvoraussetzung dafür erfüllt, denn Wright bezeichnet sich als „alone, really alone now“ (383). Wrights Autobiographie beinhaltet somit nicht nur seine Selbstbefreiung aus dem rassistischen Süden, sondern auch seine Selbstbefreiung von den sozialen Zwängen im Norden, die insbesondere aus dem Versuch der Kommunisten bestanden haben, Wrights schriftstellerisches Schaffen kontrollieren zu wollen.9 Auch wenn Wright weitgehend mit der kommunistischen Ideologie sympathisiert, so fordert sein ästhetischer Anspruch an sich selbst diesen letzten Neuanfang in Black Boy, und dieser soll wiederum ein Anfang für jene sein, die Wright als fehlgeleitet und suchend bezeichnet hat: „Perhaps, I thought, out of my tortured feelings I could fling a spark into this darkness. I would try, not because I wanted to but because I felt that I had to if I were to live at all“ (383). An dieser Stelle reflektiert Wright über die Orte, an denen er bisher gelebt hat, und er beginnt ausdrücklich mit der Stadt, da diese einst das größte Potential verheißen hat:
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Besonders in dieser Befreiungsgeste des Schriftstellers zeigt sich die Nähe von Black Boy zu Künstlerromanen wie etwa James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man, die Wrights Autobiographie generell aufweist.
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Well, what had I got out of living in the city? What had I got out of living in the South? What had I got out of living in America? I paced the floor, knowing that all I possessed were words and dim knowledge that my country had shown me no examples of how to live a human life. All my life I had been full of a hunger for a new way to live… (383)
Wrights Frage, was er durch das Leben in der Stadt gewonnen hat, ist weder für ihn noch für den Leser leicht zu beantworten, weil er sich durchweg zwiespältig über die urbane Existenz äußert. Bei aller Ambivalenz wird jedoch in Black Boy deutlich, dass die Stadt – Memphis weniger, Chicago mehr – in der Tat ein Anfangsort für Wright ist und genau darin der Gewinn für ihn bestand. Natürlich ist keine der beiden Städte für Wright ein so fast nur positiver Anfangsort, wie Franklin sein Philadelphia dargestellt hat, und keine erlaubt eine so positive Umwertung des Negativen, wie es Whitman mit Washington, D.C. gemacht hat, aber dennoch lässt die Autobiographie keine Zweifel daran, dass Wrights Entwicklung nur in diesen urbanen Räumen die Entwicklung möglich gewesen ist. Vom Zugang zur Bibliothek bis hin zur Selbstbefreiung des Künstlers von politischer wie ästhetischer Bevormundung sind alle bedeutsamen Ereignisse, die als Anfänge verstanden werden können, in einer Stadt verortet. Gleichzeitig wird dem Leser die Problematik der Selbstverwirklichung in einer rassistischen und kapitalistischen Gesellschaft in Begriffen des Anfangs oder vielmehr mittels verhinderter, verbotener oder verkümmerter Anfänge vermittelt. Black Boy wird so nicht nur zum Dokument der Stadt als bestenfalls problematischer Anfangsort im 20. Jahrhundert, sondern auch zum literarischen Beleg ihrer Produktivkraft, da der Text seinen Anfang und die Anfänge seines Autors in der Stadt verortet und sich somit dem Rassismus widersetzt, welcher Afro-Amerikanern eben jene Anfänge von vornherein abspricht. Diesen Anfang hat Wright bei allen Differenzen mit Franklin und Whitman gemein: Sein Text will selbst Anfang sein, um die jeweilige Stadt und mit ihr ganz Amerika zu verändern.
2.4
DON DELILLO UND NEW YORK CITY
Wie eingangs erwähnt sind solche Erneuerungsversuche in der amerikanischen Literatur eng mit Krisenzeiten verknüpft, in denen notwendigerweise ein Neuanfang imaginiert und herbeigeführt werden soll. Bei Wright im 20. Jahrhundert ist der Rassismus in Amerika die permanente Krise, die überwunden werden muss (und die Klassengesellschaft am besten gleich dazu); bei Whitman im 19. Jahrhundert bestand die Krise vor allem im Bürgerkrieg, der ein Ende der USA hätte bedeuten können. Im 21. Jahrhundert ist die Krise der USA sogar auf den Tag
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genau datierbar: Die Anschläge vom 11. September 2001 werden oftmals mindestens als traumatisches Ereignis für die USA bezeichnet, auch aber sogar als Auslöser einer globalen Zeitenwende. 9/11 ist zum Schlagwort geworden, zum Sammelbegriff für eine Vielzahl an Ereignissen, Bildern, Erlebnissen und Diskursen. Auch wenn sich mit einigem zeitlichen Abstand zeigte, dass der Begriff des nationalen Traumas meistens viel zu vorschnell und unüberlegt gebraucht wird und das Ereignis keineswegs die fundamentale Veränderung der Welt herbeigeführt hat, wie einige es erwarteten und noch immer behaupten, so bleibt unbestritten, dass 9/11 ein zutiefst prägendes Ereignis für die USA im 21. Jahrhundert war. Die Debatte um das angemessene Gedenken hielt beispielsweise auch ein Jahrzehnt später noch an; nach einer endlosen Diskussion um den Entwurf für die Neubauten auf Ground Zero erhitzten sich 2010 nochmals die Gemüter, als eine Moschee in der Nähe erbaut werden sollte. Hier zeigt sich die Schlagseite des Begriffs 9/11: Obwohl nicht nur die beiden Türme des World Trade Center bei den Anschlägen zerstört wurden, sondern auch das Pentagon getroffen wurde und ein viertes Flugzeug auf freiem Feld zerschellte, ohne sein Angriffsziel zu erreichen, konzentriert sich der Diskurs über 9/11 sehr stark auf New York City, nicht zuletzt aufgrund der Direktübertragung der Ereignisse im Fernsehen. Auch wenn 9/11 wohl nicht den oftmals beschriebenen Bruch darstellt, der eine Trennung in die Zeit davor und die Zeit danach nötig machen würde, so haben die Ereignisse unbestritten starke politische, soziale und kulturelle Nachwirkungen. Die Kriege im Irak und in Afghanistan, der ausgerufene „War on Terror“, die Beschränkung der Bürgerrechte durch „Homeland Security“ oder ein bezeichnender Wandel von fast globaler Solidarität mit den USA kurz nach 2001 zu einem deutlichen Anti-Amerikanismus sind die wichtigsten Beispiele für diese Folgen. Auch in der Literatur zeigt sich 9/11 als prägendes Ereignis, auch wenn die Rede von „a new body of literature – literature after 9/11“ (Keniston und Quinn 3) nicht weniger übertrieben ist als die bereits erwähnten Darstellungen von 9/11 als Zeitenwende.10 Insbesondere ein Roman wurde mit Spannung erwartet, da sein Autor ebenso als Stimme von New York City gilt wie als weitsichtiger Kommentator des Terrorismus: Falling Man von Don DeLillo, 2007 erschienen. Dieser Roman soll im Folgenden auf die Repräsentation der Stadt New York City als Anfangsort hin untersucht werden, um zu zeigen, dass eine solche Darstellungsweise auch im 21. Jahrhundert noch ihren
10 Eine ebenso umfassende wie differenzierte Analyse des amerikanischen Romans zu 9/11 bietet Birgit Däwes in ihrer Studie Ground Zero Fiction: History, Memory, and Representation in the American 9/11 Novel.
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festen Platz in der amerikanischen Literatur findet, auch wenn DeLillo sie (wie jeder der bisher betrachteten Autoren) natürlich modifiziert und erweitert hat. Anders als bei den Texten von Franklin, Whitman und Wright handelt es sich bei Falling Man nicht um eine Autobiographie oder einen journalistischen oder privaten Text, sondern um ein fiktionales Werk. Wie viele von DeLillos Veröffentlichungen ist Falling Man ein Stadtroman über New York City, jedoch ist es sein erstes Buch, das sich direkt mit 9/11 beschäftigt. (Der Roman Cosmopolis wurde zwar 2003 veröffentlicht, spielt jedoch im Jahr 2000.) Diese Direktheit ist wörtlich zu nehmen: Falling Man ist eines der wenigen Werke zum Thema, die tatsächlich die Ereignisse des 11. September 2001 darstellen und nicht nur deren Folgen, und es ist praktisch einzigartig darin, dass es die Anschläge sozusagen aus ihrer Innenperspektive schildert – die Erzählperspektive schwenkt in einer zentralen Textstelle erst im Moment des Einschlags des Flugzeugs vom Terroristen zum Protagonisten Keith Neudecker, der gerade im World Trade Center arbeitet. Allerdings umfasst Falling Man bei weitem nicht nur diesen kurzen Zeitraum, sondern auch die darauffolgenden Jahre, und indem der Text nicht nur von den Anschlägen handelt, sondern etwa auch von den Protesten gegen den Irakkrieg, zeigt er deutlich, dass man den Begriff 9/11 keineswegs nur auf den 11. September 2001 reduzieren kann. Außerdem erzählt Falling Man vor allem eine Familiengeschichte und konzentriert sich besonders auf Keith, seine Frau Lianne, von der er bis dahin getrennt lebte, und ihren gemeinsamen Sohn Justin. Diese Gewichtung in einem Roman, der eigentlich von 9/11 handelt, kam bei den Kritikern nicht gut an; Michiko Kakutani urteilte beispielsweise in der New York Times: „Although flashes of Mr. DeLillo’s extraordinary gifts for language can be found in his depiction of the surreal events Keith witnessed on 9/11 […] the remainder of the novel feels tired and brittle.“ Man kann diese Konzentration auf sehr wenige Charaktere allerdings auch als traditionelles Darstellungsmittel des Stadtromans verstehen, das DeLillo auf das Thema 9/11 überträgt: So wie eine Stadt aufgrund ihrer Komplexität nicht komplett vermittelbar ist, aber exemplarisch über einzelne Perspektiven durchaus dargestellt werden kann, so ist auch jene Komplexität, die der vereinfachende Sammelbegriff 9/11 verbirgt, nicht in ihrer Gesamtheit zu vermitteln, kann jedoch ebenfalls durch Einzelperspektiven zugänglich gemacht werden. Dabei gebraucht DeLillo nicht nur die Mittel des Stadtromans, um New York City darzustellen, sondern er schließt dabei auch an die Tradition an, die Stadt als Anfangsort zu präsentieren, wenn auch auf andere Weise, als es die bisher hier besprochenen Texte tun. Auch wenn Falling Man mehrere Jahre umspannt, so ist es doch eingerahmt von zwei Kapiteln, die den Leser direkt an den Ort und Zeitpunkt der Anschläge vom 11. September 2001 versetzen, wobei das letzte Kapitel die Ereignisse dar-
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stellt, die dem ersten Kapitel vorausgehen. Dies verleiht dem Text aber keine wirklich zyklische Struktur, die etwa in anderen Werken wie James Joyces Finnegans Wake (1939) einen andauernden Kreislauf vermitteln soll, sondern verschiebt eher den Anfang ans Ende der Erzählung. Anstatt die Anschläge darzustellen, die all die Konsequenzen haben, um die es im weiteren Verlauf des Textes geht, beginnt die Erzählung an dem Punkt, an dem dieser Anfang schon geschehen ist. Auf den ersten Seiten trifft der Leser den vorerst noch namenlosen Protagonisten Keith Neudecker, der sich gerade durch eine Staubwolke und allgemeines Chaos von Ground Zero wegbewegt. Erst später wird man erfahren, dass Keith sich im Nordturm des World Trade Center befand, als dieser vom Flugzeug getroffen wurde, und dass er sich daraus retten konnte; in diesen Anfangsmomenten des Textes teilt der Leser allerdings die Unklarheit und Verwirrung des Protagonisten über die gegenwärtige Situation. Diese Erzähltechnik gleicht den Wissensvorteil aus, den der Leser gegenüber den Charakteren hat, und der auch die Verschiebung des Anfangsereignisses ans Ende der Erzählung erklären kann: Fast ausnahmslos jeder Leser dürfte 2007, im Erscheinungsjahr des Buches, mit den Bildern der Anschläge nur allzu vertraut gewesen sein, und da bei der Medienberichterstattung auf allen Kanälen jedermann ‚live dabei‘ war, setzt der Erzähler dieses Ereignis sozusagen als bekannt voraus. So wird nicht nur eine Nacherzählung vermieden, die von allen Seiten als fehlerhaft oder ungenügend angreifbar gewesen wäre, da sie der immensen Vielfalt des Diskurses über 9/11 nie gerecht werden könnte. Es wird auch eine gewaltige Leerstelle am Anfang des Buches produziert, die jede Leserin sofort füllt, indem sie ihre eigenen Erinnerungen an 9/11 einbringt. Der Anfang der Erzählung wird zwar in gewisser Weise nachgereicht, indem im letzten Kapitel die Anschläge vom Einschlag des Flugzeugs bis zu Keiths Flucht geschildert werden, die in dem Moment an die ersten Seiten anschließen, als Keith dieselbe Beobachtung macht: „He watched it coming down. A shirt came down out of the high smoke […]“ (4) bzw. „Then he saw a shirt coming down out of the sky“ (246). Jedoch wird klar, dass dies nicht der eigentliche Anfang ist, da zu diesem Zeitpunkt der Leser längst gezwungen war, die Anschläge vom 11. September 2001 für sich zu imaginieren, und die Beschreibung des Einschlags aus der wechselnden Perspektive von Terrorist und Opfer sich darin nahtlos einfügen kann; dieser Anfang bleibt streng subjektiv und somit für den individuellen Leser authentischer als jede Beschreibung. Die Stadt spielt bei diesem imaginierten und verschobenen Anfang eine zentrale Rolle, allein schon weil 9/11 aus den bereits genannten Gründen untrennbar mit New York City verknüpft ist. Falling Man erwähnt die anderen Flugzeuge nicht und bleibt so fest auf die Stadt konzentriert, in der die Familie
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um Keith die Anschläge erfährt. In den ersten Zeilen des Textes scheint New York allerdings verschwunden zu sein: „It was not a street anymore but a world, a time and space of falling ash and near night. He was walking north through rubble and mud and there were people running past him holding towels to their faces and jackets over their heads“ (3). Während Keith sich durch die Finsternis der Asche vom gerade eingestürzten Südturm bewegt, wird dem Leser diese Orientierungslosigkeit im eigentlich vertrauten Stadtraum vermittelt, indem die Stadt selbst ausgeblendet wird. Die Straße hat sich zu einer Welt verwandelt, deren Raum und Zeit nur noch aus Asche und Dunkelheit besteht. Im Zentrum des Geschehens, direkt am Ground Zero, scheint New York aus der subjektiven Perspektive des Protagonisten, der sich natürlich im Schockzustand befindet, ausgelöscht zu sein. Hier wird in wenigen Worten die Krise skizziert, als die 9/11 verstanden werden kann, nur dass die Stadt nicht als Anfangsort den Weg aus dieser Krise weisen kann, sondern selbst die Krise erfährt, ja durch sie in ihrer Ortshaftigkeit überhaupt bedroht wird.11 In Falling Man geht es nicht nur darum, wie 9/11 eine nationale Krise herbeiführt, sondern auch, wie 9/11 eine Krise für New York und seine Bewohner verursacht. Es verhält sich damit ähnlich wie bei Whitmans Washington, das die Krise des Bürgerkriegs gleichzeitig als Stadt und als nationale Hauptstadt durchmacht. Keith beobachtet während seiner Bewegung nach Norden, die ihn scheinbar instinktiv zu seiner Frau und seinem Sohn führen, von denen er eigentlich getrennt lebt, eine fundamentale Veränderung an der Stadt, wobei materieller Stadtraum und subjektive Wahrnehmung davon untrennbar verbunden sind: In time he heard the sound of the second fall. He crossed Canal Street and began to see things, somehow, differently. Things did not seem charged in the usual ways, the cobbled street, the cast-iron buildings. There was something critically missing from the things around him. They were unfinished, whatever that means. They were unseen, whatever that means, shop windows, loading platforms, paint-sprayed walls. Maybe this is what things look like when there is no one here to see them. (5)
New York wird als beschädigter, aber nicht zerstörter Raum beschrieben. Der erste Eindruck von einer verschwundenen Stadt hat sich somit nicht bestätigt, und dieses Urteil über den Zustand New Yorks kann man als Grunddarstellung in Falling Man bezeichnen: Die Stadt ist beschädigt, aber nicht zerstört; 9/11 ist
11 Parallel zu dieser räumlichen Krise beschreibt James Gourley eindrucksvoll in Terrorism and Temporality in the Works of Thomas Pynchon and Don DeLillo, wie in Falling Man auch die zeitliche Ordnung durch den Terrorakt erschüttert wird.
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ein traumatisches Ereignis für New York, aber New York ist deswegen noch lange nicht verschwunden. Im ganzen Roman wird auffallen, wie unbeeindruckt die Stadt selbst insgesamt von den Anschlägen zu sein scheint, und wie für ihre Bewohner der klischeehafte Satz gilt, dass das Leben weitergeht. Genau diese Menschen fehlen dem Stadtraum allerdings noch, als Keith sich von Ground Zero wegbewegt. Ihre Abwesenheit macht die Stadt zu einem unheimlichen und vor allem unfertigen Ort. Dieses Unfertige war bei Whitman noch eine positive Eigenschaft einer Hauptstadt des ständigen Anfangs; in Falling Man wird sie zum Zeichen dafür, was eine Stadt ausmacht, und sie wird als Mangel empfunden. Die Stadt wird stark phänomenologisch definiert: Sie besteht nicht nur aus materiellen Objekten, sondern auch aus Menschen, welche diese wahrnehmen, und aus diesen Wahrnehmungen. In diesem Sinn kann 9/11 durchaus als Trauma für New York verstanden werden, denn auch wenn der materielle Schaden durchaus begrenzt war, ist der Schaden, den die Wahrnehmung und Imagination der Stadt durch die Menschen genommen hat, schier unermesslich. 9/11 ist insofern ein Anfang für New York, als die Stadt neu betrachtet, verstanden und definiert wird, im Guten wie im Schlechten. DeLillo spielt hier allerdings nicht die Rolle, die Whitman sich im Bürgerkrieg gab und die sich einige von ihm erhofft haben mögen; er ist kein „Wound-Dresser“, der Heilung durch Literatur verspricht. Falling Man zeigt eher, dass das materielle New York eigentlich keiner Heilung bedarf, und dass seine Bewohner durchaus in der Lage sind, diesen Heilungsprozess selbst zu unternehmen. Die Hauptfiguren des Textes sind sicherlich zutiefst erschüttert, und ihre Umgangsweisen mit ihren jeweiligen Traumata sind sehr verschieden und nicht immer effektiv, aber sie sind keine gebrochenen Menschen. Falling Man kontextualisiert 9/11 und macht es zu einem Teil von New York, der zwar natürlich hochproblematisch ist und eine tiefe Wunde darstellt, der aber keinesfalls das singuläre destruktive Ereignis ist, das New York nicht verkraften kann. Schlimmstenfalls wird der 11. September 2001 zum Anfang einer neuen Zeitrechnung für viele New Yorker Bürger, die schmerzlicherweise immer auf jenes Ereignis verweist, in dem sie ihren Ausgang nimmt: „These are the days after. Everything now is measured by after“ (138); später finden Datierung statt wie „thirty-six days after the planes“ (170) oder „three years after the planes“ (229). Der positive Neuanfang für die Stadt und ihre Bewohner nach dem 11. September 2001 besteht allerdings auch darin, dass sie in der Lage sind, gerade nicht komplett neu anfangen zu müssen, sondern weitermachen zu können. Die Charaktere in Falling Man haben demnach vor allem damit zu kämpfen, 9/11 nicht zum Bruch werden zu lassen, an dem sie zugrunde gehen würden, sondern die Ereignisse so in ihr Leben zu integrieren, dass sie zumindest nicht destruktiv darauf wirken.
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Dies ist die Ausgangssituation, in der sich Keith befindet, und die er im Verlauf des Textes bewältigen muss. Der Einsturz des Nordturms wird mit dem vieldeutigen Satz beschrieben: „That was him coming down, the north tower“ (5). Einerseits verweist dies darauf, dass Keith sich in diesem Turm befunden hatte, als dieser vom Flugzeug getroffen wurde, und dass er bei dem Einsturz gestorben wäre, wenn ihm nicht die Flucht gelungen wäre. Andererseits wird Keith mit dem Turm gleichgesetzt, er wird zum materiellen Objekt, zum Gebäude im Stadtraum, und dessen Einsturz bedeutet auch seinen persönlichen Zusammenbruch. Dies wird nicht als Neuanfang präsentiert, sondern als Ende einer Identität, auf die vorerst nur die Ungewissheit folgt, in der Keith sich ein neues Leben suchen muss. Hier wirkt 9/11 in der Tat als Bruch; hier ist es noch ein Ende, das die Charaktere während ihres Weiterlebens danach notwendigerweise als Anfang umdeuten werden müssen, um nicht daran zugrunde zu gehen. Diese Endhaftigkeit, die Unmöglichkeit des Anfangs, wird in den Dialogen kurz nach dem Ereignis deutlich, beispielsweise in einem Gespräch zwischen Lianne und ihrer Mutter Nina, nachdem Keith bei ihnen Zuflucht gefunden hat: „What’s next? Don’t you ask yourself? Not only next month. Years to come.“ „Nothing is next. There is no next. This was next. Eight years ago they planted a bomb in one of the towers. Nobody said what’s next. This was next. The time to be afraid is when there’s no reason to be afraid. Too late now.“ (10)
9/11 ist hier der Punkt, auf den nichts mehr folgt; es war sozusagen die letzte Konsequenz, auf die nur noch Stillstand folgen kann. Der Titel eines Essays von Don DeLillo, der am 22. September 2001 veröffentlicht wurde, bringt den Zustand der Charaktere kurz nach 9/11 auf den Punkt: Sie befinden sich in den Ruinen der Zukunft, „in the ruins of the future“. Allerdings verfällt New York letztlich ebenso wenig in diesen todesähnlichen Zustand wie seine Bewohner, und zwar nicht aufgrund einer heroischen Anstrengung, sich aus dieser Starre zu befreien, sondern schlicht aufgrund der Tatsache, dass 9/11 eben kein Ende war, und die Überlebenden genau das tun müssen: Sie leben. Der Anfang macht sich quasi von selbst, ja er ist unvermeidlich. Für Keith bedeutet der Neuanfang mit seiner Familie zunächst, dass er mit seinem früheren Leben abschließen muss. Dies geschieht durch seine Interaktion mit dem Stadtraum, indem er unerlaubterweise zu seinem Apartment bei Ground Zero geht und dort die wenigen persönlichen Dinge holt, die er noch braucht. Der Weg dorthin wird nicht über die Merkmale beschrieben, die eine Stadt sonst ausmachen, sondern über diejenigen, die den Ausnahmezustand ausdrücken:
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There were fire-rescue cars and ambulances, there were state police cruisers, flatbed trucks, vehicles with cherry pickers, all moving through the barricades and into the shroud of sand and ash. […] He had to move out of the way when a drove of enormous bulldozers and backhoes moved through the parted barricades, making the sound of hell machines at endless revving pitch. (24)
Was vom normalen Stadtbild New Yorks noch übrig ist, ist von Asche bedeckt, so dass Keith eher einen apokalyptischen Ort des Endes zu betreten scheint als einen Ort, an dem er mit seinem alten Leben abschließen und ein neues beginnen kann: The streets and cars were surfaced in ash and there were garbage bags stacked high at curbstones and against the sides of buildings. He walked slowly, watching for something he could not identify. Everything was gray, it was limp and failed, storefronts behind corrugated steel shutters, a city somewhere else, under permanent siege, and a stink in the air that infiltrated the skin. (24-25)
Die Bezeichnung von New York als „city somewhere else“ vermittelt die Surrealität der Szene ebenso wie den buchstäblichen Ausnahmezustand, aber impliziert auch, dass New York zu sich selbst zurückfinden kann, an seinen eigentlichen Ort, von dem es vorübergehend verpflanzt wurde. DeLillo balanciert in diesen Passagen zweierlei Phänomene aus. Einerseits die Vorstellung von Zerstörung, Zukunfts- und Hoffnungslosigkeit und eine generelle Endzeitstimmung kurz nach den Anschlägen, andererseits die spätere Rückkehr von New York und seinen Bewohnern in das aus, was man knapp als eine andere Normalität beschreiben könnte. Keith bewegt sich zwar buchstäblich durch die Toten, als er durch die Straßen zu seiner Wohnung geht: „The dead were everywhere, in the air, in the rubble, on rooftops nearby, in the breezes that carried from the river. They were settled in ash and drizzled on windows all along the streets, in his hair and on his clothes“ (25). Allerdings ist er selbst der Beleg dafür, dass deswegen noch lange nicht die ganze Stadt tot ist. Als ob er sich selbst ein Bewusstsein für sein eigenes Überleben schaffen müsste, wiederholt er einen Satz, der auch eine Versicherung der eigenen Existenz und der eigenen Verortung ist: „He said, ‚I’m standing here,‘ and then louder, ‚I’m standing here‘“ (27). Allerdings ist Keiths Identität grundlegend verändert, wie er in seiner Wohnung feststellt: „He looked in the refrigerator. Maybe he was thinking of the man who used to live here and he checked the bottles and cartons for a clue“ (27). Der eigentlich vertraute Ort ist Keith fremd geworden; wie die Stadt, in der sich die Wohnung befindet, hat auch sie sich durch die Anschläge verändert. Wenn ein Ort über persönliche
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Bindung oder Vertrautheit definiert wird, so haben die Wohnung und New York generell ihre Ortshaftigkeit verloren. Der Neuanfang der Charaktere kann so auch als Ortsfindung gelesen werden. New York ist dann kein Anfangsort, weil es einen Ort für Anfänge bietet, sondern weil es selbst als Ort neu angefangen werden muss, selbst wieder zum Ort für diejenigen werden muss, die dort leben. Keiths Wahrnehmung seiner Wohnung kann schlüssig auf die gesamte Stadt übertragen werden: When he entered his apartment he stood a while, just looking around. The windows were scabbed in sand and ash and there were fragments of paper and one whole sheet trapped in the grime. Everything else was the same as it had been when he walked out the door for work that Tuesday morning. Not that he’d noticed. He’d lived here for a year and a half, since the separation, finding a place close to the office, centering his life, content with the narrowest of purviews, that of not noticing. But now he looked. Some light entered between splashes of window grit. He saw the place differently now. (26)
Der Prozess der Zentrierung des Lebens mag für Keith erfolgreicher gewesen sein als die Suche von Bud Korpenning in Manhattan Transfer nach „the center of things“ (4), allerdings wurde dieses Zentrum, das den Ort für Keith zusammengehalten hat, soeben zerstört. Er sieht den Ort nun tatsächlich auf eine andere Weise, und er weiß, dass er dort nicht bleiben kann: „This was the last time he would stand here. […] A single suitcase, that was all, and his passport, checkbooks, birth certificate and a few other documents, the state papers of identity. He stood and looked and felt something so lonely he could touch it with his hand“ (27). Dieser Ort, mit dem sich Keith einmal verbunden gefühlt hat, hat zu diesem Zeitpunkt seine identitätsstiftende Funktion verloren, so dass Keith nur noch Dokumente seiner bürokratischen Identität bleiben, die nicht jene Bindung ermöglichen, die zwischen einem Individuum und einem Ort besteht. Weder die Wohnung noch die Stadt können Keith einen Ort bieten, also sucht er ihn dort, wo früher eine persönliche Bindung bestanden hat: in seiner Familie. Keiths Rückkehr zu seiner Frau und seinem Sohn kann auf vielerlei Weisen interpretiert werden. Man mag darin ein konservatives Plädoyer für die Rückkehr zu familiären Werten erkennen, da nur die Familie in Zeiten der Unsicherheit Schutz biete, oder auch einen nationalistischen Aufruf zur Solidarität innerhalb der USA angesichts der Bedrohung von außen. DeLillo setzt solchen Lesarten allerdings entgegen, dass Keiths Rückkehr in die Familie durchaus problematisch ist und keineswegs ein glückliches Ende mit einer
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erstarkten amerikanischen Kernfamilie bereithält. Lianne betont gegenüber ihrer Freundin Carol, dass die neue Beziehung zu ihrem Ehemann recht fragil ist: „You have your husband back. Your son has a father full-time.“ „You don’t know anything.“ „Show some happiness, some relief, something. Show something.“ „It’s only beginning. Don’t you know that?“ „You have him back.“ „You don’t know anything.“ (140-41)
Gegenüber Martin, dem Partner ihrer Mutter, sagt sie darüber: „‚Could leave tomorrow. Nobody knows‘“ (43). Die Zweifel sind berechtigt, denn gleichzeitig beginnt Keith eine sexuelle Affäre mit Florence Givens, die auch einem der Türme entkam und deren Aktenkoffer er bei seiner Flucht aus dem Gebäude mitnahm. Florence ist in einer ähnlichen Identitäts- und Ortskrise wie Keith. Ihr erster Eindruck von der Stadt, als sie den Nordturm verlässt, ist dafür symptomatisch: „‚[…]it’s a bombed-out city, things on fire, we saw bodies, we saw clothes, pieces of metal like metal parts, things just scattered […]‘“ (58). Ihre Ortslosigkeit ist umso spürbarer, als Florence nicht nur als Einwohnerin von New York beschrieben wird, sondern als Teil der Stadt, der so sehr integriert ist, dass ihn ein anderer Bewohner nur unbewusst wahrnehmen würde: „She was plain except when she laughed. She was someone on the subway“ (92). Diese Verortung fehlt ihr nun, und sie denkt beispielsweise kaum an eine Rückkehr in ein normales Berufsleben: „‚We’re waiting to see what happens, where we relocate. I don’t think about it much‘“ (53). Sie empfindet ebenso wie er den persönlichen Bruch mit der Vergangenheit, die sie plötzlich in Form des Aktenkoffers wieder einholt: „‚I thought everything was lost and gone. I didn’t report a lost driver’s license. I didn’t do anything, basically, but sit in this room‘“ (54). Indem sie Keith von ihren Erfahrungen der Anschläge berichtet, kommen sich die beiden einerseits näher, versichern sich aber andererseits gegenseitig ihrer Identität, indem sie die Ereignisse in eine Erzählung verwandeln, an der andere teilhaben können. Dieses Teilen von erzählter Erfahrung markiert den Beginn eines Heilungsprozesses, und Florence betont Keith gegenüber, wie wichtig dies für sie ist: „‚You ask yourself why you took the briefcase out of the building. That’s why. So you could bring it here. So we could get to know each other. That’s why you took it and that’s why you brought it here, to keep me alive‘“ (108-09). Noch geht es hier nicht um einen positiven Neuanfang, sondern um das bloße Überleben, das aber dennoch davon abhängt, ob eine Orientierung zur Zukunft hin möglich ist, oder ob das Individuum in seinem Trauma gefangen
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bleibt. Diese Gefahr zeigt sich, als Florence während ihrer Erzählung fast physisch wieder in die Erlebnisse hineinversetzt wird: „She went through it slowly, remembering as she spoke, often pausing to look into space, to see things again, the collapsed ceilings and blocked stairwells, the smoke, always, and the fallen wall, the drywall, and she paused to search for the word and he waited, watching“ (55). Sie selbst sagt darüber: „‚I feel like I’m still on the stairs. I wanted my mother. If I live to be a hundred I’ll still be on the stairs […]‘“ (57). Die Frage der Verarbeitung der Erlebnisse besteht für Florence in räumlichen Begriffen darin, ob sie in der Lage sein wird, sich auch noch an einem anderen Ort als in diesem Treppenhaus zu befinden, und so ist es ein wichtiger Teil ihrer Überlebensstrategie, mit Keith an einem anderen Ort in der Gegenwart darüber zu sprechen. Lianne hingegen war zwar nicht so direkt im Zentrum des Geschehens wie Florence oder Keith, leidet aber unter ähnlichen Symptomen der Ortslosigkeit, welche den gefühlten Verlust an Sicherheit sowie die offensichtliche Verwundbarkeit von Person, Stadt und Nation beinhaltet. Lianne hat das New York verloren, in dem sie sicher war, und die Zeit nach 9/11 bedeutet für sie, mit dem neuen New York klarzukommen. Wenn sie sagt, „‚The whole city is ultrasensitive right now […]‘“ (120), dann schließt sie von sich auf die gesamte Stadt. Ihr drängendes Bedürfnis nach einem vertrauten Stadtraum wird in einem Haiku von des japanischen Dichters Bash zusammengefasst, an das sie sich nur teilweise erinnert: She didn’t remember the second line. Even in Kyoto – I long for Kyoto. The second line was missing but she didn’t think she needed it. Half an hour later she was in Grand Central Station to meet her mother’s train. She hadn’t been here lately and was not accustomed to the sight of police and state troopers in tight clusters or guardsmen with dogs. Other places, she thought, other worlds, dusty terminals, major intersections, this is routine and always will be. This was not a considered reflection so much as a flutter, a downdraft of memory, cities she’d seen, crowds and heat. But the normal order was also in evidence here, tourists taking pictures, commuters in running flurries. (32)
Lianne erfährt in dieser Szene die Bedeutung der beiden Gedichtzeilen, die sie auf ihre eigene Stadt überträgt: „Even in New York, she thought. Of course she was wrong about the second line of the haiku. She knew this. Whatever the line was, it was surely crucial to the poem. Even in New York – I long for New York“
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(34).12 In der Grand Central Station erkennt sie ihre eigene Stadt nicht wieder, weil die Sicherheitsvorkehrungen so stark verschärft worden sind; New York ist nun eine Stadt, in der sich Soldaten aufhalten, in der man „jungle camouflage in midtown Manhattan“ (34) sehen kann. Gleichzeitig erkennt Lianne an, dass die Normalität der Touristen und Pendler parallel dazu existiert, der Ausnahmezustand also keine vollständige Ausnahme darstellt. Auch hier ist New York zugleich verändert und altbekannt. Die Stadterfahrung wurde für Lianne durch 9/11 so fundamental verändert, dass sie überlegt, New York zu verlassen, wovon ihre Mutter nichts wissen will – als echte New Yorkerin kann sie es nicht fassen, wie jemand überhaupt anderswo leben könnte: „People are leaving, you’re coming back.“ „Nobody’s leaving,“ her mother said. „The ones who leave were never here.“ „I have to admit, I’ve thought of it. Take the kid and go.“ „Don’t make me sick,“ her mother said. (34)
Der Gedanke lässt Lianne nicht los, auch wenn sie im gesamten Text nie einen Schritt unternimmt, New York wirklich zu verlassen: She told people she wanted to leave the city. They knew she wasn’t serious and said so and she hated them a little, and her own transparency, and the small panics that made certain moments in the waking day resemble the frantic ramblings of this very time of night, the mind ever running. (67)
Die Antwort der Leute, denen sie von ihren Plänen erzählt, fällt nicht weniger deutlich aus als die ihrer Mutter: „They said, Leave the city? For what? To go where? It was the locally honed cosmocentric idiom of New York, loud and blunt, but she felt it in her heart no less than they did“ (69). Diese Haltung offenbart das stereotypische Selbstverständnis der New Yorker, das ihre Stadt nicht nur zur Welthauptstadt macht, sondern zum Zentrum des gesamten Kosmos. Diese Sicherheit, diese Gewissheit über die eigene Position ist es, die durch 9/11 erschüttert wurde, und deshalb führt ihr Verlust zu einer kombinierten Ortswie Identitätskrise. Zugleich werden diese Aussagen aber nach 9/11 getroffen, so dass sie wiederum auf das altbewährte Selbstbewusstsein schließen lassen, das sich auch durch Terroranschläge letztlich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Lianne findet jedoch nicht zu dieser früheren Sicherheit zurück, sondern empfindet ihre Situation entweder als zutiefst bedroht und instabil, und sie sucht die
12 Die zweite Zeile lautet „Hearing the cuckoo‘s cry“ (Hass 11).
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Welt nach Hinweisen und Erklärungen ab, die ihr dabei helfen könnten, sie wieder zu verstehen. Jede Kleinigkeit wird für sie zum lesbaren Text: „Keith stopped shaving for a time, whatever that means. Everything seemed to mean something. Their lives were in transition and she looked for signs“ (67). Diese Übergangsphase meint nicht nur den Status ihrer Beziehung zu Keith, sondern auch ihr Leben überhaupt, von dem sie meint, dass es nach 9/11 anders gelebt werden muss, auch wenn sie nicht weiß wie. Dabei hilft es ihr keineswegs, dass ihr Sohn zusammen mit anderen Kindern den Himmel nach Flugzeugen absucht, die für weitere Anschläge gekapert wurden: „Either way, you’re saying, they’re looking for more planes.“ „Waiting for it to happen again.“ „That scares me,“ she said. (72)
Für Lianne als auch für Keith wird die Familie zum ersten Fluchtpunkt aus der Unsicherheit eines verlorenen Ortes und einer früheren Identität, allerdings zeigt Justins Suche, dass diese Familie keineswegs ein geschützter, idealisierter Ort ist, der wirklich dauerhaft Zuflucht bieten würde. In der Beziehung zwischen Keith und Lianne findet sich jedoch ein Anfang, der für beide die Möglichkeit bietet, sich neu zu verorten. Lianne ist sich dieses Potentials bewusst, da schon das Gespräch darüber etwas Neues darstellt: „‚Are you planning to stay? Because I think this is something we need to talk about,‘ she said. ‚I’ve forgotten how to talk to you. This is the longest talk we’ve had‘“ (75). Lianne stellt in ihrer Projektion der zukünftigen Beziehung genau jene Sicherheit in Aussicht, die durch die Terroranschläge verlorenging: „Is it possible you and I are done with conflict? You know what I mean. The everyday friction. The every-word every-breath schedule we were on before we split. Is it possible this is over? We don’t need this anymore. We can live without it. Am I right?“ „We’re ready to sink into our little lives,“ he said. (75)
Keiths Worte schwanken zwischen Akzeptanz und Ablehnung. Dieses kleine Leben ohne Konflikt mag ihm seiner gegenwärtigen Situation durchaus verlockend erscheinen, aber ein Zweifel bleibt durch die Formulierung bestehen. Florence gegenüber beschreibt Keith sein Verhältnis zu Lianne mit den Worten: „‚We were apart, now we’re back, or beginning to be back‘“ (89). Er hält die Beziehung im Anfangsstadium, offen, prekär. Er empfindet 9/11 als Bruch in seinem Leben, der eine Veränderung erfordert, aber ihm ist noch nicht klar, worin diese Veränderung bestehen soll: „Keith used to want more of the world than
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there was time and means to acquire. He didn’t want this anymore, whatever it was he’d wanted, in real terms, real things, because he’d never truly known“ (128). Er empfindet dennoch das Familienleben als Entfremdung von sich selbst, die ihm zwar durchaus positiv eine neue Identität verleiht und ihn neu verortet, die aber negativ wie eine immer noch falsche Identität wirkt: He began to think into the day, into the minute. It was being here, alone in time, that made this happen, being away from routine stimulus, all the streaming forms of office discourse. Things seemed still, they seemed clearer to the eye, oddly, in ways he didn’t understand. He began to see what he was doing. He noticed things, all the small lost strokes of a day or a minute, how he licked his thumb and used it to lift a bread crumb off the plate and put it idly in his mouth. Only it wasn’t so idle anymore. Nothing seemed familiar, being here, in a family again, and he felt strange to himself, or always had, but it was different now because he was watching. (65)
Der Schritt vom Büromenschen, der im World Trade Center arbeitet, zum Familienvater, der sich jeder seiner Handlungen in dieser neuen Rolle bewusst ist, bietet bestenfalls einen vorläufigen Anfang, aber noch kein endgültiges Identitätsmodell, in dem Keith Zuflucht finden könnte. Welche Rolle spielt New York City bei dieser Suche von Lianne und Keith? Die Stadt bietet natürlich keinen einfachen Weg aus der Krise, kein offensichtliches Potential zur Lösung der Krise ihrer Bewohner, aber sie bietet erstaunlich schnell eine Normalität an, die den Protagonisten in ihrer Situation befremdlich vorkommt. Diese Einsicht in die Alltäglichkeit eines angeblich zutiefst erschütterten Stadtraumes trifft zuerst Keith: „The road bent west and three girls wearing headsets went rollerblading past. The ordinariness, so normally unnoticeable, fell upon him oddly, with almost dreamlike effect“ (51). Später erscheinen ihm die Jogger im Park wie Symbole dafür, dass New York nach 9/11 einfach weitermacht: „The runners seemed eternal, circling the reservoir […]“ (157). Diese Wahrnehmungen sind zugleich beruhigend und irritierend, da sie der Interpretation von 9/11 als Zeitenwende widersprechen, nach der nichts mehr so ist wie vorher, und nach der ehemals normale Dinge unvorstellbar oder absurd erscheinen. Neben diesen kleinen Momenten der Irritation trifft Keith aber vor allem ein Ereignis zutiefst und verursacht eine Einsicht über seine Situation in einer Welt, die doch eine andere ist als die vor den Anschlägen: Keith walked through the park and came out on West 90th Street and it was strange, what he was seeing down by the community garden and coming toward him, a woman in the middle of the street, on horseback, wearing a yellow hard hat and carrying a riding crop,
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bobbing above the traffic, and it took him a long moment to understand that horse and rider had come out of a stable somewhere nearby and were headed toward the bridle path in the park. It was something that belonged to another landscape, something inserted, a conjuring that resembled for the briefest second some half-seen image only half believed in the seeing, when the witness wonders what has happened to the meaning of things, to tree, street, stone, wind, simple words lost in the falling ash. (103)
Keith erkennt zwar, dass die Reiterin eigentlich zum gewohnten Stadtbild New Yorks gehört, doch gerade diese Normalität kann er nicht in sein Bild der Welt integrieren. Die Reiterin erscheint ihm wie ein Eindringling aus einer anderen Welt, durch den diese Welt fundamental in Frage gestellt wird. Für Keith ist dieser Zweifel sprachlicher und symbolischer Natur, und er betrifft Objekte ebenso wie die Wörter, die sie bezeichnen; er fragt sich: „what has happened to the meaning of things, to tree, street, stone, wind, simple words lost in the falling ash“ (103). Die Reiterin löst in Keith eine Einsicht darüber aus, dass ihm die Realität nach 9/11 ebenso fremd geworden ist wie die Sprache, mit der er sie versteht, und dass es besonders die einfachen Wörter sind, die in der fallenden Asche verlorengegangen sind, zeigt deutlich, wie grundlegend diese Veränderung für ihn ist. Kurz gesagt versteht Keith in diesem Moment die Welt nicht mehr, und der Auslöser dafür ist seine Wahrnehmung einer Normalität, die ihm zutiefst fehl am Platz scheint. Dieses räumliche Bild ist im Wortsinn zu verstehen: New York ist hier deutlich ein Ort für Keith, zu dem er auf symbolischer wie materieller Ebene keinen Zugang hat, der aber für andere längst wieder zu einem normalen Ort geworden ist. Lianne verhält sich ähnlich zu dieser Normalität, zu diesem Neuanfang der Stadt, bei dem sie und Keith scheinbar zurückgelassen wurden, allerdings braucht sie dafür kein Schlüsselerlebnis, sondern nur ihr übliches Grübeln. Inmitten der neuen Lebensumstände mit dem zurückgekehrten Keith erkennt sie: „But things were ordinary as well. Things were ordinary in all the ways they were always ordinary“ (67). Später wird dieser Gedanke wiederholt: „What was ordinary was not more ordinary than usual, or less“ (105), aber dann sofort angezweifelt: „But then she might be wrong about what was ordinary. Maybe nothing was. Maybe there was a deep fold in the grain of things, the way things pass through the mind, the way time swings in the mind, which is the only place it meaningfully exists“ (105). Sowohl Lianne als auch Keith stellen nach 9/11 ihr eigenes Bewusstsein ebenso in Frage wie die Welt insgesamt und die Möglichkeit sprachlicher Bezeichnung; dies sind die deutlichsten Anzeichen für die Ortslosigkeit der beiden. Während New York für viele seiner Bewohner längst wieder zum Ort geworden ist, gelingt es Lianne
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und Keith nicht, eine Bindung dazu aufzubauen oder den Ort überhaupt als bedeutungsvoll, kohärent und real zu erfahren. 9/11 war sozusagen ein phänomenologischer Schock für die beiden, und ihr Neuanfang besteht darin, aus dieser unheimlichen Realität wieder für sich einen Ort und eine Welt zu formen. Lianne gelingt es zunächst scheinbar besser als Keith, sich den Stadtraum wieder anzueignen. Eine simple Methode dazu ist die, durch die Straßen der Stadt zu joggen und sie so individuell und körperlich neu zu erfahren. Selbst Keiths berechtigter Einwand, sie atme dabei nur Abgase ein, kann Lianne nicht von dieser positiven Stadterfahrung abbringen: „I like the streets. This time of morning, there’s something about the city, down by the river, streets nearly empty, cars blasting by on the Drive.“ „Breathe deeply.“ „I like running alongside the cars on the Drive.“ „Take deep breaths,“ he said. „Let the fumes swirl into your lungs.“ „I like the fumes. I like the breeze from the river.“ (71)
Lianne hat nicht nur kein Problem mit Autos und Abgasen, sondern mag sie sogar; betrachtet man dies als mehr als den bloßen Versuch, sich von Keith das Joggen nicht vermiesen zu lassen, so kann man es als Gewinn an Ortsbindung lesen. Was für Keith negativ ist, ist für Lianne einfach ein normaler Teil der Stadt, und indem sie diesen akzeptiert und sogar vorgeblich genießt, wird auch die Stadt für sie wieder ein Ort, von dem sie sich nicht entfremdet fühlt. Gleichzeitig weigert sie sich, die U-Bahn zu benutzen, was Keith wiederum nicht verstehen kann, als er von Justin davon erfährt: „She doesn’t take the subway anymore. She said she’d walk.“ „What’s wrong with the subway?“ (166)
Die Frage wirkt naiv angesichts der Angst vor neuen Anschlägen in New York, und Lianne hat die offiziellen Warnungen davor ebenso verinnerlicht wie die geforderten Verhaltensweisen: „Unattended packages, she said, or the menace of lunch in a paper bag, or the subway at rush hour, down there, in sealed boxes. […] Please report any suspicious behavior or unattended packages. That was the wording, wasn’t it?“ (127) Es fällt Lianne schwer, eine Bindung zu einem Ort aufzubauen, an dem selbst eingepacktes Essen wie eine Bedrohung erscheinen kann, und indem sie die öffentlichen Verkehrsmittel meidet, bleibt ihr eine wichtige Möglichkeit verschlossen, diesen Ort körperlich zu erfahren.
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Diese Ortslosigkeit betrifft in Falling Man allerdings nicht nur New York, sondern beschreibt für einige Charaktere den Zustand von ganz Amerika. Martin, ein Deutscher und möglicherweise in den 1970ern selbst ein Terrorist, fällt beispielsweise sein Urteil über die USA nach 9/11 in räumlichen Begriffen: „There is a word in German. Gedankenübertragung. This is the broadcasting of thoughts. We are all beginning to have this thought, of American irrelevance. It’s a little like telepathy. Soon the day is coming when nobody has to think about America except for the danger it brings. It is losing the center. It becomes the center of its own shit. This is the only center it occupies.“ […] „If we occupy the center, it’s because you put us there. This is your true dilemma,“ he said. „Despite everything, we’re still America, you’re still Europe. You go to our movies, read our books, listen to our music, speak our language. How can you stop thinking about us? You see us and hear us all the time. Ask yourself. What comes after America?“ Martin spoke quietly, almost idly, to himself. „I don’t know this America any more. I don’t recognize it,“ he said. „There’s an empty space where America used to be.“ (191-93)
Martin stellt zunächst die Theorie auf, dass die USA ihr Zentrum verlieren würden, und verwirft dann die Gegenargumente mit den Worten, Amerika sei nicht wiederzuerkennen, eine Leerstelle. Der Mann, der von seiner eigenen Lebensweise an mehreren Orten sagt, „‚One city, […] and I am trapped‘“ (194), beschreibt die Veränderung der USA nach 9/11 als Ortsverschiebung oder Ortslosigkeit. Für seine Gesprächspartner ist Amerika etwas, nach dem nichts kommen kann, aber für Martin ist es irreal geworden, ein Konstrukt, zu dem man keine Bindung mehr aufbauen kann, und das mangels eines Zentrums an Form verliert und verschwindet. Seine Argumente sind hauptsächlich politischer Natur, aber sie entsprechen der Orientierungslosigkeit, die Lianne und Keith aus der amerikanischen Innenperspektive gegenüber New York empfinden. New York und die USA sind in Fallling Man ebenso oft symbolisch gleichzusetzen wie Washington, D.C. und die USA in Whitmans Texten während und nach der Krise des Bürgerkriegs. Während bei Whitman jedoch die vielen Anfänge in Washington den Neuanfang der USA verhießen, so ist bei DeLillo New York nicht der Rettungsanker für das gesamte Land, sondern ein urbanes Symptom nationalen und globalen Unbehagens, und es wird nicht zum Anfangsort der Heilung. Zeitweise steht New York in Falling Man sogar der nationalen Politik entgegen, wie sich an der ausführlichen Darstellung einer Demonstration gegen den Irakkrieg zeigt, an der Lianne mit Justin teilnimmt:
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They walked the entire route, north for twenty blocks and then across town and finally down toward Union Square, a couple of miles in steam heat, with police in riot helmets and flak jackets, small children riding their parents’ shoulders. They walked with five hundred thousand others, a bright swarm of people ranging sidewalk to sidewalk, banners and posters, printed shirts, coffins draped in black, a march against the war, the president, the policies. She felt remote from the occasion even as it pressed upon her. (181)
Diese Distanz zwischen Lianne und der gesamten Demonstration verhindert, dass New York in Falling Man zum Anfangsort eines neuen, gerechteren Amerika wird, das sich gegen seine eigene Regierung wendet, so wie etwa Whitman in den Lazaretten von Washington, D.C. die Zukunft der USA sah und nicht im Kapitol. Die Normalität von New York nach 9/11 wird ebenso wenig zum nationalen Neuanfang wie der dortige Protest gegen die nationale Politik. Stattdessen ist Lianne immer noch von der Stadt und ihren Bewohnern entfremdet, eine Außenseiterin in Bezug auf Ort wie Identität: […] she felt a separation, a distance. This crowd did not return to her a sense of belonging. She was here for the kid, to allow him to walk in the midst of dissent, to see and feel the argument against war and misrule. She wanted, herself, to be away from it all. These three years past, since that day in September, all life had become public. The stricken community pours forth voices and the solitary night mind is shaped by the outcry. (182)
Während Lianne immer noch auf der Suche nach einem möglichen Neuanfang ist, hat Keith zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Ausweg aus der Krise gefunden, auch wenn dieser keineswegs rein positiv dargestellt wird und auch als Realitätsflucht interpretiert werden kann: Keith wird zum professionellen Pokerspieler in Las Vegas. Ironisch weist er darauf hin, dass dieser Beruf seinem vorherigen stark ähnelt, betont aber erneut, wie bedeutsam die durch 9/11 veränderten Umstände für ihn sind: „The job. The job wasn’t much different from the job before all this happened. But that was before, this is after.“ (215) In New York wurde seine Identitätsfindung in der Familie für ihn zunehmend zum Problem, und er fragte sich beispielsweise: „How is it possible that he was about to become someone of clear and distinct definition, husband and father, finally, occupying a room in three dimensions in the manner of his parents?“ (157) Erst in Las Vegas findet er eine Identität vor, in der er gerne hineinwächst, und die sich wie sein wahres Ich anfühlt:
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He was fitting into something that was made to his shape. He was never more himself than in these rooms, with a dealer crying out a vacancy at table seventeen. He was looking at pocket tens, waiting for the turn. These were the times when there was nothing outside, no flash of history or memory that he might unknowingly summon in the routine run of cards. (225)
Diese Identität empfindet Keith deshalb als so positiv, weil sie streng genommen keine Identität ist, sondern eher eine Existenz in der Gegenwart ohne Verweis auf die Vergangenheit; sein Ich ist sich nur des Spiels bewusst, aber nicht seines früheren Ichs. Deshalb spricht er ungern mit Terry Cheng, seinem früheren Mitspieler in der Pokerrunde, die durch 9/11 aufgelöst wurde, weil die anderen Mitspieler dabei getötet oder verletzt wurden. Cheng ist ein Überbleibsel jener Vergangenheit, an die Keith nicht denken will, und an die er ohnehin mehr und mehr die Erinnerung verliert: „Did you smoke back then, when we played?“ „I don’t know. Tell me,“ Terry said. „I think you were the only one who didn’t smoke. We had a number of cigars and one cigarette. But I don’t think it was you.“ (202)
In Las Vegas findet er einen Ort, an dem er sich in Zeitlosigkeit verlieren kann. Zunächst heißt es noch: „He checked his watch. He knew time and day of week and wondered when such scraps of data would begin to feel disposable“ (189). Nicht viel später ist die Wahrnehmung der Zeit allerdings schon grundlegend anders: „The idea of later was elusive“ (200). Indem er zum professionellen Pokerspieler wird, verfolgt er eine Strategie, die Marie-Christine Leps so beschreibt: „[…] Keith narrows his line of sight to the here and now“; indem sie auf Keiths Angewohnheit verweist, seinen falsch geschriebenen Namen (Newdecker anstatt Neudecker) auf seiner bereits zugestellten Post zu korrigieren, zeigt Leps aber auch, dass diese Beschränkung in Zeit und Raum keine Erneuerung zulässt: „From the beginning, the reader had been warned that Keith Neudecker would always resist becoming ,New […]“ (191). An einem Ort, an dem es nur das Hier und Jetzt gibt, wo kein Später existiert und selbst das Hier nur verschwommen wahrgenommen wird, ist auch kein Anfang möglich. Keith lebt mit maximalem Gegenwartsbezug, der kaum weiter reicht als bis zum nächsten Blatt, aber er fängt nichts an. Gleichzeitig hat diese Situation nichts mit dem Stillstand zu tun, den Lianne nach 9/11 beschrieb, als sie verkündete: „Nothing is next. There is no next. This was next“ (10). Beim Pokerspiel sieht ein Anfang so aus: „The dealer touched the green button, a fresh deck rose to the
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tabletop“ (197). Es gibt immer einen neuen Satz Karten, und jedes neue Blatt ist völlig unabhängig vom vorherigen Spiel. So befindet sich Keith in einem rasenden Stillstand, den er genießt, weil er ihn vom Zwang von Vergangenheit und Erinnerung, von Zukunft und Anfängen befreit, und weil dieser Zustand keine weiteren Brüche befürchten lässt: He watched the blinking woman across the table. […] He didn’t wonder who she was or where she’d go when this was over, to what sort of room somewhere, to think what kind of thoughts. This was never over. That was the point. There was nothing outside the game but faded space. She blinked and called, blinked and folded. (189)
Diese Zeitlosigkeit bringt eine korrespondierende Ortslosigkeit mit sich, die Keith aber keineswegs als so verstörend empfindet wie in New York. Ganz im Gegenteil: Hat ihn die Reiterin im Park noch an seiner Wahrnehmung und seinem grundlegenden Verhältnis zur Welt zweifeln lassen, so nimmt er in Las Vegas den Bruch zwischen Realitäten einfach lethargisch hin: There were times, in the sports book, when he glanced at one of the screens and wasn’t sure whether he was seeing a fragment of live action or of slow motion replay. It was a lapse that should have unsettled him, an issue of basic brain function, one reality versus another, but it all seemed a matter of false distinctions, fast, slow, now, then, and he drank his beer and listened to the mingled sounds. (211)
Nur als Lianne ihm per Telefon vom Terroranschlag in Beslan erzählt, bei dem hunderte Todesopfer zu beklagen waren, wird sich Keith plötzlich wieder seiner Verortung bewusst, als würde ihn die Erwähnung des Anschlags in seine eigene Vergangenheit und Gegenwart zurückholen: „In the deep pause he began to see himself standing exactly where he was, in a room somewhere, in a hotel somewhere, with a telephone in his hand“ (206). Allerdings ist dieser Blick auf sich selbst bestenfalls eine vorübergehende Rückkehr in das Hier und Jetzt, da er sich immer noch „in a room somewhere, in a hotel somewhere“ (206) befindet und dieses doppelte „irgendwo“ deutlich zeigt, dass Keith seine Ortslosigkeit nicht wirklich verliert. Wenn er eine Beziehung zum Ort Las Vegas aufbaut, dann ist diese am besten mit der zu vergleichen, die ein Soldat zu seinem Einsatzort hat. Die Beschreibung seines Lebens als Spieler ginge mit minimalen Änderungen auch als Beschreibung des Lebens eines amerikanischen Soldaten im Irakkrieg durch:
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He was finally making money, quiet amounts that began to show consistency. He was also going home periodically, three or four days, love, sex, fatherhood, home-cooked food, but was lost at times for something to say. There was no language, it seemed, to tell them how he spent his days and nights. Soon he felt the need to be back there. When his plane came down over the desert he could easily believe that this was a place he’d always known. There were standard methods and routines. Taxi to the casino, taxi back to his hotel. (197)
Heimatbesuche, die Unfähigkeit, das Erlebte zu beschreiben oder darüber zu sprechen, die Distanz zu den Daheimgebliebenen, der absurde Wunsch, wieder an die vertraute Front zu gehen, die Routine, der Weg von Kaserne zum Einsatz – nicht umsonst fragt Marie-Christine Leps gleichzeitig in Bezug auf Keiths Leben als auch auf die Außenpolitik der USA: „after September 11, how could one lose one’s direction so completely, and head for the desert to play a losing game, against an unknown adversary?“ (192) Hierin besteht auch der fundamentale Unterschied zwischen Keith und Lianne: „There was one final thing, too self-evident to need saying. She wanted to be safe in the world and he did not“ (216). Lianne findet diese Sicherheit in einer christlichen Kirche, an der sie einen Ort vorfindet, der ihr ein stabiles Gefühl von Identität in Zeit und Raum zu bieten scheint: What did she feel here? She felt the dead, hers and unknown others. This is what she’d always felt in churches, great bloated cathedrals in Europe, a small poor parish church such as this one. She felt the dead in the walls, over decades and centuries. There was no dispiriting chill in this. It was a comfort, feeling their presence, the dead she’d loved and all the faceless others who’d filled a thousand churches. They brought intimacy and ease, the human remains that lie in crypts and vaults or buried in churchyard plots. (233-34)
Diese Identität reicht auch in die Zukunft, und zwar bis zum weitestmöglichen Punkt: bis in die Unendlichkeit. „Because once you believe such a thing, God is, then how can you escape, how survive the power of it, is and was and ever shall be“ (235). Diese Sicherheit, deren Preis nur ein leap of faith ist, verheißt (und ermöglicht) ihr die Rückkehr in ihr Leben vor 9/11: „She was ready to be alone, in reliable calm, she and the kid, the way they were before the planes appeared that day, silver crossing blue“ (236). Auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nur noch von sich und ihrem Sohn spricht, hat sie vorher den Wunsch geäußert, die Familie mit Keith am Laufen zu halten:
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„[…] we need to stay together, keep the family going. Just us, three of us, long-term, under the same roof, not every day of the year or every month but with the idea that we’re permanent. Times like these, the family is necessary. Don’t you think? Be together, stay together? This is how we live through the things that scare us half to death.“ (214)
Keith hingegen sucht weder nach Sicherheit noch Stabilität. Für ihn sind der Nicht-Ort und die Nicht-Zeit in Las Vegas die Lösung seiner Identitätskrise, während Lianne sich emotionale Fixpunkte in persönlichen Beziehungen und in der Religion erhofft. Selbst als Keith eine Außenperspektive auf seinen Lebensort einnimmt, wirft ihn dies nicht aus der Bahn, sondern bestärkt ihn nur: He rented a car and took a drive in the desert, starting back after dark and then climbing a rise and leveling out. It took him a moment to understand what he was looking at, many miles ahead, the city floating on the night, a feverish sprawl of light so quick and inexplicable it seemed a kind of delirium. He wondered why he’d never thought of himself in the middle of such a thing, living there more or less. He lived in rooms, that’s why. He lived and worked in this room and that. He moved only marginally, room to room. He took a taxi to and from the downtown street where his hotel was located, a place without floor mosaics and heated towel racks, and he hadn’t known until now, looking at that vast band of trembling desert neon, how strange a life he was living. But only from here, out away from it. In the thing itself, down close, in the tight eyes around the table, there was nothing that was not normal. (226-27)
Der Blick auf sein Leben wird über seinen räumlichen Blick auf eine Stadt vermittelt, und die Erkenntnis über Las Vegas wird auch zur Erkenntnis über New York. Wenn Keith sich fragt, warum er sich eigentlich nie als inmitten einer Stadt positioniert verstanden hat, dann gilt dies auch für seinen früheren Wohnort; die Bewegung von Raum zu Raum war dort nicht anders. Diese punktuelle Wahrnehmung, Bewegung und Verortung konstituiert keine echte Stadterfahrung, da sie den einzelnen Orten keinen urbanen Kontext verleiht und keine Verbindung zwischen diesen Punkten herstellt. Erst der Blick von außen auf die Stadt vermag es, diese Erfahrungen zu verknüpfen. Diese Einsicht in die eigene Verortung hat jedoch keine Konsequenzen. Keith führt sein Leben als Spieler fort, und die Stadt spielt darin keine bedeutsamere Rolle als zuvor. Allerdings deutet diese Passage an, wie problematisch Stadterfahrung in Falling Man betrachtet wird, und worin womöglich die Schwierigkeiten der Verortung für die Charaktere bestanden haben: Die Stadt ist nur von außen als überschaubarer, kompletter Ort wahrnehmbar, und wenn man sich in ihr befindet, ist
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Stadterfahrung so fragmentiert und unvollständig, dass sie mitunter gar nicht als Ortserfahrung durchgeht. Eine Figur in Falling Man versucht, dieser Unvollständigkeit der Stadterfahrung nach 9/11 entgegenzuwirken: David Janiak, ein Performancekünstler, der als Falling Man bekannt ist und nach den Anschlägen an verschiedenen Orten in New York mittels einer Gurtvorrichtung das schmerzlich bekannte Foto von Richard Drew nachstellt, das einen Mann zeigt, der kopfüber von einem der brennenden Türme des World Trade Center fällt. Lianne erlebt eine seiner Performances mit, die sie später als intime und individuelle Erfahrung beschreibt: „There were no photographs of that fall. She was the photograph, the photosensitive surface. That nameless body coming down, this was hers to record and absorb“ (223). Allerdings haben Janiaks Performances, die sehr verschiedene Reaktionen bei den Bewohnern von New York auslösen, nicht nur diesen persönlichen Effekt, sondern wirken sich auch auf die Imagination des urbanen Raums aus: „He’d appeared several times in the last week, unannounced, in various parts of the city […]“ (33). Diese Ortsbildung zeigt sich nicht bei einzelnen Performances, die durch die Körper des Künstlers natürlich lokal begrenzt stattfinden, sondern in ihrer Summe. Lianne findet dies bei einer Internetrecherche heraus, nachdem sie von Janiaks Tod erfahren hat: The advanced search took no time. There he was, David Janiak, in pictures and print. Dangling from the balcony of an apartment building on Central Park West. Suspended from the roof of a loft building in the Williamsburg section of Brooklyn. Dangling from the flies at Carnegie Hall during a concert, string section scattered. Dangling over the East River from the Queensboro Bridge. Sitting in the back of a police car. Standing on the rail of a terrace. Dangling from the bell tower of a church in the Bronx. Dead at 39, apparently of natural causes. (219-20)
Central Park West, Brooklyn, Carnegie Hall, East River, Queensboro Bridge, Bronx – schon diese unvollständige Auswahl an Orten deutet darauf hin, dass Janiaks Performances über ganz New York City verteilt stattfanden. Auch wenn diese Auftritte sehr umstritten sind, verleihen sie dem Stadtraum New Yorks, der durch 9/11 an Ortshaftigkeit für seine Bewohner verloren hat, eine neue Bedeutung; die Einschätzung dieser symbolischen Neueinschreibung ist dabei weniger wichtig als die Tatsache, dass sie überhaupt geschieht. New York wird nicht durch Erzählungen von nationaler Einheit oder ähnlichem vereint, sondern gewinnt dadurch an Ortshaftigkeit für seine entfremdeten Bewohner, dass ein
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Künstler über seinen Körper eine negative Erfahrung an mehreren Orten in der Stadt wiederholt hervorruft: Das Bild des fallenden Mannes wird vom 11. September 2001 und dem World Trade Center gelöst und auf die ganze Stadt und mehrere Monate verteilt, wodurch es nicht weniger schrecklich, aber dennoch symbolisch als kollektives Trauma der Stadt identifiziert wird; dies mag keine Heilung bereithalten, aber doch zumindest Identität und Verortung. Das implizite Zentrum der Handlungen von David Janiak bleibt aber bei aller Verbreitung immer dasselbe, auch wenn er dort (zumindest nach Information des Lesers) nie eine Performance durchführt. Selbst der Ort seines Todes wird dazu in Bezug gesetzt: „It is not immediately known what brought David Janiak to a motel outside the small town more than five hundred miles from the site of the World Trade Center“ (223). Janiaks Darstellungen des fallenden Mannes verweisen immer auf einen Tag und einen Ort, aber die Verweise selbst verbinden das scheinbar singuläre Ereignis mit fortschreitender Zeit mit anderen Orten. Janiak macht New York auf brutale und unangenehme Art zum Ort, aber zumindest erschafft er so Kohärenz, wo sie von vielen schmerzlich vermisst wird. Man kann Falling Man eine ähnliche Strategie unterstellen, nicht nur in der Beschreibung der Performances von David Janiak, sondern auch in der Darstellung von Keiths Erlebnissen während des 11. September 2001. In dieser Geschichte, die den Rahmen des Textes bildet, ist der fallende Mann kein Künstler, sondern wirklich ein fallender Mann, auch wenn der Leser es erst am Ende erfährt, als er begreift, dass Keith auf den ersten und letzten Seiten nicht nur ein Hemd, sondern einen Menschen fallen sieht. In dieser letzten Szene wird der Stadtraum New Yorks nochmals deutlich beschrieben, als solle damit der Moment betont werden, an dem Keith sich von diesem Ort dauerhaft entfremdet: The only light was vestigial now, the light of what comes after, carried in the residue of smashed matter, in the ash ruins of what was various and human, hovering in the air above. He took one step and then the next, smoke blowing over him. He felt rubble underfoot and there was motion everywhere, people running, things flying past. He walked by the Easy Park sign, the Breakfast Special and Three Suits Cheap, and they went running past, losing shoes and money. He saw a woman with her hand in the air, like running to catch a bus. He went past a line of fire trucks and they stood empty now, headlights flashing. He could not find himself in the things he saw and heard. Two men ran by with a stretcher, someone face-down, smoke seeping out of his hair and clothes. He watched them move into the stunned distance. That’s where everything was, all around him, falling away, street signs, people, things he could not name.
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Then he saw a shirt come down out of the sky. He walked and saw it fall, arms waving like nothing in this life. (246)
Keith bewegt sich schon durch „the light of what comes after“ und befindet sich somit in der Zeit nach dem Bruch, den 9/11 für ihn darstellt, und die von Spuren und den Ascheruinen des Vorherigen gesättigt ist. Sein Anfang ist ebenso unmittelbar wie zaghaft: Er besteht darin, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Keiths Bewegung durch die Stadt führt ihn an Orten vorbei, die durch den bestimmten Artikel als vertraut markiert werden, und seine Beobachtung der Frau verweist auf eine Vergangenheit, in der ihre Geste mit einer Bedeutung beladen war, die nun völlig deplatziert ist. In diesen Momenten verliert Keith den Ort New York und seine damit verbundene Identität: „He could not find himself in the things he saw and heard. […] That’s where everything was, all around him, falling away, street signs, people, things he could not name“ (246). Auf diese Entfremdung folgt jedoch der Absatz, der den Leser im Gegensatz dazu umso deutlicher mit dem Ort New York verbindet, da er auf das visuelles Gedächtnis zurückgreift, das schon durch den ausgelassenen Anfang auf den ersten Seiten ins Spiel kam: Falling Man verweist wie David Janiak auf Richard Drews Foto, und dadurch verortet sich der Text wiederum gerade dann deutlich in New York, als seinem Protagonist dieser Ort abhandenkommt. So wie die Performances des Falling Man nimmt Falling Man Bezug auf einen verstörenden und zutiefst kritischen Moment in der Stadtgeschichte, leitet jedoch aber durch die Repräsentation gerade aus diesem Ereignis eine Identität für die Stadt ab, die zwar unangenehm sein mag, aber dennoch einem zerrütteten Ort auch positive Kohärenz verleihen kann. Falling Man präsentiert New York City also nicht als Anfangsort für Charaktere auf der Suche nach einem Neubeginn, sondern als Stadt, die aus der Sicht der Charaktere eine Krise der Ortshaftigkeit durchmacht und die selbst neuer Anfänge bedarf. Diese finden jedoch im Text nicht durch heroische Akte von Individuen statt, sondern durch fast trotzige Kontinuität über den Moment des Bruchs hinweg. Hier gibt es keinen Franklin, der New York neu formt, sondern nur Charaktere, die damit zu kämpfen haben, dass New York dort einfach weiterzumachen scheint, wo ihr Leben einen immensen Bruch erfahren hat. New York erfährt neue Anfänge nach 9/11 nicht durch Einzelne, sondern durch die Summe seiner Bewohner, die ihre jeweiligen Leben weiterleben. Dies erschafft ebenso Kontinuität und Identität wie Janiaks Performances, die nicht nur durch ihre Verortung New York räumlich definieren, sondern ihm auch eine Streitkultur aufzwingen, die bei allen Meinungsverschiedenheiten letztlich den positiven Zweck hat, dass es New York ist, über das man diskutiert, und dass die Stadt
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über diese sprachliche Erfahrung wieder zu einem vertrauten Ort wird. Die Anfänge der Protagonisten in Falling Man sind prekär und zweifelhaft – sowohl Keiths Leben in Las Vegas als auch Liannes Religiosität kann man als Flucht interpretieren – aber sie wurden gemacht, und sie zeigen, dass 9/11 nicht das Ende aller Anfänge in New York war, sondern letztlich ein Ereignis, das die Stadt verkraften kann, auch wenn es nicht all ihre Bewohner gleichermaßen können. An DeLillos Roman wird deutlich, dass das Konzept der Stadt als Anfangsort auch im 21. Jahrhundert noch von großer Bedeutung für die amerikanische Literatur ist, auch wenn es sich darin natürlich seit Franklins Urtext im 18. Jahrhundert ebenso gewandelt hat wie Städte selbst. Die stetig fortschreitende globale Urbanisierung hat die Stadt inzwischen zum normalen Handlungsort von Erzählungen gemacht. Sie ist kaum mehr der entfernte Ort, auf den alle Hoffnungen und Ängste der Landbevölkerungen projiziert werden, sondern vielmehr ein für die Mehrheit vertrauter Ort, selbst wenn er nur durch die Medien bekannt ist (und dennoch durch seine Vielfalt sogar auch für die tatsächlichen Stadtbewohner immer unheimlich bleibt). Die hier besprochenen Texte haben demnach wenig miteinander gemein und sind vor allem in ihren Unterschieden interessant, allerdings sticht besonders eine Gemeinsamkeit heraus, die gerade durch die Frage des Anfangsortes deutlich wird: Immer wird das Verhältnis von Stadt und Individuum verhandelt. Stadt und Individuum sind deshalb in der Literatur so untrennbar miteinander verbunden, weil Ortshaftigkeit (ebenso wie Anfänglichkeit) eine phänomenologische Kategorie ist; die Stadt braucht sozusagen das Individuum, das es als Ort erfährt, und umgekehrt kann das Individuum diesen Ort natürlich auch nur dann erfahren, wenn die Stadt vorhanden ist. Anfänge kann man parallel dazu betrachten: Sie müssen von jemandem gemacht oder erfahren werden, ansonsten kann nicht von einem Anfang die Rede sein. Der Anfangsort ist somit eine Dopplung individueller Erfahrung. Beide Komponenten werden durch die Stadt begünstigt, auch wenn sie natürlich anderswo möglich sind: Die Vielfalt des urbanen Raums hält das größtmögliche Potential für Orte und Anfänge bereit, welches das Individuum nutzen und beeinflussen kann, an dem es aber auch scheitern kann. Bei Franklin, Whitman, Wright und DeLillo bleiben diese Anfänge aber keineswegs persönlich, sondern können lokale, nationale und globale Auswirkungen haben. All diese Texte erfüllen dabei eine Doppelfunktion: Sie stellen nicht nur Orte und Anfänge dar, sondern verstehen sich selbst als Anfänge, die sich eine bestimmte Art der Repräsentation von Stadt zunutze machen. So bleibt in der amerikanischen Literatur die Imagination der Stadt als Anfangsort über mehrere Jahrhunderte hinweg eine ebenso bedeutsame wie kontinuierliche Größe, was jedoch gerade in ihrer Flexibilität begründet ist. Das Konzept konnte in den verschiedensten Zusammen-
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hängen nutzbar gemacht werden und bot insbesondere in Bezug auf persönliche, soziale und politische Krisen einen ebenso komplexen wie konstruktiven Erzählrahmen, und an dieser Möglichkeit hat sich bei allen Variationen des Konzepts auch im 21. Jahrhundert letztlich nichts geändert.
3. Die Straße als Anfangsort
Während die Stadt auch außerhalb eines amerikanischen Kontextes ohne Schwierigkeiten als Anfangsort verstanden werden kann, wie etwa die Beispiele von London oder Paris in der europäischen Literatur zeigen, so funktioniert diese transatlantische Übertragung bei anderen Anfangsorten allerdings weniger mühelos. Kaum ein Ort scheint in der kulturellen Imagination des 20. Jahrhunderts amerikanischer als die Straße: „The road is a trope for social and economic life in the United States; it reflects what Americans hold to be important and central to our being“ (Raitz 364). Nirgendwo sonst scheint die Straße den Raum zu finden, den sie braucht, um einer Imagination als Anfangsort zu dienen. Wie sollte etwa eine Straße in England die Konnotation von Freiheit, Potential und Neuanfang annehmen können, wenn man problemlos an einem einzigen Tag von Plymouth im Süden nach Newcastle-upon-Tyne im Norden fahren könnte? Auf dem europäischen Kontinent gibt es nicht zuletzt deshalb beispielsweise kein Äquivalent zur amerikanischen Route 66, weil jede Straße relativ bald an Landesgrenzen stößt, die zwar mittlerweile mehr oder weniger durchlässig geworden sind, aber immer noch allzu oft Demarkationslinien der Imagination sind, wie es die Staatengrenzen in den USA nie waren. Die wichtigste Bedingung dafür, dass in den USA (und nicht in Europa) die Straße als Anfangsort mit oben genannten Bedeutungen belegt werden konnte, ist jedoch nicht unbedingt die Ausdehnung des Raumes, sondern die Konstruktion seiner Verfügbarkeit: Das Streben gen Westen während der Kolonisierung Amerikas machte Bewegung zur Grundlage amerikanischen Lebens (auf Kosten derer, die im angeblich leeren Raum lebten). In Europa bot sich praktisch nirgendwo solch scheinbar offener Raum, und Nordskandinavien war und ist aus gutem Grund so dünn besiedelt. Wer in Amerika das Neue suchte, ging nach Westen; wer in Europa das Neue suchte, ging nach Amerika.
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Dieses Bewegungspotential erhielt sich auch noch weit über das Ende der Besiedelung des Westens und das Verschwinden der Frontier hinaus und kann als eines der Grundprinzipien bezeichnet werden, nach denen amerikanische Kultur sich selbst definiert und global verstanden wird. Im Bild der Straße verdichtet sich dieser Drang zum Neuen, zur Veränderung, wodurch sie zum amerikanischen Anfangsort schlechthin wird. Auch wenn sich in den USA natürlich ein großes Repertoire an Symbolen für Bewegung, Fortschritt und Veränderung angesammelt hat, nimmt die Straße darin insbesondere im 20. Jahrhundert eine besonders wichtige Stellung ein, da sie in ihrem Bedeutungszusammenhang die für die amerikanische Kultur zentralen Aspekte Raum, Technologie, Identität, Fortschritt, Gesellschaft und Individualität vereint wie kein anderes Bild. Ronald Primeau stellt dies gleich zu Beginn seiner umfassenden Studie Romance of the Road: The Literature of the American Highway fest: „Roads and cars have long gone beyond simple transportation to become places of exhilarating motion, speed, and solitude. Getting away is a chance at a new start, a special time to discover self and country […]“ (1). Die Symbolik der Straße ist dabei aber nicht zuletzt aufgrund ihrer Komplexität durchaus geeignet, sich aus dem amerikanischen Kontext zu lösen, jedoch bleibt zumeist ein Verweis auf ihren amerikanischen Ursprung erhalten. Dies ist deutlich am road movie erkennbar, bei dem sich ein Motiv zum definierenden Merkmal eines Genres entwickelt hat: Auch wenn inzwischen längst zahllose Abwandlungen innerhalb des Genres die Straße außerhalb der USA verorten, nehmen sie dennoch stets Bezug auf die grundlegende und anfängliche Imagination der Straße, wie sie von der amerikanischen Filmproduktion vorgegeben wurde (vor allem in den 1960er Jahren durch Easy Rider, The Wild One oder Bonnie and Clyde). Deutsche road movies ist ebenso möglich wie indische, doch sind sie eben dadurch als road movies erkennbar, da sie den Genrekonventionen entsprechen oder auch widersprechen (womit diese aber dennoch sozusagen ex negativo anerkannt werden), die von amerikanischen Erzählungen definiert und geprägt wurden. Diese Erzählungen sind keineswegs nur filmischer Art; man kann sogar sagen, dass das Filmgenre des road movie auf entsprechenden literarischen Erzählungen basiert, allen voran Jack Kerouacs On the Road (1957), unbestrittenermaßen der Urtext der amerikanischen Straßenerzählung. Das folgende Kapitel wird zunächst analysieren, wie On the Road das Motiv der Straße als Anfangsort entwickelt, um dann zu zeigen, dass dieses Motiv bis ins 21. Jahrhundert nichts von seiner Bedeutung für die amerikanische Literatur verloren hat, und wie es verändert, angepasst und hinterfragt wurde, um diesen Symbolgehalt zu bewahren, umzuwerten und für neue kulturelle Zusammen-
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hänge nutzbar zu machen. Diese Betrachtung umfasst John Steinbecks autobiographischen Roman Travels with Charley: In Search of America (1962), Kathy Ackers Empire of the Senseless (1988) sowie The Road von Cormac McCarthy und Only Revolutions von Mark Z. Danielewski, beide 2006 veröffentlicht. Diese Auswahl deutet bei näherer Betrachtung an, dass die Straße natürlich nicht erst durch On the Road zu einem zentralen Symbol in der amerikanischen Kultur geworden ist, auch wenn die Bedeutung von Kerouacs Roman für diese Entwicklung kaum überbewertet werden kann und man keinen dieser Texte lesen können wird, ohne auf Spuren von On the Road zu stoßen. Danielewski nimmt aber beispielsweise auch Bezug auf Walt Whitman, der im 19. Jahrhundert die Straße als Symbol für Freiheit und Individualismus gebrauchte, etwa in „Song of the Open Road“: Afoot and light-hearted I take to the open road, Healthy, free, the world before me, The long brown path before me leading wherever I choose. Henceforth I ask not good-fortune, I myself am good-fortune, Henceforth I whimper no more, postpone no more, need nothing, Done with indoor complaints, libraries, querulous criticisms, Strong and content I travel the open road. (LoGV I.225-26)
In diesen kurzen Strophen sind schon viele der Aspekte vereinigt, die zusammenfassend als „the gay fresh sentiment of the road“ (LoGV I.228) bezeichnet werden können, und die sich in On the Road ebenso wiederfinden wie bei Kerouacs Epigonen: Anfang, Erwartung, Euphorie, Freiheit und Befreiung, Potential, Individualität, Glück, und insgesamt das Neue, das für das Individuum oft die Form einer bedeutsamen, ja mystischen Eingebung hat. Andere Texte des 19. Jahrhunderts fügen der Straßenerzählung noch weitere Facetten hinzu, etwa indem sie das Motiv der Befreiung durch den Aspekt der Flucht verkomplizieren; dies ist beispielsweise bei Adventures of Huckleberry Finn von Mark Twain (1884) der Fall, das generell als exemplarischer Straßentext klassifiziert werden kann, auch wenn die Protagonisten sich auf der Wasserstraße des Mississippi bewegen. Dieses Beispiel zeigt auch, wie flexibel man den Begriff der Straße verstehen muss, wenn er einen Fluss ebenso bezeichnen kann wie Whitmans „brown path“ oder eine geteerte Straße. Technologische Entwicklungen im 20. Jahrhundert haben die Imagination der Straße sehr eng mit dem Automobil verknüpft, und dieses Paradigma wurde durch Texte wie On the Road bekräftigt, allerdings gibt
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es durchaus auch Gegendiskurse, die eine andere Position zur Straße einfordern – das Motorrad und der Lastwagen sind Verkehrsmittel, die auf derselben Straße fahren wie Autos, die aber oft mit komplett anderen Konnotationen und Ideologien belegt werden. In der Imagination der Straße ist die Art der Bewegung untrennbar mit dem Ort der Bewegung verbunden, aber jeder der beiden Aspekte ist variabel und bringt eigene Bedeutungszusammenhänge mit sich. Auch die materielle Straße kann sehr verschiedene Formen mit jeweils sehr verschiedenem Symbolgehalt annehmen, und so ist es für die Erzählungen der Straße nicht nur wichtig, wie man sich fortbewegt, sondern auch, ob diese Bewegung auf einer vielbefahrenen Hauptstraße, einer verwaisten Nebenstraße, einem Highway, einer heruntergekommenen oder einer gut erhaltenen Straße stattfindet, und so weiter. Zudem sollte man bei einer Betrachtung dieser Darstellungsformen den kulturgeschichtlichen Kontext und die Funktion der Straße in den USA nicht vernachlässigen. Dies bedeutet zum Beispiel, das komplexe Verhältnis der Straße zur Stadt zu berücksichtigen. Einerseits ist die Straße in den USA durch die Stadt bedingt, das heißt, sie war zunächst einmal eine Verbindung zweier Orte mit eher sekundärem eigenen Ortscharakter: „In colonial America, primitive roads radiated from the principal commercial cities, but their planning, construction, and care was generally in the hands of local authorities“ (Raitz 366). Andererseits ist die Straße in ihrer unbedingten Notwendigkeit für die Stadt auch gleichzeitig ihr Gegenpol und wird so wirklich selbst zum Ort, dessen Symbolik oft im Kontrast zur Stadt konstruiert wird (wie sich beispielsweise bei On the Road zeigen wird). Dies bedeutet, die Stadt negativ als Ort der Menschenmassen, des Stillstands und der Einschränkung zu verstehen, während die Straße zum Ort von Individualität, Bewegung und Freiheit wird. Das zeigt sich an der sehr wichtigen Unterscheidung von road und street im Englischen, die im Deutschen nicht gemacht wird: Der Mythos der Straße als Anfangsort in den USA bezieht sich fast ausschließlich auf the road und nicht auf the street, da letztere Straße im urbanen Kontext nicht (wie erstere) die Projektion von offenem Raum und somit individueller Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten erlaubt, sondern immer Teil des gegebenen Stadtraums ist. Franklins Bewegung durch die Straßen von Philadelphia bei seiner Ankunft erlaubt ihm zwar eine positive Erfahrung der Stadt, doch bieten diese rechtwinklig angeordneten Straßen kein Symbol des persönlichen Neuanfangs, sondern zeigen eher die strikt konstruierte Ordnung, die Franklin vorfindet. In Don DeLillos Cosmopolis (2003) verbringt der Protagonist zwar fast die gesamte Erzählung über in einer Limousine, steckt aber eigentlich nur im Stau in New York City fest, so dass der Roman eher eine street novel ist, die als Kommentar zur road novel betrachtet werden kann. Die Straße außerhalb der
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Stadt hingegen ist nicht weniger ein Teil menschlicher Zivilisation und materieller Konstruktion, jedoch wird sie nicht durch die Imagination des urbanen Raums begrenzt und kann daher Bedeutungen von Offenheit und Freiheit annehmen. Ein Teil dieser Befreiung betrifft den Aspekt des Kapitalismus: Wenn die Stadt traditionell der Ort des Handels ist, kann die Straße – selbst wenn sie schon zu Kolonialzeiten „the principal commercial cities“ (Raitz 366) miteinander verbunden hat – potentiell zum Ort einer antikapitalistischen Gegenkultur werden, der sich diesem Markt entzieht. Diese Möglichkeit wird allerdings nicht nur dadurch deutlich eingeschränkt, dass die Straße immer auch ein Handelsweg war, sondern auch durch Entwicklungen im 20. Jahrhundert, welche die Straße selbst zum „linear retail corridor“ (Raitz 381) gemacht haben, indem eine kapitalistische roadside erschaffen wurde. Nicht zuletzt dieser Aspekt erklärt, dass die Straße generell gleichzeitig ein Ort der Freiheit und Veränderung und ein Ort der Überwachung ist: „the road is a very powerful space; and unless it is handled very carefully and constantly watched, it can undermine and destroy the existing order“ (Jackson 6). Die Straße kann immerhin auch als Kontrollinstanz der Bewegung betrachtet werden; Whitmans Zeile „The long brown path before me leading wherever I choose“ (LoGV I.226) verweist zwar auf die freie Wahl des Ziels, zeigt aber gleichzeitig, dass der Weg eben doch durch eine Straße vorgegeben und somit nicht komplett frei ist. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Kontrolle und Revolution verdichtet sich im Konzept der Straße als Anfangsort, wie es in den hier analysierten Romanen verhandelt wird. Zu dieser literarischen Darstellung gehört auch der kreative Umgang mit einer grundlegenden Schwierigkeit, die Straße in ihrer Ortshaftigkeit (und im Verhältnis zum Anfang) zu konzipieren. Schon Whitman deutete durch seine Wortwahl in „Song of the Open Road“ auf einen Widerspruch hin, der besonders wichtig für die Frage ist, inwiefern die Straße als Anfangsort verstanden werden kann: „Strong and content I travel the open road“ verbindet Bewegung mit Zufriedenheit, die eigentlich eine positive Ruhe impliziert. Die Straße als Anfangsort enthält ein grundlegendes Paradox, das sich in anderer Form auch schon hinsichtlich der Stadt gezeigt hat: Sie ist einerseits zweifellos ein Ort, andererseits aber immer der Ort von Bewegung. Man kann sich auf einer Straße befinden und sich schnell fortbewegen, ja die Bewegung ist sogar die grundlegende Art, wie man sich auf einer Straße befindet. Die Stadt ist als Ort aufgrund ihrer Größe und Vielfalt nur schwer bzw. indirekt greifbar; die Straße ist dadurch von problematischer Ortshaftigkeit, dass sie als Ort Bewegung impliziert und fordert. Anstatt sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, bewegt man sich auf der Straße, während man am selben Ort bleibt. Diese paradoxe Dopplung
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wirkt sich auch auf die Interpretation der Straße als Anfangsort aus: Welcher Art sind die Anfänge, die auf der Straße gemacht, wahrgenommen oder erfahren werden? Hält man einen echten Anfang für möglich, wenn man die Bewegung auf der Straße als Sonderform von Stillstand interpretiert? Einerseits trägt die Straße weit mehr als andere Orte ihr Anfangspotential offen zur Schau, da sie mehr als die Stadt (oder etwa das Meer) Bewegung impliziert, doch andererseits scheinen die Anfänge auf der Straße dadurch nur prekärer, da sie so stark an die Straße gebunden sind. Anders gesagt: Wenn die Bewegung auf einer Straße automatisch einen Anfang impliziert, dann kann der Anfang dadurch an Bedeutung verlieren, dass er möglicherweise verschwindet, sobald die Bewegung aufhört und man die Straße verlässt. Anfänge sind in der Stadt durch Vielfalt bedingt, auf der Straße durch Bewegung. Da der Zustand der Bewegung aber für das Individuum schwieriger aufrechtzuerhalten ist als der Zustand urbaner Vielfalt, auf den es weitaus weniger Einfluss hat, so ist die Straße ein Anfangsort, der dem Einzelnen zwar mehr aktive Beteiligung ermöglicht, diese aber auch permanent einfordert. Somit wird der Anfang auf der Straße zugleich einfacher aber immer auch kurzfristig, und durch die ständige Bedrohung durch den Stillstand ist an diesem Ort sehr deutlich auch immer das mögliche Scheitern des Anfangs präsent. Das folgende Kapitel soll zeigen, wie die ausgewählten Texte die Straße als Anfangsort darstellen, wie sie Anfänge in Bezug auf die Straße interpretieren und vermitteln, und wie sie dem Paradox des bewegten Stillstands beziehungsweise der stillstehenden Bewegung auf der Straße begegnen.
3.1
JACK KEROUAC, ON THE ROAD
Schon in Jack Kerouacs On the Road ist diese Ambivalenz vorhanden. Der Roman selbst wird zwar in seiner kulturhistorischen Bedeutung oft romantisiert und zum positiven Symbol für Freiheit, Bewegung und die Erfahrung des Neuen stilisiert, jedoch bietet der Text inhaltlich keineswegs nur ein idealisiertes Urbild der Straße. Man kann beispielsweise John Barths Roman The End of the Road (1958) als kritische und relativierende Gegenstimme zu On the Road lesen, die Stillstand anstelle von Bewegung als charakterisierendes Phänomen der amerikanischen Gesellschaft betont, allerdings sollte dabei nicht vergessen werden, dass On the Road selbst keineswegs nur positive Darstellungen von Bewegung enthält. On the Road ist zwar die Bibel der Beat Generation und der von ihr beeinflussten amerikanischen Gegenkultur der 1960er Jahre, äußert sich aber durchaus kritisch über sein eigenes Kernthema der Bewegung und Veränderung. Dieser Zwiespalt zwischen Revolution und Konservatismus wird im zentralen
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Symbol des Romans, der Straße, auf vielfältige Weise verhandelt, und eine Möglichkeit der Zusammenfassung bietet sich mit der Frage, ob in On the Road die Straße wirklich ein Anfangsort ist oder nicht. On the Road berichtet von insgesamt vier road trips des Protagonisten und Erzählers Sal Paradise, die ihn zumeist von New York bzw. Virginia über Denver nach Kalifornien führen; nur die letzte Fahrt beinhaltet keine Ost-WestBewegung, sondern führt nach Süden bis nach Mexico City. Dabei wird Sal oft von Dean Moriarty begleitet, den man durchaus als eigentlichen Protagonisten des Buches bezeichnen kann. On the Road funktioniert stellenweise wie ein Schlüsselroman der Beat Generation: Sal Paradise ist Kerouacs alter ego, Dean Moriarty ist Neal Cassady, Camille ist dessen Frau Carolyn, Carlo Marx ist Allen Ginsberg, Old Bull Lee ist William S. Burroughs, und so weiter. Jedoch versteht sich der Text nicht als Autobiographie einer Person oder einer Generation, sondern kann vielmehr als kritisches Manifest in Romanform gelesen werden, das weniger die abgeschlossene Geschichte eines Individuums oder einer Gruppe erzählen will, sondern ein Lebensgefühl und eine Geisteshaltung gegenüber Welt und Gesellschaft auch mit Blick auf die Zukunft darstellt. Wenn es über die Charaktere heißt: „Holy flowers floating in the air, were all these tired faces in the dawn of Jazz America“ (185), dann wird deutlich, dass On the Road den Anfang eines neuen Amerika beschreiben und selbst markieren will, während es sich gegen etablierte Diskurse über Amerika wendet: „If On the Road is about defining America, it is also about staging an intervention into official definitions of history and nationhood“ (Vlagopoulos 60-61). Indem Sal von „the sordid hipsters of America, a new beat generation that I was slowly joining“ (48) erzählt, kündigt er nicht weniger als ein neues Zeitalter für die USA an, eine fundamentale Veränderung durch eine neue Generation, während er aber gleichzeitig dieses revolutionäre Potential dadurch relativiert, dass er die Generation als beat bezeichnet. Der Begriff, von Kerouac zuerst geprägt, vereinigt mehrere Bedeutungen in sich: Die Beat Generation ist erschöpft und besiegt, aber auch beatific, also glückselig oder seligmachend. Dazu kommt noch die musikalische Konnotation des Beats, die insbesondere insofern bedeutsam ist, als der Jazz den Soundtrack zur Gegenkultur lieferte, aber auch Kerouac ein Modell für schriftstellerisches Schaffen bot. Ginsberg bezeichnete Kerouacs Stil als „spontaneous bop prosody“ (Clark 173), um das Element der Improvisation in der Textproduktion zu betonen; Truman Capote hingegen urteilte darüber lakonisch: „That’s not writing, that’s typewriting“ (Hunt xiii). Kerouac schrieb On the Road auf einer von ihm selbst zusammengeklebten Papierrolle von mehr als 30 Metern Länge. Laut eigenen Angaben brauchte er dafür drei Wochen, auch
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wenn dem Buch durchaus ein längerer Produktionsprozess voranging. 13 Diese Umstände des Schreibens spiegeln so im Stil jene Geschwindigkeit wieder, die den Text auch inhaltlich beherrscht: The need to set the book down on paper as fast as he [Kerouac] could gave his language an urgency that corresponds to the urgency of the story itself. The pressure of writing and the pressure of the story intersect, and the prose is not merely about a series of episodes but suggests directly in the rush of language the characters’ excitement and intensity. (Foster 39)
Der Text thematisiert sogar seine eigenen Schwierigkeiten, dieses Lebensgefühl der Geschwindigkeit einzufangen und wiederzugeben, als Dean Sal beim Schreiben eines Romans beobachtet: „‚Man, wow, there’s so many things to do, so many things to write! How to even begin to get it all down and without modified restraints and all hung-up on like literary inhibitions and grammatical fears…‘“ (6). On the Road setzt sich somit sowohl an den Anfang einer neuen Art zu schreiben – „to him ‚spontaneous prose‘ was the beginning of a new literature“ (Charters 198) – wie auch an den Anfang einer neuen Generation, und keiner dieser Anfänge ist unproblematisch. Der Ort dieser Anfänge ist im Text die Straße, die vom ersten Absatz an als solcher eingeführt wird: I first met Dean not long after my wife and I split up. I had just gotten over a serious illness that I won’t bother to talk about, except that it had something to do with the miserably weary split-up and my feeling that everything was dead. With the coming of Dean Moriarty began the part of my life you could call my life on the road. Before that I’d often dreamed of going West to see the country, always vaguely planning and never taking off. (3)
Die Straße bietet Sal eine Möglichkeit, sich von einer Vielzahl an negativen Gefühlen zu befreien. Schon die Tatsache, dass diese Umstände nicht näher beschrieben werden, deutet darauf hin, dass sie durch den gemachten Anfang tatsächlich zurückgelassen wurden. Die Straße ist das Gegenmittel zur Depression und dem Gefühl, alles sei tot; später definiert Sal ausdrücklich: „[…] the road
13 2007 wurde das Manuskript des Romans als On the Road: The Original Scroll veröffentlicht. Das Buch enthält mit Howard Cunnells Einführung „Fast this time: Jack Kerouac and the Writing of On the Road“ einen umfassenden und sehr erhellenden Abriss der Produktions- und Publikationsgeschichte.
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is life“ (192). Indem Sal sein Leben auf der Straße als Verwirklichung eines Traumes schildert, deutet er den Unterschied zwischen gemachten Anfängen und erträumten Anfängen an und präsentiert seine Reise als Befreiung von Stillstand, als Bewegung aus der Stagnation heraus. Dabei fungiert Dean Moriarty als Auslöser für diesen Anfang, und er wird in On the Road quasi als Ureinwohner der Straße präsentiert: „Dean is the perfect guy for the road because he actually was born on the road“ (3). Robert Hipkiss nennt Dean zurecht „the most singular hero of the road America has ever had“ (42). Die Straße ist für Dean weitaus buchstäblicher ein Anfangsort als für die anderen Charaktere. Die Bewegung ist seine grundlegende Lebensweise, die nur von immer endlichen Zeiträumen der Ruhe durchbrochen wird. Er hat demnach keinen festen Wohnsitz, „no place to live“ (5), aber in der Doppelbedeutung des Ausdrucks auch keinen stabilen Ort, an dem er leben könnte, so dass die Straße als paradoxer Ort der Bewegung sein wirkliches Zuhause wird. Er wird als extrem enthusiastische Person beschrieben, die Sal mit ihrer Rastlosigkeit und Liebe zum Leben ansteckt: As we rode in the bus in the weird phosphorescent void of the Lincoln Tunnel we leaned on each other with fingers waving and yelled and talked excitedly, and I was beginning to get the bug like Dean. He was simply a youth tremendously excited with life, and though he was a con-man, he was only conning because he wanted so much to live and to get involved with people who would otherwise pay no attention to him. (6)
In Carlo Marx findet Dean einen Seelenverwandten, und Sals Beschreibung der beiden fasst knapp zusammen, wer potentiell der Beat Generation angehört – es sind diejenigen, die ein unbegrenztes Begehren nach Leben mit einer unbegrenzten Begeisterung dafür verbinden: They rushed down the street together, digging everything in the early way they had, which later became so much sadder and perceptive and blank. But then they danced down the streets like dingledodies, and I shambled after as I've been doing all my life after people who interest me, because the only people for me are the mad ones, the ones who are mad to live, mad to talk, mad to be saved, desirous of everything at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace thing, but burn, burn, burn like fabulous yellow roman candles exploding like spiders across the stars and in the middle you see the blue centerlight pop and everybody goes „Awww!“ (7)
Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass diese Beschreibung von für Sal interessanten Personen und ihrer Haltung zum Leben von einem Satz eingeleitet wird, der diese Gier nach Leben und somit auch ihr Anfangspotential relativiert.
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Sal stellt seinen Worten voran, dass die Art der Wahrnehmung von Carlo und Dean später „so much sadder and perceptive and blank“ (7) geworden sei, und so verweist er kurz auf die Desillusionierung, die in den folgenden Worten nicht mehr zu finden ist. Einerseits charakterisiert Sal das geteilte Lebensgefühl von Menschen, die dadurch zu einer Gruppe und sogar einer Generation werden, andererseits schränkt er das Potential ein, dass diese Lebenseinstellung einen wirklichen Neuanfang darstellen könnte, indem er zwar ihre (im Gegensatz zur Masse der Bevölkerung in der amerikanischen Konsumgesellschaft) revolutionäre Haltung aufzeigt, gleichzeitig aber die ursprüngliche Erkenntnis und Einschätzung dieser Haltung in Frage stellt. Carlo und Dean sind nur deshalb so enthusiastisch, weil sie unschuldig und naiv sind, wohingegen ihre Erfahrung später scharfsinniger, aber auch trauriger und leerer sein wird. Sal widerlegt dadurch nicht unbedingt seine Einschätzung als falsch, unterstreicht aber dennoch, dass sie keineswegs uneingeschränkt zutreffend ist. Er identifiziert in diesem Lebensgefühl zwar das Potential für Anfänge, deutet aber auch rückblickend an, dass diese Anfänge irgendwann von der Realität eingeholt wurden. Insgesamt zeigt sich in On the Road, dass die Anfänge, die durch die Straße möglich sind und auf der Straße gemacht werden, nur solange von Dauer sind, wie die Bewegung aufrechterhalten wird. Zugleich scheint es so, als blieben sie letztlich folgenlos für die Zeit nach der Bewegung. Die road trips kann man mit einer Batterie vergleichen, der langsam aber sicher die Energie ausgeht. Auch wenn der Reise zwischendurch neue Energie zugeführt wird, sei es durch Geld, neue Bekanntschaften oder spontan gewählte neue Ziele, ist ihr Ende unvermeidlich. Diese entropische Tendenz ist das Grundproblem der Straße als Anfangsort in On the Road, da diese Anfänge immer mit Bewegung verknüpft sind, deren Energiebedarf nie langfristig oder gar endgültig gedeckt werden kann. Diese Tendenz weist auch die Sprache des Textes auf: Wenn Sal und Dean sich förmlich auf die Straße stürzen, finden sich in der Erzählung viele sprachliche Figuren des Anfangs, jedoch stehen diesen ebenso viele Figuren des Endes gegenüber, wenn die beiden zum Stillstand kommen und ihre Reise vorbei ist. Letztere finden sich in vielen Sätzen wie diesen: „Everything was falling apart. My stay in San Francisco was coming to an end“ (70); „What I accomplished by coming to Frisco I don’t know“ (161); „It was the Denver Night; all I did was die“ (164). Die dem gegenüberstehende Anfangsrhetorik zeigt sich beispielhaft vor allem an Sals allererster Reise: Then came spring, the great time of traveling, and everybody in the scattered gang was getting ready to take one trip or another. I was busily at work on my novel and when I
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came to the halfway mark, after a trip down South with my aunt to visit my brother Rocco, I got ready to travel West for the very first time. (8)
Sal geht kaum auf seine Reise in den Süden ein, da diese nicht die Kriterien des road trips erfüllt; sie bietet ihm weder Freiheit noch Erkenntnis. Genau dies verspricht aber die Bewegung nach Westen, die historisch eine fundamentale Rolle für das kulturelle Selbstverständnis der USA spielt, und die hier vom Protagonisten auf individueller Ebene nachvollzogen wird. Auslöser der Reiselust ist Dean, als er sich verabschiedet, um mit dem Bus nach Denver zu fahren: I promised myself to go the same way when spring really bloomed and opened up the land. And this was really the way that my whole road experience began, and the things that were to come are too fantastic not to tell. Yes, and it wasn’t only because I was a writer and needed new experiences that I wanted to know Dean more, and because my life hanging around the campus had reached the completion of its cycle and was stultified, but because, somehow, in spite of our difference in character, he reminded me of some long-lost brother [...]. (9)
Auch wenn Sal vor allem seine Freundschaft zu Dean als Motivation für seine Reise anführt, wird deutlich, dass es sich bei dem road trip für ihn um einen notwendigen Neuanfang handelt, der ihn aus seiner Stagnation an der Ostküste befreien und ihm neue Impulse als Schriftsteller geben soll. Eine spätere Fahrt, wieder motiviert durch Dean, erlaubt Sal den Ausbruch aus der bürgerlichen Umgebung, die sich ihm nach dem Weihnachtsfest bietet, wodurch das Motiv der antibürgerlichen Gegenkultur stärker betont und in Zusammenhang zur Straße gesetzt wird: I had been spending a quiet Christmas in the country, as I realized when we got back into the house and I saw the Christmas tree, the presents, and smelled the roasting turkey and listened to the talk of the relatives, but now the bug was on me again, and the bug’s name was Dean Moriarty and I was off on another spurt around the road. (104)
Sal beschreibt zwar immer wieder die Verlockung des Neuen, die sich ihm durch Dean bietet, relativiert zugleich oft aber rückblickend, dass die tatsächliche Erfahrung keineswegs so positiv war, wie sie ihm im Vorfeld erschien: Although my aunt warned me that [Dean] would get me in trouble, I could hear a new call and see a new horizon, and believe it at my young age; and a little bit of trouble or even Dean’s eventual rejection of me as a buddy, putting me down, as he would later, on
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starving sidewalks and sickbeds – what did it matter? I was a young writer and I wanted to take off. Somewhere along the line I knew there’d be girls, visions, everything; somewhere along the line the pearl would be handed to me. (10)
Der letzte Satz kann als Blaupause für die road story verstanden werden, die den zentralen Aspekt der Erzählung beinhaltet: die Hoffnung auf Erfahrungen, auf mystische Erkenntnis und Einsicht in das Leben (und nicht zuletzt auf Sex und/oder Liebe) – die Hoffnung auf einen Anfang, den man in dem Moment schon macht, in dem man auf die Straße fährt, der sich aber mit der weiteren Bewegung auf der Straße immer auch weiter vollzieht. Das Bild der Perle erklärt sich erst später in aller Deutlichkeit, als Sal und Dean auf der Straße eine gemeinsame Eingebung haben: „He and I suddenly saw the whole country like an oyster for us to open; and the pearl was there, the pearl was there“ (124). In diesem Bild wird Amerika wie so oft als Land des Potentials beschrieben, das für die beiden etwas bereithält, das so wertvoll und selten ist wie eine Perle in einer Muschel. Es gewährt Sal und Dean nicht nur eine Vielzahl von möglichen Anfängen, sondern verheißt gleichzeitig auch noch deren langfristigen Erfolg. Worin genau dieser Erfolg besteht, bleibt offen; mit „girls, visions, everything“ (10) ist allerdings wohl recht gut umschrieben, was er für Sal und Dean bedeuten mag. Man könnte diese Form des Anfangs als bloßen Eskapismus deuten, als Flucht einer Generation ins Hedonistische vor den realen soziopolitischen Verhältnissen, aber andererseits beinhaltet dies nicht weniger als die Hoffnung auf einen spirituellen Neuanfang in kosmischen Dimensionen, der durch mystische Erkenntnis des Individuums ermöglicht wird. Die Suche nach Erfahrung kann als an sich wertvoller Anfang für das Individuum verstanden werden; die Revolution findet in On the Road nicht auf politischer Ebene statt, sondern auf der Bewusstseinsebene der Charaktere. Sal rückt dieses Potential der Straße für Anfänge und Erfahrungen immer wieder in die Nähe von Prophetie und Erleuchtung: „I pictured myself in a Denver bar that night, with all the gang, and in their eyes I would be strange and ragged and like the Prophet who has walked across the land to bring the dark Word, and the only Word I had was ‚Wow!‘“ (33). Egal ob als „the pearl“ oder „the Word“ symbolisiert, der Raum Amerikas hält Erleuchtung bereit: „We were on the roof of America and all we could do was yell, I guess – across the night, eastward over the Plains, where somewhere an old man with white hair was probably walking toward us with the Word, and would arrive any minute and make us silent“ (49). Zugleich erkennt Sal aber auch an, dass diese endgültige Erleuchtung, dieses Ziel aller Ziele, absolut unerreichbar ist:
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„There’s one last thing I want to know – “ „But, dear Sal, you’re listening, you’re sitting there, we’ll ask Sal. What would he say?“ And I said, „That last thing is what you can’t get, Carlo. Nobody can get to that last thing. We keep on living in hopes of catching it once for all.“ (43-44)
Gleich bei seiner ersten Erfahrung der Straße werden diese Hoffnungen von Sal bitter enttäuscht. Sein erster Trip ist ein scheiternder Anfang, weil er Plan und Realität nicht deckungsgleich machen kann und versucht, seine Erlebnisse im Vorfeld zu konzipieren, anstatt sie geschehen zu lassen. Nicht zuletzt deshalb distanziert sich Sal auch von der Vorstellung, seine Reise hätte auch nur im Geringsten mit Tourismus zu tun, wenn er sich über eine Frau beklagt, die ihn als Anhalter mitnimmt, und der er im Anschluss zeigt, was es mit wirklicher Bewegung (nämlich schneller und kontinuierlicher Bewegung) auf der Straße auf sich hat: „She […] at one point insisted on visiting an old church somewhere, as if we were tourists, and then I took over the wheel and, though I’m not much of a driver, drove clear through the rest of Illinois to Davenport, Iowa, via Rock Island“ (13). Der Anfang von Sals erster Reise ist zu sehr geplant, und deshalb bleibt Sal der persönliche Anfang dabei verwehrt: I’d been poring over maps of the United States in Paterson for months, even reading books about the pioneers and savoring names like Platte and Cimarron and so on, and on the road-map was one long red line called Route 6 that led from the tip of Cape Cod clear to Ely, Nevada, and there dipped down to Los Angeles. I’ll just stay on 6 all the way to Ely, I said to myself and confidently started. To get to 6 I had to go up to Bear Mountain. Filled with dreams of what I’d do in Chicago, in Denver, and then finally in San Fran, I took the Seventh Avenue subway to the end of the line at 242nd Street, and there took a trolley into Yonkers; in downtown Yonkers I transferred to an outgoing trolley and went to the city limits on the east bank of the Hudson River. (11)
Sal ist in Gedanken schon in San Francisco, auch wenn er noch nicht einmal New York City verlassen hat. Erst Dean wird ihm zeigen, dass die Reise selbst weitaus wichtiger ist als das Ziel. Noch konzentriert sich Sal aber zu sehr auf die Zukunft als auf die Gegenwart seiner Erfahrung. Seine Befreiung von der Stadt endet vierzig Meilen nördlich davon, als er feststellen muss, dass die Straße nicht unweigerlich der Anfangsort ist, den er sich erhofft hat, sondern dass sie nur dann zum Ort der Erfahrungen werden kann, wenn man sie dazu macht. Eine persönliche Entwicklung auf der Straße ist somit in On the Road nicht planbar, sondern muss einfach geschehen. Der Anfang auf der Straße erfordert eine an-
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gemessene Einstellung und somit seinerseits einen angemessenen Anfang. Bei Sal hingegen geht praktisch alles schief: It began to rain in torrents when I was let off there. It was mountainous. Route 6 came over the river, wound around a traffic circle, and disappeared into the wilderness. Not only was there no traffic but the rain came down in buckets and I had no shelter. I had to run under some pines to take cover; this did no good; I began crying and swearing and socking myself on the head for being such a damn fool. I was forty miles north of New York; all the way up I’d been worried about the fact that on this, my big opening day, I was only moving north instead of the so-longed-for west. Now I was stuck on my northernmost hangup. (11)
Dieses Scheitern ist umso schmerzlicher für Sal, als es zu dem Zeitpunkt geschieht, den er als bedeutsam versteht, „my big opening day“ (11), dem Anfang seiner Reise. Die Geographie spiegelt hier seine Psyche wieder; er hat in beiden Fällen die falsche Richtung eingeschlagen. Er ist falsch vorbereitet, weil er sich in seiner Imagination vorbereitet hat, anstatt sich materiell vorzubereiten. In Schuhen, die er als „plantlike sieves not fit for the rainy night of America and the raw road night“ (12) bezeichnet, erfährt er das Scheitern eines falschen Traums: „It was my dream that screwed up, the stupid hearthside idea that it would be wonderful to follow one great red line across America instead of trying various roads and routes“ (12). Sals Fehler war es, die Straße als eine Straße zu verstehen und den imaginativ einfachsten Weg zu wählen, anstatt die Straße als Komplex jener Straßen zu betrachten, die ihm Vielfalt und das Neue bieten können. Er ist gezwungen, nach New York zurückzukehren, und nimmt sogleich einen Bus nach Chicago, um dort einen weiteren Versuch zu unternehmen, die Reise zu beginnen. Diesmal ist Sal erfolgreicher, und der Anfang seiner Reise nach Westen wird ausdrücklich zeitlich wie räumlich als solcher markiert, so dass klar wird, dass für ihn nun die Straße wirklich zum Anfangsort wird: And for the first time in my life, the following afternoon, I went into the West. It was a warm and beautiful day for hitchhiking. To get out of the impossible complexities of Chicago traffic I took a bus to Joliet, Illinois, went by the Joliet pen, stationed myself just outside town after a walk through its leafy rickety streets behind, and pointed my way. (13)
Viele weitere Anfänge sind so deutlich im Text dargestellt und zeigen eine erstmalige Erfahrung Amerikas: „for the first time in my life I saw my beloved Mississippi River“ (13); „the first cowboy I saw“ (17); „I saw for the first time,
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far off, the great snowy tops of the Rocky Mountains“ (32). Amerika wird dabei für Sal zum Text, den er liest und aus dem er lernt. Dieser landschaftliche Text erscheint ihm wertvoller als alle tatsächlich gedruckten Texte in Büchern, die nur Sekundärtexte über diesen Primärtext sind und Erfahrungen aus zweiter Hand bereithalten: „I had a book with me I stole from a Hollywood stall, ‚Le Grand Meaulnes‘ by Alain-Fournier, but I preferred reading the American landscape as we went along. Every bump, rise, and stretch in it mystified my longing“ (93). Nur ein tatsächlicher Text in On the Road ist annähernd bedeutsam und mystisch konnotiert. Deal und Sal nehmen einen Anhalter mit, der ein Buch liest, das direkt der Straße und Wildnis entsprungen scheint: „a paperbacked muddy book he’d found in a culvert by the road“ (124). Dabei spielt es keine Rolle, um welches Buch es sich handelt, sondern woher es stammt: „We asked him what he was reading. He didn’t know. He didn’t bother to look at the title page. He was only looking at the words, as though he had found the real Torah where it belonged, in the wilderness“ (124). Der heilige Text liegt sozusagen am Straßenrand bereit, vom Reisenden gefunden und gelesen zu werden. Für Sal ist Amerika selbst „[t]he endless poem“ (232), das nur auf der Straße lesbar ist. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Sal selbst diese Ortserfahrung bei einem späteren road trip mit Dean grundlegend in Frage stellt: „With frantic Dean I was rushing through the world without a chance to see it“ (187). Auch andere Passagen relativieren dieses Bild von Amerika als Ort authentischer Erfahrung und endlosen Potentials, indem sie vor allem andeuten, dass Amerika von Homogenität beherrscht wird, die alle darin enthaltenen Orte einander angeglichen hat: The bus arrived in Hollywood. [...] I looked greedily out the window: stucco houses and palms and drive-ins, the whole mad thing, the ragged promised land, the fantastic end of America. We got off the bus at Main Street, which was no different from where you get off a bus in Kansas City or Chicago or Boston-red brick, dirty, characters drifting by, trolleys grating in the hopeless dawn, the whorey smell of a big city. (74)
Auch in San Francisco erfährt Sal später diese Gleichförmigkeit der Orte in Amerika: „I looked down Market Street. I didn’t know whether it was that or Canal Street in New Orleans: it led to water, ambiguous, universal water, just as 42nd Street, New York, leads to water, and you never know where you are“ (156). Das Bild des Wassers erschafft hier keine positive Kohärenz, welche die verschiedensten Orte in Amerika miteinander verknüpfen würde, sondern drückt
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wie das Bild der Main Street – so wie the road ein uramerikanischer Ort14 – eher aus, wie sehr sich diese Orte eigentlich ähneln. Dies stellt ein weiteres Mal im Roman in Frage, wieviel Anfangspotential die Bewegung auf der Straße wirklich bereithält, wenn sie letztlich zu nichts Neuem, sondern nur zu einer Version des Altbekannten führt. Dazu kommt noch der zweite kritische Aspekt, dass es diesen Orten an jener Authentizität mangelt, die als notwendig für wirkliche Erfahrung vorausgesetzt wird. Sal erkennt dies gleich bei seiner ersten Bewegung in den Westen, die mehr als die bloße Bewegung nach Westen ist: „Hell’s bells, it’s Wild West Week,“ said Slim. Big crowds of businessmen, fat businessmen in boots and ten-gallon hats, with their hefty wives in cowgirl attire, bustled and whoopeed on the wooden sidewalks of old Cheyenne; farther down were the long stringy boulevard lights of new downtown Cheyenne, but the celebration was focusing on Oldtown. Blank guns went off. The saloons were crowded to the sidewalk. I was amazed, and at the same time I felt it was ridiculous: in my first shot at the West I was seeing to what absurd devices it had fallen to keep its proud tradition. (30)
Sals Anfang, sein Übertritt in den mythisch konnotierten Raum des amerikanischen Westens, wird in seiner Bedeutung sofort relativiert, da der Westen sich in sein eigenes Klischee verwandelt hat und als billige Kopie seiner selbst nicht mehr das Potential bereitzuhalten scheint, das ihm früher zugeschrieben wurde. Trotz dieser Simulation des Westens und der Relativierung seiner Symbolik beinhaltet Sals Bewegung aber doch noch einige der Aspekte dessen, wofür der Westen in seiner Vorstellung ebenso steht wie in der amerikanischen kulturellen Imagination generell. Sal erlebt im Westen jenseits dieser Absurdität einen Neuanfang, ein tatsächliches Kennenlernen des Ortes Amerika, das ein doppeltes Moment der Befreiung enthält: Zunächst löst sich Sal aus den „impossible complexities of Chicago traffic“, die den Stadtraum als ebenso verwirrend wie bewegungslos skizzieren, und dann löst er sich selbst noch aus dem Raum der weitaus kleineren Stadt Joliet und ihrer „leafy rickety streets“ (13). Schlicht gesagt findet hier Sals Bewegung von streets zur road statt, und anstatt an ein Ziel zu denken, denkt er diesmal nur an eine Richtung. wodurch ihm die Straße zum Anfangsort wird. Dabei kommt die mystische Erfahrung, die Sal sich erhofft hat, überraschend schnell, und sie markiert den Anfang eines neuen Lebensabschnittes, ja einer neuen Identität für Sal:
14 Zu diesem Thema ist Miles Orvells Monographie The Death and Life of Main Street: Small Towns in American Memory, Space, and Community zu empfehlen.
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I woke up as the sun was reddening; and that was the one distinct time in my life, the strangest moment of all, when I didn’t know who I was – I was far away from home, haunted and tired with travel, in a cheap hotel room I’d never seen, hearing the hiss of steam outside, and the creak of the old wood of the hotel, and footsteps upstairs, and all the sad sounds, and I looked at the cracked high ceiling and really didn’t know who I was for about fifteen strange seconds. I wasn’t scared; I was just somebody else, some stranger, and my whole life was a haunted life, the life of a ghost. I was halfway across America, at the dividing line between the East of my youth and the West of my future, and maybe that’s why it happened right there and then, that strange red afternoon. (15-16)
Der Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft wird räumlich markiert und zeigt an, dass von dort aus neue Entwicklungen, die durch Sals Bewegung auf der Straße bedingt wurden, ihren Anfang nehmen werden. Der Ton der Passage ist weder eindeutig positiv noch negativ, sondern spiegelt die Ambivalenz des Neuanfangs wider, die Sal in seiner Bewegung ohne Ziel erfährt. Weitere mystische Erfahrungen werden folgen, auch wenn einige davon eher metaphorisch und durchaus augenzwinkernd auf das Erhabene verweisen, wie etwa Sals Gotteserfahrung: „As we crossed the Colorado-Utah border I saw God in the sky in the form of huge gold sun burning clouds above the desert that seemed to point a finger at me and say, ‚Pass here and go on, you’re on the road to heaven‘“ (165). Mindestens eine weitere Erfahrung ist aber ähnlich tiefgründig wie die der Identitätslosigkeit im Hotel: And for just a moment I had reached the point of ecstasy that I always wanted to reach, which was the complete step across chronological time into timeless shadows, and wonderment in the bleakness of the mortal realm, and the sensation of death kicking at my heels to move on, with a phantom dogging its own heels, and myself hurrying to a plank where all the angels dove off and flew into the holy void of uncreated emptiness, the potent and inconceivable radiancies shining in bright Mind Essence, innumerable lotuslands falling open in the magic mothswarm of heaven. I could hear an indescribable seething roar which wasn’t in my ear but everywhere and had nothing to do with sounds. I realized that I had died and been reborn numberless times but just didn’t remember especially because the transitions from life to death and back to life are so ghostly easy, a magical action for naught, like falling asleep and waking up again a million times, the utter casualness and deep ignorance of it. I realized it was only because of the stability of the intrinsic Mind that these ripples of birth and death took place, like the action of wind on a sheet of pure, serene, mirror-like water. (156-57)
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Diese zutiefst mystische, ekstatische Einsicht in das Leben ist durch die Erfahrung der Bewegung möglich; genau für derartige Erkenntnisse ist die Straße ein vorbereitender Anfangsort in On the Road. Zugleich ist aber keine der beiden mystischen Erfahrungen ein Endpunkt für Sal. Während die erste Einsicht noch stark die Anfänglichkeit seines Zustandes betont, führt ihn auch die zweite Einsicht nicht zu einem Zustand positiver geistiger und spiritueller Ruhe, der jedes weitere Streben nach Erkenntnis unnötig machen würde. Nirgends in On the Road führt Bewegung an ein endgültiges Ziel, sei es materiell oder spirituell. Falls überhaupt ein Ziel vorhanden ist, ist es bestenfalls vorläufig. Die Ziellosigkeit der Bewegung spielt eine große Rolle für die Interpretation der Anfänge, die in On the Road auf der Straße gemacht werden. Sal wird immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob seine Bewegung auf der Straße ein Ziel und eine Richtung habe, wodurch der Zweck der Bewegung selbst hinterfragt wird, und somit auch der Anfang, den sie potentiell darstellt. Am besten fasst es die Frage des Jahrmarktbetreibers zusammen, der Sal und seinen Mitreisenden Eddie anheuern möchte: „‚You boys going to get somewhere, or just going?‘ We didn’t understand his question, and it was a damned good question“ (20). Die beiden bleiben ihm und dem Leser bezeichnenderweise eine Antwort schuldig. Andere Charaktere weisen ebenfalls die Tendenz zur ziellosen Bewegung auf, etwa Ed Dunkel in Bezug auf sein ganzes Leben: „What are you going to do with yourself, Ed?“ I asked. „I don’t know,“ he said. „I just go along. I dig life.“ (111)
Sal selbst übernimmt diese Haltung, wenn er sagt: „I didn’t know where all this was leading; I didn’t care“ (111). Dementsprechend schnell werden temporäre Ziele festgelegt oder gewechselt, wie etwa dann deutlich wird, als Dean und Sal in der Nähe von El Paso aus finanziellen Gründen eine Änderung der Route beschließen: „Then it occurred to me I could borrow five dollars from my old friend Hal Hingham in Tucson, Arizona. Immediately Dean said it was all settled and we were going to Tucson. And we did“ (149). Selbst mit einem Ziel verliert die Bewegung selbst nie an Bedeutung und bleibt Hauptgrund für die Reise, wie sich an zwei Anhaltern aus Columbos, Ohio zeigt: „We’re going to LA!“ they yelled. „What are you going to do there?“ „Hell, we don’t know. Who cares?“ (22)
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Auf der Straße werden die Fragen nach Ziel und Richtung nicht im Voraus beantwortet, sondern stehen nur am unvorhersehbaren, ebenfalls vorläufigen Ende eines Prozesses: „All alone in the night I had my own thoughts and held the car to the white line in the holy road. What was I doing? Where was I going? I’d soon find out“ (125). Die Straße ist hier aktiver und determinierender Ort dessen, was das Individuum als Unbestimmtheit und Freiheit erfährt. Dieses Potential kann sinnvoll als Anfang verstanden werden, da es sich um einen Prozess handelt, der zwar definitiv Bewegung beinhaltet, dessen unabsehbare Konsequenzen aber noch ausstehen. Doch nicht nur das Ziel scheint unwichtiger als die Bewegung, auch ihr eigentlicher Anfang, ihre Motivation, steht dahinter zurück. Wenn Dean aus seinem Familienleben in San Francisco ausbricht, um wieder unterwegs zu sein, leuchtet Sal der Grund dafür ebensowenig ein wie Deans Frau: I learned that Dean had lived happily with Camille in San Francisco ever since that fall of 1947; he got a job on the railroad and made a lot of money. He became the father of a cute little girl, Amy Moriarty. Then suddenly he blew his top while walking down the street one day. He saw a ‘49 Hudson for sale and rushed to the bank for his entire roll. He bought the car on the spot. Ed Dunkel was with him. Now they were broke. Dean calmed Camille’s fears and told her he’d be back in a month. „I’m going to New York and bring Sal back.“ She wasn’t too pleased at this prospect. „But what is the purpose of all this? Why are you doing this to me?“ „It’s nothing, it’s nothing, darling – ah – hem – Sal has pleaded and begged with me to come and get him, it is absolutely necessary for me to – but we won’t go into all these explanations – and I’ll tell you why… No, listen, I’ll tell you why.“ And he told her why, and of course it made no sense. (100)
Anders als Camille braucht Sal aber weder Begründung noch Motivation für den Schritt eines erneuten Anfangs, und er folgt Dean bereitwillig auf die Straße: „It was a completely meaningless set of circumstances that made Dean come, and similarly I went off with him for no reason“ (105). Selbst Charakteren wie Old Bull Lee, die auch als Mitglieder der Beat Generation gelten, ist diese Rastlosigkeit suspekt, und so fragt er Dean und Sal unverblümt nach dem Sinn hinter ihrer Reise: „Now, Dean, I want you to sit quiet a minute and tell me what you’re doing crossing the country like this.“ Dean could only blush and say, „Ah well, you know how it is.“
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„Sal, what are you going to the Coast for?“ „Only for a few days. I’m coming back to school.“ (131)
Ähnlich wie Old Bull Lee bekommt auch Carlo Marx, der sich ebenfalls nie an den road trips von Sal und Dean beteiligt, auf seine Bitte um Erklärung nur Ausflüchte zu hören. Er hebt allerdings das Problem der ziellosen Bewegung von der individuellen auf eine kollektive Ebene, indem er gleichzeitig Dean und Amerika fragt, wohin die Reise geht: „What is the meaning of this voyage to New York? What kind of sordid business are you on now? I mean, man, whither goest thou? Whither goest thou, America, in thy shiny car in the night?“ „Whither goest thou?“ echoed Dean with his mouth open. We sat and didn’t know what to say; there was nothing to talk about any more. The only thing to do was go. (108)
Wieder bleibt der Text dem Leser die Antwort schuldig, auch wenn erneut die tiefe Bedeutung der Frage anerkannt wird. Dean wird hier nicht nur zum Symbol für die Beat Generation, sondern für ganz Amerika, und seine Bewegung ist gleichzeitig die seiner Generation und seiner Nation. Seine Bewegung kann als Aufbruch in ein neues Zeitalter interpretiert werden, das sich aus alten Zwängen löst, allerdings ist sie deshalb problematisch, weil sie immer Aufbruch bleibt und sich nie vom Anfang lösen kann, um etwas Bleibendes zu schaffen. Die Permanenz der ständigen Neuanfänge kann zur Sonderform der Stagnation werden. Sal erfährt dies, als er sich für kurze Zeit wegen einer Liebschaft einigen Tagelöhnern anschließt und Baumwolle pflückt. Der Verweis auf morgen wird zum täglich wiederholten Ritual des hoffnungslosen Neuanfangs nach einem verschwendeten Tag: „The sun began to get red. Nothing had been accomplished. What was there to accomplish? ‚Mañana‘ said Rickey. ‚Mañana, man, we make it; have another beer, man, dah you go, dah you go!‘“ (83) Der Anfang wird so immer wieder verschoben: „‚Too late today. Tomorrow, man, we make a lot of money; today we have a few beers. What do you say, beer?‘“ (85) Zunächst genießt Sal diese Haltung und übersetzt mañana für sich mit „a lovely word and one that probably means heaven“ (85), stellt dann aber fest, dass er sich in einem Zustand des Stillstands befindet, der zwar Arbeit erfordert, aber nichts mit der Bewegung auf der Straße gemein hat, wie seine private wirtschaftliche Bilanz zeigt: „Every day I earned approximately a dollar and a half. It was just enough to buy groceries in the evening on the bicycle. The days rolled by. I forgot all about the East and all about Dean and Carlo and the bloody road“ (88). Diese Form der Stagnation zeigt, dass die Idee des permanenten Neuanfangs
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nicht an sich Grundlage genug ist, um wirkliche gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen, sondern dass sie einfach nur Teil eines größeren statischen Rahmens sein kann – vor allem, da die USA durch ihre Besessenheit mit dem Neuanfang ohnehin alle Mobilität für sich gepachtet zu haben scheinen und noch jede grundlegende Veränderung in ihr ideologisches Grundkonzept eingliedern können. Diese Dualität erhält On the Road konsequent aufrecht: „The meaning of mobility in On the Road [...] cannot be simply described as a reflection of a generic American concern with mobility, nor as a simple form of resistance to the charms of the American dream“ (Cresswell 249). Deans Sehnsucht nach dem Neuen, nach dem ständigen Anfang in der Bewegung, ist keine Sehnsucht nach einem Ziel, sondern nur Sehnsucht nach dem Weg. Wenn es in On the Road eine Lust an der Revolution gibt, dann wirklich auch nur an der Revolution selbst, nicht an ihrem Ergebnis, vor allem weil dieses Ergebnis keineswegs klar erkennbar ist. Auch wenn On the Road wie ein programmatisches Porträt einer ganzen Generation scheinen mag, so ist keineswegs klar, worin dieses Programm letztlich besteht. Dies zeigt sich an den Fragen, die Sal einem jungen Mädchen während einer Busfahrt aufzwingt: „‚What is [your brother] aching to do? What are we all aching to do? What do we want?‘ She didn’t know. She yawned. She was sleepy. It was too much. Nobody could tell. Nobody would ever tell. It was all over. She was eighteen and most lovely, and lost“ (221). Diese Generation ist nur dann nicht verloren und verirrt, wenn sie sich auf der Straße verorten kann, und die Straße ist ein zu problematischer und instabiler Ort, um eine Basis für wirkliche Veränderung oder Kollektivität zu bieten. Als exemplarischer Vertreter dieser ziel- und ortlosen Generation findet Dean nur in der Bewegung wirklich zu sich selbst, da sie eine Befreiung von allem darstellt, das statisch und einschränkend wirkt: It was drizzling and mysterious at the beginning of our journey. I could see that it was all going to be one big saga of the mist. „Whooee!“ yelled Dean. „Here we go!“ And he hunched over the wheel and gunned her; he was back in his element, everybody could see that. We were all delighted, we all realized we were leaving confusion and nonsense behind and performing our one and noble function of the time, move. (120-21)
Die Reise erscheint Sal an ihrem Anfang deshalb mysteriös, weil er nur vage Erwartungen an sie hat, aber weiß, dass sie in ihren Erfahrungen bedeutsam sein wird. Jeder echte road trip erscheint daher an seinem Anfang wie „one big saga of the mist“ (120). Die Fahrt ist ein Ausbruch aus Verwirrung und Nonsens und somit der Anfang von Klarheit, Einsicht und Bedeutung. Der Anfang wirkt allerdings deshalb als problematisch und ohne wirkliche Konsequenz, weil diese
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Umstände natürlich nur darauf warten, dass die Bewegung ein Ende findet. Das revolutionäre Potential in On the Road besteht somit im Kampf gegen die Entropie, im Abwehren des Stillstandes, im Aufrechterhalten des Anfangs wider die Bedrohung durch das unweigerliche Ende: „performing our one and noble function of the time, move“ (121) wird daher nicht zum Selbstzweck, sondern zur Bestätigung des Lebens selbst. Ein tragischer Aspekt von On the Road liegt darin, dass genau dieses Edle und Funktionale der Bewegung an sich vielen Figuren nicht einleuchtet, da sie Bewegung immer nur auf ein Ziel hin interpretieren können, während die Bewegung des road trips genau jenes zweckorientierte Denken hinterfragt. Darin lässt sich eine Grundeigenschaft der dominanten Kultur in den USA erkennen, gegen die sich die Beat Generation auflehnt: Bewegung muss Fortschritt sein und darf nicht um ihrer selbst willen zustande kommen. Fehlt dieser zielgerichtete und funktionale Aspekt, wird die Bewegung kritisiert, in Frage gestellt, als sinnlos verworfen oder sogar unterbunden, wie Sal und Dean auf verschiedene Weise erfahren. Die Polizei wird etwa zur sozialen Kraft der Zurückhaltung und Einschränkung: „All we wanted to do was go. [...] The American police are involved in psychological warfare against those Americans who don’t frighten them with imposing papers and threats“ (123). Sals Tante bezeichnet die road trips und seine Lebensweise überhaupt als Zeitverschwendung: „My aunt said I was wasting my time hanging around with Dean and his gang. I knew that was wrong, too. Life is life, and kind is kind“ (116). Aus der Perspektive von Dean hingegen wirken diejenigen, die sich zielgerichtet fortbewegen, wie tragische Opfer des sozialen Zwangs zur Funktionalität: „Now you just dig them in front. They have worries, they’re counting the miles, they’re thinking about where to sleep tonight, how much money for gas, the weather, how they’ll get [...] there – and all the time they’ll get there anyway, you see. But they need to worry and betray time with urgencies false and otherwise, purely anxious and whiny, their souls really won’t be at peace unless they can latch on to an established and proven worry and having once found it they assume facial expressions to fit and go with it, which is, you see, unhappiness, and all the time it all flies by them and they know it and that too worries them no end. [...]“ (189-90)
Für Dean ist diese Einstellung zur Bewegung nicht weniger als ein Verrat an der Zeit selbst, und sie ist somit nicht nur zutiefst widernatürlich, sondern verhindert genau jenes Glück des Menschen, das er ansonsten auf der Straße finden könnte. Karen Skinazi beschreibt seine Version des amerikanischen Traums als „mobile (but not socially or economically mobile) and pure pursuit of happiness“ (88).
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Hier finden sich zwei gegensätzliche Auffassungen dessen, was einen Anfang in der Bewegung darstellt: Deans Anfänge auf der Straße erscheinen dem konservativen Establishment als ziel- und sinnlos und somit als zum Scheitern verurteilt; ihm erscheinen seine Erfahrungen in der Bewegung als wahrhaftig anfänglich, da dem Individuum nur auf der Straße derartige Erkenntnisse überhaupt möglich sind, während ihm die Gesellschaft nur Stillstand, Sorge und eben keine Anfänge bereithält. Ganz im Gegenteil schwebt über dem soziopolitischen Leben in den USA der 1950er Jahre die drohende Gefahr des atomaren Weltkrieges, was in On the Road nur am Rande erwähnt wird, aber dennoch den Hintergrund dieses Hungers nach Leben bildet. Old Bull Lee beklagt beispielsweise, dass die Wissenschaftler der Zeit sich nicht um wirklich wichtige Dinge kümmerten: „The bastards right now are only interested in seeing if they can blow up the world“ (139). Die Grundkritik an der amerikanischen Gesellschaft ist die Kritik an der weit verbreiteten Gehorsamkeit und Konformität: „This is the story of America. Everybody’s doing what they think they’re supposed to do“ (61). Darin liegt jene Stagnation begründet, aus der die Bewegung der Beat Generation eine Ausbruchsmöglichkeit bietet. Dean entwirft gegenüber Sal ein Modell der Lebensführung, das einen Ausstieg aus den ökonomischen und sozialen Zwängen der USA darstellt und dabei die Straße zum Ort der konstanten Gegenbewegung zu statischen Lebensstilen stilisiert: „You mean we’ll end up old bums?“ „Why not, man? Of course we will if we want to, and all that. There’s no harm ending that way. You spend a whole life of non-interference with the wishes of others, including politicians and the rich, and nobody bothers you and you cut along and make it your own way.“ I agreed with him. He was reaching his Tao decisions in the simplest direct way. „What’s your road, man? – holyboy road, madman road, rainbow road, guppy road, any road. It’s an anywhere road for anybody anyhow. Where body how?“ We nodded in the rain. „Sheeit, and you’ve got to look out for your boy. He ain’t a man ‘less he’s a jumpin man – do what the doctor say. I’ll tell you. Sal, straight, no matter where I live, my trunk’s always sticking out from under the bed, I’m ready to leave or get thrown out. (229)
Deans Philosophie der Nichteinmischung verspricht Selbstverwirklichung außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Regeln. Das Individuum ist in der Lage, sich davon aus eigener Kraft zu befreien und seinen persönlichen Weg selbst zu wählen: „It’s an anywhere road for anybody anyhow“ (229). Die Straße fungiert hier als Symbol der persönlichen Ermächtigung gegenüber der Gesellschaft, wobei sie nicht den Anfang einer sozialen Revolution markiert, sondern den Ausstieg aus dieser Gesellschaft. Sal hat im Gegensatz zu Dean ganz andere
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Vorstellungen von der Zukunft und den Konsequenzen der Anfänge, die auf der Straße gemacht werden: Dean took out other pictures. I realized these were all the snapshots which our children would look at someday with wonder, thinking their parents had lived smooth, wellordered, stabilized-within-the-photo lives and got up in the morning to walk proudly on the sidewalks of life, never dreaming the raggedy madness and riot of our actual lives, our actual night, the hell of it, the senseless nightmare road. All of it inside endless and beginningless emptiness. Pitiful forms of ignorance. (231)
Sal entwirft hier eine zukünftige Rückkehr in die Bürgerlichkeit, in ein geordnetes Familienleben, aus dessen Perspektive nicht mehr ersichtlich sein wird, welches Anfangspotential in der Bewegung auf der Straße für die Generation von Sal und Dean einmal vorhanden war. Die Stabilität, die ein Foto vorgaukelt, widerspricht dieser Bewegung absolut, und doch scheint sie ein weiteres Mal als unvermeidlicher, beklagenswerter Endpunkt, da konsequente Mobilität nicht aufrechtzuerhalten ist. Gleichzeitig stellt Sal aber das, was das Foto nicht wiedergeben kann, als negativ dar. Er nimmt keine Nostalgie vorweg, sondern stellt fest, dass nicht nur „the raggedy madness and riot of our actual lives“ nicht in diesen Bildern repräsentiert werden können, sondern auch die dunkle Seite dieses Wahnsinns, „our actual night, the hell of it, the senseless nightmare road“ (231). Sal hält die Zweideutigkeit der Bewegung in dieser Passage aufrecht und vermittelt sowohl das rebellische wie das zerstörerische Element, das in der Straße als paradoxem Anfangsort vorhanden ist. Noch deutlicher, weil nicht auf eine imaginierte Zukunft gerichtet, wird diese Dualität in der Ankunftsszene, in der Sal nach einem road trip wieder in New York ankommt: Suddenly I found myself on Times Square. I had traveled eight thousand miles around the American continent and I was back on Times Square; and right in the middle of a rush hour, too, seeing with my innocent road-eyes the absolute madness and fantastic hoorair of New York with its millions and millions hustling forever for a buck among themselves, the mad dream-grabbing, taking, giving, sighing, dying, just so they could be buried in those awful cemetery cities beyond Long Island City. The high towers of the land – the other end of the land, the place where Paper America is born. (96)
Die ersten Sätze laden geradezu dazu ein, Sals Bewegung durch Amerika als zutiefst sinnlos zu interpretieren, da er achttausend Meilen zurückgelegt hat, nur um wieder dort anzukommen, wo er losgefahren ist, und diese Fragwürdigkeit der Bewegung als Selbstzweck wird in On the Road auch nie ganz außer Acht
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gelassen. Allerdings legt die Passage selbst den Irrtum bloß, der einer solchen Sichtweise unterliegt, denn Sal erkennt die wahrhaft sinnlose Bewegung an dem Ort, von dem aus er seinen road trip unternommen hat: Die eigentlich nutzlose und schier wahnsinnige Bewegung besteht darin, ein Leben des rasenden Stillstands15 im kapitalistischen System zu leben, das wie die Straße ständig Energie einfordert, aber im Gegensatz dazu keine neuen Erfahrungen bietet, sondern nur ein Grab unter vielen am Ende eines gehetzten Lebens. Sals Bewegung durch Amerika erscheint im Kontrast letztlich umso sinnvoller und stellt so die Frage, wie viel von jenem Fortschritt und jener Bewegung zu halten ist, die in der Stadt und nicht auf der Straße zu finden sind. Sal gerät mitten in die rush hour, die als Perversion der automobilen Bewegung auf der Straße verstanden werden kann und jenen Stillstand symbolisiert, der sich als Fortschritt tarnt. Sal hingegen sieht mit „innocent road-eyes“ auf diese Straßen und erkennt, dass sie kein Anfangsort sein können, auch wenn sie als solcher präsentiert werden. In der Stadt findet ein rasender Prozess statt, der aber letztlich keinerlei Konsequenz hat: „hustling forever for a buck among themselves, the mad dream-grabbing, taking, giving, sighing, dying“ (96). Vor diesem Hintergrund gewinnt die Straße außerhalb der Stadt, the road, immens an Bedeutung, da sich das Individuum dort aus diesem tödlichen Teufelskreis lösen und wirkliche Erfahrungen machen, ja erst wirklich leben kann. Dort findet man jene Unschuld, die in Sals Augen vorhanden ist, und die in der Stadt keinen Platz mehr hat. Die Rebellion gegen dieses „Paper America“ (96) verdichtet sich symbolisch in der Szene, in der Sal (unabsichtlich) die nationalen Spielregeln verletzt. Es ist bezeichnend, dass dies im Arbeitsalltag eines ihm verhassten Jobs geschieht: „Come dawn, it was my duty to put up the American flag on a sixty-foot pole, and this morning I put it up upside down and went home to bed. [...] ‚Upside down?‘ I was horrified; of course I hadn’t realized it. I did it every morning mechanically“ (59). Sals Reaktion zeigt, dass es sich hier nicht einfach um subversiven Antinationalismus handelt, denn er ist selbst schockiert von seiner Tat (auch wenn nicht eindeutig klar wird, ob er den Fehler oder die umgedrehte Flagge erschreckend findet). Die Symbolik deutet vielmehr darauf hin, dass Sal (und die Beat Generation) kein Problem mit Amerika an sich hat, sondern stattdessen ein Problem mit dem jetzigen Zustand Amerikas.16 Die glorifizierenden,
15 Vgl. Paul Virilios Essay mit diesem Titel. 16 Allen Ginsberg wird sich erst dann auch von einem Ideal Amerikas abwenden, als er seine Beat-Phase längst hinter sich gelassen hat, und als die realen USA mit dem Vietnamkrieg seiner Ansicht nach ein für alle Mal jeglichen Anspruch auf dieses ideale Amerika verwirkt haben.
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romantisierenden Darstellungen des Ortes Amerika in On the Road – „‚Hooee! It is the promised land‘“ (82) – legen eher die Vermutung nahe, dass das Problem mit Amerika im Unterschied zwischen Potential und Wirklichkeit liegt. Deans Kriminalität wird beispielsweise dementsprechend nicht als Rebellion gegen die Gesetze Amerikas dargestellt, sondern als die eigentlich wahrhaft amerikanische Haltung: „And his ‚criminality‘ was not something that sulked and sneered; it was a wild yea-saying overburst of American joy; it was Western, the west wind, an ode from the Plains, something new, long prophesied, long a-coming (he only stole cars for joy rides)“ (9). Die Revolution der Beats beinhaltet nicht, Amerika abschaffen zu wollen, sondern sie sucht in diesem spirituell-anarchischen Sinne einen Neuanfang Amerikas herbeizuführen, und zwar nicht als einmaligen Zeitpunkt, sondern als andauernden Prozess. On the Road beschreibt somit im Wortsinn eine gegenkulturelle Bewegung, die letztlich aber gerade daran scheitern muss, dass sie gerade nicht eine Kultur abschaffen oder permanent durch eine andere ersetzen möchte, sondern einen ziellosen Anfangsprozess aufrechterhalten will, der immer vom Stillstand bedroht bleibt. Dean bietet in kurzen Sätzen das Manifest dieser ‚Gegenkultur‘, die nur in Anführungszeichen eine solche ist: „[...] Sal, we gotta go and never stop going till we get there.“ „Where we going, man?“ „I don’t know but we gotta go.“ (217)
Diese ständige Bewegung hat nichts mit dem kapitalistischen Mythos permanenten Wachstums zu tun, den man ebenso interpretieren könnte, sondern mit dem ständigen Suchen nach Erfahrungen, die dem Idyll bürgerlicher Stagnation in den USA der 1950er gegenüberstehen. Dabei ist es in On the Road Amerika selbst, das die Bewegung einzufordern scheint, wie Sal äußert: „Whenever spring comes to New York I can’t stand the suggestions of the land that come blowing over the river from New Jersey and I’ve got to go. So I went“ (227). Die schiere Größe des Kontinents scheint wie eine ständige Herausforderung an seine Bewohner, sich zu bewegen, neu anzufangen. Sal definiert sich wiederholt in diesem Sinne in Bezug auf das Land, das vor ihm liegt, und er impliziert durch diese Positionierung die darin enthaltene Notwendigkeit des Anfangs: „[...] before me was the great raw bulge and bulk of my American continent“ (71). Wenn Sal von „our continental dream“ (93) schreibt, meint er damit auch ein Amerika, das durchquert werden will, weil es ein Ort ist, der zu groß ist, als dass man an ihm einfach nur sein könnte.
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Die Bewegung endet selbst dann nicht, wenn die Straße mitsamt dem Kontinent aufhört; diese Momente sind in On the Road deutlich hervorgehoben, um zu zeigen, dass die Bewegung nie ein Ziel gebraucht hat. Die Ankunftsszenen an den jeweiligen Küsten unterscheiden sich kaum voneinander. Dean ruft etwa am Pazifik: „‚Wow! Made it! Just enough gas! Give me water! No more land! We can’t go any further ‘cause there ain’t no more land! […]‘“ (154), wohingegen Sal im Osten kommentiert: „We were so used to traveling we had to walk all over Long Island, but there was no more land, just the Atlantic Ocean, and we could only go so far“ (224). In beiden Fällen ist die Lösung folgende: „Here I was at the end of America – no more land – and now there was nowhere to go but back“ (70). Keine der Ankunftsszenen impliziert ein Ende der Bewegung, sondern nur ein Ende der Bewegung in diese eine Richtung, und das Ziel wird in dem Moment gewechselt, in dem man es erreicht. In dieser unbedingten Rastlosigkeit wird ein weiterer tragischer Aspekt von On the Road deutlich: Es ist abzusehen, dass Dean an der Energie zugrunde gehen wird, die er dem System seiner selbst, seiner Generation und Amerikas überhaupt zuführt, um es vor dem Stillstand zu bewahren, und dass er diese Bewegung nicht unbegrenzt aufrechterhalten können wird. Er selbst wird ständig von diesem Stillstand bedroht und immer wieder eingeholt. Beispielsweise muss ausgerechnet er, dessen Körperlichkeit von Sal mit den Worten „every muscle twitched to live and go“ (103) beschrieben wird, einen Job annehmen, der das perfekte, tragische Gegenteil zu seinem Bewegungsdrang darstellt: Er parkt Autos auf einem Parkplatz. Selbst dort gelingt es ihm aber, den Stillstand auf unglaublich energiegeladene Weise herbeizuführen und ihn so zu unterwandern: The most fantastic parking-lot attendant in the world, he can back a car forty miles an hour into a tight squeeze and stop at the wall, jump out, race among fenders, leap into another car, circle it fifty miles an hour in a narrow space, back swiftly into tight spot, hump, snap the car with the emergency so that you see it bounce as he flies out; then clear to the ticket shack, sprinting like a track star, hand a ticket, leap into a newly arrived car before the owner’s half out, leap literally under him as he steps out, start the car with the door flapping, and roar off to the next available spot, arc, pop in, brake, out, run; working like that without pause eight hours a night, evening rush hours and after-theater rush hours, in greasy wino pants with a frayed fur-lined jacket and beat shoes that flap. (8)
Sal gerät an einer Stelle an einen artverwandten Job in einem Großmarkt, der auch ihn mit der schmerzvollen Erfahrung langsamer Bewegung konfrontiert: „[…] the hardest job of my life; at one point the Japanese kids and I had to move a whole boxcar a hundred feet down the rail by hand with a jack-jet that made it
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move a quarter-inch with each yank. […] In God’s name and under the stars, what for?“ (163) Sowohl Sal als auch Dean können sich von diesen Erlebnissen des Stillstands befreien, die keinerlei Anfänge bereithalten, doch hat diese Mobilität ihren Preis. Das zerstörerische Element in der Bewegung wird beispielsweise dann deutlich, wenn in On the Road das Fortbewegungsmittel selbst, das Auto, beschrieben wird. Als Sal und Dean einen Cadillac überführen sollen und ihn für einen ausgedehnten road trip nutzen, sind die Spuren der Reise bei der Übergabe am Zielort unübersehbar: „The mechanic did not recognize the Cadillac. We handed the papers over. He scratched his head at the sight of it. We had to get out fast. We did“ (220). Hier ist es das Auto, das den Preis der Bewegung auf der Straße bezahlt hat, doch gelingt es den Fahrern keineswegs immer, diese Kosten auf ihr Fortbewegungsmittel abzuwälzen. Dean scheint zwar immer genug Energiereserven für neue road trips zu haben, jedoch hinterlässt jede Reise bei ihm Spuren, und anders als Sal findet er auch nie zu einer positiven Ruhe. Ein Rennen zwischen den beiden illustriert diesen Unterschied: Then I raced him down the road. I can do the hundred in 10:5. He passed me like the wind. As we ran I had a mad vision of Dean running through all of life just like that – his bony face outthrust to life, his arms pumping, his brow sweating, his legs twinkling like Groucho Marx, yelling, „Yes! Yes, man, you sure can go!“ But nobody could go as fast as he could, and that’s the truth. (139-40)
Diese unvergleichliche Geschwindigkeit, dieses gewaltige Bewegungspotential, verleiht Dean „the tremendous energy of a new kind of American saint“ (35). Er selbst wird zum Anfang einer neuen amerikanischen Spiritualität. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Energie ihn verzehren wird: Dean ist nicht nur ein Heiliger, sondern auch ein Märtyrer seiner Generation. Sal stellt sich Deans Seele so vor: „wrapped up in a fast car, a coast to reach, and a woman at the end of the road“ (209). Allerdings bietet der Roman in seiner Spiritualität kein Heil für diese Seele, da ihr die Bewegung keine Ruhe verheißen kann, und so ist Dean der Verfall psychisch wie physisch immer mehr anzumerken: „Poor, poor Dean – the devil himself had never fallen farther; in idiocy, with infected thumb, surrounded by the battered suitcases of his motherless feverish life across America and back numberless times, an undone bird“ (171). Die Infektion seines Daumens, des wichtigsten Körperteils des Anhalters, kann als Metapher seines Niedergangs durch jene Bewegung gelesen werden, die ihn gleichzeitig am Leben erhält. Deans Bewegung auf der Straße wird im Verlauf des Romans immer fragwürdiger in ihrer Anfänglichkeit; sie verheißt zwar nach wie vor Anfänge,
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verweist aber zunehmend auf ihr mögliches Ende. Sal erkennt schon früher, dass alle Anfänge auf der Straße von ihrem Ende bedroht sind, das weitere Veränderungen unmöglich machen wird: This madness would lead nowhere. I didn’t know what was happening to me, and I suddenly realized it was only the tea that we were smoking; Dean had bought some in New York. It made me think that everything was about to arrive – the moment when you know all and everything is decided forever. (116)
Diesen Moment, den man auch als Dystopie bürgerlichen Lebens verstehen kann, können die Charaktere in der Erzählung allerdings immer abwenden, und sie sind in der Lage, jedem Ende mit neuen Anfängen zu begegnen. Dies ist die Utopie der Straße, die On the Road bei allen Zweifeln nicht aufgeben möchte. Sie verheißt immer aufs Neue Potential, ein Umstand, der sich in einer prägnanten Formulierung verdichtet: „Then in the late night it was just Dean and I and Stan Shephard and Tim Gray and Ed Dunkel and Tommy Snark in one car and [...] everything ahead of us“ (240-41). Dieses „everything ahead of us“ verweist genau wie Whitmans Formulierung „Healthy, free, the world before me, / The long brown path before me leading wherever I choose“ (LoGV I.225-26) auf die Möglichkeiten, die nur in der Bewegung vorhanden sind, auf die unvermeidliche Wendung zu einer offenen Zukunft hin, die sich durch die Konzentration auf die Gegenwart ergibt. Dies beinhaltet dementsprechend auch immer den Bruch mit der Vergangenheit. Diese notwendige Auseinandersetzung zeigt sich beispielsweise in der Beschreibung von Sal, Dean und Marylou im Auto auf dem Weg nach San Francisco, wie sie ihr Verhältnis zueinander neu verhandeln: „It was three children of the earth trying to decide something in the night and having all the weight of past centuries ballooning in the dark before them“ (119). Dean wird sogar buchstäblich auf der Schwelle zwischen Haus und Straße, zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Vergangenheit und Zukunft verortet: „He was alone in the doorway, digging the street. Bitterness, recriminations, advice, morality, sadness – everything was behind him, and ahead of him was the ragged and ecstatic joy of pure being“ (178). Die Anfänge, die auf der Straße gemacht werden, geschehen in Abgrenzung zu dem, was als historischer Ballast empfunden wird, auf persönlicher wie kollektiver Ebene. Dabei handelt es sich nicht nur um Zeiträume von Jahrhunderten, sondern auch um weniger weit zurückliegende Ereignisse; dazu kommt noch die Ablehnung des Ortes, an dem die Vergangenheit lokalisierbar wäre. Dean hält generell wenig von Orten, vermutlich weil sie ihm statisch erscheinen – „He didn’t care about Texas or any place“ (246) – und so verwundert es nicht, dass er
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sich auch nicht im geringsten darum kümmert, dass er gerade an der Heimat seiner Vorfahren vorbeirast: „He drove by the birth county of his forebears without a thought“ (102). Beim Blick auf seine Geburtsstadt Salt Lake City denkt er zwar über seinen persönlichen Anfangsort nach, erweitert seine Überlegungen aber sofort und kontempliert das Phänomen der Veränderung und Entwicklung, woraufhin Sal ebenfalls seine Gedanken von der Vergangenheit auf die Zukunft richtet: […] he opened his eyes to the place in this spectral world where he was born, unnamed and bedraggled, years ago. „Sal, Sal, look, this is where I was born, think of it! People change, they eat meals year after year and change with every meal. EE! Look!“ He was so excited it made me cry. Where would it all lead? (192)
Auch Sal beherrscht diese Kunst, den Blick von der Vergangenheit abzuwenden und stets einen Neuanfang machen zu können. Als er in San Francisco feststellen muss, dass Marylou Dean nicht für ihn verlassen wird, verarbeitet er diese Erfahrung kurz und knapp unter Verweis auf die Anfangsfigur der Straße: The understanding had been that Marylou would switch to me in Frisco, but I now began to see they were going to stick and I was going to be left alone on my butt at the other end of the continent. But why think about that when all the golden land’s ahead of you and all kinds of unforeseen events wait lurking to surprise you and make you glad you’re alive to see? (122)
Ähnliche Bilder des Neuanfangs wiederholen sich häufig in On the Road, und der erwartungsvolle Blick auf Gegenwart und Zukunft ergibt sich aus einer Abgrenzung zur Vergangenheit, die einer Löschung gleichkommt: „there was nothing behind me any more, all my I bridges were gone and I didn’t give a damn about anything at all“ (165). Dieses tabula rasa-Motiv des bewusst gemachten Anfangs findet wiederholt in einer Geste Ausdruck, welche diesen auch über die Körperlichkeit des Individuums vermittelt. An zwei Stellen im Text wird beschrieben, wie Sal sich im Auto von einem Ort und seinen Bewohnern entfernt. Jedesmal blickt er eine Weile zurück, dreht sich dann aber um und sieht auf die Straße – und ausdrücklich nach vorn: „What is that feeling when you’re driving away from people and they recede on the plain till you see their specks dispersing? – it’s the too-huge world vaulting us, and it’s good-by. But we lean forward to the next crazy venture beneath the skies“ (141). Später: „I turned to watch the kitchen light recede in the sea of night. Then I leaned ahead“ (209).
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Allerdings wird auch die tragische Komponente dieser Bewegung nach vorn deutlich, wenn Sal die Perspektive wechseln muss, als sich Dean von ihm verabschiedet und sich von ihm entfernt: „He made one last signal. I waved back. Suddenly he bent to his life and walked quickly out of sight. I gaped into the bleakness of my own days. I had an awful long way to go too“ (232). Nicht selten findet sich Sal so in Situationen wieder, die sich knapp mit den Worten beschreiben lassen: „Now I had nobody, nothing“ (156). Dieses Element der Trostlosigkeit und Leere kehrt insbesondere am Ende der Bewegung nach einem road trip zurück ins Leben der Charaktere, und so versucht Sal, eine positive Bewegungslosigkeit für sich zu entwerfen, die nicht jene lebensfeindliche, einschränkende Stagnation ist, gegen die er und Dean aufbegehren, sondern die eher eine Art meditativer Ruhe ist, die ihm Zufriedenheit auch jenseits der Straße ermöglicht. Er erkennt zunehmend, dass in der Bewegung keine Anfänge mit dauerhaften Konsequenzen möglich sind. Beispielsweise beschreibt er seine Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Beziehungen in Begriffen negativer Orts- und Rastlosigkeit: „[...] You know I don’t have close relationships with anybody any more – I don’t know what to do with these things. I hold things in my hand like pieces of crap and don’t know where to put it down [...]“ (194). Außerdem sieht er Parallelen zwischen seinem Lebensstil und dem des Handlungsreisenden, der eigentlich für genau jenes konformistische Leben steht, das Sal nicht führen will: „I realized I was beginning to cross and re-cross towns in America as though I were a traveling salesman – raggedy travelings, bad stock, rotten beans in the bottom of my bag of tricks, nobody buying“ (223). Hier wird Bewegung zur Getriebenheit und Freiheit zur Gefangenschaft. Die Formulierung „there was nowhere to go but everywhere“ (25) fasst das Dilemma am besten zusammen. In der ziellosen Bewegung sind Sal und Dean ebenso frei wie rastlos und heimatlos, und dabei aber immer auf der Flucht. Sal träumt daher von einem Anfang abseits der Straße mit dauerhaften Konsequenzen: „‚I want to marry a girl […] so I can rest my soul with her till we both get old. This can’t go on all the time – all this franticness and jumping around. We’ve got to go someplace, find something‘“ (105). Der letzte Satz zeigt, dass Sals Wunsch nach Ruhe der Wunsch nach einem Ort ist, und er fordert eine Ankunft, ein erfolgreiches Ende der Bewegung. Allerdings äußert er diese Sehnsucht zu einem Zeitpunkt im Roman, an dem ihm noch mehrere road trips bevorstehen, und so steht Sals Wunsch keineswegs am Endpunkt einer Phase der Rastlosigkeit, sondern wird von Neuem durch den Drang nach Bewegung und Anfängen abgelöst. Deans familiäre Situation ist zum Ende der Erzählung weitaus komplizierter als Sals, aber er lässt sich davon nicht beirren: „With one
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illegitimate child in the West somewhere, Dean then had four little ones and not a cent, and was all troubles and ecstasy and speed as ever“ (225). Der Gegensatz zwischen Dean und Sal lässt sich damit zusammenfassen, dass sie verschiedene Vorstellungen von ‚home‘ im doppelten Sinne von Heimat und Zuhause haben. Für Sal bedeutet ‚home‘ einen konkret erfahrbaren, genau lokalisierten Ort, auf den er bei aller Bewegung immer wieder imaginativ zurückgreift, und zwar bevorzugt, wenn seine Reise an ein Ende gelangt ist. Bei seiner Ankunft in San Franciso positioniert er sich in Bezug auf diesen Ort: „[…] I was three thousand two hundred miles from my aunt’s house in Paterson, New Jersey“ (53). Als es ihm dort immer schlechter geht, wird aus diesem Bezug Heimweh: „Gad, what was I doing three thousand miles from home? Why had I come here?“ (68) Er schreibt zwar einerseits ein Gedicht, das seine Heimatlosigkeit thematisiert: Home in Missoula, Home in Truckee, Home in Opelousas, Ain’t no home for me. Home in old Medora, Home in Wounded Knee, Home in Ogallala, Home I’ll never be (232)
Andererseits gehen diesem Gedicht im Roman immer wieder Bewegungen an den Ort zuvor, den er durchaus als Zuhause oder Heimat beschreibt, und so trifft das Gedicht eher auf Dean zu denn auf Sal, der vorher beispielsweise äußerte: „I had my home to go to, my place to lay my head down and figure the losses and figure the gain that I knew was in there somewhere too“ (97). Dean hingegen wirkt deshalb heimatloser als Sal, weil sein Ortsbegriff weiter gefasst ist und jenseits dessen liegt, was das Individuum körperlich als Ort erfahren kann. Für ihn ist ganz Amerika Zuhause: „Furthermore we know America, we’re at home; I can go anywhere in America and get what I want because it’s the same in every corner, I know the people, I know what they do. We give and take and go in the incredibly complicated sweetness zigzagging every side.“ (109)
Die Größe des Ortes führt zu dem, was auf körperlicher Ebene als Rastlosigkeit erscheint, was aber auf nationaler Ebene zum Zustand positiver Ruhe wird, da
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Dean sich bei aller Bewegung nie an einen Ort begibt, den er nicht als Zuhause begreifen würde. Der road trip nach Mexiko zeigt sogar, dass sein Gefühl der Heimat mindestens kontinental, wenn nicht sogar global ist: „Do you know there’s a road that goes down Mexico and all the way to Panama? – and maybe all the way to the bottom of South America where the Indians are seven feet tall and eat cocaine on the mountainside? Yes! You and I, Sal, we’d dig the whole world with a car like this because, man, the road must eventually lead to the whole world. Ain’t nowhere else it can go – right?“ (209)
Der Satz „the road must eventually lead to the whole world“ ist in all seinen Bedeutungen zentral für ein Verständnis der Straße als Anfangsort in On the Road. Die ziellose Bewegung auf der Straße bringt zwar keinen konventionellen sozialen oder ökonomischen Fortschritt mit sich, führt das Individuum aber zur ganzen Welt. Hier wird so deutlich wie kaum anderswo im Roman, dass die Straße buchstäblich wie metaphorisch einen besonderen Zugang zur Welt bietet, den statische Lebensstile nicht bereithalten. Diese Entdeckung der Welt beinhaltet imaginative, spirituelle und materielle Komponenten. Die Erkenntnis, dass die Straße eigentlich ein globales Netzwerk von unzähligen Straßen ist, führt zu einer Bewusstseinserweiterung jenseits des nationalen Erfahrungsrahmens, den die USA bieten. Sie führt vor allem zu einer weiteren Entgrenzung des Potentials, da Bewegung nun nicht einmal mehr an einem Ozean aufhören oder umgekehrt werden muss, sondern erst, wenn sie an die Grenzen der Welt stößt. Auch beim road trip nach Mexiko stoßen Sal und Dean an die Grenze der USA, die auch als Grenze ihres Wissens markiert wird: „‚Ah,‘ sighed Dean, ‚the end of Texas, the end of America, we don’t know no more‘“ (249). Diese epistemologische Unsicherheit wandelt sich jedoch schnell in die Lust am Neuen und wird als Befreiung von der eigenen Nationalität empfunden: „[…] it is clear that Sal and Dean approach [the trip to Mexico] as an escape from their own Americanness“ (Hunt 62). Dies wird dadurch begünstigt, dass Mexiko wiederum vertraut ist und den Erwartungen in bizarrer Vollständigkeit entspricht: „Just across the street Mexico began. We looked with wonder. To our amazement, it looked exactly like Mexico“ (249-50). Insbesondere ein Aspekt führt aber dazu, dass Sal und Dean sich auch außerhalb der USA wie zuhause fühlen, denn ihr hauptsächlicher Aufenthaltsort, ihre wahre Heimat, ist ihnen wohlbekannt: „‚And the road don’t look any different than the American road‘“ (252). Die Straße wird zur Konstante in dieser neuen Welt der Erfahrung außerhalb der wohlbekannten nationalen Gegebenheiten, wodurch diese letztlich als bedeutungslos verworfen werden. Die Straße wird
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hier als Anfangsort der Erfahrung nochmals in ihrer Bedeutung erweitert, indem sie zum Ort der Erfahrung von Welt wird, sowohl philosophisch wie geographisch gesprochen. Dean ist geradezu ekstatisch angesichts dieser neuen Weltsicht, die sich ihm durch die Straße eröffnet: „‚It’s the world,‘ said Dean. ‚My God!‘ he cried, slapping the wheel. ‚It’s the world! We can go right on to South America if the road goes. Think of it! Son-of-a-bitch! Gawddamm!‘ We rushed on“ (252). Diese Einsicht in die Welt ist in weitaus weniger mystischer Sprache dargestellt als Sals frühere spirituelle Erlebnisse, aber sie ist in ihrer Bedeutung für das Individuum durchaus mit diesen vergleichbar, wenn nicht sogar noch wichtiger. Diese besondere Qualität des letzten road trips nach Mexiko, der für Sal und Dean nun auch geographisch eine Befreiung von den USA darstellt, deutet sich schon in der Konzeptualisierung im Vorfeld der Reise an. Sal hat inzwischen gelernt, einen road trip nicht zu planen, sondern ihn geschehen zu lassen, aber selbst ihm fällt die Unplanbarkeit dieser Reise auf, welche aber umso mehr andeutet, dass es sich dabei um einen wahrhaftigen Anfang handelt: I looked over the map: a total of over a thousand miles, mostly Texas, to the border at Laredo, and then another 767 miles through all Mexico to the great city near the cracked Isthmus and Oaxacan heights. I couldn’t imagine this trip. It was the most fabulous of all. It was no longer east-west, but magic south. We saw a vision of the entire Western Hemisphere rockribbing clear down to Tierra del Fuego and us flying down the curve of the world into other tropics and otherworlds. „Man, this will finally take us to IT!“ said Dean with definite faith. He tapped my arm. „Just wait and see. Hoo! Whee!“ (241-42)
Diese Erwartung des Erhabenen ist im Satz „I couldn’t imagine this trip“ zusammengefasst. Sal kann sich bei aller Erfahrung nicht vorstellen, was ihn und Dean auf der Straße erwarten wird, und so kann ihnen dieser road trip erneut das verheißen, was ihnen bei den Fahrten durch die USA bisher noch nicht vergönnt war: „‚Man, this will finally take us to IT!‘“ (242) Die Reise verspricht nicht nur das erfolgreiche Ende dieser vagen Suche, sondern auch den Eintritt in das wahrhaft Neue, in eine andere Welt: „us flying down the curve of the world into other tropics and otherworlds“ (242). Hier wird die Straße nochmals deutlich als Anfangsort markiert, und es wird klar, dass es im ganzen Roman genau diese Markierung ist, die den Mystizismus der Straße bedingt. Solange sie als Anfangsort konstruiert wird, nimmt sie das spirituelle Potential an, das einen Ausbruch aus der Welt der Normalität ermöglicht; verliert die Straße die Bedeutung des Anfangsortes, wird sie selbst zum Ort der Normalität, und ihr revolutionäres Potential erlischt. Darin besteht Deans Energieleistung in On the
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Road, die ihn zum Heiligen und Märtyrer macht: Er wird nicht müde, die Straße als Anfangsort zu sehen, und trägt unaufhörlich dazu bei, diese Konstruktion aufrechtzuerhalten, auch wenn er dafür einen hohen Preis zahlen muss. Dieser symbolische Prozess wird deutlich, wenn Sal sich vorstellt, wie Dean zu ihm fährt, um ihn zum road trip nach Mexiko abzuholen. Dean ist in dieser Passage eine göttliche Naturgewalt, die bei aller Zerstörungskraft auch schöpferisch ist: Suddenly I had a vision of Dean, a burning shuddering frightful Angel, palpitating toward me across the road, approaching like a cloud, with enormous speed, pursuing me like the Shrouded Traveler on the plain, bearing down on me. I saw his huge face over the plains with the mad, bony purpose and the gleaming eyes; I saw his wings; I saw his old jalopy chariot with thousands of sparking flames shooting out from it; I saw the path it burned over the road; it even made its own road and went over the corn, through cities, destroying bridges, drying rivers. It came like wrath to the West. I knew Dean had gone mad again. There was no chance to send money to either wife if he took all his savings out of the bank and bought a car. Everything was up, the jig and all. Behind him charred ruins smoked. He rushed westward over the groaning and awful continent again, and soon he would arrive. We made hasty preparations for Dean. News was that he was going to drive me to Mexico. (236)
In Sals Vision erschafft Deans Gefährt seine eigene Straße, die sich unaufhaltsam durch den amerikanischen Kontinent zieht und verbrannte Erde zurücklässt. Deans Bewegungsdrang erlangt in diesem Bild das Maximum an möglicher Freiheit, da er nicht mehr auf der vorgegebenen Straße unterwegs sein muss, sondern sich diesen Ort selbst schaffen kann. Dabei zerstört er das statische Amerika, insbesondere die Städte. „Everything was up, the jig and all“ (236) bezieht sich nicht nur auf Deans eigenen radikalen Neuanfang, den seine Reise markiert, sondern kann auch als Kommentar über Amerika gelesen werden. Durch die „tremendous energy of a new kind of American saint“ (35) richtet der heilige Dean in seiner Bewegung das gesamte Land und erschafft eine neue Straße, welche die alten Gegebenheiten vernichtet. Sals Vision trägt auf diese Weise stark dazu bei, dass die Straße auch beim letzten road trip wieder als Anfangsort markiert wird. Die Fahrt nach Mexiko wird dann tatsächlich diesen sehr hohen Ansprüchen gerecht, die sich durch die mystische Aufladung zuvor aufgebaut haben. Beispielsweise erlangt Sal dort Einsicht in die Anfänge irdischer Geschichte und menschlicher Zivilisation, die sich ihm im amerikanischen Erfahrungsrahmen
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nicht bieten konnten, und die es ihm erlauben, sich selbst in diesem Zusammenhang mit kritischer Ehrlichkeit zu positionieren: The waves are Chinese, but the earth is an Indian thing. As essential as rocks in the desert are they in the desert of „history.“ And they knew this when we passed, ostensibly selfimportant moneybag Americans on a lark in their land; they knew who was the father and who was the son of antique life on earth, and made no comment. For when destruction comes to the world of „history“ and the Apocalypse of the Fellahin returns once more as so many times before, people will still stare with the same eyes from the caves of Mexico as well as from the caves of Bali, where it all began and where Adam was suckled and taught to know. (256)
Neben all diesen Einsichten in den Anfang wird während des road trips nach Mexiko auffällig oft vom Ende der Straße gesprochen, und zwar nicht nur im häufig wiederholten und banalen Sinn, dass man das Ende des Kontinents erreicht hat und umkehren muss. Dieses Ende der Straße, das Sal und Dean in Mexiko finden, ist spirituell, nicht geographisch. Schon beim Grenzübertritt wird Mexiko als magisches Land am Ende der Straße beschrieben, und der damit verbundene Neuanfang bedeutet sowohl erneut den Bruch mit der Vergangenheit als auch das erfolgreiche Ende jener Suche mit vagem Ziel, die Sal und Dean auf die Straßen der USA getrieben hat: Behind us lay the whole of America and everything Dean and I had previously known: about life, and life on the road. We had finally found the magic land at the end of the road and we never dreamed the extent of the magic. „Think of these cats staying up all hours of the night,“ whispered Dean. „And think of this big continent ahead of us with those enormous Sierra Madre mountains we saw in the movies, and the jungles all the way down and a whole desert plateau as big as ours and reaching clear down to Guatemala and God knows where, whoo! What’ll we do? What’ll we do? Let’s move!“ We got out and went back to the car. One last glimpse of America across the hot lights of the Rio Grande bridge, and we turned our back and fender to it and roared off. (251)
Erneut markiert die körperliche (und automobile) Bewegung nach vorn den Neuanfang, und Dean beschwört ausdrücklich das immense Potential, das vor ihnen liegt. Immer wieder wird Sal vom Ende der Straße schreiben, auch wenn Dean schon in obiger Passage deutlich macht, dass ihm Mexiko keineswegs als endgültiges Ziel erscheint, sondern nur als Erweiterung des Rahmens seiner Ziellosigkeit in der Bewegung. Nach einer durchfeierten Nacht ändert auch Sal seine
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Meinung und ersetzt die Ankunft am Ende der Straße wieder durch einen Anfang auf der Straße: Still we couldn’t sober up and didn’t want to leave, and though we were all run out we still wanted to hang around with our lovely girls in this strange Arabian paradise we had finally found at the end of the hard, hard road. But night was coming and we had to get on to the end; and Dean saw that, and began frowning and thinking and trying to straighten himself out, and finally I broached the idea of leaving once and for all. „So much ahead of us, man, it won’t make any difference.“ (264-65)
Auch wenn Sal auf der Formulierung besteht, und auch wenn diese Reise bedeutsame Erfahrungen bereithält, entpuppt sich das Ende der Straße als ebenso vorläufiges Ziel wie alle anderen Orte jenseits der Straße in On the Road. Dean verweist immer wieder auf die Notwendigkeit der Bewegung, auf das Potential des Bevorstehenden im ständigen Anfang auf der Straße. Dies zeigt sich besonders dann, als er und Sal in der Dunkelheit mit kaputten Scheinwerfern durch einen Dschungel fahren müssen und Sal den völlig inakzeptablen Vorschlag macht, man könne doch umkehren: „Let’s just drive. Maybe we ought to go back, though?“ „No, never-never! Let’s go on. I can barely see the road. We’ll make it.“ And now we shot in inky darkness through the scream of insects, and the great, rank, almost rotten smell descended, and we remembered and realized that the map indicated just after Gregoria the beginning of the Tropic of Cancer. „We’re in a new tropic! No wonder the smell! Smell it!“ I stuck my head out the window; bugs smashed at my face; a great screech rose the moment I cocked my ear to the wind. Suddenly our lights were working again and they poked ahead, illuminating the lonely road that ran between solid walls of drooping, snaky trees as high as a hundred feet. (267)
Dean verliert zunächst den Sichtkontakt zur Straße, verliert aber nie wirklich die Verbindung zu seinem natürlichen Lebensort (anders als Sal kommt Dean im ganzen Roman nicht ein einziges Mal mit einem Auto von der Straße ab). Das Eintauchen in die Dunkelheit und die Befreiung daraus markieren den Übertritt in den Wendekreis des Krebses, in eine neue Welt: Sal und Dean befinden sich nun in jenen „other tropics and otherworlds“ (242), die sie sich erhofft hatten, und kaum ein Anfang auf der Straße wird in On the Road deutlicher hervorgehoben. Kaum haben die beiden die imaginären Grenze passiert, funktionieren die Scheinwerfer wieder, und die Erleuchtung des bevorstehenden Weges ist materiell wie intellektuell und spirituell zu verstehen.
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Sal erreicht am Ende tatsächlich das Ende der Straße in Mexiko, allerdings anders, als er es sich vorgestellt hat: „We’d made it, a total of nineteen hundred miles from the afternoon yards of Denver to these vast and Biblical areas of the world, and now we were about to reach the end of the road“ (274). Dieses Ende ist Mexico City, die Stadt, auf die alle Straßenschilder im Land verweisen und die dadurch gleich zu Beginn des road trips als dessen Zentrum eingeführt wird: „‚See, it‘s the only city in the entire land, everything points to it‘“ (252). Das Ende der Straße erlebt Sal dort insofern, als der road trip für ihn beendet ist, da er Dysenterie bekommt und nicht mehr weiterreisen kann. Dean hingegen lässt sich davon nicht beirren und bricht kurze Zeit später zu einem weiteren road trip auf. Er hat das Ende der Straße nicht erreicht, vielleicht weil er es nie als solches begriffen hat wie Sal, und so lässt er seinen Freund in Mexico City zurück: „Poor Sal, poor Sal, got sick. Stan’ll take care of you. Now listen to hear if you can in your sickness: I got my divorce from Camille down here and I’m driving back to Inez in New York tonight if the car holds out.“ „All that again?“ I cried. „All that again, good buddy. Gotta get back to my life. Wish I could stay with you. Pray I can come back.“ I grabbed the cramps in my belly and groaned. When I looked up again bold noble Dean was standing with his old broken trunk and looking down at me. I didn’t know who he was any more, and he knew this, and sympathized, and pulled the blanket over my shoulders. „Yes, yes, yes, I’ve got to go now. Old fever Sal, good-by.“ And he was gone. (276)
Die Szene schwankt zwischen Entfremdung und Freundschaft: Auch wenn es scheint, als würde Dean Sal aus egoistischen Motiven im Stich lassen, hat Sal Verständnis dafür und bezeichnet ihn trotzdem als „bold noble Dean“ (276). Auf Sals entsetzte Frage „‚All that again?‘“ antwortet er mehrdeutig: „‚All that again, good buddy. Gotta get back to my life‘“ bezieht sich auf die Fahrt über die ganze Distanz zurück, auf Deans Familienleben in den USA, aber auch auf die Rückkehr auf die Straße selbst, die längst zu Deans Leben geworden ist. „All that again?“ trifft den Kern der Sache allerdings nicht ganz, denn die Frage impliziert eine Wiederholung, wo eigentlich ein erneuter Anfang vorhanden ist, und so bringt Dean ein letztes Mal in On the Road die Energie auf, die Straße als Anfangsort zu konstruieren. Für Sal ist diese Möglichkeit vorerst durch seine Krankheit verschwunden, doch kaum genesen zeigt sich, dass auch er noch nicht wirklich das Ende der Straße erreicht hat. Sofort nach dem Grenzübertritt in die USA wird deutlich,
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dass Sal nach wie vor auf einer mystischen Suche ist und die Straße weiterhin ein Anfangsort für ihn bleibt: In the fall I myself started back home from Mexico City and one night just over Laredo border in Dilley, Texas, I was standing on the hot road underneath an arc-lamp with the summer moths smashing into it when I heard the sound of footsteps from the darkness beyond, and lo, a tall old man with flowing white hair came clomping by with a pack on his back, and when he saw me as he passed, he said, „Go moan for man,“ and clomped on back to his dark. Did this mean that I should at last go on my pilgrimage on foot on the dark roads around America? (277)
Der Mann spricht ihn auf der Straße an, „on the hot road“, und Sal interpretiert seine kryptischen Worte wie ein kosmisches Zeichen. Er scheint allerdings nur darauf gewartet zu haben, denn die Formulierung („at last“ und „my pilgrimage“, nicht „a pilgrimage“) im letzten Satz deutet darauf hin, dass er schon länger mit dem Gedanken gespielt haben muss, einen spirituellen road trip durch Amerika zu Fuß zu unternehmen und dort jene „dark roads“ kennenzulernen, die er im Auto nicht erfahren konnte. On the Road hält am Ende so auch für Sal die Möglichkeit offen, die Straße wieder zum Anfangsort werden zu lassen, und führt sogar eine neue Option ein, wie die Straße erfahren werden kann. Dean bleibt ebenso bis zuletzt als Heiliger des neuen Amerika präsent, auch wenn er als Figur nicht mehr auftaucht. Selbst wenn im Roman deutlich wurde, dass er für seine Erfahrungen auf der Straße einen hohen Preis gezahlt hat, zeigt er nicht Deans endgültigen Verfall und Stillstand, sondern lässt ihm die Rolle erfüllen, die eines Heiligen angemessen ist: Er wird zur Symbolfigur, zur Inspirationsquelle, zum idealen Vorbild, das von seiner Person praktisch komplett getrennt werden kann. Der letzte Absatz des Romans verknüpft dieses Bild von Dean nochmals mit dem amerikanischen Kontinent, den sich Sal in einer allumfassenden Vision vorstellt: So in America when the sun goes down and I sit on the old broken-down river pier watching the long, long skies over New Jersey and sense all that raw land that rolls in one unbelievable huge bulge over to the West Coast, and all that road going, all the people dreaming in the immensity of it, and in Iowa I know by now the children must be crying in the land where they let the children cry, and tonight the stars’ll be out, and don’t you know that God is Pooh Bear? the evening star must be drooping and shedding her sparkler dims on the prairie, which is just before the coming of complete night that blesses the earth, darkens all rivers, cups the peaks and folds the final shore in, and nobody, nobody knows what’s going to happen to anybody besides the forlorn rags of growing old, I think of
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Dean Moriarty, I even think of Old Dean Moriarty the father we never found, I think of Dean Moriarty. (281)
Sal selbst ist in dieser Szene statisch, sitzt wieder wie am Anfang des Romans in New Jersey, doch sein Blick ersetzt die Bewegung und fällt auf ganz Amerika. Diese Veränderung kann als Ergebnis der Erfahrungen auf der Straße interpretiert werden, die es Sal nun erlauben, die Welt anders zu sehen als zuvor. Sals Blick in die Zukunft vermischt Potential mit Melancholie, „a quintessentially American mixture of past and present, dream and nightmare, hope and nostalgia“ (Hunt 73): Es sei nur sicher, dass man alt werde, sonst sei alles ungewiss. Hier zeigt sich, wie bedeutsam Dean auf symbolischer Ebene für Sal ist, denn er ist bei Sals Gedanken an das Altern und die Zukunft präsent. Ein alter Dean Moriarty ist eigentlich unvorstellbar, und Deans ständige Bewegung, seine ständigen Neuanfänge bleiben auch dann Trost und Hoffnung für Sal, wenn er ein Ende des Neuen im Alter bedenkt. Natürlich schwingt Nostalgie in seiner Beschreibung mit, jedoch ist ihr Blick keineswegs ausschließlich auf die Vergangenheit gerichtet, sondern mehr noch auf die Zukunft, vor allem weil der Kontinent und die Straße nach wie vor vorhanden sind und zu neuen Anfängen herausfordern. On the Road verweigert sich so einem Ende der Anfänge auf der Straße, indem es Dean zur Symbolfigur eines abstrakten Prinzips der Bewegung stilisiert. Dies verhindert eine letztlich negative Darstellung der Straße als Anfangsort, die eigentlich unvermeidlich scheint, wenn man bedenkt, dass die Anfänge auf der Straße auf Bewegung basieren und mit dem immer drohenden, unvermeidlichen Stillstand ihr Ende finden müssen (und somit möglicherweise folgenlos bleiben und scheitern). Der Roman erkennt dieses Problem an, erlaubt es sich aber, es ein weiteres Mal über sein eigenes Ende hinaus aufzuschieben; wenn der Stillstand für Dean irgendwann kommen mag, dann nicht im Text. Dieses positive Ende sollte aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, wie kritisch On the Road gegenüber dem Anfangspotential der Straße durchweg ist, wie deutlich die Romantisierung der Straße gleichzeitig betrieben und hinterfragt wird, und wie prekär oder problematisch all die Anfänge sind, die von den Charakteren auf der Straße gemacht und erfahren werden. Als Urtext des road trips gibt On the Road einen Rahmen für die Straßenerzählung vor, der flexibler, widersprüchlicher und komplexer ist als es einige spätere Erzählungen, die sich auf dieses Vorbild beziehen, annehmen lassen. Wenn andere Texte diesen Rahmen zu sprengen oder abzuwandeln versuchen, müssen sie sich dennoch dazu positionieren und daran abarbeiten. On the Road hat das Thema der Straße (und der Straße als Anfangsort) weder komplett vorge-
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zeichnet noch erschöpfend behandelt, und doch ist die formative Kraft des Romans aus keiner amerikanischen Straßenerzählung bis heute wegzudenken. Die Texte, die im Folgenden untersucht werden, sind in dieser Tradition zu lesen, wobei sie vor allem in ihrem Kontrast zu On the Road bedeutsam sind. Das Motiv der Straße als Anfangsort ist ihnen jedoch bei allen Unterschieden gemein, und vielleicht ist dies genau der dauerhafteste Beitrag zur Imagination der Straße, den On the Road geleistet hat.
3.2
JOHN STEINBECK, TRAVELS WITH CHARLEY: IN SEARCH OF AMERICA
Fünf Jahre nach On the Road, 1962, veröffentlicht John Steinbeck eine Straßenerzählung, die sich weder ausdrücklich auf Kerouacs Roman bezieht noch unbedingt in Abgrenzung dazu zu lesen ist. Gerade weil aber die Verbindung zwischen den Texten nicht nur durch einen direkten oder impliziten Bezug zustande kommt, sondern vor allem in der Darstellung der Straße als Anfangsort begründet liegt, ist eine Analyse von Travels with Charley: In Search of America in dieser Hinsicht lohnenswert. Steinbecks Text ist kein Roman wie On the Road, sondern ist dem Genre der Reiseliteratur zuzurechnen.17 Es handelt sich um einen Typus der Autobiographie, der den erzählenden Protagonisten stets ausdrücklich verortet und ihn sogar hinter diese sehr starken Ortsbezüge zurücktreten lässt, so dass Reise, Reisender und bereiste Orte in einer Erzählung untrennbar miteinander verknüpft werden. Wie jede Autobiographie bedient sich die Reiseerzählung dabei fiktionaler Strategien, was in verschiedenem Maße offengelegt werden kann. Steinbeck hält sich weitgehend mit Hinweisen auf diese Fiktionalisierung zurück und thematisiert selten direkt, dass es sich bei seiner Erzählung um eine nachträgliche und bearbeitete Darstellung handelt, deren Anspruch auf Wahrhaftigkeit zweifelhaft und uneindeutig für den Leser sein könnte. Allerdings verweist er gleich zu Beginn des Textes auf die Umstände seiner literarischen Produktion, die dem Leser relativ eindeutig zeigen, dass die folgende Erzählung nicht mit einem Tatsachenbericht verwechselt werden darf, sondern die notwendig fiktionalisierte Darstellung einer vom Autor subjektiv erfahrenen Realität ist: „I knew very well that I rarely make notes, and if I do I 17 Auch wenn das 20. Jahrhundert darin weitgehend ausgespart ist, empfiehlt sich inmitten der Vielzahl an Studien über US-amerikanische Reiseliteratur Larzer Ziffs Return Passages: Great American Travel Writing, 1780-1910 für einen grundlegenden Überblick über das Genre und seine Geschichte.
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either lose them or can’t read them. I also knew from thirty years of my profession that I cannot write hot on an event. It has to ferment. I must do what a friend calls ‚mule it over‘ for a time before it goes down“ (11). Als Schriftsteller mit politischen Anspruch leugnet Steinbeck nicht den Bezug seines Textes zur Realität, beansprucht aber nicht für seinen Text, dass dieser mit der Realität auf irgendeine Weise identisch wäre, sondern positioniert ihn an einer strategisch bedeutsamen Schnittstelle von Fiktion und Realität, an der Literatur ästhetisch wie politisch zugleich ihre Wirkung entfalten kann. An diesem Ort wird nun wieder die Straße zum zentralen Symbol der Erzählung, und wieder wird sie in ihrer potentiellen Funktion als Anfangsort hinterfragt, wenn auch auf andere Weise als bei Kerouac. Steinbeck erzählt die Geschichte eines road trips, den er 1960 unternommen hat; sein einziger Begleiter war sein Pudel Charley. Die Voraussetzungen für Steinbecks road trip ähneln einerseits stark den Umständen, aus denen heraus in On the Road solche Reisen unternommen werden, könnten andererseits aber auch kaum unterschiedlicher sein. Steinbeck betont immer wieder, wie uramerikanisch der Drang nach Bewegung ist, und wie wenig es dabei eine Rolle spielt, wohin man sich bewegt. Er identifiziert diese Rastlosigkeit, diese Liebe zur Bewegung um ihrer selbst willen als grundlegenden Teil des amerikanischen Charakters: I saw in their eyes something I was to see over and over in every part of the nation – a burning desire to go, to move, to get under way, anyplace, away from any Here. They spoke quietly of how they wanted to go someday, to move about, free and unanchored, not toward something but away from something. I saw this look and heard this yearning everywhere in every state I visited. Nearly every American hungers to move. (10)
Hier wird betont, dass diese Bewegung nicht auf ein Ziel hin ausgerichtet ist, sondern eher von einem Ort weg erfolgt, also als Befreiung von Ortshaftigkeit und der damit assoziierten Stagnation verstanden werden kann. Die Bewegung „away from any Here“ (10) hat somit eine ähnlich problematische Richtung wie die Bewegung in On the Road, die negativ als ständige Flucht verstanden werden kann, die letztlich doch immer an einem Ort enden muss. Steinbeck hingegen weigert sich ebenso wie Kerouac, dieses Begehren als negativ zu verstehen, und bietet stattdessen eine positive Interpretation an. Dies geschieht, indem die Straße als positiver Anfangsort konstruiert wird, weil nur dort die Erfahrung eines Ortes möglich ist, die dem Individuum Einsichten über sich, seine Mitmenschen und seine Umwelt im weitesten Sinn ermöglicht. Bewegung als Selbstzweck zu verdammen hieße demnach nichts anderes als Erfahrung als Selbstzweck abzutun und somit der Stagnation den Weg zu bereiten.
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Steinbeck weigert sich von Anfang an, dieses Verständnis von Bewegung als nutzlos anzuerkennen, und greift gleich in den einleitenden Absätzen die Idee an, der Drang nach Bewegung sei eine Krankheit, die entweder geheilt werden müsse oder sich mit zunehmendem Alter von selbst heile, wenn man automatisch in einen Zustand einer viel sinnvolleren, ausgeglichenen Ruhe gerate: When I was very young and the urge to be someplace else was on me, I was assured by mature people that maturity would cure this itch. When years described me as mature, the remedy prescribed was middle age. In middle age I was assured that greater age would calm my fever and now that I am fifty-eight perhaps senility will do the job. Nothing has worked. Four hoarse blasts of a ship’s whistle still raise the hair on my neck and set my feet to tapping. The sound of a jet, an engine warming up, even the clopping of shod hooves on pavement brings on the ancient shudder, the dry mouth and vacant eye, the hot palms and the churn of stomach high up under the rib cage. In other words, I don’t improve; in further words, once a bum always a bum. I fear the disease is incurable. I set this matter down not to instruct others but to inform myself. (3)
Für diesen allgemeinen Bewegungsdrang spielt die Straße noch keine besondere Rolle, und Steinbeck betont sogar ausdrücklich, dass jedes Fortbewegungsmittel dieses Begehren in ihm auslöse, egal ob Schiff, Flugzeug, Auto oder Pferd. Während in On the Road kaum von anderen Fahrzeugen als dem Auto die Rede ist, trennt Steinbeck zunächst den Wunsch nach Veränderung und Bewegung von dieser Art der Fortbewegung ab und verallgemeinert ihn noch weiter. Auf diese Weise betont er, dass der Drang nach Bewegung keine Folge technologischer Entwicklung ist und erst durch die zur Verfügung stehenden Maschinen hervorgebracht wurde, sondern dass die Technik nur neue Möglichkeiten bietet, diesem Drang nachzugeben, der so „ancient“ (3) wirkt, dass man ihn praktisch als universale menschliche Eigenschaft verstehen könnte. Umso bedeutsamer ist der Umstand, dass die Straße dann doch die zentrale Rolle in Steinbecks Reiseerzählung spielt, und dass die Fahrt mit seinem Auto – einer Sonderanfertigung eines Pick-Up-Trucks mit Campingaufbau, den er nach Don Quijotes Pferd Rocinante benennt – trotz so vieler Alternativen als angemessene Fortbewegungsart betrachtet wird, die in ihrer Zweckmäßigkeit nie hinterfragt wird. Steinbeck stellt wenige Anforderungen an sein Auto, die aber deutlich den Anspruch seiner Reise zeigen: „I wanted a three-quarter-ton pick-up truck, capable of going anywhere under possibly rigorous conditions, and on this truck I wanted a little house built like the cabin of a small boat“ (6). Die Reise soll vor allem keinen Einschränkungen in Sachen Mobilität unterworfen sein, und diese Möglichkeit des „going anywhere“ macht deutlich, dass Steinbeck sein
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Projekt als anfänglich versteht, da sowohl Verlauf als auch Ergebnisse offen sind. Genau an diesem Projekt zeigt sich bei allen Gemeinsamkeiten der Unterschied zu On the Road. Während Sal und Dean sich bestenfalls äußerst vage über den Zweck ihrer road trips äußern, weil sie sich selbst darüber nicht bewusst zu sein scheinen, steht am Anfang von Steinbecks road trip ein klar formuliertes Ziel. Er legt sogar knapp und deutlich die Bedingungen einer solchen Reise fest: When the virus of restlessness begins to take possession of a wayward man, and the road away from Here seems broad and straight and sweet, the victim must first find in himself a good and sufficient reason for going. This to the practical bum is not difficult. He has a built-in garden of reasons to choose from. Next he must plan his trip in time and space, choose a direction and a destination. And last he must implement the journey. How to go, what to take, how long to stay. This part of the process is invariable and immortal. I set it down only so that newcomers to bumdom, like teen-agers in new-hatched sin, will not think they invented it. Once a journey is designed, equipped, and put into process; a new factor enters and takes over. A trip, a safari, an exploration, is an entity, different from all other journeys. It has personality, temperament, individuality, uniqueness. A journey is a person in itself; no two are alike. And all plans, safeguards, policing, and coercion are fruitless. We find after years of struggle that we do not take a trip; a trip takes us. (3-4)
Die Straße wird gleich zu Beginn als Metapher für die Sehnsucht nach Bewegung gebraucht, die der eigentliche Auslöser für eine Reise ist, wobei besonders die Verortung bedeutsam ist. Die Formulierung „the road away from Here“ (3) zeigt deutlich, dass die Bewegung nicht auf einen bestimmen Punkt hin gedacht wird, sondern eine Entfernung vom jetzigen Aufenthaltsort darstellt. Dieses ‚Hier‘ wird nicht näher definiert und kann demnach von unterschiedlicher Größe sein, je nach Erfahrung des jeweiligen Ortes, und somit ebenso gut ein Raum, ein Haus und ein Dorf sein wie eine Stadt oder ein ganzes Land. Die Straße wird deshalb zum Symbol des Aufbruchs, weil sie sich diesem ‚Hier‘ verweigert und bei aller Verortung und Ortserfahrung des Individuums immer auch ein ‚Dort‘ impliziert. Die eigentlichen Gründe für die Reise treten angesichts dieses Auslösers so stark in den Hintergrund, dass Steinbeck sie mit einer allgemeinen Geste abhandelt, die sie eher als Ausreden denn als Gründe erscheinen lassen. Erst dann sucht sich der Reisewillige ein Ziel und eine Richtung, die durch diese Reihung klar weniger Priorität haben als die Bewegung selbst. Darauf folgt die Durchführung der Reise, die eigentlich nur ein weiterer Schritt in jenem Prozess
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ist, der mit der Sehnsucht nach Bewegung angesichts der Straße weg von hier begonnen hat; die Reise nimmt ihren Anfang also nicht etwa dann, wenn der Reisende sich tatsächlich bewegt, sondern schon dann, wenn er die Möglichkeit von Bewegung in Betracht zieht, und dieses Bewusstsein für Mobilität kommt angesichts der Straße zustande. In der Bewegung verselbständigt sich die Reise dann so stark, dass Steinbeck sie personifiziert und behauptet, alle Planung im Vorfeld entpuppe sich als hinfällig. Er selbst bestätigt dies in der rückblickenden Beschreibung seiner übertriebenen Vorbereitungen: „I judge now that I carried about four times too much of everything“ (11). Die unplanbare Reise hält während ihrer Durchführung stets weitere überraschende Anfänge bereit, so dass die Straße nicht nur metaphorisch der Anfangsort der Reise ist, sondern währenddessen auch buchstäblich ein Anfangsort bleibt. Daraus resultiert die Möglichkeit persönlicher Erfahrung, die Steinbeck am Ende des Absatzes betont, indem er darauf hinweist, dass das Individuum nicht die Reise beeinflusst, sondern von der Reise beeinflusst wird: „We find after years of struggle that we do not take a trip; a trip takes us“ (4). Steinbeck selbst findet den Grund für seine Reise, die Rechtfertigung für seinen Bewegungsdrang, in einer relativ zielgerichteten Suche nach Erfahrung: My plan was clear, concise, and reasonable, I think. For many years I have traveled in many parts of the world. In America I live in New York, or dip into Chicago or San Francisco. But New York is no more America than Paris is France or London is England. Thus I discovered that I did not know my own country. I, an American writer, writing about America, was working from memory, and the memory is at best a faulty, warpy reservoir. I had not heard the speech of America, smelled the grass and the trees and sewage, seen its hills and water, its color and quality of light. I knew the changes only from books and newspapers. But more than this, I had not felt the country for twenty-five years. In short, I was writing of something I did not know about, and it seems to me that in a socalled writer this is criminal. (5)
Steinbeck begründet seine Reise damit, dass er den Kontakt zu Amerika verloren habe, und dieser Kontakt ist tatsächlich physisch und nicht nur bildlich zu verstehen: „I had not felt the country for twenty-five years“ (5). Steinbeck sucht keine rein intellektuelle Erfahrung, die er auch über die Medien hätte erhalten können, sondern eine körperliche Erfahrung, die erst den Ort Amerika für ihn erst phänomenologisch konstituiert: „Newspapers can provide him with information, but they cannot provide the sort of bodily sensations he wishes to experience in his travels“ (Dowland 316). Schon der Titel der Erzählung verweist auf dieses Projekt: Steinbeck begibt sich auf die Suche nach Amerika,
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motiviert durch „a Whitmanesque compulsion to identify with and speak for the whole country“ (Lisca 232). Die Anfänge und Grundvoraussetzungen des road trips sind somit weitaus präziser dargelegt als in On the Road. Dort führt Sal zwar auch seine schriftstellerischen Ambitionen als Motivation an, Dean besser kennenzulernen und somit den ersten Schritt auf den folgenden Reisen zu unternehmen: „it wasn’t only because I was a writer and needed new experiences that I wanted to know Dean more“ (9). Allerdings ist dies bei weitem nicht die einzige Motivation, und der Hunger nach Erfahrung wird im Roman kaum noch mit Autorschaft und textlicher Kreativität verknüpft. Steinbeck hingegen schreibt aus der Perspektive eines etablierten, bekannten Autors, der den road trip nicht unternimmt, um überhaupt erst Erfahrungen zu sammeln, die er dann literarisch verarbeiten kann, sondern der ein Amerika neu erfahren will, das ihm zwar vertraut ist, der dieser Vertrautheit aber skeptisch gegenübersteht. Er muss sogar überlegen, wie er mit seiner Berühmtheit umgehen wird, und er beschließt, anonym zu reisen, um eine wahrhaftige Erfahrung Amerikas zu ermöglichen: „[…] my trip demanded that I leave my name and my identity at home. I had to be peripatetic eyes and ears, a kind of moving gelatin plate“ (6). Gleich im Anschluß fügt er aber hinzu, dass diese Sorge unbegründet war: „Let me say in advance that in over ten thousand miles, in thirty-four states, I was not recognized even once“ (7). (Dieser Satz erfüllt gleichzeitig den Zweck, dem Leser das Ausmaß des road trips zu vermitteln, und ihn erneut darauf hinzuweisen, dass die Erzählung von der Reise im Nachhinein geschrieben und entsprechend fiktionalisiert wird.) Steinbeck betont in Bezug auf sein Alter und seine bisherige Erfahrung, dass er Amerika nicht zum ersten Mal sehen will, sondern es erneut sehen möchte: „So it was that I determined to look again, to try to rediscover this monster land“ (5). Während für den jungen Sal die Straße zum Anfangsort wird, weil er dort zum ersten Mal Amerika wirklich erlebt, ist für Steinbeck der Anfang dort ein ganz anderer, weil er im Alter von 58 Jahren schon eine lange persönliche Erfahrungsgeschichte in Bezug auf Amerika hat und er prüfen möchte, ob er dieser einen Neuanfang verleihen kann oder nicht: „This book coincided with Steinbeck’s final major effort to rethink America, to come to terms with the soul of a nation which had been his major subject for three decades“ (Parini 514). Dies beinhaltet nicht nur eine rein biographisch begründete Suche nach einem Neuanfang der individuellen Erfahrung des Landes, sondern auch die politische Frage, inwiefern Amerika Anfänge erfahren hat, die Steinbeck als Individuum entgangen sein mögen, und inwiefern neue Anfänge notwendig und möglich sind. Die Straße wird zum Medium dieser Anfänge, weil dort „this monster land“ (5) für den Einzelnen erfahrbar gemacht werden kann und zu einem Ort wird, der lokal begreifbar ist, obwohl er sich in seiner ganzen
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Größe gegen eine mentale Verarbeitung sträubt: „And another thing I had conveniently forgotten was how incredibly huge America is“ (51). Steinbecks Reiseerzählung ist der literarische Versuch, die USA trotz ihres Ausmaßes vermittelbar und begreifbar zu machen und sie nicht zuletzt durch die Narration als Ort zu einen, der nicht in eine Vielzahl an unterschiedlichen Orten zerfällt. Die Straße ist das gemeinsame Element dieser Vielfalt, der Verbindungsort, der die Imagination der USA als einen vielfältigen Ort möglich macht. Steinbeck wählt den Anfang seiner eigentlichen Reise, also den Anfang der Bewegung nach dem Anfang der Konzeption, mit Bedacht. So wie Henry David Thoreau angeblich „by accident“ (Walden 389) sein Experiment des Lebens am Walden Pond am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, begann und dem Anfang auf diese Weise nationale Bedeutung zuwies, wird für Steinbeck der erste Montag im September, Labor Day, der amerikanische Tag der Arbeit, zum entscheidenden Datum des Anfangs. Auch er vermeidet eine ausdrückliche symbolische Interpretation und erklärt seine Überlegungen eher damit, dass er einfach nur den Urlaubsverkehr an diesem Feiertag vermeiden wolle: „Labor Day approached, the day of truth when millions of kids would be back in school and tens of millions of parents would be off the highways. I was prepared to set out as soon after that as possible“ (12). Er beschreibt Labor Day als Zeitpunkt der Normalisierung nach den Sommerferien, „when the nation settles back to normal living“ (6). Ein Sturm macht den Plan zunichte, an diesem Tag aufzubrechen, doch der Termin bleibt als symbolischer Anfang genannt. Indem Steinbeck seine Reise mit dem Labor Day verbindet, erschafft er einen Rahmen für seine kommende Erfahrung Amerikas und deutet schon früh an, dass es ihm dabei um die Arbeiterklasse gehen wird. Steinbecks Suche nach Amerika ist in hohem Maße die Suche nach dem Amerika einer Durchschnittsbevölkerung, die von anderen Klassen regiert wird; er spricht auf seiner Reise zwar immer wieder mit Amerikanern über Politik, doch keiner von ihnen ist ein Politiker. Steinbecks Reiseerzählung hat durchaus auch den Anspruch, dieses Amerika der Arbeiterklasse vom Amerika der herrschenden Klasse abzugrenzen. Deshalb kann Travels with Charley als Versuch des Neuanfangs für die USA verstanden werden, der eine Art nationaler Einheit bei innerer Vielfalt konstruiert, während er das soziale Machtgefüge insbesondere in Hinblick auf Kapitalismus und Rassismus in Frage stellt. In diesem Kontext ist ein weiterer Anfang der Reise von Bedeutung, der deutlich als solcher in den Vordergrund gestellt wird. Steinbeck betont zunächst, dass jede längere Reise solange als prekär betrachtet werden muss, bis ihr Anfang gemacht wird:
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In long-range planning for a trip, I think there is a private conviction that it won’t happen. As the day approached, my warm bed and comfortable house grew increasingly desirable and my dear wife incalculably precious. To give these up for three months for the terrors of the uncomfortable and unknown seemed crazy. (19)
Steinbeck überkommt diese Möglichkeit des Scheiterns vor dem Anfang, indem er sich gegen den statischen Zustand der Erfahrungslosigkeit wehrt, als den er das häusliche Leben begreift: „And I had seen so many begin to pack their lives in cotton wool, smother their impulses, hood their passions, and gradually retire from their manhood into a kind of spiritual and physical semi-invalidism. In this they are encouraged by wives and relatives, and it’s such a sweet trap“ (19). Er bedient sich stereotyper Bilder, um seine Reise auf persönlicher Ebene zu rechtfertigen, indem er deutlich die häusliche Sphäre als passiv und weiblich markiert, während er die Straße mit aktiver Männlichkeit konnotiert: I knew that ten or twelve thousand miles driving a truck, alone and unattended, over every kind of road, would be hard work, but to me it represented the antidote for the poison of the professional sick man. And in my own life I am not willing to trade quality for quantity. If this projected journey should prove too much then it was time to go anyway. I see too many men delay their exits with a sickly, slow reluctance to leave the stage. (20)
Steinbecks Suche nach Erfahrung steht somit nicht nur mit einem bestimmten Bild von Männlichkeit in Zusammenhang, sondern auch mit seinem Alter. Er macht sich Gedanken um seinen Tod und betrachtet seinen road trip somit auf eine Weise, die den jungen Charakteren in On the Road nie in den Sinn kommen würde. Steinbecks road trip wird für ihn zur Prüfung seiner Lebendigkeit, seiner Fähigkeit zu Aktivität und Autonomie; die Straße soll entweder ein neuer Anfangsort oder Ort des Endes für ihn werden. Letztlich bereitet es ihm keine Schwierigkeiten, sich auf den Weg zu machen, und doch ist dies dann nicht der Anfang des road trips. Dieses Bild des verzögerten Anfangs findet sich auch in On the Road, und man könnte verallgemeinern, dass ein road trip in Straßentexten oft nicht dann beginnt, sobald sich der Protagonist auf die Straße begibt, sondern sobald er die erste bedeutsame Erfahrung auf der Straße macht. In Steinbecks Fall ist dies ein Gespräch mit einem Farmbesitzer, der ihn kostenlos auf seinem Land campen lässt. Die beiden unterhalten sich über Politik, über Chruschtschows Wutanfall bei der UNOVollversammlung und in diesem Zusammenhang über das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und den USA allgemein, und diese Thematik des Kalten
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Krieges führt zu folgenden Aussagen des Farmers, die von einer generellen Skepsis gegenüber der Zukunft zeugen: „Well, you take my grandfather and his father – he was still alive until I was twelve. They knew some things they were sure about. They were pretty sure give a little line and then what might happen. But now – what might happen?“ „I don’t know.“ „Nobody knows. What good’s an opinion if you don’t know? My grandfather knew the number of whiskers in the Almighty’s beard. I don’t even know what happened yesterday, let alone tomorrow. He knew what it was that makes a rock or a table. I don’t even understand the formula that says nobody knows. We’ve got nothing to go on – got no way to think about things.“ (30)
Durch diesen Dialog führt Steinbeck die Problematik der Zukunft Amerikas ein, die zu einem zentralen Thema des Textes werden wird. In diesem Klima der Skepsis, der Zukunftsangst und des Unbehagens angesichts der scheinbar immer größer werdenden Unmöglichkeit, Aussagen über die Zukunft aus der Gegenwart abzuleiten, gewinnt der Aspekt des Anfangs bei Steinbecks Suche nach Amerika stark an Bedeutung. Die Straße soll in Travels with Charley nicht nur ein Anfangsort für den alternden Erzähler sein, sondern auch der Anfangsort für eine amerikanische Gesellschaft, die einerseits fortschrittsbesessen ist, andererseits darüber aber ihren Sinn für Anfänge und alle zukunftsorientierten Projekte zu verlieren droht. Steinbeck kommentiert diesen Fortschritt im Text oft skeptisch und melancholisch, aber vor allem ironisch, beispielsweise wenn er den Verkaufsautomat an einer Raststätte als zivilisatorischen Sprung nach vorn beschreibt: I had neglected my own country too long. Civilization had made great strides in my absence. I remember when a coin in a slot would get you a stick of gum or a candy bar, but in these dining palaces were vending machines where various coins could deliver handkerchiefs, comb-and-nail-file sets, hair conditioners and cosmetics, first-aid kits, minor drugs such as aspirin, mild physics, pills to keep you awake. I found myself entranced with these gadgets. (82)
Steinbecks Klage, den Anschluss an die Zivilisation verloren zu haben, ist bei aller Faszination mit der neuen Technik nicht wirklich ernst zu nehmen. Im Fall des Farmers allerdings ist diese Entfremdung buchstäblich todernst: Er versteht die Welt nicht mehr, weil es eine Welt ist, in der die Menschheit die Technologie zur Selbstzerstörung besitzt, damit aber nicht umgehen kann.
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Wie auch in On the Road wird hier der Gegensatz zwischen Fortschritt und Bewegung deutlich. Steinbecks Bewegung auf der Straße kann als Kritik an der Ideologie des Fortschritts gelesen werden, deren zwanghafte Geschwindigkeit dazu führt, dass niemand mit ihr Schritt halten kann, und die letztlich sogar in atomarer Zerstörung resultieren könnte. Die Einsichten in diese Problematik, die untrennbar mit der Technologisierung im Kalten Krieg verbunden ist, bedeuten für Steinbeck den Moment, an dem sein road trip wirklich anfängt: And maybe he had put his finger on it. Humans had perhaps a million years to get used to fire as a thing and an idea. Between the time a man got his fingers burned on a lightningstruck tree until another man carried some inside a cave and found it kept him warm, maybe a hundred thousand years, and from there to the blast furnaces of Detroit – how long? And now a force was in hand how much more strong, and we hadn’t had time to develop the means to think, for man has to have feelings and then words before he can come close to thought and, in the past at least, that has taken a long time. Roosters were crowing before I went to sleep. And I felt at last that my journey was started. I think I hadn’t really believed in it before. (30-31)
Steinbecks road trip bekommt mit dieser Episode eine Fragestellung, einen Rahmen der Erfahrung, und nimmt somit seinen eigentlichen Anfang, da der Bewegung auch inhaltlich und intellektuell eine Richtung gegeben wird. Er selbst definiert diese anfängliche Fragestellung am Ende des Textes allgemeiner: „When I laid the ground plan of my journey, there were I definite questions to which I wanted matching answers. It didn’t seem to me that they were impossible questions. I suppose they could all be lumped into the single question: ‚What are Americans like today?‘“ (215) Dennoch muss bei dieser Frage natürlich der Kontext einbezogen werden, in dem diese Amerikaner leben. Steinbecks Amerika ist immer Amerika im Kalten Krieg, und die atomare Bedrohung ist in allen Gesprächen über Politik präsent, auch wenn sie nicht direkt angesprochen wird. In diesem Klima des drohenden Endes sucht Steinbeck auf der Straße nach Anfängen, die gleichzeitig eine Antwort auf seine Fragestellung beinhalten. Steinbeck trifft immer wieder auf Personen, die gefragt oder ungefragt Auskunft über ihre Haltung zur Zukunft geben. Die erste Szene dieser Art, die noch vor der oben beschriebenen Anfangserfahrung stattfindet, zeigt auf ironische Weise das Dilemma zwischen Anfang und Ende auf, in dem sich die Amerikaner in Steinbecks Text wiederfinden. Steinbeck befragt einen jungen Soldaten, der
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auf einem Atom-U-Boot seinen Dienst verrichtet, nach seiner Arbeit, und dieser betont immer wieder denselben Vorzug: „Do you like to serve on them?“ „Sure I do. The pay’s good and there’s all kinds of – future.“ […] „And there’s movies and all kinds of – future.“ (21)
Die Wiederholung dieser sehr vagen Aussage im exakt gleichen Wortlaut erinnert eher an einen Werbeprospekt für Rekruten als an ein wirklich durchdachtes Urteil, so dass der Effekt eher komisch denn überzeugend ist. Gleichzeitig offenbart sich eine tragische Ironie, da ein Atom-U-Boot im Kalten Krieg nicht nur kaum als zukunftsträchtiger Ort erscheint, sondern noch dazu gerade eine jener Waffen darstellt, die jegliche Zukunft der Welt in Frage stellen. Die Szene trägt eher zur Zukunftsskepsis im Text bei als zu einer positiven Anfangsimagination; sie bildet allerdings den Hintergrund, vor dem Steinbeck andere Imaginationen in Abgrenzung konstruiert. Beispielsweise betrachtet ein anderer junger Mann später im Text die Zukunft als Aufforderung, sich aus seiner derzeitigen Situation zu befreien und sich persönlich weiterzuentwickeln: „‚I want to get ahead in the world. I’m twenty years old. I’ve got to think of my future‘“ (154). Hier ist die Verortung dieses Potentials besonders wichtig, denn Steinbeck sieht keinen Grund dafür, die von seinem Gesprächspartner erhofften Anfänge nicht an seinem jetzigen Aufenthaltsort zu machen, obwohl dieser sie nur in einer Stadt für möglich hält und nicht auf dem Land: „You really from New York?“ „Yep.“ „I want to go there sometime.“ „Everybody there wants to come out here.“ „What for? There’s nothing here. You can just rot here.“ „If it’s rotting you want, you can do it any place.“ „I mean there’s no chance for advancing yourself.“ „What do you want to advance toward?“ „Well, you know, there’s no theater and no music, no one to – talk to. Why it’s even hard to get late magazines unless you subscribe.“ „So you read The New Yorker?“ „How did you know? I subscribe.“ „And Time magazine?“
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„Of course.“ „You don’t have to go anywhere.“ „Beg pardon?“ „You’ve got the world at your fingertips, the world of fashion, of art, and the world of thought right in your own back yard. Going would only confuse you further.“ „One likes to see for one’s self,“ he said. I swear he said it. (153-54)
Hier ist Anfangspotential nicht mit einem Ort, sondern mit einer Geisteshaltung verbunden. Insbesondere wird der Stadt der Alleinanspruch auf Anfänglichkeit abgesprochen, indem persönliche Entwicklung mit intellektueller Tätigkeit verknüpft wird, die dank moderner Medien überall durchgeführt werden kann. Interessant ist daran vor allem, dass Steinbeck dem jungen Mann gerade nicht dazu rät, sich in Bewegung zu setzen und etwa bei road trips Erfahrung zu sammeln; Mobilität ist hier ein geistiges Phänomen. Steinbeck stellt damit aber keineswegs sein eigenes Projekt in Frage, indem er zugibt, dass man eigentlich auch am selben Ort bleiben könnte, um sich weiterzuentwickeln. Er zeigt zunächst einmal nur, dass das Potential für eine solche Entwicklung in Amerika an jedem Ort vorhanden ist, nicht nur in der Stadt, nicht nur auf der Straße. Natürlich haben Steinbecks Worte in dieser Szene einen ironischen Unterton, vor allem, wenn er abschließend sagt: „‚Going would only confuse you further‘“ (154); dies soll aber nicht bedeuten, dass er die geistige Bewegung seines Gesprächspartners als falsch oder unnütz verwerfen würde. Die Antwort darauf zeigt zudem deutlich, dass dieser verstanden hat, dass Erfahrung nicht ausschließlich über Texte erlangt werden kann, sondern in der Welt gemacht werden muss, wodurch Mobilität wieder mit Materialität verknüpft wird. Steinbeck präsentiert so einen jungen Amerikaner, der sich selbst entwickeln und verwirklichen möchte und deshalb über einen Anfang nachdenkt. Seine Haltung zur Zukunft ist somit weitaus positiver und produktiver als die des Matrosen oder des Farmers. Steinbeck selbst bleibt während seiner Reise in seinem Blick auf die Zukunft ambivalent. Einerseits erfährt er die Welt als Ort stetiger Neuanfänge, die dem Individuum jeden Tag aufs Neue Potential verheißen: „The sun was up when I awakened and the world was remade and shining. There are as many worlds as there are kinds of days, and as an opal changes its colors and its fire to match the nature of a day, so do I“ (57). Andererseits kontempliert er eine Zukunft, in der sich ihm und der gesamten Menschheit keine Anfänge mehr bieten werden, wovon die Welt selbst allerdings unberührt bleibt. Ausgelöst wird diese Überlegung durch die Betrachtung von Mammutbäumen, die sich einerseits jeglicher
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Repräsentation verweigern und in dieser Erhabenheit Steinbeck an eine Zeitlichkeit erinnern, die weit über die Erfahrungswelt der Menschen hinausgeht: The redwoods, once seen, leave a mark or create a vision that stays with you always. No one has ever successfully painted or photographed a redwood tree. The feeling they produce is not transferable. From them comes silence and awe. It’s not only their unbelievable stature, nor the color which seems to shift and vary under your eyes, no, they are not like any trees we know, they are ambassadors from another time. (168)
Die Bäume sind Mahnmale der Vergangenheit: „Those natives were grown trees when a political execution took place on Golgotha. They were well toward middle age when Caesar destroyed the Roman republic in the process of saving it“ (174). Als solche fordern sie allerdings auch einen ebenso langfristigen Blick auf die Zukunft heraus: „Can it be that we do not love to be reminded that we are very young and callow in a world that was old when we came into it? And could there be a strong resistance to the certainty that a living world will continue its stately way when we no longer inhabit it?“ (172) Dieses Unbehagen angesichts einer Welt, die auch jenseits der eigenen Existenz in der Zukunft existieren wird, wird nur noch von der Sorge übertroffen, dass die Welt gerade nicht weiter existieren könnte; Steinbeck bietet nicht nur einen Blick auf eine Zukunft der Welt ohne Menschheit, sondern auch auf eine durch die Menschheit zerstörte Welt: […] I do wonder whether there will come a time when we can no longer afford our wastefulness – chemical wastes in the rivers, metal wastes everywhere, and atomic wastes buried deep in the earth or sunk in the sea. When an Indian village became too deep in its own filth, the inhabitants moved. And we have no place to which to move. (25)
Durch diese Überlegungen, die in ihrem ökologischen Anspruch deutlich im Kontrast zur Ideologie der Konsumgesellschaft ihrer Zeit stehen, erweitert Steinbeck seine Suche nach Amerika zur Suche nach Amerikas Platz in der Welt. Seine Frage, wie die Amerikaner heute seien, ist somit nicht nur die Frage nach nationalen Befindlichkeiten, sondern steht in einem globalen Kontext. Wenn es Steinbeck um die Zukunft des Individuums und der amerikanischen Gesellschaft geht, dann immer auch in Hinblick auf eine globale menschliche Zukunft, da sich Umweltzerstörung und atomare Bedrohung ebenso wenig ausschließlich national begreifen lassen wie Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Diese Überlegungen zur Zukunft kommen im Text zustande, weil der road trip den geeigneten Rahmen dafür bietet. Steinbeck erfährt und erzählt die Lebensumstände in Amerika über seine Bewegung auf der Straße, und seine
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Darstellung beansprucht keine Neutralität, sondern ist ausdrücklich kritisch. Der Text will Amerika nicht beschreiben, sondern es verändern; noch mehr als On the Road will er selbst ein Anfangsort sein, von dem aus Amerika eine andere Richtung einschlägt. Steinbeck präsentiert die Straße als den Ort, an dem Amerika erkennbar ist, an dem sich die Ideologie der Gesellschaft sich verdichtet und besonders gut abgelesen werden kann, der aber für diese Gesellschaft auch zum Ort der Revolution und des Neuanfangs werden kann. Der Stadt spricht Steinbeck dieses Potential ab, und er stellt Städte generell als Orte der Einschränkung und des Chaos dar, die im Gegensatz zur Straße geradezu lebensfeindlich wirken: „American cities are like badger holes, ringed with trash – all of them – surrounded by piles of wrecked and rusting automobiles, and almost smothered with rubbish“ (25). Diese rostenden Autowracks sind Gegensymbole zu Steinbecks Rocinante, wodurch seine Mobilität auf der Straße von der Stagnation der Stadt deutlich unterschieden wird, auch wenn es in beiden Fällen um Autos geht. Wie Kerouac hat Steinbeck nichts für Autoverkehr in der Stadt übrig, und auch ihm geht es um the road, nicht um the street: „[…] I wanted to avoid New York traffic and get well on my way“ (20). Es gelingt Steinbeck während seiner Reise nicht allzu oft, diesem Verkehrsaufkommen zu entkommen, und er beklagt diese Folge amerikanischen Wachstums: Since I hadn’t seen the Middle West for a long time many impressions crowded in on me as I drove through Ohio and Michigan and Illinois. The first was the enormous increase in population. Villages had become towns and towns had grown to cities. The roads squirmed with traffic; the cities were so dense with people that all attention had to be devoted to not hitting anyone or not being hit. (95)
Während sich die Charaktere in On the Road relativ leicht aus dem Stadtverkehr lösen können, da sich dieser auf einige wenige Metropolen wie New York zu beschränken scheint, ist diese Befreiung durch die Landstraße für Steinbeck keineswegs einfach. Selbst außerhalb der Städte des Mittleren Westens ist der Verkehr so stark, dass die Straße darunter zu leiden scheint. Sie krümmt sich unter den vielen Autos, während die Straßen in der Stadt ohnehin lebensgefährlich zu sein scheinen. Die Straße ist hier nicht einfach das befreiende Gegenstück zur einengenden Stadt, sondern ein Ort, der mehr und mehr unter den Einfluss der Stadt gestellt und so in seinem Potential beschränkt wird. Auf der Straße lassen sich keine Anfänge mehr machen, wenn sie nur noch ein Bindeglied der Städte ist und der Verkehr jene Erfahrungen unmöglich macht, die ein road trip bereit hielt, bei dem man nicht nur das Auto gebraucht, um so gut es geht von A nach B zu kommen. Praktisch alle Städte, die Steinbeck in seiner Erzählung
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beschreibt, beinhalten dieses bedrohliche Element der Stagnation und Einschränkung, das sich mehr und mehr auf die Straßen außerhalb auszuweiten droht. Steinbeck berichtet zwar noch von einem road trip, allerdings wird dabei deutlich, dass diese roads sich verändern und möglicherweise einer Verstädterung unterworfen werden, die solche trips in Zukunft sogar unmöglich machen wird. Seine Reiseerzählung wirkt wie eine Jeremiade,18 seit den Puritanern ein ebenso amerikanisches Genre wie die Erzählung vom road trip, in der Steinbeck vor dem drohenden gesellschaftlichen Niedergang warnt und zur Einsicht und Umkehr mahnt. Er tut dies beispielsweise, indem er seine Ankunft in St. Paul und Minneapolis zur Nichtankunft erklärt und behauptet, eine wahrhaftigen Ortserfahrung sei ihm durch das Verkehrsaufkommen unmöglich gemacht worden: I know that it is a shame that I had never seen the noble twin cities of St. Paul and Minneapolis, but how much greater a disgrace that I still haven’t, although I went through them. As I approached, a great surf of traffic engulfed me, waves of station wagons, rip tides of roaring trucks. I wonder why it is that when I plan a route too carefully it goes to pieces, whereas if I blunder along in blissful ignorance aimed in a fancied direction I get through with no trouble. (114-15)
Steinbeck gelingt es hier nicht, durch den Verkehr zur eigentlichen Stadt durchzudringen, also sucht er weiter auf der Landstraße nach wirklich erfahrbaren Orten, die nicht von solchen Barrieren umgeben sind. Der Kontrast zwischen Stadt und Straße wird hier verstärkt, indem die Stadt nicht nur als einschränkend und gefährlich wuchernd dargestellt, sondern wie ein Nicht-Ort präsentiert wird, an dem man nicht wirklich sein kann. Die Straße hält diese Ortserfahrung noch bereit, wo sie noch nicht vom Stadtverkehr pervertiert wurde. Steinbeck betont bei seiner polemischen Darstellung der Stadt, in diesem Fall Seattle, dass er weder als nostalgisch noch als konservativ verstanden werden will: This sounds as though I bemoan an older time, which is the preoccupation of the old, or cultivate an opposition to change, which is the currency of the rich and stupid. It is not so. This Seattle was not something changed that I once knew. It was a new thing. Set down there not knowing it was Seattle, I could not have told where I was. Everywhere frantic growth, a carcinomatous growth. Bulldozers rolled up the green forests and heaped the
18 Der nach wie vor lesenswerte Standardtext zur diesem Thema ist Sacvan Bercovitchs The American Jeremiad.
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resulting trash for burning. The torn white lumber from concrete forms was piled beside gray walls. I wonder why progress looks so much like destruction. (162)
Die Stadt ist dieser Ort des Fortschritts, während die Straße der Ort der Bewegung bleibt. Steinbeck hält erneut wie Kerouac an dieser Gegenüberstellung fest und legt sich eindeutig fest, welche der beiden Tendenzen er bevorzugt. Die Veränderung der Stadt Seattle ist kein organisches Wachstum, sondern hat Seattle von sich selbst entfremdet und zu einer Stadt gemacht, die absolut austauschbar scheint. Diese „frantic growth, a carcinomatous growth“ (162) eines Fortschritts, der wie Zerstörung wirkt, vernichtet die Ortshaftigkeit eines Ortes, und Steinbeck als Individuum erfährt diesen Anblick als desorientierend. Die Straße bildet den Gegenpol zu dieser Entwicklung, da sie außerhalb der Städte Zugang zu wirklichen Orten bietet, die authentische Erfahrungen bieten. In Steinbecks Beschreibung ist die Stadt tendenziell der Ort der Zerstörung, während das produktive Element und somit der Anfang immer eher auf der Straße verortet wird. Steinbeck erlaubt sich nur eine Ausnahme, indem er einen kurzen Aufenthalt in Chicago beschreibt: Chicago was a break in my journey, a resumption of my name, identity, and happy marital status. My wife flew in from the East for her brief visit. I was delighted at the change, back to my known and trusted life – but here I run into a literary difficulty. Chicago broke my continuity. This is permissible in life but not in writing. So I leave Chicago out, because it is off the line, out of drawing. In my travels, it was pleasant and good; in writing, it would contribute only a disunity. (111)
Diese ausdrückliche Auslassung, die Steinbeck deutlich markiert, anstatt sie einfach wirklich zu verschweigen, führt jedoch nicht dazu, dass die Stadt positiver dargestellt wird, auch wenn der Aufenthalt als „pleasant and good“ (111) beschrieben wird. Stattdessen wird die Stadt durch diese rhetorische Strategie nur umso mehr zum störenden Fremdkörper in der Erzählung des road trips. Es wirkt, als finde die Stadt keinen Ort in der Reiseerzählung, weil Städte mit Reisen eigentlich nichts zu tun haben, und die Stagnation wäre ein Bruch in der Bewegung, von der Steinbecks Bericht zehrt. Insgesamt bleibt die Darstellung der Stadt in Travels with Charley negativ, wobei diese Negativität immer wieder über Bilder vermittelt wird, die sich auf Autos, Verkehr und Straßen beziehen und die so dabei helfen, die Straße als positiven Gegenpol zu konstruieren. Diese Strategie findet sich am deutlichsten in dieser Passage, welche die anhaltende Verstädterung der USA thematisiert:
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The big towns are getting bigger and the villages smaller. The hamlet store, whether grocery, general, hardware, clothing, cannot compete with the supermarket and the chain organization. […] The new American finds his challenge and his love in traffic-choked streets, skies nested in smog, choking with the acids of industry, the screech of rubber and houses leashed in against one another while the townlets wither a time and die. And this, as I found, is as true in Texas as in Maine. Clarendon yields to Amarillo just as surely as Stacyville, Maine, bleeds its substance into Millinocket, where the logs are ground up, the air smells of chemicals, the rivers are choked and poisoned, and the streets swarm with this happy, hurrying breed. This is not offered in criticism but only as observation. (65)
Angesichts der ausgesucht negativen Wortwahl, mit der das Leben in sich immer mehr gleichenden Städten beschrieben wird, kann der letzte Satz nur als ironisch verstanden werden. Steinbeck konstatiert, dass sich die urbane Konsumgesellschaft immer weiter ausbreitet, und die Erzählung von seinem road trip kann als Gegenentwurf verstanden werden, der sich dieser Tendenz entgegenstellt und einen Neuanfang einfordert, um ein Amerika zu verhindern, das an jedem Punkt gleich ist und jegliche ortsspezifischen Merkmale einem gleichmacherischen Fortschrittsdenken opfert. Steinbeck lobt hingegen die kleinen Orte in Montana, indem er sie im Gegensatz zu Städten als wahrhaft lebenswert bezeichnet: „it seemed to me that the towns were places to live rather than nervous hives“ (142). Diese Erkenntnis ist eines der Ergebnisse seines road trips und zugleich der kritische Anspruch in seiner literarischen Verarbeitung, in der die Straße zum Ort solcher Einsichten wird, gleichzeitig aber auch nach wie vor ein Gegenentwurf zum urbanen Leben verstanden werden kann. Steinbecks Kulturkritik beschränkt sich aber bei weitem nicht nur auf die Stadt, sondern bezieht auch die Straße selbst mit ein, deren Gegebenheiten die Rahmenbedingungen des road trips festlegt: „The nature of the road describes the nature of the travel“ (103). In diesem kritischen Impuls unterscheidet sich Travels with Charley grundlegend von On the Road. In Steinbecks Erzählung ist die Straße zwar wie bei Kerouac der Ort, an dem Amerika erkannt und gleichzeitig ein anderes Amerika imaginiert und angefangen werden kann, allerdings ist sie kein Ort, dem deshalb eine unangreifbare Sonderstellung im sozialen Gefüge der USA zukommt, sondern ein Ort, der diese Sonderstellung zu verlieren droht. Die Straße ist für Steinbeck kein Ort, der immer für individuelle und letztlich soziale Anfänge zur Verfügung steht, sondern ein Ort, der sein Potential als Anfangsort in dem Maße verliert, in dem er von der amerikanischen Kultur des Konsums vereinnahmt wird. Sobald die Straße nur noch Ort des Fortschritts ist anstatt Ort der Bewegung, können dort keine wirklichen Anfänge mehr gemacht
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werden. Dies betrifft vor allem epistemologische Anfänge, und hier zeigt sich, inwiefern die Straße für Steinbeck ein Anfangsort ist. Er will absolut nichts von spirituellen Erkenntnissen wissen, wie sie sich Sal in On the Road bieten, aber die Straße ist dennoch für ihn der Anfangsort eines neuen Wissens über die USA, und wie für Kerouac liegt darin der mögliche Impuls für einen Neuanfang der USA, wenn auch aus anderen Einsichten heraus. Steinbecks Straße hat nichts Mystisches an sich, besitzt aber dennoch Potential für Erkenntnis, und dieses Potential ist dadurch bedroht, dass die Straße ihre Ortsspezifik verliert. Steinbeck beschreibt immer wieder die Begleitumstände der Straße, die diese mehr und mehr in ein kapitalistisches Netzwerk des Konsums einbinden und somit auf negative Weise normalisieren, bis dort keine Anfänge mehr möglich sind, weil die Straße nicht mehr der Ort des Neuen ist. Beispielsweise ist die Straße durch das Medium des Radios zu einem Ort geworden, der sich von anderen nicht wirklich unterscheidet: „The records played are the same all over the country. If ‚Teen-Age Angel‘ is top of the list in Maine, it is top of the list in Montana. In the course of a day you may hear ‚Teen-Age Angel‘ thirty or forty times“ (32-33). Diese Gleichförmigkeit führt potentiell dazu, dass die Reise selbst inhaltlich bedeutungslos wird, da sie keine neuen Erkenntnisse bereithält, sondern man nur dieselben Dinge an anderen Orten konsumiert. In diesem Klima sind keine Anfänge möglich, da das System jegliche Energie verloren hat und an allen Punkten gleich ist: „‚We’ve listened to local radio all across the country. And apart from a few reportings of football games, the mental fare has been as generalized, as packaged, and as undistinguished as the food‘“ (128). Steinbeck zieht die Parallele zwischen geistiger und körperlicher Nahrung mit Bedacht und präsentiert das allgegenwärtige, immer gleiche Angebot in beiden Fällen als steril, unnatürlich und ungesund. Um dies zu unterstreichen, berichtet er von unbedingt lokalen Phänomenen wie dem Hummer in Maine, von dem er behauptet, er schmecke nur dort: „Even shipped or flown alive away from their dark homes, they lose something“ (49). Zwar ist die Straße der richtige Ort, um eine Vielzahl solcher lokalen Gegebenheiten zu erfahren, allerdings verändert sie sich tendenziell zu einem generischen Nicht-Ort, wie es beispielsweise Flughäfen und Einkaufszentren sind. Steinbeck erfährt die roadside immer wieder als Ort der Abstraktion, als künstlichen Raum mit einer eigenen, surrealen Wirklichkeit: It is life at a peak of some kind of civilization. The restaurant accommodations, great scallops of counters with simulated leather stools, are as spotless as and not unlike the lavatories. Everything that can be captured and held down is sealed in clear plastic. The food is oven-fresh, spotless and tasteless; untouched by human hands. (82)
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Die Versiegelung in Plastik kann als umfassendes Bild für diese Tendenz zur Künstlichkeit gelesen werden, durch die der Reisende von seinem Aufenthaltsort so distanziert wird, dass es praktisch egal ist, wo er sich wirklich befindet, so dass die ganze Reise letztlich überflüssig ist. Steinbeck empfindet dies als erzwungene Entfremdung von der Welt unter dem Vorwand, das Individuum müsse vor ihr beschützt werden: „Across the toilet seat a strip of paper bore the message: ‚This seat has been sterilized with ultraviolet light for your protection.‘ Everyone was protecting me and it was horrible“ (43). Während der road trip ja eigentlich eine Erfahrung der Welt beinhalten und möglich machen soll, wird dem Individuum der Zugang zur Welt verwehrt. Dies schlägt sich beispielsweise im Essensangebot nieder: „[…] in the eating places along the roads the food has been clean, tasteless, colorless, and of a complete sameness“ (126). Steinbeck erkennt diese Normalisierungstendenz während seiner Reise auch in Bezug auf die Sprache, indem er das Verschwinden regionaler Dialekte beschreibt: It seemed to me that regional speech is in the process of disappearing, not gone but going. Forty years of radio and twenty years of television must have this impact. […] I can remember a time when I could almost pinpoint a man’s place of origin by his speech. That is growing more difficult now and will in some foreseeable future become impossible. (95-96)
Die Konsequenz dieser sprachlichen und kulturellen Entwicklung ist keine positive Einheit, in der ganz Amerika zu einem Ort wird, sondern das Verschwinden von Orten in Amerika überhaupt. Steinbeck betrachtet diese nationale Normalität nicht als einigendes Element, sondern als zerstörerische Homogenität, die jegliche Lokalität beseitigt:19 And in their place will be a national speech, wrapped and packaged, standard and tasteless. Localness is not gone but it is going. In the many years since I have listened to the land the change is very great. Traveling west along the northern routes I did not hear a truly local speech until I reached Montana. That is one of the reasons I fell in love again with Montana. (97)
19 Schon im 19. Jahrhundert wandte sich die Strömung des literarischen Regionalismus gegen diese Homogenisierungstendenzen des Nationalen, mit ebenso konservativen wie progressiven Ausprägungen. Philip Josephs Studie American Literary Regionalism in a Global Age bietet eine neuere Perspektive auf dieses Phänomen.
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Das Beispiel von Montana und die Wiederholung der Formulierung „gone but going“ zeigen, dass Steinbeck vorerst nur einen Prozess diagnostiziert, nicht aber sein Ergebnis. Auch der Süden stellt noch einen Ort des Widerstands dar, dessen Eingliederung in die amerikanische Normalität allerdings nur eine Frage der Zeit zu sein scheint: Of course the deep south holds on by main strength to its regional expressions, just as it holds and treasures some other anachronisms, but no region can hold out for long against the highway, the high-tension line, and the national television. What I am mourning is perhaps not worth saving, but I regret its loss nevertheless. (97)
Steinbeck identifiziert hier bezeichnenderweise nicht nur die Medien als Verursacher von Homogenität, sondern nennt auch den Highway als Wurzel dieses Übels. Straße ist nicht gleich Straße in seiner Erzählung, und einige Arten der Straße sind deutlich als negativ markiert. Dabei handelt es sich um jene Straßen, die sich von Orten wie von Anfängen komplett abgelöst haben und abstrakte Medien der Geschwindigkeit zu sein scheinen, die eigentlich nirgends und überall zugleich sein könnten und alle Erfahrung in so großem Maße verhindern, dass eigentlich nicht von einer Reise auf diesen Straßen die Rede sein kann. Folgende Passage stellt eine knappe Zusammenfassung dieser Repräsentationsweise dar, die in ihrer Wortwahl sehr deutlich macht, wie unnatürlich und grundlegend falsch Steinbeck die angebliche Reise auf diesen Highways erscheint: From the beginning of my journey, I had avoided the great high-speed slashes of concrete and tar called ‚thruways,‘ or ‚super-highways.‘ Various states have different names for them, but I had dawdled in New England, the winter grew apace, and I had visions of being snowbound in North Dakota. I sought out U.S. 90, a wide gash of a super-highway, multiple-lane carrier of the nation’s goods. Rocinante bucketed along. The minimum speed on this road was greater than any I had previously driven. […] These great roads are wonderful for moving goods but not for inspection of a countryside. You are bound to the wheel and your eyes to the car ahead and to the rear-view mirror for the car behind and the side mirror for the car or truck about to pass, and at the same time you must read all the signs for fear you may miss some instructions or orders. No roadside stands selling squash juice, no antique stores, no farm products or factory outlets. When we get these thruways across the whole country, as we will and must, it will be possible to drive from New York to California without seeing a single thing. (81)
Geschwindigkeit ist für Steinbeck kein Selbstzweck und nicht Teil der Erfahrung eines road trips, worin seine Reiseerzählung sich grundlegend von On the Road
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unterscheidet. Steinbecks Rocinante eignet sich ohnehin nicht für schnelle Fortbewegung, und er bewegt sein Auto nur deshalb auf eine Autobahn, auf der die Mindestgeschwindigkeit über seiner bisherigen Höchstgeschwindigkeit liegt, weil er dem Schnee in North Dakota entkommen will. Diese Straße, mit dem Wort gash wie eine Wunde in der Landschaft beschrieben, ist nur ein Medium des Gütertransports, der keinerlei Verbindung zu seiner Umgebung hat und daher keinerlei Eindrücke für den Fahrer bereithält. Steinbeck vermisst angesichts dieser Straße sogar die kommerzialisierte roadside der Landstraßen, die wenigstens noch menschlichen Kontakt ermöglicht. Der letzte Satz deutet an, dass diese Autobahnen letztlich degenerierte Straßen sind, die nur noch Teil eines Netzwerks aus Städten sind und keinen alternativen Raum zur Urbanität mehr anbieten. Zudem ist die Fahrt auf diesen Straßen unangenehm und sogar gefährlich: „[…] I had turned off the big highway 104 and into the smaller roads because the traffic was heavy and passing vehicles threw sheets of water on my windshield“ (74). Es ist vor allem ein Problem, dass die anderen Fahrzeuge im dichten Verkehr Steinbecks Sicht durch die Windschutzscheibe verschlechtern; diese Straße ist somit der falsche Ort für sein Projekt der Beobachtung Amerikas während eines road trips. Generell führt die Bewegung auf einem Highway sogar zu Stagnation, die das Individuum einlullt: „The straightness of the way, the swish of traffic, the unbroken speed are hypnotic, and while the miles peel off an imperceptible exhaustion sets in. Day and night are one. The setting sun is neither an invitation nor a command to stop, for the traffic rolls constantly“ (103). Aus diesen Gründen betont Steinbeck immer wieder, dass er sich auf kleinen Straßen fortbewegt, da nur dort die für sein Projekt nötige Erkenntnis möglich ist: „As often as I could I chose the small wood roads, and they are not conducive to speed“ (54). Diese Langsamkeit ist die Bedingung der Wahrnehmung: „I drove as slowly as custom and the impatient law permitted. That’s the only way to see anything“ (34). Das unterscheidet den road trip von einer touristischen Reise, über die Steinbeck „the American tendency in travel“ beschreibt: „One goes, not so much to see but to tell afterward“ (145). Vor allem aber ist es die direkte Bewegung von A nach B, die Steinbeck als hinderlich für Erkenntnis und Wahrnehmung betrachtet. Er begründet dies damit, dass die Art der Fortbewegung in einem Auto auf einer großen Straße zwar das Nachdenken begünstige, allerdings Beobachtung verhindere: If one has driven a car over many years, as I have, nearly all reactions have become automatic. One does not think about what to do. Nearly all the driving technique is deeply buried in a machine-like unconscious. This being so, a large area of the conscious mind is
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left free for thinking. And what do people think of when they drive? On short trips perhaps of arrival at a destination or memory of events at the place of departure. But there is left, particularly on very long trips, a large area for daydreaming or even, God help us, for thought. No one can know what another does in that area. I myself have planned houses I will never build, have made gardens I will never plant, have designed a method for pumping the soft silt and decayed shells from the bottom of my bay up to my point of land at Sag Harbor, of leeching out the salt, thus making a rich and productive soil. […] I can only suspect that the lonely man peoples his driving dreams with friends, that the loveless man surrounds himself with lovely loving women, and that children climb through the dreaming of the childless driver. And how about the areas of regrets? If only I had done so-and-so, or had not said such-and-such – my God, the damn thing might not have happened. Finding this potential in my own mind, I can suspect it in others, but I will never know, for no one ever tells. And this is why, on my journey which was designed for observation, I stayed as much as possible on secondary roads where there was much to see and hear and smell, and avoided the great wide traffic slashes which promote the self by fostering daydreams. (85-86)
Das Autofahren begünstigt das Nachdenken deshalb, weil es das Individuum in der Bewegung komplett von seiner Umgebung abtrennt. Da alle dafür nötigen körperlichen und geistigen Aktivitäten automatisch ablaufen, werden Kapazitäten des Denkens und der Imagination frei. Überraschenderweise findet Steinbeck an diesem Effekt aber kaum Gefallen und stellt ihn ähnlich negativ dar wie die Umstände, die ihn hervorbringen, also die Fahrt auf dem Highway. Stattdessen bevorzugt er solche Straßen, die nicht das selbstbezogene Nachdenken fördern, sondern das Ich zurückstellen und Beobachtung fördern. Egozentrische Kontemplation während einer anspruchslosen Fahrt wird als inhaltsleere, konsequenzlose Tätigkeit präsentiert, die dadurch zustande kommt, dass das Ich auf dem Highway keinerlei phänomenologische Verbindung zu einem Ort hat. Nicht jede Fahrt bringt Erkenntnis, und nicht jede Straße ist unbedingt ein epistemologischer Anfangsort; am besten geeignet sind die Straßen, die Zugang zu lokalen Gegebenheiten erlauben und langsame, aufmerksame Bewegung ermöglichen. Steinbecks Musterbeispiel für Bewegung ohne Wahrnehmung sind die Lastwagenfahrer, die er in Raststätten antrifft: „Quite often I sat with these men and listened to their talk and now and then asked questions. I soon learned not to expect knowledge of the country they passed through. Except for the truck stops, they had no contact with it“ (84). Ihr Kontakt zu ihrer Umgebung ist minimal und so wenig verortet wie die Autobahn, auf der sie fahren: „[…] the truckers cruise over the surface of the nation without being a part of it“ (83). Die Wortwahl ist bezeichnend: Die Trucker nehmen Amerika nicht nur kaum wahr,
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sondern sind auch kein Teil davon. Die Bewegung von Gütern wird von jenem Bewegungsdrang unterschieden, den Steinbeck als uramerikanisch identifiziert hat. Auch wenn der Highway natürlich sehr amerikanisch ist, positioniert Steinbeck ihn außerhalb der Nation und definiert so ein echtes Amerika im Gegensatz zu einem falschen, künstlichen Amerika. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, Steinbecks Kulturkritik als konservative Reaktion auf Veränderung zu lesen. Er kritisiert die Ideologie des kapitalistischen Fortschritts, nicht die Idee des Wandels, und er möchte deutlich machen, dass er nicht aus nostalgischer Verklärung heraus argumentiert: Even while I protest the assembly-line production of our food, our songs, our language, and eventually our souls, I know that it was a rare home that baked good bread in the old days. […] It is the nature of a man as he grows older, a small bridge in time, to protest against change, particularly change for the better. But it is true that we have exchanged corpulence for starvation, and either one will kill us. The lines of change are down. We, or at least I, can have no conception of human life and human thought in a hundred years or fifty years. Perhaps my greatest wisdom is the knowledge that I do not know. The sad ones are those who waste their energy in trying to hold it back, for they can only feel bitterness in loss and no joy in gain. (96-97)
Steinbecks Kulturkritik, die in seinen Erfahrungen auf der Straße ihren Anfang nimmt und diesen Ort zum Zentrum des Arguments macht, stellt sich nicht gegen Veränderung, sondern konstatiert – wie schon beim im anfänglichen Gespräch mit dem Farmer – die Unmöglichkeit, aus der Gegenwart Wissen über die Zukunft abzuleiten. Die Welt bietet durch den rasenden Fortschritt keine Möglichkeit mehr an, eine kohärente Erzählung über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erschaffen. Anstatt jedoch dies fatalistisch hinzunehmen oder gegen jede Vernunft zu versuchen, alle Veränderung zu verhindern, wählt Steinbeck gerade durch seine Reiseerzählung einen Mittelweg: Travels with Charley präsentiert weder ein kohärentes noch ein inkohärentes Amerika, sondern stellt es als heterogene Vielfalt dar, die in der Erzählung durch das einigende Element der Straße zusammengehalten wird, ohne deshalb vereinheitlicht zu werden. Auch auf dieser narrativen Ebene stellt die Straße einen Anfangsort dar: Der Roman gebraucht die Straße als symbolischen Ort, der eine neuen Sicht auf die USA bietet, die weder a priori eine nationale Einheit beschwört noch sich einem nostalgischen Kulturpessimismus hingibt. Stattdessen werden die USA durch die Straße zum komplexen Ort, der weder in Gleichheit erstarrt noch in Vielfalt zerfällt, auch wenn beide Möglichkeiten diesen prekären Zustand bedrohen.
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Steinbeck findet deshalb natürlich auch nicht Amerika auf seinem road trip, so wie Sal und Dean auch nie „the pearl“, „the Word“ oder einfach nur „IT“ finden; dies würde bedeuten, dass Amerika eine auffindbare, greifbare und vollständig kommunizierbare Einheit ist, die am Ende der Suche steht. Stattdessen findet Steinbeck überall Amerika, da die Straße durch ihre eigenartige Örtlichkeit – ein Ort und viele Orte – es ermöglicht, dieses Zwischenstadium von Einheit und Vielheit zu erfahren und es in diesem Zustand zu belassen, ohne einem der Prinzipien den Vorzug zu geben. Steinbeck erfährt Amerika tatsächlich neu, während er sich auf der Straße bewegt, und zwar in guter wie in schlechter Hinsicht. Besonders die positiven Erfahrungen werden oft über die Anfangsrhetorik vermittelt, die dem road trip eigen ist; dies wird beispielsweise deutlich, wenn er darüber schreibt, Wisconsin „for the first and only time“ (113) zu sehen: It is possible, even probable, to be told a truth about a place, to accept it, to know it and at the same time not to know anything about it. I had never been to Wisconsin, but all my life I had heard about it, had eaten its cheeses, some of them as good as any in the world. And I must have seen pictures. Everyone must have. Why then was I unprepared for the beauty of this region, for its variety of field and hill, forest, lake? (113)
Dieser Ortserfahrung gehen zwar langjährige Vorurteile im Wortsinn voraus, doch erst die individuelle körperliche Wahrnehmung bringt ihren eigentlichen Anfang hervor. Steinbeck verwirft dabei die Möglichkeit, einen Ort über seine Repräsentation zu erfahren, wodurch er indirekt auch den Anspruch seiner eigenen Reiseerzählung deutlich macht: Travels with Charley ist kein Reiseführer, der eine angeblich objektive Ortserfahrung rahmt oder vorwegnimmt, sondern die Fiktionalisierung einer subjektiven Erfahrung der USA. Diese verfolgt nicht das Ziel, die USA korrekt zu beschreiben, sondern dem Land narrative Kohärenz zu verleihen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder absolute Wahrhaftigkeit. Das Auseinanderklaffen von Repräsentation und Wirklichkeit, dem Steinbecks autobiographische Erzählung ebenso unterliegt wie jeder Text, wird dabei offen angesprochen, wenn Steinbeck über die Probleme schreibt, die er während seines road trips mit Straßenkarten und Wegbeschreibungen hat. Kaum ein Amerikaner gibt ihm akkurate Anweisungen, so dass er sogar ausdrücklich denjenigen lobt, der es ausnahmsweise tut: „He gave me directions for getting out of town, some of the few accurate ones I got on the whole trip“ (22). Selbst eine korrekte Wegbeschreibung hilft allerdings nur wenig; es ist, als würde sich die individuelle Erfahrung Amerika jeder sprachlichen Repräsentation verweigern: „I had been given written directions on how to go, detailed directions, but have
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you ever noticed that instructions from one who knows the country get you more lost than you are, even when they are accurate?“ (45) Darüber hinaus erweist sich kaum eine Karte als nützlich, weil ihr Verhältnis zur Realität keineswegs stabil oder verlässlich ist. Dies liegt teilweise an Steinbeck selbst, der sich nicht verorten kann: „I pulled to the side of the street and got out my book of road maps. But to find where you are going, you must know where you are, and I didn’t“ (74). Das Problem wird aber dann umso gravierender, wenn die Karte der Realität hinterherhinkt: „I was born lost and take no pleasure in being found, nor much identification from shapes which symbolize continents and states. Besides, roads change, increase, are widened or abandoned so often in our country that one must buy road maps like daily newspapers“ (64). Steinbeck betont im Zusammenhang mit seiner Reiseerzählung, dass seine Erinnerungen nicht an eine Karte gebunden sind, sondern an seine subjektive Ortserfahrung während des road trips, etwa wenn er dem Leser seine Route nachvollzieht: „I can report this because I have a map before me, but what I remember has no reference to the numbers and colored lines and squiggles“ (64). Er bemüht sich auch deshalb, sich von der Karte zu lösen, weil sie seiner Meinung nach als Repräsentation oft ebenso den Blick auf die Realität verstellt, wie der Highway den Blick auf die Umgebung verhindert. Er erkennt dies schon früh auf seiner Reise und lernt, dass sein road trip nicht mit einer Karte anfangen kann, sondern auf der Straße selbst beginnen muss: For weeks I had studied maps, large-scale and small, but maps are not reality at all – they can be tyrants. I know people who are so immersed in road maps that they never see the countryside they pass through, and others who, having traced a route, are held to it as though held by flanged wheels to rails. I pulled Rocinante into a small picnic area maintained by the state of Connecticut and got out my book of maps. And suddenly the United States became huge beyond belief and impossible ever to cross. I wondered how in hell I’d got myself mixed up in a project that couldn’t be carried out. It was like starting to write a novel. When I face the desolate impossibility of writing five hundred pages a sick sense of failure falls on me and I know I can never do it. This happens every time. Then gradually I write one page and then another. One day’s work is all I can permit myself to contemplate and I eliminate the possibility of ever finishing. So it was now, as I looked at the bright-colored projection of monster America. (22-23)
Steinbeck beschreibt jene Tyrannei der Karte, der Sal Paradise vor seinem ersten road trip unterlag, „the stupid hearthside idea that it would be wonderful to follow one great red line across America instead of trying various roads and routes“ (12). Wie später Sal unternimmt auch Steinbeck seine Reise im Gegen-
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satz dazu mit einer Bewegung, die er mit dem spanischen Wort vacilando beschreibt: „If one is vacilando, he is going somewhere but doesn’t greatly care whether or not he gets there, although he has direction“ (57). Diese Bewegung stellt auch die Lösung des Problems der Größe und Vielfalt Amerikas dar, die Steinbeck auf der Straße findet: Er versucht nicht, die USA auf einmal als Ganzes zu fassen, sondern geht Schritt für Schritt von einem Ort zum nächsten. Indem er den road trip in seiner überwältigenden Aufgabenstellung mit dem Schreiben eines Romans vergleicht, thematisiert Steinbeck nicht nur die Größe Amerikas, die jenseits individueller Erfahrung liegt, sondern auch die damit verbundene Unmöglichkeit der Repräsentation. Wenn Steinbeck schreibt, er unternehme „a project that couldn’t be carried out“ (23), kokettiert er nicht damit, dass er dem Leser doch einen fertigen Text über die Reise in die Hände geben kann. Stattdessen muss man diesen Satz als offenes Eingeständnis lesen, dass sein Projekt immer zum Scheitern verurteilt ist. Seine bereits erwähnte „Whitmanesque compulsion to identify with and speak for the whole country“ (Lisca 232) muss zwangsläufig unerfüllt bleiben. Dieses Scheitern betrifft allerdings nur den Anspruch der Vollständigkeit einer Erfahrung und Vermittlung Amerikas, den Steinbeck verwirft und durch eine subjektive, vielfältige Ansammlung von lokalen Erfahrungen ersetzt, aus denen er zwar Aussagen über die USA im Ganzen ableitet, die aber immer eine deutlich verortete Basis haben, durch welche die Vielfalt in der konstruierten Einheit ersichtlich bleibt. Welche Erfahrung der USA vermittelt nun Steinbeck in der Erzählung seines road trips? Was findet er auf seiner Suche nach Amerika auf der Straße? Er bestätigt immer wieder, wenn auch in vorsichtigem Ton, dass man bei all der Vielfalt, die ihm auf der Straße begegnet, eine amerikanische Kultur und einen amerikanischen Charakter erkennen könne: „There are customs, attitudes, myths and directions and changes that seem to be part of the structure of America“ (51). Gleichzeitig weist er früh darauf hin, dass diese Erkenntnis sehr subjektiv ist, wie jede Ortserfahrung. Steinbeck beschreibt nie einen wahren Kern Amerikas, zu dem er durchgedrungen wäre, sondern gibt immer seine Einschätzung aus seiner Perspektive wieder: On the long journey doubts were often my companions. I’ve always admired those reporters who can descend on an area, talk to key people, ask key questions, take samplings of opinions, and then set down an orderly report very like a road map. I envy this technique and at the same time do not trust it as a mirror of reality. I feel that there are too many realities. What I set down here is true until someone else passes that way and rearranges the world in his own style. In literary criticism the critic has no choice but to make over the victim of his attention into something the size and shape of himself.
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And in this report I do not fool myself into thinking I am dealing with constants. A long time ago I was in the ancient city of Prague and at the same time Joseph Alsop, the justly famous critic of places and events, was there. He talked to informed people, officials, ambassadors; he read reports, even the fine print and figures, while I in my slipshod manner roved about with actors, gypsies, vagabonds. Joe and I flew home to America in the same plane, and on the way he told me about Prague, and his Prague had no relation to the city I had seen and heard. It just wasn’t the same place, and yet each of us was honest, neither one a liar, both pretty good observers by any standard, and we brought home two cities, two truths. (69)
Steinbeck wiederholt seine Kritik an der Kartographie, die ebenso wie die Literatur ein sehr schwieriges Verhältnis zur Realität hat: Beide sind nicht in der Lage, die Wirklichkeit abzubilden oder zu spiegeln. Stattdessen erschafft Steinbecks Version eine amerikanische Realität, anstatt sie nur zu beschreiben. Sein Wahrheitsbegriff ist flexibel und pragmatisch; seine sprachliche Version Amerikas ist so lange wahr, bis jemand sie durch eine neue Version ersetzt. Sein Modus der Beschreibung ist nicht die eines Anthropologen, der Objektivität beansprucht, sondern der eines Literaturkritikers, der den Text Amerikas so liest, dass er sich seiner Subjektivität anpasst. So wie das Prag, das Steinbeck und Alsop erlebt haben, zwei völlig verschiedene Erfahrungen hervorbringen kann, kann auch Amerika zahllose individuelle Versionen von sich aufrechterhalten. Steinbecks Perspektivismus ist aber kein absoluter Relativismus. Er unterscheidet deutlich zwischen wahren und falschen Aussagen über einen Ort, aber er behauptet auch, dass mehrere Wahrheiten gleichzeitig existieren können. Deshalb ist Steinbecks Version von Amerika zwar erzählbar, aber nicht auffindbar: „[…] I cannot commend this account as an America that you will find. So much there is to see, but our morning eyes describe a different world than do our afternoon eyes, and surely our wearied evening eyes can report only a weary evening world“ (67-68). Auf diese Weise sieht sich Steinbeck zwar in der Lage, die Frage so gut es geht zu beantworten, wie Amerikaner heutzutage seien, aber er vermeidet dadurch auch, in einen nationalen Essentialismus zu verfallen und allgemeingültige Aussagen über ‚den Amerikaner an sich‘ zu treffen. Auf den Vorschlag eines Gesprächspartners, Steinbeck möge doch nicht Amerika, sondern das Volk auf seiner Reise suchen, entgegnet er lakonisch: „‚There used to be a thing or a commodity we put great store by. It was called the People. Find out where the People have gone. […]‘ I remember retorting, ‚Maybe the People are always those who used to live the generation before last‘“ (153). Steinbecks Erzählung imaginiert zwar eine gewisse soziokulturelle Einheit der USA, doch
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ist diese Imagination nicht für den nationalistischen und populistischen Traum von Homogenität nutzbar. Stellenweise unterwandert Steinbeck sogar die Narrative nationaler Identität, da er offiziellen Konstruktionen amerikanischer Gemeinschaft misstraut und stattdessen nach dem sucht, was Amerikaner jenseits davon einen könnte. Ein wichtiger Punkt ist die Geschichtsschreibung: We, as a nation, are as hungry for history as was England when Geoffrey of Momnouth concocted his History of British Kings, many of whom he manufactured to meet a growing demand. And as in states and communities, so in individual Americans this hunger for decent association with the past. Genealogists are worked to death winnowing the debris of ancestry for grains of greatness. Not long ago it was proved that Dwight D. Eisenhower was descended from the royal line of Britain, a proof if one were needed that everyone is descended from everyone. The then little town where I was born, which within my grandfather’s memory was a blacksmith shop in a swamp, recalls with yearly pageantry a glowing past of Spanish dons and rose-eating senoritas who have in public memory wiped out the small, desolate tribe of grub- and grasshopper-eating Indians who were our true first settlers. I find this interesting, but it does make for suspicion of history as a record of reality. I thought of these things as I read the historical markers across the country, thought how the myth wipes out the fact. (73)
Steinbeck diagnostiziert eine amerikanische Besessenheit in Bezug auf historische Anfänge, legt aber gleichzeitig auch bloß, wie unsinnig solche Bestrebungen eigentlich sind, und dass sie stets einen ideologischen Hintergrund haben, der alternative Versionen der Geschichte überdeckt. Es geht nicht um eine wahrhaftige Wiedergabe von vergangenen Ereignissen, sondern um die Markierung und Mythisierung von Anfängen, die viel wichtiger geworden ist als die eigentliche Vergangenheit und sogar den Mangel an Vergangenheit ersetzen kann: „I have further established, at least to my own satisfaction, that those states with the shortest histories and the least world-shaking events have the most historical markers“ (71). Steinbeck verwirft diese identitätsstiftende Anfangskonstruktion als unzureichend, und man kann seine eigene Erzählung seines road trips als alternativen Versuch lesen, eine Identität jenseits dieser allzu konstruierten Anfänge zu imaginieren, die ihren Anfang in seinem road trip nimmt. Ebenso wie der Geschichte verweigert sich Steinbeck auch der amerikanischen Erzählung von erhabener Natur, denn er will auf seiner Suche nach Amerika nicht das Besondere und Außergewöhnliche wahrnehmen, sondern das Normale, Alltägliche:
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I must confess to a laxness in the matter of National Parks. I haven’t visited many of them. Perhaps this is because they enclose the unique, the spectacular, the astounding – the greatest waterfall, the deepest canyon, the highest cliff, the most stupendous works of man or nature. And I would rather see a good Brady photograph than Mount Rushmore. For it is my opinion that we enclose and celebrate the freaks of our nation and of our civilization. Yellowstone National Park is no more representative of America than is Disneyland. (145)
Steinbecks Reisebericht will absolut kein Reiseführer sein, der die angeblich besten und sehenswertesten Orte hervorhebt. Wenn er tatsächlich einmal an einen touristisch interessanten Ort gelangt, könnte seine Beschreibung kaum weniger enthusiastisch ausfallen, etwa an den Niagarafällen: „Niagara Falls is very nice. It’s like a large version of the old Bond sign on Times Square. I’m very glad I saw it, because from now on if I am asked whether I have seen Niagara Falls I can say yes, and be telling the truth for once“ (76). Auch hier sucht Steinbeck auf der Straße einen Neuanfang: Sein Amerika soll keine klischeehafte Darstellung eines Landes sein, die sich auf einige wenige Orte und Personen beschränkt und so tut, als seien diese repräsentativ für die Vielzahl an Orten und Einwohnern in den USA generell. Steinbeck will gerade umgekehrt argumentieren und zeigen, wie Amerika jenseits dieser Ausnahmefälle ist. Dabei vermeidet er es, seine subjektiven Erfahrungen zu verallgemeinern. Er hadert sogar genau mit dem Umstand, dass die Vielzahl an Erfahrungen, die er auf der Straße macht, sich nicht in ein kohärentes, einheitliches Bild von Amerika formen lassen: „[…] I tried to reconstruct my trip as a single piece and not as a series of incidents. What was I doing wrong? Was it going as I wished?“ (15152) Er beklagt sich bei Charley, dass die Straße für ihn Anfänge der Erkenntnis bereithalte, aber keinen Endpunkt, an dem er eine gültige Schlussfolgerung über Amerika ziehen könnte: „[…] I came out on this trip to try to learn something of America. Am I learning anything? If I am, I don’t know what it is. So far can I go back with a bag full of conclusions, a cluster of answers to riddles? I doubt it, but maybe. When I go to Europe, when I am asked what America is like, what will I say? I don’t know. Well, using your olfactory method of investigation, what have you learned, my friend?“ (125)
Eine weitere Frage an Charley nach dem Geruch Amerikas deutet Steinbecks eigene Fragestellung an, die sich damit beschäftigt, inwiefern Amerika eine Einheit oder nicht ist: „‚Does all America so far smell alike? Or are there sectional smells?‘“ (126) Da Charley nicht antwortet, bleiben Steinbeck nur seine eigenen
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Zweifel am Erfolg seines Projekts: „I came with the wish to learn what America is like. And I wasn’t sure I was learning anything“ (126). Die Lösung des Problems findet Steinbeck in einer Veränderung in der Herangehensweise an sein Projekt. Er erkennt, dass seine Suche nach Amerika nicht funktionieren kann, weil er ein teilnehmender Beobachter ist, dessen eigene Subjektivität seine Erkenntnismöglichkeiten ebenso bedingt wie seine Repräsentation des Erkannten in der Sprache: It would be pleasant to be able to say of my travels with Charley, „I went out to find the truth about my country and I found it.“ And then it would be such a simple matter to set down my findings and lean back comfortably with a fine sense of having discovered truths and taught them to my readers. I wish it were that easy. But what I carried in my head and deeper in my perceptions was a barrel of worms. I discovered long ago in collecting and classifying marine animals that what I found was closely intermeshed with how I felt at the moment. External reality has a way of being not so external after all. (185)
Steinbeck stellt in Bezug auf seinen road trip fest, dass die Straße nicht nur ein problematischer Ort ist, weil sie gleichzeitig ein Hier und Dort vereint, sondern auch weil sie subjektive Perspektiven fördert und keine Objektivität der Ortserfahrung ermöglicht. Die Straße ist ein Anfangsort für subjektive Erfahrung, nicht für objektive Wahrheitsbestimmung: This monster of a land, this mightiest of nations, this spawn of the future, turns out to be the macrocosm of microcosm me. If an Englishman or a Frenchman or an Italian should travel my route, see what I saw, hear what I heard, their stored pictures would be not only different from mine but equally different from one another. If other Americans reading this account should feel it true, that agreement would only mean that we are alike in our Americanness. (185)
Indem Steinbeck erkennt, dass die Reise mehr über ihn aussagt als über Amerika, gerät er in eine paradoxe Argumentation. Er beschreibt zwar die Subjektivität der Erfahrung, setzt dieser aber gewisse Rahmenbedingungen voraus, die durch nationale Identität vorgegeben zu sein scheinen; gleichzeitig kommt diese Identität dadurch zustande, dass Erfahrungen als ähnlich erkannt werden. Seine Subjektivität trennt ihn nicht von anderen Individuen, sondern verbindet ihn mit einer Gruppe: From start to finish I found no strangers. If I had, I might be able to report them more objectively. But these are my people and this my country. If I found matters to criticize
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and to deplore, they were tendencies equally present in myself. If I were to prepare one immaculately inspected generality it would be this: For all of our enormous geographic range, for all of our sectionalism, for all of our interwoven breeds drawn from every part of the ethnic world, we are a nation, a new breed. Americans are much more American than they are Northerners, Southerners, Westerners, or Easterners. And descendants of English, Irish, Italian, Jewish, German, Polish are essentially American. This is not patriotic whoop-de-do; it is carefully observed fact. California Chinese, Boston Irish, Wisconsin German, yes, and Alabama Negroes, have more in common than they have apart. And this is the more remarkable because it has happened so quickly. It is a fact that Americans from all sections and of all racial extractions are more alike than the Welsh are like the English, the Lancashireman like the Cockney, or for that matter the Lowland Scot like the Highlander. It is astonishing that this has happened in less than two hundred years and most of it in the last fifty. The American identity is an exact and provable thing. (18586)
Steinbeck versucht in dieser Passage, die eine Art Ergebnisbericht seiner Suche nach Amerika ist, eine amerikanische Identität jenseits von „patriotic whoop-dedo“ (186) zu imaginieren. Man kann darüber streiten, ob ihm dies wirklich gelingt, da er letztlich doch wieder Bezug auf die Nation als Norm der sozialen Gemeinschaft nimmt und die Vielfalt auf eine Einheit reduziert, allerdings sollte man darüber nicht vergessen, dass Steinbeck diese amerikanische Identität auch für „Alabama Negroes“ in einer Zeit einfordert, in der Afro-Amerikanern ihre Rechte als Bürger der USA in weiten Teilen des Landes grundlegend abgesprochen wurden. Steinbeck versucht, eine amerikanische Nationalidentität strikt über kulturelle Faktoren zu definieren, ohne sich auf eine ihr angeblich vorgelagerte Ethnizität zu beziehen, und er argumentiert überzeugend für den Erfolg dieses Modells, indem er Beispiele regionaler Differenzen in anderen Gesellschaften nennt, die bei weitem nicht dieselben räumlichen Gegebenheiten zu überbrücken haben. Steinbeck beharrt zudem weiterhin lange darauf, von seinen Erfahrungen mit Amerikanern nicht auf ein amerikanisches Volk zu verallgemeinern, wodurch er sich wiederum einem plumpen Nationalismus widersetzt; nur sehr vorsichtig gibt er zu, dass eine solche Generalisierung doch möglich sein könnte: Traveling about, I early learned the difference between an American and the Americans. They are so far apart that they might be opposites. […] Americans as I saw them and talked to them were indeed individuals, each one different from the others, but gradually I began to feel that the Americans exist, that they really do have generalized characteristics
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regardless of their states, their social and financial status, their education, their religious, and their political convictions. (215-16)
Wenn Steinbeck doch die Existenz allgemein vorhandener Eigenschaften anführt, dann jenseits der üblichen Kategorien, die normalerweise Gruppenidentität erschaffen. Die amerikanischen Gemeinsamkeiten sind kulturelle Phänomene, die sich nicht aus vorhergehenden Gruppenidentitäten und Ideologien speisen, sondern diese durchdringen. Eine dieser amerikanischen Eigenschaften ist zum Beispiel genau jener Bewegungsdrang, dem Steinbeck mit seinem road trip nachgibt, und als dessen zeitgenössisches Symbol er das mobile home anführt. Wie die Bestandteile dieses amerikanischen Begriffs zeigen, vereinen diese Häuser Beweglichkeit und Verortung und ähneln darin der paradoxen Örtlichkeit der Straße. Steinbeck ist fasziniert von diesen Häusern, da sie ihm genau jene neue Erkenntnis über Amerika verheißen, die er auf der Straße sucht: „It is a whole way of life that was new to me“ (87). Er schwankt zwischen Skepsis und Bewunderung: „From the beginning of my travels I had noticed the sale lots where they were sold and traded, but then I began to be aware of the parks where they sit down in uneasy permanence“ (86). Diese „uneasy permanence“ ist es, die ihn besonders beschäftigt, da sie den Widerspruch der widerrufbaren Stabilität aufwirft. Die Häuser werden auf großen Lastwagen gezogen und sind an ihrem Ziel scheinbar mit ein paar Handgriffen verortet: „A mobile home is drawn to the trailer park and installed on a ramp, a heavy rubber sewer pipe is bolted underneath, water and electric power connected, the television antenna raised, and the family is in residence“ (87). Steinbeck gibt seine Ansichten über diese Lebensweise über die Darstellung von Gesprächen mit Bewohnern von mobile homes wieder und erkundet darin vor allem die Spannung zwischen dem Drang nach Bewegung und der Sehnsucht nach Verortung. „The first impression forced on me was that permanence is neither achieved nor desired by mobile people“ (89). Dies hat zum Teil wirtschaftliche Gründe: „Has job uncertainty anything to do with the rapid increase of these units?“ „Well perhaps there may be some of that. Who knows what is in store tomorrow? Mechanics, plant engineers, architects, accountants, and even here and there a doctor or a dentist live in the mobile. If a plant or a factory closes down, you’re not trapped with property you can’t sell.“ (88)
Allerdings ist dies nicht unbedingt ausschlaggebend für diesen Lebensstil der Mobilität, der diesen Begriff im Sinne von Beweglichkeit, von Potential zur
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Bewegung versteht und ihn nicht als Synonym von Bewegung begreift. Anders gesagt geht es nicht darum, in Bewegung zu bleiben, sondern in Bewegung kommen zu können. Diese Möglichkeit basiert aber nicht nur darauf, dass man der Arbeit folgen müsste, sondern auf einer viel weiter gefassten Ideologie der Mobilität. Auf Steinbecks Frage, ob der Preis für diese Mobilität nicht der Verlust eines Sinnes für Verortung, Verwurzelung oder Heimat sei, verweist sein Gesprächspartner darauf, dass diese Konzepte in Amerika, vor allem im Bereich der Stadt, nicht mehr gültig seien: I said, „One of our most treasured feelings concerns roots, growing up rooted in some soil or some community.“ How did they feel about raising their children without roots? Was it good or bad? Would they miss it or not? The father, a good-looking, fair-skinned man with dark eyes, answered me. „How many people today have what you are talking about? What roots are there in an apartment twelve floors up? What roots are in a housing development of hundreds and thousands of small dwellings almost exactly alike? […]“ (91)
Die Ideologie der Mobilität entlarvt hier das Konzept der Stabilität als nicht weniger ideologisch, als nostalgisch-konservativen Mythos eines Amerika, das längst nicht mehr existiert, falls es jemals existiert hat. Steinbecks Gegenüber identifiziert sogar diese Mobilität als amerikanische Tradition, so dass örtliche Stabilität geradezu unamerikanisch wirkt: „Don’t you miss some kind of permanence?“ „Who’s got permanence? Factory closes down, you move on. Good times and things opening up, you move on where it’s better. You got roots you sit and starve. You take the pioneers in the history books. They were movers. Take up land, sell it, move on. I read in a book how Lincoln’s family came to Illinois on a raft. They had some barrels of whisky for a bank account. How many kids in America stay in the place where they were born, if they can get out?“ (91-92)
Dieser Bewegungsdrang ist einer der Faktoren, der Amerikaner in Steinbecks Sichtweise eint: „[…] nearly all Americans move away, or want to […]“ (90). An dieser Formulierung zeigt sich erneut, dass Mobilität nicht nur als Synonym für Bewegung verstanden werden darf, sondern als Synonym für Beweglichkeit; ob dieses Potential verwirklicht wird, ist zunächst einmal weniger wichtig als sein Vorhandensein. Die Straße ist auch dann ein Anfangsort, wenn man um sie weiß, sie aber nie betritt. Mobilität bedeutet einen Geisteszustand, eine Imagination von Beweglichkeit. Es eint die Amerikaner in Steinbecks Reiseerzählung,
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dass sie sich bewegen wollen, und nicht, dass sie sich tatsächlich bewegen. In diesem Umstand findet Steinbeck eine amerikanische Kulturidentität, die er historisch begründet: Could it be that Americans are a restless people, a mobile people, never satisfied with where they are as a matter of selection? The pioneers, the immigrants who peopled the continent, were the restless ones in Europe. The steady rooted ones stayed home and are still there. But every one of us, except the Negroes forced here as slaves, are descended from the restless ones, the wayward ones who were not content to stay at home. Wouldn’t it be unusual if we had not inherited this tendency? And the fact is that we have. But that’s the short view. What are roots and how long have we had them? If our species has existed for a couple of million years, what is its history? Our remote ancestors followed the game, moved with the food supply, and fled from evil weather, from ice and the changing seasons. Then after millennia beyond thinking they domesticated some animals so that they lived with their food supply. Then of necessity they followed the grass that fed their flocks in endless wanderings. Only when agriculture came into practice – and that’s not very long ago in terms of the whole history – did a place achieve meaning and value and permanence. (93-94)
Steinbeck bleibt nicht bei einer nationalen Historisierung stehen, sondern hebt in einem weiteren Schritt seine geschichtliche Erklärung auf die Ebene der gesamten Menschheit, indem er die Produktion von Örtlichkeit überhaupt beschreibt. Oftmals in Travels with Charley kommt Steinbeck der problematischen nationalen Verallgemeinerung bei, indem er eine noch weiter gefasste Verallgemeinerung auf die Menschheit unternimmt. Er trifft Aussagen über die Amerikaner in der Gegenwart, verhindert aber, dass diese Verallgemeinerungen nationalistischen Vereinfachungen gleichkommen, indem er sie durch Aussagen über die Menschheit in der Vergangenheit ergänzt. Steinbecks vorsichtige Konstruktion einer nationalen Einheit Amerikas ist auch deshalb nicht für eine nationalistische Verklärung nutzbar, weil die Aspekte, welche die Amerikaner einen, keineswegs positiv sind. Während das Argument des gemeinsamen Bewegungsdrangs noch relativ politisch neutral scheint, führt Steinbeck eine zweite Gemeinsamkeit an, die alle Amerikaner in derselben Situation eint, und zwar in der Problematik des Rassismus, der sich niemand entziehen kann, und zu der sich jeder Amerikaner positionieren muss, da niemand davon nicht betroffen wäre: „[…] the South being a limb of the nation, its pain spreads out to all America“ (216). Steinbecks Reiseerzählung von seinem road trip hat sich am Ende gewandelt: Was anfangs der Bericht von der Suche nach einer persönlichen, subjektiven Neuerfahrung Amerikas zu sein
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schien, entpuppt sich am Ende als zutiefst politische Abhandlung, die deutlich Stellung zum zeitgenössischen Rassismus im Süden der USA bezieht (und die dadurch auch deutlich macht, dass alles Vorhergehende nicht minder politisch war). Es ist von großer Bedeutung, dass Steinbeck dies mit den narrativen Mitteln der Straßenerzählung tut. Seine Suche nach Erkenntnis und Neuanfängen auf der Straße findet dort ihren Höhepunkt, wo eine rassistische Gesellschaft einen Neuanfang bitter nötig hat, und wo Erkenntnisgewinn über die Situation ebenso nötig wie schmerzlich ist. Steinbeck begibt sich insbesondere in den Süden, um in New Orleans die sogenannten Cheerleader zu erleben, weiße Frauen, die in New Orleans rassistische Hasstiraden vor Schulen von sich geben. Durch die Rechtsprechung von 1954 („Brown vs. Board of Education“) wurde die gesetzlich vorgeschriebene Rassentrennung an öffentlichen Schulen aufgehoben, doch auch wenn es nun schwarzen Schülern erlaubt war, dieselbe Schule wie weiße Kinder zu besuchen, musste dieses Recht teilweise durch Militärpräsenz durchgesetzt werden und stieß im Süden auf gewaltigen Widerstand. Dieser manifestierte sich unter anderem in jenen Cheerleadern, die sich vor Schulen postierten, schwarze Schüler beschimpften und die Menschenmenge aufhetzten. Während seines gesamten road trips macht Steinbeck keine Erfahrung, die ihn so sehr mitnimmt wie diese: I was in New Orleans of the great restaurants. I know them all and most of them know me. And I could no more have gone to Gallatoir’s for an omelet and champagne than I could have danced on a grave. Even setting this down on paper has raised the weary, hopeless nausea in me again. It is not written to amuse. It does not amuse me. I bought a poor-boy sandwich and got out of town. Not too far along I found a pleasant resting place where I could sit and munch and contemplate and stare out over the stately brown, slow-moving Father of Waters as my spirit required. Charley did not wander about but sat close and pressed his shoulder against my knee, and he does that only when I am ill, so I suppose I was ill with a kind of sorrow. (230)
Die Erfahrung dieses Rassismus vernichtet jene positive Aufbruchsstimmung, die Steinbeck durch die Bewegung auf der Straße oft erfahren hat, und ersetzt Anfänglichkeit durch „weary, hopeless nausea“ (230). Seine gesamte Reise verändert sich dadurch fundamental: „[…] Are you traveling for pleasure?“ „I was until today. I saw the Cheerleaders.“ (231)
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Steinbeck verlagert in seiner Erzählung eine Diskussion der Problematik auf die Straße und verhandelt verschiedene Positionen in Form von Gesprächen mit Leuten, die er während seines road trips im Süden trifft. Steinbeck beschreibt diesen Rassismus als ein Problem, das eine fundamentale Veränderung Amerikas nötig macht, die unweigerlich eintreten wird, deren Art und Weise – die alle Möglichkeiten von friedlichem Wandel bis zu blutiger Revolution beinhalten kann – allerdings noch zu beeinflussen ist. Anstatt im Text diesen notwendigen Neuanfang Amerikas beispielsweise in New Orleans zu verhandeln, positioniert sich Steinbeck nicht in der Stadt, sondern wieder auf der Straße, die so erneut zum Anfangsort für Erkenntnis wie für soziale, kulturelle und politische Veränderung wird. Er trifft auf der Straße einen Rassisten, einen „enlightened Southerner“ (233), den er Monsieur Ci Git nennt, und zwei Afro-Amerikaner, deren verschiedene Positionen dort gegenübergestellt werden, wobei klar wird, dass das Problem gelöst werden muss und keinen Aufschub erlaubt. Im Gespräch mit Ci Git wird deutlich, dass dieser Rassismus ein amerikanisches Problem ist, kein Problem des Südens: „Can you see an end?“ „Oh, certainly an end. It’s the means – it’s the means. But you’re from the North. This isn’t your problem.“ „I guess it’s everybody’s problem. It isn’t local. […]“ „There’s nothing to learn,“ he said. „It seems to change its face with who you are and where you’ve been and how you feel – not think, but feel. You didn’t like what you saw?“ „Would you?“ „Maybe less than you because I know all of its aching past and some of its stinking future. That’s an ugly word, sir, but there’s no other.“ (232)
Ci Git betont, dass ein Ende zwar absehbar ist, man aber keineswegs voraussagen kann, wie genau dieses Ende aussehen wird. Die Ungewissheit der Zukunft ist in dieser Krise ebenso bedrückend wie in der Situation des Kalten Krieges. In dieser unsicheren Situation wendet sich Ci Git der Vergangenheit zu: „Then you do think it can’t happen in peace?“ „I don’t know,“ he cried. „I guess that’s the worst. I just don’t know. Sometimes I long to assume my rightful title Ci Git.“ „I wish you would ride along with me. Are you on the move?“
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„No. I have a little place just off there below that grove. I spend a lot of time there, mostly reading – old things – mostly looking at – old things. It’s my intentional method of avoiding the issue because I’m afraid of it.“ „I guess we all do some of that.“ (233)
Steinbecks eigener Text kann allerdings als Versuch betrachtet werden, dieses ängstliche Wegschauen zu überkommen und der ungewissen Zukunft mit einem Anfang zu begegnen, der zwar auch keine Sicherheit in Bezug auf das Kommende verheißt, aber zumindest den Versuch darstellt, es aktiv aus der Gegenwart heraus so weit wie möglich zu beeinflussen. Steinbeck zwingt sich und seine Leser, dort hinzusehen, wo sie eigentlich gerne wegsehen. Auf seiner Suche nach Amerika findet er jenen Teil Amerikas, den Darstellungen der Nationalkultur in dieser Zeit nur zu gerne übersehen, und er präsentiert ihn den Lesern in aller Deutlichkeit. Steinbeck präsentiert die Straße als Austragungsort für den damit verbundenen Kulturkampf. Nachdem er dort Ci Git getroffen hat, nimmt er einen Anhalter mit, „[…] an old Negro who trudged with heavy heels in the grass-grown verge beside the concrete road. He was reluctant to accept and did so only as though helpless to resist“ (235). Alle Versuche mit dem Mann ins Gespräch zu kommen scheitern. Steinbeck merkt, dass er für seinen Mitreisenden als Weißer eine Bedrohung darstellt, und als er aussteigt, weil er angeblich in der Nähe wohne, bestätigt sich dieser Eindruck: „I let him down and saw in the mirror how he took up his trudging beside the road. He didn’t live nearby at all, but walking was safer than riding with me“ (236). Steinbeck findet sich durch seine Bewegung auf der Straße an einem Ort wieder, der durch und durch von Rassismus geprägt und definiert wird, so dass es kein Entkommen gibt: I came out to learn. What was I learning? I had not felt one moment free from the tension, a weight of savage fear. No doubt I felt it more being new-come, but it was there; I hadn’t brought it. Everyone, white and black, lived in it and breathed it – all ages, all trades, all classes. To them it was a fact of existence. And it was building pressure like a boil. Could there be no relief until it burst? I had seen so little of the whole. I didn’t see a great deal of World War II – one landing out of a hundred, a few separated times of combat, a few thousand dead out of millions – but I saw enough and felt enough to believe war was no stranger. (237)
Der abschließende Vergleich dient nicht nur dazu, dem Leser klarzumachen, dass eine Teilerfahrung ausreichen kann, etwas zu begreifen (vor allem wo eine Gesamterfahrung unmöglich ist), sondern rückt die Situation des Rassismus
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thematisch in die Nähe einer Kriegssituation. Travels with Charley kann als Steinbecks Beitrag zu diesem Kampf verstanden werden, und auch im Text handelt er entsprechend. Ein weiterer Mitfahrer, diesmal ein Weißer, entpuppt sich als Rassist. Steinbeck betont bemerkenswerterweise gleich zu Beginn der Passage, dass er sich ihn nicht ausgesucht hat: „I didn’t choose my first customer the next day. He picked me“ (238). Auf seine rassistischen Bemerkungen reagiert Steinbeck, indem er ihn aus dem Auto wirft: „You want to hear what I think of you?“ „No. I heard Nellie use the words yesterday.“ I put on the brake and pulled Rocinante off the road. He looked puzzled. „What you stopping for?“ „Get out,“ I said. „Oh, you want to go round.“ „No. I want to get rid of you. Get out.“ „You going to make me?“ I reached into the space between the seat and the door where there is nothing. „Okay, okay,“ he said, and got out and slammed the door so hard that Charley wailed with annoyance. (240)
Wenn die Straße in Travels with Charley bisher Ort des Anfangs und der Erkenntnis war, an dem Amerika erfahren wird und in seiner Vielfalt zustande kommt, so ist diese Handlung äußerst symbolisch: Steinbeck weigert sich, mit dem Rassisten auf der Straße zu reisen, er verwehrt ihm die gemeinsame Bewegung, er schließt ihn letztlich von dem Amerika aus, dass er auf der Straße gefunden hat. Für Steinbeck ist die Straße der Ort, an dem er Zugang zu Amerika finden kann, und indem er dem Rassisten diesen Zugang verwehrt, drückt er aus, dass für ihn in seinem Amerika kein Platz ist. Stattdessen nimmt er erneut einen Afro-Amerikaner mit, diesmal einen jungen Studenten, und verwickelt ihn in eine politische Diskussion, die nur noch deutlicher macht, wie plump im Gegensatz dazu die Äußerungen des Rassisten waren: Finally we spoke of Martin Luther King and his teaching of passive but unrelenting resistance. „It’s too slow,“ he said. „It will take too long.“ „There’s improvement, there’s constant improvement. Ghandi proved it’s the only weapon that can win against violence.“
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„I know all that. I’ve studied it. The gains are drops of water and time is passing. I want it faster, I want action – action now.“ „That might defeat the whole thing.“ „I might be an old man before I’m a man at all. I might be dead before.“ „That’s true. And Ghandi’s dead. Are there many like you who want action?“ „Yes. I mean, some – I mean, I don’t know how many.“ (240-41)
Mit diesem Mann verhandelt Steinbeck die Möglichkeiten des Neuanfangs für Amerika, der aus der Situation des Rassismus erwachsen wird, und dabei steht für beide außer Frage, dass Veränderung stattfinden wird, nur über die Art und Weise sind sie sich uneins. Steinbeck zeigt sich dabei verständnisvoll gegenüber der Forderung nach sofortiger Revolution, auch wenn er dieser Option ebenso skeptisch gegenübersteht wie dem Vertrauen auf eine langsame, friedliche Verbesserung der Situation. Steinbeck weiß, dass er im Süden einem Anfang gegenübersteht, der bereits gemacht worden ist, da die Problematik des Rassismus nicht ignoriert werden kann, sondern unwiderruflich umkämpft ist: „And I know that the solution when it arrives will not be easy or simple. I feel with Monsieur Ci Git that the end is not in question. It’s the means – the dreadful uncertainty of the means“ (241). Die Folgen des Anfangs sind nicht absehbar, aber genau deshalb kann auch noch Einfluss darauf genommen werden. Steinbeck begegnet dieser schrecklichen Unsicherheit durch seinen Text und konfrontiert seine Leser damit, dass seine Suche nach Amerika ihn genau dorthin führt, wo Amerika am meisten umkämpft ist. Die Straße hat Steinbeck viele Erfahrungen von Amerika möglich gemacht und war insofern ein Ort des Anfangs für seine Neuentdeckung des Landes, doch insbesondere in dieser abschließenden Sektion über den Süden erreicht diese Darstellung ihre größte Dichte und politische Brisanz. Steinbeck stellt hier den entscheidenden Anfangsort für Amerika dar, der zwar mit früheren Orten verbunden, aber von weitaus größerer Bedeutung für das gesamte Land ist. Über die Fahrt auf der Straße im Süden vermittelt Steinbeck, dass dort gerade der derzeit wichtigste Anfang Amerikas gemacht wird, und dass dieser Ort entscheidend für die Zukunft des Landes sein wird. Indem er dabei das Bild der Straße im Zentrum behält und diese Verhandlung nicht etwa in die Stadt verlegt, betont er nur die Offenheit dieses Prozesses, der sich in viele verschiedene Richtungen bewegen kann. Nach der Darstellung dieses problematischen Anfangsortes endet Steinbecks Suche nach Amerika, als hätte er zwar nicht den Kern des Landes gefunden, aber zumindest das Kernproblem der USA seiner Zeit identifiziert. Die Straße hält nach dieser Erkenntnis keine weiteren Erfahrungen und somit auch keine Anfän-
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ge mehr für ihn bereit, und seine Wahrnehmung verweigert sich seiner Umgebung, und umgekehrt: My own journey started long before I left, and was over before I returned. I know exactly where and when it was over. Near Abingdon, in the dog-leg of Virginia, at four o’clock of a windy afternoon, without warning or good-by or kiss my foot, my journey went away and left me stranded far from home. I tried to call it back, to catch it up – a foolish and hopeless matter, because it was definitely and permanently over and finished. The road became an endless stone ribbon, the hills obstructions, the trees green blurs, the people simply moving figures with heads but no faces. All the food along the way tasted like soup, even the soup. My bed was unmade. I slipped into it for naps at long uneven intervals. My stove was unlighted and a loaf of bread gathered mold in my cupboard. The miles rolled under me unacknowledged. I know it was cold, but I didn’t feel it; I know the countryside must have been beautiful, but I didn’t see it. (242-43)
In dieser Situation der Entfremdung des Reisenden von der Reise kommt der Gedanke von ‚home‘ zurück: „my journey went away and left me stranded far from home“ (242). Diese Rückkehr nach Hause führt Steinbeck aber nicht zu einem stabilen Ort zurück, dessen Vertrautheit ihm eine Zuflucht vor der Desorientierung durch andere, unbekannte Orte bieten könnte. Seine Selbstcharakterisierung vom Anfang des Textes behält auch hier noch Gültigkeit: „I was born lost and take no pleasure in being found“ (64). Steinbeck gerät von der Straße in den Verkehr von New York: Magically I was on the Hoboken ferry and then ashore, far downtown with the daily panic rush of commuters leaping and running and dodging in front, obeying no signals. Every evening is Pamplona in lower New York. I made a turn and then another, entered a oneway street the wrong way and had to back out, got boxed in the middle of a crossing by a swirling rapids of turning people. Suddenly I pulled to the curb in a no-parking area, cut my motor, and leaned back in the seat and laughed, and I couldn’t stop. My hands and arms and shoulders were shaking with road jitters. An old-fashioned cop with a fine red face and a frosty blue eye leaned in toward me. „What’s the matter with you, Mac, drunk?“ he asked. I said, „Officer, I’ve driven this thing all over the country – mountains, plains, deserts. And now I’m back in my own town, where I live – and I’m lost.“ He grinned happily. „Think nothing of it, Mac,“ he said. „I got lost in Brooklyn only Saturday. Now where is it you were wanting to go?“ And that’s how the traveler came home again. (244)
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Diese letzten Zeilen des Textes deuten an, dass Steinbecks Reise nicht mit einer stabilen, definitiven Verortung endet, sondern dass der Ort, an dem er lebt – „my own town, where I live“ (244) – nach wie vor auf gewisse Weise unbekannt ist und so die Möglichkeit neuer Erkenntnis weiterhin bereithält. Dies gilt auch für Steinbecks Amerika: Er bezeichnet die USA als sein Land, ist darin aber gleichzeitig verloren, verirrt sich und sucht darin. Das Heimkommen markiert kein epistemologisches Ende dieses Prozesses des Erkennens, auch wenn die Bewegung aufhört. So bleibt die Straße als Anfangsort erhalten: Die dort gewonnenen Erfahrungen wirken nach, sie führen nicht zu letzten Schlussfolgerungen, sondern zu weiteren Einsichten. Steinbeck bleibt dem Leser eine endgültige Antwort auf die Frage „‚What are Americans like today?‘“ (215) schuldig, weil seine Reise und Reiseerzählung nur den Anfang des langen und komplexen Vorgangs darstellt, diese Frage zu bedenken. Aus der Bewegung auf der Straße erwächst keine fixierbare Antwort, sondern eine gedankliche Bewegung, die in ihrer Prozesshaftigkeit der Vielfalt und Veränderbarkeit der USA gerechter wird als jede Einsicht, die sich als endgültig begreift. Die Anfänglichkeit, die sich dem Reisenden am paradoxen Ort der Straße bietet, überträgt sich somit in die Darstellung dieses Ortes, so dass Travels with Charley – wie schon On the Road – selbst über die Metapher der Straße und die damit verbundene Imagination zum textlichen Anfangsort Amerikas wird.
3.3
KATHY ACKER, EMPIRE OF THE SENSELESS
Travels with Charley kann als eine frühe Variation des Ur-Straßentextes On the Road begriffen werden und zeigt damit schon an, dass die Beziehung zu Kerouacs Text keineswegs ausdrücklich, deutlich oder unmittelbar sein muss. Der Straßentext verselbständigte sich schon früh nach der Veröffentlichung von On the Road, die ohnehin nur den Höhepunkt einer längeren Tradition von Straßenerzählungen markierte, welche allerdings vor allem durch die Linse dieses Textes sichtbar wurde. Spätere Straßentexte führen diese Tradition der Unabhängigkeit fort, behalten aber das Motiv der Straße als Anfangsort in Variation bei, das in On the Road besonders stark geprägt wurde. Als Beispiel für eine solche Variation soll hier Kathy Ackers Roman Empire of the Senseless aus dem Jahr 1988 analysiert werden, der besonders dahingehend interessant ist, wie die Bildlichkeit der Straße, die sowohl bei Kerouac als auch bei Steinbeck maskulin konnotiert ist, im Kontext einer feministischen Befreiungsarbeit nutzbar gemacht wird. Dies zeigt, dass die Idee der Straße als Anfangsort aus ihrem prägenden Kontext herausgelöst werden und anderen Umständen angepasst werden kann;
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die Beweglichkeit, die in der Metapher der Straße enthalten ist, findet sich so auch in der Verwendung der Metapher wieder. Kathy Acker verweist in ihrer Umwertung deutlich darauf, dass die Straße (wie auch die Stadt) der männlichen Sphäre zugewiesen wurde, zu der Frauen – die in der häuslichen Sphäre verortet wurden – der Zugang verwehrt wurde. Die literarische Imagination leistete dazu ihren Beitrag, indem sie Stadt- und Straßentexte in überwältigendem Ausmaß aus männlicher Perspektive präsentierte. Es gibt natürlich insbesondere seit dem späteren 20. Jahrhundert Stadtromane20 und Straßenromane, die diesem Ungleichgewicht mit einer weibliche Stimme begegnen, doch die patriarchale Dominanz in diesem Diskurs ist nach wie vor deutlich erkennbar. Dabei eignet sich besonders die Straße für eine Gegenerzählung: Da sie stark mit Ideen von Befreiung, Individualismus und Nonkonformismus belegt ist, liegt es nahe, sie für Ideen von feministischer Befreiung nutzbar zu machen. Wie Alexandra Ganser in ihrer umfassenden Studie Roads of Her Own: Gendered Space and Mobility in American Women’s Road Narratives, 1970-2000 zum Thema zeigt, erzählen viele solcher Straßentexte von „cross-country journeys as pleasurable and empowering, as a chance for personal discovery and exploration, and as cultural critique“ (14). Dies ist auch in gewissem Maße in Empire of the Senseless der Fall, auch wenn betont werden muss, dass hier die weibliche Aneignung der Straße keineswegs auf einfache oder idealistische Weise geschieht – ganz im Gegenteil. Wenn der Roman in der literarischen Tradition steht, die Straße als Anfangsort darzustellen, dann auch in der Tradition, diesen Ort als problematisch, fragwürdig und instabil zu präsentieren. Kathy Ackers Roman ist nicht durchweg ein Straßentext, so wie es On the Road und Travels with Charley sind. Erst das letzte Kapitel kann als solcher bezeichnet werden, stellt allerdings durch diese Positionierung im Text die Straße in einen umso bedeutenderen Kontext. Von einem Höhepunkt zu sprechen würde der Struktur des Romans nicht gerecht werden, da dieser keiner Linearität gehorcht, aber dennoch bleibt dieser Abschluss besonders wichtig für den gesamten Text. Empire of the Senseless ist eine postmodernistische Mischung vieler Genres und Erzählformen, der eine Inhaltszusammenfassung nicht gerecht werden kann. Im postapokalyptischen Paris in einer unbestimmten Zeit, in „the post-apocalyptic mess“ (109), versuchen die beiden Protagonisten, Abhor und Thivai, mit sich selbst, einander und der Welt klarzukommen. Abhor ist halb
20 Deborah L. Parsons’ Monographie Streetwalking the Metropolis: Women, the City and Modernity (2000) nutzt das Konzept der flâneuse (im Gegensatz zum männlichen flâneur) für eine umfassende feministische Analyse von literarischen Texten hinsichtlich einer weiblichen Stadterfahrung.
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Mensch, halb Roboter, ein dunkelhäutiger Cyborg, und Thivai ist ein Pirat, mit dem sie eine Hassliebe verbindet. Ein Plot jenseits dieser Rahmendaten ist kaum zu beschreiben, da der Text eine Vielzahl an Episoden aneinanderreiht und sich narrativer Kontinuität verweigert. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Erzählfragmente ist die Identitätssuche Abhors, die von Thivai teils unterstützt, teils offen sabotiert wird. Diese Suche geschieht durch Erzählungen über Vergangenheit und Gegenwart, deren Wahrheitsgehalt bestenfalls fragwürdig ist. Bei der Leserin wird dieser Eindruck dadurch verstärkt, dass der Roman ein Paradebeispiel für jene Textsorte ist, die Kathy Acker in ihren Werken vom Tabu zum Stilmittel erhoben hat: das Plagiat. Empire of the Senseless basiert in beträchtlichem Maße auf anderen literarischen Texten, von Allen Ginsbergs „Howl“ über William Gibsons Neuromancer bis zu Mark Twains Huckleberry Finn, und verwischt so die Grenzen zwischen Referenz, Intertextualität, Anspielung, Zitat und Plagiat bis zur Unkenntlichkeit, während der Roman selbst gleichzeitig als radikal neues literarisches Werk erscheint.21 Abhors Suche nach Identität ist eine textuelle Suche, ohne dass der Roman jemals eindeutig metafiktional werden würde, indem er beispielsweise seine eigene Fiktionalität offenlegte, und selbst die eingeworfenen Kommentare aus der französischen poststrukturalistischen Theorie verschmelzen mit der Erzählung, anstatt sie unwiderruflich zu brechen. Anstelle der postmodernistischen Metafiktion steht Acker vor allem der cut-up-Technik von William S. Burroughs nahe, die mit herkömmlicher Kontinuität der Erzählung bricht und den Roman durch extreme Fragmentierung eher zum Gedicht werden lässt, in dem es nicht um das Erzählte geht, sondern um Worte in Kombination mit anderen Worten. Dies wird jedoch bei Acker nicht zum Selbstzweck einer Literatur, die nur aus Worten bestehen will, die nichts mit der Welt zu tun haben, sondern zur Methode eines literarischen Feminismus, dessen Ästhetik untrennbar mit politischen Ansprüchen und Aussagen verbunden ist. In Empire of the Senseless werden feministische Ideen nicht durch die instabile Erzählung untergraben sondern untermauert, und sie verlieren nichts von ihrem politischen Gehalt, sondern behalten ihre Relevanz, weil sie Sprachspiele sind, die durch ihren Spielcharakter auf die Welt verweisen, anstatt sich dadurch von ihr zu distanzieren. Abhors Identitätssuche wird im Roman ihr vorläufiges Ende finden, indem sie einen individuellen Anfang auf der Straße macht. Vorher jedoch muss sie
21 Zum Thema Plagiat als literarisches Stilmittel sei an dieser Stelle Mirjam Horns Arbeit Postmodern Plagiarisms: Cultural Agenda and Aesthetic Strategies of Appropriation in US-American Literature (1970–2010) empfohlen, das sich in Kapitel 3 ausführlich Kathy Acker und Empire of the Senseless widmet.
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sich aus Zwängen befreien, die immer eine Kombination aus Sprache und Körperlichkeit beinhalten und die allgemein gesagt dem Patriarchat entspringen. Gleich der Anfang des Romans macht deutlich, dass Abhor als Frau zunächst eine sekundäre Stellung innehat, während Thivai als Mann primär ist. Zwar entstammt die erste Erzählung ihrer Perspektive, ist jedoch durch Thivai vermittelt: „Abhor speaks through Thivai“ (1). Spätere Kapitel werden abwechselnd und ohne Zwischeninstanz erzählt, doch die Ausgangslage ist zunächst hierarchisch. Im weiteren Verlauf der Erzählung versucht Abhor in einer Dreifachbewegung, sich von ihrer Vergangenheit zu befreien, mit der Gegenwart klarzukommen und sich eine Zukunft vorzustellen. Ihre Versuche, einen neuen Anfang zu machen und mit früheren Anfängen umzugehen, bleiben allerdings zumeist ohne Erfolg. Sie identifiziert in ihrer Vergangenheit eine Grundlage zukünftiger Unsicherheit: „Daddy left me no possibility of easiness. He forced me to live among nerves sharper than razor blades, to have no certainties“ (10). Einen weiteren Anfang ihrer jetzigen Identität verortet sie mit ihrem Eintritt in eine Unmündigkeit, die durch eine Geschlechtskrankheit verursacht wurde und somit Abhors vergiftete Sexualität und Körperlichkeit zur Basis hat: „My life began when I had gonorrhoea. I was eighteen years old. Or rather, it began when the gonorrhoea ended, if such things ever end. For the foul disease had completely incapacitated me: I became dependent on other people even for the necessities of life“ (27). Abhor diagnostiziert den grundsätzlichen Verfall der Welt, eine tiefgehende Fäulnis und Krankheit, an der sie ebenso leidet wie alle anderen, und aus der sie einen Ausweg sucht. Diese Fluchtmöglichkeit bietet sich paradoxerweise gerade durch diesen Zustand: „When all that’s know is sick, the unknown has to look better“ (33). Die Zukunft wird dadurch potentiell zum Ort der Hoffnung, dass die Gegenwart nichts Positives zu bieten hat, allerdings hat Abhor auch ihre Zweifel daran, dass die Zukunft diesen Anspruch erfüllen kann, weil sie letztlich die Gegenwart auslöscht, anstatt sie zu verwirklichen: Of course time cures everything. Human. It does because that time which will come, the future, is never present. Since everything will happen in the future: the present, me, was null. I was the only end which could be present. If I was an end to the present, and I was: in the future there will be no end to human tears. Since I saw no temporal possibility to other than the present, I saw no possibilities. Thivai was gone. I panicked. (113)
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Auch wenn Abhor in diese Situationen der Perspektivlosigkeit gerät, in denen sie sich keine Anfänge vorstellen kann, schafft sie es an anderer Stelle, sich durch schiere Willenskraft von diesem Nihilismus in einer zerstörten Welt zu befreien: „It used to be that men wandered over the earth in order to perceive new phenomena and to understand. I was a wanderer like them, only I was wandering through nothing. Once I had had enough of working for bosses. Now I had had enough of nothing“ (80-81). Abhors Identitätssuche wird in dieser Passage als Bewegung verortet, die zwar zunächst im Nichts stattfindet, sich aber dann möglicherweise dem Etwas zuwendet. Sie deutet diesen Ausgangspunkt der Bewegung im Nichts als positive Möglichkeit des Anfangs um: „I had learned something (already) in the dead city: You are wherever you are. Start again from nowhere: dead heart“ (58). Dieser Neuanfang aus dem Nichts führt zunächst zu zielloser Bewegung, die allerdings keine Erkenntnis und Erfahrung bereithält, wie es die Bewegung auf der Straße in den bereits besprochenen Texten tut: I ran away. Not only from Thivai. I would have run somewhere if there had been anywhere to which to run. But there wasn’t. I knew, I know there’s no home anywhere. Nowhere: Exile was a permanent condition. A permanent community, in terms of relationships and language. In terms of identity. But from what was identity exiled? Perhaps this society is living out its dying in its ruins. But I would have no way of knowing this. (63)
Ein Ausweg aus diesem permanenten Exil bietet sich Abhor in Form eines devianten Lebensstils, der sich in absoluter Opposition zum sozialen Leben versteht und somit potentiell eine Befreiung von dieser sterbenden Gesellschaft darstellen könnte. Abhor will zur Piratin werden: Piracy was the most anarchic form of private enterprise. Thus, at that time, in one sense, the modern economic world began. In anarchic times, when anyone could become any one and thing, corsairs, free enterprisers roamed everywhere more and more… (26)
Abhor verknüpft den Anfang der modernen Ökonomie mit einer Anarchie, die es dem Individuum erlaubt, sich selbst in Freiheit zu definieren und zu verwirklichen: „Historically, criminality is the only freedom humans have had“ (138). Eine Möglichkeit, diese Freiheit in der Kriminalität zu verwirklichen und neue Anfänge zu machen, findet sich neben der Piraterie im Terrorismus: „Terrorism is always a place to start because one has to start somewhere“ (35). All diese antisozialen Formen des Widerstands gegen ein gesellschaftliches System, das als krank dargestellt wird, scheinen Abhor die Möglichkeit zu bieten, sich selbst zu
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definieren und dort ihren persönlichen Anfang zu finden; eine Kapitelüberschrift verbindet so für sie „The Beginning of Criminality / The Beginning of Morning“ (109), gefolgt von Abhors Worten „I lie vulnerable to the genesis of this dawn“ (109). Ihr Eintritt in die Kriminalität wird zum Zugang zu ihrer Identität, wie sie in Bezug auf ihr Vorbild, den kubanischen Seemann Agone, konstatiert: „Due to Agone, I was no longer nothing. I was now on my way to being somebody. A criminal“ (120). Allerdings wird diese Anfangsrhetorik bald als illusorisch und konsequenzlos entlarvt, nicht zuletzt weil Abhor aus Thivais patriarchaler Perspektive die Möglichkeit abgesprochen wird, die Rolle der Piratin anzunehmen, die sie sich ausgesucht hat. Dieser umstrittene Anfang ihrer Identität führt geradewegs zu einer der wichtigsten Passagen des Textes, in der Abhor in Gefangenschaft gerät und von Thivai in einer haarsträubenden Befreiungsaktion gerettet wird, die stark auf der langwierigen und ebenso absurden Szene in Huckleberry Finn basiert, in der Huck Jim befreit. Passenderweise erhält Thivai Hilfe einer Figur namens Mark, so dass auch der Autor der literarischen Vorlage präsent ist (und ebenso wie Thivai eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist). An dieser Stelle wandelt sich Abhors Befreiung und Identitätssuche zum sprachlichen Phänomen: Ihre Gefangenschaft äußert sich weniger in materieller Einschränkung der Bewegung als vielmehr in einer Begrenzung ihrer Stimme und Ausdrucksfähigkeit. Abhor identifiziert Thivai und Mark als „the two who had taught me how to write“ (209) und präsentiert auf dieser hierarchischen Grundlage das feministische Argument, dass ihr Schreiben nur ein abgeleitetes männliches Schreiben sei, aus dem sie sich befreien müsse. Diese Befreiung verbindet Körperlichkeit und Sprache untrennbar und vereint Selbstzerstörung mit einem Angriff auf das Patriarchat: Everytime I talk to one of you, I feel like I’m taking layers of my own epidermis, which are layers of still freshly bloody scar tissue, black brown and red, and tearing each one of them off so more and more of my blood shoots into your face. This is what writing is to me a woman. (210)
Abhor äußert diese Worte in Schriftform in einem Brief, so dass sie die Fähigkeit zu Schreiben, die ihr von den Männern beigebracht wurde, gegen diese wendet, auch wenn sie dabei unter deren Beobachtung steht: „Since I now knew how to write, I wrote them a letter while they were watching me“ (209). Abhor schließt den Brief mit einem sprachlichen Befreiungsakt, der zwar nicht auf ein erstarktes Selbst mit einer stabilen Identität schließen lässt, der aber dennoch den
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symbolischen Zweck einer Distanzierung von patriarchalen Denk- und Sprachmustern erfüllt: You two collaborated in keeping me in jail by planning escapes so elaborate they had nothing to do with escape. That’s western thought for you. This is what I’m saying: you’re always fucking deciding what reality is and collaborating about these decisions. It’s not that I agree with you that I’m a wet washcloth. It’s that I don’t know what reality is. I’m so unsure, tentative, tenuous, lonely, uncertain from loneliness, anguished, sad that I’m not certain enough to fight the decisions I should. I guess I’m going to get into more and more messes cause that’s the way I am, but I hate all of you. (210)
Abhor erklärt hier trotz des zweifelnden, selbstkritischen Tones ihre Unabhängigkeit, die allerdings damit noch nicht vollzogen ist. An dieser Stelle kommt die Straße als Anfangsort ins Spiel, denn im darauffolgenden Kapitel findet dort Abhors tatsächlicher Versuch der Befreiung und Identitätsfindung statt. Abhor macht und erfährt ihren persönlichen Anfang auf der Straße auf eine Weise, die sich grundlegend von den bisher diskutierten Straßentexten unterscheidet, denn sie unternimmt keinen road trip, um Erfahrungen zu sammeln, sondern lernt Motorradfahren. Ist die Bewegung auf der Straße schon beim road trip tendenziell ein Selbstzweck, so ist sie in diesem Fall sogar noch vom Rahmen des road trips befreit. Abhor fährt nicht auf der Straße zu verschiedenen Orten, sondern fährt einfach nur auf der Straße. In der abstrakt-spielerischen Sprachwelt von Empire of the Senseless geht es nicht um eine realistische, nachvollziehbare Darstellung von Örtlichkeit, sondern um eine konstruierte Welt voll bitterer Ironie, deren Bezug zur Realität des Lesers auf andere Weise zustande kommt. Es passt so auch zu Abhors in vielerlei Hinsicht unabhängiger Bewegung, dass Abhor nicht mit dem Auto unterwegs sein will, sondern sich das Motorrad als Verkehrsmittel aussucht, das noch stärker mit Konnotationen von Individualismus und Rebellion belegt ist. Abhors Anfang auf der Straße wird so deutlich von ihr allein gemacht und zeigt klar ihre Loslösung von anderen Personen und deren Regeln und Zwängen. Am Anfang dieser Befreiung steht eine Setzung der Identität durch Abhor, die damit ihre Autonomie bestätigt: „Since I wasn’t out of my head and I was determined not to be anymore out of anyone else’s head who was out of his head, I decided I wanted to be part of a motorcycle gang“ (211). Nachdem das Leben als Kriminelle oder Piratin nicht die erhoffte Befreiung erbracht hat, wendet sich Abhor nun der artverwandten Gruppe der Motorradgang zu, die hier ebenso klischeehaft-ironisch romantisiert
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wie demontiert wird wie die anderen beiden Gruppen. Abhor erklärt Thivai ihre Motivation: First, I had to learn how to ride a motorcycle. First, I had to find a motorcycle because I didn’t have enough money to buy one. I said this out loud. Thivai raised his head out of his narcissism and asked me why. „I have to find a motorcycle,“ I explained so that he could understand me even if he was mad, „so that I can be free to steal Puerto Rican candles and other Voodoo items and silk sheets and tin plates for camping out on the mountains and penknives for playing mumbley-peg and for writing real memoirs – these are biker stories, not prison memoirs, never prison memoirs – and biker mags. They didn’t allow me to read anything in prison. And so that I can move so swiftly, even when I’m not dreaming, that I fly everywhere anytime and I escape all cops forever.“ This sound right to me as I said it. A lot of what I say is bullshit and weird. (211)
Die Hoffnung auf schnelle Bewegung und Flucht vor allen Einschränkungen, die hier von der Polizei symbolisiert werden, lässt die Straße zum Ausweg aus einer restriktiven Gesellschaft werden und betont ihr subversives Potential; selbst Abhor scheint beeindruckt vom Wahrheitsgehalt ihrer eigenen Einsicht. Allerdings stehen dieser Befreiung noch einige Widerstände entgegen, vor allem von männlicher Seite, und Thivai äußert sofort paternalistisch-herablassend seine Bedenken: „You don’t know how to ride a motorcycle, Abhor. I do.“ Thivai said this only cause he had to do everything better than me. If he had any decency in him, he would have offered to teach me how to ride a motorcycle so that I could join the gang. „But you can’t learn what you already know.“ „You don’t know how to ride a motorcycle, Abhor.“ I didn’t listen to him. I turned around, walked into the woods, and found a Honda which was only a year old, prerevolutionary, and in perfect shape except for one cracked mirror. (211)
Nachdem sie praktischerweise die Honda gefunden hat, ist für Abhor die Diskussion aber noch nicht vorbei, und Thivai unternimmt weitere Versuche, ihren Anfang im Keim zu ersticken. Die Schützenhilfe von Mark scheint eigentlich ins Leere zu laufen, funktioniert aber letztlich, weil er ihr als Mann beiseite steht:
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„Abhor’s not a slave, even if she is a runaway nigger. She’s as free as any cretur who walks this earth – “ Mark was trying to stand up for me, but too drunk. „OK,“‘ Thivai snarled. He wasn’t going to fight me and a man. „Say that you learn to ride that motorbike. As well as a woman can. You’re still not going to be able to join a motorcycle gang because motorcycle gangs don’t let women ride bikes.“ (212)
Mark widerlegt Thivais sexistische Behauptung – „‚I once knew a biker gang made up of dykes who used to act in Russ Meyer flics‘“ (212) – so dass Thivai keine andere Wahl hat, als Abhor zu erlauben, das Motorradfahren zu erlernen, indem er zugibt, dass er nie die Macht hatte, es ihr zu verbieten: Thivai ate his own shit. „I don’t see what all this fuss is about. I can’t give you your freedom, Abhor. No one can give another person that person’s freedom. Of course, you’re a free person. You are perfectly free to ride a bike even if you don’t have a clue how to ride and drop dead in the process.“ (212)
Abhors Kampf um den Anfang beinhaltet keine eindeutige Selbstbefreiung aus patriarchalen Zwängen, in der sie sich als weibliches Individuum von männlichen Konventionen befreit. Stattdessen ist der Kampf viel problematischer, da er die Unterstützung eines Mannes beinhaltet (und dieser scheinbar bedarf) und eigentlich kein Kampf um Befreiung ist, sondern um die Erlaubnis zur Befreiung, so dass erneut eine Hierarchie der Geschlechter vorhanden ist. Letztlich lösen sich diese Rahmenbedingungen aber mit der Einsicht auf, dass Thivai ihr von vornherein nichts zu verbieten hatte und nie Herr ihrer Freiheit war, auch wenn er so getan und sie diesen Umstand widerwillig akzeptiert hatte. So macht Abhor ihren Anfang auf der Straße, indem sie sich zunächst das Recht erstreitet, überhaupt auf die Straße zu dürfen, und wenn man bedenkt, wie dominant die männliche Perspektive in Straßentexten ist, darf dieser Erfolg durchaus als kritischer Kommentar zu diesem Genre gelesen werden. Abhors eigentlicher Anfang der Bewegung auf der Straße verzögert sich: I found a cannister of gas and one of oil, filled the bike. Then I rode the bike, which I could ride well, except for one thing. Everytime I used the clutch, the clutch stopped me. I didn’t want to be stopped: I wanted to go. I got angry at the clutch and called him or her a shitsucker. This showed that both men and women do evil. But this knowledge and understanding didn’t help me deal with my clutch. Finally I got so pissed at not being able to go anywhere, I pulled the clutch in and screamed. I was revving all the time. The second I let the clutch go, the bike shot forward.
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I learned that a clutch controls power; to get more power, you have to control power. That was good. (212-13)
Abhor lernt nicht nur, wie sie die Honda in Bewegung setzt, sondern leitet aus dieser ersten Erkenntnis über ihr Motorrad auch gleich eine abstrakte Einsicht über die Welt ab. Auch wenn ihre Bewegung nicht im Rahmen eines klassischen road trips stattfindet, so bringt sie dem Individuum doch von Anfang an neue Erkenntnisse. Abhor kann es sich nicht verkneifen, Thivai zu zeigen, dass sie fahren kann, doch er hält nur neue Einschränkungen für sie bereit: I rode back to Thivai to demonstrate to him that I could ride and he said I couldn’t. I replied, obviously I was riding. He replied I didn’t know the rules. What rules? There’re rules of road behaviour. They’re found in a book called The Highway Code. I had never heard of any rules so I didn’t know that there were any, so I went back into the woods where I found a wet copy of The Highway Code. This was an English book, dated 1986. I had the CODE so now I could drive. (213)
Abhors muss sich ihrer Bewegungsfreiheit gegen dieses Regelbuch der Straßenverkehrsordnung verteidigen, das versucht, die Straße als Ort der Subversion unter Kontrolle zu bringen, indem es die dortige Mobilität einschränkt und so zwar ein soziales Gefüge erschafft, dem Individuum aber Grenzen setzt. Joseph Conte fasst diesen Umstand in seiner Analyse von Empire of the Senseless knapp zusammen: „Following the code prevents following the road“ (71). Da sie vorher eine ganze Weile fährt, ohne auch nur einmal in das Buch zu schauen, wird klar, dass es eigentlich nichts mit der Bewegung an sich zu tun hat, auch wenn Thivai dies behauptet. Abhors Ablehnung der Regeln, die sie als unsinnig betrachtet, äußert sich physisch, indem sie die jeweiligen Seiten aus dem Buch reißt: After a while, I stopped, wiped my brow so that my brow was greasy, and looked, for the first time, at The Highway Code. Its first rule for bikers said that a biker should keep his (I had to substitute her here, but I didn’t think that changed its sense) bike in good condition. Since this bike wasn’t mine, I could keep her in any condition. Since this is only commonsense and commonsense is in my head, I tore out this section of The Highway Code and tossed it into a ditch. (213)
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Sie unterwandert im Folgenden praktisch jede Regel, die sie im Highway Code findet, indem sie verschiedene Strategien anwendet. Ihre subversivste Technik ist es, die Regeln wörtlich zu verstehen, wodurch sie diese einerseits anzuerkennen scheint, in Wirklichkeit aber in Frage stellt: Rule 55. a) Check your mirrors and slow down. I didn’t have any mirrors because I had chucked them because looking into them had tended to make me slow down. I never look in mirrors cause then I’ll think that I’m beautiful. So I slipped on to the next part of Rule 55. […] Rule 55. c) Watch your speed; you may be going faster than you think. I switched gears twice and revved up even more so I was sure to not be going faster than I thought. (217-18)
Sie zeigt, dass es immer eine Möglichkeit gibt, eine Regel direkt zu unterwandern oder auf subversive Weise zu befolgen, wie etwa in diesem Fall: Rule 55. b) Don’t hang on to someone’s taillights; it gives a false sense of security. […] Rule 55. f) See and be seen. This was it. I switched into fifth and revved up to 120, then stared down at the speedometer so I exactly knew my own speed. As I was driving correctly by staring down at the speedometer, naturally I did another correct thing. This shows how good a driver I had become. I did not hang on to the truck’s taillights. I smashed into them. I looked up. I saw and was seen. At least, felt. Feeling’s better than seeing. (218)
In all diesen Fällen äußert sich Abhors Rebellion als eigenwillige Interpretationen eines Textes, den Highway Code, der wie jedes Regelwerk eigentlich nach Klarheit und Eindeutigkeit strebt, den Abhor allerdings als doppeldeutig präsentiert und somit eine Neulektüre anbietet, wie sie in der feministischen Literaturkritik ein wichtiges Mittel war und ist:
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The next part of the code said that I must keep myself in good condition to drive. Since I was obviously in bad condition from my jail experience and from my Thivai experience and, generally, from life (my life), there was no need for me to stay away from as much booze as I could get my hands, paws, and other limbs on. This is what The Highway Code said. That I, like a bike, need lots of fresh juice. If The Highway Code was all commonsense, I could throw it all away cause I knew what commonsense is cause that’s what commonsense is. (213-14)
Die Absurdität des Regelwerks wird Abhor besonders dann deutlich, als sie auf andere Verkehrsteilnehmer trifft und so in surreale Situationen gebracht wird, die nicht durch den Highway Code abgedeckt zu sein scheinen, und in denen Abhor sich auf ihre eigene zweifelhafte Urteilskraft verlassen muss: About five schoolboys who had never gone into their school once because they were too bratty and because there weren’t schools anymore because there were no more rules, were standing in a straight line from one end of a zebra crossing to its other. I decided that my proper driving course would be to kill them. (214)
Vor Abhor stehen allerdings noch zwei Autos; in einem sitzt ein ungeduldig hupender Geschäftsmann, davor „[a] punk […] having been sandwiched between the brats and the honker since the beginning of eternity“ (214). Nachdem die beiden Fahrer in Streit geraten, rammt der Geschäftsmann das Auto vor ihm, und Abhors Regelwerk versagt angesichts dieser Situation: The businessman heard that, rolled up the windows of his new Renault, and ran his Renault into the punk’s scrapheap. Since I was unsure what The Highway Code said about this situation, I had to think for myself. I again decided that my proper course of action would be to run over a brat, this time so I could get the hell out of there before the businessman decided to run into me. I acted on my plan, but unfortunately missed a brat. (214-15)
Abhors Ablehnung des Regelwerks angesichts seines absurden und unvollständigen Inhalts äußert sich dann auf körperliche Weise: Since I still wasn’t sure what The Highway Code had to say about this situation, as soon as it seemed safe to me, I pulled up against a fire hydrant. […] Just like a dog who needs to piss or to sniff, I drove up against the fire hydrant, pulled out my Highway Code, pissed all over it, and opened it up at random:
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Leave enough space between you and the vehicle in front so that you can pull up safely if it slows down or stops suddenly. This rule was confusing for two reasons. First: there had been ample space between the businessman’s and the punk’s cars so lack of space couldn’t have been the reason. For anything. Second: there was no vehicle in front of me. I figured I had to find a vehicle in front of me so I could obey the rule. I patiently waited for fifteen minutes. Waiting for this vehicle was like finding someone to love when you’re not in love. […] I was becoming a good, road-worthy driver because I was reading and memorizing the rules of driving before attempting to drive. (214-15)
Abhors wörtliche Interpretation entwickelt hier die subversive Kraft des absurden Humors, der als Waffe im Kampf gegen soziale Einschränkungen und Regeln bewährt ist, und auch wenn Acker dieser Ironie nie ganz die Bitterkeit des Scheiterns nimmt, so finden sich in diesen Passagen doch die gelungensten Anfänge, die Abhor in ihrem Projekt der Selbstbefreiung und Identitätssuche in Empire of the Senseless unternimmt. Kaum hat sie endlich ein Auto gefunden, dem sie folgen kann, stößt sie in ihrer Regelauslegung auf neue Probleme, da die Bremswegberechnungen im Highway Code nicht für ihre Geschwindigkeit aufgeführt sind: I started up my bike and started to think. I was cruising along slowly, at about 55, and the bum was doing 5. The overall stopping rule didn’t say anything about 5 m.p.h., much less about 5 m.p.h. versus 55 m.p.h. Maybe calculus was needed, but I couldn’t remember my highschool calculus because I had never needed it. By now, I was so angry that I had been forcing myself to study all these rules which had nothing to do with nothing and didn’t work, that I drove straight into the hobo’s vehicle. (216)
Nachdem die Regeln sich immer wieder als unrealistisch und unpassend erwiesen haben, gibt Abhor ihrem Drang zur Autonomie nach und rammt den Wagen vor ihr, woraufhin sie erkennt, dass diese Selbstbefreiung ihren Preis hat: But now I was on a two-lane carriageway and so confused, and upset cause I was confused, that I had to pull my bike up into its left edge. I looked into the empty space and thought that, in this world, I have no one to rely on when I’m in deep trouble. I wasn’t going to cry. (216-17)
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Gleichzeitig erkennt Abhor aber auch, dass es keine Alternative zur Bewegung gibt, und äußert eine Regel, die nichts mit den Regeln des Highway Codes zu tun hat, aber dennoch eine fundamentale Wahrheit über Mobilität ausdrückt: „This is one of the rules of the world. If you don’t go anywhere, you don’t go anywhere“ (217). Dies ist keine Tautologie, sondern die Grundregel des Straßentextes. Abhors Bewegung auf der Straße ähnelt der von Sal und Dean in On the Road, da es in beiden Fällen darum geht, sich von einer Gesellschaft abzugrenzen und zu befreien, die als einschränkend empfunden wird. Abhor wendet sich nur noch direkter gegen die Regeln dieser Gesellschaft. Als Abhor den Punkt erreicht, an dem sie erkennt, dass sie auf sich allein gestellt ist, kommt sie auch zu der Erkenntnis, dass es nun keine Regeln mehr für sie gibt. Dies ist das Ergebnis ihrer Bewegung auf der Straße, und für diese Einsicht und ihre Konsequenzen ist die Straße der Anfangsort in Empire of the Senseless. Ihre Verwirrung angesichts dieser neuen Umstände wandelt sich schnell in eine neue Sicherheit in Bezug auf ihre eigene Identität, und dieses neue Selbstbewusstsein äußert sich in textlicher Form, indem Abhor Änderungen am Highway Code vornimmt: I jumped on my bike, U-turned, and drove the other way. The problem with following rules is that, if you follow rules, you don’t follow yourself. Therefore, rules prevent, dement, and even kill the people who follow them. To ride a dangerous machine, or an animal or human, by following rules, is suicidal. Disobeying rules is the same as following rules cause it’s necessary to listen to your own heart. I shifted the Honda back into fifth to listen to my own heart. The Arabian Steeds. My heart said these words. Whatever my heart now said was absolutely true. I pulled the bike up against a telephone pole some kids had twisted into a cock and took out a pen and the Code. I looked into the heart. I drew the first picture I saw on the Code cause it was the only paper I had. (218-19)
An dieser Stelle folgt im Roman eine graphische Darstellung eines quadratischen Straßenschildes, das die Warnung „radioactive“ trägt. Weitere Schilder folgen, jeweils mit Abhors eigener Interpretation, die alle von einem letzten Bild, einem Tätowierungsmotiv eines Schwertes, einer Rose und einem Banner mit den Worten „Discipline & Anarchy“ zusammengefasst werden: „All of this came to me for no reason at all and so it all had to be true. I drew a final picture which summed up all the other pictures“ (221). Joseph Conte interpretiert dieses Motiv mit seinem Begriffspaar als Abhors positive Neukonzeption einer Gesellschaft, in der Binarität nicht zwangsläufig Hierarchie impliziert: „Discipline without
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anarchy is repressive; discipline in anarchy promotes endurance. Anarchy without discipline is destructive; anarchy in discipline promotes creativity. Spontaneity and organization. Beauty and violence. A rose and a sword“ (74). Abhor kommt so über die Bewegung auf der Straße, insbesondere über das Motorradfahren, an einen Punkt der Selbsterkenntnis und Selbstdefinition, an dem sie sich über Regeln hinwegsetzt und ihre eigenen Regeln macht: This was me. From now on The Highway Code no longer mattered. I was making up the rules. This is my rule. All of you hear this: When I die, probably by my motorcycle, (for riding a motorcycle is looking at your own skull), […] throw me, dead, or my dead body, into the ocean. (222)
Auch wenn dieser Moment als Höhepunkt der Identitätssuche Abhors gelten kann, ist damit die Erzählung von ihrem Kampf um Autonomie noch nicht beendet. Ihr Anfang bleibt ein prekärer Anfang, der deswegen noch nicht in einen stabilen Zustand überführt wird, weil er von männlicher Seite in Frage gestellt wird. Abhor trifft erneut auf Mark und Thivai sowie einen Polizisten: Mark and Thivai pulled up beside me. They must have stolen some motorcycles because they were riding choppers. Thivai had been speeding, so, as he pulled up, his back wheel slid, left rubber, but this cop didn’t care cause both of them were men. They were all pissing on me. Then, the cop, who was jotting indecipherable and illegible notes down on a piece of paper, informed me that my manner of driving would possibly get me in trouble and probably killed. First of all, cop said, you speeded along without any regard for me so I was forced to keep up with you. (I silently thought he should keep his balls and even his tongue in a burglar-proof safe.) Secondly, I simply bypassed every junction I met. I finally opened my mouth and carefully explained that bypassing junctions is safe driving. By bypassing junctions, I was bypassing cars who are the natural enemies of motorcycles. Then, the cop told me I was dangerous to all living men. (223-24)
Die Anschuldigungen des Polizisten entstammen klar einem patriarchalen System, für das er symbolisch als Autoritätsinstanz steht: Thivais Vergehen interessiert ihn nicht, weil er auch ein Mann ist, während Abhors Verstöße zur Gefahr für die Allgemeinheit stilisiert werden. Diese Unterdrückung hat jedoch eine berechtigte Angst zur Grundlage, denn Abhors Verhalten stellt tatsächlich das System in Frage – und zwar jenes System, in dem „all living men“ (224) gegenüber den Frauen bevorzugt werden. Der Polizist versucht, Abhors subver-
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sives Verhalten einzudämmen und unter Kontrolle zu bringen, und hier erweist sich die Straße erneut als potentieller Ort der Revolution, an dem eine Gesellschaft grundlegend verändert werden kann, und den diese deshalb zu überwachen und reglementieren versucht. Während Abhor den längsten Strafzettel der Literaturgeschichte bekommt, äußert sich die Bestrafung durch Mark und Thivai für ihre Autonomiebestrebungen auf weitaus körperliche Weise: Mark and Thivai kicked me. I kicked them. The cop gave me a roll or scroll as long as Julius Caesar’s memoirs with thousands of X’s all over it, and left. I looked at Mark and Thivai. Mark and Thivai kicked me again. I hurt. I asked them, privately, why they kept kicking me. Hadn’t imprisoning me been enough? They had lost that one, just like the Americans had lost Vietnam. Were they now trying to invade...me? (224)
Abhor gelingt es nicht, sich endgültig aus den Verstrickungen der patriarchalen Gesellschaft zu befreien, auch wenn sie sich aus der Gefangenschaft befreit hat; die Bedrohung dessen, was sie als Invasion bezeichnet, besteht nach wie vor. Es bleibt im Text beim Anfang, den sie auf der Straße gemacht hat, wobei dieser eher als gelungen denn als gescheitert präsentiert wird, auch wenn beide Optionen noch im Potential der Anfänglichkeit vorhanden bleiben. Ein Argument für eine positive Interpretation trotz dieser Einschränkungen findet sich im letzten Absatz, in dem Abhor einen weiteren Schritt zur Unabhängigkeit unternimmt, indem sie sich auch von der Identität lossagt, die der Ausgangspunkt für ihre Selbstfindung und Befreiung war: I didn’t want to be part of a motorcycle gang. I stood there, there in the sunlight, and thought that I didn’t as yet know what I wanted. I now fully knew what I didn’t want and what and whom I hated. That was something. And then I thought that, one day, maybe, there’ld be a human society in a world which is beautiful, a society which wasn’t just disgust. (227)
Abhors Selbsteinschätzung in Bezug auf ihre Identität und ihr Verhältnis zur Zukunft ist am Ende vorsichtig optimistisch, ohne naiv zu wirken. Sie weiß zumindest genau, was sie nicht will, und ist in der Lage, darüber autonom zu entscheiden. Sie ist sich dessen bewusst, dass sie zunächst nur (oder immerhin) einen Anfang gemacht hat, dessen Konsequenzen nicht absehbar sind, und dass in dieser Entwicklung weitere Schritte folgen werden, und sie erlaubt sich einen
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abschließenden Moment der Hoffnung in einer Erzählung, die bis dahin in ihrer postapokalyptischen Grundstimmung alles andere als hoffnungsvoll war. Abhor hat auf der Straße nicht sich selbst gefunden, so wie auch die Protagonisten von On the Road und Travels with Charley keine endgültigen oder allgemeingültigen Erkenntnisse erlangt haben. Auch wenn Empire of the Senseless nur im letzten Kapitel wirklich dem Genre des Straßentextes zuzurechnen ist, steht der Roman dennoch in dieser literarischen Tradition, indem er die Straße insbesondere für das feministische Projekt der Befreiung und Selbstbehauptung als Anfangsort begreift, aber nicht als Endpunkt von Wissen und Identität.
3.4
CORMAC MCCARTHY, THE ROAD
Auch wenn Empire of the Senseless in seiner vielfältigen Genremischung auch Elemente des postapokalyptischen Romans enthält, so unterwandert der Text auch diese Konventionen und kann nur in gewissem Maße so kategorisiert werden. Ein lupenreines Beispiel für eine postapokalyptische Erzählung22 findet sich hingegen in Cormac McCarthys Roman The Road, der bei seiner Veröffentlichung im Jahr 2006 von Kritikern hoch gelobt wurde und ein so großer Verkaufserfolg war, dass man davon sprechen könnte, dass McCarthy damit seinen literarischen Durchbruch erlebt hat, obwohl dies schon sein zehnter Roman war und sein Debüt The Orchard Keeper bereits 1965 erschienen war. The Road bringt zwei Genres zusammen, die eigentlich grundverschieden und unvereinbar erscheinen: Einerseits erzählt der Roman von einer Welt nach ihrem Untergang, in der entweder Stillstand herrscht oder alle Bewegung zum Stillstand und Tod hinführt; andererseits ist The Road auch eine Straßenerzählung, in der Individuen sich in Bewegung setzen, um Veränderung zu erfahren und herbeizuführen und so dem Stillstand zu trotzen23. In dieser paradoxen Situation wird die Straße zwar als Anfangsort präsentiert, doch muss dieses Bild natürlich einige Veränderungen erfahren, um noch seine narrative Funktion zu erfüllen. Die folgende
22 Den umfassendsten Überblick über den neueren (post-)apokalyptischen Roman bietet Peter Freeses From Apocalypse to Entropy and Beyond: The Second Law of Thermodynamics in Post-War American Fiction. Sehr zu empfehlen ist darüber hinaus auch Sibylle Machats In the Ruins of Civilizations: Narrative Structures, World Constructions and Physical Realities in the Post-Apocalyptic Novel. 23 Katarzyna Kuczma hat mit „Desert(ed) Experience“ einen lesenswerten Aufsatz veröffentlicht, der The Road mit Steinbecks Travels with Charlie vergleicht.
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Analyse soll zeigen, inwiefern die Straße auch im postapokalyptischen Roman noch ihr Potential für Anfänge aufweist, und wie diese Verortung wiederum die Imagination der zerstörten Welt prägt, indem sie dort eine Zukunft impliziert, wo keine Zukunft mehr vorstellbar scheint. The Road erzählt von einem Mann und seinem Sohn, die sich durch eine Landschaft bewegen, die früher einmal das Territorium der USA war und nun ein lebloses und lebensfeindliches Ödland ist. Das Ereignis, das diesen Weltuntergang ausgelöst hat, wird im Text nur sehr vage beschrieben: „The clocks stopped at 1:17. A long shear of light and then a series of low concussions“ (45). Es wird zudem nicht deutlich, wie lange dies im Vergleich zur Gegenwart der Erzählung zurückliegt. Aufgrund von Details wie etwa dem Satz „[i]n those first years the roads were peopled with refugees shrouded up in their clothing“ (24) kann man darauf schließen, dass es mehrere Jahre sein müssen, aufgrund des Alters des Jungen aber wohl weniger als ein Jahrzehnt. So wie das Ereignis kaum beschrieben wird, wird dem Leser auch kaum die Welt dargestellt, durch die sich Vater und Sohn bewegen, und The Road bietet durch seinen kargen Stil nur einen groben Rahmen für die Imagination des Lesers. Die Informationen, die man über diese postapokalyptische Welt erhält, betonen immer wieder ihre Kälte und graue Eintönigkeit, die sehr oft über optische Metaphern und Vergleiche beschrieben wird: „Nights dark beyond darkness and the days more gray each one than what had gone before. Like the onset of some cold glaucoma dimming away the world“ (3). Den beiden Betrachtern bietet sich immer wieder das Bild einer verbrannten und toten Landschaft, „[b]arren, silent, godless“ (4): „[…] the country as far as they could see was burned away, the blackened shapes of rock standing out of the shoals of ash and billows of ash rising up and blowing downcountry through the waste“ (12). Später bekommt der Leser einige wenige Informationen über die Zeit kurz nach der Katastrophe, als die Protagonisten auf Texte von damals stoßen: They began to come upon from time to time small cairns of rock by the roadside. They were signs in gypsy language, lost patterns. The first he’d seen in some while, common in the north, leading out of the looted and exhausted cities, hopeless messages to loved ones lost and dead. By then all stores of food had given out and murder was everywhere upon the land. The world soon to be largely populated by men who would eat your children in front of your eyes and the cities themselves held by cores of blackened looters who tunneled among the ruins and crawled from the rubble white of tooth and eye carrying charred and anonymous tins of food in nylon nets like shoppers in the commissaries of hell. (152)
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Der Zusammenbruch der Gesellschaft führte dazu, dass sich viele Menschen in Bewegung setzten, sei es zur Flucht oder aus Hoffnung; diese „Pilger“ fanden aber meistens nur den Tod auf der Straße in einer indifferenten, lebensfeindlichen Welt: „Out on the roads the pilgrims sank down and fell over and died and the bleak and shrouded earth went trundling past the sun and returned again as trackless and as unremarked as the path of any nameless sisterworld in the ancient dark beyond“ (153). Auch für Vater und Sohn ist die Bewegung auf der Straße eine bittere Notwendigkeit, mit der die Erzählung eingeleitet wird: „He thought the month was October but he wasnt sure. He hadnt kept a calendar for years. They were moving south. There’d be no surviving another winter here“ (4). Hier geht es nicht um einen road trip, sondern um Bewegung mit dem einzigen Ziel, das eigene Überlegen zu sichern. Indem The Road aber auf das Motiv des road trips zurückgreift und es vollständig umkehrt und umwertet, zeigt der Text den Bruch, der sich mit dem Weltuntergang vollzogen hat. Das kulturelle und soziale Phänomen des road trips kann in dieser Welt nicht mehr stattfinden, da Kultur und Gesellschaft verschwunden sind. Das Individuum kann auf der Straße nicht rebellieren oder sich selbst finden, da weder diese Rebellion noch das Selbst mehr einen notwendigen Bezugspunkt haben. Die Reise der beiden erscheint wie eine perverse Parodie des road trips, der ebenso wie die gesamte Welt von allen Bedeutungszusammenhängen abgetrennt ist. McCarthy betont immer wieder die Hoffnungslosigkeit dieser zerstörten Welt, indem er ihr Sterben als unabwendbar darstellt: „He thought if he lived long enough the world at last would all be lost. Like the dying world the newly blind inhabit, all of it slowly fading from memory“ (16). Der Vater ist sich der Situation der Welt bewusst und versucht, seinen Sohn vor diesem Bewusstsein zu schützen, macht sich aber keine Illusionen über ihrer beider Lage und ihrer Überlebenschancen: He walked out in the gray light and stood and he saw for a brief moment the absolute truth of the world. The cold relentless circling of the intestate earth. Darkness implacable. The blind dogs of the sun in their running. The crushing black vacuum of the universe. And somewhere two hunted animals trembling like groundfoxes in their cover. Borrowed time and borrowed world and borrowed eyes with which to sorrow it. (110)
Die Welt in The Road weist eine nicht umkehrbare Tendenz zu Tod und Stillstand auf, in der jeglicher Widerstand gegen Stagnation und Entropie nutzlos und sinnlos ist; es besteht kein Zweifel daran, dass Welt und Zeit für die beiden geborgt sind, und es findet sich nichts von jenen Rettungs-, Regenerations- oder Fluchtmöglichkeiten, die in anderen postapokalyptischen Erzählungen einen
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Ausweg aus dem Tod der Welt bieten. Passend dazu vollzieht sich die Bewegung auf der Straße in sehr langsamer Weise, da die beiden zu Fuß mit einem Einkaufswagen unterwegs sind. Anstelle eines schnellen Autos steht ihnen nur ein Überbleibsel einer vernichteten Konsumgesellschaft zur Verfügung, dessen Konnotation von materiellem Überfluss und Verfügbarkeit in dieser entleerten Welt höchst ironisch wirkt: An hour later they were on the road. He pushed the cart and both he and the boy carried knapsacks. In the knapsacks were essential things. In case they had to abandon the cart and make a run for it. Clamped to the handle of the cart was a chrome motorcycle mirror that he used to watch the road behind them. He shifted the pack higher on his shoulders and looked out over the wasted country. The road was empty. (5)
Die Bewegungsgeschwindigkeit wird dadurch noch weiter eingeschränkt, dass der Einkaufswagen beschädigt ist: „One of the front wheels of the cart had gone wonky. What to do about it? Nothing“ (12). Zudem ist die Straße selbst alles andere als gut begehbar, und selbst die geringe Geschwindigkeit zu Fuß kann nicht dauerhaft aufrechterhalten werden: „Still they came to trees across the road where they were forced to unload the cart and carry everything over the trunks and then repack it all on the far side“ (30). The Road bricht hier mit der Konvention des Straßentextes, dass die Bewegung von einer gewissen Geschwindigkeit und Technologie geprägt sein muss oder zumindest nicht nur aus Körperkraft entsteht; selbst Huck Finn ist mit einem Floß auf dem Mississippi unterwegs. Das Ende der Zivilisation äußert sich in diesem Straßentext auch über das Ende technischer Fortbewegung auf dafür vorbereiteten Wegen, und die Langsamkeit der Charaktere ist ebenso schmerzlich präsent wie die geringen Distanzen, die sie bei ihrem tragischen road trip zurücklegen: „It was harder going even than he would have guessed. In an hour they’d made perhaps a mile“ (85). Während road trips normalerweise so viel Potential für Anfänge bereithalten, weil sich dem Reisenden durch die Geschwindigkeit der Bewegung eine Fülle an Neuem präsentiert, steht Vater und Sohn bei ihrer Reise potentiell nur so viel Neues bereit wie ein Tagesmarsch beinhalten kann. Die Möglichkeit des Anfangs auf der Straße sinkt mit der Mobilität des Individuums. Diese entropische Tendenz zu Verlangsamung und Stillstand ist auch sprachlicher Natur, wie der Vater erkennt: He tried to think of something to say but he could not. He’d had this feeling before, beyond the numbness and the dull despair. The world shrinking down about a raw core of parsible entities. The names of things slowly following those things into oblivion. Colors.
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The names of birds. Things to eat. Finally the names of things one believed to be true. More fragile than he would have thought. How much was gone already? (75)
The Road passt sich dem Umstand an, dass mit der Welt auch die korrespondierenden Begriffe zur Weltbeschreibung schrumpfen, indem Sprache und Stil des Textes extrem reduziert werden. Dialoge bestehen nur aus gesprochenen Worten ohne Beschreibung der namenlosen Sprecher, und Anführungszeichen fehlen ebenso wie viele Apostrophen, doch insbesondere fehlt es dem Text an Örtlichkeit. Es werden praktisch keine nachvollziehbaren geographischen Informationen gegeben, Ortsnamen fehlen fast völlig, und jenseits von Straße und Küste als Weg und Ziel wird nur eine Landschaft beschrieben, in der zwar verschiedene Orte vorhanden sind, die aber die generelle leblose Gleichförmigkeit der Umwelt letztlich auch nicht durchbrechen können. Sprachlich wie inhaltlich steht diese Erzählung den späten Texten von Samuel Beckett nahe, in denen oftmals körperlose Erzählstimmen oder gebrechliche Körper in Stagnation existieren und dieser nur ein trotziges Weitermachen entgegenzusetzen haben. The Road unterscheidet sich von dieser Konstellation allerdings durch jenes zentrale symbolisches Element, das der Hoffnungslosigkeit der Apokalypse einen zukunftsgerichteten Aspekt abtrotzt: die Straße. Indem McCarthy auf der literarischen Tradition der amerikanischen Straßenerzählung aufbaut, auch wenn er sie fast vollständig umwertet, verweist er auf die daraus bekannten Motive, die in The Road eigentlich ständig verleugnet werden: Bewegung, Veränderung, Entwicklung, Erkenntnis, und allen voran der Anfang. In einem Text, in der jeder Anfang unmöglich scheint, wird die Straße zum letzten Ort des Anfangs, auch wenn das Ausmaß und die Bedeutung dieses Anfangs gering sein mögen: „There’s not a lot of good news on the road. In times like these“ (147). Dennoch kann in The Road nur auf der Straße überhaupt noch eine Zukunft imaginiert werden. Der Stillstand bedeutet ein sicheres Todesurteil, während Bewegung es zumindest aufschiebt, und an ein sicheres Leben an einem Ort ist nicht zu denken, vom dortigen Neuaufbau einer Gesellschaft ganz zu schweigen. Selbst als die Protagonisten auf einen Bunker mit Essensvorräten und Überbleibseln der Zivilisation stoßen, können sie nicht lange bleiben: How long can we stay here Papa? Not long. How long is that? I dont know. Maybe one more day. Two. Because it’s dangerous. Yes. (125)
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Die Zukunftsorientierung der Charaktere ist in dieser Situation äußerst kurzfristig und unmittelbar, bedingt durch die ständige Bedrohung durch Hunger und Kälte: „How many days to death? Ten? Not so many more than that“ (113). Dies ist in so großem Ausmaß der Fall, dass der Vater sogar vom Essensfund im Bunker verstört ist, weil dieser eine Zukunftsaussicht darstellt, die vorher nie vorhanden war: „He’d been ready to die and now he wasnt going to and he had to think about that“ (121). Jenseits dieses Einzelereignisses bietet die Straße einen kurzfristigen Ausweg aus der Situation der lebensbedrohlichen Endgültigkeit, ohne sie natürlich letztlich abzuschaffen; zumindest aber finden sich dort Anfänge, die sich dem Ende entgegenstellen oder es hinauszögern. Symbolischer Beleg dafür ist, dass Vater und Sohn meistens ihr Essen mitten auf der Straße zu sich nehmen, als würde sie dieser Ort ernähren und durch eine minimale Fruchtbarkeit zumindest ein Überleben ermöglichen, wenn ein lebenswertes Leben schon unmöglich scheint: „They squatted in the road and ate cold rice and cold beans that they’d cooked days ago“ (25). Städte haben im Gegensatz dazu ihr Potential für Anfänge in The Road vollständig verloren: Alle Städte im Text sind ebenso namenlos wie tot. „The city was mostly burned. No sign of life. Cars in the street caked with ash, everything covered with ash and dust“ (10); „By dusk of the day following they were at the city. The long concrete sweeps of the interstate exchanges like the ruins of a vast funhouse against the distant murk“ (20); „They sat in the ashes by the side of the road and looked out to the east where the shape of the city was darkening into the coming night. They saw no lights“ (134). Auch in The Road wird die Konvention des Straßentextes aufrechterhalten, die Straße als Anfangsort in Abgrenzung zur Stadt darzustellen. Dies bedeutet aber nicht, dass die Straße in irgendeiner Weise glorifiziert werden würde. Ganz im Gegenteil ist die Straße in The Road ein sehr unangenehmer, gefährlicher und problematischer Ort. Der Vater deutet dies an, als er über die Einsamkeit der Straße nachdenkt: „He thought the bloodcults must have all consumed one another. No one traveled this road. No roadagents, no marauders“ (14). Die Straße war demnach nach der Katastrophe nicht nur ein Fluchtweg, sondern auch Ziel von Wegelagerern, die diese Hoffnung auf einen Ausweg zunichte machten. Der Vater erinnert sich an „[…] the dead impaled on spikes along the road“ (28), und dieses Bild vermittelt eindeutig, dass die Straße ebenso zum Ort der Zerstörung geworden war wie jeder andere Ort. Anstelle eines Anfangsortes wurde sie zu dem Ort, an dem die Menschlichkeit endete; Vater und Sohn versuchen allerdings während ihrer Reise auf der Straße, ihre eigene Menschlichkeit zu bewahren, was in ihrer Situation darauf reduziert ist, nicht zu Kannibalen zu werden. Sie wandern auf der Straße, als diese erste Zeit
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der Gewalt schon vorbei ist: „No tracks in the road, nothing living anywhere“ (25). Die Straße hat jegliche soziale Funktion verloren, die sie in anderen Straßentexten so fruchtbar für das Projekt der Erkenntnis und der Bewegung gemacht hat. Dies ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass ein Gespräch mit einem anderen Wanderer als seltenes Ereignis dargestellt wird: „This was the first human being other than the boy that he’d spoken to in more than a year“ (64). Trotz dieser Einsamkeit ist die Bedrohung durch andere Menschen allgegenwärtig, und zwar einerseits auf der Straße, andererseits von der Straße her. Der Vater fühlt sich abseits der Straße unwohl, weil er von dort aus gesehen werden kann, also weil er dort eine potentielle Bedrohung verortet: „He watched the boy and he looked out through the trees toward the road. This was not a safe place. They could be seen from the road now it was day“ (5). An anderer Stelle findet er in einem Haus einen Beobachtungsposten eine Kannibalengruppe, von dem aus die Straße einsehbar ist und so zum bedrohten Ort wird: „Coming through the canebrake into the road he’d seen a box. A thing like a child’s playhouse. He realized it was where they lay watching the road. Lying in wait and ringing the bell in the house for their companions to come“ (97). Vater und Sohn müssen jedem Reisenden auf der Straße mit Misstrauen begegnen, und einen Menschen erschießt der Vater sogar, um seinen Sohn und sich vor ihm zu retten. Einen Dieb lässt der Vater in derselben todbringenden Situation ohne Kleidung und Besitz zurück, in die er die Protagonisten durch seinen Diebstahl gebracht hat, und immer wieder geht es um die Frage, ob die beiden anderen helfen sollen oder ihr eigenes Überleben auf deren Kosten sichern dürfen, sollen oder müssen. Der Junge überredet einmal den Vater dazu, ihr Essen mit einem Reisenden zu teilen, und im darauffolgenden Gespräch wird die Grundproblematik der Straße in Hinblick auf die Zukunft deutlich: How long have you been on the road? I was always on the road. You cant stay in one place. How do you live? I just keep going. I knew this was coming. (142)
Bewegung geschieht in The Road nicht, weil ein Individuum seinem Bewegungsdrang nachgeben will, um Erfahrungen auf der Straße zu machen, die für den Einzelnen und die Gesellschaft relevant sind. Stattdessen geschieht Bewegung aus der Notwendigkeit, das eigene Überleben zu sichern, da Stillstand den Tod bedeutet. In der Straße finden die Charaktere im Text den vorhandenen Ort, um dieser Bewegung einen Rest an Struktur zu verleihen und sie zumindest in geringem Maße an Zivilisation und Gesellschaft zu knüpfen: Die Chancen, auf
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der Straße zu überleben, stehen deshalb besser, weil sie Orte miteinander verbindet, an denen man Essen finden könnte. Dabei erfahren die Charaktere aber nur selten eine eindeutige Verortung, etwa wenn der Vater zu dem Haus kommt, in dem er aufgewachsen ist (21); immer wieder sind sie unsicher, wo sie sind, wie weit sie gelaufen sind, und welchen Weg sie nehmen sollten. Hier kommt ein weiteres Motiv der Straßenerzählung ins Spiel, das immer auch ein Kommentar zu Repräsentation und dem Verhältnis von Welt und Abbildung ist: die Karte. Vater und Sohn orientieren sich anhand einer alten Straßenkarte, die ebenso in Einzelteile zerfallen scheint ist wie die Welt selbst: The tattered oilcompany roadmap had once been taped together but now it was just sorted into leaves and numbered with crayon in the corners for their assembly. He sorted through the limp pages and spread out those that answered to their location. We cross a bridge here. It looks to be about eight miles or so. This is the river. Going east. We follow the road here along the eastern slope of the mountains. These are our roads, the black lines on the map. The state roads. Why are they the state roads? Because they used to belong to the states. What used to be called the states. But there’s not any more states? No. What happened to them? I dont know exactly. That’s a good question. But the roads are still there. Yes. For a while. How long a while? I dont know. Maybe quite a while. There’s nothing to uproot them so they should be okay for a while. But there wont be any cars or trucks on them. No. Okay. (36-37)
Die Karte erinnert nicht nur an ein längst vergangenes Gesellschaftssystem, das einst staatliche Kontrolle über die Straßen ausgeübt hat, die nun Orte der Anarchie sind; sie verweist durch ihre Herkunft auch auf eine amerikanische Konsumgesellschaft, deren Zentrum das Auto war. Nirgends wird der Kontrast von The Road zur klassischen amerikanischen Straßenerzählung deutlicher als hier. Das Fortbewegungsmittel schlechthin, das Auto, ist nur noch als vage Referenz vorhanden, nicht mehr als reales Objekt. Das Kartenmaterial, das auf dieses Verkehrsmittel zugeschnitten wurde und somit in seiner bildlichen Darstellung Amerikas deutlich eine automobile Ideologie ausweist, entpuppt sich als unnütz
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und hoffnungslos veraltet: „They studied the pieces of map but he’d little notion of where they were“ (107). Die Karte dient bestenfalls für grobe Schätzungen: Do you know where we are Papa? the boy said. Sort of. How sort of? Well. I think we’re about two hundred miles from the coast. As the crow flies. (132)
Andererseits erfüllt die Karte einen weiteren Zweck, für den sie weitaus besser geeignet ist als zur Orientierung: Als Repräsentation der Welt ermöglicht sie es dem Individuum, sich darin zu verorten und eine Position einzunehmen, in der eine Imagination vom Selbst in der Welt möglich ist. Diese Funktion wird in The Road in gewissem Maße auch Texten zugeschrieben, die jedoch kaum noch Bedeutung haben, und dies kann durchaus als Kommentar des Romans über sich selbst verstanden werden, in dem er sein eigenes Unvermögen kommentiert, diese zerstörte Welt sprachlich zu vermitteln. Nur an zwei Stellen stoßen die Charaktere überhaupt auf Bücher. Einmal sind sie komplett unbrauchbar: „Soggy volumes in a bookcase. He took one down and opened it and then put it back. Everything damp. Rotting“ (111). In der zweiten Szene allerdings verweisen sie auf das Potential, eine imaginäre Welt zu erschaffen: Shelves tipped over. Some rage at the lies arranged in their thousands row on row. He picked up one of the books and thumbed through the heavy bloated pages. He’d not have thought the value of the smallest thing predicated on a world to come. It surprised him. That the space which these things occupied was itself an expectation. He let the book fall and took a last look around and made his way out into the cold gray light. (158)
Diese Bücher haben genau deshalb menschliche Wut herausgefordert, weil sie alternative Welten in einer Welt bieten, die keinerlei Alternativen mehr zuzulassen scheint. Der Raum der Erwartung, den der Vater mit Büchern in Verbindung bringt, verweist auf eine Zukunft, die an sich nicht mehr gegeben ist. Der Vater lässt das Buch fallen und wendet sich wieder dieser Welt ohne Erwartung zu, denn letztlich scheinen die „heavy bloated pages“ (158) nicht die Imagination zu bieten, die einen Anfang nach der Katastrophe konzipieren könnte. Stattdessen bietet die Straßenkarte dem Individuum eine konkretere Möglichkeit, sich in der Imagination zur Welt zu positionieren. Diese Karte zeigt Vater und Sohn nicht nur, wo sie sich in der Welt befinden, sondern dass es eine
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Welt um sie herum gibt, die jenseits ihrer unmittelbaren körperlichen Ortserfahrung existiert: At a crossroads they sat in the dusk and he spread out the pieces of the map in the road and studied them. He put his finger down. This is us, he said. Right here. The boy wouldnt look. He sat studying the twisted matrix of routes in red and black with his finger at the junction where he thought that they might be. As if he’d see their small selves crouching there. (73)
Während der Sohn hier noch kein Interesse an einer solchen Positionierung zeigt, meint der Vater später sein eigenes früheres Streben danach in ihm wiederzuerkennen: The boy nodded. He sat looking at the map. The man watched him. He thought he knew what that was about. He’d pored over maps as a child, keeping one finger on the town where he lived. Just as he would look up his family in the phone directory. Themselves among others, everything in its place. Justified in the world. (153-54)
In diesen Textpassagen verorten die Charaktere sich selbst in der Welt, indem sie auf Repräsentationen der Welt zurückgreifen. Diese Versicherung der eigenen Örtlichkeit ist auch eine Versicherung der eigenen Existenz innerhalb einer greifbaren und darstellbaren Struktur. Auch wenn die Karte nur noch aus Stücken besteht, bietet sie noch ein Maß an räumlicher Kohärenz, indem sie eine Imagination der Welt ermöglicht, in der sich das Individuum positionieren kann. In noch stärkerem Maße als ihre Repräsentation bietet auch die Straße selbst einen Ausweg aus der Willkürlichkeit, die in The Road allgegenwärtig ist, indem sie zumindest der Bewegung eine Richtung gibt. Sie ist weit davon entfernt, wieder den Sinn in der Welt zu stiften, der mit der Apokalypse verloren gegangen ist, aber sie bietet zumindest einen kurzfristigen, lokalen Rahmen vor, wo sonst nirgends mehr ein Rahmen ist. Der Vater beschreibt beispielsweise das Ende aller sinnstiftenden Rahmenbedingungen mit Bezug auf die Religion: „On this road there are no godspoke men. They are gone and I am left and they have taken with them the world“ (27). In diesem Zustand erkennt der Reisende, dass alle Zukunftsorientierung unsinnig war: „People were always getting ready for tomorrow. I didnt believe in that. Tomorrow wasnt getting ready for them. It didnt even know they were there“ (142). Da diese Gleichgültigkeit von Zeit und Welt nun offensichtlich geworden ist, gibt es seiner Meinung nach in über die Zukunft nichts mehr nachzudenken, sondern nur noch eines, das kommen wird:
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Do you wish you would die? No. But I might wish I had died. When you’re alive you’ve always got that ahead of you. (142)
Zuletzt werde selbst der Tod zugrundegehen und so das absolute Ende allen Lebens markieren: „When we’re all gone at last then there’ll be nobody here but death and his days will be numbered too. He’ll be out in the road there with nothing to do and nobody to do it to. He’ll say: Where did everybody go? And that’s how it will be. What’s wrong with that?“ (145-46) Vater und Sohn haben, wie noch gezeigt wird, eine etwas weniger radikale Haltung zur Zeitlichkeit, doch auch ihre Gedanken an die Zukunft sind extrem kurzfristig und ragen teilweise nicht über die Gegenwart hinaus. In The Road erlaubt sich auf der Straße niemand Schwärmereien von zukünftigen Abenteuern und Hoffnungen auf kommende Erfahrungen, sondern sorgt sich nur um das Notwendigste: „Mostly he worried about their shoes. That and food“ (15). Gleichzeitig lassen die Charaktere auf der Straße auch ihre Vergangenheit zurück, und zwar buchstäblich, wie die folgende Szene zeigt: He’d carried his billfold about till it wore a cornershaped hole in his trousers. Then one day he sat by the roadside and took it out and went through the contents. Some money, credit cards. His driver’s license. A picture of his wife. He spread everything out on the blacktop. Like gaming cards. He pitched the sweatblackened piece of leather into the woods and sat holding the photograph. Then he laid it down in the road also and then he stood and they went on. (43-44)
Der Vater lässt in einer symbolischen Geste alle Gegenstände auf der Straße liegen, die mit seiner Vergangenheit zu tun haben, und bewegt sich dann auf der Straße von ihnen weg; dabei handelt es sich ebenso um nutzlose Reste einer unwiederbringlichen Zivilisation wie um persönliche Erinnerungsstücke. Später kommt ihm noch einmal in den Sinn, dass er zumindest das Foto von seiner Frau – die sich umgebracht hat, weil sie nach der Katastrophe nicht mehr weiterleben wollte (49) – hätte behalten können, um sie in ihrer beiden Leben präsent zu halten: „He thought about the picture in the road and he thought that he should have tried to keep her in their lives in some way but he didnt know how“ (46). Letztlich ist auch diese Erinnerung Teil einer Vergangenheit, die keinerlei Relevanz mehr für die Gegenwart hat, so wie auch eine Zukunft jenseits unmittelbarer Bedürfnisse irrelevant ist. Die Katastrophe hat nicht nur Raum und Örtlichkeit vernichtet, sondern auch Zeitlichkeit auf eine Ausdehnung reduziert, die kaum mehr als die Gegenwart umfasst:
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No lists of things to be done. The day providential to itself. The hour. There is no later. This is later. All things of grace and beauty such that one holds them to one’s heart have a common provenance in pain. Their birth in grief and ashes. So, he whispered to the sleeping boy. I have you. (46)
Der Vater weiß eigentlich um die Zukunftslosigkeit seiner Situation, hält allerdings an einer dem zuwiderlaufenden Anfangsimagination fest, da sein Sohn ihm einen Verweis über die Gegenwart hinaus bietet. Als der Sohn so krank ist, dass sein Vater mit seinem Tod rechnet, erscheint ihm dies wie das wirkliche Ende der Welt, die eigentlich längst untergegangen ist: „You have to stay near, he said. You have to be quick. So you can be with him. Hold him close. Last day of the earth“ (210). Obwohl es kein Später mehr gibt, bemühen sich die beiden Protagonisten, sich aus ihrem Hier und Jetzt zu befreien, und vor allem der Vater scheint zunächst seinem Sohn eine Perspektive bieten zu wollen, aus der die Welt als mehr erscheint als sie ist. Hier zeigt sich die Anfangsimagination, die in The Road untrennbar mit der Straße verknüpft ist: Auch wenn die Welt auf das Mindeste reduziert ist, weigern sich Vater und Sohn, sich damit zufriedenzugeben, und kämpfen nicht nur ums Überleben, sondern auch um einen Grund dafür. Die Straße mag letztlich nur die sinnlose Verbindung von Nichts und Nichts sein, „[t]he black shape of it running from dark to dark“ (220), doch ist sie auch der letzte Ort, der eine Vorstellung des Anfangs in dieser Endzeit möglich macht. Die beiden sind nicht nur auf der Straße unterwegs, sondern haben ein Ziel: Are we going to die? Sometime. Not now. And we’re still going south. Yes. So we’ll be warm. Yes. (9)
Dieses Motto – „We have to keep moving. We have to keep heading south“ (36) – setzen Vater und Sohn einer Welt entgegen, in der für Anfänge und Ziele kein Platz mehr zu sein scheint, da sie jegliches Potential verloren hat: „So little of promise in that country“ (74); „The country was looted, ransacked, ravaged. Rifled of every crumb“ (109). Immer wieder steht dieser Erkenntnis in The Road der Aufruf zur Bewegung gegenüber, der die Stagnation einmal mehr aufschiebt: „Rich lands at one time. No sign of life anywhere. It was no country that he knew. The names of the towns or the rivers. Come on, he said. We have to go“
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(171). Diese Bewegung auf der Straße ist Teil des Überlebens für die Charaktere, da sie zumindest einen kurzfristigen erneuten Anfang darstellt, wo das Ende in Sicht ist: He’d put a handful of dried raisins in a cloth in his pocket and at noon they sat in the dead grass by the side of the road and ate them. The boy looked at him. That’s all there is, isnt it? he said. Yes. Are we going to die now? No. What are we going to do? We’re going to drink some water. Then we’re going to keep going down the road. Okay. (74)
Der Sinn dieser beharrlichen Reise nach Süden wird im Text allerdings immer wieder in Frage gestellt, da deutlich wird, dass sie bestenfalls unbegründete Hoffnung und einen konsequenzlosen Anfang bieten kann, der in der zerstörten Welt keine langfristigen Folgen mehr haben kann. „They ate well but they were still a long way from the coast. He knew that he was placing hopes where he’d no reason to. He hoped it would be brighter where for all he knew the world grew darker daily“ (180). Der Vater erhält das bedeutungsvolle Ziel der Reise allerdings trotz seiner Zweifel für den Sohn aufrecht: „He said that everything depended on reaching the coast, yet waking in the night he knew that all of this was empty and no substance to it. There was a good chance they would die in the mountains and that would be that“ (25). Er ist sich der Gefahr bewusst, dem Sohn etwas vorzumachen, an das er selbst nicht glaubt, und sieht sich sogar in einem Traum davor gewarnt: „[…] he could not enkindle in the heart of the child what was ashes in his own“ (130). Andererseits bringt er es nicht übers Herz, den Anfang, den der Süden verheißt, als Illusion zu entlarven: „The child had his own fantasies. How things would be in the south. Other children. He tried to keep a rein on this but his heart was not in it. Whose would be?“ (45-46) In diesen Passagen wird klar, dass die Menschlichkeit der beiden Charaktere in erheblichem Maße darin besteht, Anfänge in einer Welt zu imaginieren, die eigentlich nur aus Endlichkeit besteht, und sich dieser Anfangslosigkeit der Umgebung nicht hinzugeben – mitunter wider besseren Wissens. Der Sohn fordert vom Vater immer wieder eine Versicherung der eigenen Identität ein, indem er fragt, ob sie noch die Guten seien, was dann durch eine noch vagere Aussage über das Selbstverständnis der beiden ergänzt wird:
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We’re going to be okay, arent we Papa? Yes. We are. And nothing bad is going to happen to us. That’s right. Because we’re carrying the fire. Yes. Because we’re carrying the fire. (70)
Weder Vater noch Sohn erklären einander jemals, worin dieses Weitertragen des Feuers besteht und was genau es symbolisiert. Als der Sohn am Ende des Textes eine andere Person fragt, ob auch er das Feuer weitertrage, reagiert er so irritiert, wie es der Leser tun mag, der genauso wenig über die genaue Bedeutung dieses Bildes aufgeklärt wurde: How do I know you’re one of the good guys? You dont. You’ll have to take a shot. Are you carrying the fire? Am I what? Carrying the fire. You’re kind of weirded out, arent you? (238)
Eine konkrete Bedeutung der Selbstdefinition als gute Menschen, die das Feuer weitertragen, findet sich in dem Dialog, in dem sich Vater und Sohn versichern, nie Kannibalen zu werden: We wouldnt ever eat anybody, would we? No. Of course not. Even if we were starving? We’re starving now. You said we werent. I said we werent dying. I didnt say we werent starving. But we wouldnt. No. We wouldnt. No matter what. No. No matter what. Because we’re the good guys. Yes. And we’re carrying the fire. And we’re carrying the fire. Yes. Okay. (108-09)
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Dies deutet einerseits darauf hin, dass jegliche Moral sich in dieser Welt auf eine einzige Frage verdichtet hat, nämlich die des Kannibalismus, anhand derer über Gut und Böse entschieden wird, während andere Handlungen nicht mehr darüber ausschlaggebend sind, auch wenn sie es früher einmal gewesen sein mögen. Andererseits beinhaltet das Bild des Weitertragens des Feuers auch jene Haltung zur Anfänglichkeit, über die Menschlichkeit neben dieser Moral auch definiert werden könnte – in Anlehnung an Hannah Arendts Konzept der Natalität, die jeden Menschen buchstäblich zum geborenen Anfänger macht. 24 Indem besonders der Sohn an Ideen von sozialem Handeln in einer asozialen Welt festhält, beharrt er auf der Möglichkeit eines Neuanfangs einer menschlichen Gesellschaft nach ihrem eigentlichen Niedergang. Darin liegt auch seine harsche Reaktion begründet, als der Vater ihm sagt, er sei nicht derjenige, der sich um alles sorgen müsse: You’re not the one who has to worry about everything. The boy said something but he couldnt understand him. What? he said. He looked up, his wet and grimy face. Yes I am, he said. I am the one. (218)
An dieser Stelle wird deutlich, dass nicht der Vater dem Sohn eine Zukunftsperspektive geboten hat, sondern der Sohn dem Vater (und dem Leser). Das Feuer, das er weiterträgt, kann als Hoffnung als Konzept verstanden werden, das aufrechterhalten wird, obwohl alles dagegenspricht; der Sohn bewahrt in der Endzeit die Idee des Anfangs. Diese Beharrlichkeit in Bezug auf den Anfang wird sogar ausdrücklich als Definitionsmerkmal herangezogen: „This is what the good guys do. They keep trying. They dont give up“ (116). Jene Anfänglichkeit wird immer wieder durch die Erzählung in Zweifel gezogen, ohne sie jedoch jemals vollständig zu zerstören, so dass der Konflikt der Charaktere zwischen Hoffnung und Resignation auch für den Leser aufrechterhalten wird. Teilweise geschieht dies in ein und demselben Motiv im Text, beispielsweise wenn der Sohn auf einer Flöte spielt, die er später vom Leser unbemerkt wegwerfen wird: „After a while he fell back and after a while the man could hear him playing. A formless music for the age to come. Or perhaps the last music on earth called up from out of the ashes of its ruin“ (66). Auch der Sohn selbst denkt über die Sinnhaftigkeit der Reise nach und stellt sie dadurch in
24 Arendt beschreibt dies folgendermaßen: […] men are equipped for the logically par-
“
adoxical task of making a new beginning because they themselves are new beginnings and hence beginners, that the very capacity for beginning is rooted in natality, in the
”
fact that human beings appear in the world by virtue of birth (203).
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Frage, dass er sie in eine ausgedehntere Zeitlichkeit einordnet, als es die Welt eigentlich zulässt: The boy stood up and got his broom and put it over his shoulder. He looked at his father. What are our long term goals? he said. What? Our long term goals. Where did you hear that? I dont know. No, where did you? You said it. When? A long time ago. What was the answer? I dont know. Well. I dont either. Come on. It’s getting dark. (135)
Es ist bezeichnend, dass sich der Vater ebenso wenig an seine Frage nach ihren langfristigen Zielen erinnern kann wie der Sohn an die Antwort darauf. Die Frage wirkt wie ein absurdes Relikt aus einer anderen Zeit und einer anderen Zeitlichkeit, in der noch eine Perspektive möglich war, die über den immer bevorstehenden Tod durch Hunger, Kälte oder andere Menschen hinausging. Die Antwort auf diese Frage ist pragmatischer Art und besteht darin, die Bewegung nach Süden auf der Straße fortzusetzen. „Come on. It’s getting dark“ (135) erscheint wie die einzig angemessene Reaktion, da wirklich langfristige Pläne undenkbar sind. Auch hier machen die beiden wieder im Kleinen einen Anfang, wo große Anfänge absurd erscheinen. Dasselbe Phänomen der körperlichen Bewegung als Reaktion auf die Einsicht in die Endlichkeit zeigt sich auch, als die beiden einen Zug finden und aus dem Führerhaus auf die Welt blicken: After a while they just looked out through the silted glass to where the track curved away in the waste of weeds. If they saw different worlds what they knew was the same. That the train would sit there slowly decomposing for all eternity and that no train would ever run again. Can we go, Papa? Yes. Of course we can. (152)
In diesen Szenen ist deshalb noch dieser minimale Anfang in der Bewegung auf der Straße möglich, weil diese das vorgegebene Ziel der Küste im Süden hat, in
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das die beiden ihre Hoffnung setzen. Es ist umso bemerkenswerter, dass diese beharrliche Anfänglichkeit aber auch dann nicht verschwindet, als Vater und Sohn die Küste tatsächlich erreichen und nichts vorfinden als „[o]ne vast salt sepulchre. Senseless. Senseless“ (187): Out there was the gray beach with the slow combers rolling dull and leaden and the distant sound of it. Like the desolation of some alien sea breaking on the shores of a world unheard of. Out on the tidal flats lay a tanker half careened. Beyond that the ocean vast and cold and shifting heavily like a slowly heaving vat of slag and then the gray squall line of ash. He looked at the boy. He could see the disappointment in his face. I’m sorry it’s not blue, he said. That’s okay, said the boy. (181)
Diese Enttäuschung verfliegt jedoch schnell, da die beiden darauf wieder mit Bewegung auf der Straße reagieren und weiterziehen. Auch hier verweist The Road auf das klassische Motiv des Straßentextes, das besonders in On the Road immer wieder auftaucht – das Ende des road trips durch Amerika am Meer, auf das nach einer gewissen Zeit der Anfang eines neuen road trips folgt, der die Bewegung umkehrt. Der Enthusiasmus, den Dean Moriarty an den Tag legt, wenn er den Pazifik am Ende seiner Reise sieht, kann hier als Kontrast der Enttäuschung verstanden werden, die Vater und Sohn angesichts des Ozeans empfinden, der ebenso grau und tot ist wie das Land, das sie durchquert haben, um dorthin zu gelangen. Anstatt dies jedoch als Zeichen zu werten, dass ihre Bewegung auf der Straße sinnlos und ihre Anfänge immer illusorisch waren, führen sie die Bewegung fort. Dem Sohn kommen zwar erneut Zweifel – „I dont know what we’re doing, he said“ (206) – doch führt diese Unsicherheit nicht zu Stagnation. Ganz im Gegenteil sind Vater und Sohn sogar auch nach der Enttäuschung in der Lage, einen Neuanfang zu imaginieren. „The father and son in the novel stay on the road less out of some hope of a better place, than out of a spiritual (which is to say optimistic beyond the bounds of reason) hope for a better space […]“ (Ellis 14). Die entsprechende Aussage bezieht sich nicht nur auf die Versöhnung nach dem vorangegangenen Streit, sondern kann als Anzeichen einer generellen Grundhaltung der Anfänglichkeit gelesen werden, die sie trotz der enttäuschenden Ankunft am Meer nicht aufgegeben haben: I’m sorry I yelled at you. He looked up. That’s okay, Papa. Let’s start over. Okay. (224-25)
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Der Vater hält selbst dann noch beharrlich an der Idee des Anfangs fest, als diese aufgrund seines schlechter werdenden körperlichen Zustandes immer mehr mit der Frage des täglichen Überlebens verknüpft wird: What’s the bravest thing you ever did? He spat into the road a bloody phlegm. Getting up this morning, he said. Really? No. Dont listen to me. Come on, let’s go. (229)
Wieder wird die Einsicht in die Endlichkeit durch einen Aufruf zur Bewegung abgelöst, doch geschieht dies für den Vater zum letzten Mal. Sein Sterben wird mit dem Ende der Bewegung verknüpft, und seine letzte Verortung jenseits der Straße bedeutet seinen Tod: „Here they camped and when he lay down he knew that he could go no further and that this was the place where he would die“ (233). Während er sich seiner eigenen Stagnation und ihrer Konsequenz bewusst ist, trägt er seinem Sohn auf, die Bewegung aufrechtzuerhalten: The man took his hand, wheezing. You need to go on, he said. I cant go with you. You need to keep going. You dont know what might be down the road. We were always lucky. You’ll be lucky again. You’ll see. Just go. It’s all right. I cant. It’s all right. This has been a long time coming. Now it’s here. Keep going south. Do everything the way we did it. (234)
Die Bewegung wird hier nicht mit einem Ziel verknüpft, sondern mit einer Richtung; die Anfänglichkeit und Hoffnung ist eine Eigenschaft der Straße, nicht des Ortes, an den sie führt. „You dont know what might be down the road“ (234) ist eine Aussage positiver Unsicherheit in einer Welt des sicheren Endes, und die weitere Bewegung des Sohnes auf der Straße ist auch eine Gegenbewegung zur Stagnation des Vaters am Ort seines Todes. Nach drei Tagen der Totenwache betritt der Sohn die Straße wieder, doch bevor er auf ihr weiterreisen kann, trifft er jenen Mann, den er fragen wird, ob auch er das Feuer weitertrage: „He stayed three days and then he walked out to the road and he looked down the road and he looked back the way they had come. Someone was coming“ (237). Der Rückblick auf den bereits zurückgelegten Weg wird hier zum Blick auf die Zukunft, denn der Mann, der auf den Sohn zukommt, wird ihn bei sich und seiner Gruppe aufnehmen – einer Frau und zwei Kindern. Der Abschied vom Vater endet mit dem Betreten der Straße und der Rückkehr zur Bewegung:
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He walked back into the woods and knelt beside his father. He was wrapped in a blanket as the man had promised and the boy didnt uncover him but he sat beside him and he was crying and he couldnt stop. He cried for a long time. I’ll talk to you every day, he whispered. And I wont forget. No matter what. Then he rose and turned and walked back out to the road. (240-41)
Mit dem Tod des Vaters und der Weiterreise des Sohnes auf der Straße endet The Road in Stagnation und Bewegung. Die postapokalyptische Welt des Textes erlaubt zwar keinen Neubeginn menschlicher Zivilisation, präsentiert aber auch nicht deren vollständiges Ende. Die Straße bleibt bis zuletzt der Ort des Anfangs, auch wenn dieser als ebenso beschädigt und fragwürdig begriffen werden muss wie die Straße selbst. Mehr als jedes andere Symbol im Text impliziert sie die Möglichkeit des Anfangs angesichts des Endes der Welt. In großem Maße verdichtet sich diese Symbolik zwar in der Figur des Sohnes, der allein schon aufgrund seiner Jugend für eine gewisse Zukunftsorientierung stehen mag; diese Symbolik kommt aber vor allem deshalb zum Tragen, weil sie auf der Straße verortet ist und durch die Assoziation mit deren Bedeutungszusammenhang auch in dieser postapokalyptischen Welt glaubwürdig wird. Dies wird besonders in dieser Passage offensichtlich: The days sloughed past uncounted and uncalendared. Along the interstate in the distance long lines of charred and rusting cars. The raw rims of the wheels sitting in a stiff gray sludge of melted rubber, in blackened rings of wire. The incinerate corpses shrunk to the size of a child and propped on the bare springs of the seats. Ten thousand dreams ensepulchred within their crozzled hearts. They went on. Treading the dead world under like rats on a wheel. The nights dead still and deader black. So cold. They talked hardly at all. He coughed all the time and the boy watched him spitting blood. Slumping along. Filthy, ragged, hopeless. He’d stop and lean on the cart and the boy would go on and then stop and look back and he would raise his weeping eyes and see him standing there in the road looking back at him from some unimaginable future, glowing in that waste like a tabernacle. (230)
Der Sohn wird auf der Straße in jener undenkbaren Zukunft verortet, die es in dieser Welt eigentlich nicht geben kann. Der Vergleich mit einem leuchtenden Tabernakel inmitten des Ödlands verweist darauf, dass er der Ausgangspunkt des Neuanfangs dieser Welt sein könnte. Man muss nicht unbedingt einer religiösen Interpretation von The Road als „a document of the so-called Tribulation of Judeo-Christian mythology“ (Grindley 11) folgen, um diese Stellung anzuerkennen, die er im Text einnimmt, da diese nicht durch den Bedeutungs-
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zusammenhang des Christentums oder Judentums zustande kommt, sondern vielmehr über die Bildlichkeit der Straße als Anfangsort. Eine religiöse Interpretation mag sich anbieten, kann sich jedoch auf weitaus weniger Textstellen stützen als eine Interpretation des Motivs der Straße. Zudem finden sich im Text wiederholt Verweise darauf, dass auch religiöse Erlösungshoffnungen die Apokalypse nicht überstanden haben und genau in der Endzeit keinen Trost und Ausweg bieten, die sie eigentlich immer für sich beansprucht hatten: „It’s snowing, the boy said. He looked at the sky. A single gray flake sifting down. He caught it in his hand and watched it expire there like the last host of christendom“ (13). In der entzauberten, nackten Welt an ihrem Ende ist kein Platz für Religion, und dem Sohn fällt es am Ende leichter, mit seinem toten Vater zu sprechen als mit Gott: „He tried to talk to God but the best thing was to talk to his father and he did talk to him and he didnt forget“ (241). Wenn der Sohn an einer Stelle – mitsamt seinem erleuchteten Zelt – als letzte Unternehmung am Ende der Welt beschrieben wird, die allen Umständen zu widersprechen scheint, dann wirkt diese Anfangsrhetorik deshalb kohärent mit der Welt des Textes, weil sie im Kontext der Reise auf der Straße präsentiert wird, und nicht weil sie etwa Teil einer religiösen Erlösungserzählung wäre: „When he rose and turned to go back the tarp was lit from within where the boy had wakened. Sited there in the darkness the frail blue shape of it looked like the pitch of some last venture at the edge of the world. Something all but unaccountable. And so it was“ (41). Auch am Ende der Welt gibt sich Gott nicht zu erkennen, sondern stattdessen erleben die Charaktere eine säkulare Dekonstruktion der Welt, an deren Ende kein Schöpfungsakt zu erkennen ist, sondern nur die Teile, die keine Summe mehr ergeben: „Perhaps in the world’s destruction it would be possible at last to see how it was made. Oceans, mountains. The ponderous counterspectacle of things ceasing to be. The sweeping waste, hydroptic and coldly secular. The silence“ (230-31). Der letzte Absatz des Textes verweist auf diese frühere Kohärenz der Welt, indem ein letztes Mal das Motiv der Karte aufgegriffen wird: Once there were brook trout in the streams in the mountains. You could see them standing in the amber current where the white edges of their fins wimpled softly in the flow. They smelled of moss in your hand. Polished and muscular and torsional. On their backs were vermiculate patterns that were maps of the world in its becoming. Maps and mazes. Of a thing which could not be put back. Not be made right again. In the deep glens where they lived all things were older than man and they hummed of mystery. (241)
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Dieser Rückblick auf eine unwiederbringliche Welt vor der Katastrophe, die voller Leben und mystischem Gehalt ist, ist wie keine andere Passage in The Road von positiv belegten Begriffen geprägt, und im ganzen Roman findet sich kein größerer Bruch als zu diesem letzten Abschnitt. Diese Gegensätzlichkeit zieht den Anfang, den der Sohn nach dem Tod des Vaters auf der Straße macht, genau wie alle früheren Anfänge auf der Straße in Zweifel. Indem gezeigt wird, welche Welt verlorenging, wird verdeutlicht, dass keine dauerhafte Regeneration möglich sein wird. Die Szene verweist auf eine vormenschliche Welt, die sich dem Menschen bestenfalls durch ihre Repräsentation angedeutet hat, als unlesbare Karten auf den Rücken von Fischen, „maps of the world in its becoming“ (241).25 Dieses natürliche Werden der Welt wurde durch die Katastrophe beendet, „a thing which could not be put back. Not be made right again“ (241), und so sind alle Anfänge, die ein neues Werden bedingen würde, zum Scheitern verurteilt. The Road verweigert sich einem versöhnlichen Ende und behält die Erzählstrategie bis zuletzt bei, alle menschlichen Anfänge als vorläufig, kurzfristig und letztlich konsequenzlos darzustellen, da die Welt sich unumkehrbar jeglichem Werden verschlossen hat; gleichzeitig verweigert sich der Text auch einer fatalistischen Anfangslosigkeit selbst in dieser Welt, indem er die Idee von Moral und Menschlichkeit an das Konzept des Anfangs knüpft. Die Straße ist somit in The Road nicht einfach der Ort des Anfangs, sondern der Ort, an dem der Kampf um die Idee des Anfangs überhaupt ausgetragen wird, und an dem Anfänglichkeit zum zentralen, weil letzten Kriterium von Menschlichkeit überhaupt wird.
25 In seiner Studie Cormac McCarthy and the Writing of American Spaces nennt Andrew Estes diese lebendige Karte biozentrisch und kontrastiert sie mit der vorher genannten Straßenkarte, die den Gegenpol des Anthropozentrismus symbolisiert – jenes Phänomen, dass im menschlichen Denken und in menschlicher Repräsentation der Mensch im Mittelpunkt steht und auch das Nichtmenschliche vermenschlicht wird (vgl. 213-17).
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3.5
MARK Z. DANIELEWSKI, ONLY REVOLUTIONS
Auch Mark Z. Danielewskis Roman Only Revolutions,26 wie The Road im Jahr 2006 veröffentlicht, kann als postapokalyptischer Text gelesen werden, allerdings ist er gleichzeitig auch immer präapokalyptisch, denn er erzählt von einem Kreislauf von Schöpfung und Zerstörung der Welt. Dies geschieht im Rahmen einer Straßenerzählung, die aus zwei inhaltlichen Ebenen besteht: Einerseits sind die beiden Protagonisten – Sam und Hailey, ewig jung, da „allways sixteen“ (86) – in immer wechselnden Autos durch die USA unterwegs, werden vom Gesetz verfolgt und erleben eine Vielzahl von Abenteuern; andererseits sind die beiden ein kreatives und destruktives Götterpaar, das einen ewigen Kreislauf in Gang hält, in dem die Welt erschaffen und vernichtet wird. Ihre Reise beginnt und endet an einem Berg, ist aber über weite Strecken des Buches ein road trip, der Hailey und Sam durch viele Orte der USA führt. Die Straßenerzählung bietet das angemessene Genre für die Kernthemen des Textes: Sam und Hailey entwickeln sich von egozentrischen Individuen zu einem Liebespaar, dass sich mit einer ablehnenden Gesellschaft auseinandersetzen muss und in Bewegung und Geschwindigkeit Selbstbehauptung sucht, während beide Erkenntnis über sich selbst und die Welt erlangen. Die mystische Komponente liegt hier weniger in bestimmten Einsichten als in Sam und Hailey selbst, die ihrerseits als komplementäre Kräfte verstanden werden können, welche die Welt durch ihr Wechselspiel am Laufen halten. Die Straße ist zwar nicht der eigentliche Anfangsort des Textes, da diese Rolle dem statischen Berg zukommt, doch bietet sie über einen Großteil der Kapitel hinweg einen Ort für verschiedenste Anfänge, die Sam und Hailey selbst machen, indem sie sich auf der Straße in Bewegung setzen, die sie aber nicht nur als Individuen und als Paar betreffen, sondern immer auch Relevanz für die gesamte Welt haben. Das Wechselspiel der beiden Energien, die sich in Sam und Hailey als IchErzähler und Protagonisten manifestieren, präsentiert sich dem Leser schon in der Materialität des Buches.27 Wie schon in seinem Erstlingsroman House of
26 Bis dato sind zwei Aufsatzsammlungen zu Danielewskis Romanwerk veröffentlicht worden: Mark Z. Danielewski, 2011 herausgegeben von Joe Bray und Alison Gibbons, sowie der Konferenzband Revolutionary Leaves: The Fiction of Mark Z. Danielewski, 2012 von mir herausgegeben. 27 Alexander Starre hat mit Metamedia: American Book Fictions and Literary Print Culture after Digitization (2015) eine überaus einsichtsreiche Studie jener Ästhetik der Metamedialität vorgelegt, für die Danielewski in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur stilprägend war und ist.
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Leaves (2000) nutzt Danielewski typographische und visuelle Textelemente, die integrale Bestandteile der Erzählung sind (die hier aber nur beschrieben und nicht in Zitaten repliziert werden können). Das Buch selbst hat zwei Anfänge: Jede Erzählung nimmt jeweils die obere Hälfte der Seite ein, so dass auf der ersten Seite von Sams Erzählung die letzte Seite von Haileys Erzählung auf dem Kopf steht. Jede Erzählung umfasst 360 Seiten, also die 360 Grad eines vollständigen Kreises, und ist in Abschnitte von jeweils acht Seiten eingeteilt, nach denen der Leser jeweils das Buch drehen und somit die Erzählung wechseln soll, um dieselbe Geschichte ein zweites Mal zu lesen, nur aus anderer Perspektive und mit teilweise bedeutenden Unterschieden (und bedeutenden Parallelen). Die Initiale dieser Kapitel formen die Worte SAMANDHAILEY bzw. HAILEYANDSAM. Die Zahl acht als strukturierendes Element verweist auf zwei verbundene Kreise sowie (um 90 Grad gedreht) auf das mathematische Zeichen für Unendlichkeit, wodurch deutlich gemacht wird, dass Only Revolutions die verbundene Erzählung zweier untrennbarer Kreisläufe ist, die sich unendlich fortsetzen und weder Anfang noch Ende haben. Dies wird auch durch die Verwendung von Farben betont. Jeder Buchstabe O und jede Ziffer Null ist in Sams Text grün gedruckt, in Haileys Text golden. Diese Kreise sind auf inhaltlicher Ebene verbunden, da Hailey „Gold eyes with flecks of green“ (S7)28 und Sam „Green eyes with flecks of gold“ (H7) hat, sie also jeweils Spuren des anderen in sich tragen. Ebenso verbindet der Titel die Gegensätze zweier verbundener, anfangsloser Kreisläufe, indem der radikale Bruch der Revolution lakonisch relativiert wird. Es gibt zwar immer wieder Anfänge, doch sind es insgesamt immer dieselben Anfänge, da sich die Geschichte wiederholt, und gleichzeitig handelt es sich dabei um Revolutionen, so dass sie keineswegs als unbedeutend abgetan werden können. ‚Revolution‘ bedeutet hier im Wortsinn auch ‚Drehung‘, und damit sind nicht nur die zahllosen Referenzen auf Kreise und Drehungen im Text gemeint, sondern auch die Bewegung, die der Leser selbst während der Lektüre durchführt. Die Zahlensymbolik durchzieht den Text auf weiteren Ebenen: Jede Seite umfasst 360 Wörter und 36 Zeilen im Haupttext. Als „Volume“ wird auf der Titelseite „0:360:∞“ angegeben. Die Seitenzahlen sind buchstäblich in Bewegung; wie ein Daumenkino drehen sich beide Seitenzahlen, jeweils in einem Kreis gedruckt, in einem größeren Kreis umeinander, der somit nicht nur eine ansteigende Zählung beinhaltet, sondern auch einen Countdown zum Ende des Textes.
28 Diese Analyse wählt Haileys Erzählung als Grundlage und ergänzt diese dann durch Sams Erzählung, wo diese in bedeutsamer Weise eine Abweichung oder Ergänzung darstellt. Die jeweilige Quelle wird durch ein H bzw. S vor der Seitenzahl angegeben.
236 | Stadt und Straße
Nicht alle Textteile folgen allerdings dieser Struktur der Kreisbewegung. Der Haupttext wird von einer Spalte begleitet, für die die Bezeichnung history gutter üblich geworden ist: Sie enthält eine Anzahl an historischen Verweisen in Form von Ereignissen und Zitaten, die zwar ihren Schwerpunkt auf amerikanischer Geschichte haben, letztlich allerdings global sind. Sams history gutter beginnt 1863, Haileys 1963, wobei Sams Spalte dort endet, wo Haileys beginnt, während ihre bis ins Jahr 2063 fortläuft – nach dem Publikationsjahr des Romans bleibt sie leer. Der Mittelpunkt dieser linearen Zeitlinie ist die Ermordung John F. Kennedys, der somit besondere Bedeutung zukommt, auch wenn diese nicht in direktem Bezug zum Haupttext steht. Das history gutter beeinflusst den Haupttext zwar oftmals, indem es ein semantisches Feld vorgibt, aus dem sich der Text bedient: Ein Beispiel hierfür sind etwa Haileys Worte „My Karmann Ghia burning hot. Air jelly. Fumey. That’s me. Kerosene. Gasoline. Fuel for this trip“ (H66), die nicht nur ihr Auto beschreiben, sondern auch mit dem Verweis auf Napalm Bezug auf den Vietnamkrieg nehmen, der das history gutter auf diesen Seiten prägt; parallel dazu erwähnt Sam „Chloropicrin with a dash of Dichloroethylsulphide“ (S69), während sein history gutter hauptsächlich den ersten Weltkrieg und den Einsatz von Giftgas thematisiert. Dennoch bildet das history gutter mehr ein Hintergrundrauschen für den Haupttext als eine dominante Struktur. Die zirkuläre Bewegung von Sam und Hailey bedient sich bei dieser linearen Zeitlichkeit, ohne sich von ihr vereinnahmen zu lassen. Somit ist die Ermordung Kennedys einerseits der zentrale Punkt des Romans, um den er sich buchstäblich dreht, da der 22. November 1963 der einzige Tag ist, der in beiden history gutters erwähnt wird; andererseits gibt es keine Überschneidung oder Gemeinsamkeit in der Beschreibung, sondern nur einen direkten Anschluss an einer klaren Schnittstelle. Man kann Kennedys Ermordung als traumatischen und fundamentalen Wendepunkt der amerikanischen und globalen Geschichte interpretieren, allerdings sollte dies für den Haupttext auch nicht überbewertet werden. Auch dieses Ereignis reiht sich letztlich in die lange Zeitlinie von 200 Jahren ein, in denen Sportergebnisse ebenso enthalten sind wie Geschwindigkeitsrekorde (die auf Sam und Haileys eigene Geschwindigkeit auf der Straße verweisen), so dass auch diese historische Begebenheit keinen großen Rahmen für den Haupttext bildet. Ebenso wenig ist dieser Rahmen rein national. Sam und Hailey sind zwar auf einem uramerikanischen road trip, verweisen dabei aber ständig auf Globalität, während sie sich jedem sozialen Gefüge (und somit auch dem Nationalstaat) verweigern. Nicht umsonst sind ihre Farben Grün und Gold die Komplementärfarben zum Rot und Blau der amerikanischen Flagge. Sam und Hailey existieren außerhalb dieser einschränkenden Kategorien und bleiben dabei auch in ihrer eigenen Zeitlichkeit, die als
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ständige Gegenwart verstanden werden kann, welche vom Leser in seiner linearen Zeitlichkeit nicht greifbar ist, da sie ihm immer einen Schritt voraus sind und somit ungreifbar bleiben. Sie selbst äußern sich dahingehend in komplementären Sätzen: „Me & Sam allways around. Ever here“ (H161) / „Me & Hailey allways around. Ever now“ (S161). Das Buch enthält nicht umsonst am jeweiligen Ende den Vermerk „Expiration date: now“ und ist immer im Präsens geschrieben, während das Epigraph „You were there“ den Leser fast höhnisch verdeutlicht, dass er es im Buch mit einer Vergangenheit zu tun hat, die er nie als Gegenwart erleben kann. Der vollständige Titel des Romans lautet demnach auch „Mark Z. Danielewski’s Only Revolutions by Sam“ bzw. „[…] by Hailey“ mit dem in der Titelei angegebenen Untertitel „Only Revolutions: The Democracy of Two, Set Out & Chronologically Arranged“. Die Geschichte wird somit von Sam und Hailey erzählt, ist allerdings von einer anderen narrativen Instanz chronologisch arrangiert worden, die nicht unbedingt mit dem Autor gleichzusetzen ist. Diese Vermittlung deutet darauf hin, dass Sam und Haileys Geschichte eine Übersetzung in eine Zeitlichkeit erfahren hat, die dem Leser zugänglich ist; so wie ein Text durch die Übersetzung in die eigene Sprache seine Fremdheit verliert, wird dieser Text erst durch die Anpassung an die Zeitlichkeit des Lesers verständlich. Dabei bleibt allerdings der Anspruch der Gleichzeitigkeit erhalten, der den Leser daran erinnert, dass er den Text eigentlich nicht so lesen kann, wie er gelesen werden sollte. Der Leser ist an die Linearität des Lesens gebunden, während der Text durch seine Typographie eigentlich eine gleichzeitige Lektüre des history gutter und des Haupttexts einfordert, und zwar nicht nur des Haupttextes auf einer Seite, sondern immer auch der gegenüberliegenden Seite und der parallelen Erzählung in ihrer unteren Hälfte, die oftmals bedeutsame Querverbindungen enthält, welche linear gesehen über hunderte Seiten hinweg gemacht werden, die allerdings auf derselben Seite gedruckt sind. Der Leser muss durch die Umstände des Leseprozesses unweigerlich an der Zeitlichkeit des Buches scheitern und bekommt bestenfalls eine für ihn teilweise verfügbare Variante des eigentlichen Textes, so wie eine sprachliche Übersetzung immer nur eine Annäherung an das Original sein kann. Er ist der ständigen Gegenwart von Sam und Hailey – ihrem Präsens und ihrer Präsenz – immer einen Schritt hinterher, so dass er sie nie greifen kann: „O the humanity! Along with the rest of the Pitiless trying to pin US down. And I’m ever Now“ (H118). Dies ist eine mögliche Interpretation der Figur The Creep, die Sam und Hailey mit einer Schlinge – „the Nóose“ – vergeblich zu binden versucht. Sie verstehen ihn als „the peril pursuing US, fast against our trip, a reversing at hand gathering to control, hold and disband US“ (H139). Sam und Hailey befreien sich allerdings aus dieser Schlinge, weil sie gemeinsam nicht greifbar sind: „The Nóose is never big enough for two“ (OR
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H275). The Creep kann so als der Leser verstanden werden, der beim Versuch scheitert, beide gemeinsam festzusetzen und zu begreifen; sein Geist (griechisch nóos) ist nicht in der Lage, diese Gleichzeitigkeit zu beherrschen. (Hailey hingegen kann, in einem Bezug auf Walt Whitman und Yogi Berra, an einer Weggabelung beide Wege einschlagen: „I’m too multiple to feel. A fork ahead. I take both“ (H9).) Sein Name ist lila gedruckt, die Verbindung beider Komplementärfarben von Sam und Hailey, und somit ihr gemeinsamer Gegenpart und Widersacher. Die Daten des history gutter sind ebenfalls in seiner Farbe gedruckt, und sein Bereich ist somit die Linearität, nicht die immer gegenwärtige Zirkularität von Sam und Hailey. Die Straßenerzählung bietet für diesen Kampf auch auf inhaltlicher Ebene die angemessene Form, da sie jene Bewegung beinhaltet, die der Leser nie vollständig nachvollziehen kann. Als The Creep kann er sich im Gegensatz zu Sam und Haileys rasender Geschwindigkeit nur kriechend langsam fortbewegen, und für ihn sind sie immer schon „allready gonegoing“ (H33) /„allready gogone“ (S33). Somit ist die Anfänglichkeit der Straße in Only Revolutions für den Leser vor allem Vorläufigkeit, die stets verändert werden und von Neuem abgelöst werden kann. Allein in der Dopplung jeder Erzählung wird diese Vorläufigkeit deutlich, die sich nie zu Gewissheit festigen kann; beide Versionen bleiben gültig, selbst wo sie einander widersprechen. Diese Dopplung ist auch räumlicher Natur, da sich Hailey und Sam zwar gemeinsam auf der Straße fortzubewegen scheinen, sich aber dabei auch gleichzeitig an unterschiedlichen Orten in den USA befinden. Only Revolutions liefert selbst ein humoristisches Bild für diese Dopplung, indem es in Bezug auf Sam und Hailey auf die eigentlich unmögliche Lösung des alten Problems verweist, dass ein Marmeladenbrot immer auf die bestrichene Seite zu fallen scheint: „Because wherever toast drops we’re both. Jam Down. Jam Up“ (H191). Diese Beweglichkeit, die sich auf allen Ebenen des Textes offenbart, beinhaltet einerseits einen Kreislauf aus Schöpfung und Zerstörung, ist andererseits aber einer deutlichen entropischen Tendenz unterworfen. Beide Erzählungen beginnen mit einer Beschwörungsformel, mit der Sam und Hailey die Welt von Neuem betreten und sie gleichzeitig neu erschaffen: „Samsara! Samarra! Grand! I can walk away from anything“ (H1) / „Haloes! Haleskarth! Contraband! I can walk away from anything“ (S1). Die Anfangsbuchstaben der ersten Worte verweisen auf den jeweiligen Gegenpart, auch wenn dieser erst später hinzukommt. Die Welt ist von hoher Energie geprägt und voller Leben, was sich typographisch darin äußert, dass die Namen von Lebewesen – Pflanzen in Haileys Text, Tiere in Sams – fett gedruckt sind. Sam und Hailey begegnen einander und begeben sich auf den road trip, auf dem sie sich einander immer mehr nähern und
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ihren anfänglichen Egoismus ablegen. Im mittleren Kapitel, das fast ausschließlich aus einem Dialog zwischen den beiden besteht, sind sie einander am nächsten, und die mittlere Doppelseite ist eine perfekte Spiegelung beider Texte. Diese Annäherung vollzieht der Leser materiell, indem er in seiner Lektüre die beiden Lesezeichen in den jeweiligen Farben der Charaktere fortbewegt, ohne dass sie sich allerdings jemals auf derselben Seite treffen würden. Sam und Hailey bleiben immer ein Paar, ohne jemals Eins zu werden. Nach diesem Wendepunkt beginnt die Gegenbewegung, die in der Trennung durch den Tod des jeweils anderen gipfeln wird, und ab der Mitte des Textes beginnt die Zerstörung der Welt. Die fettgedruckten Namen von Pflanzen und Tieren verblassen zunehmend, und sie werden stets nur mit Verben belegt, die Synonyme von „sterben“ sind. Diese Tendenz war allerdings von Anfang an Teil des Textes, da der Schriftgrad ab der ersten Seite immer kleiner wird und das Zeilenverhältnis stetig schrumpft: Auf Seite 1 hat die obere Texthälfte 22 Zeilen, die untere 14, auf Seite 360 ist es genau umgekehrt. Erst der komplette Neuanfang des Lesers gibt dem Roman wieder die Energie zurück, die er im Verlauf wieder verlieren wird; man könnte das Drehen der Seiten mit dem Aufziehen einer Uhr vergleichen, das den Roman am Laufen hält, bis das Ende unausweichlich ist und nur einen grundlegender Anfang, die Bewegung von Seite 360 auf Seite 1, der Erzählung wieder Energie zuführen kann. Only Revolutions ist somit eine Straßenerzählung, die dem Leser nicht nur Bewegung beschreibt und vermittelt, sondern sie ihm selbst abverlangt. Der Leser ist so einerseits der Beobachter, der immer ein wenig zu spät kommt, um die Gegenwart des Textes einzuholen, der aber gleichzeitig den Text wirklich am Laufen hält. Ohne den Motor des Lesers käme der Roman nicht voran, und so wird der Leser in einem Maße in den road trip einbezogen, wie es in keiner anderen Straßenerzählung der Fall ist. Dies beinhaltet auch eine Teilnahme an der Anfänglichkeit der Straße. Der Leser muss alle acht Seiten einen Anfang vollziehen, der immer schon gemacht ist; die Typographie stellt ihn auf jeder Seite immer wieder vor die Frage, wo sein Leseprozess anfangen soll, und jeder Anfang, den der Leser macht, verhindert andere Anfangsmöglichkeiten und verwirft andere Lesarten des Buches. Indem der Anfang und das Anfangen stark in den Vordergrund rücken, wird dem Leser seine Beteiligung am Text bewusst, da er eindeutig nicht nur passiver Rezipient einer vorgeformten, schriftlich vermittelten Welt ist, sondern aktiv zur Erschaffung dieser Welt beiträgt. Only Revolutions thematisiert so über seine typographische Form den Leseprozess im allgemeinen, indem es eine Beteiligung verdeutlicht, die in den meisten anderen Texten versteckt bleibt. Die Straße als Anfangsort ist für dieses Projekt deshalb so geeignet, weil sie Bilder von Bewegung, Befreiung und Individualität vereint,
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die nicht nur Bezug zu den Protagonisten des Textes haben, sondern auch zum Rezipienten des Textes, da sie auch als Kommentare zu seinem Leseprozess verstanden werden können. Welche Anfänge finden sich aber in der Erzählung selbst, und wie wird das Bild der Straße als Anfangsort konstruiert, über das der Leser seine eigene verzögerte Beteiligung am Text erfährt? Der tatsächliche Textanfang, nach der bereits zitierten Beschwörungsformel, thematisiert selbst das Thema des Anfangs. Bei der ersten Lektüre scheint es hier um den Ursprung zu gehen, doch bei der zweiten Lektüre entpuppt sich dieser als Neuanfang, der den Kreislauf immer wieder beginnt: „I leap free this spring. On fire. How my hair curls. I’ll destroy the world. That’s all. Big ruin all around. With a wiggle. With a waggle. A spin. Allmighty sixteen and freeeeee. Rebounding on bare feet“ (H1). Haileys Auftritt ist nicht nur eine Befreiung, sondern auch eine Rückkehr, und die Wortwahl in dieser Passage zeigt bereits deutlich, dass dieser Kreislauf das zentrale Motiv des Textes sein wird. Der Satz „I’m ever so unbegun“ (H/S21), der sich in beiden Erzählungen findet, beschreibt ihre Existenzweise: Sie sind stets unangefangen, immer Potential, weder Anfang noch Ende eines linearen Prozesses, sondern immer die Bewegung zwischen diesen Polen. Wie auch Sam wird Hailey aber zunächst als destruktive Kraft eingeführt, welche die Welt zerstören will und sich selbst in einer Position absoluter Freiheit befindet: „You’ve nothing to lose. Go ahead. Have it all“ (H1). Dieser Anfang ist der Anfang der Zerstörung, nicht der Schöpfung, wie die davon betroffenen Lebewesen bemerken: „You’re our end, Cougars perrfel. By my hand Fire Ants & Badgers feud. Glaciers move. That’s a beginning“ (S2). Dieser Anfang wird von Sam und Hailey gemacht; sie sind die aktiven Auslöser, indem sie sich daran machen, den Berg zu verlassen: „I start the ball rolling by wandering off“ (H3). Beide sind anfangs extrem selbstbezogen: „I will sacrifice nothing. For there are no conflicts. Except me. And there’s only one transgression. Me“ (H3). Gleichzeitig scheinen sie auch den jeweils anderen zu vermissen, ohne darum genau zu wissen: „Terribly allone“ (H4). Die Zerstörung der Welt basiert auf einer egozentrischen Indifferenz, wird aber auch als Geschenk bezeichnet, das durch einen Kuss vollzogen wird: „My obliteration is the ultimate gift. […] I don’t give a shit. I’ll nevernomore the World with a smooch“ (H6). Der destruktive Impuls der beiden wird allerdings dadurch unterdrückt, dass sie einander begegnen und beschließen, die Zerstörung der Welt auf später zu verschieben. Dabei deutet sich in der Dopplung der Erzählung an, dass Sam und Hailey keineswegs nur eine vorhandene Welt zerstören, sondern diese auch aktiv geschaffen haben, indem sie einen Kreislauf bilden: „I’m The World which The Mountain descends from and I laugh because it tickles“ (H4) / „I’m The Moun-
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tain which The World climbs down from and I laugh because it tickles“ (S4). Sam deutet an, dass diese Schöpfung auf einem wiederholten Selbstopfer basieren könnte: „Only my exits let any exist“ (S20). Ein anderes Bild vergleicht beide mit Himmel und Erde und greift so auf den biblischen Schöpfungsanfang zurück: „I’m his land torching a broken sky. I’m his world“ (H6) / „I stand and scorch her falling sky. I’m her world“ (S6). Die beiden stellen sich einander vor, indem sie die erste von vielen grammatischen Umstellungen benutzen, die ähnliche Sätze variieren und so betonen, dass Sam und Hailey eng verbunden, aber nicht eins sind: „Hi. I’m Sam“ (H8) / „I’m Hailey. Hi“ (S8). (Später bezeichnen sie sich jeweils als „Just one side“ (H/S30) und können somit als zwei Seiten derselben Medaille begriffen werden.) Sam fügt seiner Vorstellung noch die Worte hinzu, von denen er selbst überrascht zu sein scheint, die aber dem Leser bei der zweiten Lektüre verständlich sind: „I strangely blurt: –I promise I’ll never leave you“ (S8). Zusammen beginnen die beiden ihren road trip, indem sie sich in Bewegung setzen, auch wenn sie noch kein Auto zur Verfügung haben: „So I gather it all. Especially speed“ (H10). Hailey betont Geschwindigkeit und Mobilität und gibt so am Anfang die Rahmenbedingungen der kommenden Reise preis: „All around begging me stay put. Bursting for me. But I just keep rolling thrills“ (H11). Dabei ist bemerkenswert, dass nur der jeweils Andere in der Lage ist, diese Geschwindigkeit zu beschränken, nicht aber die Welt. Dies wird deutlich, als Hailey sich darüber wundert, dass sie sich Sam anschließt: Following a foaming idiot blurting at large roaming animals. How him? On this walk? Is this who I wander for? Ludicrous. But I follow. Slower if now Samtied. Swinging wide for still untried crossroads with cairns left for encounters never kept. But met here. Regret begets every alternative. (H21)
Indem sie sich auf die Reise begeben, die bis zum Verlassen des Berges noch zu Fuß stattfindet, präsentieren sie dem Leser diese „untried crossroads“ (H21) als das Potential, das in der Bewegung steckt, und in dem jeder Anfang machbar ist. Gleichzeitig sind die beiden die Reise; Hailey beschreibt sich selbst mit „I’m every trail’s switch“ (H23). Sams Worte „Endlessly misplaced“ (S23) tragen dazu bei, dass der road trip in Only Revolutions von konkreten Orten abstrahiert und so zum symbolischen Spiel aus Möglichkeit und Bewegung wird. Sam und Hailey übertragen ihre Energie auf die Welt, indem sie sich in Bewegung setzen, und vor allem, wo sie sich auf die Straße begeben, findet dieses Potential seinen Ort und für den Leser das angemessene Symbol für Veränderung und Neuanfang.
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Während Sam und Hailey den Berg verlassen, erfahren sie die Welt als erneuert, wobei sie im Zentrum dieser Entwicklung stehen und impliziert wird, dass sie von ihnen verursacht wird: „Because allways all around me the World rebegins“ (H34). Anstatt diese Welt zu zerstören, ziehen sie gemeinsame Bewegung vor: „[…] that Over Rated destructive role I lazily postpone with each of my own steering steps racing for Sam […]“ (H35). Die dazugehörige Aussage „Is it ever too late to destroy the World?“ (S46), mit der dieser Aufschub gerechtfertigt wird, wird durch die Typographie des Buches erweitert, denn in der unteren Hälfte des Buches findet sich der Satz „It is never too late to keep a World“ (H315), wodurch die Entwicklung der Erzählung grob aufgezeigt wird: Potential und Absicht zur Zerstörung der lebenden Welt wandeln sich, so dass die sterbende Welt bewahrt werden soll. Sam und Hailey legen ihren jeweiligen Egozentrismus ab und ersetzen ihn durch eine Selbstlosigkeit zugunsten des anderen, die sich dann auf die Welt überträgt, als dieser andere nach der Rückkehr zum Berg stirbt. Diese Bewegung von Zerstörung zu Erneuerung wird bereits früh in der Kommunikation der Lebewesen mit Sam und Hailey angedeutet, welche sie auf ihre Beziehung zur Welt hinweisen, die sich vor allem in Bezug auf Anfang und Ende definiert: „You cain’t own what you cain’t end“ (H26) / „You’ll never own what you don’t start“ (S26). Besonders ein Ort wird zum Schauplatz dieses Wechselspiels, an dem sich mehrere Symbole des Textes verdichten und der somit zum Ort des Anfangs wie auch des Endes wird: Kurz bevor Sam und Hailey den Berg verlassen, finden sie an der selben Stelle die sterblichen Überreste jener Lebewesen, mit denen sie paarweise assoziiert werden: „My Silver Birch! Sad lasting. At last. At least. Beside the carcass of a murdered beast […]“ (H41)/ „My Horse! At last. Unlasting. Sad corpse. Beside timber & rot, allso unnaturally cut“ (S41). Beide erkennen jeweils Pflanze und Tier wieder, obwohl diese vorher nicht erwähnt worden waren. Der zugehörige Anfang zu diesem Ende findet sich wieder in der unteren Hälfte der Seite, wo Hailey und Sam beim Aufstieg auf den Berg Baum und Pferd lebendig antreffen, sie aber zugunsten der anderen Person zurücklassen und somit lieber einen Teil ihres Selbst verleugnen, als einander aufzugeben: There upon burning crest, palms aflame, bark convalesced, my Silver Birch!, scowling upon my distress over this crumbling stuff, whickering with disgust, limbs free from such Fluff, offering me her strength, stretch and stand off. Which I refuse by holding onto Sam, so leaving behind all of me. (H320)
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Dieser Ort ist nicht nur der, an dem dieser Kreislauf aus Leben und Tod seinen Schnittpunkt auf der Buchseite findet, sondern auch der, an dem der road trip von Sam und Hailey seinen Anfang nimmt. Dort finden sie am Ende des fünften Kapitels das Auto vor, mit dem sie sich auf der Straße fortbewegen werden, wobei es sich dabei immer gleichzeitig um zwei verschiedene Autos handelt, die noch dazu bei jeder zukünftigen Erwähnung andere Modelle sein werden, so dass Hailey und Sam einerseits gemeinsam im selben Auto unterwegs sind, andererseits aber immer getrennt in immer verschiedenen Autos: „For now here, weirdly, where my chainsawed Green Ash died by Sam’s murdered ride waits a Shelby Mustang. Idling“ (H48) / „For now here, weirdly, where my butchered Horse died and Hailey’s betrayed timber lies waits a Ford 99 Racer. Idling“ (S48). Nicht nur die Straße wird so zum paradoxen Ort der Bewegung, sondern auch das Verkehrsmittel unterliegt der ständigen Veränderung, für die die Straße symbolisch steht. Der road trip ist somit auf allen Ebenen der Rahmen für Veränderung, Entwicklung und insgesamt für den Anfang. Diese Bewegung wird immer mit großer Geschwindigkeit assoziiert, durch welche die Energie und das Potential, das Sam und Hailey repräsentieren, ihre erzählerische Form finden: PedaltothePasPasMetal, gassing it, hitting it hard. I’m leaving the mountain. East. I am The East. Master of the Wheel. That’s me. Opening the carburetor. Powering turns. Accelerating more until I’m hardly touching the tar. My Oldsmobile Tornado flying. Sliding. Even widening the road. I am the road. And roar. Here I go. Here goes. Not I. Allways. Beat the bend, so uptight & low, Sam quails pitifully, trying hard to hold on to me. (H49)
„I am the road“ (H49) vereint erneut Straße und Individuum und deutet darauf hin, dass Hailey und Sam auf ihrem road trip nicht nur eine vorhandene Welt erfahren, sondern diese konstruieren und konstituieren. Diese Bewegung deutet zudem bereits den Umstand an, dass beide darin ihren Egozentrismus ablegen werden. Beide verweisen sowohl auf das Ich als auch auf das Nicht-Ich, die auf der Straße zusammenfinden, die somit in der Erzählung zu dem Ort wird, an dem diese Komplementarität ihren eigentlichen Anfang nimmt, auch wenn dieser am Berg bereits vorbereitet wurde. Dennoch befahren beide immer gleichzeitig dieselbe und verschiedene Straßen, die durch die Zeitebenen geformt zu sein scheinen, die das history gutter vorgibt: Sam beschreibt die Straße in Verbindung mit dem Jahr 1903 mit „Passing through Gettysburg. Chambersburg Pike to Taneytown Road. By Round Top“ (S50), während Hailey in Anlehnung an 1966 andere Begriffe verwendet: „Passing
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through Gettysburg. Route 30 East to 134“ (H50). Die Beschreibung „Endlessly misplaced“ (S23) trifft somit auch auf die Verortung der Erzählungen zu, da auch hier eine stete Dopplung vorhanden ist, die genau wie die zeitliche Dopplung eine vollständige räumliche Wahrnehmung unmöglich macht. Hier ist die Straße noch deutlicher als in anderen Straßentexten Ort der Bewegung, da sie sich selbst als Ort in Bewegung befindet und nicht nur den Ort für Bewegung bietet. Der Text oszilliert zeitlich wie räumlich zwischen zwei Zuständen, von denen keiner sich jemals als wirklicher als der andere entpuppt, sondern die dem Leser notwendigerweise eine Erfahrung jener Vorläufigkeit und Anfänglichkeit bieten, die sich im Bild der Straße verdichten. Zum Beispiel beschreiben sowohl Sam als auch Hailey den jeweils anderen als schlechten (weil unerfahrenen und vor allem langsamen) Fahrer: „Magnanimously I let him drive. He pales of course. The farmer’s first try. Clutch & conk. Sideways to windside. Unpardonably slow. Still this is a way to go“ (H52) / „Nobly I let her drive. She can allso crankstart. Her first try. Bump & jerk. Sidewind to wayside. Unbearably slow. Still this is allso a way to go“ (S52). Das eigene Fahren wird hingegen als die Grenzerfahrung und -überschreitung vermittelt, die in Straßentexten in verschiedener Form immer wieder auftaucht: „Back at the Wheel, burning rubber, my Pontiac GTO overturns limits supersonic. Unlimiting horizons. No horizons“ (H52). Ebenso genrekonform werden Bewegung und Geschwindigkeit auch hier zum Selbstzweck, der kein Ziel und keine Richtung braucht, „motorvating for rush, for fun“ (H122): „And allways fluent. –Where you going, Runaway? –Anywhere away“ (H58). Only Revolutions unterscheidet sich allerdings von anderen Straßentexten dadurch, dass dieser Bewegung immer eine stark mythische Komponente eigen ist, die sich nicht nur auf das Individuum und die Möglichkeit transzendentaler Erfahrung beschränkt, sondern vom Einzelnen abstrahiert und über die Geschichte zweier Personen auch die Geschichte der Welt erzählt. Es geht im Text nicht nur darum, dass Sam und Hailey die Welt erfahren und Anfänge in ihr machen, so wie es bei Kerouac, Steinbeck und Acker der Fall ist, sondern mehr noch darum, dass die Welt über Sam und Hailey selbst immer wieder ihren eigenen Anfang erfährt. Dieser Anfangsmythos wird über die Charaktere von Hailey und Sam erzählt, deren Rolle im Narrativ mit den Figuren in Göttersagen vergleichbar ist. Die Straße nimmt in dieser mythischen Erzählung eine zentrale Rolle ein, da dort jene Bewegung zustande kommt, die den Kreislauf des Lebens aufrechterhält, dessen Anfang und Ende sich am Berg vermischen und aufheben: „Move the World, faster, blast off and boogie“ (H78). In einem Text, dessen Kreisstruktur die Idee des Anfangs irrelevant zu machen scheint, wird die Straße zum Anfangsort, indem sie jene Energie bereitstellt, welche diese Kreisstruktur
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aufrechterhält; man kann sich die Erzählung wie ein Lasso vorstellen, das nur solange einen Ring bildet, wie es geschwungen wird, und dieser Schwung kommt im Text durch das Bild der Straße zustande. Die anderen Lebewesen im Text scheinen diesen Umstand zu verstehen und erklären Hailey gegenüber deshalb: „Without you Missy our World couldn’t spin“ (H156). Diese Bewegung als Bedingung der Existenz gilt auch für Sam und Hailey, auch wenn ihre Einsicht bis zu einem gewissen Grad noch ihrem gesteigerten Selbstbewusstsein der frühen Kapitel geschuldet sein mag: „Though thanks allone to me he exists“ (H65) / „Though thanks to me allone, she survives“ (S65). Gleichzeitig aber ist ihre Bewegung immer auch die Bewegung zum Tod, da sie nie dauerhaft aufrechterhalten werden kann und in der Gesamtstruktur des Textes durch die Rückkehr zum statischen Berg immer ihr Ende findet, bevor sie dort auch wieder ihren Anfang nimmt. Hailey und Sam sind zwar „Allways ongoing and going“ (H124), aber das Verb to go ist in Only Revolutions das bedeutendste Synonym für sterben, da jeder Tod, über den im history gutter berichtet wird, ausnahmslos mit diesem Ausdruck beschrieben wird. Sam und Haileys Bewegung erhält somit zwar den Kreislauf des Lebens in der Welt aufrecht, beinhaltet aber gleichzeitig das dafür nötige destruktive Element und immer eine entropische Tendenz zu Tod und Stillstand. Ihre Fahrt ist ein „carefree battling on melting tires“ (H121), ein spielerisches Spannungsverhältnis, das allerdings in seiner Geschwindigkeit eindeutig von seinem unausweichlichen Ende bedroht ist. Dies zeigt sich auch daran, dass die Honiggläser, die Sam und Hailey auf ihrer Reise ernähren, immer weniger werden und somit das Erlöschen der Energie verheißen. Die mythische Bewegung der Welt ist stets eng mit den jeweiligen Autos verbunden, in denen Sam und Hailey fahren: „The Buick Century Special rumbling on, stressing, progressing“ (H121) / „The DeSoto Six humbering on, extracurricular, vehicular“ (S121). Allerdings scheinen nur sie in der Lage zu sein, sich wirklich in Bewegung zu setzen, was in den folgenden beiden parallelen Passagen deutlich wird, in denen bedeutsamerweise Bewegung vor allem mit Anfänglichkeit verknüpft wird. Hailey und Sam beraten eine Gruppe von Teenagern in Sachen road trip: „More gathering round, torn Ts, distressed Jeans, lifting skuffling smiles for wheels, speed and miles of road. Them all want to go. –You can, I bin. –How we begin? –Just zing. But TEENERS wait on rot and afraid circle off to spend change on chocolate shakes“ (H128) / „More gathering round, shabby Wools, shredding Pants, lifting thin smiles for wheels, speed and miles of road. Them all want to go. –You can, Hailey glows. –How we start? –Just depart. But TEENS wait on worms and afraid circle off to counter change and burn one all the way with straws“ (S128). Besonders Sams Worte sind hier wichtig,
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da er den Stillstand der Jugendlichen als konservative Haltung interpretiert, indem er Haileys Worte „to spend change“ doppeldeutig nicht als Kleingeld versteht, sondern als Ablehnung von Veränderung, „to counter change“. Anfang, Bewegung, Veränderung und Revolution kommen also allein Sam und Hailey zu, da alle anderen Figuren im Buch entweder nicht zu Anfängen in der Lage sind oder diesen sogar aktiv entgegenstehen, und ihr road trip wird hier erneut als Motor der Welt vermittelt. Zur Mitte des Buches hin wird dieser road trip allerdings verlangsamt, da Sam und Hailey das Benzin ausgeht – „Gasoline diminishing“ (H138) / „Gasoline dwindling“ (S138) – und sie gezwungen sind anzuhalten: „We can’t go on“ (S/H144). Bezeichnenderweise führt sie das erzwungene Verlassen der Straße direkt in die Stadt, so dass auch in Only Revolutions die Dichotomie aufrechterhalten wird, die in anderen Straßentexten zwischen Stadt und Straße zu finden ist. Auch hier ist die Stadt der Ort des Stillstands, und auch wenn Hailey und Sam sich dort relativ gut mit Jobs in einem Restaurant durchschlagen, empfinden sie dies doch immer als temporäre Situation, die so bald wie möglich beendet werden muss, um den road trip fortzusetzen. Der Ort der Stadt ist einerseits eindeutig, andererseits vielfältig, denn es handelt sich dabei sowohl um St. Louis als auch um andere Städte: „Around here’s The Slo Drag. But that’s The Big City. London, Cairo, Berlin, Kiev. Baghdad, Dublin, Tokyo. Here’s to St. Louis!“ (H145) / „Lingering around’s The Drip Lag. But that’s The Big City. Lisbon, New Delhi, Shanghai. Amsterdam, Warsaw. Santiago, Budapest. Here’s to St. Louis!“ (S145) Beide Aufzählungen tragen so dazu bei, dass der Text als eine amerikanische und globale Erzählung wahrgenommen werden kann. Zudem ist ihnen gemein, dass sie die Stadt mit Langsamkeit verbinden, „The Slo Drag“ bzw. „The Drip Lag“. Sam und Hailey werden dort selbst verlangsamt: „Because I’m slower here“ (H168) / „Because I’m slowing here“ (S168). Ein Grund dafür ist, dass sie durch die Schichtarbeit in der Stadt getrennt werden und so nicht mehr die gemeinsame Bewegung ausführen können, die ihnen auf der Straße noch möglich war: „Where shifts must shift, drifting US apart. Hailey arriving when I’m leaving. Hailey leaving when I’m arriving“ (S169). Ihre Trennung manifestiert sich passend dazu im Verkehrsmittel, denn sie fahren nicht gemeinsam im Auto zur Arbeit, sondern jeweils allein auf demselben Motorrad: „Grinning allways to find me waiting, holding the Bike, reready to begin“ (H170) / „Glad at least to find Hailey waiting, holding the Bike, reready to start“ (S170). Indem sie das Auto gegen das Motorrad tauschen, ersetzen sie auch das Spiel der Anfänge auf der Straße gegen den viel banaleren, sich täglich wiederholenden Anfang ihrer jeweiligen Arbeitsschicht. Im Auto auf der Straße sind die Anfänge von Sam und Hailey buchstäblich weltbewegend; allein auf dem
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Motorrad in der Stadt ist jeder Anfang nur noch monotone Wiederholung. Aus diesem Grund ist auch der Moment der Übergabe des Motorrads so positiv besetzt, da er als Schnittstelle zwischen Sam und Hailey einen Rest der gemeinsamen Bewegung beinhaltet, die ihnen nun in der Stadt verwehrt bleibt. Allerdings beinhaltet auch der Stillstand positive Aspekte, wie das mittlere Kapitel von Only Revolutions zeigt, das als Auge des Sturms der textlichen Bewegung verstanden werden kann. In der Ruhe der Stadt, jenseits der Bewegung der Straße, sind sich Hailey und Sam trotz ihrer Trennung durch die Schichtarbeit näher als jemals zuvor im Text: „Allways new. And peaceful too. On a turnandtoss of bedding. Humming fan“ (H177). Diese Nähe zeigt sich im Aufbau dieser Mittelsektion. Beide Erzählungen sind fast perfekt gespiegelt und beinhalten mehr Dialog als jedes andere Kapitel des Textes. Die Bewegung der beiden Lesezeichen, durch die der Leser Annäherung und Entfernung von Sam und Hailey im Lektüreprozess markiert, findet hier ihr Zentrum, da nirgends weniger Seiten zwischen ihnen liegen – allerdings kommen sie nie auf derselben Seite zur Ruhe und durchbrechen somit auch bei größter Nähe nicht die Dopplung des Textes, obwohl sie selbst von Einheit sprechen: „Where we’re closest, where we touch, where we’re one. Somehow continuing on separately“ (H179). In dieser Intimität des Zentrums besprechen Sam und Hailey ihre Situation ewiger Wiederholung und Gleichzeitigkeit, aber auch die bevorstehende Trennung, die sich ab diesem Zeitpunkt unweigerlich vollziehen muss, nicht zuletzt um eine zukünftige Annäherung möglich zu machen und den Kreislauf aufrechtzuerhalten: –I want to let you go. Betray US. Give US Torment, Deaths and Futures. Then curl up with you through Reunions, Abuses and Departures. Too when you arrive. When you’re allone. When I go. When I’m allone. But allways beside you wherever we roam. –Now. –Yes. –O. –Again? –O. –Yes. –Except it’s allready going. –So sad. –Over with so fast. –Why does everything go that way except US? –Because were allways at once? –Everything and everyone’s? –Yes? –Now. –Yes? –Again? –O. –O. (H178)
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Hier weisen Sam und Hailey Einsicht in ihre Existenz und die Notwendigkeiten auf, die durch die Kreisstruktur bedingt sind. Sie wissen darum, dass sie sich trennen müssen, aber auch, dass sie sich immer wieder trennen müssen, um sich immer wieder neu begegnen zu können. Die letzten beiden Äußerungen im obigen Zitat, das doppelte „–O“, können als Bestätigung und Akzeptanz dieses Kreislaufs verstanden werden, wobei darin immer auch das Element der Überraschung vorhanden ist, so dass jede Wiederholung zugleich auch ein wirklicher Neuanfang ist. Nach diesem Zentrum des Textes äußert sich diese Veränderung in der Bewegung unmittelbar auf zwei verschiedene Weisen. Während betont wird, dass die Trennung von Sam und Hailey bevorsteht und sich immer deutlicher ausformen wird, beginnt auch die Welt sich zu verändern: Dangerously dear? Amaranths now wilting? On roundabouts. Thruways. Sam pedals, shifts. I just sit on the handle bars. And allready our schedules diverge, thanks to what our employers demand. Still without flacking & slacking we bumble back. Grmmmble, grooooan. Our time apart waxing. And both of US taxed by how this is so. (H185)
Sam und Hailey beginnen hier auf einem Fahrrad zaghaft erneut ihre gemeinsame Bewegung, die sie bald wieder auf die Straße führen wird, doch markiert sie ab dieser Stelle den Anfang der Zerstörung der Welt, wie Haileys Frage „Amaranths now wilting?“ anzeigt. Ab diesem Zeitpunkt werden Haileys Pflanzen und Sams Tiere nur noch mit Verben verknüpft, die Synonyme von sterben sind. Der Zyklus der Welt tritt somit in die Phase der Zerstörung ein: „Sycamores & Columbine collapse by the Liffey, Tigris, Spree, the Nile“ (H209). Sam und Hailey begeben sich wieder auf die Straße, um letztlich zum Berg zurückzukehren und den Kreislauf fortzuführen: „Yes, maybe it’s time to move on. Spare some our hurt before the World retakes what we allways elude when we run“ (H209). Diese Bewegung wird ausdrücklich als Bewegung aus der Stadt beschrieben: „Paid. Gassed up. Ready to roll. Our new Tucker Torpedo on the ball, all revysetjet to go from St. Louis. Tokyo, Dublin. Baghdad, Kiev. Berlin, Cairo. London. Every city. Paired. Air brisker. Wishes riskier. Chasing US to our ages“ (S216). Nachdem Sam und Hailey ihren road trip wieder aufnehmen und so die zweite Hälfte des Kreislaufs beginnen, wird Only Revolutions noch deutlicher als vorher zum Straßentext, und die darauffolgenden Kapitel befassen sich mehr als alle anderen mit der Bewegung auf der Straße: Away we go. Speeding for all we pass and refuse to slow down for. On our own. Top popped, bashing on topfuel and grit. We’re big engines without brakes. Outracing faster
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still roaring to astound. Catch our blur. We sure whirr. By Chokia’s grave labor. Dried hard. Wrecking balls, back hoes. Rusted cranes. Pin Oak falling. Everyone wants the Dream but we give it. Four lanes. Eight lanes. Only one way about it. Sam & me with nothing at all, overtaking every onramp & merge. Punch it & roll. Y’all! (H217)
Die hohe Geschwindigkeit in diesen Passagen entspricht einer Distanzierung von der Welt: Sam und Hailey rasen an allem vorbei und entziehen sich somit jeglicher Bindung, und ihre Bewegung nach dem Verlassen der Stadt deutet von Anfang an darauf hin, dass sie sich nun von der Welt und von einander entfernen werden, so wie sie sich in der ersten Hälfte der Welt und einander genähert haben. Ihre Geschwindigkeit führt zu einer Verengung ihrer Realität auf das Hier und Jetzt, an dem nichts in der Welt mehr teilhaben kann: „At speeds beyond guts. Because we’re. Now. Here. Not even close“ (H271). Die Beschreibung ihrer Fahrt liest sich teilweise wie eine jener Listen, die Walt Whitman in seinen Gedichten dazu benutzt hat, um die demokratische Vielfalt Amerikas zu vermitteln, beinhaltet aber auch immer den Aspekt, dass dies die Umgebung ist, die Sam und Hailey hinter sich lassen. Die folgende lange Passage zeigt deutlicher als jede andere Textstelle, wie für die beiden die Straße zum Ort der Befreiung von der Welt wird, wobei ihre Autonomie proportional zu ihrer Geschwindigkeit wächst: We let go and barge on. Berm over herm, bridge across ridge, up this Great River Road swerving US for still colder climes. We overtake motorcycles, sedans, flatbeds loaded with spools of cable, pallets of propane, lashed down sailboat keels. Granite chips skimming off our fender. We pass bonfires. Serial Anarchists. Car chases. Junkies, Molesters and Assassins. Even when traffic sticks for Worried Kids, washing windshields and rims, wanted by the Most Wanted, we swing by. Because we are traffic. Heedless of all we far. And yeah, never pocked, never grimed by tar. Rocks abruptly bounce deadon. Miss. Haulings overtake lanes overtaking stalls. And when the generous cut out of our way, we giggle. And when the bitter cut US off, we snicker. Because we’re rampant, impossible to flex. Impossible to equal. Even challenge. […] Speed. Terrifying everything beyond the perimeter of our way. We are without perimeters, perpetually unwinding, unifying. All around receding before our freedom. Even the Vengeful & Needy. Because we’re mighty. […] Catch US & miss US, reach US & fail. Fun outstanding! What joy! Our wheels turned by the road, radials unstressed, compression refreshed, socketing ahead. […] Because everyone we blow by, we blow away. Never paid, we never delay for traffic barrels & cones, Migrants, Jumpers and Joes. Our Acura NSX detouring East by fleets of Median Mowers, Fast Mix Boys, Cement Slewers. One Dude perched up a cherrypicker lifts his arm. Wants to join. Holds onto US long after we’re gone. Our
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Mercury XR7. High outputting the curves of our worst by lanescapes strewn with unescapables only we easily escape. Because we are untouchable. By all we blur by, Sam stays jiggy & cool. My Shimmy & Par. Yup, he still turns me on. –You too, he smiles. –Anytime soon. And we go for miles. Air wet with our sweat. Carnations dread. Wilt. Dead. Not US. We gnaw on woe and quench on sadness. It zazzles him. It shazzles me. Pumped, stomped, by US churning. Our Dodge Stealth kicks up arcs of icy clouds splitting to exile. Except there is no exile anymore. There’s only US. (H220-24)
Only Revolutions macht sich hier Aspekte des Genres des Straßentextes zunutze, um die mythische Beziehung zwischen den Protagonisten und der Welt zu vermitteln. Indem die Erzählung auf die eigene Mythologie des amerikanischen road trips zurückgreift, gelingt ihr die Dopplung zwischen einer universell gültigen und einer konkret verorteten Erzählung. Die Symbolik der Straße bildet durch ihre Anfangsbezüge und paradoxe Örtlichkeit die geeignete Grundlage für die Struktur des dargestellten Weltkreislaufs. Hailey und Sam setzen ihren road trip in direkte Beziehung zu ihrem Spiel mit der Welt, indem sie das Sprichwort „where there’s a will, there’s a way“ abwandeln: „Where there’s a Wheel, there’s a play. And we’re allways playing“ (H225) / „Where there’s a Wheel, there’s a way. And we’re allways awaying“ (S225). Dieses Spiel wird immer wieder durch statische Phänomene bedroht, etwa durch einen Polizisten, der sie kontrolliert: „Hand over your identity, PORKY tenses. Joyriding’s verboten round here“ (S230). Er unterbricht den verbotenen joyride und die Freude an der Bewegung, indem er Sam und Hailey auffordert, ihm ihre Identität auszuhändigen, womit nicht nur eine Identitätskarte gemeint ist, sondern auch die Identität selbst. Anstatt sich aber von dieser Autoritätsperson auf eine festgelegte, vermittelbare Identität festlegen zu lassen, geben sie nur ihr Alter an und verweigern sonst jegliche Auskunft. Ihre Selbstdefinition als „unprincipled“ (H234) bzw. „unmastered“ (S234) trifft den Kern ihrer NichtIdentität, denn sie sind durch ihre Beweglichkeit auch auf dieser Ebene nicht definierbar und greifbar. Als sie heiraten wollen, können sie passend dazu keine Identifikation vorweisen, und wieder kann die Frage nach einem Ausweis als Frage nach Identität verstanden werden: „– […] You’re both unfit. You even have ID? Sam: –No. –What about you? Me: –No“ (H256). Diese Ungreifbarkeit äußert sich beispielsweise darin, dass sich Sam und Hailey ihrer Kategorisierung anhand der Kategorie von race verweigern, indem sie den Begriff so doppeldeutig deuten, wie es ihrer ambivalenten Existenz und Bewegung auf der Straße angemessen ist: „Every race, except we’re the only race, so fast there’s never a race. Judgements razed“ (H236). Ebenso entziehen sie sich gesellschaftlichen
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Regeln, die sich wieder in Gestalt der Autoritätsperson des Verkehrspolizisten präsentieren: –Kids, there are speed limits here. –Not my limit, Sam defies. –Aaaaaaaaaaaaaay, THE ENFORCER tries, collapses and wastes. Dies. We’re impossible to confine. Past all extremes. (H298)
Die Straße wird für sie zur Fluchtmöglichkeit aus allen einschränkenden Strukturen, oder vielmehr zu dem Ort, an dem sie die Welt besiegen: „We drive faster & afster. Unmolested by rearendings, flats, objections and motions. Our Geo Metro easily, allways, beating the World“ (H238) / „We drive afster & faster. Unhindered now by headons, leaked oil, delays and postponements. Our Aero Willys allways easily beating the World“ (S238). Sam und Hailey rasen an Orten des Stillstands und der Restriktion vorbei: „And where Prisons adhere to the lurch of laws, we roar by. Confined to no loss. Beyond stops we all boss. Because we’re urgent. Allways divergent“ (H258). Sie fallen aus der weltlichen Zeitlichkeit heraus, da sie nicht bewegt werden, sondern (sich) selbst bewegen, und zudem kein Ziel haben, sondern Teil einen Kreislaufs sind: „Them are all temporary. Only we recirculate. Not moved by. Not moved towards. We move on allone from these dirty sidewalks“ (H267-68) / „Them are all momentary. Only we continue at all. Not moved towards. Not moved by. We move on allone from these awful streets“ (S267-68). Ihre Fahrt scheint selbst zum Todesurteil für die Welt zu werden: „We clip on no slower. O and wherever. We whirl a wind of withering & death“ (H284). Die Straße führt Sam und Hailey aber auch geradewegs aus dieser sterbenden Welt heraus; indem sie eine endende Umwelt durchquert, führt sie zu jenem Neuanfang, der im ersten Teil des Zyklus die Welt wieder beleben wird: While all around US keeps dying. Sam smiles. I smile, buzzing with desire to drive quicker. […] Shredding past Mechanics, Motorheads, Methracers, LiverBashers & more. Scores more. Hundreds more. Revving it, punching it, ripping it here, allatonce, to try their hand at overcoming our joyride. No one comes near. No one survives. We’re the pleasure accidents supply. (H268-69)
Nur einmal wird diese Fahrt unterbrochen, um die Hochzeit der beiden zu vollziehen und sie an einander zu binden, wo ihre Bindung an die Welt fast vollständig verloren ist. Bedeutsam sind hier vor allem die einleitenden Worte der Figur, welche die Zeremonie vollzieht, da sie jene Doppelbedeutung des
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Neuen beinhalten, die im Text immer Anfang und Fortsetzung verknüpft: „Shall we begin?“ (H292) / „Shall we proceed?“ (S292). In diesem Sinne ist jeder Anfang in Only Revolutions immer eine Weiterführung und nie ein erstmaliges, ursprüngliches Phänomen; zugleich handelt es sich dabei aber auch nie um eine bloße Wiederholung. Sam und Hailey begeben sich nach der Zeremonie wieder auf die Straße, um dieses Wechselspiel des (Neu-)Anfangs fortzuführen und ihren Rückzug von der Welt zu vollziehen: „Sam’s Saturn Spin, our wedding and escape“ (H294). Zugleich demonstrieren sie auf der Straße die Macht, die sie über die Welt gewinnen, indem sie sich von ihr distanzieren. Sie nähern sich wieder jenem anfänglichen Zustand an, in dem sie in der Lage waren, die Welt zu zerstören. Diese Macht äußert sich einerseits räumlich, da Sam und Hailey in metaphorischer Weise Einfluss auf die Straße selbst nehmen: „We’re married amber, frosting exits, closing down canyon roads. No load spared by all we leave. Spurn. Bridge. There’s not a bridge around we can’t burn. We build no bridges. Just overturn“ (H297). Andererseits haben sie Macht über die Zeit, da sie nicht mehr nur schnell unterwegs sind, sondern zur Zeitlichkeit selbst werden; Haileys Antwort auf die Frage nach der Uhrzeit ist hier bezeichnend: „Do you have the time? –We are the time“ (H243). Konkret äußert sich diese Macht darin, dass Sam der Straße Langsamkeit und Stillstand aufzwingt, indem er Hailey zur Hochzeit einen Stau schenkt, der globale Ausmaße hat: But though I’m without resources, sourceless & primitive, surrounded by traffic, I suddenly find a present I can proudly pass over her way. –Slow please, I request. There. Now stop. Skidding to a standstill. Blocking behind US all progress vehicular. Piles, Chariots & Shot Rods turned here to a parking lot. Dead Bobcats & Goldfinches ditched among honks. And no wheel can pass these wheels, Hailey’s Skoda Felicia across every lane. From Tallahassee to Seattle by Honolulu to Noatak. A globally snarled knot. Which for offerings is all I’ve got. Hailey though’s surprised by this swift mischief I give her. (S299-300)
Hailey betont daraufhin, dass dieser Stau eine Gemeinsamkeit aller Straßen herstellt und diese Verschmelzung nicht nur Straßen zu der Straße macht, sondern sie auch an Hailey und Sam bindet: „Unified, together, across. By all byeways, freeways, lowways & highways. Each corniche, curve, roundabout & merge. US“ (301). Nach dieser Machtdemonstration lassen Sam und Hailey allerdings alle anderen Verkehrsteilnehmer hinter sich und nähern sich der Einsamkeit des Berges immer mehr an, was sich an der Straße zeigt: „And the journeys are long
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over. Traffic undone. Leaving US allone on desolate roadways sliding by closed Rest Stops & Common Junk“ (H303). Die Ankunft am Berg ist auch das Ende des road trips, da dort das Auto zusammenbricht und Sam und Hailey die Kontrolle darüber verlieren: So I grab onto Sam who keeps blasting up, climbing by what’s allways waiting, mustering curves, exits and dead ends. Here goes me. Here goes. Me too. Roads crumbling, expanding, coming undone, blunting US with rut and crust entrapped stone. Until Sam’s Bexxer 60 slows, fast stops, enginings going tock. The Wheel his no more. We’re stuck and he’s my West. But we’ve reached The Mountain. And though we’re not strong, the strong are not strong. So we outdo all strong. And weak. And then by foot we continue on. (H312)
Ihre Fluchtbewegung auf der Straße, dem Ort der Mobilität, endet am statischen Ort des Berges, und Haileys Worte „We’re stuck […]“ (H312) bezeichnen diese Veränderung ihres Zustands. Gemeinsam machen sie sich an den Aufstieg, wobei deutlich wird, dass ihre egozentrische Haltung am Anfang des Textes einer bedingungslosen Selbstlosigkeit gewichen ist, der auch die Bewegung von Zerstörung zu Bewahrung der Welt geschuldet ist: „I carry the pack of all we have. Just a taste. Because I Love him and it’s never too late to keep a World“ (H315) / „I carry the pack of all we have. Just a taste. Because I Love her and it’s never too late to keep a World“ (S315). Auf dem Berg scheinen sie sich in eine ewige Gegenwart außerhalb der Zeit zu begeben: „Sam’s my oblivion. For once. And allways. Beyond even time’s front. Because now we are out of time. We are at once“ (H320). Dann allerdings geschieht die Katastrophe für die beiden, die auch zur Katastrophe der Welt zu werden droht. Der jeweils andere stirbt beim Aufstieg, und beide Erzählungen berichten von der Trennung: „Sam! I round but Sam does not return“ (H323) / „Hailey! I clup but Hailey does not return“ (S323). Der Tod der beiden und ihr gleichzeitiges Überleben scheinen eine Unterbrechung des Kreislaufs darzustellen, der für den Leser aber noch in der narrativen Dopplung aufrechterhalten wird (Sams Erzählung entspricht weitgehend Haileys). Hailey wundert sich über „[…] a World somehow still ongoing without the wonder of Sam’s spin“ (H323), beklagt aber gleichzeitig den Stillstand, den sie darin vorfindet, nachdem Sams Energie verloren ist: No longer around now. Above, yes, but why still? No. Time’s askew here and all too near there’s a stillness I cannot stand. Fluster & panic. Sam. My spiral of cycles. When evers
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go. And play. Beyond what even Quality could never qualify. Cannot go missing. Missing him would find all missing. (H323-24)
Beide beschreiben den Tod des anderen in Begriffen des Stillstands, „Sam’s perverted halt“ (H339) bzw. „Hailey’s abrupt stop“ (S339). Beide müssen das Hier und Jetzt allein erleben, das sie vorher gemeinsam erfahren haben: „Allone. Too left. Now. Here. Only“ (H328). Hailey überlegt, wie sie Sam wiederbeleben könnte, und gebraucht dabei Worte aus dem semantischen Feld der Drehung, welches das gesamte Kapitel prägt und auf die Kontinuität des Kreislaufs trotz dieses scheinbaren Endes verweist: „How to return Sam from his unturning presence?“ (H329) Da sie nichts unternehmen kann, versucht sie, Selbstmord zu begehen, doch ein Ende nach dem Vorbild von William Shakespeares Romeo und Julia bleibt den beiden verwehrt, da der Anfang immer schon vorgegeben ist. Da die Selbstvernichtung fehlschlägt, wendet sich die Zerstörungswut gegen die Welt selbst – „Wipe it all out. Because I’ve no hand to kiss, fondle, hold“ (H345): I’m every dare’s byebye, unleashing with each grunt Spoilations of civility. And now the fist I finish brings down a ringing sting of Katabatic Winds. Storms too. Why? Because I feel rotten. Worse. Rotten’s got something left to give. I’m not even worth taking. But I have what it takes. Rage. Rage. Rage. (H344)
Dieser Drang zur Zerstörung, der in den ersten Kapiteln spielerisch schien und zunächst von einer fast kindlichen Neugier zurückgehalten wurde, wurde dadurch eingedämmt, dass Sam und Hailey einander trafen; nun aber fehlt der jeweilige Gegenpart, um diese Tendenz durch eine konstruktive Präsenz auszugleichen: „Because without him I am only revolutions of ruin. The harvest of War reaps only the seeds of War. And I’m now just for sowing“ (H347). Die Androhung der Vernichtung nimmt nochmals ausdrücklich Bezug auf die Straße, die aus dieser Perspektive allerdings nur zum Medium des Todes wird: I’m the march of every genocide. Turning none aside. Riving organ, tendon & joint. Excepting no hurt. From this Mountain I’ll move, unprorogued, stalking the Poor by their fields, Hungry with their buckets. And every town will burn. I’ll hunt the Strong. And the Lucky. Skulls splashed. Rolled. Limbs hacked. Tossed to creek beds. Along every road. Cities swept loose by fire. And for those who beg and plead, Organizations and Outstanding Citizens, I’ll gnaw through their teeth. And every nation will burn. (H348)
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Bevor jedoch Sam und Hailey mit der Weltzerstörung beginnen können, geschieht ein Ereignis, das dazu führt, dass sie den Plan aufgeben: Sie treffen auf ein Lebewesen, das in ihrer jeweiligen Erzählung eigentlich gar nicht existieren sollte, da es das erste Mal im Text die Regel bricht, dass in Sams Hälfte nur Tiere und in Haileys nur Pflanzen erwähnt werten. „Only an Ass feasts along desolate streets“ (H350) / „Only Grass grows down abandoned streets“ (S350). Hier kehrt jene Dopplung zurück, die durch den Tod von Sam bzw. Hailey verlorengegangen schien; der Esel frisst das Gras, gleichzeitig ist sein englischer Name im Wort grass enthalten. Dieser letzte Rest pflanzlichen und tierischen Lebens, der nach 170 Seiten des Sterbens noch übrig ist, bringt Sam und Hailey dazu, die Welt nicht zu zerstören, sondern sie zu bewahren, darüber zu wachen, aber auch letztlich aus ihr zu verschwinden. Dabei spielt eine große Rolle, dass diese Vernichtung auch die Vernichtung des jeweils anderen bedeuten würde, und diese Unterlassung ist es, die den Neuanfang auf Seite 1 möglich macht: For him the World spins and to blow it away would forfeit all the World allready Loves of him. What resolving he allways bends. What ending he allways evolves. How here without, he still someway, over with, consoles what I’d new devastate. And he’s just curlin on the snow. He relies on more. More relies on him. And I cannot destroy more. For I cannot destroy him. Ever. So let ice cavalcades gallop his hair. And though withering & wroth, all he cares enough for to let go I’ll spare. Except me. I’m allready over too, retreating from this life. So he goes I allso go. Twist about, cross legs arid ankles. Guard over him. Winter’s shock lending Winter’s fall quickly on my shoulders. There is no more way for US. Here’s where we no longer occur. We’re the mixed up, the ever unfixed. Freezoids for the hadits. Sad bits. And nixed. No longer pairs. Gone. Dancing around. Goofing on. Not even valid. And cold allone cannot numb how I miss. Me with him. Beyond return. Beyond all starts. (H355-56)
Auf diese Einsicht und diese Entscheidung folgt eine wahre Explosion des Lebens in der Welt, die wieder die oben genannte Regel bricht, indem Sams Tiere in Haileys Erzählung und Haileys Pflanzen in Sams Erzählung zurückkehren, die Worte so fett gedruckt wie in den ersten Kapiteln: All that these roams allready keep of him. Explosions of Roughlegged Hawks, Mallards and Crows. Bighorn Sheep charging by Cottontails, Wasps, Milk Snakes and Toads. Brook Trout, Badgers, Ants and clowders of Cats. My wide. Deer bounding by Crickets, Coyotes, Beavers, while Golden Bears range and Bald Eagles rise. (H357)
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All that these roams allways keep of her. Explosions of Aster, Yarrow, Buttercups and Clover. Blazing beside Tarragon, Tansy, Mustards and Daisies. Along with shoots of Flax, Catnips, Mints and Bull Thistle. Lilacs and Wild Licorice. And holding my sky, Birches, Tamarack Pine, Trembling Aspens and Atlas Mountain Cedar. (S357)
Die letzten Sätze des Buches sind mit den ersten Sätzen verbunden, da sie auf derselben Seite gedruckt sind und eine einzige Drehung genügt, um den Kreislauf von Neuem zu beginnen. Diese Struktur betonen Sam und Hailey selbst und erklären sie damit, dass sie einander nie aufgeben könnten: By you, ever sixteen, this World’s reserved. By you, this World has everything left to lose. And I, your sentry of ice, shall allways protect what your Joy so terrifyingly elects. I’ll destroy no World so long it keeps turning with scurry & blush, fledgling & charms beading with dews, and allways our rush returning renewed. Everyone betrays the Dream but who cares for it? Sam no, I could never walk away from you. (H360) By you, ever sixteen, this World’s preserved. By you, this World has everything left to lose. And I, your sentry of ice, shall allways protect what your Joy so dangerously resumes. I’ll destroy no World so long it keeps turning with flurry & gush, petals & stems bending and lush, and allways our hushes returning anew. Everyone betrays the Dream but who cares for it? O Hailey no, I could never walk away from you. (S360)
Diesen letzten Sätzen wird gleich zu Beginn des Buches scheinbar deutlich widersprochen: „I can walk away from anything“ (H/S1). Allerdings hat sich dieser Anfang für die Leserin nun verändert, da ihre Lektüre von Neuem beginnt. Was beim ersten Lesen eher kryptisch erschien, hat nun einen konkreten Bezug, wobei der Satz weniger die Entfernung vom jeweils anderen Protagonisten meint als die Auferstehung vom eigenen Tod in den letzten Kapiteln. Die Leserin wird so am Ende des Buches sofort mit einer Anfänglichkeit konfrontiert, die Only Revolutions zu einem anderen Text macht, indem der Anfang der Erzählung so wie alle Anfänge darin zu Neuanfängen werden. Zwar ändert sich jeder Text bei seiner zweiten Lektüre für die Leserin, doch stellt Only Revolutions diese Veränderung deutlicher heraus, indem der Text seine enthaltenen und gemachten Anfänge umwertet. Anfänglichkeit wird dadurch zum zentralen Stilelement des Romans, da sich über diese Kategorie der Kreislauf verdeutlicht, den die Leserin bei der ersten Lektüre noch nicht nachvollziehen kann; erst bei der zweiten Lektüre eröffnet sich die Erzählung in ihrer wirklichen Bandbreite. So erhält auch das Epigraph des Romans eine gravierende Bedeutung für die Leserin: „You were there“ weist sie darauf hin, dass sie der Erzählung schon
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einmal gefolgt ist, ohne sie wirklich in ihrer Kreisstruktur zu begreifen, da sie die Anfänglichkeit darin zwangsläufig missverstehen musste. Auch die Straßenerzählung wird bei dieser neuen Lektüre eine andere sein, und die Anfänge, die dort ihren Ort finden, gewinnen Facetten, die bei der ersten Runde nicht offensichtlich waren. Der road trip in Only Revolutions wird zur ewigen Rundfahrt, deren Start und Ziel derselbe Berg sind, und doch ist die Reise – wie bei jedem guten road trip – nicht sinnlos, sondern nicht weniger als der Motor der Weltbewegung. Zudem machen Sam und Hailey auf der Straße jene Veränderung durch, die verhindert, dass sie die Welt am Berg zerstören. Sie ist somit nicht nur der Anfangsort für eine persönliche Entwicklung, wie es im Genre üblicherweise der Fall ist, sondern letztlich auch der Ort, wo Bewegung sicherstellt, dass die Welt überleben kann. Dieser Gedanke kann als gemeinsamer Aspekt aller hier analysierten Straßentexte verstanden werden: Die Straße ist deshalb selbst in sehr verschiedenen Erzählungen ein Anfangsort, weil sie der Ort von Energie ist, wo andere Orte jegliches Potential verloren haben (insbesondere natürlich die Stadt). In On the Road steht diese Energie der Anfänglichkeit zur Verfügung, um persönliche wie soziale Veränderung herbeizuführen, die eine soziopolitische Revolution ebenso beinhalten kann wie eine zutiefst mystischen Erfahrung der Welt. In Travels with Charley manifestiert sie sich in persönlichen Einsichten über die lokale, nationale und globale Umwelt und deren Veränderbarkeit. In Empire of the Senseless dient sie der individuellen Befreiung aus sozialen Zwängen und der Erlangung von Autonomie und einer lebbaren Identität. Besonders die Gegenüberstellung von The Road und Only Revolutions ist hier bedeutsam, da beide Texte radikal anders mit Anfänglichkeit und Endlichkeit umgehen, aber zugleich die Thematik auf der Straße verorten. In The Road bietet die Straße der Idee der Anfänglichkeit eine letzte Zuflucht in einer endenden Welt, die möglicherweise wider besseres Wissen aufrechterhalten wird, gleichzeitig aber den Rest Menschlichkeit bewahrt, der überall verlorenging. In Only Revolutions wird die Straße zum Austragungsort eines Spiels aus Anfänglichkeit und Endlichkeit, dessen Kreislauf sich unendlich zu wiederholen scheint und daher paradoxerweise in der Bewegung zwischen beiden Polen ihre Bedeutung aufhebt. Jeder dieser fünf Texte gebraucht das Bild der Straße und das Motiv des road trips auf andere Weise, und doch gelingt es jedem davon, die damit verknüpfte Anfänglichkeit für die eigene Erzählung nutzbar zu machen. Es mag zuletzt als Beleg des Potentials der Straße als Anfangsort dienen, dass dieses Konzept selbst immer wieder neuen Anfängen unterzogen werden kann, ohne sich abzunutzen oder an Bedeutung einzubüßen.
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