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German Pages 123 [124] Year 2013
E RFAHRUNG UND D ENKEN S c h r i f t e n z u r Fö rd e r u n g d e r B e z i e h u n g e n z w i s c h e n Ph i l o s o p h i e u n d Ei n ze l w i s s e n s c h a f t e n
Band 106
Ethische Werte: Geltung und Wandel Von
Wedig Kolster
Duncker & Humblot · Berlin
Erfahrung und Denken Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Begründet von Kurt Schelldorfer
Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)
Schriftleitung Volker Gerhardt
Hinweise
1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken“ besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften“. 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften“ wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.
WEDIG KOLSTER
Ethische Werte: Geltung und Wandel
Erfahrung und Denken Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 106
Ethische Werte: Geltung und Wandel
Von
Wedig Kolster
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 978-3-428-14196-8 (Print) ISBN 978-3-428-54196-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84196-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Wenn wir nach den Möglichkeiten eines Wissens über unsere Umwelt und nach einem Handeln unter den Einflüssen der Umwelt fragen, erweist sich eine Betrachtung aus neurowissenschaftlicher Perspektive verknüpft mit philosophischen Überlegungen als fruchtbar. Die Neurowissenschaften zeigen unterschiedliche Zugangsweisen zu Informationen über die Umwelt und die Philosophie erschließt einen sinnvollen Umgang mit den Informationen zum Überleben und Gedeihen des Menschen in seiner Umwelt. Aus diesem Zusammenhang entstanden mehrere Veröffentlichungen: eine Untersuchung über “Wissen und Bewerten“ in der Umwelt, eine „Kritik ethischer Urteilsbildung“; eine „Kritik der Wissenschaft unter Anerkennung der Wahrnehmung als Wissen“ und eine „Ethische Orientierung ökomischen Handelns“. Vorgelegt wird hier eine Untersuchung „Ethischer Werte, Geltung und Wandel“. Ein Leser, der bereits die eine oder andere Veröffentlichung kennt, kann die ersten Kapitel, in denen die Grundlagen unserer Beziehung zur Umwelt behandelt werden, überspringen. Heitersheim, im Juli 2013
Wedig Kolster
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Was ist mit Wert gemeint? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 C. Individuum und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 D. Wissen über die Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II. Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 III. Bedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 E. Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 F. Handeln und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 I. Handeln aus emotionaler Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 II. Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 G. Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 I. Kritik ethischer Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 II. Moral und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 III. Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 IV. Ethische Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 H. Ethische Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 I. Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 II. Moralische und ethische Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 III. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
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Inhaltsverzeichnis
J. Wertewandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Erklärungsentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II. Wertewandel aus Änderung moralischer Bedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 III. Wertewandel aus neuen Handlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 IV. Warum verändern sich moralische Bedürfnisse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 K. Ergänzende Aspekte zu einer Ethik aus Emotionen und Vernunft . . . . . . . . . . . . 92 I. Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 II. Überlieferte Kultur und Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 L. Beispiele einer Praktizierung ethischer Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 I. Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 II. Konkurrenz und Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 M. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 N. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
A. Einleitung Brauchen wir ethische Werte? Die Menschen bekennen sich häufig zu Werten. Sie orientieren sich an Werten in ihrem Leben, in ihrem Beruf und in der Beurteilung ihres Umgangs mit anderen Menschen. Beobachten lässt sich ein Bedürfnis nach ethischen Werten. Umfragen zeigen, dass ethische Werte den Menschen wichtig sind. Z. B. ergibt sich aus einer Befragungen von Unternehmern, dass Werte für den Erfolg ihres ökonomischen Handelns zunehmende Bedeutung gewinnen. In wirtschaftlichem Handeln scheint der Grundsatz des homo oeconomicus, der in den letzten hundert Jahren galt, seine Alleinherrschaft verloren zu haben; Menschen treffen ihre ökonomischen Entscheidungen nicht allein nach rationaler Nutzenmaximierung sondern eine wichtige Rolle spielen Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit ebenso wie Fairness und Gerechtigkeit. Zu beobachten ist aber auch ein Wandel der Werte, der bisweilen strittig bis ablehnend beurteilt wird. Das Urteil reicht von Werteverfall bis hin zum Abschneiden alter Zöpfe um zeitgemäßer Orientierungen willen. Es geht in der folgenden Untersuchung ethischer Werte nicht um ihre geistesgeschichtliche Aufarbeitung. Es geht darum wie sich Werte, ihre Geltung und ihr Wandel heute begründen lassen. Dieser Aspekt wurde deshalb ausgewählt, weil sich in der gegenwärtigen Literatur keine überzeugenden Entwürfe finden, die über Wünsche und Forderungen hinaus gegenwärtige ethische Konflikte allgemein gültig lösen können. Auf eine geistesgeschichtliche Einbettung der Werte wird dabei nicht verzichtet aber im Vordergrund steht ihre Geltung und ihr Wandel aus heutigen Begründungsmöglichkeiten. Sind Werte Ergebnisse persönlicher Einschätzung oder beanspruchen sie allgemeine Verbindlichkeit? Da es sich um ethische Werte handelt, ist die Frage, ob wir eine Ethik brauchen, die allgemein verbindlich sein muss. Ethik fragt nach Sinngehalten und nach Orientierungen des einzelnen Menschen für seine Lebensgestaltung, nach Regeln im Umgang mit Dritten und nach Kriterien politischer Ordnungsgestaltung für eine Gemeinschaft. Sie fragt auch nach Antworten in ethischen Konflikten, die über eine politische Gemeinschaft hinausgehend andere Staaten und Gemeinschaften betrifft. Und der einzelne Mensch bedarf einer Möglichkeit der Rechenschaft über seine eigenen Lebenspläne, über das, was ihm in der Gemeinschaft zukommt und was nicht. Wenn diese Charakterisierung einer Ethik stimmt, wie lassen sich dann ethische Werte beschreiben? Eine verbreitete Antwort ist: es sind Normen, Regeln und
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A. Einleitung
Grundsätze. Oft sind sie entstanden aus kultureller Tradition, aus Religion oder erlernten Überzeugungen; sie können einer Orientierung dienen unter der Voraussetzung, dass ein Individuum sie aus freiwilliger Selbstbindung akzeptiert. Mieth beschreibt moralische Normen als selbst auferlegte Verbindlichkeiten; sie sind etwas Subjektives, die, wenn sie strittig sind, einer Nachdenklichkeit über ihre allgemeine Verbindlichkeit bedürfen, um zu einer Ethik gerechnet werden zu können.1 Gegen Normen als subjektive Orientierungen ist nichts einzuwenden. Sie werden aber meist anders, nämlich als allgemeine vom Individuum abstrahierende Orientierungen verstanden wie z. B. Verantwortung oder Toleranz. Selbst, wenn Normen ihren Ursprung in den Bedürfnissen und Interessen von Personen haben, wie Fricke meint,2 können sie Konflikte lösen? Normen abstrahieren vom einzelnen Menschen, der ihnen in einer Entscheidungssituation untergeordnet wird.3 Ob solche Normen hilfreich sein können, zeigt sich, wenn es um ethische Konflikte geht, in denen Normen miteinander konkurrieren. Es ergeben sich z. B. Interpretationsprobleme der Grundbegriffe, die in den Normen und Regeln verwendet werden wie z. B. die Begriffe Menschsein, Leid, Krankheit und Natur. Selbst ein Begriff wie Menschenwürde, der trotz mancher Unklarheit allgemein akzeptiert wird, ist in seiner Anwendung strittig, nämlich dort, wo es um eine Bestimmung des Menschseins geht.4 Ist ein Embryo ein Zellhaufen oder ein Mensch, dem die anerkannte Würde zukommt, oder wird einem Embryo das Menschsein und die Würde erst ab einem bestimmten Zeitpunkt zugesprochen?5 Der Begriff der Menschenwürde hat die Frage nicht lösen können, ob verbrauchende humane Stammzellforschung erlaubt sein soll oder nicht. Normen können nicht die ethischen Konflikte in manchen Anwendungsbereichen lösen. Die Norm Verantwortung z. B. machen Befürworter wie Gegner embryonaler Stammzellforschung geltend, Befürworter aus Verantwortung für Heilungschancen erkrankter Menschen und Gegner aus Verantwortung für den Lebensschutz des Embryos. Mit einer Norm ist in dem Konflikt nichts gewonnen. Ein anderer kritischer Einwand gegen objektive Normen ergibt sich aus der Frage: Können allgemeine Normen eine Selbstbindungskraft entfalten? Warum soll 1
Mieth, S. 126 ff. Fricke, S. 105. 3 Schmitz (2012) erklärt Normen als Programm möglichen Gehorsams (S. 16). Menschen sind in seiner Beschreibung Objekte der Werte, Normen und Gefühle; denn Werte werden ihnen von der Autorität mittels verbindlich geltender Normen abverlangt; und Normen werden ihnen durch die Verbindlichkeit stiftende Macht von Gefühlen auferlegt. (S. 194). Kritisch sei dazu angemerkt, dass Normen und Werte einer subjektiven Akzeptanz bedürfen, wenn wir uns an ihnen orientieren wollen; und warum Gefühle über eine Verbindlichkeit stiftende Macht verfügen, bleibt ungeklärt. 4 Knoepffler (2004) nennt Menschenwürde in Anlehnung an juristische Überlegungen ein regulatives Prinzip, das keine Handlungsentscheidung im Einzelfall erlaube, sondern eher als Leitlinie für allgemeine ethische Entwürfe diene. 5 Schmoll (2001) hat die Zuschreibungen von Menschsein zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Entwicklung eines Embryos und ihre Begründungen eindrucksvoll dargestellt. 2
A. Einleitung
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ein Mensch z. B. um der „Ehre willen treu sein“ – eine früher gebräuchliche Norm – wenn nicht einmal die Begriffe „Ehre“ und „Treue“ und deren Anwendung klar sind. Und woran können sich Menschen orientieren, wenn es eine Konkurrenz von Normen gibt wie z. B. in der Präimplantationsdiagnostik, in deren Beurteilung der Schutz vor Erbkrankheiten mit einem Schutz des werdenden Lebens konkurriert? Und wie ließe sich ein Wertewandel aus objektiven Normen erklären? Warum sollte eine Norm plötzlich ihre Orientierungskraft verlieren? Sich auf überlieferte Ethikkonzepte und Werte unabhängig von ihrer subjektiven Akzeptanz zu berufen reicht nicht aus, um eine Binde- und Erklärungskraft ethischer Werte zu erreichen. Werte aus geistesgeschichtlicher Tradition oder religiösen Überzeugungen haben häufig ihre individuelle Orientierungs- und Bindekraft verloren. Individuen sind nicht immer mehr bereit sich einem von Menschen unabhängigen Wertehorizont unterzuordnen, der ihre persönlichen Bedürfnisse und ihre Lebenssituation außer Acht lässt. Wenn es ein Bedürfnis nach ethischen Werten gibt und objektive Normen nicht ausreichen, wird man zunächst eine subjektive Herausbildung der ethischen Werte betrachten müssen. Erst subjektiv herausgebildete ethische Orientierungen können eine individuelle Bindekraft entfalten. Die Frage ist aber, ob es ausreicht ethische Werte als subjektive Bekenntnisse zu verstehen oder ob sie einer allgemeinen Verbindlichkeit, einer allgemeinen Geltung bedürfen? Eine erste Antwort ist: um Ethik nicht einer unverbindlichen Beliebigkeit auszusetzen bedarf sie einer Begründung, die für jedermann verbindlich eingesehen werden kann, denn ihre Verbindlichkeit geht auf die Einsicht aus Gründen zurück. Es wird deshalb untersucht, ob sich eine Ethik beschreiben lässt, die eingesehen werden kann und die zugleich einen Antrieb vermittelt ihr zu folgen. Subjektivität und allgemeine Geltung sind Ansprüche an eine Ethik und ihre Orientierungen, so dass sie sowohl eine subjektive Bindekraft und als auch eine allgemeine Verbindlichkeit erfüllen können. Im Folgenden wird eine Ethik aus Emotionen und Vernunft begründet, die allgemeine Orientierungen bietet und solche konkreten Ausformungen ermöglicht, die wir Werte nennen können, wie z. B.: „es gibt moralische Bedürfnisse“ und „unverzichtbar ist, ein Bedürfnis nach Selbstachtung in die Handlungsentscheidung einzubeziehen“. Werte werden hier nicht als Begriffe sondern als Aussagen formuliert. Auch wenn es intuitive Vorstellungen über Werte gibt, wie es die beiden oben geschilderten Bedürfnisse zeigen, bleibt zu klären, wie sich ein ethischer Wert beschreiben lässt und welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit seine Orientierungskraft verstanden und eingesehen werden kann. Sich auf Bedürfnisse als Grundlage ethischer Werte zu berufen verlangt zu sagen wann ein Wert ein Wert ist, der Grundlage individueller Orientierung und Bindekraft für eine Gesellschaft leistet.
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A. Einleitung
Inhaltlicher Überblick Hier ist ein Überblick über die Untersuchungen zur Herleitung ethischer Werte, ihrer Begründung und ihres Wandels aus einer „Ethik aus Emotionen und Vernunft“. Da eine Beschreibung ethischer Werte in der gegenwärtigen Literatur ungeklärt und strittig ist, geht es zunächst darum, den Begriff „ethischer Wert“ offen zu halten für eine Beschreibung dessen, was sich zur Orientierung des Handelns und Verhaltens aus der Ethik aus Emotionen und Vernunft herleiten lässt. Grundlage ist, die Bedeutung der Emotionen für eine Ethik zu erkennen. Die Menschen sind in ihre Umwelt hineingeboren mit der sie kommunizieren. Um in der Umwelt zu überleben und zu gedeihen sind ihre Wahrnehmung und deren Bewertung unverzichtbar, um förderlichen Einflüssen zu folgen und Gefahren zu vermeiden. Die Bewertung der wahrgenommenen Umwelt leisten die Emotionen, die Ausdruck der Bewertung sind. Das lässt sich empirisch durch die Neurowissenschaften erweisen. Soweit die Umwelt aus Menschen besteht, lässt sich ein Handeln der Menschen in seinen Auswirkungen auf Dritte emotional bewerten. Im Unterschied zu rationalen Bewertungen von Gegenständen nach Kriterien ihres Zwecks sind es bei emotionalen Bewertungen des Handelns moralische Bedürfnisse. Denn Moral lässt sich beschreiben als eine Orientierung des Handelns zur Erfüllung der Bedürfnisse im Miteinander der Menschen und moralische Orientierungen kommen im moralischen Charakter der Emotionen zum Ausdruck. Aus den emotionalen Bewertungen eines Menschen ergeben sich Handlungsorientierungen zu Erfüllung seiner Bedürfnisse, ansonsten machten Bewertungen keinen Sinn. Und aus den emotionalen Bewertungen des Handelns durch betroffene Dritte können sich Rückwirkungen auf den Akteur ergeben, d. h. ein Akteur, dessen Handlungen die Bedürfnisse Dritter verletzt, muss mit dessen Rückwirkungen rechnen zum Nachteil einer Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse. Handlungsorientierungen lassen sich aus Vernunft abwägen ob sie einer Erfüllung moralischer Bedürfnisse dienen oder schaden. Unterschieden wird zwischen Moral und Ethik, um einerseits subjektiven Überzeugungen Rechnung zu tragen und andererseits deutlich zu machen, dass es Handlungsorientierungen geben muss, die für alle Menschen gelten und das sind ethische. Während Moral als subjektive Orientierung des Handelns zur Erfüllung der Bedürfnisse gekennzeichnet wurde, werden mit Ethik die Handlungsorientierungen aus emotionaler Bewertung zur Erfüllung moralischer Bedürfnisse benannt, die allgemein gelten und begründet sind. Aus dem Unterschied subjektiver Überzeugungen der Moral und einer allgemein geltender Ethik lassen sich entsprechend moralische und ethische Werte herleiten. Werte sind Urteile über ein begehrtes Gut nach einem Maßstab wie Börsenwerte, Blutwerte, Wahrheitswerte oder Kunstwerte. Ein moralischer Wert ist Urteil über ein Handeln nach dem Maßstab der Moral und ein ethischer Wert entsprechend ein Urteil über ein Handeln nach dem Maßstab der Ethik.
A. Einleitung
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Und ein Wertewandel ergibt sich aus der Veränderung des Urteils über ein Handeln nach dem Maßstab der Ethik, wenn das Handeln nicht mehr als eine Verletzung unserer moralischen Bedürfnisse bewertet wird. Das Urteil über Homosexualität z. B. hat sich geändert, weil sie nicht mehr als eine Verletzung unserer moralischen Bedürfnisse empfunden wird. Und die Veränderungen der Urteile lassen sich aus Veränderungen der historischen Verhältnisse der Menschen klären. Methode Gut bestätigte neurowissenschaftliche Erkenntnisse werden hier als Teil der Begründung einer Ethik verwendet. Es werden naturwissenschaftliche Einsichten mit philosophischen Überlegungen verknüpft. Ethische Werte sind in diesem Begründungszusammenhang in früheren Veröffentlichungen erwähnt worden.6 Sie werden hier noch einmal betrachtet, um zu untersuchen ob sie und vor allem ihr Wandel anders als nur aus empirischen Ergebnissen erklärt werden können, wie es in gegenwärtigen Veröffentlichungen geschehen ist. Es gab für die Untersuchung zwei methodische Möglichkeiten: entweder auf die früheren Schriften, in denen die Ethik aus Emotionen und Vernunft und ihre Werte hergeleitet werden, zu verweisen oder diesen ethischen Entwurf noch einmal zusammengefasst darzustellen, was zu manchen Wiederholungen aus früheren Veröffentlichungen führt. Gewählt wurde die zweite Möglichkeit um ein zusammenhängendes Verständnis ethischer Werte und ihres Wandels aus dieser Schrift zu ermöglichen.
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Kolster, 2003, 2006, 2008.
B. Was ist mit Wert gemeint? Historische und systematische Aspekte Zur Orientierung des Handelns diente den Menschen im Altertum das „Gute“. Heute sind an seine Stelle Werte getreten. Das Gute wie auch das höchste Gut war Bestandteil philosophischer Überlegungen, wie das höchste Glück für den Menschen erreichbar sei; es war ein objektiv Gutes, das unabhängig von Menschen existierte, ihrer ethischen Orientierung diente und keiner weiteren Begründung bedurfte; es war ein Singuläres. Heute gibt es dagegen eine Vielzahl von Werten zur ethischen Orientierung; an die Stelle eines objektiven Guten ist ein subjektives Moment der Werte getreten. Die Veränderung hat mit der Frage begonnen, wie man das Gute erkennen könne; dadurch verlor es die Unmittelbarkeit seiner Orientierungskraft, weil die Frage eine Distanzierung vom Guten und dessen Evidenz zur Folge hatte. Es konnte „eine Pluralität von Sichtweisen auf das Gute“ entstehen, das treffender mit dem Begriff des Wertes ausgedrückt werden konnte.7 Mit der Frage nach der Erkenntnis des ursprünglich objektiv verstandenen Guten trat eine subjektive Sichtweise des Fragenden hinzu; und mit der Vielfalt möglicher Antworten wurde eine Begründung seiner Geltung erforderlich. Denn wenn man erwartet, dass ein Wert für alle gilt, um einer Beliebigkeit seiner Orientierung zu entgehen, bedarf es einer Begründung seiner allgemeinen Geltung. Nachdem der Begriff „Wert“ Ende des 19. Jahrhunderts an die Stelle des „Guten“ getreten war, hat es zur Beschreibung und Begründung von Werten viele Konzepte und Werttheorien gegeben. Mit den unterschiedlichen Wertvorstellungen trat die strittige Frage nach dem Sein der Werte auf. Heidegger z. B. meinte es gäbe keine Werte und schrieb: „Denken in Werten ist hier und sonst die größte Blasphemie“8. Ähnlich ablehnend gegenüber Werten äußerten sich Wittgenstein und Nietzsche. Kritisch sei dazu angemerkt, dass mit Werten zwar Unterschiedliches gemeint sein kann; sie abzulehnen überzeugt nicht, weil heute ein Bedürfnis nach Werten zu beobachten ist wie z. B. nach Fairness und Gerechtigkeit, worauf später eingegangen wird. Eine ganz andere Auffassung vertrat Max Scheler, der meinte, es gäbe Werte und sie hätten einen von unserer Wahl und unserem Verhalten unabhängigen Charakter. Werte seien letzte selbständige Phänomene; sie seien unabhängig im Sein von ihren Trägern; sie seien absolut und nicht relativ zu den Menschen, zum Leben, zu den Epochen und Kulturen.9 Treffend kritisiert Wolf diese Vorstellung von einer Entität 7 8 9
Joas, (2006), S. 5. Heidegger (1976), S. 349. Scheler (1966), S. 38 ff. und 272 ff.
B. Was ist mit Wert gemeint?
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der Werte: „Gäbe es Objekte Werte, so können wir uns immer noch irren, sie verfehlen, verkennen oder uns ihnen gegenüber gleichgültig verhalten“10. Außerdem bleibt zu fragen, ob es nach Schelers Auffassung einen Wertewandel geben kann. Spaemann bejaht die Frage und beschreibt einen Wandel aus einer Unterscheidung zwischen Werten und Wertschätzung. Menschliche Wertschätzungen unterlägen dem Wandel, Werte dagegen wandelten sich nicht.11 Es mag Fälle geben, in denen die Unterscheidung zutrifft wie z. B. im Fall der Tapferkeit, deren allgemeine Wertschätzung als kriegerische Tugend abgenommen hat, dagegen in anderen Situationen zur Geltung kommt wie z. B. in dem Urteil: er hat seine Krankheit tapfer ertragen. Aber wie ist eine sich wandelnde Wertschätzung begründet; ist eine Änderung der Wertschätzung beliebig oder warum sollte sie allgemein gelten? Und wie wird eine Entstehung neuer Werte erklärt, für die es keine sich wandelnde Wertschätzung gibt? Verallgemeinern lässt sich eine Begründung des Wertewandels aus einer Unterscheidung von Werten und Wertschätzung nicht. Wenn im Verlauf der Untersuchung geklärt ist, was wir unter Wert verstehen können, wird sich daraus eine Möglichkeit ergeben, nach einer Erklärung eines Wertewandels zu fragen, nach einem Wertewandel, der in unserer Wirklichkeit zu beobachten ist wie z. B. in den erweiterten Formen von Lebensgemeinschaften wie Homo- und Lesbenehen oder der nichtehelichen Gemeinschaften, die vor einem halben Jahrhundert als unakzeptabel und verwerflich galten? Anders als Scheler hat Nozick die Werte subjektivistisch beschrieben. Er betont die subjektive Autonomie einer Wahl zwischen dem Sein oder Nichtsein der Werte; auch bei der Wahl eines Seins der Werte bleibt seine Wertvorstellung vage, denn einerseits meint er, der Charakter der Werte hinge nicht allein von uns ab und andererseits bestreitet er einen „preexisting standard of value“12. Es ist eine betont subjektivistische Sichtweise; Nozick verzichtet auf eine begründete Allgemeingültigkeit der Werte, deshalb fehlt ihnen eine ordnende Charakteristik für eine Gemeinschaft. Einen Werterelativismus vertritt Mokrosch. Werte drückten Partikularinteressen aus, deren Vielfalt er durch einen gerechten Ausgleich verallgemeinern möchte. 13 In diesem Vorschlag verwendet er aber bereits einen Wert, nämlich Gerechtigkeit. Sein Vorschlag überzeugt deshalb nicht. Insgesamt gesehen reicht es nicht aus, Werte auf Wünsche und Präferenzen zu reduzieren, wie es manche Autoren vorschlagen, die meinen das Gute sei gut, weil es begehrt werde, und nicht umgekehrt.14 Aus subjektiver Perspektive ließe sich zwar ein Wertewandel erklären, aber er bliebe einer Beliebigkeit ausgesetzt, wenn seine Verallgemeinerbarkeit nicht begründet werden kann. 10 11 12 13 14
Wolf, S. 8. Spaemann, S. 44. Nozick (1981), S. 563 ff. Mokrosch S. 34. Vgl. Wolf, S. 8.
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B. Was ist mit Wert gemeint?
Kritik an Definitionen Aus den bisher betrachteten grundsätzlichen Überlegungen zur Beziehung zwischen Menschen und Werten sind unterschiedliche Definitionen ethischer Werte entstanden, von denen zwei genannt werden: eine erste orientiert sich an einer Begründung der Werte aus Erfahrung, die Mokrosch unter Berufung auf Regenbogen so beschreibt „Werte [können] als Bezeichnung für eine sich wiederholende positive Bewertung eines beliebigen Gutes gefasst werden“15. Ist nach dieser Definition die wiederholte Bestechungsaktivität eines Akteurs, die dieser positiv bewertet, weil sie zu einem Geschäftserfolg führte, wirklich ein ethischer Wert? Die Erfahrung großer Konzerne hat gezeigt, dass das nicht der Fall ist. Mokroschs Beschreibung reicht nicht aus, denn jeder könnte seine persönlichen Erfahrungen machen, die für den Anderen nicht zu gelten brauchen. Werte würden zur Beliebigkeit. Und eine zweite Definition ethischer Werte stammt von Joas, der sich auf Emotionen stützt: „Werte sind stark emotional besetzte Vorstellungen darüber, was eigentlich wahrhaftig des Wünschens wert ist“16. Ausgewählt ist dieses Zitat, weil Joas Emotionen einbezieht, wie es auch andere Autoren getan haben. Allerdings wird in dieser Definition nicht klar, warum individuelle Werterfahrungen für alle gelten sollen. Mehrere Autoren haben Werte und deren Wandel aus empirischen Untersuchungen hergeleitet wie z. B. Inglehart und van Deth. Werte werden von ihnen aus distanzierter Beobachtung beschreibend referiert. Ihren allgemeinen Geltungsanspruch kann ein referierender Gebrauch nicht erschließen, weil ein Beobachtungsergebnis noch keine Gründe einer allgemeinen Geltung enthält. Festzuhalten bleibt erstens, dass in vielen Entwürfen den Werten ein subjektives Moment zugeschrieben wird und dass zweitens Emotionen in der Konstituierung von Werten eine Rolle spielen können. Wie Subjektivität und Emotionen zu einer allgemeinen Geltung von Werten führen, ist bisher nicht geklärt. Hinsichtlich einer Beschreibung der Werte sei angemerkt: wer nach einer Erklärung ethischer Orientierung fragt und dabei vom Begriff „Wert“ ausgeht, vernachlässigt dessen Begriffsbildung, d. h. all das, was zu dem Begriff eines Wertes führt. Deshalb ist es besser nach den Grundlagen unserer Orientierungen zu fragen, aus denen sich das ergeben kann, was wir Werte nennen. Orientierungen, durch die wir bewerten, lassen sich unterscheiden: es gibt rationale oder emotionale Bewertungen von Gegenständen. Rationale Bewertungen orientieren sich an definierten Maßstäben wie z. B. an Maßen und Gewichten in der Physik, am Aktienindex im Börsenhandel oder an Wahrheitswerten in der Logik. Emotionale Bewertungen sind subjektiv geprägt; sie sind die Grundlage der Ethik ebenso wie der Ästhetik. Auf diese zweite Art der Bewertung, auf die emotionale, als Grundlage der Ethik kommt es in diesem Konzept an. Ob sich subjektive Emotionen 15 16
Regenbogen, S. 1743, zit. nach Mokrosch, S. 7. Joas, (2006), S. 3.
B. Was ist mit Wert gemeint?
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zur Begründung einer allgemein gültigen Ethik eignen, wird im Folgenden untersucht. Die These dazu lautet: Kriterium emotionaler Bewertungen sind moralische Bedürfnisse; aus ihnen lassen sich ethische Werte und deren Wandel herleiten. Begonnen wird mit der Frage nach der Beziehung eines Individuums zu seiner Umwelt.
C. Individuum und Umwelt Wissen über die Umwelt Warum wird hier zur Untersuchung einer Ethik und ethischer Werte die Perspektive eines Individuums in seiner Umwelt gewählt? Wir leben und handeln unter den Einflüssen unserer Umwelt. Zur Gestaltung unseres Lebens wird sich jeder mit seiner Umwelt auseinandersetzten müssen. Um das tun zu können und um nicht nur intuitiv oder nach angeborenen Regulationen zu reagieren, ist es wichtig die Umwelteinflüsse zu kennen und ein Wissen über die Umwelt zu erlangen. Unsere Beziehung zur Umwelt, aus der das Wissen hervorgeht, ist unter unterschiedlichen Perspektiven untersucht worden, nämlich aus biologischer, erkenntnistheoretischer und neurowissenschaftlicher, deren Ergebnisse nicht miteinander kollidieren dürfen um zuverlässiges Wissen zu erlangen. Unter biologischem Aspekt hat Maturana seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Erkenntnisse über den Austausch eines Organismus mit seiner Umwelt beschrieben. Der Austausch umfasst Materie und Energie und dient einer Selbsterhaltung des Subjektes.17 Beinah gleichzeitig wendeten sich neurowissenschaftliche Untersuchungen der Frage zu, wie ein Individuum Reize der Umwelt unter dem Aspekt seiner Lebensbedürfnisse neuronal verarbeitet. Wie kann ein Wissen über die Umwelt möglich werden, wenn im Hirn keine Umwelt zu finden ist sondern nur feuernde Neurone. Es waren schließlich erkenntnistheoretische Überlegungen einiger Philosophen, die die Frage, was wir über die Welt wissen können, neu zu beantworten versuchten. Sie erklärten ein Wissen über die Umwelt aus seiner Erschaffung, aus seinem nachvollziehbaren Herstellungsprozess.18 Es war die alte philosophische Idee aus der Renaissance – der Konstruktivismus – der sich als geeignet erwies, biologische, erkenntnistheoretische und neurowissenschaftliche Ergebnisse zu einer Erklärung des Wissens über die Umwelt widerspruchsfrei zusammenzuführen. Es wird sich zeigen, dass ein Individuum das, was es über die Umwelt weiß, sich erschafft. Umgekehrt kann ein Individuum die Umwelt durch Handeln verändern. Erforderlich ist deshalb auch ein Wissen über die Veränderungen, wie sie auf uns rückwirken und wie wir mit ihnen umgehen können.
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Maturana, (1987), S. 94 ff. Glasersfeld von, S. 69.
C. Individuum und Umwelt
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Individualismus Wenn man Ethik und Werte aus einem Individualismus herleitet wie hier aus dem Wissen eines Menschen über seine Umwelt, wird man klären müssen, ob ein Individualismus als Quelle von Werten gerechtfertigt ist. Zur Vermeidung einer individuellen Beliebigkeit haben sich Normen, die vom Individuum abstrahieren, als ungeeignet erwiesen. Der Individualismus hat die Fremdbestimmung des Menschen und ihre Einmauerung in beherrschende Ordnungszwänge gesprengt. „Das Rollenmodell des sozialen Lebens, nach dem das eigene Leben als Kopie nach der Vorgabe traditioneller Blaupausen gelebt werden könnte, läuft aus“.19 Die Befreiung des Individuums aus den Zwängen tritt im politischen Bereich hervor in Gestalt der Menschen- und Grundrechte ebenso wie in Begründungskonzepten staatlicher Verfassungen. Ihr Geltungsanspruch wird begründet aus individueller Zustimmung wie es in Vertragskonzeptionen von Hobbes bis Rawls deutlich wird. Im Bereich ethischer Orientierungen ist es wegen dieser Befreiung nicht nur undenkbar geworden, einen Individualismus außer Acht zu lassen sondern er fördert die freiwillige Selbstbindung des Individuums. Ein Individualismus wird nicht zu schrankenloser Freiheit des Handelns führen können, weil er seine Grenze in der individuellen Selbstbestimmung des Anderen findet. Die Selbstbegrenzung des Handelns lässt sich vom Individuum einsehen, weil es in eine Gemeinschaft mit anderen hineingeboren ist; es ist die Gemeinschaft von Familie, politischer und sozialer Einbindungen, auf die es aus Gründung eigener Lebensgestaltung kaum verzichten möchte. Beck nennt es eine „Individualisierung mit- und gegeneinander“20. Handeln und Verhalten gegenüber Dritten lässt sich zwar einfach benennen; wie aber die Beziehung zwischen Individuum, dem Anderen und der Gemeinschaft so verstanden werden kann, dass sie ethisch begründet und allgemeingültig ist, bleibt unklar. Volksweisheiten ebenso wie religiöse Grundsätze zeigen, dass moralische Orientierungen zum Wohle des Einzelnen, des Anderen und der Gemeinschaft keiner komplizierten Einsichten in ethische Begründungen bedürfen; sie bleiben aber oft vage; und ob sie zur Lösung ethischer Konflikte taugen ist zweifelhaft. Die goldene Regel „Was du selbst nicht wünschst, das tue auch keinem anderen Menschen an“ findet sich in allen großen Weltreligionen, im Hinduismus (Mahabharata XIII. 114.8); in der konfuzianischen Religion (Konfuzius, Gespräche 15,23); im Buddhismus (Samyutta Nikaya V, 353.35 – 354.2); im Judentum (Rabbi Hillel, Sabbat 31 a); im Christentum (Matthäus 7,12; Lukas 6,31); und im Islam (40 Hadithe, Sprüche Mohammads, von an-Nawawi 13).21 Ungeklärt ist ob und wie so eine allgemeine Rücksichtnahme eine Orientierung in gegenwärtigen ethischen Kon19 20 21
Beck, S. 4. Ebd. S. 3. Zit. nach Stiftung Weltethos, S. 18 f.
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C. Individuum und Umwelt
flikten sein kann. Wie sollte für oder gegen eine Präimplantationsdiagnostik nach dieser Volksweisheit entschieden werden? Ein Mensch mit Behinderung könnte sich gegen sie entscheiden und Eltern mit erblicher Veranlagung für eine Behinderung für sie. Individualismus und seine Grenzen bedürfen für die Konstituierung einer ethischen Orientierung einer Untersuchung: wie entstehen dem Individuum Orientierungen des Handelns gegenüber anderen Menschen? Einflüsse aus der Umwelt Um Ethik aus der Beziehung zwischen Mensch und seiner Umwelt herzuleiten muss die Umwelt und die Kommunikation des Menschen mit der Umwelt betrachtet werden. Der Begriff Umwelt ist seit Beginn des 19. Jahrhundert gebräuchlich und geht in seiner naturwissenschaftlichen Verwendung auf Jacob von Uexküll zurück; er drückte damit den modernen Gedanken aus, dass Lebewesen ihre Art spezifische Welt wahrnehmen. Die Kommunikation eines Individuums mit seiner Umwelt ist aus biologischer Perspektive für das Überleben und Gedeihen des Individuums unverzichtbar zur Bewältigung von Gefahren, zur Sicherung von Lebensgrundlagen und zur Gestaltung einer Leben schützenden Ordnung. Maturana nennt es „fähig sein, in einer individuellen oder sozialen Situation adäquat zu operieren.“22 Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der Begriff Umwelt von den Konstruktivisten und den Neurowissenschaftlern verwendet; er beschreibt einerseits die Welt als Ergebnis subjektiver Kommunikation, andererseits als Quelle der von den Sinnesorganen aufgenommenen Reize. Es ist ein anderer Umweltbegriff als ihn Scheler beschrieben hat. Er hatte Umwelt als Unterscheidungsmerkmal von Mensch und Tier gewählt; er schreibt, der Mensch ist nicht mehr „trieb und umweltgebunden, sondern ,umweltfrei‘ und, wie wir es nennen wollen, ,weltoffen‘23. Gegen so ein Umweltverständnis spricht heute, dass sich Umwelteinflüsse immer auf den Menschen nachweisbar auswirken. Kein Mensch ist frei von den Einflüssen, allerdings können wir die Folgen der Umwelteinflüsse abwägen und müssen ihnen nicht blind folgen. Vielleicht hat Scheler so eine Willens- und Handlungsfreiheit gemeint, auf die später ausführlich eingegangen wird. Sie ist aber nicht umweltfrei. In dieser Untersuchung wird ein Begriff von Umwelt verwendet, der einerseits als Quelle der von den Sinnesorganen aufgenommenen Reize und andererseits als Ergebnis subjektiver Reizverarbeitung der Menschen verstanden wird. Zur Umwelt gehören alle Gegenstände der belebten und unbelebten Natur, materielle wie ideelle, mit denen ein Subjekt in einen Austausch eintritt. Umwelt umfasst physische Gegenstände ebenso wie nicht körperliche Gegenstände wie z. B. die aus der Sprache, Kunst, Geschichte, sozialen Beziehungen, Normen, Regeln und religiösen Bindungen, die Einfluss auf die Menschen ausüben. Zur Umwelt eines Menschen gehören auch die anderen Menschen, ihr Handeln und Verhalten ebenso wie das eigene Handeln und Verhalten zur Umwelt für andere werden kann. 22 23
Maturana (1974), S. 84. Scheler (2002), S. 38.
C. Individuum und Umwelt
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Umwelt ist gekennzeichnet durch Reize, die von den Sinnesorganen und in neuronalen Prozessen des Hirns verarbeitet werden und zu Informationen über die Umwelt führen. Mensch und Umwelt sind voneinander unterschiedene Entitäten. Es gibt Vorstellungen, die das bestreiten. Radikale Konstruktivisten meinen, eine vom Subjekt unabhängige Umwelt gäbe es nicht. Sie sei sein schöpferisches Produkt aus subjektiven Hirnprozessen. „Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist ein Konstrukt des Gehirns“24, wobei die Begriffe Umwelt, Außenwelt und Wirklichkeit in diesem Zusammenhang nicht unterschieden werden. Einsehen lässt sich die Begründung der Radikalen Konstruktivisten, dass wir keinen Zugang zu einer vom Menschen unabhängigen Umwelt haben, sondern jeder Zugang eines Hirnprozesses bedarf. Was aber von den Radikalen Konstruktivisten nicht bestritten werden kann und auch nicht bestritten wird, sind Reize der Umwelt, die von den Sinnesorganen und in neuronalen Prozessen verarbeitet werden. Wenn der Mensch den Einflüssen der Umwelt ausgesetzt ist, bedarf er einer Möglichkeit, sich mit ihnen auseinander zu setzen und sie für seine Lebensgestaltung zu bewerten. Ohne eine Bewertung könnte er nicht sinnvoll mit ihnen umgehen. Betrachten lässt sich die Beziehung eines Menschen zu einem Dritten als die eines Menschen zu seiner Umwelt und umgekehrt der Dritte als Umwelt für die Ersten Person. Das betrifft auch das Handeln und Verhalten des Menschen gegenüber anderen Menschen und umgekehrt wird Handeln und Verhalten der anderen zur eigenen Umwelt. Eine Bewertung des Handelns und Verhaltens des Anderen ebenso wie das eigene wird unverzichtbar, um Erfolg bzw. Misserfolg für die je eigene Lebensgestaltung abschätzen zu können. Kommunikation Ein Mensch erhält Informationen über die Umwelt durch eine Kommunikation. Der Begriff der Kommunikation beschreibt einen Austausch zwischen Subjekt und Umwelt bezogen auf Materie und unterschiedliche Energieformen wie Lichtenergie, mechanische, thermische oder chemische Energie unter den Bedingungen ihrer Verarbeitung.25 Die Kommunikation ist nicht nur bestimmt von den Reizen der Umwelt, sondern auch von den phylo- und ontogenetischen Bedingungen. Ein Mensch kann z. B. als Licht nur Reize einer bestimmten elektromagnetischen Wellenlänge wahrnehmen. Umgekehrt kann ein Individuum nur durch ihm eigentümliche Reizaktivitäten wie z. B. durch Töne in begrenzten Bereichen von Wellenlängen auf seine Umwelt einwirken. Neurowissenschaftler erläutern eine Kommunikation eines Subjektes mit der Umwelt als Aufnahme und Verarbeitung von Umweltreizen und umgekehrt als 24
Roth (1997), S. 21. Köck (S. 359) unterscheidet Interaktion von Kommunikation, wobei er anders als Maturana Kommunikation an Zeichen und Bedeutungen bindet. Die Unterscheidung bleibt hier unberücksichtigt. 25
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C. Individuum und Umwelt
Einflussnahme des Subjektes auf die Umwelt. Es ist ein Reiz – Reaktionsprozess, der den phylo- und ontogenetischen Bedingungen eines Subjektes unterliegt. Damasio spricht von Wechselwirkungen zwischen Organismus und Umwelt.26 Jeder Mensch, vor allem sein Handeln, kann zur Umwelt für einen anderen werden. Roth unterscheidet – auch das ist unter Menschen sinnvoll – zwischen sprachlicher und nicht sprachlicher Kommunikation. Zur nicht sprachlichen rechnet er die aus Geruchssignalen, der Gestik und Mimik.27 Zu ergänzen ist eine Kommunikation über Spiegelneurone, auf die später eingegangen wird. Leistungen der Neurowissenschaften Neurowissenschaftler erforschen seit Jahrzehnten neurobiologische Grundlagen mentaler Prozesse. Ziel ihrer Forschungen ist es, die biologische Basis der geistigen Vorgänge zu verstehen, durch die wir wahrnehmen, vorstellen, handeln, lernen und uns erinnern in ihrer Abhängigkeit von den Umwelteinflüssen. Ihre Erkenntnisse zeigen die Zusammenhänge zwischen Reiz, Verarbeitung und biologischem Bedürfnis. Sie machen die Beziehungen zwischen den Arten der Reize, ihrer neuronalen Verarbeitung und den daraus hervorgehenden Ergebnissen einer Wahrnehmung und Bewertung sichtbar. Methodisch waren es Untersuchungen Hirn verletzter Patienten, Experimente und Stimulationen. Zur Beobachtung und Messung von Reaktionen des Gehirns sind unterschiedliche Verfahren entwickelt worden wie die Elektroenzephalographie, die Magnetenzephalographie, als bildgebende Verfahren die Positronen-EmissionsTomographie und die Kernspintomographie. Ergebnisse der Neurowissenschaften erschließen naturgesetzliche Reiz-Reaktions-Zusammenhänge. Untersucht wird, ob sich aus ihren Ergebnissen Hinweise auf Orientierungen finden lassen, die sich zur Begründung einer Ethik eignen, d. h. ob sie etwas zur Orientierung für Handeln und Verhalten der Menschen untereinander und zur Wahl ihrer Handlungsentscheidungen beitragen können, die mit Gründen aus Vernunft zu tun haben. Der Beitrag der Neurowissenschaften besteht zunächst darin zu zeigen, dass den Menschen aus ihrer Kommunikation mit der Umwelt – wenn auch keine Bedeutungen – so doch unterschiedliche Möglichkeiten eines Wissens über die Umwelt zugänglich sind. Es ist ein Wissen aus der Wahrnehmung, aus den Emotionen und aus den Reflexionen, deren Unterscheidung durch neuronale Prozesse und deren Verarbeitung an unterschiedlichen Hirnorten sichtbar wird. Es sind drei unterschiedliche Zugangsweisen zur Umwelt. Weil sie unterscheidbar sind, ermöglichen sie, Förderliches und Nachteiliges eines gegenseitigen Handelns der Menschen untereinander zu erkennen. Neurowissenschaftliche Experimente zeigen, dass Menschen mit einer Hirnverletzung des für die Bewertung zuständigen Hirnareals nicht erfolgreich überleben 26 27
Damasio, S. 132 f. Roth (2001), S. 360 ff.
C. Individuum und Umwelt
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und handeln können. Die Neurowissenschaften ermöglichen, Emotionen als konstitutives Element einer Moral zu erkennen wie weiter unten ausführlich nachgewiesen wird. Unstrittig ist dass die Neurowissenschaften neuronale Prozesse der Kommunikation nachweisen können, die Grundlage einer Informationen eines Subjektes über seine Umwelt bilden. Die Neurowissenschaft kann aber nicht zeigen wie aus den Verarbeitungsprozessen Bedeutungen hervorgehen wie z. B. bei einem bestimmten Reiz die Farbe „rot“ erkannt wird. Sie können aber die Bedingungen deutlich machen, die erfüllt sein müssen, damit Informationen über die Umwelt möglich werden. Die Informationen werden als Wissen bezeichnet, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: – die Ergebnisse sind nicht beliebig, weil sie sich auf Reize beziehen; – man kann sich der Ergebnisse bewusst werden und sie sprachlich erfassen; – Ergebnisse lassen sich überprüfen, ob sie zutreffen oder nicht. Die Ergebnisse sind nicht geeignet, das Phänomen der Wissensmöglichkeiten über die Umwelt, über Bedeutungen, Werte und Sinngehalte auf neurologische Prozesse so zu reduzieren, dass sie das gesamte Phänomen erklären. Die neurowissenschaftlichen Ergebnisse können nur bestimmte Zusammenhänge des Phänomens deutlich machen. Ihre Erklärungskraft besteht darin, dass ihre Ergebnisse den Rang einer notwendigen Bedingung für ein differenziertes Wissen über die Umwelt bilden. Ihre Ergebnisse wirken sich auf Handeln und Verhalten der Menschen in ihrer Umwelt aus, worauf später ausführlich eingegangen wird. Es könnte hier der Eindruck entstehen, dass die Neurowissenschaften UrsacheWirkungszusammenhänge beschreiben, die wie ein Naturgesetz unser Handeln und unsere Entscheidungen determinieren, so dass eine Willensfreiheit zur Illusion würde. Tatsächlich wird das von manchen Neurowissenschaftlern behauptet. Dass eine Willensfreiheit möglich bleibt, ohne die Ethik und Werte keinen Sinn machen würden, wird später untersucht. Jetzt wird ein Wissen über die Umwelt aus der Wahrnehmung und den Emotionen betrachtet.
D. Wissen über die Umwelt I. Wahrnehmung Die Umwelt ist aus der Perspektive eines Individuums vor allem unter zwei Aspekten zu betrachten: Was kann ein Individuum über seine Umwelt wissen und wie ist es ihm möglich, in seiner Umwelt erfolgreich zu überleben und zu handeln? Gemeinsames Merkmal der biologischen und der philosophischen Untersuchungen ist eine individuelle Verarbeitung der Informationen aus der Umwelt zu einem individuellen Konstrukt des Wissens. Es geht dabei darum herauszufinden, ob Wahrnehmung ein eigenständiges Wissen bildet. Wir nehmen die Umwelt wahr ohne sich dessen bewusst sein zu müssen. Wahrgenommenes erscheint unmittelbar; es bedarf keiner sprachlichen Vermittlung.28 Es bedarf auch keiner theoretischen Nachprüfung; Wahrnehmung, die zu einem „phänomenalen Begriff“ führt wie z. B. Schmerzen haben, bedarf keiner Theorie über Schmerzen um festzustellen, ob man welche hat. Man kann sich aber der Wahrnehmung bewusst werden und man kann über ein Wahrnehmungsergebnis ebenso wie über die Wahrnehmung selbst nachdenken und Wahrnehmungstheorien entwerfen. Um Zusammenhänge zwischen den Sinnesdaten und ihren Bedeutungen zu erkennen, wurde Wahrnehmung zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen und es sind vielfältige Wahrnehmungstheorien entstanden. 29 Gegenstand der Erklärungsentwürfe war vor allem die Subjekt-ObjektBeziehung, wie aus der Wahrnehmung eines Objektes das Wahrgenommene im Subjekt entsteht, wie der Übergang von den Sinnesdaten zu deren Bedeutungen verstanden werden kann. Einen anderen Weg eröffnen die Neurowissenschaften. Ihnen geht es nicht um die Subjekt-Objekt-Beziehung sondern um die Frage, was sich über ein Wahrnehmungsergebnis aussagen lässt, das aus einer neuronalen Verarbeitung der Umweltreize zustande kommt. Eine erste Aussage über die Wahrnehmung lässt sich so formulieren: für ein Lebewesen ist seine Selbsterhaltung an eine Wechselwirkung mit der Umwelt gebunden. Erkennen und Aufsuchen von Nahrung ist z. B. eine 28
Schantz plädiert für eine Unmittelbarkeit der Wahrnehmung als Wissen ohne auf anderes Wissen oder auf Begriffe zurückzugreifen; visuelle Erfahrung sei keineswegs epistemisch wertlos. 29 Kant (KrdrV, B 74, 75) spricht von Anschauung, womit er die Fähigkeit meint, Vorstellungen durch Sinnlichkeit zu empfangen, die aber erst mit Hilfe des Verstandes auf den Begriff gebracht wird.
I. Wahrnehmung
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wichtige Wahrnehmungsleistung. Die Aussage lässt sich leicht einsehen, denn wenn sie nicht zuträfe, könnte ein Lebewesen nicht überleben; Wahrnehmung dient der sinnlichen Orientierung eines Lebewesens in seiner Umwelt. Die Prozesse der Wahrnehmungen der Menschen – besonders die visuellen und auditiven – sind von den Neurowissenschaften verhältnismäßig gut erforscht. Für das Wahrnehmungsgeschehen sind drei Leistungen bestimmend: die Reizaufnahme und Reizverarbeitung durch die Sinnesorgane, die daraus entstehenden neuronalen Prozesse und die Verarbeitung der Signale an bestimmten Hirnorten. Die Sinnesorgane nehmen in dem Wahrnehmungsprozess eine Mittlerfunktion zwischen Umwelt und Gehirn ein, wobei sich die Umwelt in Reizen zeigt, die in den Sinnesorganen eine Reaktion auslösen und als Signale weitergeleitet werden.30 Das Gehirn gehört zum Nervensystem als dessen zentraler Teil und ist mit fast jedem Winkel des Körpers verknüpft. Es besteht aus einer Vielzahl von Nervenkörpern und ihren Verbindungen; es ist anatomisch unterteilt in mehrere Regionen mit unterschiedlichen Funktionen. In seinen neuronalen Verschaltungen werden die Reize aus den Sinnesorganen zu Wahrnehmungen verarbeitet.31 Zwischen Sinnesorganen und Gehirn herrscht eine Arbeitsteilung: Die Sinnesorgane übersetzen die Umweltreize in die Sprache des Gehirns; die Sprache des Gehirns sind neuronale Erregungszustände. Die Sinnesorgane unterscheiden sich durch ihre Fähigkeit, unterschiedliche Energieformen wie Lichtenergie, mechanische, thermische oder chemische Energie aufzunehmen, sie in verschiedene Sinnesmodalitäten umzuwandeln, was ihre Spezialisierung ausmacht, und in die einheitliche bioelektrische Sprache des Gehirns umzuformen; sie müssen die Schlüsselmerkmale eines Reizes weitergeben und es muss die sensorische Mitteilung abgestimmt werden, um Unterscheidungskapazitäten zu erreichen.32 Nicht jeder Reiz kann ein Sinnesorgan aktivieren, sondern nur solche, die innerhalb eines bestimmten Feldes des Sinnesrezeptors liegen. Die rezeptiven Felder begrenzen eine Kommunikation des Gehirns mit der Umwelt, d. h. es werden nur solche Reize zu einer Wahrnehmung verarbeitet, die den Sensibilitäten der rezeptiven Felder genügen. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung hängt vom unterschiedlichen Bau des Sinnesorgans ab. Mit Topographie des Gehirns wird eine Spezialisierung funktionaler Areale des Gehirns auf bestimmte Aufgaben beschrieben.33 Das Gehirn verarbeitet die verschiedenen Umweltereignisse in Gestalt unterschiedlicher Energieformen nach einem topologischen Prinzip. Dieses Prinzip des Verarbeitungsortes ist verhältnis30 Mit dem Begriff Reiz werden sensorische Informationen aus der Umwelt bezeichnet, die in verschiedenen Energieformen auftreten. Signale werden die von den Sinnesorganen erzeugten Erregungszustände im Nervensystem genannt; vgl. Roth (1997) S. 92 ff. 31 Ausführliche Beschreibungen des Gehirns und seiner Verarbeitungsprozesse finden sich bei Damasio (1997), Roth (1997), Singer (1999) und Kandel/Schwartz. 32 Kandel/Schwartz, S. 382; zur Umwandlung verschiedener Umweltereignisse in die bioelektrische Sprache des Gehirns; vgl. Roth (1987), S. 232. 33 Roth (1997), S. 110 f. u. (1987), S. 234.
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D. Wissen über die Umwelt
mäßig gut erforscht; dagegen sind die sehr komplexen Prozesse, die in den verschalteten Hirnbereichen während geistiger Prozesse stattfinden, weniger gut bekannt. Bisher bekannte funktionale Areale in dieser topographischen Ordnung sind: der visuelle Cortex, der auditorische Cortex, ein Areal für Sprachfunktionen, ein Areal für kognitives Verhalten und Bewegungsplanung, ein Areal für Gefühle und Gedächtnis im limbischen Cortex und ein somato-sensorisches Rindenfeld, das der Körperempfindung dient.34 Ähnlich wie die verschiedenen Verarbeitungsorte des Gehirns für differenzierte Informationen aus der Umwelt verweisen die neuronalen Prozesse auf weitergehende Differenzierungen der Informationen aus der Umwelt. Die Verarbeitung der Reize in den verschiedenen Rezeptortypen der Sinnesorgane besteht aus der Umwandlung der unterschiedlichen physikalischen und chemischen Umweltreize in neuroelektrische und neurochemische Signale, die spezifische Reaktionen der Zellen auslösen.35 Die Verarbeitung der Signale aus den Sinnesorganen leisten in den Hirnregionen die neuronalen Prozesse, d. h. nach dem lokalen Prinzip des Gehirns gibt es neuronale Antworten in den sensorischen Arealen. Je nach Bau und Funktion sind es unterschiedliche Neurone. Die neuronalen Prozesse beschreiben die Vorgänge in den Nervenzellen – den Neuronen – die beitragen, dass aus den Signalen der Sinne Wahrnehmungen hervorgehen. Zur Verarbeitung der sensorischen Informationen in den Neuronen gehört auch eine Programmierung von Reaktionen, die dem Lernen und Gedächtnis dient.36 Auch wenn Singer meint, das Wissen von der Welt sei in neuronalen Verschaltungen der Nervenzellen niedergelegt, bleibt darauf hinzuweisen, dass die Zusammenhänge zwischen neuronalen Prozessen und der Entstehung von Wahrnehmungsobjekten bisher nicht restlos geklärt sind.37 Es gibt jedoch eine Reihe von Beobachtungsergebnissen, die zum Verständnis der Konstituierung des Wahrnehmungsobjektes beitragen. Es gibt z. B. Neurone, die zur Erkennung bestimmter Eigenschaften spezialisiert sind; man hat solche gefunden, die an der Erkennung von bestimmten Eigenschaften der Gesichter beteiligt sind;38 Singer berichtet von einzelnen Nervenzellen, die auf bestimmte Konstellationen von Merkmalen der Gesichter spezialisiert sind; diese Gesichterzellen sind Nervenzellen, die selektiv auf Gesichter ansprechen. Beobachtet wurden auch solche, die auf die Erkennung einer Konturorientierung spezialisiert sind.39 34 Vgl. Kandel/Schwartz (1996) S. 15 und 399: dort findet sich eine sehr ausführliche Darstellung der Areale, die für das Sehen zuständig sind. 35 Ausführliche Beschreibungen der neuronalen Vorgänge finden sich bei Roth (1997), S. 92 f., Kandel/Schwartz,) S. 32; Damasio (1997), S. 52 ff. 36 Kandel/Schwartz, S. 24. 37 Singer (1999), S. 268 u. S. 274. 38 Roth (1997), S. 173. 39 Singer (1999), S. 272.
I. Wahrnehmung
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Ähnlich wie die verschiedenen Verarbeitungsorte auf differenzierte Informationen aus der Umwelt verweisen, geben die neuronalen Prozesse Hinweise auf weitergehende Differenzierungen der Informationen aus der Umwelt. Es sind Eigenschaften der Umweltreize, die Roth einteilt in: die Modalität des Reizes wie visuelle, auditorische und somatosensorische Reize; die Qualität der Reize, das sind bei visuellen Reizen z. B. Farbe und Helligkeit, bei auditorischen Reizen Lautstärke, Tonhöhe und Intensität wie dunkel oder hell, laut oder leise, stark oder schwach; und schließlich die Zeitstruktur eines Reizes, ob er kurz oder lang andauert, periodisch oder aperiodisch ist.40 Es leuchtet ein, von den Modalitäten der Sinneswahrnehmungen auf die Modalitäten der Umweltreize zu schließen, weil letztere die ersteren beeinflussen. Ohne dass für alle Sinnessysteme schon eine umfassende Differenzierungsübersicht vorliegt, können aus den inzwischen bekannten Klassifizierungen vor allem des gut erforschten visuellen, aber des auditorischen Systems differenzierte Reize der Umwelt nachgewiesen werden. Was dabei von außen – aus der Umwelt – beigegeben wird und was aus der subjektiven Ausstattung – dem Erkenntnisapparat –, lässt sich aus neurowissenschaftlichen Daten nicht unterscheiden, ebenso wenig deren Mischungsverhältnis.41 Was sich unterscheiden lässt, ist der Einfluss der Reize als eine notwendige Bedingung für das Wahrnehmungsprodukt. Ohne Reize ist eine Herausbildung der Wahrnehmung nicht möglich, abgesehen von Bildern aus der Erinnerung oder einer Vorstellung, die aber auch auf Wahrnehmungen zurückgehen. Hinzuweisen bleibt noch darauf, dass die neuronalen Prozesse nicht von vornherein und endgültig determiniert, sondern durch Lernfähigkeit veränderbar sind. Die Herausbildung neuronaler Verschaltungsmuster im Zusammenhang mit der Entwicklung des kindlichen Gehirns beschreibt Hüther: Die vom assoziativen Cortex generierten Erregungsmuster würden in immer stärkerem Maße zu unseren Abbildern der Außenwelt geformt und stabilisiert.42 Hinzu kommen soziale Verhältnisse und all das, was sich in onto- und phylogenetischer Entwicklung herausgebildet hat.43 Jedes Individuum und jede Art bilden ihren Wahrnehmungsgegenstand heraus. Man wird wegen der individuellen Einflüsse nicht auf eine für alle gleichermaßen entstehende Wahrnehmungswelt schließen dürfen; man wird aber dort, wo Wahrnehmungen entstehen, auf Umweltreize hinweisen dürfen, die nicht irgendeine Wahrnehmung ermöglichen, sondern eine den Reizen entsprechende. Wahrnehmung bildet nicht die Umweltereignisse ab, sondern sie ist ein subjektives Konstruktionsergebnis. Sie ist ein schöpferischer Prozess eines Individuums, das Informationen aus der Umwelt verarbeitet.44 Die Konstruktion des Wahrgenommenen aus so einem schöpferischen Prozess umfasst individuelle Einflüsse 40 41 42 43 44
Roth (1997), S. 108. Ebd. S. 342. Hüther, S. 111 f. Vgl. Ploog, (1989), S. 1 ff. Roth (1997), S. 125.
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D. Wissen über die Umwelt
sowie Einflüsse aus den Umweltreizen; Singer beschreibt diesen Prozess so: Wahrnehmungsphysiologische Untersuchungen zeigen, „dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muss, bei dem das Gehirn die Initiative hat. Das Gehirn bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, und vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen. Finden sich die Voraussetzungen bestätigt, erfolgt Wahrnehmung nach sehr kurzen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nicht zu, muss das Gehirn seine Hypothesen korrigieren, was die Reaktionszeit verlängert.“45 Gegenüber der Behauptung, alle Wirklichkeit sei nur ein subjektives Konstrukt, hat sich jetzt gezeigt, dass die Konstruktion den Bedingungen des Gehirns, der Sinnesorgane, des Leibes und der Umweltreize unterliegt. Die Theorien, die Wahrnehmung aus einem Prozess ihres Zustandekommens erklären, wie die des Radikalen Konstruktivismus, mussten diese Voraussetzungen anerkennen. Die Spezifizierung der Sinnessysteme, die Differenzierung der neuronalen Prozesse und die Topographie des Gehirns erlauben auf eine Differenzierung der Umweltreize zu schließen. Wenn auch keine abbildbare Außenwelt nachweisbar ist, eine Differenzierung der Umweltreize und ihren Einfluss auf das subjektive Wahrnehmungskonstrukt werden die Radikalen Konstruktivisten nicht bestreiten. Erste Überlegungen zu einer möglichen Verallgemeinerung der Wahrnehmungsergebnisse verweisen auf Begriffe wie Konstanz, Gleichheit und Invarianz. Die Wahrnehmungserfahrung lehrt, dass sich eine Beobachtung unter gleichen Bedingungen wiederholen lässt, für den gleichen wie für einen anderen Beobachter. Es hat sich gezeigt, dass einer Wahrnehmung wie z. B. dem freien Fall eines Steines etwas zugrunde liegt. Üblicherweise wird eine vorsichtige Annäherung an eine Allgemeingültigkeit der Einzelbeobachtung aus einer Induktion hergeleitet. Eine Rechtfertigung der Konstanz einer Erfahrung bieten jetzt die Reize der Umwelt. Diese können im Verbund mit gleich bleibenden subjektiven Bedingungen als Quelle die Konstanz des Wahrgenommen erklären. Wenn die Wahrnehmung nur von subjektiven Bedingungen abhängig wäre, sich aber ein gleiches Ergebnis bei verschiedenen Beobachtern zeigte, wie sollte das erklärt werden können? Und wie sollte man sich die Wahrnehmung eines Gegenstandes bei einer Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven als denselben Gegenstand erklären können, obgleich jedes Mal ein verändertes Wahrnehmungsergebnis auftritt wie z. B. bei einem Kreis aus einer Schrägsicht die unterschiedlichen Ellipsen; und doch wird er als Kreis erkannt. Auch wechselnde subjektive Bedingungen wie z. B. die Benutzung einer Brille oder Einschränkungen des organischen Sinnesvermögens führen nicht zu prinzipiell anderen Wahrnehmungsergebnissen, vielmehr zu Undeutlichkeiten, die als Undeutlichkeiten bemerkt werden. Sie können doch nur bemerkt werden, weil der Wahrnehmende nicht nur seine subjektiven Bedingungen für maßgeblich hält,
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Singer (2000), S. 200.
II. Emotionen
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sondern darüber hinausgehende Einflüsse der Umwelt einbezieht. Reize der Umwelt sind geeignet, Konstanz zu sichern. Wie gelingt die Herausbildung eines Wahrnehmungsgegenstandes aus einer Vielzahl serieller oder parallel verlaufender neuronaler Prozesse? In der Sprache einer neurobiologischen Prozessbeschreibung gibt es neuronale Reaktionskonstellationen, die eine Einheit wie z. B. ein Gesicht repräsentieren. Reaktionskonstellationen bedürfen aber einer Quelle. Ein Hinweis auf eine Erklärung einer Einheit könnte aus den Reizquellen der Umwelt kommen: Wo aus einer Quelle gleichzeitig Reize von unterschiedlichen Sinnesorganen wie z. B. durch die Augen und die Ohren aufgenommen werden, wird die Einheit der Quelle selbst zum Grund der Herausbildung des einen Wahrnehmungsgegenstandes aus unterschiedlichen Reizen. Dazu gibt es bisher keine Untersuchungsergebnisse. Vorstellbar sind Forschungen, die diesem Hinweis nachgehen und vielleicht bestätigen. Die Frage nach einem Bewusstsein wie auch die nach dem Zustandekommen von Bedeutungen, von Erinnerung und Lernvorgängen zeigen erste Ergebnisse, auf die hier nicht eingegangen werden muss. Eines der wesentlichsten Merkmale der Wahrnehmung ist ihr Zusammenhang mit Emotionen und deren unverzichtbare Bewertung der Wahrnehmung für Leben und Erhaltung des Menschen. Aus diesem Merkmal lässt sich eine Ethik aus Emotionen und Vernunft herleiten, wie sich später zeigen wird.
II. Emotionen Haben Emotionen etwas mit Moral zu tun? Emotionen sind wiederholt unter verschiedenen Aspekten betrachtet worden wie unter einem psychologischen, einem psychiatrischen und einem neurobiologischen. Einer psychologischen oder psychiatrischen Sichtweise kommt es auf das subjektive Konstrukt des Erlebnisses an.46 Die Neurobiologie dagegen untersucht die Beziehungen zwischen Emotionen und physiologischen Zuständen. Sie eröffnen die Möglichkeit zu erforschen, welche Bedeutung den Emotionen für Leben und Gedeihen zukommt. In Anspruch genommen wurden Emotionen für Entwürfe einer Ethik wie z. B. durch Hume; er begründete eine Moral aus Geschmack, Gefühl und Herz; Schopenhauer entwarf eine Ethik aus Mitleid und Tugendhat eine aus Scham. Sartre hat aus den Gefühlen Qualitäten seiner Subjekthaftigkeit, seiner Leiblichkeit und seiner Bezogenheit auf Andere erschlossen.47 Gegner lehnten eine Moralbegründung aus 46
Vgl. Joas, (2006). Sartre (1997, S. 317) erklärt Emotionen aus einem Verhältnis des Menschen zur Welt; er kennzeichnet Emotionen als Intentions- und Verhaltensänderung bezogen auf eine Qualität der 47
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D. Wissen über die Umwelt
Emotionen ab, weil Emotionen etwas Subjektives seien; wie kann aus subjektiven Gefühlen eine allgemeingültige Moralvorstellung entstehen, so der Vorwurf Kants. Aus der Perspektive gegenwärtiger neurowissenschaftlicher Untersuchungen bleibt zu prüfen ob Kants Einwand zutrifft, dass subjektive Gefühle in einer allgemein gültigen Moral nichts zu suchen hätten. Es gibt gegenwärtig eine Reihe von Untersuchen über den Zusammenhang von Emotionen und Moral.48 Eine davon wird als Beispiel genauer betrachtet. NunnerWinkler meint, dass Emotionen und moralisches Handeln aufeinander bezogen seien, aber nicht so, dass moralisches Handeln aus Gefühlen erklärt werden könne. Sie hat drei Deutungstypen herausgearbeitet. Als Beispiel für die konstitutive Deutung nennt sie Schopenhauer, der Mitleid eine Moral definierende Emotion nennt; Mitleid ließe zu, sich mit dem Anderen zu identifizieren; es sei die Basis aller Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe. Eine funktionalistische Deutung zeige Kohut, weil von der Erfahrung von Werten das Selbstwertgefühl abhinge; das Selbstwertgefühl und dessen Förderung erlaube die Aufrechterhaltung des Selbst; die Empathie verschaffe einen Überlebensvorteil. Eine indikative Deutung entwirft sie selbst, weil sie meint, dass sich die Fragen „Was ist Moral?“ und „Warum soll ich moralisch sein?“ ohne Rekurs auf Emotionen explizieren ließen. Moralische Motivation hält sie für unabhängig von moralischen Emotionen; moralische Gefühle seien nicht Grund, sondern Folge moralischen Handelns.49 Nunner-Winkler rechtfertigt ihre Aussagen aus empirischen Untersuchungen mit Kindern. Eines ihrer Ergebnisse ist, dass die Kinder ihnen erzählte Sachverhalte nach solchen moralischen Regeln bewerteten, die sie kennen. Ihre Bewertung zeige, dass nicht ein moralisches Gefühl, sondern eine Regel die Bewertung erzeuge, die von moralischen Gefühlen begleitet wird. Kritisch lässt sich zu ihren Untersuchungen fragen, ob wirklich die Beobachtungen der Reaktionen von Kindern im Alter von 4 bis 9 Jahren einfach auf Erwachsene übertragbar sind. Ist nicht der umgekehrte Weg sinnvoller, nämlich den Zusammenhang von Emotionen und Moral bei Erwachsenen zu untersuchen und zu fragen wie er sich auf das Verhalten von Kindern durch Erziehung in deren Lernalter auswirkt? Ein zweiter Einwand ist: Wenn Kinder als Grund ihrer Bewertung Regeln angeben, ist noch nicht geklärt, warum sie die Regeln angeben. Auch wenn als Grund die Autorität eines Erwachsenen oder Strafe ausgeschlossen wird, können doch emotionale Bewertungen im Spiel sein wie „benachteiligt sein“, „Ungerechtigkeit empfinden“ oder „einem Freund aus Verbundenheit beistehen“. Wie moralische Regeln zustande kommen, wird hier nicht gefragt und untersucht. Nunner-Winklers Deutungen eines Zusammenhangs von Moral und Emotionen leisten nur unbefriedigende Erklärungen moralischer Urteile, weil die EntsteWelt. „Eine Emotion verweist auf das, was sie bedeutet. Und was sie bedeutet, ist ja letztlich die Totalität der Beziehung der menschlichen Realität zur Welt“. 48 Vgl. Döring 2002 und Landweer 2007. 49 Nunner-Winkler, S. 149 ff.
II. Emotionen
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hungsprozesse moralischer Urteile außer Acht gelassen werden. Wenn sich zeigen lässt, dass eine ethische Urteilsbildung aus emotionalen Bewertungen hergeleitet werden kann, dann wäre Nunner-Winklers Behauptung, moralische Gefühle seien nicht Grund, sondern Folge moralischen Handelns, widerlegt. Gemeinsam ist den erwähnten Untersuchungen die Perspektive, eine Moralität der Emotionen aus psychologischen Aspekten zu betrachten und nicht aus einem Zusammenhang von Individuum und Umwelt; eine Emotion wird z. B. als „aktualer bewusster Zustand mit einem bestimmten Affekt und einer bestimmten Art von intentionalem, nämlich repräsentationalem Inhalt“50 gesehen. Die Ergebnisse der psychologischen Untersuchungen erschließen keinen Zugang zu einer begründeten Ethik, weil es ihnen aus psychologisch fundierten Aspekten auf das subjektive Konstrukt des Erlebnisses ankommt und dessen Verallgemeinerbarkeit, wie es für eine Ethik unverzichtbar ist, sich nur auf empirische Wahrscheinlichkeitsergebnisse stützen kann, die für eine Allgemeingültigkeit nicht ausreichen. In den Untersuchungen bleiben die Beziehung zur Umwelt und die unverzichtbare Bewertungsinstanz der Emotionen – wie es in der folgenden Theorie gezeigt wird – außer Acht. Bezieht man den Zusammenhang von Emotionen und Umwelt unter neurowissenschaftlichen Aspekte ein, dann werden für jeden Menschen zutreffende verallgemeinerbare Bedingungen einer Moral sichtbar. Beschreibung der Emotionen Emotionen sind körperlich erfahrbare Reaktionen und zugleich kognitiv verarbeitete erlebbare Gefühle.51 Sie bedürfen keiner Theorie, um erfahrbar zu sein. Mit Emotionen werden Zustände wie Lust, gehobene Stimmung, Euphorie, Ekstase ebenso wie Unlust, Traurigkeit, Verzweiflung, Depression, Furcht, Angst, Ärger, Feindseligkeit und Gelassenheit bezeichnet. Neben dem Begriff der Emotionen wird auch von Gefühlen, Empfindungen und Gemütsbewegungen gesprochen, bisweilen wird zwischen ihnen unterschieden. Kandel meint, in den Emotionen äußere sich ein Erleben von Gefühlen, die gleichzeitig in Körperreaktionen ihren Ausdruck fänden.52 Damasio unterscheidet in den emotionalen Prozessen Gefühl von Empfindung: Dem Begriff Gefühl ordnet er eine Bewertung der Reize zu, die sich in körperlichen Reaktionen auswirken, z. B. wenn jemand angesichts eines bellenden Hundes eine Gänsehaut spürt, Angst empfindet und sich der Angst bewusst wird. Empfindungen dagegen nennt er den Anblick der körperlichen Reaktion wie hier der Gänsehaut, also ihre kognitive Verarbeitung. Unabhängig von Damasios Unterscheidung treten hier die beiden Auswirkungen der Reize zutage: körperliche Reaktion und kognitive Verarbeitung.
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Döring, S. 92 Damasio (S. 193) beschreibt Gefühle als eine Zusammensetzung aus geistigem Bewertungsprozess und Körperzustand. 52 Kandel, S. 609. 51
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D. Wissen über die Umwelt
Nozick hatte zwischen Emotionen und Gefühlen unterschieden. Gefühl ist bei ihm Ausdruck der inneren Erfahrung eines Subjekts, während er Emotionen einem kognitiven Prozess zuordnet, in dem ein Subjekt den Wert einer Sache ergründet, der einen daraus erwachsenden psychischen Zustand wie Stolz rechtfertigt.53 Ploog schließlich nennt sie ein Signalsystem unabhängig von der Sprache. In den Begriff seien auch Affekte als meist kurz andauernde Gemütsbewegungen eingeschlossen.54 Ob man innerhalb der emotionalen Reaktionen einer Unterscheidung zwischen Gefühl und Empfindung zustimmt, ob man einer Trennung der Gefühle von den Emotionen folgt55 oder ob man keinen Unterschied in den Reaktionen macht: Unstrittig ist, dass ein Reiz bzw. ein Umweltereignis als Auslöser erforderlich ist. Unstrittig ist auch, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Reizaufnahme, Reizreaktionen im Körper und in kognitiven Prozessen des Gehirns und einer Reizbewertung nach Reaktionsmustern bewusst oder unbewusst, angeboren oder erlernt. Die von einem Reiz ausgelösten Emotionen und die Körperreaktionen sind eng verknüpft, wenn auch strittig ist, ob erst die Gefühle und dann die Körperreaktionen auftreten oder umgekehrt. Möglicherweise gibt es gar keine Grenze zwischen beiden Reaktionen. Da bisher keine exakte Definition der Emotionen von Neurobiologen vorgelegt worden ist, soll die folgende Beschreibung genügen: Es sind Gefühle und Stimmungen, ausgedrückt in Reaktionen und Verhalten des Körpers und in ihrer geistigen Verarbeitung. Sind Emotionen von Motivationen zu unterscheiden? Kandel nennt dafür ein Kriterium: Emotionen seien das, was eine Person wisse. Zu solchen kognitiven Aspekten rechnet er Wahrnehmungen, aber auch Vorstellungen, Empfindungen und Gefühle. Motivationen zeigten dagegen das, was eine Person brauche; er verweist auf Triebe individueller Bedürftigkeit wie Hunger, Durst oder Sexualität.56 Eine Unterscheidung nach diesen Kriterien des Wissens und Brauchens mag bezweifelt werden, weil sie sich überschneiden wie z. B. Angst, die der Betroffene weiß und die zugleich ein Bedürfnis nach Hilfe entfacht. Sinnvoll erscheint dagegen eine Unterscheidung zwischen Emotionen und Trieben57. Triebe lassen sich als angeborene Grundverfassung für biologische Bedürfnisse bei Lebewesen beschreiben, die eine Empfänglichkeit für entsprechende Reize steigern; Emotionen dagegen als Zustände, die auf Reize zurückgehen. Bei Ploog findet sich diese Unterscheidung; er rechnet beide zu einem primären Motivationssystem und gibt den Emotionen den bestimmenden Vorrang. Als Beispiel 53
Nozick (1991), S. 96 ff. Ploog, S. 526. 55 LeDoux, S. 49 f. 56 Kandel, S. 626. 57 Damasio (162 ff.) sieht Triebe und Instinkte durch angeborene Schaltkreise repräsentiert; die durch sie bewirkten biologischen Verhaltensweisen seien durch zusätzliche Kontrollschichten vor allem bei menschlichen Gesellschaften zu Wandel und Anpassung in der Lage. 54
II. Emotionen
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nennt er Hunger, der bei Angst vergeht, und Durst, der bei Ekel vor stinkendem Wasser verschwindet.58 Ob den Emotionen dieser Vorrang zukommt, mag bezweifelt werden. Es gibt Fälle, in denen der Trieb sich überlegen zeigt wie z. B. bei Hunger in einer lebensbedrohenden Lage, in der er den Ekel vor einer Nahrung überlagert. In dem hier behandelten Zusammenhang bleibt unter Einbeziehung der Triebe als Grundverfassung entscheidend nachzuweisen, inwiefern Emotionen von Reizen der Umwelt hervorgerufen werden. Nachzuweisen wird sein, dass es sich bei Trieben und Emotionen um Zustände handelt, die aus eigenständigen, von der Wahrnehmung unterscheidbaren Prozessen hervorgehen und ein Wissen über die Umwelt vermitteln. Ploog hat darauf hingewiesen, dass Emotionen für ein Individuum nicht erlernbar, sondern angeboren sind; was erlernt und im Gedächtnis gespeichert werden kann, das sind die Gegenstände, Ereignisse, Personen und soziale Konstellationen, die bestimmte Emotionen ausgelöst haben.59 Emotionen aus Verarbeitung von Reizen der Umwelt Es sind emotionale Reize der Umwelt, die von Neurowissenschaften untersucht, nachgewiesen und erschlossen worden sind. Die Verarbeitung emotionaler Reize geschieht im limbischen System; das ist eine subcorticale Region.60 Es gibt eine zweifache Auswirkung emotionaler Reize: eine körperliche und eine kognitive. Durch das limbische System werden einerseits körperliche Reaktionen des autonomen Nervensystems ausgelöst, andererseits wirken vom limbischen System ausgehende Erregungszustände auf den frontalen und limbischen Cortex ein, die sich auf Verhalten und Handeln auswirken.61 Die Körperreaktionen wie Schweißausbruch, Erröten oder Herzklopfen sind Reaktionen des autonomen Nervensystems; parallel zu diesen autonomen Reaktionen gibt es – abhängig von der biologischen Ausstattung – eine kognitive Verarbeitung der Reize; z. B. könnte ein Reiz einen körperlichen Erregungszustand wie Herzklopfen hervorrufen und durch ein Bewusstwerden des Reizzustandes im Zusammenhang mit einer Wahrnehmung wie Dunkelheit zu einem Erlebnis von Angst führen. Das komplizierte Zusammenwirken der Hirnregionen bei autonomen und kognitiven Reaktionen versuchen unterschiedliche Theorien zu erklären: Es gibt diejenigen, die von Reaktionen des autonomen Nervensystems ausgehen, die ihrerseits in kognitiven Prozessen zum Bewusstsein gelangen;62 einige meinen, dass Emo58
Ploog, S. 527. Ebd. S. 548. 60 Kandel, (S. 725), schreibt: Das limbische System ist keine regional exakt abgegrenzte Region, sondern besteht aus verschiedenen Teilen u. a. dem Hippocampus, dem Hypothalamus und der für die emotionalen Reaktionen wichtigen Amygdala. 61 Vgl. auch Roth (1997), S. 306; Ploog nennt die Amygdala einen Knotenpunkt in der Anatomie der Emotionen. ( S. 543). 62 Vgl. Pöppel (1989), S. 17 ff. 59
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tionen den physikalischen Reaktionen des autonomen Nervensystems vorausgehen, andere verfolgen die Theorie, dass Emotionen aus einem dynamischen Prozess zwischen biologischen und kognitiven Faktoren entstünden.63 Kandel spricht von einer reziproken Kommunikation der beiden Hirnregionen, des Hypothalamus, der an den Emotionen mitwirkt, und den höheren cortikalen Zentren, die kognitive Leistungen hervorbringen, was bedeutet, dass die Emotionen auf die Kognition64 Einfluss ausüben. Trotz der Unterschiede in den Erklärungen ist folgender Zusammenhang unstrittig: Sinnesinformationen folgen im Gehirn zwei Wegen: einer führt vom Sinnesorgan zur spezifischen Hirnregion, wo eine Verarbeitung zu Wahrnehmungen stattfindet; ein zweiter Weg führt vom Sinnesorgan in das limbische System, wo einerseits autonome Reize ausgelöst werden und andererseits eine Rückmeldung an die kognitive Region der Sinnesreizverarbeitung erfolgt; durch diese Interaktionen werden emotionale Einflüsse auf die Kognition wirksam, aus der ein bewusstes emotionales Erlebnis entsteht.65 Ähnlich wie bei den Wahrnehmungen gibt es auch bei den Emotionen unterschiedliche lokale Repräsentationen im Gehirn und spezifische neuronale Entladungsmuster;66 Lust und Schmerz z. B. – die Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens – sind an unterschiedlichen Orten lokalisiert.67 Der Nachweis lokaler Repräsentationen ergibt sich aus medizinischen Befunden, aus operativen Eingriffen, aus Hirnverletzungen, aber auch aus Experimenten mit künstlichen Reizen. Zu den künstlich erzeugten Emotionen zählen Experimente mit elektrischen Stimulationen der Amygdala, durch die sich bei Menschen unterschiedliche Gefühle erzeugen lassen; eine Auflistung von Aussagen der Patienten nach Reizaufnahmen umfasst: Schmerzen, Schwäche, warmes Gefühl, hoffnungsvoll, entspannt, tiefe Gedanken, Vertrauen in die Zukunft. Allgemein rufen Läsionen und elektrische Stimulationen der Amygdala mannigfache autonome Reaktionen und emotionale Verhaltensweisen hervor.68 Einteilung der Emotionen Lassen sich Emotionen so voneinander unterscheiden, dass von ihren differenzierten Ausprägungen her ein Rückschluss auf ihre Quellen in der Umwelt möglich wird? Man findet zunächst Unterscheidungen zwischen fundamentalen primären 63
Singer (1999), S. 527. Roth (1997, S. 26 ff.) beschreibt Kognition mit Orientierung eines Organismus in seiner Umwelt, worunter Vorgänge wie Wahrnehmen, Denken, Verstehen und Urteilen fallen. 65 Kandel, (S. 620 f.) zeigt eine schematische Übersicht über die Bahnen, die an der Verarbeitung emotionaler Informationen beteiligt sind; Ploog, (S. 529) gibt einen Überblick über die Sequenz neuronaler Ereignisse beim mimischen Feedback, der die Verbindung von Neokortex und limbischem System zeigt. 66 Ploog, S. 533; Kandel, S. 565. 67 Pöppel (1989, S. 22) benennt ein Lustzentrum; ebenso Kandel, (S. 622). 68 Kandel, S. 617 f. 64
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Emotionen und sekundären; fundamental werden solche bezeichnet, die eine spezifische subjektive Qualität aufweisen und für jede von ihnen wird ein spezifisches neuronales Entladungsmuster angenommen. Es werden unterschiedlich viele fundamentale Emotionen genannt, z. B. eine Zahl von vier: Erwartung, Wut, Angst und Panik; an anderer Stelle sind es acht: Interesse, Überraschung und Freude als positive Emotionen und Ärger, Angst, Scham, Ekel und Wut als negative Emotionen; aus Untersuchungen des psychiatrischen Bereiches werden sieben genannt: Überraschung, Ärger/Wut, Angst, Freude, Traurigkeit, Abscheu und Verachtung; später traten noch Neugier und Anerkennung hinzu. Auf den Einwand, dass sich menschliche Gefühle nicht in den aufgezählten fundamentalen Emotionen erschöpfen, nahm man zusätzlich sekundäre Emotionen an, die aus Mischungen der primären Emotionen hervorgehen. Während Ekman fünfzehn Emotionen unterscheidet: Glück/Vergnügen, Ärger, Verachtung, Zufriedenheit, Ekel, Verlegenheit, Aufgeregtheit, Furcht, Schuldgefühl, Stolz, Erleichterung, Trauer, Befriedigung, Sinneslust und Scham, bezweifelt Ploog, dass eine Einteilung in primäre und sekundäre Emotionen überhaupt dem heutigen neurobiologischen Systemverständnis entspricht. Er hält ein Muster der Verästelung für angemessener, durch das für Emotionen spezifische zerebrale Repräsentanz an einem Ort herausgebildet wird.69 Diese Auffassung würde für eine große unbeschränkte Vielfalt der Emotionen sprechen, die ein Nebeneinander, eine Überlagerung und Mischungen zulässt. Hinsichtlich ihrer Repräsentanz im Gehirn würde das bedeuten, dass die spezifischen Neuronen ebenfalls nicht einer abgegrenzten Einteilung gegeneinander unterliegen, sondern eine Vielfalt bilden, ähnlich den Wahrnehmungsprozessen, bei denen sich als unwahrscheinlich herausgestellt hat, das jedem Merkmal ein Neuron entspricht. Stattdessen nimmt man Neuronenpopulationen an, die eine Vielfalt von Reizen repräsentieren können. Auch wenn man einerseits keine Zuordnung von Neuronen zu bestimmten Emotionen durchgehend nachweisen kann, wird andererseits nicht bestritten, dass differenzierte Reize ihnen zugeordnete zerebrale Prozesse bewirken, die bestimmte Emotionen repräsentieren.70 Eine Spezifizierung von Emotionen lässt ihre emotionalen Reizquellen deutlich hervortreten, die sich einerseits von den Reizquellen der Wahrnehmung unterscheiden und eigenständige Ergebnisse hervorbringen und andererseits mit den Reizquellen der Wahrnehmung eng verknüpft sind. Am Beispiel des gut erforschten visuellen Systems lässt sich der Zusammenhang von visueller Wahrnehmung und Emotionen zeigen. Als geeignet erweisen sich Ausdrucksbewegungen von Gesichtern, weil sie einen Zusammenhang von Wahrnehmung und emotionalen Prozessen veranschaulichen: da ist auf Grund eines Reizes ein autonomes emotionales Reaktionsmuster, dem eine mimische Ausdruckweise zugeordnet wird; die mimische Ausdrucksbewegung erzeugt durch Rückkopplung ins Bewusstsein eine subjektive Emotion; und schließlich induziert eine einfühlende Betrachtung unterschiedlicher 69 70
Ploog, S. 533 ff. Damasio, S. 176 f.
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Gesichtsausdrücke entsprechende Emotionen bei dem Betrachter. Die Beziehung zwischen mimischen Ausdrucksbewegungen und neuronalen Programmen ist so eng, dass sie sich gegenseitig erzeugen können: Neuronale Programme aktivieren mimischen Ausdruck und umgekehrt aktivieren Ausdrucksbewegungen das zentral nervöse Erregungsmuster. Ploog folgert aus der Beziehung von Ausdrucksbewegungen und Emotionen, dass in subkortikalen Zentren „emotionsspezifische Programme, unterschiedlich für jede Emotion, lokalisiert“71 sind. Allgemeiner ausgedrückt: Für jede Emotion wird ein spezifisches neuronales Entladungsmuster angenommen, das die Emotion ins Bewusstsein bringen kann.72 Aus diesen Beobachtungen lässt sich erkennen, dass einer spezifischen Emotion ein „Programm“ im subcortikalen Zentrum entspricht und dass die durch diese Programme aktivierten Ausdrucksbewegungen in einem Gesicht durch einfühlende Betrachtung von einem Beobachter nachempfunden werden können. Dem Betrachter eines Gesichtsausdrucks der Furcht steht es nicht frei, diesen als Freude zu deuten, sondern eben als Furcht. Ein angeblicktes Gesicht wird zur differenzierten Reizquelle der Umwelt sowohl für dessen Wahrnehmung als auch für die Nachempfindung des emotionalen Ausdrucks. 73 Das nicht sprachliche emotionale Verstehen wird mit Empathie bezeichnet. Empathie drückt die Fähigkeit aus, sich in einen Kommunikationspartner hineinzuversetzen; sie lässt sich beschreiben als Kommunikation eines emotionalen Zustandes. Die Gefühle des anderen kann man dadurch verstehen, dass man selbst solche Gefühle erlebt hat. Obgleich man nie gewiss sein kann, ob die eigene Mitfreude oder Mittrauer der des anderen gleicht, gibt es genetische und neuronale Merkmale, die eine Empathie kennzeichnen und zeigen, dass sie keine beliebige subjektive Konstruktion ist.74 Wie ist es denkbar, dass der Andere solche Signale versteht? Bei Untersuchungen zum Erkennen sozialer Signale wurde festgestellt, dass z. B. bei schizophrenen Patienten Störungen in der Wahrnehmung emotionaler Gesichtsausdrücke auftraten: Sie konnten den Ärger nicht von Furcht unterscheiden und waren unfähig, den Ausdruck des Abscheus zu erkennen. Die Autoren erwogen, ob bestimmte Emotionen ihnen zugeordnete neuronale Substrate haben, die bei beiden Individuen, die miteinander kommunizieren, auftreten. Neueste Forschungsergebnisse verweisen auf Spiegelneuronen und -systeme, die als Nachahmerzellen beim Verstehen der Gefühle eine Rolle spielen; sie bringen auch die Aktionen anderer nahe, indem sie
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Ebd. S. 528 f. Kandel, (S. 608) verweist darauf, dass Emotionen durch besondere neuronale Schaltkreise kontrolliert werden. 73 Sartre (1962, S. 338 – 397) erläutert in seiner Analyse des Blicks, dass man am Blick des anderen dessen Subjektivität, die ihn von anderen Körpern im Raum unterscheidet, erkennt. 74 Vgl. Ploog, S. 540 ff. 72
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diese simulieren; sie tun so als ob, bauen eine Brücke zwischen dem Anderen und uns selbst und schaffen eine Verbindung zwischen Beobachten und Handeln.75 Emotionen können miteinander konkurrieren und je nach Bewertung der Wahrnehmung eine die andere dominieren. Unentschieden zeigt sich eine Emotion, wie sie in den Redewendungen zum Ausdruck kommt: man weiß nicht, ob man weinen oder lachen soll. Emotionen vermitteln wichtige Informationen. Liebe und Akzeptanz sind z. B. unverzichtbar für soziale Systeme; die Unfähigkeit, Furcht zu empfinden, führt zur Lebensuntüchtigkeit. Allgemeiner ausgedrückt: wer nicht fühlt, kann auch nicht vernünftig handeln und entscheiden. Emotionen dienen der Erhaltung des Individuums als Mittler zwischen ihm und der Außenwelt. In den emotionalen Prozessen wird der Organismus sowohl über körperinterne Vorgänge als auch über die Bedeutung der aktuellen Außenwelt unterrichtet und bekommt eine Meldung über die Zweckmäßigkeit seines Verhaltens. Es erscheint deshalb aus der Perspektive der Kommunikation eines Menschen mit seiner Umwelt berechtigt, einem Zusammenhang zwischen biologischen Prozessen und Emotionen als Bewertungsinstanz zur Durchsetzung von Lebensinteressen nachzugehen. Wahrnehmung und Emotionen sind unterschieden aber aufeinander bezogen Vermitteln Wahrnehmungen und Emotionen unterschiedliches Wissen über die Umwelt und wenn ja, wodurch ist es charakterisiert? Zunächst zur Frage der Unterschiedlichkeit des Wissens: herausfinden lässt sich eine Unterscheidbarkeit mit Hilfe neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. Beide Arten bedürfen zwar der Umweltreize; aber es sind unterschiedliche Reize, deren Verarbeitung durch unterschiedliche neuronale Prozesse an unterschiedlichen Hirnorten erfolgt. Es gibt eine Fülle empirischer Ergebnisse, die die Unterschiede deutlich werden lassen. Damasio berichtet von Experimenten, in denen er Wahrnehmung und Emotionen eines Menschen bei der Betrachtung eines Gegenstandes untersucht. Er nutzt die Möglichkeit den charakteristischen Körperzustand einer Emotion messbar machen. Es handelt sich um eine Hautleitfähigkeitsreaktion, wie sie auch bei Lügendetektoren verwendet wird. Sie beruht auf dem Nachweis, dass bei äußeren Reizen eine Hautleitfähigkeitreaktion als körperliches Merkmale von Emotionen auftritt. Wenn sich ein Körper nach einem Wahrnehmungsinhalt zu verändern beginnt und ein bestimmtes Gefühl eintritt, lässt sich an der Hautoberfläche die Reaktion eines veränderten elektrischen Hautwiderstandes messen, der aus einer Flüssigkeitsabsonderung entsteht. Auf einen bestimmten Wahrnehmungsinhalt, z. B. Bilder mit schrecklichen Szenen von körperlichen Schmerzen, lässt sich die emotionale Reaktion des Betrachters nachweisen und zwar von gleicher Intensität bei mehreren Versuchspersonen. Umgekehrt zeigten Patienten mit einer Hirnverletzung der Stirnlappen, dass sie die Bilder zwar beschreiben können; ihnen fehlte aber die
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Singer (2004), S. 1157 – 1162.
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körperliche Hautleitfähigkeitsreaktion, hervorgerufen von den mit der Betrachtung einhergehenden Gefühlen.76 Roth berichtet von Versuchen mit Patienten, bei denen entweder die Amygdala oder der Hippocampus fehlte. Beide Patientengruppen wurden auf Furcht konditioniert mit Hilfe eines plötzlich laut ertönenden Nebelhorns. Patienten mit einer Schädigung der Amygdala konnten angeben, welcher Stimulus mit einem Schreckreiz gepaart worden war, nahmen das Ereignis aber emotionslos hin. Patienten mit einer Schädigung des Hippocampus hatten keine bewusste Information über die Paarung von sensorischem Reiz und Schreckreiz, zeigten aber eine deutlich vegetative Furchtreaktion. Sie erleben Furcht, ohne zu wissen warum.77. Ein weiterer Hinweis ergibt sich aus der Betrachtung eines Gesichtsausdrucks. Ein Gesicht lässt sich wahrnehmen und der mimische Ausdruck erkennen, ob es z. B. Freude oder Enttäuschung ausstrahlt. Weder die Wahrnehmung des Gesichtes noch dessen emotionaler Ausdruck ist in das Belieben des Betrachters gestellt. Wer das Gesicht eines Menschen wahrnimmt und dessen Ausdruck als einen um Hilfe Flehenden erkennt, der wird, wenn ein anderer den gleichen Gesichtsausdruck als Freude erkennt, das Ergebnis verwunderlich finden und vielleicht eine Erklärung verlangen. Und schließlich schreibt Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, denn das Wesentliche ist den Augen unsichtbar.“78 Das Auge mag einen Gegenstand wahrnehmen; aber erst durch die damit verbundene Emotion wird er in seiner Einzigartigkeit erkannt werden können. Es sind nicht nur unterschiedliche Informationen, die Wahrnehmungen und Emotionen erschließen sondern die Emotionen stehen in enger Beziehung zur Wahrnehmung: sie sind Ausdruck einer Bewertung der Wahrnehmung. Ihnen kommt in der Kommunikation mit der Umwelt die unverzichtbare Aufgabe zu, das Subjekt über die Einflüsse aus der Umwelt zu informieren, die einerseits seiner Lebenserhaltung und Entwicklung dienen und die andererseits das Subjekt vor Gefahren schützen. Die alltägliche Erfahrung zeigt, wie Wahrnehmungen und Emotionen eng miteinander verknüpft sind. Die Wahrnehmung „da ist ein Hund“ erschließt dem Betrachter noch nicht, ob der Hund freundlich oder feindlich erlebt wird. Erst eine damit verbundene Emotion löst Angst oder auch Freude aus, je nach den emotionalen Reizen, die mit der Wahrnehmung „Hund“ verbunden sind. Die Wahrnehmung des Hundes und dessen emotionale Bewertung „aggressiv“ können zu körperlichen Schaudern führen, einen Angstzustand hervorrufen und die Tendenz der Flucht er-
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Damasio, S. 281 ff. Roth (2001), S. 282. 78 Saint-Exupéry (S. 52) beschreibt das Geheimnis, das der Fuchs dem kleinen Prinzen verrät, um ihm zu erklären, wie man die Dinge der Welt erkennt. 77
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zeugen. Emotionen vermögen, Einflüsse der Umwelt hinsichtlich des eigenen Wohlbefindens und Gedeihens zu beurteilen.79 Emotionen als Ausdruck einer Bewertung sind in einer Vielzahl von Untersuchungen und Experimenten nachgewiesen worden. Ein Beispiel ist: das eigene Haus brennt; diese Wahrnehmung ruft sowohl ein bewusstes emotionales Erleben einer Furcht hervor – das brennende Haus wird als Gefahr erkannt – und zugleich treten Auswirkungen auf z. B. das Herz durch einen erhöhten Herzschlag, auf die Lunge durch verstärkte Atmung usw. auf.80 Es gibt die kognitive Wahrnehmung des brennenden Hauses und zugleich die emotionalen Reaktionen einerseits der Körperorgane und andererseits der zerebralen Verarbeitung wie Angst, Bestürzung. Kognition und Emotion wirken zusammen. Die Wahrnehmung des „brennenden eigenen Hauses“ erhält durch die emotionale Bewertung eine subjektive Beziehung zum Wahrnehmenden; das brennende Haus lässt ihn nicht unberührt. Aus Hirnverletzungen und Stimulationen werden die unverzichtbaren Bewertungsprozesse erkennbar. Damasio berichtet auch von dem berühmten Patienten Gage, der durch einen Unfall eine Hirnverletzung im Bereich des limbischen Systems erlitten hatte. Vor dem Unfall konnte Gage seine Entscheidungen so treffen, dass sie seinem Fortkommen, seinen persönlichen und sozialen Belangen dienlich waren. Er hielt sich an Spieregeln und schien sich moralischen Grundsätzen verpflichtet gefühlt zu haben. Nach dem Unfall kümmerten ihn keine sozialen Konventionen mehr, er verstieß gegen moralische Prinzipien.81 Einen ähnlichen Befund beschreibt De Martino aus seinen Untersuchungen, wie Schäden der Amygdala zu einer dramatischen Reduzierung einer geldlichen Verlust Aversion führen.82 Wie eng Wahrnehmungen und Emotionen aufeinander bezogen sind, wird in der Kommunikation zwischen Menschen deutlich. Der Ausdruck von Emotionen übernimmt häufig die Funktion einer Mitteilung. Ploog spricht dabei von Senden und Erkennen sozialer emotionaler Signale. Ein erster Kontakt nicht sprachlicher Kommunikation zwischen Partnern zeigt sich in dem Angeblicktwerden. Die Blickrichtung signalisiert, wer gemeint ist, während der Gesichtsausdruck die Verhaltensbereitschaft des Senders übermittelt. Die Kommunikation erfolgt durch Mimik, Stimme und Körperhaltung.83 Wie oben beschrieben wird Empathie als nichtsprachliches emotionales Verstehen bezeichnet. Empathie vermittelt emotionale Inhalte. Am Beispiel depressiver 79 Frackowiak (S. 38 ff.) spricht von einem „value system“ in unserem Gehirn, das er in einer Skizze (Figure 19.12) darstellt; Roth (1997, S. 178) hält die Emotionen zur Bewertung einer Wahrnehmung für lebenswichtig; Kubon-Gilke (S. 292 f) weist im Rahmen der Ökonomik des Wissens darauf hin, dass Emotionen Wahrnehmungen verbunden mit einer Handlungsrelevanz bewerten. 80 Kandel (1996), S. 608. 81 Damasio, S. 34 f. 82 De Martino 2010. 83 Ploog, S. 541.
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Patienten lässt sich erkennen, dass depressive Affekte eines Menschen Signale zu Hilfeleistungen sind und empathische Reaktionen bei den Mitmenschen hervorrufen. Da die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ein depressiver Zustand in Situationen wie zu hohen Lebensanforderungen, bei starken materiellen Einbußen, beim Verlust von geliebten Menschen, bei Ehescheidungen oder bei Verlust von gesellschaftlichen Ansehen entsteht, erzeugt dieser bei den Mitmenschen empathische Reaktionen wie temporären Dispens von materiellen und sozialen Leistungsforderungen oder Belassen des Menschen in seiner sozialen Ordnung und in seinen Familienbanden.84 Zusammenfassend lässt sich sagen: Wahrnehmungen und Emotionen vermitteln unterschiedliche Informationen über die Umwelt. Das Erlebnis von Emotionen und ihre Bewertungskraft bedürfen keiner Theorie. Sie sind eine auf die Wahrnehmungen bezogene unmittelbare Bewertungsinstanz von eigener Evidenz. Die von Emotionen beeinflussten Prozesse sind an Wahrnehmungswissen gebunden. Emotionen vermitteln Signale zum Handeln und Verhalten. Das limbische System spielt dabei eine wichtige Rolle, wie die Reaktionen bei schizophrenen Menschen deutlich gemacht haben. Kritisch bleibt anzumerken, dass Emotionen als etwas Subjektives, sehr Persönliches und unabhängig von einer Bewertungssituation erlebt werden können. In unserem Zusammenhang geht es aber nicht darum, Emotionen zu analysieren sondern darum zu zeigen, dass sie für eine Bewertung von Umwelteinflüssen unverzichtbar sind.
III. Bedürfnisse Wenn es einem Menschen in seiner Bewertung der Umwelt um Überleben und Schutz geht wie in dem Hundebeispiel, oder um ein in die Zukunft gerichtetes erfolgreiches Handeln wie in einem Glücksspielexperiment, das unten behandelt wird, dann orientiert sich der Mensch an seinen Bedürfnissen. Es sind Bedürfnisse des Überlebens und Gedeihens. Sie lassen sich als Kriterium emotionaler Bewertung beschreiben. Um das Kriterium nicht einer Willkür und einem Egoismus zu überlassen, ist es genauer zu betrachten. Der Begriff der Bedürfnisse wurde vor allem in der Psychologie im Zusammenhang mit Motiven des Handelns verwendet. Der Psychologie kommt es auf das subjektive Konstrukt des Erlebnisses an wie es Motivationstheorien beschreiben. Ein Beispiel dafür ist Maslows Motivationstheorie. Er unterscheidet grundlegende physiologische Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen von sozialen Bedürfnissen wie Liebe, Freundschaft und schließlich Bedürfnisse wie Anerkennung und Selbstverwirklichung. Er macht diese Unterscheidung aus empirischer Perspektive und er meint, dass erst nach Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse die neuen sozialen und schließlich die Selbstbedürfnisse aufträten. Er lässt so eine Bedürf84
Ebd. S. 543 ff.
III. Bedürfnisse
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nispyramide in einer hierarchischen Ordnung entstehen, die zeigen soll, dass erst nach Befriedigung grundlegenderer Bedürfnisse die höheren entstehen.85 Maslows Entwurf wird hier betrachtet und kritisiert, weil ihn später Inglehart übernommen hat, um Wertewandel zu erklären. Maslows Kriterium für das Auftreten der Bedürfnisse ist „Befriedigung“ und das erscheint ungeeignet, weil es weder eine Auswahl noch ein Urteil erlaubt, den Bedürfnissen zu folgen oder nicht. Außerdem überzeugt ihre Anordnung zu einer Pyramide nicht. Es gibt viele Beispiele, in denen Liebe, Freundschaft oder Selbstverwirklichung wichtiger waren als Essen und Trinken, wie z. B. bei Eltern, die aus Liebe zu ihren Kindern auf eigene Nahrung verzichtet haben; oder der Pfarrer, der in einem Vernichtungslager der Nazis sein eigenes Leben opfert um die ihm anvertrauten Kinder nicht zu verlassen. Und schließlich ermöglicht Maslows Bedürfnisbegriff keinen Übergang zu Ethik und Werten, um die es hier geht. Geht man davon aus, dass sich der Begriff der Bedürfnisse auf bestimmte Güter bezieht, deren ein Mensch bedarf, dann können es unverzichtbare Güter sein, die ein Mensch zu seiner Lebenserhaltung und Lebensgestaltung braucht; aber es könnten auch beliebige Güter sein, die ein Mensch begehrt. Um die erste Art der unverzichtbaren, lebensnotwendigen Güter von den wünschenswerten abzugrenzen, verweist Horn auf eine kontroverse Debatte, Bedürfnisse entweder aus einer Hintergrundtheorie allgemein menschlicher Fähigkeiten zu erklären oder auf eine Präferenzautonomie zurückzuführen, die Bedürfnisse aus nur subjektiven Aspekten begründet.86 Beide Theorien führen zu einem Dilemma; die Hintergrundtheorie, weil sie Bedürfnisse objektiv definiert und dadurch in Konflikt gerät mit der Vorstellung, dass Bedürfnisse keinem Kulturimperialismus unterliegen, sondern etwas Individuelles sind. Bei einer Präferenzautonomie droht die Gefahr, dass Menschen empirisch willkürliche oder auch egoistische Bedürfnisse begründen. Der Begriff der Bedürfnisse ist schwer zu erfassen, weil sie sich weder auf theoretische Überlegungen, wie es Horn unternommen hat, noch auf empirische Aufzählungen reduzieren lassen. Bedürfnisse sind ähnlich wie Wahrnehmungen in der Lage, eine eigene Evidenz und Kraft zu entfalten, die keiner sprachlichen Vermittlung bedürfen. Betrachtet man Bedürfnisse unter den Einflüssen der Umwelt, dann bilden bestimmte Bedürfnisse notwendige Bedingungen, die für Überleben und Gedeihen eines Menschen in der Umwelt erfüllt sein müssen und als Kriterium der Bewertung der Umwelteinflüsse dienen. Es gibt Bedürfnisse nach unverzichtbaren materiellen ebenso wie nach sozialen Gütern, die ein Mensch zu seiner Lebenserhaltung und Lebensgestaltung benötigt wie z. B. Schutz, Unterstützung, Freiheit, aber auch Selbstachtung und Anerkennung durch den anderen, ob Arbeitskollege, Familienmitglied, Sportakteur oder Geschäftspartner; allgemein werden Fairness und Ge85 86
Maslow, S. 89 ff. Horn, S. 19 f.
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D. Wissen über die Umwelt
rechtigkeit erwartet. Wie sich unverzichtbare Güter von verzichtbaren abgrenzen lassen, wird untersucht. wenn sie selber Gegenstand einer emotionalen Bewertung werden. Zunächst kann folgende allgemeine Beschreibung der Bedürfnisse gelten: Sie sind das Vermögen, die für Leben und Gedeihen förderlichen materiellen und ideellen Güter anzuzeigen und Antriebsmoment zu ihrer Erfüllung.
Ausführlich werden später die moralischen Aspekte der Bedürfnisse behandelt, die die Grundlage einer Ethik und ethischer Werte bilden. Bevor untersucht wird, wie aus emotionaler Bewertung der Wahrnehmung Handeln und Moral hervorgehen, wird neben den Quellen eines Wissens über die Umwelt aus der Wahrnehmung und den Emotionen die dritte Möglichkeit betrachtet, Wissen über die Umwelt zu gewinnen: das ist durch Reflexion.
E. Vernunft Zu unserem Vermögen die Umwelt zu erschließen gehört neben der Wahrnehmung und den Emotionen die Reflexion, zu der uns Verstand und Vernunft befähigen. Obgleich es Unterschiede zwischen Verstand und Vernunft geben mag wie z. B. der Verstand, der eine Einsicht aus Gründen erschließt und Vernunft eine Einsicht in Sinngehalte, wird hier auf eine Unterscheidung verzichtet, weil es um Reflexion geht, an der Verstand und Vernunft beteiligt sein können. Begriffliches Aus historischer Sicht wurden mit dem Begriff Reflexion bis in die Gegenwart hinein zwei unterschiedliche Inhalte verbunden: Einmal ist es ein Rückgang auf die menschliche Geistestätigkeit hinsichtlich einer gesicherten Erkenntnis und das andere Mal ist es die nachdenkende Betrachtung eines Erfahrungsgegenstandes. Da es hier um das Wissen eines Menschen über seine Umwelt geht, wird Reflexion als nachdenkende Betrachtung eines Wahrnehmungsgegenstandes verstanden. Es geht dabei um ein forschendes Wissen über diesen. Während ein Wissen aus der Wahrnehmung und aus den Emotionen unmittelbar präsent ist, distanziert sich ein Subjekt durch eine Reflexion von dem Vorwissen. Vorwissen kann das aus der Wahrnehmung, aus den Emotionen oder aus der Reflexion sein, das sich nachdenkend betrachten lässt. Erst eine Distanzierung ermöglicht eine Befragung des Gegenstandes aus dem Vorwissen bzw. dessen Betrachtung unter bestimmten Hinsichten wie z. B. einen Himmelskörper unter dem Aspekt seiner Bewegung, ein historisches Ereignis befragt nach seinen Ursachen oder eine Handlungsorientierung aus emotionaler Bewertung, nachdenkend erwogen ob man ihr folgen soll oder nicht. Ein Ziel nachdenkender Betrachtung kann sein, Wissen über die Umwelt zusammenzuordnen, zu zerlegen, zu präparieren, Zwecken zu unterwerfen, Einzelnes auf seine Wiederholbarkeit zu prüfen oder sinnvolle Handlungsorientierungen zu finden. Unterscheidung der Arten des Wissens Aus neurowissenschaftlichen Ergebnissen lässt sich ein Wissen aus der Reflexion von dem aus der Wahrnehmung und aus den Emotionen unterscheiden. Nachdenkende Betrachtung aktiviert andere neuronale Vernetzungen und andere Areale im Gehirn als Wahrnehmen und Fühlen.87 Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist es eine kognitive Verarbeitung der Reize, deren neurobiologische Repräsentation unterschieden ist von der aus Wahrnehmungen bzw. den Emotionen. De Martino berichtet 87
Kandel, S. 444 und Roth (2001) S. 174 ff.
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E. Vernunft
aus seinen Untersuchungen, dass eine rationale Entscheidungsfindung von einer emotionalen unterschieden und durch bildgebende Verfahren sichtbar gemacht werden kann. Und LeDoux zeigt aus neurowissenschaftlichen Ergebnissen, dass Emotion und Kognition getrennte, miteinander wechselwirkende Einflüsse auf ein Entscheidungsverhalten ausüben.88 Reflexion ermöglicht durch eine kognitive Verarbeitung der Reize Ergebnisse aus der Wahrnehmung und den Emotionen nachdenkend zu betrachten und neues eigentümliches Wissen über die Umwelt zu erschließen. Allerdings sind die neuronalen Prozesse der Reflexion weder vollständig erforscht, noch erlauben sie, die Ergebnisse der geistigen Aktivitäten in ihren vielfältigen Ausprägungen wie Vorstellungen haben, erinnern, kombinieren, urteilen, lernen, abstrahieren usw. auf abgegrenzte neuronale Vernetzungen und Areale zu reduzieren. Was sich aber zeigen lässt ist, dass bestimmte Areale z. B. im frontalen Cortex immer dann aktiviert werden, wenn Reflexion stattfindet, und es sind andere neuronale Aktivitäten als bei Wahrnehmungen und Emotionen. Warum spielt die Unterscheidung hier eine Rolle? Vor allem, um zu zeigen, dass Wahrnehmungen, Emotionen und Reflektionen ein unterschiedliches je eigentümliches Wissen über die Umwelt hervorbringen. Merkmale der Reflexion Charakteristische Merkmale der Reflexion, die für ethische Orientierungen und Werte wichtig sind, sind: Die Reflexion erschließt der Wahrnehmung unzugängliche Erkenntnisse, deren Ergebnisse sich in Begriffen, Aussagen und Theorien oder in einem historischen Zusammenhang zeigen. Eine systematische Art der Reflexion nach bestimmten Kriterien findet sich in den Wissenschaften, deren wichtigstes Kriterium eine Begründung des Wissens verlangt, ob empirisch, epistemisch oder unter Verweis auf anderes Wissen wie in den Geisteswissenschaften89 ; eine Begründung stützt sich immer auf ein Allgemeines aus der Wahrnehmung, auch in den Geisteswissenschaften. Die Reflexion eines Wissens aus Emotionen betrachtet Gefühle wie z. B. Angst im Zusammenhang mit bestimmten Umweltereignissen; sie ermöglicht einer aus emotionaler Bewertung einer Wahrnehmung entstehenden Handlungsorientierung nicht blindlings zu folgen, sondern diese selbst zu befragen. Wer z. B. so starke Flugangst hat, dass er jeden Flug vermeiden möchte, kann durch Überlegungen hinsichtlich der Ursachen dieser Angst und durch eine Abschätzung der mit dem Flug verbundenen Gefahren besser mit ihr umzugehen lernen und vielleicht doch einen Flug wagen. Anstatt Emotionen aus dem Wissen zu verbannen, wie es in einer 88
De Martino (2006), Bd. 313, Nr. 5787, S. 684 – 687); LeDoux, S. 75. Anstelle des Begriffs der Geisteswissenschaften findet sich heute oft der Begriff Kulturwissenschaften, entstanden aus einer Erweiterung der ursprünglichen Geisteswissenschaften um neue Bereiche wie Ökonomie, Politik und Soziologie. 89
E. Vernunft
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objektivistisch geprägten Naturwissenschaft geschieht, ist ihre Einbeziehung verbunden mit ihrer Reflexion einer Erkenntnis angemessener. Ergebnisse aus der Reflexion lassen sich zu einem Wissen rechnen, wenn sie die oben genannten Kriterien erfüllen. Das ist möglich, weil sie sich erstens auf ein Vorwissen aus Reizen beziehen können, die keine Beliebigkeit des Wissens erlauben. Zweitens bedarf Reflexion des Bewusstseins90, denn ohne Bewusstsein dessen, was man betrachten will und wonach man fragt, macht Reflexion keinen Sinn. Sie bedarf der Sprache, um den Gegenstand zu erfassen um den es geht. Und schließlich das dritte wichtige Kriterium ist die Rechtfertigung der Ergebnisse. Reflexionsergebnisse gehen auf ein Urteil zurück, das wahr oder falsch sein kann und einer Rechtfertigung bedarf. Die drei Arten des Wissens über die Umwelt unterscheiden sich durch ihre eigentümlichen Leistungen. Wahrnehmungen erfassen die Vielfalt des einzelnen Gegenstandes oder der einzelnen Situation, ohne auf bestimmte Hinsichten eingegrenzt zu sein. Emotionen sind Ausdruck einer Bewertung, die weder von der Wahrnehmung noch von der Reflexion geleistet werden kann. Reflektion erfasst befragte Aspekte des Wahrgenommenen, abstrahiert von der einzelnen Wahrnehmung und erschließt allgemeine Einsichten. Ergebnisse aus der Wahrnehmung und den Emotionen sind deshalb nicht auf die aus der Reflexion reduzierbar. Keiner der drei Arten kommt ein Vorrang zu.
90 Dörner, (S.147 ff.) beschreibt eine Beziehung zwischen Reflexion und Bewusstsein; er nennt es die Fähigkeit eines Systems, seine eigenen inneren Abläufe zu betrachten und zu bewerten.
F. Handeln und Moral I. Handeln aus emotionaler Bewertung Wenn es Einflüsse aus der Umwelt gibt, wie die Neurowissenschaft nachweisen kann, und wenn ein Mensch als ein nach Selbsterhaltung strebendes Individuum ist, wie es unserem Menschenbild entspricht und wie ihn die Biologen beschreiben, dann bedarf der Mensch einer Möglichkeit zu bewerten, wie sich die Umwelteinflüsse auf ihn auswirken und wie er den Einflüssen begegnen, wie er handeln und sich verhalten will. Er bedarf einer Möglichkeit zu prüfen, welches Handeln seinen Bedürfnissen entspricht, woran er seine Handlung orientieren kann. Eine Wahrnehmung alleine kann diese Orientierung nicht leisten; aber die Bewertungen aus den Emotionen erschließen eine Handlungsorientierung, die der Umweltsituation und den Bedürfnissen des Menschen Rechnung tragen. Erst die Bewertungen der Einflüsse der Umwelt ermöglichen, den Lebensinteressen förderliche Einflüsse zu verfolgen und hinderliche zu vermeiden. Wer nicht in der Lage ist, erfolgreiche Handlungsergebnisse als erfolgreich zu bewerten, ist nicht in der Lage, erfolgreiche Handlungsstrategien für die Zukunft zu entwickeln. Diese Aussagen stützen sich auf umfangreiche neurowissenschaftliche Untersuchungen hirnverletzter Patienten, die zu keinen Emotionen in der Lage waren. Aus einer Bewertung von Umwelteinflüssen ergeben sich Handeln und Verhalten; ansonsten machten Bewertungen keinen Sinn und ohne Bewertungen könnte keiner in der Umwelt überleben und gedeihen. Wenn Umwelteinflüsse für das eigene Wohlergehen und Gedeihen als förderlich erkennbar sind, dann wird der Mensch ihnen folgen und umgekehrt, wenn sie als hinderlich und verderblich erscheinen, wird er sie zu vermeiden versuchen.91 Handeln kann bewusst oder unbewusst geschehen. Zu den unbewussten Weisen gehören spontane Reaktionen wie z. B. dort, wo sich Gefahren abzeichnen; Hilferufe vor dem drohenden Ertrinken sind Reaktionen, deren man sich nicht erst bewusst werden muss, um zu reagieren. Bewusste Handlungen sind durch eine Intention, ein Ziel oder einen Zweck gekennzeichnet. Die entstehenden Handlungsorientierungen können angeborene Reaktionen sein wie z. B. ein Fluchtverhalten oder erworbene Orientierungen eines Individuums, das mit seiner Umwelt umzugehen gelernt hat. Angeborenes Wissen beruht auf dispositionellen Repräsentationen im Gehirn zuständig für grundlegende biologische Regulationen. Damasio nennt angeborene, nicht bewusste präorganisierte Reaktio91 Pauen, (S. 100) nennt den Zusammenhang zwischen Emotionen und Handlungsmustern einen direkten Bestandteil unseres Alltagsvokabular.
I. Handeln aus emotionaler Bewertung
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nen auf Reizmerkmale durch ein Objekt diejenigen, deren unbewusste Verarbeitung im Gehirn eine automatische Reaktion zur Folge hat wie z. B. Kampf und Flucht. Erworbenes Wissen ist dagegen ein Wissen aus persönlicher Erfahrung. Damasio nennt erworbene und im Gedächtnis gespeicherte Orientierungen somatische Marker, die vor unerwünschten Handlungsergebnissen warnen; er beschreibt sie als „ein Signal, sofort den negativen Handlungsverlauf zu verwerfen und eine der anderen Alternativen zu wählen“92. In vergleichbaren Entscheidungssituationen sind sie ein Signal zur Vorsicht vor Gefahr. Damasio hat Handeln aus emotionalen Bewertungen wiederholt untersucht und gezeigt, dass Probanden mit frontalen Hirnverletzungen nicht in der Lage waren, Erfolg und Misserfolg ihres Handelns abzuschätzen. Aufschlussreich ist sein Glücksspielexperiment, in dem einerseits gesunde und andererseits hirngeschädigte Versuchspersonen herausfinden sollten, welche ihrer wiederholten Glücksspielentscheidungen erfolgreich sind und welche nicht. Die Hirngeschädigten konnten im Unterschied zu gesunden Probanden keine Vorhersagen über künftige erfolgreiche bzw. negative Ergebnisse abschätzen.93 Bedarf es in unserem Zusammenhang einer Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten? Horn macht aus ethischer Perspektive keinen Unterschied.94 Dagegen diskutiert Roth bisherige Versuche einer Differenzierung zwischen Handeln und Verhalten aus psychologischer Perspektive.95 Im Zusammenhang dieser Untersuchung über die Bedeutung der Emotionen für eine Ethik und ethische Werte bedarf es keiner Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten, weil es auf eine Verarbeitung der Reize der Umwelt unter moralischen Bedürfnissen ankommt, deren Ergebnisse im Handeln wie im Verhalten als Reaktion auf die Umwelt zum Ausdruck kommen. Begrifflich ist in diesem Zusammenhang der Ausdruck Handeln besser geeignet als Handlung, weil es nicht darum geht Handlungen für sich aus einer Theorie zu erklären sondern es kommt auf ihren Bezug zur Umwelt an als Antwort auf die Einflüsse der Reize. Handeln drückt eher den Prozesscharakter aus, der aus einer Tätigkeit des Individuums als Antwort hervorgeht. Kritisch bleibt anzumerken: eine emotionale Urteilsbildung setzt voraus, Emotionen als Quelle des Wissens für Orientierungen des Handelns und Verhaltens zu akzeptieren. Tatsächlich werden sie oft als störende Einflüsse beurteilt; Emotionen, so wird argumentiert, sollten in einen persönlichen Bereich zurückgedrängt bleiben, damit sie nicht auf Irrwege führen. Bevorzugt werden dagegen Vernunft und rationale Begründungsstrategien, die für jedermann nachvollziehbar sind. Ein Misstrauen gegen Emotionen hängt auch damit zusammen, dass sie etwas Individuelles zum Ausdruck bringen, während doch für ein ethisches Handeln allgemein geltende Orientierungen erwartet werden. Die Gründe für eine Zurückdrängung der Emo92 93 94 95
Damasio, S. 287 f. Ebd. S. 285 ff. Horn, S. 110 f. Roth (2001), S. 406 ff.
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F. Handeln und Moral
tionen sind zwar bedenkenswert, wenn ihre Bewertungen unreflektiert und ungeprüft zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden. Ein generelles Misstrauen gegenüber Emotionen übersieht aber, dass sie als Teil unseres Bewertungssystems in der Kommunikation mit der Umwelt unverzichtbar sind, weil sie Orientierung in der Umwelt für Überleben und Gedeihen vermitteln ebenso wie für langfristige Handlungsstrategien. Wie mit ihnen umgegangen werden kann zeigt ihre Verknüpfung mit Vernunft. Entscheidungen aus Emotionen und Vernunft Dort wo aus emotionaler Bewertung Handlungstendenzen entstehen, ermöglicht ihre Reflexion eine Distanz und Abwägung. Reflexion eröffnet einen Handlungsspielraum und den Übergang von einer Reaktion zur Aktion. In unserem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, dass Handlungstendenzen aus der emotionalen Bewertung nicht nur auf ein Reaktionsvermögen zu reduzieren sind sondern dass durch Reflexion ein Handlungsspielraum entsteht. Aus Sicht der Neurowissenschaften eröffnet eine kognitive Verarbeitung der Reize der Umwelt aus nachdenkender Betrachtung diesen Spielraum.96 Der Mensch gewinnt durch das Bewusstwerden der Bewertung Distanz; er kann Vor- und Nachteile abwägen, Erfolg oder Misserfolg abzuschätzen versuchen, Erfahrungen und Erlerntes in eine Betrachtung einbeziehen. Der Mensch kann sich Ergebnisse und Folgen vorstellen; es kann sich als Voraussetzung seiner Entscheidung mit dem Objekt der Handlung auseinander setzen, z. B. ab wann einem menschlichen Embryo die Menschenwürde zukommt. Die auf Kant zurückgehende Frage nach einer Handlungsorientierung lautete: Was soll ich tun?97 Die Frage aus emotionaler Bewertung lautet dagegen: Soll ich es tun? Im Unterschied zu Kants Fassung, die nach einem allgemein und notwendig geltenden Kriterium einer Handlung fragt, macht diese zweiten Fassung durch das Wort „es“ eine aus einer bestimmten Situation hervorgegangene Handlungstendenz deutlich, die abgewogen, ausgewählt und getroffen werden kann. Hinsichten auf eine Handlung wie Absicht, Ziel, Objekt oder Folgen werden einbezogen in die Bewertung der bestimmten Situation; es ist eine Orientierung, die nicht als Norm von einer Handlungssituation abstrahiert sondern die Einflüsse aus der Situation ebenso wie eine individuelle Erfahrung vorangegangener Situationen, die als „Marker“ den Bewertungsvorgang erleichtern, einbezieht. Reichen rationale Überlegungen aber nicht aus, um eine sinnvolle Handlungsentscheidung zu treffen? Ein Ökonom wie Robert Frank, ein Biologe wie Robert Trivers, ein Psychologe wie Jerome Kagan und schließlich der Neurowissenschaftler Antonio Damasio kamen zum gleichen Ergebnis: Wenn Menschen alle Gefühle abgehen, sind sie rationale Narren.98 96 LeDoux (S. 74 ff.) setzt sich ausführlich mit den unterschiedlichen Interpretationen einer Kognition useinander. 97 Kant, KdrV, B 833. 98 Ridley, S. 204.
I. Handeln aus emotionaler Bewertung
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Oft zeigen sich Emotionen einflussreicher auf Entscheidungen als rationale Gründe. Weit in die Zukunft reichende Entscheidungen eines Menschen werden bisweilen wesentlich, manchmal ausschließlich von Emotionen beeinflusst wie z. B. die Auswahl seines Ehepartners oder die Wahl des Berufes. Wenn jemand von einer Vernunftehe spricht, dann verweist er auf rationale Gründe für eine Ehe, vielleicht unter Verzicht auf die fundamentale emotionale Bindung der Liebe. Die Entscheidung für einen bestimmten Beruf trifft mancher sogar gegen rationale Gründe z. B. hinsichtlich späterer Erwerbsaussichten; das ist besonders deutlich bei Künstlern. Wenn man Handlungsorientierungen nur auf Emotionen stützt, wie es bei Hume geschieht, lassen sich mögliche Rückwirkungen des Handelns nicht mehr abwägen. Wenn man Handlungsorientierungen nur auf Vernunft beschränkt, wie es Kant getan hat, wird eine Erfüllung der moralischen Bedürfnisse nicht gelingen können, denn „das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt“99. Pascal spricht von den zwei Quellen, aus denen uns Einsichten und Bewertungen möglich sind; es ist die Vernunft und das Herz. Pascal hatte mit der Quelle des Herzens diejenige gemeint, die Erkenntnis aus der Religion erschließt, die der Vernunft allein verborgen bliebe. Es geht in einer Handlungsentscheidung nicht um Emotionen oder Vernunft sondern um Emotionen und Vernunft; sie ergänzen sich. Emotionen sind Ausdruck einer Bewertung der einzelnen Entscheidungssituation. Und Vernunft ist unverzichtbar, um die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse zu bedenken. Vernunft und rationale Einsicht erschließen allgemeine Zusammenhänge einer Handlungsorientierung durch Abstrahieren von einer einzelnen Entscheidungssituation. Sie lassen sich nicht nur im Gedächtnis speichern sondern finden ihren Niederschlag z. B. in Gesetzen und allgemeinen Regeln. Die Handlungsentscheidung wird im Einzelfall getroffen; aber allgemeine Einsichten werden bei den Erwägungen der Entscheidung hilfreich sein. Ein Beispiel mag verdeutlichen, wie sich Emotionen in Konkurrenz zu rationalen Überlegungen auswirken. Wenn man nach den Grundsätzen fragt, nach denen Menschen ökonomische Entscheidungen treffen, dann zeigen empirische Untersuchungen, dass emotionale Orientierungen in den Entscheidungen eines Akteurs eine große Rolle spielen. Die Experimentelle Wirtschaftsforschung untersucht die Wahl solcher Grundsätze. In vielen Experimenten wurden Akteure aufgefordert, sich in einer Gewinnsituation zu entscheiden: abwägen konnten sie zwischen einerseits einem Nutzen maximierenden Gewinn und andererseits unter Verzicht auf Teile des Gewinns zugunsten von Fairness und Gerechtigkeit gegenüber ihrem Geschäftspartner. Es hat sich gezeigt, dass ein Akteur seine Entscheidungssituation sowohl nach rationalen Bedürfnissen eines Gewinns wie zugleich nach emotionalen Bedürfnissen aus dem Umgang mit seinem Geschäftspartner bewertet. Geldgewinn ebenso wie faire bzw. gerechte Behandlung der Partner ist den Akteuren wichtig. Der experimentelle Befund findet eine Bestätigung in vielen Aktivitäten großer Konzerne, die auf faire Behandlung der Kunden ebenso wie auf verantwortungsvolle 99
Pascal, S. 174.
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F. Handeln und Moral
Behandlung ihrer Mitarbeiter gerichtet sind. Es ist nicht so, dass nur eine rationale Nutzenmaximierung die ökonomische Entscheidung allein bestimmt sondern den Akteuren die emotionale Bewertung einer Behandlung ihrer Geschäftspartner und Mitarbeiter zunehmend wichtig wird. Es hat sich in den Experimenten auch gezeigt, dass eine nachdenkende Betrachtung der möglichen Rückwirkungen auf die eigenen Bedürfnisse in dem Entscheidungsprozess eine Rolle spielt. Kritisch lässt sich fragen, ob die Einbeziehung der Vernunft in eine Handlungsentscheidung so einfach gelingen kann wie es hier beschrieben wird. Vorstellbar ist dass die Motivierungskraft aus einer emotionalen Bewertung so stark ist, dass eine Distanzierung und Abwägung aus Vernunft schwer fallen können. Es kann sogar sein, dass eine Abwägung aus Vernunft als Schwäche empfunden werden könnte, so wie es in Shakespeares Hamlet heißt: „Der angeborenen Farbe der Entschließung Wird des Gedankens Blässe angekränkelt.“100
Eine Abwägung aus Vernunft muss nicht immer als Zweifel und Entscheidungsschwäche verstanden werden wie es bei Shakespeare anklingt. Das kann zwar sein; wichtig bleibt aber zu sehen, dass die Menschen die Möglichkeit haben, Handlungsorientierungen aus emotionaler Bewertung nachdenkend aus Vernunft abzuwägen. Und diese Abwägung ist sinnvoll. Bewertung des Handelns Bisher wurde Handeln eines Akteurs aus Bewertung der Umwelt betrachtet. Anders ist es, wenn Handeln selbst zur Umwelt für Dritte wird und einer Bewertung ausgesetzt ist. Das kann auf zweierlei Art geschehen: rational kann das Handeln bewertet werden in Bezug auf das Ziel oder seinen Zweck; es ist dann eine Bewertung nach verabredeten Kriterien wie Maße und Gewichte, z. B. eine Brücke in Bezug auf ihre Tragfähigkeit. Emotional wird Handeln bewertet, das sich auf die moralischen Bedürfnisse Dritter auswirkt. Wenn ein Unternehmer durch seine Produktion große Mengen Emissionen freisetzt, könnte das Bedürfnis der Anwohner nach sauberer Luft erheblich verletzt werden; das Handeln des Produzenten würde dann nicht nur in Bezug auf die Qualität seines Produktes bewertet werden sondern zugleich in Bezug auf die Bedürfnisse Dritter. Sind die Bedürfnisse verletzt, könnten die Anwohner mit Demonstrationen und Boykott der Waren Rückwirkungen ausüben.
II. Moral Wenn die Umwelt Menschen sind, kann sich Handeln auf Dritte auswirken und in seiner Auswirkung auf Dritte ist es deren emotionaler Bewertung ausgesetzt nach 100
Shakespeare, S. 55.
II. Moral
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deren Bedürfnissen. Und es entsteht eine Gegenseitigkeit. Das Handeln einer Person A kann von einer Person B bewertet werden, wenn sie betroffen ist. Aus dieser Bewertung kann B jetzt umgekehrt eine Handlungsorientierung entstehen, die sich als Antwort gegen A richtet. Für A ist das eine Rückwirkung aus seinem Handeln. Handeln wirkt sich auf die gegenseitigen Bedürfnisse aus. Emotionen als Ausdruck einer Bewertung des Handelns der Menschen untereinander orientieren sich an Bedürfnissen des Überlebens und Gedeihens. Denn die Menschen leben nicht isoliert für sich und interesselos nebeneinander sondern in einem Miteinander wie in der Familie, im Beruf, in wirtschaftlichen Geschäften, in der Freizeit, im Sport und in vielen anderen Gemeinschaften. Wenn sie aber aufeinander angewiesen zusammenleben, entstehen Erwartungen und Bedürfnisse an den Umgang miteinander. Vorausgesetzt dass alle Menschen vergleichbare Erwartungen an eine Gestaltung ihres Lebens haben wie Freiheit, Unversehrtheit, Würde und Achtung möchte sie jeder vom anderen geachtet erleben. Keiner möchte vom anderen unterdrückt, missachtet, ausgenutzt und nur als Mittel zu Zwecken anderer benutzt werden. Geht man davon aus, dass Moral solche Orientierungen genannt werden können, die mit einem Handeln gegenüber Dritten und sich selbst zu tun haben, dann lässt sich Moral so beschreiben: Orientierungen des Handelns, deren emotionale Bewertung die Bedürfnisse erfüllt, werden moralische genannt.
Moralische Bedürfnisse Emotionen haben einen moralischen Charakter. Sie sind Ausdruck einer moralischen Bewertung, ob nämlich unsere Bedürfnisse nach Überleben und Gedeihen erfüllt oder beeinträchtigt sind durch das Handeln der Menschen. Es sind Bedürfnisse aus einem Miteinander der Menschen wie Liebe, Freundschaft, Geborgenheit, Hilfe, Anteilnahme. Die Bedürfnisse lassen sich moralische Bedürfnisse nennen. Berücksichtigt man die Rückwirkungen aus einem Handeln gegenüber Dritten wird deutlich wie ein Ausgleich zwischen den moralischen Bedürfnissen eines Akteurs und dem betroffenen Dritten möglich wird. Müssen wir, so fragt Fricke, um moralisch zu handeln, nicht gerade darauf verzichten, unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen? Nein meint sie, denn moralisches Handeln ist nicht altruistisch. Allerdings müssten wir darauf achten, unsere Bedürfnisse nicht auf Kosten anderer zu befriedigen.101 Wie das möglich ist, zeigt die Moral aus Emotionen und Vernunft. Moral ist zwar etwas Subjektives bezogen auf das Individuum in einer Bewertungssituation. Aber ist eine subjektive Orientierung etwas Beliebiges? Es sind einerseits subjektive Orientierungen, aber andererseits wird jeder Mensch ähnliche Bedürfnisse haben, deren Erfüllung eine gegenseitige Achtung verlangt. Eine 101
Fricke, S. 104.
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F. Handeln und Moral
Missachtung der Bedürfnisse anderer würde zu einer Missachtung eigener Bedürfnisse durch andere führen können. Eine gegenseitige Erfüllung individueller Bedürfnisse wird oft in Regeln gefasst, die zwar einen gegenseitigen Verzicht auf unbeschränkte Handlungsfreiheit verlangen, die aber akzeptiert werden, weil sie die gegenseitige Erfüllung der individuellen Bedürfnisse fördern. Eine subjektive moralische Orientierung ist insofern nicht etwas Beliebiges Beispiele moralischer Bedürfnisse, die in Emotionen zum Ausdruck kommen und sich auf einen Dritten beziehen, sind Mitleid und Hilfe ebenso wie Freundschaft, d. h. um des Anderen willen zu handeln; Liebe verweist auf ein Fundament sozialen Verhaltens; eine Verletzung der Rechte Dritter ruft Schuldgefühle hervor; Empathie drückt die Teilnahme an dem Leid des Anderen aus; wenn z. B. eine Erste Person die Hilfsbedürftigkeit eines Anderen nachempfindet, in einer Reflexion aber zu dem Entschluss gelangt nicht zu helfen, wird dieser Entschluss wiederum einer emotionalen Bewertung durch die Erste Person selbst oder durch Dritte ausgesetzt sein. Bei der Ersten Person könnte es ein Gefühl der Unzufriedenheit auslösen; bei einem Dritten ein Gefühl der Verachtung oder umgekehrt eine Anerkennung der Ersten Person, wenn selbstlose Hilfe geleistet worden ist. Bar-On berichtet von einem Schergen, der Transporte von Juden in Vernichtungslager zu beaufsichtigen hatte. Eines Tages entdeckt er unter den Gefangenen einen alten Schulkameraden, der ihn erkennt und ihm voll in die Augen blickt. Der Scherge tut nichts zu dessen Rettung. Lebenslang erinnert er sich an diese Unterlassung und quält sich mit Selbstvorwürfen.102 Auf die Erste Person beziehen sich moralische Bedürfnisse des Erlebnisses der Freude über Lob und Anerkennung, weil es eine Selbstachtung fördert; eine Achtung der Ersten Person durch Dritte fördert einen Selbstwert bzw. umgekehrt Kritik Dritter kann den Selbstwert beeinträchtigen.103 Scham verweist auf eine Unterlassung dessen, was man tun sollte. Und auf die Gemeinschaft beziehen sich moralische Bedürfnisse, die gekennzeichnet sind durch ein Gemeinschaftsgefühl; durch „Treu und Glauben“ als eine rechtliche Institution des Umgangs miteinander; durch Gerechtigkeit als Grundlage einer Zusammenarbeit in der Gesellschaft;104 es sind die Menschenrechte, deren Geltung und Erweiterung weniger vom Sittengesetz und mehr vom „Fortschritt der Gefühle“ abhängen;105 Liebe und Akzeptanz sind für soziale Systeme unverzichtbar;106 Zeugnisse vieler Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus bele102
Bar-On, S. 424 – 443. Hülshoff (1999), S. 175 ff.) hat Emotionen aus biologischer, psychischer und sozialer Perspektive untersucht; er betont, die Anerkennung und Nutzung ihrer individuellen und sozialen Funktion. Scham, Schuld, Gewissen und Selbstwertgefühle dienten vor allem der sozialen Bindung. 104 Rawls, S. 66. 105 Rorty, S. 161 f. 106 Hoffmann, S. 217. 103
II. Moral
53
gen, dass die Beobachtung von Erschießungen Unschuldiger und andere Gräueltaten bei ihnen Entsetzen und Abscheu hervorriefen, die sie zum Widerstand veranlassten, um der Gemeinschaft, des Volkes und des Landes willen.107 Auch negative Emotionen wie Hass, Neid oder Missgunst verweisen auf eine moralische Perspektive dadurch, dass sich der Betroffene fragen kann, ob die aus ihnen hervorgehenden Handlungstendenzen seinen langfristigen Bedürfnissen dienen. In einem erweiterten Sinn rechnen auch Liebe zu Tieren und Mitleid mit ihnen in Not ebenso wie Liebe zur Natur und Abneigung gegen bestimmte verletzende Eingriffe in die Natur zu moralischen Bedürfnissen. Moralischer Wert Aus den Überlegungen zu einer Moral hat sich bisher ergeben: Moral geht hervor aus emotionaler Bewertung des Handelns nach dem Kriterium der Bedürfnisse. Im Unterschied zu rationaler Bewertung eines Handelns nach verabredeten Maßstäben orientiert sich die emotionale Bewertung des Handelns an den moralischen Bedürfnissen. Handeln und Verhalten sind moralisch, wenn sie diese Bedürfnisse fördern und nicht verletzen. Sicher gibt es Handeln, das die moralische Bedürfnisse Dritter nicht erfüllt; entscheidend ist aber, ob der Handelnde über eine ausreichende Entscheidungsfreiheit verfügt bzw. mindestens ein Bemühen erkennen lässt, die moralischen Bedürfnisse Dritter in seine Entscheidung einzubeziehen. Aus Moral lassen sich moralische Werte herleiten: sie sind subjektive Orientierungsstandards aus emotionaler Bewertung des Handelns gegenüber Menschen, die sich zur Erfüllung der Bedürfnisse bewährt haben. Wir können die Ergebnisse des Handelns im Gedächtnis speichern. Merken lassen sich Wahlmöglichkeiten des Handelns in einer Situation und deren Erfolg bzw. Misserfolg für mögliche künftige Orientierungen in ähnlicher Situation. Es gibt moralische Orientierungen, die aus persönlicher Erfahrung, aus religiösen, kulturellen oder traditionellen Überzeugungen übernommen werden. Es sind subjektive Orientierungen, weil man nicht erwarten kann, dass sie für alle gelten wie z. B. religiöse Überzeugungen, die für nichtreligiöse Menschen oder für Mitglieder andere Religionen so nicht gelten müssen. Ebenso werden traditionelle oder kulturelle Sitten keine allgemeine Geltung beanspruchen können wie z. B. die gerade diskutierte Beschneidung kleiner Kinder. Aber aus subjektiver Perspektive können moralische Orientierungen eine Selbstbindungskraft für ein Individuum entfalten. Daraus ergibt sich: Ein moralischer Wert ist eine subjektive Handlungsorientierung, die sich zur Erfüllung moralischer Bedürfnisse bewährt hat.
107
Reich, S. 56 ff.
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F. Handeln und Moral
Allgemein lassen sich Werte als Urteile über ein begehrtes Gut nach einem bestimmten Maßstab beschreiben. Unterscheiden lassen sich subjektiv geprägte moralische Werte von ethischen, die begründet für alle gelten. Bewährt hat sich eine moralische Orientierung, wenn sie eine Erfüllung der eigenen moralischen Bedürfnisse und diejenigen Dritter fördert und wenn mindestens keine ungünstigen Rückwirkungen entstehen. Der moralische Wert kann in einer vergleichbaren Situation erneut Orientierung für eine Handlungsentscheidung sein. Ein Unternehmer z. B., der die Zufriedenheit seiner Mitarbeiter gefördert hat und eine Zunahme ihrer Arbeitsfreude beobachtet, wird die Mitarbeiterzufriedenheit als moralischen Wert erkennen; die Bedürfnisse der Mitarbeiter nach respektvollem Umgang wurden erfüllt und es entstanden günstige Rückwirkungen. Der Unternehmer wird den moralischen Wert in zukünftige unternehmerische Entscheidungen einbeziehen können. Ob übernommen oder aus eigener Erfahrung kann ein Mensch den moralischen Wert als „Marker“ in seinem Gedächtnis speichern. Ein Politiker berichtet, um sich keinem Verdacht einer Vorteilsnahme auszusetzen habe sich für ihn bewährt, in seinen unverzichtbaren Kontakten zu Persönlichkeiten und Unternehmen der Wirtschaft die Grenze einer persönlichen Vorteilsnahme zu ziehen und einzuhalten. Sein politisches Interesse an Kontakten zu führenden Wirtschaftsakteuren sei um des Gemeinwohls willens unerlässlich aber auch der Versuchung einer Vorteilsgewährung der Akteure ausgesetzt. Leitend für sein politisches Handeln sei sein moralisches Bedürfnis nach Unabhängigkeit gewesen; er wollte sich nicht durch die Annahme von Vorteilen in seinen Entscheidungen zu Gunsten der Akteure vereinnahmt sehen. Seine auf Distanz achtende Unabhängigkeit hätte zu keiner Zeit für das Gemeinwohl nachteiligen Rückwirkungen geführt sondern wäre geachtet worden und hatte sich für ihn bewährt. Moralische Werte sind subjektive aber keine beliebigen, weil es die Reize der Umwelt sind, aus deren Bewertung sie hervorgehen. Existierende Normen, Regeln oder überlieferte Sinngehalte bedürfen, um als moralische Werte gelten zu können, der subjektiven Akzeptanz wie z. B. Gesetze, Codes of conduct in der Wirtschaft oder ungeschriebene Umgangsformen; erst aus der Akzeptanz gewinnen sie Orientierungs- und Selbstbindungskraft. Wenn man existierende Regeln nicht akzeptiert, hinterlassen sie Unzufriedenheit und soweit möglich einen Antrieb sie zu ändern. Es kann einen Wandel moralischer Werte geben, der eintreten kann, wenn sich seine Akzeptanz verändert. Auf Gründe einer Veränderung der Akzeptanz wird bei der Behandlung ethischer Werte eingegangen. Kritisch ist zu sagen: es könnte der Eindruck entstehen, dass eine Moral hergeleitet aus den Bedürfnissen eines Menschen eine egoistische ist. Einwenden gegen diese Kritik lässt sich: Eigene Bedürfnisse als Orientierung des Handelns sind immer auch einer emotionalen Bewertung Dritter ausgesetzt und deren Rückwirkungen auf den Akteur. Der egoistische Diktator, der die Rechte anderer missachtet ebenso wie der egoistische Trittbrettfahrer, der Allgemeingüter in Anspruch nimmt ohne sich an ihren Kosten zu beteiligen, und auch die Egoisten, denen es an Empathie mangelt,
II. Moral
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schaden durch ihr Handeln den eigenen Bedürfnissen nach Achtung, Anerkennung und Gefolgschaft. Im Gegenteil, sie büßen langfristig ihre Zusammenarbeit mit den anderen Menschen und der Gesellschaft ein. Ein Beispiel dafür sind die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen – bekannt unter dem Namen „Arabellion“. Die Bürger versagen ihren politischen Regimen die Gefolgschaft, um ihren unerfüllten moralischen Bedürfnissen Geltung zu verschaffen. Es sind vor allem die moralischen Bedürfnisse nach Freiheit und Selbstentfaltung der Bürger. Wer dagegen ein Bedürfnis nach beliebigen Gütern verfolgt, wird dieses unbehelligt tun können solange kein Dritter und dessen moralische Bedürfnisse betroffen sind. Anderenfalls wird er mit Rückwirkungen rechnen müssen, die eine Verfolgung seiner Ziele behindern. Eine weitere Kritik wendet sich gegen den Zusammenhang von Emotionen und Bedürfnissen. Es gibt Emotionen, die den Bedürfnissen nach Überleben und Gedeihen zu widersprechen scheinen wie Hass, Missgunst oder Aggressivität. Auch in diesen Fällen versagen emotionale Bewertungen nicht; denn ein Akteur, der aus Rache, Wut oder Jähzorn schädlichen Handlungstendenzen folgt, ist einer Bewertung durch Dritte ausgesetzt, aus deren Rückwirkungen dem Akteur Nachteile wie Verachtung, Gegenwehr, Isolation und ähnliches entstehen und zu seinem eigenen Nachteil gereichen können. Bisher wurde von moralischen Orientierungen gesprochen, die sich auf Handeln und Verhalten gegenüber anderen Menschen beziehen. Gilt das auch für sprachliche Aussage; können sie moralisch oder unmoralisch sein; d. h. sind sie einer Bewertung nach moralischen Bedürfnissen ausgesetzt? Unterscheiden lassen sich allgemeine Sprachhandlungen von solchen, die sich auf eine bestimmte Person und eine bestimmte Situation beziehen. Bei der allgemeinen Aussagen wie z. B. „Soldaten sind Mörder“ ist nicht gezeigt, dass sie auf bestimmte Menschen und bestimmte Situationen zutrifft. Es ist einfach eine allgemeine Redewendung, die wahr oder falsch sein kann. Sie verletzt deshalb keine moralischen Bedürfnisse eines bestimmten Menschen. Anders ist es bei Sprachhandlungen wie Urteilen, Anweisungen oder Befehlen, die sich auf bestimmte Menschen in bestimmten Situationen beziehen. Sie können einer emotionalen Bewertung nach moralischen Bedürfnissen ausgesetzt sein wie z. B. die Beleidigung eines Menschen. Oder ein Untergebener könnte die Anweisung eines Vorgesetzten als unverantwortlich empfinden, sich dagegen wehren und sich zu Rückwirkungen entschließen. Moralische Orientierungen und Werte gelten aus subjektiver Überzeugung; sie können keine allgemeine Geltung beanspruchen. Untersucht wird jetzt, ob sich aus Moral eine Ethik herleiten und begründen lässt, die allgemein gültig ist.
G. Ethik I. Kritik ethischer Entwürfe Brauchen wir eine Ethik? Wenn wir fragen, was die Menschen einander antun dürfen und was nicht, fragen wir nach allgemeinen Orientierungen, die möglichst für alle gelten. Sie werden ethische Orientierungen genannt, wobei zu zeigen ist, dass sie begründet sind und für alle gelten. Unabhängig von ihrer Begründung lässt sich sagen, dass ethische Orientierungen aus mehreren Gründen unverzichtbar sind: Der Mensch findet sich hineingeboren in eine Gemeinschaft und er wird sich fragen müssen, was eine Gemeinschaft zusammenhält, ob nicht ethische Orientierungen erforderlich sind, um Gemeinschaftsgüter zu schützen, die Gemeinschaft vor Zerfall zu bewahren. Auch der einzelne Mensch bedarf einer Möglichkeit der Rechenschaft über seine Bedürfnisse, die mit den Bedürfnissen anderer Menschen verträglich sind, denn deren Verletzung könnte zu Aufbegehren und Isolation führen. Hinzukommen kommen heute ethische Konflikte, die aus Machbarkeiten der Naturwissenschaften entstehen wie z. B. das Klonen eines Menschen, technisch mögliche ausgedehnte lebensverlängernde Maßnahmen in der Medizin oder die Herstellung eines Designerbabys in der Fortpflanzungsmedizin. Die Beispiele zeigen, dass Orientierungen unverzichtbar sind, um ethische Konflikte zu lösen. Ethische Entwürfe Es hat es viele ethische Entwürfe gegeben. Als Beispiel sei einer der ältesten genannt, der von Aristoteles stammt. Er hat eine Ethik aus der Natur des Menschen hergeleitet, aus seinen Leidenschaften, die das Ziel des Handelns wählen und einer Klugheit, die den Weg zur Erreichung des Zieles erwägt. Sie enthält die Elemente Leidenschaften und Vernunft, die bis heute zu ethischen Orientierungen beitragen, allerdings in der aristotelischen Fassung nicht in der Lage sind, heutige Konflikte zu lösen. Entwürfe der Gegenwart lassen sich unterteilen in solche, die ausgewählte Normen als Grundlage zu rechtfertigen versuchen und in solche, die ethische Orientierung für begrenzte Anwendungsbereiche entwerfen. Zu der zweiten Gruppe gehören Medizinethik, Bioethik, Wissenschaftsethik, Wirtschaftsethik, Technikethik und Ökologische Ethik usw. Hier werden Orientierungen des Handelns den moralischen Bedürfnissen entsprechend für einen speziellen Wissenschaftsbereich zu formulieren und zu etablieren versucht. Spezialethiken gehen davon aus, dass Orientierungen für Handlungsentscheidungen am besten in den eigentümlichen
I. Kritik ethischer Entwürfe
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Anwendungsbereichen gefunden werden können, wie z. B. ein Arzt am ehesten weiß, wann lebensverlängernde Maßnahmen geboten erscheinen und wann nicht. Eine ökologische Ethik entstand, um die aus den moralischen Diskursen ausgegrenzte ethisch neutralisierte äußere Natur in die Zuständigkeit der Moral zurückzuholen.108 In einigen Hinsichten mag eine solche Fachkompetenzzuweisung für ethische Orientierungen zutreffen, in anderer Hinsicht aber auch nicht, wie die vielen strittigen Auseinandersetzungen unter den Fachleuten wie z. B. unter den Ärzten in den Fragen der Sterbehilfe, der Organentnahme und -transplantation, der Präimplantationsdiagnostik und der Embryonenforschung zeigen. Zur Gruppe der Ethikentwürfe, die sich auf Normen oder Prinzipien stützen, zählen Vernunftethik, Verantwortungsethik, Konsensethik, Diskursethik, Gesinnungsethik, Auswegeethik und standesrechtliches Berufsethos.109 Jeder der Entwürfe verdiente eine gründliche Diskussion, um seine eigentümliche Orientierungskraft zu prüfen. Generell bleibt aber den Entwürfen eine Kritik nicht erspart, die sich auf drei Punkte konzentriert: Erstens ist es die strittige Anwendung einer Norm in einzelnen Entscheidungssituationen. Am Beispiel der Präimplantationsdiagnostik lässt sich zeigen, dass das Prinzip Verantwortung sowohl ihre Befürworter in Anspruch nehmen gegenüber betroffenen Eltern, die ihren Kindern z. B. einen Gendefekt ersparen wollen, als auch die Gegner, die eine Verantwortung für ungeborenes menschliches Leben reklamieren und dessen Schutz nicht bestimmten Auswahlkriterien überlassen wollen. Zweitens gibt es Interpretationsprobleme und Uneinigkeit über Grundbegriffe, die in den Prinzipien verwendet werden wie z. B. die Begriffe Menschsein, Leid, Krankheit und Natur. Selbst der allgemein akzeptierte Begriff der Menschenwürde ist in seiner Anwendung strittig, nämlich dort, wo es um eine Bestimmung des Menschseins geht. Ist ein Embryo ein Zellhaufen oder ein Mensch, dem die anerkannte Würde zukommt, oder wird einem Embryo das Menschsein und die Würde erst ab einem bestimmten Zeitpunkt zugesprochen?110 Der Begriff der Menschenwürde hat deshalb die Frage nicht lösen können, ob verbrauchende Embryonenforschung erlaubt sein soll oder nicht. Die strittige Diskussion über eine gesetzliche Regelung des Embryonenschutzes zeigt die unversöhnlichen Auffassungen, die weder durch Normen noch im Konsens zu lösen waren, sondern nur über parlamentarische Mehrheiten. Ein dritter Punkt der Kritik an gegenwärtigen Ethikentwürfen, die sich auf bestimmte Prinzipien berufen, ist eine Konkurrenz gleich gut begründeter Prinzipien wie z. B. zwischen kategorischen Prinzipien einer Moral und pragmatischen des Überlebens; oder zwischen nur kategorischen wie Hilfe für Kranke vs. Schutz des 108
Kersting 2001. Hans Lenk (1992) behandelt gegenwärtige ethische Grundpositionen. 110 Schmoll (2001) hat in einem Aufsatz die Zuschreibungen Menschsein zu unterschiedlichen Zeitpunkten seiner Entwicklung und ihre Begründungen eindrucksvoll dargestellt. 109
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G. Ethik
Embryos. Strittig sind auch allgemein akzeptierte miteinander konkurrierende Rechtspositionen wie z. B. das Recht auf Leben und das Recht auf Wissen und Forschen, die mancher gegeneinander zu verrechnen versucht.111
II. Moral und Ethik In der vorliegenden Untersuchung werden Moral und Ethik voneinander unterschieden. Es gibt Autoren, die das nicht tun, aber auch solche, denen der Unterschied wichtig ist. Bei Mieth z. B. besteht er darin, dass er Ethik als ein „Nachdenken über strittige Moral“112 beschreibt. Die Unterscheidung überzeugt, weil zwar Ethik wie auch Moral mit Entscheidungen zur Lebensführung zu tun haben aber Ethik im Unterschied zur Moral nach Gründen fragt, die eine Reflexion erfordern. Trotz der sinnvollen Unterscheidung fehlt in beiden Entwürfen ein Kriterium, um das Richtige und Falsche bzw. das Gute und Schlechte zu erkennen. Aus der Perspektive einer emotionalen Bewertung nach Bedürfnissen erscheint eine Unterscheidung zwischen Moral und Ethik sinnvoll, weil Moral die subjektive Überzeugung ausdrückt und Ethik eine allgemein geltende Orientierung für alle Menschen begründet. Für die Unterscheidung spricht einerseits, dass sich Menschen oft aus subjektiver Überzeugung an Orientierungen für ihre Lebensgestaltung gebunden fühlen, die nicht für alle gelten müssen, wie z. B. religiös, politisch oder weltanschaulich motivierte. Den Leitvorstellungen eines Sozialismus, eines Kapitalismus oder einer ökologischen Ideologie muss nicht jeder folgen; aber es ist das gute Recht eines jeden, eigene Vorstellungen herauszubilden, ihnen zu folgen und Kritiker zu überzeugen versuchen. Andererseits sind allgemein geltende Orientierungen unverzichtbar für einen Umgang der Menschen miteinander, für politische Ordnung, Gesetze und Regeln. Es gibt viele Beschreibungen eines Zusammenhangs von Emotionen und Ethik meist aus psychologischer Perspektive, aber keine zwingende Begründung dafür, dass aus Emotionen eine Ethik hergeleitet werden kann, die begründet ist und für alle gilt. Bondolfi hat es so zusammengefasst: gemeinsam ist den Positionen „[…] nur die Tatsache, dass alle dem Gefühl eine konstitutive Bedeutung für das Verständnis des moralischen Phänomens zuschreiben“113 ; aber eben auch nicht mehr. Als Gegenposition ist von den Nonkognitivisten behauptet worden, der Bereich des Sittlichen sei keiner objektiven und wahren Erkenntnis fähig, weil Wahrheitskriterien fehlten. Den Emotionen wurde keine objektive Erklärungskraft für eine 111 Hubig (S. 66 ff.) hat sich ausführlich mit Interpretationsproblemen und konkurrierenden Prinzipien auseinander gesetzt. 112 Mieth, S. 24. 113 Bondolfi, S. 22.
II. Moral und Ethik
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Ethik eingeräumt, weil sie keine sittlichen Handlungen rechtfertigen könnten. Ihr Beitrag wird häufig in subjektiven Motiven gesehen und von Türk „Vorformen einer Tugend“ genannt; und weil sie keine objektiven Gründe für eine Ethik böten, bedürften sie einer Kultivierung durch Tugend.114 Ein Kriterium der Tugend nennt er aber nicht. Entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob sich Ethik aus Emotionen begründen lässt, ist die Frage, was man unter Ethik versteht, wie man sie beschreibt und begründet. Wenn man Ethik auf den Umgang der Menschen miteinander bezieht, so wie es in der Moral geschehen ist, wird man unsere Erkenntnisse über die Natur des Menschen einbeziehen müssen. Es sind einerseits die biologische Perspektive, die Erkenntnisse empirisch erschließt und andererseits Aspekte unseres Vermögens erfahrungsunabhängig zu denken und Orientierungen des Handelns zu erkennen. Für den Umgang mit Menschen spielen beide Aspekte eine Rolle, die empirischen Ergebnisse und erfahrungsunabhängigen Überlegungen. Es ist nicht einzusehen, warum das, was wir über den Menschen nur aus Erfahrung wissen können, in einer Ethik ausgeschlossen bleiben muss. Es sind Veranlagungen der Menschen, ihre Bedürfnisse und Emotionen die Einfluss auf ihren Umgang mit anderen Menschen ausüben und die zu Konflikten führen können. Eine Ethik, von der erwartet wird, Konflikte aus dem Umgang der Menschen miteinander zu lösen, wird nicht unabhängig von den Einflüssen entworfen werden können, die Konflikte verursachen. Insofern erscheint es berechtigt, Erkenntnisse aus der Erfahrung in die Begründung einer Ethik aus Emotionen und Vernunft einzubeziehen. Die Frage bleibt und wird im Folgenden beantwortet, wie empirische Erfahrungen zu Handlungsorientierungen beitragen können, die begründet für alle gelten. Die Antwort auf die Frage, wie sich eine Ethik entwerfen lässt, folgt aus der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt und, wenn seine Umwelt Menschen sind, wie sie miteinander umgehen; denn Handeln eines Akteurs ist einer emotionalen Bewertung Dritter nach moralischen Bedürfnissen ausgesetzt; einbeziehen in die Abwägungen seiner Handlungsentscheidung lassen sich die moralischen Bedürfnisse Dritter und deren Rückwirkungen auf die eigenen Bedürfnisse. Folglich lässt sich eine Ethik aus Emotionen und Vernunft so beschreiben: Ethik umfasst Orientierungen des Handelns zur Erfüllung moralischer Bedürfnisse, die allgemein gelten und begründet sind
Ethik unterscheidet sich von Moral dadurch dass es keine subjektiven Orientierungen des Handelns sondern begründete allgemein gültige sind.
114
Türk, S. 277.
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G. Ethik
Die allgemeine Gültigkeit einer Ethik aus Emotionen und Vernunft wird jetzt begründet und anschließend gezeigt, dass ethische Urteilsbildung als Prozess verstanden wird.
III. Begründung Grundlage der Ethik ist die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt. Begründen lässt sich, dass Mensch und Umwelt diskrete Entitäten sind: In einem erdachten Beispiel beschreibt Foerster einen Mann, der von sich behauptet, die einzige Realität zu verkörpern und alles Übrige existiere nur in seiner Vorstellung. Dieser Mann wird aber nicht leugnen können, dass seine Vorstellungswelt von Menschen bevölkert ist, die ihm nicht unähnlich sind. Er muss einräumen, dass diese Menschen ihrerseits darauf bestehen können, sich als die einzige Realität und alles sonst als Produkt ihrer Vorstellungswelt zu betrachten; auch deren Vorstellungswelt wäre dann von Menschen bevölkert, darunter auch von ihm.115 Daraus ergibt sich ein Widerspruch, denn der Mann sieht sich einerseits als einzige Realität als Mittelpunkt des Universums und muss anderseits zugeben, dass ihm keine Realität zukommt in der Vorstellungswelt eines Menschen, der seine Vorstellungswelt bevölkert. Aus dem Widerspruch folgt, dass Mensch und Umwelt diskrete Entitäten sind. Auf der erwiesenen Grundlage des Menschen in einer von ihm unabhängigen Umwelt werden zur Begründung der Ethik zwei Voraussetzungen gemacht. Die erste ist ein Überlebenswille des Menschen. Diese Voraussetzung erscheint berechtigt, denn wenn ein Mensch keinen Überlebenswillen hat und keinen Wert darauf legt zu gedeihen, wird man über ein ethisches Handeln keine Aussagen machen können; es könnte sein, dass er trotzdem ethisch handelt oder eben auch nicht. Aber wenn er einen Überlebenswillen hat, wird er solchen Orientierungen eher folgen, die Überleben und Gedeihen fördern. Eine zweite Voraussetzung ist die Willensfreiheit des Menschen. Denn wie sollte er Handlungsorientierungen abwägen und sich selbstverantwortlich für seine Entscheidung verstehen können, wenn seine Handlungsentscheidungen determiniert wären. Später wird gezeigt, dass trotz der Einwände mancher Neurowissenschaftler die Annahme einer Willensfreiheit berechtigt ist. Ein wesentlicher Beitrag zur Begründung der Ethik ist die Einbeziehung empirischer Ergebnisse aus den Neurowissenschaften. Das betrifft das emotionale Bewertungsvermögen: aus neurowissenschaftlichen Ergebnissen wurde gezeigt, dass Emotionen Ausdruck einer Bewertung der Wahrnehmung sind; und als Folge der Bewertungen dem Menschen Handlungstendenzen entstehen. Jeder Mensch bedarf dieses Vermögens. Menschen, die zu keinen Emotionen fähig sind, können weder ihre wahrgenommene Umwelt bewerten noch sinnvoll nach eigenen Bedürfnissen 115
Foerster (1994), S. 58.
III. Begründung
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handeln. Empirisch begründet wird nicht eine Ethik sondern die Möglichkeit einer Ethik. Der empirische Begründungsanteil erscheint als Voraussetzung eines epistemischen Anteils gerechtfertigt, weil beide Teile unserem Menschenbild entsprechen und weil Ethik nicht losgelöst von unserem Menschenbild entworfen werden kann. Es gibt also einerseits eine biologische Perspektive, die Erkenntnisse über den Menschen empirisch erschließt, und andererseits eine Perspektive, die zeigt, dass der Mensch erfahrungsunabhängige Einsichten durch Denken gewinnen kann. Ist es aber berechtigt, Erfahrungen in die Begründung einer Ethik überhaupt einzubeziehen? In der Regel wird erwartet, dass die Begründung einer Ethik frei von Erfahrungen sei, ansonsten könne sie keinen Anspruch erheben, für jeden in aller Zukunft zu gelten. Es ist der alte Einwand, bezeichnet als naturalistischer Fehlschluss. Er beschreibt die Unmöglichkeit eines Übergangs vom Empirischen zum Normativen; er beruht darauf, dass empirische Ergebnisse nicht mit Notwendigkeit vorhersagbar sind; empirische Ergebnisse könnten morgen andere sein als erwartet, weil sie wechselnden Einflüssen unterliegen, die keine notwendige Geltung ihrer Ergebnisse erlauben. Das normative Sollen einer Ethik drückt dagegen dasjenige Handlungskriterium aus, das eine Geltung für die Zukunft, für alle Einzelsituationen und für jedes Individuum beansprucht. Ein Sollen kann sich deshalb nicht auf eine empirische Rechtfertigung berufen. Ein normatives Sollen ist z. B. Kants Kategorischer Imperativ, an dem deutlich wird, dass Kant „materiale Prinzipien“ in seiner Ethik nicht zugelassen hat, weil sie für eine notwendige Geltung eines Bestimmungsgrundes des Willens untauglich seien.116 Die Frage ist nur, was die notwendige Geltung einer solchen Handlungsmaxime leisten kann, die weder inhaltliche Kriterien noch eine aktuelle Entscheidungssituation berücksichtigt. Mit Kants Maxime des „Kategorischen Imperativs“ lässt sich zum z. B. nicht mehr entscheiden, ob eine Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen erlaubt sein soll oder nicht. Sie ermöglicht kein Kriterium für die inhaltlich wichtige Frage, ob dem Embryo ein Menschsein zukommt oder nicht. In der Herleitung und Begründung des vorliegenden Entwurfes geht es nicht um ein normatives Sollen, sondern um ein Sollen, das nach einer Abwägung von Handlungstendenzen in einer bestimmten Situation fragt; es ist kein Sollen, das einen Anspruch formuliert, sondern ein Sollen, das eine Möglichkeit ausdrückt; nämlich die Möglichkeit, einer Handlungstendenz zu folgen oder nicht zu folgen. Ein Sollen in der Bedeutung einer Möglichkeit lässt dagegen eine aktuelle Entscheidungssituation auch unter Einbeziehung von Naturgesetzlichkeiten zu und beschränkt sich nicht nur auf eine formale Struktur. Der Unterschied zwischen einem normativen Sollen und einem Sollen als Möglichkeit wird deutlich in den beiden unterschiedlichen Fragen „Was soll ich tun?“, hier wird nach einer Norm fragt, während die Frage „Soll ich es tun?“ die Möglichkeit abwägender Überlegung ausdrückt. Die letztere geht von einer Handlungssituation aus, in der eine emotionale Bewertung mit einer Handlungstendenz verbunden ist. Entscheidungsinstanz bleibt 116
Kant, KdpV, A 71.
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G. Ethik
das Individuum. Es kann die Handlungstendenz nachdenkend betrachten, prüfen hinsichtlich seiner Folgen, der Interessen und Bedürfnisse und vor dem Hintergrund seiner Erfahrung. Weder Naturgesetzlichkeiten noch inhaltliche Orientierungen bleiben ausgeschlossen. Kriterium ist jetzt nicht ein notwendiges Sollen, sondern ein fragendes Sollen. Die Kritik, es handele sich um einen naturalistischen Fehlschluss, trifft nicht zu, weil diese Ethik kein normatives Sollen verlangt. Unter der empirisch erwiesenen Voraussetzung, dass Menschen ihre Umwelt emotional bewerten, lassen sich ethische Handlungsorientierungen epistemisch einsehen: der Mensch lebt in einer Umwelt unter Menschen; selbst wenn er als Eremit lebt, bedarf er einer Orientierung seines Handelns gegenüber sich selbst. Das Handeln der Menschen ist einer Bewertung Dritter und einer eigenen Bewertung ausgesetzt nach moralischen Bedürfnissen. Denn jeder Mensch hat unter der Voraussetzung eines Überlebenswillens moralische Bedürfnisse, die er geachtet und erfüllt sehen möchte: das sind leibliche Bedürfnisse wie Lebensschutz ebenso wie ideelle Bedürfnisse wie die nach eigener Lebensgestaltung und nach Erfüllung seiner Wünsche und Lebensvorstellungen. Jeder wünscht sich diejenigen Bewertungen eines Handelns, die eine Erfüllung der moralischen Bedürfnisse fördern. Das gilt für Handeln, dem der Mensch ausgesetzt ist ebenso wie für das eigene Handeln gegenüber Dritten wegen möglicher Rückwirkungen. Und jeder Mensch verfügt über die Möglichkeit, seine Handlungsorientierungen so aus Vernunft zu bedenken, dass sie der Erfüllung seiner moralischen Bedürfnisse dienen und nachteilige Rückwirkungen vermeiden. Jeder kann einsehen, dass es besser ist auf eine unbeschränkte Freiheit des Handelns zu verzichten zugunsten einer Erfüllung gegenseitiger moralischer Bedürfnisse; denn wenn er unbeschränkt handeln und die moralischen Bedürfnisse Dritter missachten würde, müsste er mit Rückwirkungen rechnen, die einer Erfüllung eigener Bedürfnisse schaden. Daraus folgt: die beschriebene Ethik aus Emotionen und Vernunft ist begründet und allgemein gültig. Da es sich um eine Ethik aus Einsicht und nicht um eine des normativen Sollens handelt, entfällt der alte Einwand gegen einen Übergang vom Sein zum normativen Sollen; hier ist es ein Übergang vom Sein zum fragenden Sollen.
IV. Ethische Urteilsbildung Allgemeine ethische Orientierungen In unserer Umwelt sind wir allgemeinen ethischen Orientierungen ausgesetzt, die aus Kultur, Religion oder als Umgangsregeln überliefert worden sind. Es können überlieferte Tugenden wie Zivilcourage, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Freundschaft sein; es kann sich um Werte handeln wie Würde des Menschen und Freiheit, die in gesetzlichen Regelungen Eingang gefunden haben; es kann sich auch um Güter
IV. Ethische Urteilsbildung
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handeln, die aus Annahmen über die Natur des Menschen hergeleitet werden wie Leben, Rechte und Eigentum. Beispiele sind eine Volksweisheit wie „Was du nicht willst, das dir man tue, das füg auch keinem anderen zu“117; oder ein religiöses Gebot wie: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“; es können auch politisch ausgeformte Prinzipien sein wie die Grundrechte: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, […] unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen“118. Beispiel eines aus der Not ethischer Konflikte entworfenen allgemeinen Satzes ist ein Prinzip der Nachhaltigkeit, wie es Mieth formuliert: „Man soll Probleme nicht so lösen, dass die Probleme, die durch die Problemlösung entstehen, größer sind als die Probleme, die gelöst werden“.119 Die vorgefundenen ethischen Orientierungen können aus unterschiedlichen Gründen als allgemeine verstanden werden wie z. B. aus unreflektierter Gewohnheit, Erziehung oder Überlieferung. Ihre Allgemeinheit kann sich aus einer Akzeptanz durch direkte oder indirekte Zustimmung ergeben. Die Gründe einer direkten Zustimmung können verschiedene sein wie z. B. die Einsicht, es nicht ändern zu können oder in Konkurrenz zu anderen Bewertungsergebnissen das kleinere Übel zu wählen. Eine indirekte Zustimmung zu einer allgemeinen Orientierung entsteht z. B. aus deren Inanspruchnahme oder Duldung durch freiwillige Selbstbeschränkung. Buchanan hat ein Konsensmodell der Zustimmung entwickelt, das auf einer Kosten-Nutzen-Abwägung des Individuums beruht. Die Regeln bedürfen einer Akzeptanz, die bei Buchanan aus einem Gewinn begründet wird. Ein Regelverstoß und dessen Kosten werden als Verlustkalkulation abgewogen.120 Grund der Akzeptanz ist bei Buchanan – ohne dass er ihn erwähnt – eine emotionale Bewertung der Regeln. Auch Leschkes Argument, dass eine Missachtung der Regeleinhaltung intrinsische Kosten durch Schuldgefühle verursache, appelliert ebenso an eine Akzeptanz; ohne dass er es erwähnt ist es eine Akzeptanz aus emotionaler Bewertung. Allgemeine Orientierungen erfüllen ein Bedürfnis der Menschen, derentwegen sie akzeptiert werden. Das Bedürfnis nach einer allgemeinen Orientierung kommt zum Ausdruck z. B. in einer individuellen Gedächtnisspeicherung erfolgreicher Entscheidungen bzw. solcher, die zum Misserfolg führten. Es sind Ordnungsregeln und Gesetze ebenso wie ungeschriebene Bräuche und traditionelle Verhaltensweisen. So sehr ein Individualist auf allgemeine Orientierungen, die seine Handlungsfreiheit begrenzen, verzichten möchte, so wird er Ordnungsregeln einer Gemeinschaft, in die er hineingeboren ist, akzeptieren, um seinen Lebensplänen unbedroht 117
Wright (S. 319) beschreibt in seiner Theorie des reziproken Altruismus: an einer Zusammenarbeit gemäß „wie du mir, so ich dir“ könnten beide gewinnen; ein solches Entscheidungsverhalten entspräche dem Überlebenserfolg der Evolutionstheorie. 118 Charta der Vereinten Nationen, Präambel, San Francisco 1945. 119 Mieth (2002), S. 435. 120 Buchanan, S. 157 f.
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G. Ethik
nachgehen zu können. Wenn z. B. eine Verteilung materieller Gewinne aus einem Zusammenwirken einer Gruppe von Menschen zu regeln ist, wird jeder wissen wollen, mit welchem Anteil er rechnen kann. Es bedarf deshalb Kriterien, nach denen eine Verteilung verabredet wird; es wird ein allgemeiner Grundsatz über Gerechtigkeit erforderlich. Auch bei Verstößen gegen die Lebensinteressen anderer lässt sich in ähnlicher Weise ein Bedürfnis nach allgemeinen Sanktionsregeln herleiten. Eine allgemeine Orientierung kann die Form von Aussagen, Maximen, Glaubensgeboten, Regeln und politisch geformten Gesetzen annehmen. Unabhängig von ihrer Fassung, ob als Prinzipien, höchste Gebote, Regeln, Ziele, Sinngehalte oder Werte, sind sie als Umwelt unserer Bewertung und Akzeptanz ausgesetzt. Ob allgemeine Orientierungen akzeptiert werden und, wenn ja, ob sie eine geeignete Anwendung in einer bestimmten Situation finden, hängt von der Bewertung ab. Es gibt allgemeine Sätze, die mit keiner Akzeptanz der Menschen rechnen können. Ein Beispiel dafür ist ein Satz wie „der Zweck heiligt die Mittel“ oder Nozicks Satz zur Verteilungsgerechtigkeit: „Anspruch auf Besitztum wird durch gerechte Aneignung begründet“121, d. h. heißt, wer reich ist, bleibt reich und wer arm ist, hat Pech. In einem anderen Fall wird z. B. ein Satz akzeptiert, der den Glauben gegen Ungläubige zu verteidigen auffordert. Wenn aber ein Gläubiger diesen allgemeinen Satz zur Rechtfertigung eines Selbstmordattentates gegen Menschen anwendet, von denen er meint, sie würden seinen Glauben bedrohen, wird er keine Akzeptanz seiner Orientierung erwarten können. Im Gegenteil finden radikale Muslime, die solche Attentate verüben oder fördern, innerhalb und außerhalb muslimischer Glaubensgemeinschaften zunehmende Verachtung. Wenn die Akzeptanz eines allgemeinen Satzes über Werte, Tugenden und Rechte in seiner allgemeinen Form zwar nicht bestritten wird, kann dessen Anwendung im Einzelfall aber fraglich bleiben, weil mit einer Akzeptanz nicht entschieden ist, ob er in der einzelnen ethischen Konfliktsituation eine geeignete Orientierung bietet. Es gibt allgemeine Orientierungen, die als Gesetze unstrittig akzeptiert werden und deren Anwendung in einer Entscheidungssituation trotzdem unbefriedigend bleibt. Ein Beispiel dafür ist das Folterverbot. Die Achtung der Würde des Menschen verbietet seine Folter.122 In einem Fall hat ein ermittelnder Polizeibeamter einem mutmaßlichen Täter eine Folter angedroht. Ein kleiner Junge war entführt worden; der Täter versuchte eine Erpressung. Er wurde gefasst, aber der Junge blieb verschwunden. Es war damit zu rechnen, dass er in akuter Lebensgefahr schwebte. Der Täter gab das Versteck nicht preis. Aus Sorge um das Leben des Jungen hat der Polizeibeamte dem Täter mit der Folter gedroht, ihm große Schmerzen zuzufügen, falls er das Versteck nicht verrate. Der Täter hat aus Angst vor der Folter das Versteck 121
Nozick (1974), S. 144. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1949 und Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966. 122
IV. Ethische Urteilsbildung
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preisgegeben. Der Junge wurde dort tot aufgefunden; er war ermordet worden. Der Beamte, der die Folter angedroht hatte, wurde später wegen Verletzung des Folterverbots angeklagt und verurteilt. Die Frage bleibt aber, ist das Folterverbot auch dann gerechtfertigt, wenn das Leben des Jungen durch die Androhung hätte gerettet werden können? Das Beispiel zeigt, dass Allgemeine Orientierung allein manchen Konflikt nicht befriedigend lösen können, und dass eine kaum überbrückbare Kluft zwischen Allgemeiner Orientierung und der Besonderheit eines Einzelfalls besteht. Es bleibt aber die Alternative, dass der Handelnde nach Bewertung der Situation aus persönlicher Überzeugung eine Folter androht und bereit ist, die strafrechtlichen Folgen zu tragen. Es geht nicht um eine Auswahl von Allgemeinen Orientierungen, die man anschließend nur anzuwenden braucht, sondern darum, dass in einem Prozessgeschehen der allgemeine Satz ebenso beurteilt wird wie seine Anwendung in einer bestimmten Situation. In den allgemeinen Orientierungen werden normative, utilitaristische, teleologische oder konsequentialistische Kriterien ebenso wenig ausgeschlossen sein wie religiöse oder ideologische Überlegungen. Entscheidend ist, dass sie keine von dem Prozess der Urteilsbildung unabhängige Geltung und Anwendung beanspruchen. Sie werden einer Bewertung hinsichtlich ihrer Akzeptanz ausgesetzt sein. Ethische Urteilsbildung als Prozess Ethische Urteilsbildung wird hier aus einem Prozess erklärt und nicht aus der einfachen Unterwerfung der Entscheidung unter eine Norm. Ein Prozess bietet die Möglichkeit zur Einsicht in eine individuelle Urteilsbildung. Es ist ein Prozess der Bewertung, der Abwägung und der Einbeziehung allgemeiner Orientierungen. Formal betrachtet beschreibt ein Prozess einen Verlauf bzw. ein Verfahren, wie ein Zustand in einen anderen übergeht. In der ethischen Urteilbildung ist es weder ein deterministisches Verfahren, durch das ein Urteil festgelegt wäre, noch ein stochastisches, das ein Urteil aus einer Wahrscheinlichkeit herleitet, sondern ein Verfahren, ein Urteil aus Einsicht zu erschließen. Es ist ein Verfahren, das den Übergang der Zustände von der Wahrnehmung in einen der Bewertung und anschließend in den einer nachdenkenden Betrachtung beschreibt. Eine ethische Urteilsbildung aus einem Prozess ist deshalb wesentlich unterschieden von einer normativen Urteilsbildung, weil die Übergänge in den jeweils anderen Zustand aus individueller Bewertung und Entscheidung hervorgehen. In diesem Prozess sind die Merkmale Einsicht und Freiheit der Urteilsbildung entscheidend. Ein Beispiel für den Prozess ethischer Urteilsbildung ist: ein Mitarbeiter einer Nahrungsmittelbetriebes beobachtet die Verwendung verdorbener Zutaten. Seine Bewertung des Produktes erzeugt Ekel und Mitgefühl mit Käufern der Ware. Er überlegt wegzusehen oder einzuschreiten. Er erwägt Rückwirkungen seiner Entscheidung: wegzusehen wäre feige und einzuschreiten könnte Missachtung durch Vorgesetzte und Mitarbeiter zur Folge haben. Er erinnert einen oft erlebten Aufruf zur Zivilcourage. Und er entscheidet sich einzuschreiten und überlegt, die Unter-
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G. Ethik
nehmensführung und je nach deren Reaktion die öffentliche Behörde zu informieren. Sein Entschluss einzuschreiten findet spätere Anerkennung in der Öffentlichkeit. Ethische Urteilsbildung unter Einbeziehung eines allgemeinen Prinzips kann zu Konflikten führen. Ein Beispiel ist die Organspende: Ein Patient benötigt dringend eine Organspende; eine Transplantation ist ethisch geboten, weil sie ein moralisches Bedürfnis des Patienten erfüllt. Die Organentnahme eines Sterbenden setzt eine Todesdefinition voraus; die heute praktizierte Feststellung des Hirntods beschreibt den Sterbensprozess unvollständig und ist deshalb ethisch umstritten, weil sie mindestens die moralischen Bedürfnisse von Angehörigen verletzt. Die hier beschriebene Ethik bietet eine Lösung, aus Rücksicht auf moralische Bedürfnisse nach Alternativen eines Organersatzes zu suchen. Das geschieht auch in der medizinischen Forschung. Die hier beschriebene Ethik aus Emotionen und Vernunft ist eine, die eine ethische Urteilsbildung als Prozess erschließt, die nicht versucht, individuell geprägte Handlungsentscheidungen allgemeinen Normen zu unterwerfen, sondern die die einzelne Situation als prägend für die Entscheidung anerkennt. Sie überwindet das alte Sein-Sollen-Problem dadurch, dass sie sich nicht auf ein Sollen stützt, sondern auf eine Einsicht. Es ist eine Ethik, die sowohl der Rationalität wie den Gefühlen zugewandt ist; die der Welt nicht durch normative Reduktionen vorzuschreiben versucht, wie sie zu sein hat, sondern die den jeweiligen Einflüssen der Umwelt Rechnung trägt, die offen bleibt für Veränderung, für einen Wandel in der Bewertung des gleichen Sachverhaltes. Sie ist deshalb aber keine beliebige Ethik, die erlaubt zu tun, was einem in den Sinn kommt. Jede Entscheidung bleibt der Reflexion und erneuter Bewertung ausgesetzt. Es ist eine Ethik, die sich nicht nur auf Rationalität oder nur auf Emotionen stützt, sondern die beide Vermögen zur Geltung bringt. Aus der so begründeten Ethik lassen sich Orientierungen herleiten, die wir ethische Werte nennen können.
H. Ethische Werte I. Entwürfe Zur Begründungen dessen, was als Werte gelten soll, hat es in jüngster Zeit eine Fülle von Untersuchungen und Daten gegeben. Hier sind einige Beispiele: Inglehart hat umfangreiche Untersuchungen zur Herleitung ethischer Werte und eines Wertewandels vorgelegt, die aber alle auf einer Selbsteinschätzung befragter Probanden beruhen. Klages hat die empirischen Ergebnisse kritisch betrachtet. Eine empirische Begründung ethischer Werte und ihres Wandels reicht aber wie oben erläutert nicht aus, weil Beobachtungsergebnisse und ihre Verallgemeinerung morgen andere sein können; die Probanden könnten aus Gründen geänderter Präferenzen morgen zu anderen Orientierungen gelangen. Wolf nennt die Untersuchungsergebnisse aus den strikt empirisch orientierten Sozialwissenschaften eine ironische Entfremdung, weil sie Werte gleichsetzen mit dem, was andere über Werte denken.123 Kraft spricht von Werten als Abstraktion überindividueller Wertungen.124 Ungeklärt ist, worauf sich die Abstraktion bezieht; wenn vom Individuum abstrahiert würde, verlöre ein Wert das, was ihn zu einem Wert für ein Individuum macht; wenn man von der Wahrnehmung und ihrer emotionalen Bewertung abstrahieren würde, wäre nicht mehr zu erkennen, warum er gelten soll. Trapp begründet Werte aus subjektivistischen wertprägenden Erlebnissen, die emotional aufgeladen seien. Daraus abstrahiert er echte Werte als Hirnkonstrukte. Er meint es gäbe keine absoluten Werte sondern nur von subjektiven Wertempfindungen abstrahierte, relative Werte. Zur Begründung appelliert er an empirische Erfahrungen.125 Seine wertprägenden Erlebnisse können für den einzelnen Menschen wie oben beschrieben als moralische Werte gelten. Jemand könnte sich seinen Wert herausgebildet haben wie z. B. ein Unternehmer, der jeden Morgen durch seinen Betrieb geht und die Mitarbeiter in persönlicher Anteilnahme begrüßt. Seine Angewohnheit erfüllt die gegenseitigen moralischen Bedürfnisse der Zusammenarbeit und persönlicher Achtung. Aber warum sollte so eine Wertempfindung für alle gelten?
123 124 125
Wolf, S. 9 f. Kraft, S. 62 f. Trapp, S. 16 ff.
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H. Ethische Werte
In allen Beispielen konnte keine allgemeine Geltung ihrer Wertvorstellungen gezeigt werden; eine Ethik aus subjektiver Bindung ist unzureichend. Es könnten morgen ein Mensch abweichende Werte geltend machen. Werte verlieren dann ihre allgemein orientierende und ordnende Kraft. Werte lassen sich allgemein beschreiben als Urteile über ein begehrtes Gut nach einem bestimmten Maßstab. Im Bereich der Wirtschaft gibt es einen Mehrwert, der ein Gut teurer macht; im Bereich Finanzen wird eine Aktie nach einem Börsenwert gehandelt; in der Logik gibt der Wahrheitswert an, ob eine Aussage zutrifft; in der Ästhetik beschreiben bestimmte Eigenschaften den Kunstwert eines Werkes; und in der Politik bezeichnet ein Wert die Eigenschaften einer Institution nach dem Maßstab ihrer Auswirkungen auf das Gemeinwohl wie z. B.: was ist Europa wert? In allen Beispielen bis auf die Politik sind es verabredete Maßstäbe, die jederzeit geändert werden könnten. Nur in der Politik lässt sich der Maßstab nicht beliebig ändern, weil ihre Grundlage Ethik ist. Und was ist das Besondere am Maßstab ethischer Werte? Das Urteil kommt in einer allgemein geltenden Orientierung zum Ausdruck, die sich bewährt hat; das Gut, über das geurteilt wird, sind Handlungen; und der Maßstab sind die moralischen Bedürfnisse. Ob das Urteil allgemein gültig ist und ob sich der Maßstab beliebig ändern lässt wird im Folgenden untersucht.
II. Moralische und ethische Werte Von den bisher behandelten moralischen Werten lassen sich die ethischen Werte unterscheiden. Die moralischen Werte sind durch ihre subjektive Geltung gekennzeichnet. Beschrieben wurden sie oben als eine subjektive Handlungsorientierung, die sich zur Erfüllung moralischer Werte bewährt haben. Sie sind an subjektiven Bedürfnissen orientiert, deren Erfüllung sich ein einzelner Mensch wünscht und die keiner weiteren Begründung bedürfen. Ein Unternehmer, der sich für seine Mitarbeiter sozial engagiert, erfüllt das beiderseitige Bedürfnis einer Mitarbeiterzufriedenheit. Sein soziales Engagement kann für ihn ein Wert werden, weil es sich zugunsten seines Unternehmens bewährt. In moralischen Werten können Überzeugungen, religiöser Orientierungen oder traditionelle Bindungen zum Ausdruck kommen. Ein Beispiel dafür sind Konzepte einer Reihe bekannter Persönlichkeiten, die aus ihrem persönlichen Erfahrungsbereich Werte beschrieben haben, die sie für grundlegend halten, deren Geltung aber nicht allgemein begründet wird. Sie lassen sich deshalb als moralische Werte verstehen, aber nicht als ethische.126 Aus den bisherigen Untersuchungen einschließlich der Beschreibung moralischer Werte ergeben sich für Orientierungen, die wir ethische Werte nennen können, folgende Kriterien: 126
Hennerkes 2012.
II. Moralische und ethische Werte
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– die Bedeutung des Subjektiven, – ein Bezug auf Emotionen und – der Anspruch einer allgemeinen Geltung Sie kennzeichnen folgende Beschreibung ethischer Werte: Ethischer Wert ist ein bewährtes Urteil über ein Handeln nach dem Maßstab der Ethik
Eine Begründung der Beschreibung folgt aus der Begründung der Ethik. Dort wurde gezeigt, wann Orientierungen des Handelns zur Erfüllung moralischer Bedürfnisse allgemein gelten. Zu den genannten Kriterien, die durch den „Maßstab der Ethik“ erfüllt werden, tritt die Bewährung hinzu. Bewährung Eine Handlungsorientierung bewährt sich, wenn sie in vergleichbaren Entscheidungssituationen einer Erfüllung moralischer Bedürfnisse dient. Die Bewährung einer Orientierung ist ein subjektives Moment. Allgemeingültig wird ein Wert, wenn jeder einsehen kann, dass er in vergleichbaren Situationen die Erfüllung der moralischen Bedürfnisse fördert. Ein Beispiel für eine Verallgemeinerung der Bewährung ist das bekannte Ultimatumspiel. Es sind zwei Spieler: Spieler 1 gibt an, welchen Anteil eines aufzuteilenden Geldbetrages er für sich beansprucht; den Restbetrag gibt er an Spieler 2. Dieser kann dann entscheiden, ob er die Aufteilung akzeptiert. Wenn er sie akzeptiert erhält jeder den von Spieler 1 bestimmten Anteil; wenn er ablehnt erhält keiner etwas. Bewährt hat sich in vielen Wiederholungen des Spiels eine Fairness. Die Teilnehmer in der Rolle des Spieler 1 haben sich an einer fairen Aufteilung orientiert; sie gaben im Durchschnitt 35 % ab; und die Teilnehmer in der Rolle der Spieler 2 haben die Aufteilung akzeptiert, weil sich ihr Bedürfnis nach Fairness erfüllte. Jeder hat eingesehen, dass eine faire Aufteilung ihre Verluste vermeidet. Die verlangte Bewährung erklärt, warum nicht jeder ethische Wert eine dauerhafte Stabilität hat. Es kann sein, dass er seine Orientierungskraft verliert. Im Abschnitt über Wertewandel werden Stabilität einer Akzeptanz und Wandel ausführlich behandelt. Allgemeine Orientierungen, wie sie oben untersucht wurden, können zu ethischen Werten werden, wenn sie akzeptiert werden und sich bewähren wie z. B. die Begrenzung von Bonuszahlungen an Bankmitarbeiter. Es gibt Fälle, in denen sich eine ethische Orientierung in Konkurrenz zu einer anderen nicht bewährt und deshalb nicht als Wert gelten kann. Für den Manager eines Unternehmens kann erfolgreiches Handeln seine moralischen Bedürfnisse zwar erfüllen, aber es wird kein Wert werden können, wenn er seinen Erfolg auf Kosten eines sozialen Engagements erzielt. Viele Mitarbeiter und Kunden wollen einen Erfolg nicht mehr akzeptieren, wenn er ohne Rücksicht auf moralische Bedürfnisse erzielt wurde, wie die Bankenkrise zeigt.
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H. Ethische Werte
Ein moralischer Wert kann zu einem ethischen werden, wenn sich aus subjektiver Bewährung eine allgemeine entwickelt. Das ist der Fall, wenn moralische Überzeugungen Einzelner zunehmend von einer Allgemeinheit geteilt werden wie z. B. jetzt ein Beschluss der Vereinten Nationen über den Waffenhandel von einer Zweidrittelmehrheit der Vollversammlung akzeptiert wurde. Ethische Werte sind keine Normen des Sollens sondern appellieren an die Einsicht. Man kann ihnen folgen oder es sein lassen; man kann sie bedenken und einsehen, dass es sinnvoll ist ihnen zu folgen. Begriffe wie Selbsterhaltung, Schutzbedürfnis, Selbstwertgefühl, Anerkennung, Zufriedenheit, Liebe, Geborgenheit, Empathie, Hilfsbereitschaft, soziale Einbindung oder aus dem ökonomischen Bereich Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit, Vertrauen und Nachhaltigkeit werden erst zu ethischen Werten als bewährte Orientierungen einer Bewertungssituation. Eine Orientierung nur an dem Begriff reicht nicht aus, denn jeder der Begriffe kann auch das Gegenteil einer Erfüllung der moralischen Bedürfnisse bewirken. Opferbereitschaft eines Selbstmordattentäters wird zum Gegenteil eines ethischen Wertes; ebenso ein Selbstwertgefühl, das zur Eitelkeit wird oder eine Kundenzufriedenheit, die durch Bestechung entsteht. Prozess Werte sind keine normativen Begriffe sondern Ergebnisse aus der Erfüllung moralischer Bedürfnisse, die sich bewährt haben, die allgemein gelten und begründet sind. Betrachtet man z. B. Gerechtigkeit. Es ist schwer begrifflich zu definieren, was gerecht ist. Es hat immer wieder Gerechtigkeitstheorien gegeben, von Aristoteles bis in die Moderne bei Rawls und Nozick; sie haben Kriterien einer Gerechtigkeit entworfen, die aber strittig blieben und die zu einer Kritik herausforderten wie z. B. gegen die Annahmen eines Schleiers des Nichtwissens bei Rawls oder gegen die ultraliberalistischen Voraussetzungen bei Nozick. Der Geltungsanspruch eines ethischen Wertes wie hier der „Gerechtigkeit“, der aus einem Bewertungsprozess herausgebildet wird, lässt sich epistemisch begründen wie oben geschehen; seine Bewährung in einer Entscheidungssituation lässt sich durch emotionale Bewertung überprüfen und es lassen sich Alternativen bedenken; der ganze Bewertungsprozess lässt sich einsehen. Es gibt Klagen von Unternehmern darüber, dass sie zwar Codes of Conducts in ihren Unternehmen eingeführt hätten, dass aber vor allem in großen Konzernen die Werte und Prinzipien nicht bis zu jedem Mitarbeiter durchdrängen und dass sie sich, auch wenn sie bekannt wären, oft nicht daran hielten. Eine Ethik aus Emotionen und Vernunft kann dem Mangel abhelfen. Sie ermöglicht den Mitarbeitern zu erklären, wie Werte herausgebildet werden, wie sie sich begründen und einsehen lassen; die Mitarbeiter könnten zu einer Einsicht in die Praktizierung eines Codes of Conduct gewonnen werden und verstehen lernen wie Konflikte zwischen konkurrierenden Werten gelöst werden können. Wenn man nicht von einem ethischen Wert als Begriff ausgeht sondern von einem Orientierungsstandard, der sich bewährt haben muss, bleiben Werte zurückgebunden
III. Kritik
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an Bewertungssituationen, an Akteure und an betroffene Dritte. Es sind Prozessergebnisse, die man im Gedächtnis speichern kann. Liste ethischer Werte Beispiele aus einer Liste ethischer Werte sind: – Menschenrechte (genauer beschrieben in der Europäischer Menschenrechtskonvention) – Bewertungen nach Gerechtigkeit – Begrenzung des Waffenhandels unter den Völkern – Sanktionierung des Dopings im Sport – Toleranz gegenüber alternativen Lebensgemeinschaften – Gewinn mit Gewissen – Vermeiden von Umweltbelastungen – Transparenz in Bankgeschäften – usw.
III. Kritik Ein ethischer Wert ist kein selbständiges Phänomen sondern ein Ergebnis eines Herausbildungsprozesses. Er ist gekennzeichnet einerseits durch allgemeine Geltung und anderseits durch subjektive Bewährung. Ist das nicht ein Widerspruch? Eine allgemeine Geltung allein schließt nicht aus, dass sich jemand nicht an ihn hält, weil er ihn nicht beachtet, weil er ihn nicht eingesehen hat oder weil ihm andere Orientierungen vorrangig erscheinen. Ein ethischer Wert enthält das objektive Moment der Allgemeingültigkeit und zugleich das subjektive Moment persönlicher Bindung, die in dem Merkmal „bewährt“ zum Ausdruck kommt. Ein ethischer Wert muss nicht nur für alle gelten sondern auch von dem einzelnen Menschen eingesehen und praktiziert werden. Kritisch einwenden lässt sich die Frage, wie es denkbar ist, dass sich entgegen der hier beschriebenen Werte oft Zustände durchgesetzt haben, die Leben missachteten wie im Deutschland der Nationalsozialisten, in der Sowjetunion unter Stalin, in China während der Kulturrevolution, im Pol Pot Regime in Kambodscha, im Milosevic Regime in Jugoslawien usw. Betrachtet man das historische Ende der Entwicklung dieser Beispiele, so zeigt sich in allen Fällen, dass die Verletzungen der moralischen Bedürfnisse auf Dauer keinen Bestand hatten. Unterdrückung von Mitmenschen, Selektion und Ermordung der Regimegegner missachten fundamentale Bedürfnisse der Menschen und können sich in der Gemeinschaft nicht auf Dauer durchsetzen. Ob solche Systeme von innen oder von außen gestürzt wurden, ist unerheblich, denn es geschah aus den gleichen unverzichtbaren Lebensbedürfnissen, wie sie als moralische Bedürfnisse beschrieben wurden.
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H. Ethische Werte
Ein anderer Einwand ist: verletzt diese Ethik nicht die Vorstellung von einem absoluten Guten. Das Gute kommt in der Ethik aus Emotionen und Vernunft nicht vor, ist aber ein zentrales Element platonischer bis hin zu christlicher Ethik. Antworten lässt sich auf diesen Einwand: die Ethik aus Emotionen und Vernunft bestreitet nicht das Gute oder ein höchstes Gut; wenn jemand etwas als gut bewertet, kommt dessen subjektive Orientierung zum Ausdruck; oder wenn jemand von einem höchsten Gut spricht, ist es seine subjektive Bewertung; in allen Vorstellungen von einem Gut oder von einer Bewertung gut ist nicht geklärt, ob es für alle gilt. Die Einhaltung eines Gebotes wie „Tue Gutes“ könnte von einem Akteur so beantwortet werden: ich tue Gutes. Aber was er damit meint, was er unter Gutem versteht, bleibt unklar. Das Gute kann ein moralischer Wert für ein Individuum sein; seine allgemeine Geltung als ethischer Wert ist damit nicht begründet. Zu ergänzen bleibt, dass Wertbildungen ohne bewusste Abwägung von Handlungsoptionen und ohne Einsicht in die Ethik aus Emotionen und Vernunft vorstellbar sind. Das ist der Fall bei intuitiver Wertbildung oder bei Wertbildungen durch Erziehung wie sie Kohlberg beschrieben hat.127 Werte aus solchen unreflektierten Prozessen bleiben einer Kritik ausgesetzt; denkbar ist, dass sich ein heranwachsender Mensch in zunehmender Reife mit seinen übernommenen Werten kritisch auseinandersetzt, sich von ihnen distanziert und eigene herausbildet.
127
Kohlberg, S. 198 ff.
J. Wertewandel I. Erklärungsentwürfe Wandel aus historischer Perspektive Noelle-Neumann berichtet von einem Schock über einen ersten Bericht zum Vorgang eines Wertewandels im Jahr 1975. Mit Hilfe der Demoskopie hätte sie diesen Wandel entdeckt. Es waren Untersuchungen über Trendfragen zur Erziehung; z. B. die Frage nach Weitergabe von Werten wie Höflichkeit, Benehmen und Sparsamkeit von Eltern an Kinder; aber auch die Frage nach außerehelichen Lebensgemeinschaften. Die Zustimmung zu bürgerlichen Tugenden, wie sie 250 Jahre lang gepflegt worden waren, war deutlich abgesunken. Die Ergebnisse zeigten Trends zur Lockerheit und Entkrampfung überkommener Denkweisen.128 Handelte es sich wirklich um eine „Entdeckung des Wertewandels“? Hat es nicht im Laufe der Geschichte immer wieder Wertewandel gegeben? Im Altertum waren es Tugenden, die den hier beschriebenen Wertorientierungen entsprechen. Es hat Veränderungen der Tugenden gegeben, z. B. bei den Kardinaltugenden – nach Platon: Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Klugheit – gab es Abwandlungen; nur die Gerechtigkeit taucht in den unterschiedlichen Aufzählungen der Tugenden von Aischylos über Platon bis Cicero konstant auf. Im Mittelalter trat im christlichen Kulturraum die dominierende Kraft der Liebe hervor, die im Altertum nicht zu den Tugenden zählte. Und schließlich in der Neuzeit mit ihren mündig gewordenen Bürgern erhielten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dominierende Bedeutung. Heute kommen weitere Werte wie Solidarität und Fairness hinzu. Für eine Untersuchung des Wandels der Werte erscheint es sinnvoll, der ober erläuterten Unterscheidung zwischen moralischen und ethischen Werten zu folgen. Kriterien ihrer Unterscheidung sind die Allgemeingültigkeit und die Begründung. Moralische Werte erfüllen eine individuelle aber keine allgemeine Geltung. Es geht hier um die Untersuchung eines Wandels der ethischen Werte. Moralische Werte, die aus persönlichen Überzeugungen hervorgehen, unterliegen auch einem Wandel, haben aber keine große Bedeutung für eine Gemeinschaft, weil sie nicht allgemein gelten und die Gefahr einer Beliebigkeit enthalten. Sie können sogar zur Verletzung moralischer Bedürfnisse Dritter führen wie z. B. als Grundlage einer Rassenpolitik oder ethnischer Säuberungen. Ethische Werte sind, weil sie begründet 128
Noelle-Neumann, S. 15 ff.
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J. Wertewandel
sind und allgemein gelten, für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft unverzichtbar. Der Wandel dieser Werte wird hier untersucht. Erklärungsentwürfe eines Wertewandels genügen oft nur moralischen Werten. Koch, der für eine „Revitalisierung ethischen Normenbewusstseins“ 129 eintritt, zeigt nicht, dass sie einem allgemeinen Geltungsanspruch genügt. Und auch Spaemanns Interpretation eines Wandels durch eine Unterscheidung zwischen unwandelbaren Werten und wandelbarer Wertschätzung130 lässt keine Allgemeingültigkeit erkennen. Seine Erklärung eines Wandels aus einer Unterscheidung zwischen Werten und Wertschätzung mag zwar für einzelne ethische Orientierung zutreffen wie z. B. für die Freiheit, deren Wertschätzung in Gestalt einer Reisefreiheit der DDR Bürger hervorgetreten ist. Unstrittig gibt es Orientierungen, die auf unverzichtbare Bedürfnisse wie Freiheit oder Gerechtigkeit zurückgehen und deren Wertschätzung in den Vordergrund tritt, vor allem dann, wenn sie als unerfüllt erlebt werden wie z. B. ein Bedürfnis nach Selbstentfaltung der Menschen in den Ländern der Arabellion. Kritisch lässt sich aber einwenden, dass auch ein Wandel eintritt, den Spaemann aus seiner Unterscheidung unwandelbarer Werte und wandelbarer Wertschätzung nicht erklären kann wie z. B. den Wandel von Ehen zu anderen Formen der Lebenspartnerschaften oder den Wandel zu einer Toleranz der Homosexualität. Was sollte denn in diesen Beispielen ein unwandelbarer Wert sein? Schneider interpretiert veränderte moderne Wertsetzungen aus bloßen Umwertungsprozessen, die in Bezug auf Schelers eigenständige Werte reversibel seien.131 Welche eigenständigen Werte sollten denn an den neu hinzugekommenen Werten der Solidarität oder der Fairness umgewertet worden sein? Und warum sollten umgewertete attraktiver sein als die eigenständigen? Lassen sich Werte und ihr Wandel aus ihrer Entstehung erklären? Bindé meint, sie würden angepasst an einen erfundenen Lebensstil; man könne Werte erschaffen wie ein Künstler seine Werke. Ihre allgemeine Geltung könne man durch einen Gesellschaftsvertrag bzw. einen Ethikvertrag erreichen.132 Ungeklärt bleibt, ob es Kriterien für ihre Erschaffung gibt oder ob ihre Geltung nur davon abhängt, ob ihnen alle Angehörigen einer Gesellschaft zustimmen. Wenn das so wäre, dann wäre ein ethischer Wert dann allgemeingültig, wenn alle zustimmen; und das könnte ein Beliebiger sein, z. B. auch eine ethnische Säuberung. Ungeklärt bliebe auch wie eine Zustimmung zustande kommt, vielleicht durch Not, Drohung oder Terror. Bindés Erschaffungsgedanke reicht für eine Wertebildung nicht aus. Ingleharts Erklärung des Wertewandels aus Bedürfnissen In einigen empirischen Untersuchungen eines Wertewandels seit Ende des 20. Jahrhunderts wird Wandel interpretiert als eine Veränderung von traditionellen hin zu 129 130 131 132
Koch, S. 130. Spaemann, S. 44. Schneider, Gabriele, S. 34. Bindé, S. 16 ff.
I. Erklärungsentwürfe
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säkularen bzw. von Überlebens- hin zu Selbstentfaltungswerten.133 Diesen Weg verfolgt auch Inglehart. Sein Entwurf wird hier ausführlicher behandelt, weil seine Erklärung eines Wandels ethischer Werte eine gegenwärtig beherrschende Rolle einnimmt. Inglehart nutzte das Konzept der Maslowschen Bedürfnispyramide zur Messung von Wertprioritäten. Maslow hatte in seiner Motivationstheorie eine Bedürfnispyramide entworfen, in der er fünf aufeinander aufbauende Ensembles beschreibt: physiologische Bedürfnisse als Basis, dann Sicherheitsbedürfnisse, die der Liebe und als höchste der Selbstachtung und Selbstverwirklichung. Neue Bedürfnisse stellten sich ein, wenn die grundlegenderen erfüllt seien.134 Inglehart folgt diesem Konzept und fasst physische Bedürfnisse und die der Sicherheit zu einer Gruppe der materiellen Werte zusammen und die sozialen Bedürfnisse und Selbstverwirklichung zur Gruppe der postmateriellen Werte.135 Einen Wertewandel erklärt er aus einer Mangelhypothese: Phasen des Mangels materieller Sicherheit förderten Materialismus; Phasen wirtschaftlicher Prosperität förderten die Ausbreitung postmaterialistischer Werte. Wertewandel vollzöge sich in historisch nachvollziehbaren Entwicklungen von materialistischen zu postmaterialistischen Werten. Er rechtfertigt die Erklärung durch eine große Zahl empirischer Untersuchungen, deren Graphen die Entwicklung plausibel erscheinen lassen. Aber es gibt Kritik an Ingleharts Wertewandelerklärung, vor allem von Klages.136 Er kritisiert die methodische Eindimensionalität – die Einteilung der Werte in materialistische und postmaterialistische – obgleich andere Dimensionen vorstellbar wären wie z. B. autoritäre vs. libertäre Werte. Außerdem blieben Träger gemischter Werte wie das gleichzeitige Bedürfnis nach Arbeitsplatz und Selbstentfaltung bei Inglehart unberücksichtigt. Aus meiner Sicht ist es aber auch die von ihm vertretene einseitige Richtung des Wandels von materialistischen zu postmaterialistischen Werten, die nicht überzeugt. Denn es lässt sich auch die entgegengesetzte Richtung beobachten: trotz Freiheit und der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung mangelt es an physischen Werten wie Ernährung und Arbeitsplatz wie in einigen Süd- und Osteuropäischen Ländern zu sehen ist; ausgehend von postmaterialistischen Werten gibt dort einen Kampf zur Erreichung besserer materieller Lebensgrundlagen. Trotz mancher zutreffender empirischer Ergebnisse reicht Ingleharts Erklärung eines Wertewandels nicht aus. 133
van Deth, S. 28. Maslow, S. 95 ff. 135 Inglehart (1995, S. 90 u. S. 101) nannte im Jahr 1970 materialistische Werte solche des physischen Überlebens und der physischen Sicherheit; und postmaterialistische Werte die Gruppenzugehörigkeit, Selbstverwirklichung und Lebensqualität; in einer späteren Untersuchung (1970 – 1988) sind es bei den materiellen Werten jetzt die Bedürfnisse Aufrechterhaltung der Ordnung, Erhaltung des Wachstums und Sicherung des Landes und bei den postmateriellen Werten Mitspracherecht, Meinungsäußerung und humanere Gesellschaft. 136 Klages, S. 12 ff. 134
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J. Wertewandel
Darüber hinaus ist ein oben erwähntes Problem der Wertewandelforschung nach wie vor ungelöst, die Frage wie ethische Werte über empirische Beispiele hinaus begrifflich verstanden werden. Klages möchte mit der Zielsetzung einer möglichen Standardisierung des „Werte“-Begriffs vorankommen und empfiehlt eine größere Differenzierung in Wertegruppen wie z. B. allgemeine und spezifische, grundlegende und beobachtbar aktualisierte, selbst- und umgebungsbezogene ohne auf eine Trennung von materiellen und ideellen Werten einzugehen.137 Was seine Differenzierungen für die Erklärung eines Wertewandels leisten können, bleibt ungeklärt. Ein Wandel ethischer Werte lässt sich vom Altertum als Erfüllung einer Glückseligkeit bis in die Neuzeit verfolgen. Noelle Neumann hat nicht den Wertewandel entdeckt sondern eine Quantifizierung der Veränderungen herausgefunden. Bedürfnisse und Werte Eine andere Frage ist die nach der Beziehung zwischen Bedürfnissen und Werten. Ingelhart dienen Bedürfnisse zur Festlegung von Items, mit denen er Wertprioritäten misst. Er zeigt aber nicht wie Bedürfnisse und Werte zusammenhängen. Das führt dazu, dass Bedürfnisse und Werte durch ein Ranking- und ein Ratingverfahren undifferenziert zusammengeordnet werden. Wichtige ethische Werte wie Liebe, Achtung und Gerechtigkeit tauchen überhaupt nicht auf. Ingelharts Einschränkung aller möglichen Bedürfnisse der Menschen auf zwei Gruppen – die materiellen und die postmateriellen – bildet nicht die Lebenswirklichkeit ab. Denn materielle und soziale Bedürfnisse treten nicht immer isoliert voneinander, sondern nebeneinander, vermischt und sogar konkurrierend miteinander auf. Besser ist, nur moralische Bedürfnisse als Grundlage zu wählen; sie zeigen materielle wie soziale Güter an. Der ethische Wert ergibt sich dann aus einer Handlungsorientierung, die sich zu Erfüllung der moralischen Bedürfnisse bewährt hat. Der Wert bezieht sich nicht nur auf die Güter sondern darauf, wie wir mit unseren moralischen Bedürfnissen und denen der anderen Menschen umgehen. Bedürfnisse, Werte und Güter werden hier nicht auf das isolierte Individuum bezogen sondern auf Menschen unter Menschen. Werte wurden erklärt als Ergebnisse des Handelns der Menschen untereinander, die sich zur Erfüllung der Bedürfnisse nach unverzichtbaren Gütern für Leben und Gedeihen bewährt haben. Aus diesem Konzept lässt sich ein Zusammenhang von Werten, Bedürfnissen und Gütern einsehen. Werte ergeben sich aus der Bewertung der Güter zur Erfüllung der moralischen Bedürfnisse. Materielle und soziale Güter können gleichzeitig auftreten ohne dass ein Wandel herbeibeobachtet werden muss wie es bei Inglehart geschieht. Die Basis der moralischen Bedürfnisse erlaubt außerdem eine Bezogenheit auf Güter aller Art, ohne dass sie hierarchisch in ein Rankingkonzept gepresst werden müssen. Diesem Konzept entsprechen auch die Ergebnisse der Experimentellen Wirtschaftsforschung, die zeigen, dass ökonomische und ethische Werte gleichzeitig in einer Handlungsentscheidung wirksam sein können. 137
Klages, S. 31.
II. Wertewandel aus Änderung moralischer Bedürfnisse
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II. Wertewandel aus Änderung moralischer Bedürfnisse Erklärung des Wertewandels aus der Ethik der Emotionen und Vernunft Die Untersuchung eines Wandels der Werte verlangt zwischen einem Wandel moralischer und ethischer Werten zu unterscheiden. Der Wandel moralischer Werte ergibt sich aus Bedürfnissen, die ein Mensch angesichts seiner Orientierungserfahrung für sich erfüllt sehen möchte. Das kann ein Bedürfnis nach überkommenen Werten sein, die er als zu wenig beachtet erlebt und deshalb für sie eintritt. Die individuellen Entscheidungen eines Wandels moralischer Werte bedürfen keiner allgemein gültigen Erklärung. Anders ist es bei ethischen Werten, deren Wandel alle betrifft. Ethische Werte, hergeleitet und begründet aus der Ethik aus Emotionen und Vernunft, sind gekennzeichnet durch moralische Bedürfnisse und Handeln, die gegenseitig aufeinander einwirken. Wenn sich die Bedürfnisse ändern, wirkt es sich auf bewährtes Handeln aus; geltende Werte können dann ihre Orientierungskraft verlieren und neue Werte hervorgehen. Umgekehrt können aus neuen Handlungsmöglichkeiten neue Bedürfnisse entstehen und aus ihnen neue Werte herausgebildet werden. Ein Wandel der Werte ergibt sich also sowohl aus Veränderungen moralischer Bedürfnisse und als auch aus neuen Handlungsmöglichkeiten. Beide Möglichkeiten eines Wertewandels werden jetzt betrachtet. Änderung moralischer Bedürfnisse Zur ersten Möglichkeit des Wandels: er lässt sich erklären aus einer Änderung moralischer Bedürfnisse. Sie haben entweder ihre Wirksamkeit verändert oder werden nicht mehr als verletzt empfunden. Ein Beispiel sind gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften. Eine Ehe zwischen Mann und Frau zu führen war bis Mitte des 20. Jahrhunderts in der christlich geprägten Welt der Gesellschaft und des Staates ein ethischer Wert, der den moralischen Bedürfnissen entsprach. Die Bewertung der Partner- und Lebensgemeinschaften hat sich bis in die Gegenwart verändert. Voreheliches Zusammenleben, Partnerschaften ohne Trauschein und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sind heute anerkannt und weitgehend gesetzlich geschützt. Ein Grund der veränderten Bewertung ist, dass Dritte durch die Bewertung solcher Lebensgemeinschaften ihre moralischen Bedürfnisse nicht mehr verletzt sehen. Eine überwiegende Zahl der Menschen akzeptiert gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Gegenüber früheren Vorstellungen, wie eine Ehe zu sein hat, ist eine Toleranz anderer Formen von Lebensgemeinschaften getreten. Und weil keine moralischen Bedürfnisse mehr als verletzt empfunden werden, kann ein Wandel des ethischen Wertes entstehen, von einer Ehe zwischen Mann und Frau hin zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften. Ein anderes Beispiel für einen Wandel eines ethischen Wertes wird aus der Veränderung einer Bewertung des „ehrenhaften Handelns“ deutlich. Im 19. Jahr-
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J. Wertewandel
hundert drückte Ehre ein dominierendes Selbstwertgefühl aus. Um der Ehre willen haben sich Männer duelliert und erschossen. Ehrenhaftes Handeln erfüllte ein moralisches Bedürfnis; ehrenhaftes Handeln war Bestandteil eines nationalen Bewusstseins und Anlass für Menschen in den Krieg zu ziehen. Die Bewertung der Ehre hat sich bis heute gewandelt. Ehre bedeutet heute Anerkennung persönlicher Leistungen des Geehrten, wie es in der Verleihung von Ehrenpreisen zum Ausdruck kommt. Das moralische Bedürfnis hat sich geändert. An die Stelle eines nationalen und individuellen Ehrgefühls ist eine Achtung einer Person oder einer Leistung getreten. Bürgernähe Aus veränderten moralischen Bedürfnissen können neue ethische Werte entstehen. Die Achtung der Bürgerinteressen in politischen Entscheidungsprozessen einer Kommune ist den Bewohnern zunehmend ein moralisches Bedürfnis geworden, das durch die Entscheidung ihrer gewählten Repräsentanten nicht immer erfüllt wird; Bürger können sich von kommunalen Projekten so betroffen fühlen, dass es für Politiker sinnvoll ist, eine stärkere Bürgernähe zu suchen und ihre moralischen Bedürfnisse in den Entscheidungsprozess unmittelbar einzubeziehen. Denn eine Lehre aus manchem Misserfolg weit reichender politischer Entscheidungen ist, dass eine nur rationale Entscheidungskalkulation ohne die Bedürfnisse betroffener Bürger einzubeziehen, nicht des Erfolges sicher sein kann wie die Großprojekte Stuttgart 21 – dem Ausbau des unterirdischen Bahnhofs Stuttgart 21- oder der Ausbau der die Rheintalbahn zeigen. Benennen ließe sich so ein Wert „Praktizierung der Bürgernähe“. Für eine Reihe von Politikern hat sich diese Orientierung als Wert bewährt. Familienpolitik Die Auswirkung veränderter Bedürfnisse auf eine Handlungsorientierung lässt sich auch am Beispiel einer Familienpolitik zeigen. Über eine jüngste Forsa-Umfrage berichtet die Zeitschrift Eltern. „Grundsätzlich wünschen sich Eltern mehr Chancengleichheit, Wahlfreiheit sowie einen Staat, der die richtigen Rahmenbedingungen für Familien schafft. Dazu zählen vor allem die Unterstützung benachteiligter Familien, eine partnerschaftliche Arbeitsteilung sowie ein bundesweit einheitliches Bildungssystem. Die Wunschliste der Eltern liest sich laut der ForsaStudie so: 91 Prozent finden es gut, nicht berufstätige Ehepartner in der Krankenversicherung mitzuversichern. Auch die Einführung eines verpflichtenden kostenlosen letzten Kindergartenjahres (83 Prozent) steht bei den befragten Eltern ganz oben auf der Wunschliste.“ Es sind moralische Bedürfnisse der Eltern zur Förderung eines Gedeihens ihrer Familien und Kindern. Die Bedürfnisse werden sich auf Handeln des Staates und der Arbeitgeber auswirken; aus ihnen können neue Werte einer Familienpolitik hervorgehen.138
138
Lennartz, Familienpolitik.
II. Wertewandel aus Änderung moralischer Bedürfnisse
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Auswirkungen moralischer Bedürfnisse auf ökonomisches Handeln Ein anderes Beispiel kommt aus der Wirtschaft. Bei Managern zeigt sich eine Suche nach neuen Handlungsorientierungen, weil sich moralische Bedürfnisse auf ihr ökonomisches Handeln auswirken. Eine Initiative, genannt „Wertekommission“139, hat die Auswirkungen aufgegriffen und zwei empirische Untersuchungen in Unternehmen vorgelegt. Die Wertekommission verfügte über keine theoretische Grundlage, aus der Werte abgeleitet und eingesehen werden können. Sie hat deshalb als Grundlage einer Befragung der Mitarbeiter und Führungskräfte folgende Beschreibung formuliert: „Grundwerte sind tief verankerte Überzeugungen, die die Idealvorstellung oder Erwartungen beschreiben, wie sich jeder in Unternehmen verhält.“140 Werte werden hier nicht begründet und es ist nicht zu erkennen wie sie entstehen. Als Kriterium wird ihr Beitrag zum Erfolg des Unternehmens angenommen. Die Formulierung einer Idealvorstellung von Werten mag bei den Befragten Assoziationen wecken; unklar bleibt aber, warum Werte gelten und was sie in einer einzelnen Entscheidungssituation leisten können. Die Untersuchungsergebnisse der Wertekommission haben trotzdem eine Bedeutung, weil sie Ergebnisse erkennen lassen, wie sich moralische Bedürfnisse auf ökonomisches Handeln auswirken. Eine erste empirische Untersuchung über Unternehmenswerte befasst sich mit einer Befragung von 550 Unternehmen aus 9 europäischen Ländern. Es wurden nicht Einzelpersonen befragt sondern Unternehmen zur Stellungnahme aufgefordert. Die Befragung orientierte sich an Erwartungen der Anteilseigner, an Vorstellungen und Bedürfnissen der Mitarbeiter und der Kunden.141 Die 10 meist genannten Werte sind Kundenbindung, Qualität, Innovationsstärke, Mitarbeiterzufriedenheit, Transparenz im Innern, Zusammenarbeit, Soziales Engagement, Glaubwürdigkeit, Professionalität und Kundenzufriedenheit. Bezogen auf ein Unternehmen und seine Produkte sind es einerseits Werte, die auf ein moralisches Bedürfnis wie Mitarbeiterzufriedenheit, soziales Engagement, Glaubwürdigkeit zurückgehen, und andererseits Werte, die sich auf ökonomische Güter wie Kundenbindung, Qualität, Innovationsstärke, Transparenz im Innern und Professionalität beziehen. Alle Werte sind Orientierungsstandards, die einem Bedürfnis nach Unternehmenserfolg dienen. Sie werden von den Unternehmen als Orientierungsstandards eingeschätzt, weil sie sich erfolgreich bewährt haben oder weil die Unternehmen ihre Bewährung erwarten. Eine Schwäche der Untersuchung ergibt sich aus ihrer Methode, weil sie Werte auf eine Selbsteinschätzung zurückführt und nicht zeigt, wie Werte entstehen und begründet werden können. Die Folge ist, dass Bemühungen um eine Wertevermittlung in den Unternehmen und eine Werteförderung unter den Mitarbeitern nicht 139
Die Wertekommission ist eine zwei Jahre alte Initiative junger Unternehmer und Manager. Sie möchten eine Werte bewusste Führung in den Unternehmen fördern und einen Dialog darüber führen, vor allem innerhalb der Altersgruppe der 25- bis 45-Jährigen. 140 Allied Consultants Europe, S. 6. 141 Ebd. S. 3 ff.
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J. Wertewandel
immer erfolgreich war. Deutlich wird aber in der Studie, dass in den Unternehmen zwei unterschiedliche Arten von Werten genannt werden, die für erfolgreiches wirtschaftliches Handeln wichtig sind: es sind ökonomische und ethische Werte. Die ökonomischen orientieren sich an den Bedürfnissen des Gewinns und die ethischen an moralischen Bedürfnissen. Wertebeurteilungen durch Fach- und Führungskräfte Eine zweite empirische Untersuchung befasst sich mit einer Befragung von 490 Fach- und Führungskräften aus deutschen mittelständigen Unternehmen und Konzernen. Gefragt wurde nach den individuellen Wertepräferenzen und nach der Relevanz von Werten in Unternehmen.142 Als die zentralen Werte werden Verantwortung (75 %), Vertrauen (68 %) und Respekt (53 %) genannt. Zusätzlich wurden mit etwas geringeren Prozentzahlen Integrität, Nachhaltigkeit und Mut ergänzt. Die drei meist genannten Werte ergeben sich auch hier aus einem moralischen Bedürfnis, wobei über das Verständnis von Verantwortung ein breiter Konsens nach folgender Beschreibung herrschte: Verantwortung diene in einer Handlungssituation dem Bedürfnis zu entscheiden auch unter Unsicherheit über die Folgen. Denn – so geben die Befragten an – wer verantwortlich handelt, ist aus Sicht der Kollegen verlässlich, gewichtet Nachhaltigkeit höher als Taktik und gibt Orientierung in schwierigen Situationen. Auf die Frage nach den Quellen der Wertvorstellungen gibt eine große Mehrheit der Befragten das Elternhaus und die Arbeitswelt an.143 Aus Sicht der ethischen Theorie sind die drei zentralen Werte Verantwortung, Vertrauen und Respekt Orientierungsstandards, die einem moralischen Bedürfnis entsprechen und aus emotionalen Bewertungen hervorgehen. Sie sind Ausdruck persönlicher Akzeptanz und Überzeugung; sie sind nicht einem Ziel wie Unternehmenserfolg in der vorausgegangenen Untersuchung untergeordnet. Die von ihnen ausgehenden Handlungsorientierungen prägen die Unternehmenskultur und fördern die Wettbewerbsfähigkeit; sie wirken sich auf die Auswahl von Mitarbeitern aus und umgekehrt auf die Auswahl eines Unternehmens durch einen Bewerber. Rückwirkungen aus einer Praktizierung dieser Werte zeigen sich in der Zufriedenheit der Mitarbeiter und in einer Kundenzufriedenheit. Sie erfüllen bestimmte moralische Bedürfnisse. Auch diese Untersuchung zeigt: es sind moralische Bedürfnisse, die sich auf Handeln der Manager auswirken und neue ethische Werte herausbilden wie Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit. Insgesamt lässt sich aus beide Untersuchungen erkennen, dass ökonomisches Handeln, orientiert an ökonomischen Zielen, zugleich auf moralische Werte verweist. Es sind Orientierungsstandards, die auf emotionale Bewertungen der Umwelt rückführbar sind. Sie entstehen aus den beiden Bedürfnissen eines wirtschaftlich handelnden Akteurs – aus dem ökonomischen und dem moralischen Bedürfnis. Das Ergebnis klingt simpel, hat aber seine Bedeutung, weil sich das Nebeneinander beider Bedürfnisse nach der ethischen Theorie aus den Umweltreizen und ihrer 142 143
Bucksteeg, S. 7. Ebd. S. 19 f.
II. Wertewandel aus Änderung moralischer Bedürfnisse
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Bewertung begründen lässt. Die Bedürfnisse werden aus einer subjektiven beliebigen Sichtweise befreit und gelten als Kriterium für jedermann, hier für die Mitarbeiter, Führungskräfte, Kunden und Shareholder. Die Akzeptanz beider Werte ermöglicht Einsichten in Maßnahmen zur Förderung eines Wertekodexes in den Unternehmen und zum Ausbau wertebewusster Führung. Aus einer doppelten Bewertung ökonomischen Handelns nach ökonomischen Zielen und moralischen Bedürfnissen bzw. aus der Verfolgung der doppelten Werte können Handlungstendenzen hervorgehen, die mit einander konkurrieren. Vernunft ermöglicht aber, die Handlungstendenzen gegeneinander abzuwägen bzw. aus der Abwägung Alternativen zu finden, die den ökonomischen Zielen dienen und die moralischen Bedürfnisse nicht außer Acht lassen. Wenn ein großer privatwirtschaftlicher Krankenhaus-Konzern auf Personaleinsparungen in einem seiner Krankenhäuser drängt, um eine Unwirtschaftlichkeit zu vermeiden, konkurrieren Effizienz mit moralischen Bedürfnissen des Krankenhauspersonal und der Patienten. Eine Entscheidung kann sich nur in der Einzelsituation aus der Abwägung beider Aspekte ergeben. Ein ausschließlich ökonomisches Einsparungskonzept dient weder den moralischen Bedürfnissen der Mitarbeiter und Patienten noch daraus folgend einem möglichen sich verschlechternden Ruf des Krankenhauses, das abnehmende Patientenzahlen zur Folge haben könnte, was wiederum nicht im wirtschaftlichen Interesse sein kann. Die Ethik aus Emotionen und Vernunft kann beitragen, die Entstehung von Werten und ihre Begründung zu verstehen als Voraussetzung einer Vermittlung von Werten in den Unternehmen. Sie beschreibt Handlungsalternativen und verlangt keine normative Orientierung. Es gibt Klagen von Unternehmern darüber, dass sie zwar für ihre Unternehmen Code of Conducts formuliert hätten, dass aber vor allem in großen Konzernen die Werte und Prinzipien nicht bis zu jedem Mitarbeiter durchdringen und dass sie sich nicht daran hielten. Zur Verbesserung einer Praktizierung der Werte ermöglicht die hier begründete Ethik Mitarbeitern zu erklären, wie Werte entstehen, wie sie sich begründen lassen, wie die Mitarbeiter zu einer Einsicht gewonnen werden können sie zu praktizieren und wie Konflikte zwischen konkurrierenden Werten lösbar werden. Eine Begründung der Werte durch die Ethik aus Emotionen und Vernunft hat gegenüber einer empirischen Wertebefragung den Vorteil, dass die Bedeutung der Werte und ihre Förderung in den Unternehmen nicht mehr als Konkurrenz zu ökonomischen Werten gesehen werden darf und ihre Förderung für den Erfolg eines Unternehmens keiner Beliebigkeit überlassen ist. Jeder der genannten ethischen Werte wie Kundenbindung, Mitarbeiterzufriedenheit, Zusammenarbeit, soziales Engagement und Glaubwürdigkeit lässt sich auf moralische Bedürfnisse der Mitarbeiter und des Führungspersonals zurückführen; sie bewirken ein verändertes ökonomisches Handeln und ermöglichen eine Herausbildung neuer Werte. Wegen ihrer Begründung aus der Ethik aus Emotionen und Vernunft erhalten sie Geltung für alle. Die Ethik aus Emotionen und Vernunft eröffnet die Möglichkeit einer Prognose
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J. Wertewandel
für erfolgreiches unternehmerisches Handeln, weil sie begründet, dass eine Beachtung ethischer Werte in Entscheidungssituationen dem Unternehmen dient.
III. Wertewandel aus neuen Handlungsmöglichkeiten Ein zweiter oben genannter Anlass zu einem Wertewandel sind neue Handlungsmöglichkeiten, die zu neuen moralischen Bedürfnissen führen. Ökonomisches Handeln, das z. B. Umweltbelastungen verursacht, ist einer emotionalen Bewertung nach einem neuen Bedürfnis ausgesetzt. Es ist ein Bedürfnis nach unbelasteter Umwelt. Es ist ein moralisches Bedürfnis, weil Umweltbelastungen auf ein Handeln von Akteuren rückführbar sind. Lärmbelastung durch eine Erweiterung eines Flughafens, Verschmutzung von Gewässern oder Emissionsbelastungen aus industriellen Aktivitäten sind Beispiele neuer Handlungsmöglichkeiten, die neue Bedürfnisse nach möglichst unbelasteter Natur und Umwelt wecken. Aus neuen Handlungsmöglichkeiten können neue ethische Werte hervorgehen. Umweltschäden Neue Werte können aus Veränderungen aus unserem neuen Handlungsmöglichkeiten entstehen. Es können Veränderungen sein, die bereits eingetreten sind oder durch Folgeabschätzungen vermutet werden. Lau verweist auf Fälle, bei denen ein Gefahrenverdacht vorlag, aber unterdrückt wurde wie beim Dioxin, eine interdisziplinäre Weitergabe eines Wissens über unerwünschte Nebenfolgen unterblieb – er nennt die Gefahren des FCKW – oder aus mangelnder gesellschaftlicher Resonanz nicht wahrgenommen wurde wie beim sauren Regen. Hinzu käme das Problem zu entscheiden, welche Schäden als unerwünscht gelten sollen und wann Forschungen abgebrochen werden müssten. Die Wissenschaft selbst könne die Probleme nicht entscheiden, weil es normative Entscheidungen seien, die dem Expertenurteil entzogen wären.144 Normativ würde bedeuten eine Orientierung die über die Wissenschaft hinaus auch in anderen Bereichen gelten würde. Ob das zutrifft, wird bezweifelt, weil daraus die oben geschilderten Probleme eines allgemeinen Geltungsanspruchs solcher Normen folgen würden. Industrielle Produktionsverfahren, die zu Belastungen oder Schäden der Umwelt führen, wecken moralische Bedürfnisse nach unbelasteter Umwelt und einer Wertbildung von Vermeiden von Umweltschäden. An so einem neuen Wert lassen sich die industriellen Aktivitäten messen. Verstöße können Rückwirkungen zu Lasten des Unternehmens hervorbringen.
144
Lau, S. 135.
III. Wertewandel aus neuen Handlungsmöglichkeiten
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Fairness im Sport Durch die Verfügbarkeit neuer Dopingmittel ist in sportlichen Einzelwettkämpfen ebenso wie im Mannschaftssport die Versuchung gegeben sich Leistungsvorteile durch die Einnahme von Dopingmitteln zu verschaffen. Ihre Einnahme verletzt die Fairness; Fairness heißt, ein Akteur verzichtet in seinem Handeln und Verhalten auf subjektive Vorteile als Folge der Akzeptanz einer Regel, hier auf Dopingmittel zu verzichten; die Regel gilt für jeden der Gemeinschaft, weil keiner sein moralisches Bedürfnis der Fairness von einem anderen verletzt sehen möchte, der die Regel missachtet. Eine Verfügbarkeit neu erforschter Dopingmitteln, die zu einer Missachtung der Fairness führen können, fördert eine Herausbildung des ethisches Wertes: Fairness im Sport. Menschenrechte Eine weltumspannende Herausbildung ethischer Werte aus Veränderungen kriegerischen Handelns im 20. Jahrhundert sind die Menschenrechte. Als Menschenrechte werden subjektive Rechte bezeichnet, die jedem Menschen gleichermaßen zustehen. Das Konzept der Menschenrechte geht davon aus, dass alle Menschen allein aufgrund ihres Menschseins mit gleichen Rechten ausgestattet und dass diese egalitär begründeten Rechte universell, unveräußerlich und unteilbar sind.145 Die Ursprünge der Menschenrechte stammen aus der Antike; eine Betonung des Naturrechtes der Freiheit geht auf die Aufklärung zurück. Im 20. Jahrhundert waren es die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges, die die 50 Gründungsstaaten der Vereinten Nationen 1945 veranlasst haben durch Zusammenarbeit die Menschenrechte zu deklarieren und zu fördern. In der Präambel der UN Charta heißt es: „[…] künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern“146. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 1948 eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; in der Abschlusserklärung der zweiten Weltmenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen 1993 bekannten sich die fast vollzählig versammelten 171 Staaten einmütig zu ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen.147 Zu ihrer Durchsetzung und Überwachung wurden inzwischen viele nationale und internationale Institutionen gegründet. Es gab aber auch abweichende Formulierungen wie z. B. die Menschenrechte Islamischer Staaten unter dem Vorbehalt der Scharia. Trotz ihrer Zustimmung gab es in einigen Staaten unterschiedliche Interpretationen, an145 146 147
Koenig, S. 9. UN Charta, Präambel. Gander, S. 8.
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dauernde Menschenrechtsverletzungen und ihre Vorenthaltung bestimmten Personen gegenüber. Unstrittig ist bis heute, dass die Menschenrechte ein moralisches Bedürfnis der Bürger erfüllen, auch dort wo sie nicht in vollem Umfange gewährt werden. Sie dienen dem Bedürfnis nach Würde und dem Schutz jedes Menschen. Ihre Akzeptanz zeigt sich in der Zustimmung der Mitglieder der Vereinten Nationen. Sie haben sich politisch, juristisch und moralisch bewährt. Beispiele dafür sind die verbreitete Anprangerung ihrer Verletzung von unbequemen Regimekritikern oder die öffentliche und verbreitete Ablehnung der Gefangenschaft mutmaßlicher terroristisch Verdächtigter im US-amerikanischen Lager in Guantánamo, die ohne rechtsstaatliche Prozesse festgehalten gehalten werden. Aus den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges sind neue Werte entstanden wie z. B. die Achtung der Körperlichen Unversehrtheit, der Selbstbestimmung, der Meinungsfreiheit und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Jeder der 30 Artikel der Menschenrechte148 drückt eine Regel aus. Sie entspricht gemäß der Ethik aus Emotionen und Vernunft einer Allgemeinen Orientierung. Die Regeln haben durch Zustimmung einen verpflichtenden Charakter, unterliegen aber auch einer emotionalen Bewertung und könnten verändert werden. 149 Ein Beispiel für so einen Wandel ist das Diskriminierungsverbot im Grundgesetz; dort heißt es im Art. 3 Abs.3 Satz 1: Niemand darf wegen […] seiner Rasse, […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Das Deutsche Institut für Menschenrechte empfiehlt den Begriff Rasse zu streichen und stattdessen die Fassung zu verwenden: „Niemand darf rassistisch oder wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Der Grund sei ein textlicher Widerspruch. Der Text suggeriere ein Menschenbild, das auf der Vorstellung unterschiedlicher menschlicher „Rassen“ basiere. Jedoch gehen allein rassistische Theorien von der Annahme unterschiedlicher menschlicher „Rassen“ aus150, wie wir sie heute nicht mehr akzeptieren. Verbindung rationaler und ethischer Werte Es gibt in der Ökonomie Handlungsorientierungen wie z. B. den homo oeconomicus, der neben den rationalen Werten moralische Bedürfnisse weckte. Der Gewinn hat das Gewissen geweckt. Die Ökonomie ist ein Beispiel dafür, dass aus Handlungsorientierungen nicht nur neue Werte hervorgehen sondern auch Verbindungen ethischer mit rationalen Werten. In ökonomischem Handeln z. B. ist es Gewinn und Gewissen, weil es einer doppelten Bewertung ausgesetzt ist: nach ökonomischen Bedürfnissen des Akteurs wie z. B. Gewinn, und einer emotionalen Bewertung betroffener Dritter nach moralischen Bedürfnissen. Die Produktionssteigerung eines 148
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte UN 1948. Rorty (1996, S. 150) verweist in seiner Untersuchung der Menschenrechte darauf, dass ein Wandel unserer sittlichen Institutionen eher auf Gefühle als auf rational begründetes Wissen zurückgeht. 150 Cremer, S. 1. 149
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Unternehmens könnte mit Umweltbelastungen für Dritte verbunden sein und zu den Rückwirkungen eines Imageverlustes und eines Warenboykotts führen. Das Unternehmen kann solche Rückwirkungen in seine Entscheidungsprozesse einbeziehen und nach Alternativen suchen.151 In dem bis heute aktuellen Streit darüber, ob Wirtschaft wertfrei sei oder nicht, argumentiert Kirchgässner für eine Wertfreiheit. Da Ökonomie dem Modell des rationalen Nutzenmaximierers folge, dem Modell des homo oeconomicus, der seine Entscheidungen am Eigennutz orientiert, und da auch Moral auf Eigennutz gründe, könne man Moral für unnötig in der Ökonomie erklären.152 Kirchgässners Argument unterstellt, dass eine Beschreibung einer Moral unabhängig von einem Eigennutzkonzept nicht möglich sei, weil beide – Ökonomie und Moral – nach der Methode einer rationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation diejenige Entscheidung bevorzugten, deren Nutzen größer als die Kosten sind. Nun lässt sich aber zeigen, dass Ökonomie weder nur einer rationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation folgt noch dass sich moralische Aspekte, aus denen Werte hervorgehen, rationalen Erwägungen unterworfen sind. Auch in einer täglichen Erfahrung ist an Beispielen zu sehen, dass eine Bereicherungsmentalität individueller Nutzenmaximierer auf wenig Verständnis und Sympathie bei Dritten stößt, im Gegenteil in der Gesellschaft ein Gefühl der Ungerechtigkeit hervorruft, die nicht akzeptiert wird. Ausführlich wird die Bedeutung der Emotionen in wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen in den folgenden Kapiteln behandelt. Auch in einer täglichen Erfahrung ist an Beispielen zu sehen, dass eine Bereicherungsmentalität individueller Nutzenmaximierer auf wenig Verständnis und Sympathie bei Dritten stößt, im Gegenteil in der Gesellschaft ein Gefühl der Ungerechtigkeit hervorruft, die nicht akzeptiert wird. Ausführlich wird die Bedeutung der Emotionen in wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen später behandelt. Ökonomie ist nicht wertfrei, das ist heute die vorherrschende Auffassung. Kraft z. B. verweist neben Eigennutz auf eine gesellschaftlich Verantwortung, die als eine Kategorie zu ökonomischen Überlegungen hinzugehöre.153 Wenn es Aufgabe der Ökonomie ist Theorien zu entwickeln um die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, dann ist es Aufgabe der Ethik nach den Bedürfnissen zu fragen. Ökonomisches Handeln lässt sich moralisch bewerten. Eine ergänzende Meinung Homanns ist, Ökonomie sei zwar nicht frei von Moral, aber Moral werde nach einer ökonomischen Methode durch Regeln konstituiert; eine Zustimmung zu den Regeln wird aus einem Kosten-Nutzen-Kalkül begründet, also dem homo oeconomicus entsprechend. Es ist eine an formalen Regeln orientierte Moral; über deren Inhalt nichts gesagt wird. Eine Begründung dieser Moral nennt 151 Zu ausführlichen Untersuchungen über Gewinn mit Gewissen im Aktienmarkt und in der ökonomischen Globalisierung s. Kolster (2008), S. 85 – 94. 152 Kirchgässner (2000), S. 191. 153 Kraft, S. 210.
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Homann Ethik mit ökonomischer Methode.154 Begriffe wie Pflicht, Werte, Sollen hätten in der ökonomischen Methode nichts zu suchen.155 Fragwürdig bleibt, ob es ausreicht, Werte moralischer Orientierung aus einer formalen Regel nach dem Kosten-Nutzen-Kalkül zu bestimmen. Sind Regeln des Verhaltens schon deshalb gut, weil alle aus welchen Gründen auch immer zustimmen? Eine Zustimmung könnte z. B. aus Not im Falle unterbezahlter Leiharbeiter oder aus Angst wie in verbrecherischen Gesellschaften erfolgen. Insofern überzeugen dieser Zusammenhang von Moral und Wirtschaft und seine Begründung nicht. Man könnte meinen, in Aussagen, die von konkreten Entscheidungssituationen abstrahieren, stecke keine ethische Wertorientierung. Akzeptiert man bestimmte Voraussetzungen für wirtschaftswissenschaftliche Aussagen – wie z. B. die Institution Marktmonopol – dann mag es Aussagen geben, die wertfrei sind: der Inhaber eines Marktmonopols hat einen Preisvorteil. Betrachtet man dagegen die Voraussetzungen, zeigt sich ihre Wertgebundenheit, ob man sie nämlich akzeptieren und anwenden will oder nicht. Ein Marktmonopol wollen viele nicht akzeptieren wegen einer unterdrückten Konkurrenz anderer Marktteilnehmer; als Folge wurden Kontrollmechanismen geschaffen, die ein Marktmonopol möglichst verhindern. Ein anderes Beispiel für eine wertfreie deskriptive Aussagen ist: das Grenzprodukt lässt sich aus den Produktionsfaktoren ermitteln. Hier ist von einer Entscheidungssituation abstrahiert. Wird aber diese Aussage in einer Handlungssituation unter Bedingungen von Dumpinglöhnen oder Kinderarbeit angewendet, werden sofort auch moralische Aspekte sichtbar, deren Akzeptanz fragwürdig ist. In dem Begriff der Ökonomie als Wissenschaft steckt immer auch das ökonomische Handeln, Entscheidungen zu treffen und Grundsätze des Handelns zu wählen, spätestens dann, wenn es darum geht, wertfreie Aussagen anzuwenden. Und ohne dieses Handeln ist Ökonomie als Wissenschaft undenkbar. Ökonomisches Handeln ist einer doppelten Bewertung ausgesetzt, einer ökonomischen und einer moralischen. Aus den Bewertungen lassen sich ökonomische und ethische Werte ableiten. In der Ökonomie beziehen sich Werte auf ökonomische Güter wie z. B. auf Währung oder Aktien. Kriterien ihrer Bemessung sind hier Gewinn und Wertschöpfung, die sich an Vergleichsgütern wie z. B. für eine Währung an Gold oder für eine Aktie an der Bilanz des betreffenden Unternehmens messen lassen. Von diesen unterschieden sind ethische Werte der Ethik aus Emotionen und Vernunft: sie sind bewährte Urteile über ökonomisches Handeln nach dem Maßstab der Ethik. Auf die Bedürfnisse eines Akteurs, das sind sowohl hier ökonomische wie moralische, können sich die Bewertungen Dritter auswirken und zwar durch z. B. Kaufboykott oder Persönlichkeitskritik. Und wenn der Akteur sich nur an seinen ökonomischen Zielen orientiert und sich einem Bedürfnis nach Mitarbeiterzufriedenheit uninteressiert zeigt, muss er mit Rückwirkungen durch einen nachlassenden Unternehmenserfolg ebenso wie mit mangelnder Arbeitsfreude und Arbeitsleistung 154 155
Homann (2001), S. 209. Homann (1997), S. 29.
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wegen persönlicher Missachtung rechnen. Zu beobachten ist, dass trotz einer Einsicht ethische Orientierungen nicht beachtet werden. Es sind Fälle von Korruption, um Aufträge zu ergattern ebenso wie betriebsinterne korrupte Absprachen zwischen Konzernleitung und Betriebsräten, um sie für fragwürdige Personalentscheidungen gefügig zu machen. Es sind aber auch Konflikte, in denen sich Manager zwischen Renditedruck und sozialem Gewissen zu Entscheidungen gedrängt sehen und die moralischen Aspekte dabei oft um der Konfliktlösung willen opfern.156 Trotz dieser Eindrücke bleibt festzuhalten: ökonomische und ethische Werte lassen sich in Handlungstendenzen oft nicht voneinander trennen. Man kann z. B. eine Opiumproduktion in Afghanistan unter dem ökonomischen Marktwert für die Bauern und Händler betrachten; die Opiumproduktion lässt sich aber nicht trennen von dem ethischen Wert einer körperlichen Gesundheit; eine emotionale Bewertung des Opiumanbaus zeigt, dass er moralischen Bedürfnissen eines langfristigen Wohlbefindens widerspricht wegen seiner verheerenden Wirkungen auf seine Verbraucher. Wer trotz ihrer Verknüpfung einseitig nur ökonomischen Werten folgt und die ethischen außer Acht lässt, dient weder den moralischen Bedürfnissen Dritter noch den eigenen. Insgesamt hat sich nicht nur gezeigt, dass ethische Werturteile untrennbar zur Ökonomie als Wissenschaft und zum ökonomischen Handeln gehören, sondern auch, dass ökonomische und ethische Werte in der Ökonomie untrennbar verbunden sind durch eine doppelte Bedürfniserfüllung. Die Ethik aus Emotionen und Vernunft ermöglicht die doppelten Bedürfnisse zu beschreiben, wie sie in ökonomischem Handeln auftreten, und ebenso die zweierlei Werte, die aus den doppelten Bedürfnissen hervorgehen können. Sie ermöglicht, Mitarbeitern eines Unternehmens zu erklären, dass eine Missachtung moralischer Bedürfnisse der Kunden ebenso wie die der Mitarbeiter zu ökonomischen und eigenen moralischen Nachteilen führen. Institution: Aktienfonds Die Herausbildung und Praktizierung eines ethischen Wertes durch eine Institution lässt sich am Beispiel eines Aktienfonds zeigen. Unternehmen, die wünschen, dass ihre Aktien in den Fonds aufgenommen werden, müssen eine Reihe von Kriterien erfüllen, die die moralischen Bedürfnisse nach ökologischer und sozio-kultureller Nachhaltigkeit erfüllen. Es sind Kriterien moralischer Bedürfnisse, ökologischer Verträglichkeit der Produktionsverfahren, Respekt und Rücksicht auf lokale Sitten und Gebräuche; Ablehnung von Umsätzen in Rüstungs- und Waffenindustrie, in der Produktion von Alkohol, Tabak- und Pelzwaren oder in Pornographie ebenso wie Aktivitäten, die von Kernkraftwerken, Glücksspiel, Abtreibung und Tierversuchen profitieren. Von einer Zusammenarbeit ausgeschlossen sind Unternehmen, denen Praktiken wie Bestechung, Menschenrechtsverletzungen, Zwangs- und Kinderarbeit, Diskriminierung aufgrund von Rasse, Alter oder Geschlecht sowie der Ausschluss von Gewerkschaften nachgewiesen wurde.157 Handlungsoptionen des 156 157
Praetorius, S. 8. Aktienchek, S. 1.
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Fonds zur Erfüllung der moralischen Bedürfnisse haben sich bewährt, abzulesen an dem erheblich gesteigerten Fondsvermögen, des gestiegenen Aktienindexes und einer erzielten wachsenden Dividende. In ökonomischen Entscheidungen beginnt sich ein neuer Wert durchzusetzen; es ist der ethische Wert „Gewinn mit Gewissen“. Dass er in mittelständischen Unternehmen an Verbreitung gewinnt, erkennt man an deren zunehmender Vermeidung einer Verletzung moralischer Bedürfnisse ihrer Kunden und Mitarbeiter, die sich auf ein nachteiliges Image und Geschäftsverluste auswirken können.
IV. Warum verändern sich moralische Bedürfnisse? Wenn ein Wertewandel aus Veränderungen moralischer Bedürfnisse erklärbar wird, bleibt zu fragen warum sich moralische Bedürfnisse verändern. Es gibt moralische Bedürfnisse, die sich ändern und solche, die sich nicht ändern. Zu denen, die sich nicht ändern, gehört z. B. das moralische Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit der Menschen. Unvorstellbar ist es, dass die Gefährdung seiner existentiellen Sicherheit einen Menschen nicht berührt, es sei denn, dass er sie anderen Werten unterordnet, wie es Widerstandskämpfer angesichts ihrer möglichen Hinrichtung getan haben. In anderes Beispiel eines unveränderlichen moralischen Bedürfnisses ist das der Freiheit, vor allem eine Freiheit von dominierenden Machteinflüssen wie Sklaverei im Altertum, Freiheit von dem Lehnswesen der Bauern im Mittelalter oder Freiheit von politischer Unterdrückung in der Neuzeit. Das Bedürfnis nach Freiheit hat sich als unabhängig erwiesen von historischen Lagen und von Kulturen. Die Unveränderlichkeit dieses Bedürfnisses und der daraus hervorgehende ethische Wert ist nicht zu verwechseln mit Max Schelers Vorstellung, Werte seien letzte selbständige Phänomene. Denn der Wert der Freiheit wird hier verstanden als moralisches Bedürfnis unter den Einflüssen gegenseitigen Handelns der Menschen. Beispiele für veränderte moralische Bedürfnisse sind die obenerwähnte Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und das nicht mehr vorherrschende moralische Bedürfnis ehrenhaften Handelns; ein früheres Bedürfnis nach Gehorsam in der Kinderziehung hat sich gewandelt zu einem Bedürfnis nach individueller Entfaltung der Kinder. Noch ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschender Anspruch auf Gehorsam und Unterordnung der Menschen gegenüber ihrem Vaterland ist heute verändert; an die Stelle sind eine Förderung der Selbständigkeit, einer Eigenverantwortung und eines Handelns aus Einsicht der Menschen getreten. Aber wodurch entsteht ein Wandel ethischer Werte? Moralische Bedürfnisse, die sich ändern und zu einem Wandel der Werte führen, sind eingebettet in historische Lagen und deren Entwicklungen. Die Vorstellungen und Veränderungen über den Umgang der Menschen miteinander sind geprägt von
IV. Warum verändern sich moralische Bedürfnisse?
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historisch sich ändernden Einflüssen wie die aus dem Menschenbild, aus den Vorstellungen über die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft ebenso wie Einflüsse aus fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und Veränderungen unseres Weltbildes. In Zeiten der Aufklärung z. B. erwachten Bewertungen nach moralischen Bedürfnissen der Gleichheit der Menschen, aber auch nach einer Befreiung aus unserer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“158. Die historischen Erlebnisse des Ersten und Zweiten Weltkrieges führten zu neuen moralischen Bedürfnissen nach Frieden, nach Sicherheit und gegenseitiger Hilfeleistung unter den Völkern. Sie fanden Ausdruck in der Gründung des Völkerbundes und mit einer Betonung der Vermeidung kriegerischer Aktivitäten unter den Völkern später in der Gründung der Vereinten Nationen, verbunden mit den Auswirkungen auf eine Anerkennung individueller Grund- und Menschenrechte.159 Politische Ordnungssysteme, die ihre Machtansprüche auf religiöse oder ideologische Überzeugungen gründen, verlieren zunehmend ihre Akzeptanz. Der Konflikt zwischen religiöser Dominanz einer politischen Ordnung und einer säkularen Gestaltung dauert in manchen muslimischen Staaten bis heute an. Die Bürger verlangen Selbstbestimmung und Anerkennung der Menschenrechte. Unter den Einflüssen historischer, kultureller und religiöser Veränderungen sind veränderte Bewertungen der politischen Kultur entstanden; eine Bewertung unterdrückter moralischer Bedürfnisse haben politische Veränderungen bewirkt wie einige Revolutionen zeigen. Der Bürger will sein Leben selbst gestalten und in der politischen Gestaltung seiner Gemeinschaft mitbestimmen. Aus einem veränderten Menschenbild, das durch Selbstbestimmung, Toleranz und Freiheit charakterisiert ist, ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Wertewandel hervorgegangen, der in einer Gleichberechtigung von Mann und Frau, in Unterlassung von Rassendiskriminierung und in einer Achtung behinderter Menschen seinen Ausdruck findet. Bis dahin gab es keine Gleichberechtigung, farbige Rassen und Einwohner wurden unterdrückt und Behinderte wurden oft weggesperrt. Ein Wandel der Werte wird erklärbar aus veränderten historischen Einflüssen auf die moralischen Bedürfnisse der Menschen. Neue Handlungsmöglichkeiten führen zu neuen moralischen Bedürfnissen. Neue Handlungsmöglichkeiten entstehen aus Machbarkeiten z. B. in der Wissenschaft, der Medizin, der Ökonomie, aber auch in der Landwirtschaft. Meist sind es Fortschritte in der Forschung aber auch in der Rationalisierung von Produktionsverfahren, deren praktische Anwendung emotionalen Bewertungen ausgesetzt ist und veränderte moralische Bedürfnisse hervorbringt. Beispiele für gegenwärtig neu entstehende Werte sind „Orientierung an Nachhaltigkeit“ und „Zurückhaltung in wissenschaftlichen Machbarkeiten“. Zunächst zur Nachhaltigkeit: unsere Umwelt hat sich verändert durch unsere Nutzung endlicher 158 159
Kant AA VIII, S. 35. Charta der Vereinten Nationen, Kap. 1.
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Ressourcen und durch verursachte Auswirkungen auf einen Klimawandel. Aus der Bewertung der Ressourcennutzung ist seit 1980 eine Orientierung entstanden, die Nachhaltigkeit genannt wird und sich so beschreiben lässt: zukunftsfähige Entwicklung heißt Bedürfnisse gegenwärtiger Generationen zu befriedigen ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden.160 Nachhaltigkeit ist auf Gerechtigkeit innerhalb der jetzt lebenden Generationen und gegenüber den künftigen Generationen ausgerichtet. Nachhaltigkeit gilt als Orientierung auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene und ist durch Programme und Institutionen ausgefüllt. Die EU, Deutschland und das Land Hessen legten Nachhaltigkeitsstrategien vor. Ein Rat für Nachhaltige Entwicklung berät die Bundesregierung, der Bundestag hat einen Nachhaltigkeitsbeirat. Kirchen, Umwelt- und Wirtschaftsverbände sowie viele Unternehmen verfolgen eigene Anstrengungen, die sich in Gremien, Studien und Nachhaltigkeitsberichten niederschlagen. Orientierung an einer Nachhaltigkeit161 ist als ein neuer ethischer Wert entstanden; es ist eine Orientierung aus einer Bewertung veränderten Handelns, die sich zur Erfüllung moralischer Bedürfnisse – hier die nachfolgenden Generationen nicht zu gefährden – bewährt hat. Ein anderes Beispiel für neu entstehende Werte ist eine „Zurückhaltung in wissenschaftlichen Machbarkeiten“. Sie betrifft eine Bewertung vor allem neuester Ergebnisse der Naturwissenschaften wie die aus biochemischen Verfahren zur Steigerung der Ernährungsgüter, der humanen embryonalen Stammzellforschung und der Fortpflanzungsmedizin. Machbarkeiten auf diesen Gebieten finden häufig keine Akzeptanz mehr, weil in der Fortpflanzungsmedizin die Gefahr einer Aussonderung nicht akzeptierter Nachkommen besteht, in der Embryonenforschung der Embryo getötet wird, ein Klonen menschlicher Zellen die Identität des Menschen verletzt und die Präimplantationsdiagnostik als selbsternannte Herrschaft über Lebensberechtigung beurteilt wird. Es sind neu erwachsende Bedürfnisse nach einer Machbarkeitsbesonnenheit, die aus aktuellen Veränderungen der Handlungsmöglichkeiten der Wissenschaft und Forschung entstehen. Veränderungen moralischer Bedürfnisse vollziehen sich meist nicht abrupt. Sie bedürfen eines längeren Prozesses der Auseinandersetzung, der Einsicht, der Akzeptanz und der Bewährung. Erkennen lässt sich ein allmählicher Vollzug eines moralischen Bedürfnisses an dem Prozess der Durchsetzung der Menschenrechte. Die Menschen drängen in Staaten, in denen sie nur teilweise beachtet werden, unaufhaltsam auf ihre Durchsetzung gegenüber der politischen Führung wie z. B. in Russland, China und einer Reihe arabischer Staaten. Es sind keine Beispiele erkennbar, in denen der Prozess einer Durchsetzung der Menschenrechte im Sande verläuft oder sich in eine entgegengesetzte Richtung wendet. Gegen die moralischen Bedürfnisse lässt sich auf Dauer nicht regieren. Keine Diktatur hat langfristig überlebt.
160 161
Brundtlandbericht 1987. Schrader, 2011.
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Veränderungen der historischen Situation können Veränderungen moralischer Bedürfnisse erklären; und die aus veränderten historischen Einflüsse entstehenden Handlungsmöglichkeiten eine Neuentstehung ethischer Werte sichtbar machen. Das ethische Konzept und seine Werte bedürfen noch einer Betrachtung ergänzender Aspekte, die jetzt behandelt werden.
K. Ergänzende Aspekte zu einer Ethik aus Emotionen und Vernunft I. Willensfreiheit Es gibt Aspekte der Ethik, von denen zu prüfen ist, ob sie in der Lebenswirklichkeit erfüllt sind. Eine grundlegende Bedingung der Ethik ist die Willensfreiheit des Menschen. In unserem Zusammenhang geht es nicht um eine Untersuchung des Freiheitsbegriffs, sondern um die Frage: „Sind wir vollständig durch die deterministische Natur physikalischer Gesetze bestimmt?“162 Oder ist unser Wille frei, d. h. kann ein Mensch seinen Willen nach seinen persönlichen Motiven und Neigungen bilden, kann er tun was er will und auch anders handeln, wenn er es gewollt hätte? Die Frage in unserem Zusammenhang ist, ob neuronale Prozesse eine Freiheit des Willens erlauben oder nicht. Willensfreiheit bedeutet sich unter gegebenen Bedingungen für oder gegen etwas entscheiden zu können. Vorausgesetzt wurde in der Ethik aus Emotionen und Vernunft, dass ein Mensch eine Handlungsorientierung zur Erfüllung moralischer Bedürfnisse abwägen kann, ihr zu folgen oder ihr nicht zu folgen. Seine Abwägung und Entscheidung bedarf der Willensfreiheit. Deshalb ist zu klären ob es zutrifft, dass unser Wille durch Naturgesetze determiniert und unser Erleben der Willensfreiheit eine Illusion ist, wie es manche Neuwissenschaftler zu beweisen versuchen, oder ob wir über eine Willensfreiheit verfügen. Determiniert meint, dass der Entscheidungsprozess durch Vorbedingungen festgelegt ist. Aus den bisherigen Erörterungen könnte der Eindruck entstehen, dass ein Handeln aus emotionaler Bewertung durch neuronale Prozesse gesteuert ist und eine Willensfreiheit keine Rolle spielt. Wenn man von Ethik und ethischen Werten sprechen möchte, muss eine Willensfreiheit möglich sein, nämlich aus Handlungsalternativen eine Handlung und ein Ziel zu wählen und den Vollzug der Handlung zu bestimmen. Ethik verlangt eine Freiheit der Ersten Person, die sich als selbstursächlich für ihre Handlungen versteht und die nicht nur reagiert sondern in ihrer Entscheidung einer Einsicht aus Gründen folgen kann. Emotionen, die mit einer Wahrnehmung verbunden sind, können wir nicht wählen; sie sind Ergebnis neuronaler Prozesse wie oben gezeigt wurde. Wenn Emotionen aber eine Handlungstendenz wecken, ist es
162
Libet (2004), S. 268.
I. Willensfreiheit
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uns dann möglich abzuwägen, zu wählen und zu entscheiden, dieser Handlungstendenz zu folgen oder einer anderen? Neurowissenschaftler, die eine Willensfreiheit bestreiten und meinen „Die subjektive Freiheit des Wünschens, Planens und Wollens ist eine Illusion“163 berufen sich vor allem auf ein Experiment von Benjamin Libet. Er hat – etwas verkürzt gesagt- die zeitliche Beziehung zwischen neuronalen Ereignissen und bewusster Erfahrung untersucht. Sein Ergebnis ist, dass ein messbares Maximum eines neuronalen Bereitschaftspotentials zeitlich auftritt bevor der Proband eine Entscheidung zu einer Handlung trifft und sich dessen bewusst wird. Neurowissenschaftler haben daraus gefolgert, dass die neuronalen Prozesse die Entscheidung determinieren und das Bewusstsein des Zeitpunktes der Entscheidung des Probanden hinterherhinkt.164. Gegen die Verallgemeinerung der Schlussfolgerung aus diesem Experiment, unser Wille sei determiniert, hat es viele Einwände gegeben, von denen zwei genannt werden: eine Willensfreiheit verlangt nicht nur die Wahl eines Zeitpunktes einer Handlung sondern die Möglichkeit einer Wahl der Entscheidung aus Gründen. Denn erst Gründe erlauben alternative Möglichkeiten abzuwägen und sich für eine der Alternativen zu entscheiden. Eine Willensentscheidung aus Gründen ist in dem Experiment nicht untersucht worden, sondern nur die in engen Grenzen verabredete Wahl eines Zeitpunktes des Handelns. Die freie Willensentscheidung des Probanden war vorausgegangen, nämlich an dem Experiment teilzunehmen und sich den Regeln zu unterwerfen. Ein zweiter Einwand ist: Wenn neuronale Prozesse die Willensentscheidung determinierten, müssten sie eine hinreichende Bedingung für eine Willensentscheidung bilden. Das ist aber nicht Fall. Denn es kann neuronale Prozesse geben ohne dass eine Willensentscheidung stattfindet wie z. B. dann wenn der Mensch schläft. Was sich aber nicht bestreiten lässt ist, dass neuronale Prozesse für eine Willensentscheidung unverzichtbar sind. Sie bilden eine notwendige Bedingung, denn wenn es keine messbaren Hirnströme gäbe, und man behaupten würde, der Mensch könne trotzdem eine Willensentscheidung treffen, ist die Behauptung falsch, denn der Mensch wäre Hirntod. Daraus ergibt sich, dass neuronale Prozesse mit einer Willensfreiheit verträglich sind, weil sie deren notwendige Bedingung bilden. Deshalb müssen Libets Experimentergebnisse nicht falsch sein. Ein zeitlich vorauseilendes Bereitschaftspotential wird unter bestimmten Versuchsbedingungen nicht bestritten werden müssen, wenn nämlich die freie Willensentscheidung mit der Unterwerfung unter bestimmte Experimentbedingungen vorausgegangen ist.165 Auf der Grundlage der vorausgegangenen Entscheidung war während des Experimentes nur noch der Zeitpunkt der Handlung zu wählen. Wenn sich der Proband nur auf die Wahl dieses Zeitpunktes innerhalb einer Zeitspanne von Sekunden konzentriert, lässt 163 164 165
Roth (2001), S. 453. Libet (2007), S. 159 ff. Vgl. Geyer 2004 und Kolster (2011), S. 108 ff.
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K. Ergänzende Aspekte
sich einsehen, dass in dieser angespannten Situation ein Bereitschaftspotential vorausgehen kann. Das Bewusstsein der Entscheidung könnte dem Bereitschaftspotential hinterherhinken. Das ist aber nur in diesem Sonderfall vorstellbar und widerlegt nicht eine Willensfreiheit. Es überzeugt nicht, dass manche Wissenschaftler meinen, neuronale Prozesse determinierten eine Willensentscheidung. Bisher wurde nicht widerlegt, dass eine Willensentscheidung verschränkt entsteht mit individuellen neuronalen Prozessen. Eine Determination entfällt, weil es subjektive neuronale Prozesse sind, die sich nicht verallgemeinern lassen. Insgesamt haben die Argumente und Experimente nicht zeigen können, dass unser Handeln durch neuronale Prozesse determiniert und eine Willensfreiheit eine Illusion ist. Im Gegenteil eine Willensfreiheit bleibt mit neuronalen Prozessen verträglich. Willensfreiheit ist als notwendige Bedingung einer Herausbildung und Praktizierung ethischer Werte unverzichtbar und behält trotz der Einwände aus neuronale Perspektive ihre Bedeutung. Für eine Herausbildung von ethischen Werten und deren Wandel reicht eine Willensfreiheit nicht aus sondern es bedarf auch einer Handlungsfreiheit. Da eines der Kriterien ethischer Wertbildung die Bewährung einer Handlungsorientierung ist, ist eine Handlungsfreiheit erforderlich. Bewährung bedarf eines Handlungsvollzuges und dessen Bewertung. Sich frei entscheiden zu können bedeutet noch nicht, auch frei handeln zu können. Es gibt oft äußere Zwänge, die daran hindern einer gewählten Handlungsoption zu folgen. Im politischen Bereich wird in manchen Ländern bei Wahlen deutlich, dass die Menschen nicht ihrer Willensfreiheit entsprechend wählen können. Sie möchten einem Kandidaten ihrer Wahl auch tatsächlich ihre Stimme geben können und nicht durch Restriktionen des politischen Systems daran gehindert werden. Erst ein Vollzug der Wahl ermöglicht zu beurteilen ob sie sich bewährt. Handlungsfreiheit wird für viele Menschen, die daran gehindert werden, zu einem moralischen Bedürfnis, dessen Erfüllung durchzusetzen eine wachsende Mehrheit versucht; so jüngst zu beobachten in Russland und einigen arabischen Ländern, in denen es entsprechende Aktivitäten zugunsten einer Wahl- und Handlungsfreiheit gibt. Die Ethik aus Emotionen und Vernunft erklärt, dass eine Werteorientierung aus Willensfreiheit nicht durch eine Einschränkung der Handlungsfreiheit ihre Bedeutung verliert, sondern Anlass zu verstärkten Aktivitäten sein kann, einen ethischen Wert zu bilden und durchzusetzen.
II. Überlieferte Kultur und Selbstbestimmung Werte und ihr Wandel werden hier aus Anerkennung des Individuums und seiner moralischen Bedürfnisse erklärt. Kann dieses Konzept für einen Wandel solcher
II. Überlieferte Kultur und Selbstbestimmung
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Werte gelten, die in alten prägenden Kulturen verankert den individuellen Bedürfnisse keine Bedeutung beimessen; in denen Menschen Strafe und Rache ausgesetzt sind, die aus individuellem moralischen Bedürfnis nach Selbstbestimmung einen Wandel betreiben. Es sind Gesellschaften, in denen eine Identität des Individuums durch die Identität der Gesellschaft und Familie bestimmt ist wie z. B. in indigenen Ethnien Brasiliens in ihrem Kampf um ihre Identität unter den Einflüssen einer modernen Umwelt.166 Ähnliche Auseinandersetzungen zwischen einer patriarchalischen Kultur und individueller Selbstbestimmung sind in ländlichen Räumen des mittleren Ostens zu beobachten. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung ist das Verständnis des ethischen Wertes einer Ehre in Kurdistan. Es ist eine Ehre der Familie, eine Ehre des Einzelnen existiert nicht unabhängig von der Ehre der Familie. Verstöße wie Ehebruch, gegen Kleidernorm oder Zwangsheirat werden bestraft, im schlimmsten Fall durch Ehrenmord. Es gibt dort aber Menschen, die gegen die Normen rebellieren und die nicht mehr ihr soziales, politisches und ökonomisches Überleben von der Wahrung der Familienehre abhängig machen wollen. Sie wollen ihr Leben selbst bestimmen. Eine Orientierung nach Menschenrechten ist ihnen wichtiger als Familienehre. Es sind z. B. junge muslimische Frauen, die sich einem Heiratsdiktat ihrer Familien nicht mehr beugen wollen.167 Deutlich wird in dem Aufbegehren gegen eine dominierende patriarchalische Kultur ein moralisches Bedürfnis nach Selbstbestimmung des Individuums; es entspricht einem moralischen Bedürfnis, das einer Wertebildung aus der ethischen Theorie entspricht. Werte als Elemente einer Kultur sind einem Wandel ausgesetzt, wenn traditionelle Wertvorstellungen nicht mehr die moralischen Bedürfnisse der Menschen erfüllen. Zusammenfassung Das hier beschriebene Konzept einer Ethik aus Emotionen und Vernunft, ihre hergeleiteten ethischen Werte und ihr Wandel folgen keinem Normenkonzept, sondern appellieren an Einsicht. Es bedarf keiner Klassifizierungen der Werte, keiner Wertehierarchien, keiner Ranking- und Ratingverfahren, um Veränderungen zu beschreiben. Veränderungen können zeitlich fließend eintreten, sie müssen sich nicht abrupt vollziehen. Es kann vermischte ethische Werte geben wie z. B. Fürsorge und Strenge in der Kindererziehung oder Hilfe und Eigennutz in der Unterstützung hilfsbedürftiger Dritter. Es gibt Werte, die abhängig von unterschiedlichen Kulturen der Völker herausgebildet werden wie z. B. demokratische Mitbestimmung, die in Stammesgesellschaften nicht als moralisches Bedürfnis erlebt werden. Werte sind charakterisiert durch eine Selbstbindung aus Bewährung und durch eine Offenheit für überlieferte allgemeine Orientierungen unter der Bedingung ihrer Akzeptanz. Es werden besondere individuelle Werte als moralische Werte akzeptiert 166 167
Fernandes Ferreira 2002. Cileli 2008.
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K. Ergänzende Aspekte
und ihr Unterschied zur Allgemeingültigkeit ethischer Werte erklärt. Grundlage aller Werte und ihres Wandels sind moralische Bedürfnisse, die niemand, der einen Lebenswillen hat, bestreiten wird. Ein Wertewandel lässt sich aus veränderten moralischen Bedürfnissen und aus neuen Handlungsmöglichkeiten verstehen. Und die Veränderungen lassen sich aus sich ändernden historischen Einflüssen beschreiben. Was manche Menschen als einen Werteverfall betrachten, zeigt sich aus emotionaler Bewertung als eine Offenheit für eine sich langsam durchsetzende Akzeptanz veränderter und neuer Werte.
L. Beispiele einer Praktizierung ethischer Werte I. Probleme In der Ethik aus Emotionen und Vernunft hat ein Akteur die Möglichkeit eine aus der emotionalen Bewertung entstandene Handlungstendenz abzuwägen. Er könnte der Tendenz spontan folgen oder sich von ihr distanzieren und nachdenkend prüfen, welche Alternative seine moralischen Bedürfnisse am ehesten erfüllt. Distanzieren und nachdenken ist in der Praxis nicht so einfach, weil es ein starkes Bedürfnis geben kann unmittelbar zu reagieren; eine abwägende Haltung dagegen verliert die „angeborene Farbe der Entschließung“. Einer Handlungsorientierung aus den Emotionen spontan zu folgen oder Alternativen abzuwägen hängt von einer Betroffenheit ab wie sie in dem oben beschriebenen Ultimatumspiel168 zwischen Akteur und seinem Mitspieler deutlich wird. Ein Akteur kann sein Handlungsziel wählen und mögliche Rückwirkungen seines Mitspielers in seine Handlungsentscheidung einbeziehen. Die Handlungstendenz seines Mitspielers dagegen ist von der Behandlung des Akteurs geprägt, von dessen Fairness oder Ungerechtigkeit. Es könnte bei dem Mitspieler eine unmittelbare spontane Betroffenheit wirksam sein, deren „angeborene Farbe“ auf den Akteur rückwirkt wegen hervorgerufener Unzufriedenheit und Tendenzen zu Ablehnung, Rache oder Strafe wecken; durch seine Distanzierung von der Tendenz und durch Abwägung könnte die Rückwirkung auf den Akteur ihre Kraft verlieren. In der Spannung zwischen nachdenkender Abwägung und spontaner Reaktion bewegen sich die Handlungsalternativen in der Praxis. Moralische Bedürfnisse sind in beiden Fällen der Antrieb zu handeln. Überlegte Besonnenheit oder spontane Reaktion: der Handelnde wird, wie er sich auch entscheidet, seine Erfahrung in der Entscheidungssituation machen und seine „Marker“ bilden können. Dagegen würde eine normative Orientierung wie z. B. sich stets von einer Handlungstendenz zu distanzieren und abzuwägen, die moralischen Bedürfnisse kaum erfüllen können und an Bindungskraft verlieren ihr zu folgen.
168
Siehe Abschn. H. II.
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L. Beispiele einer Praktizierung ethischer Werte
II. Konkurrenz und Konflikte Konkurrenz zwischen ethischen Werten Ein einzelner Wert wird seine Orientierungskraft verlieren können, wenn eine Konkurrenz zu anderen Werten auftritt. Es gibt Menschen, die ihren Tod um eines anderen Wertes willen in Kauf nehmen, wie es bei den Widerstandskämpfern im Dritten Reich geschehen ist. Dieses Beispiel spricht nicht gegen eine Bewertungsorientierung der Selbsterhaltung, sondern für die vorrangige Bewertung eines Lebens in einer besseren Staatsordnung, um dessentwillen der eigene Tod in Kauf genommen wurde. Problematisch wird es bei Selbstmordattentätern, die das Leben anderer Unschuldiger zerstören um bestimmter ideologischer oder politischer Ziele willen, oft verbunden mit einer religiösen Verheißung. Wertvorstellungen dieser Art sind mit denen aus emotionaler Bewertung unvereinbar, weil sie das Leben Unschuldiger als Mittel zum Zweck einsetzen, was Abscheu erzeugt. Auch wenn solche Handlungsüberzeugungen kurzfristig eine Gefolgschaft finden, werden sie sich langfristig nicht durchsetzen, weil sie gegen das Leben verstoßen.169 Eine Praktizierung ethischer Werte kann zu Konflikten führen, zu Konflikten zwischen einem Akteur und einem Dritten oder zwischen ethischen Werten. Ein Unternehmer berichtet: muslimische Mitarbeiter seines Betriebes baten um Pausen während der Arbeitszeit zum Beten. Er zeigte sich tolerant und gewährte ihnen die Zeiten zum Beten. Nach einiger Zeit beschwerten sich andere Mitarbeiter, weil sie es als ungerecht empfanden dass ihre muslimischen Kollegen zusätzliche Pausen erhielten während sie arbeiten mussten. Sie rechneten sogar den Gesamtausfall der Arbeitszeiten vor. Der Unternehmer musste den Konflikt zwischen Toleranz und Gerechtigkeit gegenüber der Belegschaft lösen. Die Ansprüche beider Gruppen entstanden aus moralischen Bedürfnissen, nämlich der Möglichkeiten ihren Glauben zu praktizieren und gerecht behandelt zu werden. Eine Lösung nach der ethischen Theorie ergibt sich aus einer Abwägung möglicher Entscheidungsoptionen wie z. B. Gewährung der Gebetszeiten und Nachholen der ausgefallenen Arbeitsstunden. Ein anderes Konfliktbeispiel zwischen Akteur und einem Dritten stammt aus einer Bank: ein Mitarbeiter wird von seinem Vorgesetzten unter Druck gesetzt, Finanzprodukte an Kunden zu verkaufen; es sind Finanzprodukte, die er nicht durchschaut und denen er nicht traut. Es ist der Konflikt zwischen Aufrichtigkeit gegenüber dem Kunden und Loyalität gegenüber seinem Unternehmen. Die Lösung verlangt Offenheit und Zivilcourage gegenüber seinem Unternehmen. Sie ist nicht so leicht zu praktizieren wenn der Mitarbeiter berufliche Folgen befürchten muss.
169 Unter den palästinensischen Gruppierungen, die bisher die Selbstmordattentäter unterstützten, gibt es Stimmen, die davon abraten, weil sie ihrer Sache eher schadeten als nützten.
II. Konkurrenz und Konflikte
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In den Beispielen entsteht die ethische Orientierung nicht aus definierten Kriterien eines Wertbegriffs sondern aus einem Prozess der Abwägung nach moralischen Bedürfnissen, aus dem ein Wert hervorgehen kann. Zivilcourage Es gibt Entscheidungssituationen, in denen eine ethische Orientierung zu praktizieren trotz einer Einsicht nicht so einfach ist. Das gilt für Zivilcourage. Sie hängt zusammen mit Mut zu handeln unter Inkaufnahme möglicher nachteiliger oder gefährlicher Rückwirkungen. Es sind unterschiedliche moralische Bedürfnisse, die aufeinander treffen wie z. B. Mut und Angst. Eine extreme Entscheidungssituation war folgende: Vier 13- bis 15-jährige Schüler wurden von zwei 17- und 18-Jährigen auf einem SBahnhof bedroht. Sie verlangten Geld, ansonsten würden sie Gewalt anwenden. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, schlug einer der Jugendlichen einem der Schüler ins Gesicht und trat einem anderen gegen den Oberschenkel. Ein Passant, der den Vorfall miterlebte, schritt ein und alarmierte die Polizei. Im Zuge der darauf folgenden Auseinandersetzung wurde der helfende Passant zu Fall gebracht und die Täter schlugen und traten anschließend weiter auf den am Boden liegenden Passanten ein. Innerhalb kurzer Zeit fügten sie ihm – so laut späterer Anklage – 22 Schläge und Tritte zu. Beide Täter wurden noch am Bahnhof von der Polizei gestellt. Der Passant starb wenig später in einem Krankenhaus. Der helfende Passant hatte eine persönliche Gefahr in Kauf genommen und Mut gezeigt um den Schülern beizustehen. Es gibt keine spätere Erklärung von ihm zu seinem Verhalten, aber sein Eingreifen zeigt, aus Empathie zu handeln war stärker als Angst vor Gefahr. Sein Verhalten hat bei vielen Menschen Bewunderung hervorgerufen und zu Aufrufen geführt unter dem Motto „Mit Herz und Verstand handeln. Notfall? Du hilfst – ich auch!“170 Der Vorfall zeigt, dass eine ethische Orientierung auch dann zu einem Wert für Unbeteiligte werden kann, die davon hören, weil sie den Helfer als Vorbild für sich und eine Allgemeinheit sehen. Humane embryonale Stammzellforschung Es gibt Werte, die sich nicht wandeln, auch nicht unter dem Druck neuer Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehören Lebensschutz und medizinische Hilfe. Welche Orientierungen eine Ethik aus Emotionen und Vernunft bietet, wenn beide Werte in Konflikt miteinander geraten, wird im Folgenden untersucht. Der Konflikt tritt sowohl in der Präimplantationsdiagnostik als auch in der humanen embryonalen Stammzellforschung auf. In der Präimplantationsdiagnostik ist es eine Hilfeleistung an die Eltern, die sich ein gesundes Baby wünschen, und in der embryonalen Stammzellforschung ist es eine Hilfeleistung an die schwerkranken Patienten; in beiden Fällen gerät die medizinische Hilfe in einen Konflikt mit dem Lebensschutz 170
http://de.wikipedia.org/wiki/Dominik_Brunner.
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L. Beispiele einer Praktizierung ethischer Werte
des Embryos. Der Konflikt wird am Beispiel der embryonalen Stammzellforschung ausführlich behandelt, weil er weder zwischen Stammzellforschern und Philosophen noch unter Politikern gelöst ist. Die embryonale Stammzellforschung ist ein Teilgebiet aus dem großen Bereich der modernen Medizin, die Forschungsaktivitäten eröffnet, von denen wir nicht wissen, ob wir ihnen folgen wollen. Zu dem Bereich gehören Forschung und Anwendung einer Präimplantationsdiagnostik (PID), die pränatale genetische Diagnostik (PND), In-vitro-Fertilisation (IVF), Eingriffe in die Keimbahn und Abtreibung. Die humane embryonale Stammzellforschung verlangte nach einer Entscheidung über ihre Zulässigkeit, weil Ärzte und Patienten hoffnungsvolle Hilfsmöglichkeiten sahen und Kritiker sie ablehnten. Bis heute ist die Debatte über den Konflikt keine hypothetische, weil die Stammzellforschung trotz einer politischen Zustimmungsentscheidung die moralischen Bedürfnisse vieler Menschen verletzt. Zur politischen Lösung des Konflikts wurde eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages eingesetzt, die einen umfangreichen Bericht vorgelegt hat. Es ist ein ethischer Konflikt. Die für den Lebensschutz eintreten, wollen die Stammzellforschung unterbinden, weil ein Embryo getötet wird; diejenigen, die sich an einer möglichen Heilung Kranker orientieren, wollen die Stammzellforschung fördern. Die Frage ist ob wir um der Heilung Kranker willen eine humane embryonale Stammzellforschung akzeptieren wollen, bei der das Leben eines humanen Embryos geopfert wird? Lässt sich der Konflikt mit Hilfe einer Orientierung an ethischen Werten, wie sie aus Emotionen und Vernunft hergeleitet wurden, lösen? Befürworter der Stammzellforschung reklamieren eine Erfüllung ihrer moralischen Bedürfnisse Kranken zu helfen. Es ist ein ethischer Wert, der sich in der Stammzellforschung bisher nicht bewährt hat, weil es kaum Heilerfolge gibt; und allgemeine Geltung kann er nicht beanspruchen weil es die große Gruppe ihrer Gegner gibt. Strittig bleibt dabei, was unter Krankheit verstanden wird. Fürst berichtet nach einer USA Reise: Im Vordergrund des Forscherdranges stünden Heilungsmöglichkeiten; in den Diskussionen würde ein überhöhter Gesundheitsbegriff deutlich, der darin bestehe, dass jede Beeinträchtigung des Wohlbefindens als Behinderung von Glück, als Einschränkung sinnvollen Lebens und deshalb negativ bewertet würde; ein entgrenztes Gesundheitsverständnis bestärke eine Anspruchshaltung, nach der Gesundheit ein einklagbares Recht sei.171 Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem Verständnis von Krankheit, Gesundheit und Tod fordert Badura-Lotter auf, weil sie vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus den Biowissenschaften und medizinischer Entwicklungen eine Verdrängung im Umgang mit Krankheit und Tod befürchtet.172 Die Gegner einer Stammzellforschung beanspruchen die Erfüllung eines moralischen Bedürfnisses des Lebensschutzes des Embryos, der durch die Entnahme einer 171 172
Fürst, S. 5 f. Badura-Lotter, S. 111.
II. Konkurrenz und Konflikte
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Stammzelle getötet wird. Der Wert eines Lebensschutzes hat sich zwar bewährt, aber vielen Kranken ist damit nicht geholfen. Kann eine ethische Wertbildung aus Emotionen und Vernunft den Konflikt lösen? Forschungssituation Ziel der Stammzellforschung ist Gewebeersatz zu Behandlung verschiedener Krankheiten zu züchten und zwar durch Anwendung von Stammzellen. Allgemein unterschieden werden embryonale von adulten Stammzellen. Die embryonalen Stammzellen (ES) werden mit Hilfe der Technik einer Befruchtung der Eizelle mit männlichen Spermien im Reagenzglas (In-vitro-Fertilisation IVF) oder durch Zellkerntransfer gewonnen. Der befruchteten Eizelle – dem Embryo – werden nach 5 bis 6 Tagen der Reife Zellen aus der Zellmasse entnommen und in speziellen Nährlösungen kultiviert. Der Embryo wird dabei zerstört. Embryonale Stammzellen können sich in jegliches Gewebe entwickeln. Adulte Stammzellen werden ausgewachsenen Organen wie z. B. Knochenmark, Blut oder Nabelschnurblut entnommen. Sie haben die Fähigkeit zur Selbsterneuerung und zur Differenzierung in unterschiedliches Gewebe wie z. B. in Blut, Muskel, Leber und Haut. Bisher sind ihre Entwicklungsmöglichkeiten den embryonalen Stammzellen unterlegen, deren Forschung bevorzugt wird. Der Forschungsstand lässt sich so zusammenfassen: es gibt Fortschritte in der Gewebezüchtung aber bisher keine nennenswerten Heilbehandlungen bei Menschen.173 Befürworter und Gegner Der ethische Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern lässt sich auf die Frage reduzieren: ist der Embryo ein Mensch und wird bei der Entnahme einer ESZelle, durch die der Embryo getötet wird, ein Mensch getötet? Befürworter der Stammzellforschung argumentieren, der Embryo entwickelt sich erst zu einem Menschen; in einem frühen Entwicklungsstadium sei er noch kein Mensch; manchmal wird er zu diesem frühen Zeitpunkt als Zellhaufen beschrieben. Ein Menschsein käme dem Embryo erst zu und zwar in seiner Entwicklung durch Herausbildung bestimmter Eigenschaften oder nach zeitlichen Entwicklungsstufen. Als Eigenschaften werden genannt Bewusstsein, Schmerzempfinden und ein „Geborenwerdenkönnen“, was vielen Embryonen nicht möglich würde. Und als zeitliche Entwicklungskriterien werden Stadien beschrieben wie Einnistung in den Uterus, Ausschluss natürlicher Mehrlingsbildung, Gestaltwerdung, Ausbildung neuronaler Voraussetzungen für eine bewusste Verarbeitung von Reizen, Beginn des Gehirnlebens oder die Überlebensfähigkeit außerhalb des Uterus. Es taucht auch der in England entstandene Begriff „Präembryo“ auf, der zum Ausdruck bringt, dass es in dem frühen Entwicklungsstadium der befruchteten Eizelle keine ethischen Konflikte bei ihrem Verbrauch gibt. Für Gegner ist ein Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung an ein Mensch, dem Würde- und Lebensschutz zukommt. Die katholische Kirche fordert ein generelles 173
Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften, S. 3 ff.
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L. Beispiele einer Praktizierung ethischer Werte
Verbot der Forschung mit embryonalen Stammzellen. Der Molekularbiologe Ganten plädiert aus Gründen medizinischer Hilfeleistung für eine Stammzellforschung, für die alle Quellen einer Stammzellgewinnung in Frage kommen sollten.174 Und der Genforscher Winnacker hält das therapeutische Klonen für einen Irrweg, weil er erforderliche Experimente am Menschen ablehnt.175 Heike Schmoll hat darauf hingewiesen, dass Zuschreibungen des Menschseins nach den Kriterien bestimmter herausgebildeter Eigenschaften oder nach zeitlichen Entwicklungsstadien willkürliche sind. Die Beschreibung Zellhaufen für einen Embryo, dem das Menschsein noch nicht zukommt, reicht nicht. Jeder entwickelte Mensch ist ein Zellhaufen; und es gibt Zellhaufen, aus denen kein Mensch wird. Eine schwangere Frau, die auf einem Ultraschallbild ihren Embryo sieht, wird den Embryo als ihr werdendes Kind erleben. Dem Embryo ist unabhängig von Eigenschaften und Entwicklungsstadium sein Menschsein eingeschrieben. Dafür werden folgende Gründe genannt: – das Argument der Spezieszugehörigkeit bringt das biologische Faktum des Embryos als unhintergehbare Voraussetzung für die Existenz des Menschen als sittliches Wesen zum Ausdruck; – das Identitätskriterium verweist darauf, dass „menschliches Lebewesen“ und „moralisches Subjekt“ ihrer Natur nach identisch sind; wenn Schutz der Würde von nichts anderem abhängig gemacht wird als der Tatsache Mensch zu sein, dann kommt jedem menschlichen Lebewesen die Schutzwürdigkeit zu; – das Kontinuitätsargument zeigt, dass der geborene Mensch in ungebrochener Kontinuität zu dem ungeboren steht, aus dem er sich entwickelt und dessen Zeitpunkt des Beginns der Entwicklung die Vereinigung der beiden haploiden Chromosomensätze von Vater und Mutter im befruchteten Ei bestimmen; – das Potenzialitätsargument macht deutlich, dass mit abgeschlossener Befruchtung ein neues Leben entsteht, das das Vermögen besitzt, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln.176 Folgt man diesen Gründen, dann ist der Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung der Eizelle an ein Mensch, dem Würde und Schutz zukommt. Auswege Einen Ausweg aus dem ethischen Konflikt verfolgt das Respektmodell.177 Es betrachtet den Embryo weder als Objekt noch als Person, sondern als ein Mittleres. Einerseits verdiene das früheste embryonale Leben Respekt und könne nicht als frei verfügbares Material betrachtet werden; andererseits aber nimmt die Schutzwürdigkeit des Embryos erst mit fortschreitender Entwicklungsstufe stetig zu. Der 174 175 176 177
Ganten, S. 35 Winnacker, S. 33 Enquete-Kommision (1/2002), S. 72 f.; vgl. Maio (2002a), S. 23 f. Maio (2002a), S. 24 f.
II. Konkurrenz und Konflikte
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Embryo wird als etwas Wertvolles angesehen, eine Tötung zu Forschungszwecken aber unter bestimmten Bedingungen nicht ausgeschlossen.178 Begründet wird die Möglichkeit dadurch, dass dem Embryo ein Eigenwert und eine aus ihm hergeleitete „solidarité virtuelle“ zugesprochen wird in dem Sinne, dass sich der Embryo möglicherweise mit den zukünftigen Patienten solidarisch erklären könnte und eher seiner Verwendung zu Forschungszwecken zustimmen würde als seiner Verwerfung.179 Es ist ein hypothetisches Zustimmungsargument, dessen Geltung nicht deutlich wird. Vorstellbar wäre genauso eine Solidarität mit anderen hergestellten Embryonen, die, weil sie alle erst hergestellt werden und dann sterben müssen, sich solidarisch erklären mit einer Unterlassung ihrer Herstellung. Häufig hört man das Argument, eine Forschung an verwaisten Embryonen sei vertretbarer als sie zu entsorgen. Es sind überzählige in-vitro hergestellte Embryonen, die einer Frau nicht eingepflanzt wurden. Sie seien verwaist, weil ihnen der Mutterleib für ihre weitere Entwicklung fehle; ihnen käme keine Würde zu und sie müssten sowieso sterben. Verschwiegen wird dass die Würdelosigkeit künstlich herbeigeführt wurde; sie ist Ergebnis einer Präparation, weil die Eizelle aus dem Mutterleib herausgelöst und nach einer Behandlung und unter Ausgrenzung aller natürlichen Prozesse künstlich befruchtet wird. Dem Befruchtungsvorgang und dem entstehenden Embryo wurde der dazugehörige Mutterleib künstlich genommen. Wenn das Argument stimmt, dass der Mutterleib Grund der Würde des Embryos ist dann ist seine Verwendung in der Stammzellforschung also gerechtfertigt, weil ihm die Würde genommen wurde. Ist es dann nicht naheliegender eine Fortpflanzungsmedizin zu verwerfen, die eine Würdelosigkeit des Embryos erzeugt? Verwiesen wird auch auf Abtreibung, die menschliches Leben tötet, aber gegenwärtig unter bestimmten Voraussetzungen akzeptiert wird. Zwischen Abtreibung und Stammzellforschung an Embryonen gibt es einen wesentlichen Unterschied: Bei einer Abtreibung geht es um das Schicksal eines individuellen Menschen, der wegen der einzigartigen Verbindung von Mutter und Ungeborenem – „einer Zweiheit in der Einheit“ – nicht gegen die physische Verfassung der Mutter und nicht gegen ihren Willen, sondern nur durch ihre Mitwirkung geschützt werden kann. Es geht um Einzelschicksale. In der Stammzellforschung ist dagegen das Ziel der Handlung nicht das Einzelschicksal. Es geht nicht um einen bestimmten Embryo sondern um die Gewinnung einer seiner Stammzellen. Er wird Mittel zum Zweck einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Er wird um anderer Ziele willen benutzt und getötet. Gilt diese Bewertung auch für einen Embryo, der durch Zellkerntransfer entsteht, der also keine Eltern hat und dem es an einem biographischen Zusammenhang fehlt? Der Einwand, ein Forschungsverbot sei in diesem Fall unangebracht, weil der Embryo nicht die Bedingung einer Verbindung der beiden haploiden Chromoso-
178 179
Maio (2002), S. 161. Ebd. S. 27.
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L. Beispiele einer Praktizierung ethischer Werte
mensätze erfülle, wird dadurch entkräftet, dass sich eine durch Zellkerntransfer erzeugte Zelle nach Implantation jederzeit zu einem Menschen entwickeln kann.180 Keines der Argumente konnte widerlegen, dass ein Lebensschutz des Embryo einer Güterabwägung zu Zwecken der Forschung entzogen ist, weil dem Embryo von Zeitpunkt der Befruchtung der Eizelle an Würde und Schutz zukommt. In der gegenwärtigen Praktizierung der Stammzellforschung bestreiten Befürworter wie Gegner nicht den ethischen Konflikt. Die strittige Bewertung verlangte in Deutschland eine politische Entscheidung. Eine Abstimmung über das Stammzellgesetz im Jahr 2002 spiegelt das Verhältnis von Ablehnung und Akzeptanz der Stammzellforschung der 617 Abgeordneten des Deutschen Bundestages; es stimmten für – den Schutz der Menschenwürde des Embryos und gegen einen Import von Stammzellen: 266 Abgeordnete – keine verbrauchende Embryonenforschung aber beschränkten Import von Stammzellen: 339 Abgeordnete181 Aus den Erläuterungen der Anträge und den Beiträgen in der Debatte ging es vor allem darum einen gangbaren Weg einer Praktizierung zu finden; der ethische Konflikt blieb ungelöst. Es gibt auch Folgeerscheinungen der Stammzellforschung, die auf eine Lösung drängten. Das Europäische Parlament hat mit deutlicher Mehrheit gefordert, dem Handel mit menschlichen Eizellen ein Ende zu setzen. Für eine Eizelle rumänischer Spenderinnen seien EUR 1400,– bezahlt worden. Nachdem Samen von britischen Männern tiefgefroren nach Rumänien geflogen und die Eizellen damit befruchtet worden waren, sind die durch die künstliche Befruchtung entstandenen Embryonen zurück nach Großbritannien transportiert worden. Die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament hatten sich zugunsten der Gegner der embryonalen Stammzellforschung verschoben. Das Ergebnis aus der bisherigen Untersuchung ist – Solange man nicht sicher sein kann, dass die Stammzelle kein Mensch ist, erzeugt ihr Verbrauch Ablehnung. – In Konkurrenz von Lebensschutz und Heilung wird das moralische Bedürfnis der Heilung Kranker nicht allgemein akzeptiert, weil Gesundheit mit Leben verrechnet wird. – Aus emotionaler Bewertung entsteht die Tendenz nach Alternativen zu suchen. – Auswirkungen der Forschung auf Herstellung, Kauf und Handel mit Stammzellen und die Beschaffung von Eizellen verstärken die Tendenz einer Suche nach Alternativen. 180 181
Enquete-Kommission (1/2002), S. 117. Ebd. S. 356.
II. Konkurrenz und Konflikte
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Alternative Stammzellgewinnung Die Gegensätzlichkeit in dem ethischen Konflikt belasten Befürworter wie Gegner der Stammzellforschung bis heute; wegen der unerfüllten moralischen Bedürfnisse der einen wie der anderen Parteien ist es nicht gelungen einen entsprechenden allgemeinen geltenden Wert herauszubilden. Als Folge entstand eine Suche nach einem Ausweg. Der Stammzellforscher Schöler empfiehlt nach Alternativen einer Stammzellforschung zu suchen, um dem Dilemma zwischen Befürwortern und Gegnern eines therapeutischen Klonens zu entkommen.182 Es gibt Alternativen zur Stammzellgewinnung aus Fruchtwasser und Nabelschnurblut. Erprobt wird eine Reprogrammierung somatischer Zellen; seit 2010 gibt es Zellentnahmen eines Embryos ohne diesen zu zerstören. Gearbeitet wird mit haut- und blutbildenden adulten Stammzellen. Aus einem Gewebeersatz aus adulten Stammzellen sind bis heute therapeutische Verfahren entwickelt, die in Kliniken eingesetzt werden. All die aufgezählten Alternativen sind in der Erprobung, um Erfolge und Risiken abzuschätzen. Auch wenn noch keine abschließenden Urteile möglich sind lässt sich sagen, dass ein Weg in der Stammzellforschung eröffnet wird, der beide moralischen Bedürfnisse miteinander versöhnen kann. Die Alternativen können zu einer ethischen Wertbildung führen, der allgemein gelten und sich bewähren kann. Das Ergebnis könnte der ethische Wert sein: „Stammzellforschung nur mit Hilfe alternativen Stammzellgewinnung“ zu betreiben. Dieser Wert löst noch nicht all die anderen Konflikte, die aus der Stammzellforschung entstehen. Das sind z. B. Patentierung von Gewebezüchtung ebenso wie in der Fortpflanzungsmedizin die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die Herstellung und der Handel mit Eizellen. Jede der Folgen bedarf einer Untersuchung ihrer ethischen Aspekte wie es für die embryonale Stammzellforschung hier geschehen ist.
182
Schöler, S. N1.
M. Kritik Ethik aus Einsicht Die Ethik aus Emotionen und Vernunft ist weder deskriptiv noch normativ. Eine deskriptive Verfassung reicht nicht aus, um eine zukünftige Geltung zu beanspruchen. Und eine normative gerät in die Probleme der Begrifflichkeit. Formuliert ist sie als eine Ethik aus Einsicht. Aber ist Einsicht als Grundlage einer Ethik geeignet? Jemand könnte sagen, ich habe eingesehen meine Ellenbogen zur Durchsetzung meiner Bedürfnisse zu nutzen. Ist diese Einsicht eine ethische? Wenn man Einsicht als Norm formuliert, ist sie ungeeignet. Wenn man dagegen an die Einsicht in den Prozesscharakter der Ethik appelliert, erschließt sie Zusammenhänge, wie es eine Norm nicht vermag. Sie erschließt den Zusammenhang einer ethischen Urteilsbildung. Wer den Zusammenhang nicht einsieht, ist nachteiligen Rückwirkungen auf die eigenen moralischen Bedürfnisse ausgesetzt wie derjenige, der seine Ellenbogen nutzt auch auf Kosten anderer. Die ethische Orientierung aus Einsicht folgt nicht einer allgemeinen Norm sondern einer bestimmten Einsicht. Sie bringt nur auf den Begriff, woran sich viele Menschen intuitiv orientieren. Werte aus Bedürfnissen Ist Bedürfnisbefriedigung nicht nur ein anderes Wort für Nutzenkalkulation? Kalkuliert nicht derjenige, der dem moralischen Bedürfnis aus Emotionen folgt, nur deren Vorteilhaftigkeit ein und folgt ihnen nur deshalb, um z. B. in der Ökonomie eine Umsatzsteigerung zu erreichen oder bei einer Geldspende zu wohltätigen Zwecken ein gutes Image zu präsentieren? Die eigenen Bedürfnisse in Handlungsentscheidungen einzubeziehen ist nicht verwerflich sondern sinnvoll, weil sie das Fundament eines Überlebens in der Umwelt bilden. Eine Entscheidung, die Bedürfnisse Dritter nur um einer Erfüllung der eigenen Bedürfnisse willen – wie sie einer Nutzenkalkulation entspräche – spricht nicht gegen eine Ethik aus Emotionen und Vernunft, weil moralische Bedürfnisse erfüllt werden. Allerdings ist so einer Orientierung selbst einer Bewertung ausgesetzt. Der Handelnde würde weniger Anerkennung finden. Ein anderer Einwand ist: Sind Werte, die auf Emotionen und Bedürfnissen beruhen, dem Verdacht einer Beliebigkeit ausgesetzt, die keine Stabilität ermöglicht. Gegen diese Befürchtung lässt sich einwenden: es sind Wohlergehen und Gedeihen der Menschen, die nicht beliebig sind. Wenn ein Akteur für sein Wohlergehen und Gedeihen Bedürfnisse reklamieren würde, die anderen Schaden zufügen, wäre er deren Bewertung und Rückwirkungen ausgesetzt. Eine Beliebigkeit der Bedürfnisse führt zu Nachteilen des Akteurs. Stabilität der Werte erwächst aus der allgemein
M. Kritik
107
geltenden Gegenseitigkeit unter den Menschen, weil jeder betroffene Dritte die Aktionen eines Akteurs bewertet und sich zu Rückwirkungen veranlasst sehen könnte, die dem Akteur in seine Handlungsorientierungen einplanen kann. Egoismus Und ein weiterer Einwand: sind Werte, die sich an den eigenen moralischen Bedürfnissen orientieren, nicht egoistische, die die Interessen und Rechte der anderen verletzen? Egoismus kann sich auf dreierlei Art auswirken: Erstens sind es Individuen, die meinen, nur ihre Entscheidung gelte, und die die Unterwerfung der anderen unter ihre Herrschaft verlangen wie z. B. Diktatoren; wegen Missachtung der Rechte anderer ziehen sie aber den Hass und Widerstand auf sich einschließlich einer Verachtung der Sympathisanten des Diktators; schließlich sind Stalin, Hitler und Pol Pot gescheitert. Als zweite Gruppe gibt es die egoistischen Trittbrettfahrer, die Allgemeingüter in Anspruch nehmen, ohne sich selbst an ihnen zu beteiligen: Dopingsünder im Sport oder Steuerhinterzieher trifft Missachtung; bei den Betroffenen selbst können sie Scham und Schuldgefühle erzeugen. Schließlich gibt es Egoisten, denen die Empathie fehlt; jeder geht nur eigenen Bedürfnissen nach, wie z. B. in Nozicks Gerechtigkeitstheorie zu sehen ist: Er entwirft dort eine Moral, die sich nur an dem individuellem Nutzen orientiert, an sonst nichts.183 Nozick hat allerdings nicht zeigen können, dass so eine Ordnung Geltung durch allgemeine Akzeptanz beanspruchen kann; seine Moralvorstellung entspricht nicht einer emotionalen Bewertung. In allen drei Fällen dient ein Egoismus nicht den eignen moralischen Bedürfnissen und denen Dritter. Er widerspricht einer Ethik aus Emotionen und Vernunft, weil Egoisten meist Verachtung finden. Metaphysische Werte Werte sind hier an sinnliche Erfahrung der Menschen gebunden, an eine wirkliche Welt. Gehen dabei metaphysische Orientierungen verloren wie die aus religiöser Erfahrung, aus einem Menschenbild, aus einer Naturvorstellung oder aus Traditionen? Überlieferte Werte aus metaphysischen Quellen bleiben möglich, weil sie zur Umwelt werden können und einer Bewertung ausgesetzt sind. Wird ihre Bewertung als eine erkannt, die moralische Bedürfnisse erfüllt und sich bewährt, sind sie zu ethischer Orientierung geeignet, wie z. B. die fundamentale Orientierung an einer Nächstenliebe, die über die christliche Religion hinaus eine große Bedeutung hat. Auch Normen können die Orientierungskraft ethischer Werte erhalten, wenn sie einer Erfüllung moralischer Bedürfnisse dienen.
183
Nozick (1974), S. 144 ff.
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M. Kritik
Werte aus emotionalem Erleben Eine besondere Schwierigkeit einer Ethik aus Emotionen besteht in der nicht begrifflichen Bewertungsinstanz, die an subjektives Erleben appelliert, das keine Begriffe erfordert. Sie ist nicht leicht vermittelbar und nachvollziehbar, weil es einfacher ist, sich auf begriffliche Zusammenhänge zu stützen als auf subjektive Erlebnisse in Einzelsituationen. Eine Bewertung ist aber für jeden durch die unmittelbare Präsenz der Emotionen nachvollziehbar. Wenn jemand in einer Situation die Bewertung bestreitet, dann wird es möglich, über diesen Befund zu sprechen um herauszufinden, warum sie nicht erfolgt.
N. Zusammenfassung Ethische Werte, Ihre Geltung und ihr Wandel lassen sich aus einer Ethik aus Emotionen und Vernunft erklären. Es ist keine normative Ethik sondern eine ethische Urteilsbildung aus Einsicht. Ihr Fundament ist das Individuum in seiner Beziehung zur Umwelt. Sie fragt nach den Möglichkeiten eines Wissens über unsere Umwelt und nach einem Handeln unter den Einflüssen der Umwelt. Zur Beantwortung erweist sich eine Betrachtung aus neurowissenschaftlicher Perspektive verknüpft mit philosophischen Überlegungen als fruchtbar. Die Neurowissenschaften zeigen unterschiedliche Zugangsweisen zu Informationen über die Umwelt und die Philosophie erschließt einen sinnvollen Umgang mit den Informationen zum Überleben und Gedeihen des Menschen in seiner Umwelt. Es ist eine Ethik, die nicht versucht, individuell geprägte Handlungsentscheidungen allgemeinen Normen zu unterwerfen, sondern eine, die einzelne Situation als prägend für die Entscheidung dadurch anerkennt, dass jede Situation für sich bewertet wird. Sie ist deshalb aber keine beliebige Ethik, die erlaubt zu tun, was einem in den Sinn kommt und die zu beliebigen Werten führt. Es sind die nicht beliebigen Einflüsse der Umwelt, die nach den Kriterien der Bedürfnisse bewertet werden und zu Handlungsorientierungen führen. Es ist eine Ethik, die sich nicht nur auf Rationalität oder nur auf Emotionen stützt, sondern die beide Vermögen zur Geltung bringt. Jede Entscheidung bleibt der Reflexion und erneuter Bewertung ausgesetzt. Die Werte erlangen durch ihre Begründung allgemeine Geltung und eine Stabilität durch ihre Bewährung. Einsichten aus den Neurowissenschaften führen nicht zu ethischen Werten sondern sie machen eine notwendige Bedingung deutlich, die im Verhältnis Individuum und Umwelt erfüllt sein muss, um ethische Werte zu bilden. Eine epistemische Begründung der Werte ergibt sich aus einer Einsicht in den Begründungszusammenhang für Überleben und Gedeihen des Menschen in der Umwelt. Die Begründung überwindet das alte Sein-Sollen-Problem dadurch, dass sie sich nicht auf ein Sollen stützt, sondern auf Einsicht und Bewährung. Es ist eine Ethik, die dazu beiträgt, die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaft dadurch zu überwinden, dass sie beide miteinander verbindet: Naturwissenschaft ermöglicht Einblicke in die Beziehung und Kommunikation zwischen Individuum und Umwelt; Geisteswissenschaft ermöglicht Einsichten in den individuellen Bewertungszusammenhang, der das Subjektive, Einmalige in der Bewertung der Umwelteinflüsse zum Ausdruck bringt. Ihre Verbindung wird dadurch deutlich, dass naturwissenschaftliche Forschungstätigkeit selbst einer Bewertung ausgesetzt ist.
110
N. Zusammenfassung
Die ethischen Werte sind nicht von einem Egoismus geprägt; ihre Grundlage ist aber eine Bewertung nach subjektiven Bedürfnissen. Ein Gedeihen des Anderen und ein Gedeihen der Gemeinschaft fördert das Wohl und Gedeihen des Einzelnen. Es ist eine Ethik, die den Weg weist, das Verhältnis zum Anderen und das zwischen Individuum und Gemeinschaft dadurch zu gestalten, dass sie den Anderen und die Gemeinschaft als Umwelt bewertet. Sie eröffnet einen Weg zur Lösung ethischer Konflikte, weil sie ermöglicht, Handlungstendenzen von Befürwortern wie Gegnern nach den moralischen Bedürfnissen zu bewerten. Ethische Werte ergeben sich aus den Handlungsoptionen, die sich zur Erfüllung der moralischen Bedürfnisse bewährt haben. Ethische Werte lassen sich so erklären, dass sie eingesehen und praktiziert werden können. Es lässt sich ein Wertewandel erklären und zeigen, dass eine Furcht vor einem Werteverfall unbegründet ist. Im Gegenteil werden Möglichkeiten zu neuen Orientierungen eröffnet, zu einem Wertewandel aus historischen Veränderungen.
Glossar Bedürfnisse
Kriterium der Bewertung der Umwelteinflüsse für Überleben, Gedeihen und Lebensgestaltung und Antriebsmoment zu ihrer Erfüllung
Emotionen
Ausdruck einer Bewertung der Wahrnehmung
Wenn die Umwelt Menschen sind Ethik
bezeichnet Orientierungen des Handelns zur Erfüllung moralischer Bedürfnisse, die allgemein gelten und begründet sind
Ethischer Wert
Bewährtes Urteil über ein Handeln nach dem Maßstab der Ethik
Moral
Orientierungen des Handelns, deren emotionale Bewertung die Bedürfnisse erfüllt, werden moralische genannt. Moralische Orientierungen kommen im moralischen Charakter der Emotionen zum Ausdruck (wie Liebe, Freundschaft, Gerechtigkeit etc.)
Moralische Bedürfnisse Kriterium emotionaler Bewertung des Handelns Moralischer Wert
Eine subjektive Handlungsorientierung, die sich zur Erfüllung moralischer Bedürfnisse bewährt hat
Werte
Urteile über ein begehrtes Gut nach einem Maßstab, z. B. Wirtschaft: Mehrwert; Finanzen: Börsenwert; Medizin: Blutwert; Logik: Wahrheitswert; Ästhetik: Kunstwert; Politik: was ist Europa wert?
Wertewandel
Bewährtes Urteil über ein Handeln nach dem Maßstab der Ethik aus veränderten moralischen Bedürfnissen
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Personenverzeichnis Allied Consultants Europe 79, 112 Badura-Lotter 100 Bar-On 52 Baumgartner 112 Beck 19 Bindé 11, 74 Bondolfi 58 Brundtlandbericht 90 Buchanan 63 Bucksteeg 80 Charta der Vereinten Nationen 63, 83, 89 Cileli 95 Cremer 84 Damasio 22, 25 f., 31 f., 35 ff., 39, 46 ff. De Martino 39, 43 f. Deht, van 113 Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften 101 Döring 30 f. Dörner 45 Enquete-Kommission 100, 102, 104 Europäische Menschenrechtskonvention 64, 71 Fernandes Ferreira 95 Foerster 60 Frackowiak 39 Fricke 10, 51 Fürst 100 Gage 39 Gander 83 Ganten 102 Geyer 94 Giordano 118 Glasersfeld, von 18
Heidegger 14 Hennerkes 68 Hoffmann 52 Homann 85 f. Horn 41, 47 Hubig 58 Hülshoff 52 Hüther 27 Inglehart 16, 41, 67, 74 ff. Joas 14, 16, 29 Kandel 25 f., 31 ff., 39, 43 Kant 24, 30, 48 ff., 61, 89 Kersting 57 Kirchgässner 85 Klages 67, 75 ff. Koch 74 Köck 21 Kohlberg 72 Kolster 13, 85, 94 Knoepffler 10 Koenig 83 Kraft 115 Krobath 115 Kubon-Gilke 39 Landweer 30 Lau 115 LeDoux 32, 44, 48 Lenk 57 Lennartz 78 Leschke 63 Libet 92 f. Maio 102 f. Maslow 40 f., 75 Maturana 18, 20 f. Mieth 10, 58, 63 Mokrosch 15 f.
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Personenverzeichnis
Noelle-Neumann 73, 76 Nozick 10, 58, 64, 70, 107 Nunner-Winkler 30 f. Pascal 49 Pauen 46 Ploog 27, 32 ff., 39 Pöppel 34 Praetorius 87 Rawls 19, 52, 70 Reich 117 Ridley 48 Rizzolatti 117 Rorty 52, 84 Roth 21 f., 25 ff., 33 ff., 38 f., 43, 47, 93 Saint-Exupéry, de 38 Sattler 116 Schantz 24
Scheler 14 f., 20, 74, 88 Schmitz 10 Schmoll 10, 57, 102 Schneider, Gabriele 74 Schneider, Nikolaus 117 Schöler 105 Schönrich 118 Schrader 90 Shakespeare 50 Singer 25 ff., 34, 37 Societas Ethica 112, 118 Spaemann 15, 74 Stiftung Weltethos 19 Trapp 67 Türk 59, 95 Werner 118 Winnacker 102 Wolf 14 f., 67 Wright 63
Sachwortverzeichnis Aktiencheck 87 Aktienfonds 87 Amygdala 33 f., 38 f. Arten des Wissens 45
Konstruktivismus 18, 28 Kulturrevolution 71
Bedürfnis 40 ff., – Definition 42, 111 Bedürfnispyramide 41, 75 Bewertungen – rational und emotional 14, 18 Bildgebende Verfahren 22, 44
Mangelhypothese 75 Menschenrechte 52, 71, 83 ff., 89 f., 95 Menschenwürde 10, 48, 57, 104 Moral 50 ff., 58 ff. – Definition 50 ff. Moralische Bedürfnisse 62, 66, 69, 71, 76 ff., 88 ff., 111 Moralischer Wert 53 ff., 68 ff., 77 Motivation 30, 32 f. Motivationstheorie 40, 75
Demoskopie 73 Embryo 48, 57 61, 90, 99 ff. Emotionen 29 ff., 31 – Definition 32 Empathie 30, 36, 39, 52, 54, 70, 99, 107 Empfindungen 31 f. Ethik 56 ff. – Definition 59 Ethische Werte 67 ff. – Definition 69 Experimentelle Wirtschaftsforschung 49 Fairness 14, 42, 49, 69, 73 f., 82, 97 Gerechtigkeit 14 f., 30, 42, 49, 52, 70 f., 73 f., 83, 90, 98, 107, 11 Gesichter 26, 35 Glücksspielexperiment 40, 47 Gut 111 Hautleitfähigkeitsreaktion 37 f. Homo oeconomicus 9, 84 f. Kognition 34, 39, 44, 48 Kommunikation 20 ff., 34, 36 ff., 39, 48, 109 Konsensmodell 63 Konstanz 28
Limbisches System 33 f.
Nachhaltigkeit 63, 70, 80, 87, 89 ff. Naturalistischer Fehlschluss 61 f. Neurowissenschaften 22 f. Normen 9 ff., 20, 54, 56 f., 66, 70, 82, 95, 107, 109 Notwendige Bedingung 27, 41, 93 f., 109 Präimplantationsdiagnostik 11, 19, 57, 90, 99 f., 105 Prozess 18, 21 ff., 31 f., 34 f., 37, 44, 47, 50, 65 ff., 70 ff., 84, 90, 92 ff. 99, 103, 106 Regel 9 f., 19 ff., 30 f., 49, 52, 54, 63 f., 83 ff. 86, 93, Reiz 18, 20 ff., 29, 31 ff., 35 ff., 44 f., 47 f., 54, 101 – Definition 25 Rückwirkung 12, 49 f., 51, 53 ff., 59, 62, 65, 80, 82, 84 ff., 97, 99, 106 f. Selbstmordattentäter 70, 98 Signal 25 f., 28, 36, 39 f., 40, 47 Sinnesorgan 20 f., 25 f., 28 f., 34 Sollen 61 f., 66, 70, 85, 109 Somatische Marker 47
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Sachwortverzeichnis
Spiegelneuronen 36 f. Stimulation 22, 34, 39 Subjekt 10 f., 16, 18, 20 ff., 24, 27, 30, 32, 36, 38, 40, 43, 51, 69, 102, 109 Topographie 25, 28 Trieb 32 ff. Umwelt 12, 18 ff., 24 ff., 44, 50, 60, 109, 111 – Definition 20 f. Verantwortung 10, 57, 80, 85, 88 Vernunft 11 ff., 22, 29, 43 ff., 48 ff., 56 f., 59, 62, 66, 70, 72, 77, 81 f., 84, 87, 92 ff., 98 ff., 106 f., 109 Verstand 24, 99, 43 – Definition 43 Völkerbund 89
Wahrnehmung 22, 24 ff., 37 ff., 45, 111 Werte 47, 71, 94, 97 ff., 106 ff., 109 – Definition 53 – ethische 66, 67 ff., – moralische 54 f., 68 Wertfreiheit 85 Wertekommission 79 Wertewandel 73 ff. – Definition 77 Wertschätzung 15, 74 Widerstand 52 f., 88, 98, 107 Willensfreiheit 92 ff. Wissen 18, 24 ff., 44 ff., 84, 109 – angeborenes Wissen 46 – Definition 23 – erworbenes Wissen 47