Autonomie und Erziehung: Eine ethische Studie 9783495860366, 9783495483756


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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1.1 Folgt nie einer fremden Person
1.2 Autonomie und Erziehung mit spätmodernen Konturen
1.3 Aufgabe, Methode, Begriffe
1.3.1 Problemformulierung und methodische Standortbestimmung
1.3.2 Autonomie als Schlüsselbegriff im modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigma
1.3.3 Ethik mit Werten in Funktion
1.4 Vorbemerkungen zum Begriff der Autonomie
1.4.1 Autonomie als Kompetenz, Recht und Wert
1.4.2 Autonomie und Dependenz
1.4.3 Autonomie und Mündigkeit
1.5 Vorbemerkungen zum Begriff der Erziehung
1.5.1 Erziehung im Spannungsfeld zwischen Asymmetrie und Richtung
1.5.2 Der Vorzug von Pädagogik als diskursiver und ungefährer Perspektive
1.5.3 Erziehende und zu erziehende Person
1.6 Strukturierung der Arbeit
2. Die Legitimitätsfrage – Autonomie als Garant legitimer Erziehung?
2.1 Legitimität als kompensierende Gegensätzlichkeit
2.2 Erziehung – warum und wozu? Überlegungen zu moralpädagogischen Zielvorstellungen
2.2.1 Zielvorstellungen als Verdichtungen ethischer Fragen
2.2.2 Autonomie als großflächige moralpädagogische Zielvorstellung
2.3 Heteronome Kinder vis-à-vis autonomer Erwachsener?
2.3.1 Autonom werden – autonom sein?
2.3.2 Erziehen in »separability«
2.3.3 Erziehung als »generationing«
2.4 Legitimität als angestrebte Kohärenz
3 Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht
3.1 Erziehung und Ethik – Erziehung als Anspruch
3.2 Vorsprung beanspruchen – Asymmetrie
3.2.1 Asymmetrie als normativer Anspruch
3.2.2 Reversible Differenz und dialektische Asymmetrie im Hinblick auf Erziehung zu Autonomie
3.2.3 Dialektische Asymmetrie als Ausdruck moralpädagogischer Dependenz
3.3 Verbessern wollen – Richtung
3.3.1 Unstete Einflussnahme gegenüber steter Richtung
3.3.2 Richtung als intersubjektive Bemühung mit Risiko
4 Autonomie in Interaktion
4.1 Autonomie in Dependenz
4.2 Autonomie als Ausdruck menschlicher Vernunft (Kant)
4.2.1 Autonomie als Freiheit zur Pflicht und als Pflicht zur Freiheit
4.2.2 Gebotene Autonomie
4.2.3 Heteronomie als trivialisierte Dependenz?
4.2.4 Gebotene Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung
4.3 Autonomie als ungebundene Reflexion in Kooperation (Rawls)
4.3.1 Im Urzustand modellierte Autonomie
4.3.2 Autonomie als vernünftiger Pluralismus in gerechter sozialer Kooperation
4.3.3 Autonomie in Kooperation als moralpädagogische Zielvorstellung
4.4 Autonomie in Diskursethik (Habermas)
4.4.1 Intersubjektive Vernunft im Diskurs
4.4.2 Autonomie in gegenseitiger kommunikativer Gewährleistung
4.4.3 Autonomie in Intersubjektivität
4.4.4 Autonomie in gegenseitiger Gewährleistung als moralpädagogische Zielvorstellung
4.5 Intersubjektiv gegründete Autonomie als funktionaler Wert
5 Autonomie in Relationalität
5.1 Dependenz als Relationalität
5.2 Autonomie im Kontext verpflichtender Dependenz (MacIntyre)
5.2.1 Fähigkeit der Entscheidung (Aristoteles)
5.2.2 Autonomie zwischen erster und zweiter Dependenz
5.2.3 Autonomie im Zusammenhang kombinierter Tugenden
5.2.4 Autonomie zwischen erster und zweiter Dependenz als moralpädagogische Zielvorstellung
5.2.5 Fähigkeit der Entscheidung als moralpädagogische Zielvorstellung
5.3 Autonomie im Kontext wertender Dependenz (Taylor)
5.3.1 Dependenz und Autonomie im Rahmen menschlicher Sinnsuche
5.3.2 Relationalität innerhalb von »strongly qualified horizons«
5.3.3 Autonomie als Sinnkrise?
5.3.4 Autonomie in Sinnsuche und Sinnkrise als moralpädagogische Zielvorstellung
5.4 Relational autonomy
5.4.1 Autonomie als konstituiert in sozialen Beziehungen (Oshana)
5.4.2 Autonomie als authentische intersektionale Identität (Meyers)
5.4.3 Relational autonomy als moralpädagogische Zielvorstellung
6 Autonomie in Zeit
6.1 Autonomie, Authentizität und Zeit
6.2 Autonomie als Kohärenz (Ekstrom)
6.2.1 Hierarchie, Metakognition und Kohärenz
6.2.2 Kohärenz als Autonomiekriterium
6.2.3 Das wahre Selbst
6.2.4 Langsame Autonomie
6.2.5 Langsame Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung
6.3 Autonomie als Verschränkung von Selbstbestimmung und »sich bestimmen lassen« (Seel)
6.3.1 Autonomie in Intersubjektivität – Offenheit und Kontrast
6.3.2 Autonomie in Unstetigkeit
6.3.3 Unstetigkeit als A-Rationalität
6.3.4 Punktuelle Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung
6.4 Autonomie in Zeit als moralpädagogische Zielvorstellung
7 Erziehung in Autonomie – Autonomie in Erziehung
7.1 Rückblick
7.1.1 Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie in Interaktion, Relationalität und Zeit
7.1.2 Erziehung zu Autonomie – Erziehung in Autonomie
7.1.3 Pädagogisches Paradox ohne Belang
7.2 Ausblick
7.2.1 Autonomie in Dependenz in der Berührungsfläche zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹
7.2.2 Die doppelte Unzugänglichkeit von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung
7.2.3 Legitimität als Funktion
7.2.4 Autonomie in Plastizität und Pluralität
8 Sammanfattning på svenska (Zusammenfassung auf Schwedisch)
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Autonomie und Erziehung: Eine ethische Studie
 9783495860366, 9783495483756

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https://doi.org/10.5771/9783495860366 .

Karin Nordström Autonomie und Erziehung

PÄDAGOGIK UND PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

2014

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Was ist legitime Erziehung? Was heißt es, wenn zu Selbstbestimmung erzogen werden soll, und wie ist Autonomie als Zielvorstellung zu bestimmen und zu begründen? Diesen Fragen wird aus einer ethischen Perspektive nachgegangen. Dabei werden die Begriffe Erziehung und Autonomie von ihrer Normativität her betrachtet. Es geht ausgehend von einer allgemeinen Diskussion um moralpädagogische Zielvorstellungen um die Frage, wie Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie als Autonomie begrenzende Situationen zu verstehen ist. Die Autorin argumentiert für eine Sichtweise von Autonomie, welche diese nicht als Gegenüber zu Dependenz, sondern innerhalb von Dependenz bestimmt. Als pädagogische Zielvorstellung wird Autonomie so zu einem kompetenten Umgang mit Dependenz. Aspekte von Dependenz, welche als relevant hervorgehoben werden, sind Interaktion, Relationalität und Zeit. Ausgehend von einem kohärenzorientierten Begründungsmuster wird dafür argumentiert, dass die Zielvorstellung Autonomie eine Sichtweise bedingt, welche Erziehung zu Autonomie als Erziehung in Autonomie fasst. Die Zielvorstellung Autonomie ist demgemäß normierend für Erziehung insofern, als sie sich als bedingend für den in der Erziehungssituation artikulierten Anspruch erweist. Die theoretischen Ausführungen werden anhand aktueller Fragen im Bereich der Pädagogik diskutiert. So wird die Verwendung von SchwänzSMS, die Kopftuchfrage sowie die Bedeutung von Überwachungskameras in Schulen diskutiert. Die Autorin: Karin Nordström ist 1969 in Basel geboren. Nach der Eidgenössischen Maturität in Basel hat sie an der Universität Lund in Schweden Theologie studiert. Autonomie und Erziehung ist ihre Dissertation zur Erlangung des Doktortitels im Fachbereich Ethik an der Universität Lund.

https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

2014

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Karin Nordström

Autonomie und Erziehung Eine ethische Studie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Pädagogik und Philosophie 3 Wissenschaftlicher Beirat: Daniela G. Camhy, Ursula Frost, Ekkehard Martens, Käte Meyer-Drawe, Hans-Bernhard Petermann, Matthias Rath, Volker Steenblock, Barbara Weber und Franz Josef Wetz

Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten ISBN 978-3-495-48375-6

(Print)

ISBN 978-3-495-86036-6 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Vorwort

Viele Personen haben zur Entstehung dieser Dissertation beigetragen. Ulf Görman hat mich als Betreuer meines Dissertationsprojektes durch sein Engagement und seine Kenntnis gleichermaßen inspiriert, unterstützt und herausgefordert. Kleinen wie großen Fragen hat er sich mit dem Geschick und der Weitsichtigkeit eines erfahrenen akademischen Pädagogen angenommen. Nicht zuletzt hat sein unermüdlicher Optimismus mir durch die wiederkehrenden Momente eigener Skepsis geholfen. Göran Bexells kontinuierlichen Anfragen an den Status meiner Dissertationspläne in den anfänglichen, zögernden Phasen des Projekts habe ich den Mut zu verdanken, überhaupt ernst damit zu machen. Käte Meyer-Drawe hat als Opponentin das gesamte Manuskript gelesen und in einem abschließenden Seminar diskutiert. Für ihre wertvollen und ermutigenden Kommentare, aber auch für ihr Angebot, die Arbeit beim Verlag Karl Alber zur Publikation zu empfehlen, bin ich ihr äußerst dankbar. Käte Meyer-Drawe hat außerdem in der Schlussphase durch ihr Angebot der Vermittlung von Leserinnen zur Korrektur einen sehr hilfreichen Beitrag geleistet. Monika Gies, Eva Gerritzen, Sonia Geco Khat und Ludmila Musin haben diese intensive Aufgabe des Korrekturlesens übernommen. Ebenso hat Heidi McKenna die gesamte Arbeit zur Korrektur durchgesehen sowie manche frühere Entwürfe gelesen und kommentiert. Jürgen Oelkers hat einen ersten Entwurf gelesen und kommentiert. Für seine Einladung, die es mir ermöglichte, mein Projekt im Kolloquium des Fachbereiches der Allgemeinen Pädagogik an der Universität Zürich vorzustellen, bin ich besonders dankbar. Hiermit sei auch den Teilnehmern des Kolloquiums in Zürich gedankt für wertvolle Kommentare und eine interessante Diskussion zu meinem Projekt. Das Forschungsseminar im Fachbereich der Ethik in Lund war im Laufe der Arbeit mein kontinuierliches kollegiales und intellektuelles Zuhause und ein Forum, in welchem sowohl erste wilde Entwürfe wie 5 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Vorwort

auch reifere Kapiteltexte kritisch bearbeitet wurden. Es sei insbesondere Jennie Ahlgren, Dan-Erik Andersson, Daniel Carlsson, Maria Ericson, Inger Eriksson, Eva-Lotta Grantén, Frits Gåvertsson, Ann Heberlein, Veronica Johansson, Niclas Lindström, Anders Melin und Helena Röcklinsberg gedankt. Im Zusammenhang mit Seminaren haben außerdem Jörgen Huggler und Rune Larsson je ein Kapitel gelesen und kommentiert. Ich habe für die Arbeit mit dieser Dissertation finanzielle Unterstützung von folgenden Stiftungen erhalten: Crafoordska stiftelsen, Per Westlings minnesfond, Anna Nilssons fond, und Knut och Alice Wallenbergs stiftelse. Eine überzeugende Antwort auf die Frage, warum die Produktion eines Buches, und dazu noch eines ganz ohne Bilder, soviel Zeit und Kraft beansprucht, bin ich meinen Kindern bis zum heutigen Tag schuldig geblieben. Die Art und Weise, wie Sophia, Louisa und Valentin mein Leben bereichern, stellt den Wert eines noch so faszinierenden Dissertationsprojektes in den Schatten. Dass Zeit und Kraft ausreichten, habe ich in erster Linie der Nähe und Wärme meines Lebensgefährten Magnus zu verdanken. Lund und Höör, im Mai 2009

Karin Nordström

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Folgt nie einer fremden Person! . . . . . . . . . . . . . 1.2 Autonomie und Erziehung mit spätmodernen Konturen . . 1.3 Aufgabe, Methode, Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . .

1

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1.3.1 Problemformulierung und methodische Standortbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Autonomie als Schlüsselbegriff im modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigma . . . . . . . . 1.3.3 Ethik mit Werten in Funktion . . . . . . . . . . . . 1.4 Vorbemerkungen zum Begriff der Autonomie . . . . . . . . 1.4.1 Autonomie als Kompetenz, Recht und Wert . . . . 1.4.2 Autonomie und Dependenz . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Autonomie und Mündigkeit . . . . . . . . . . . . 1.5 Vorbemerkungen zum Begriff der Erziehung . . . . . . . . 1.5.1 Erziehung im Spannungsfeld zwischen Asymmetrie und Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Der Vorzug von Pädagogik als diskursiver und ungefährer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Erziehende und zu erziehende Person . . . . . . . . 1.6 Strukturierung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Legitimitätsfrage – Autonomie als Garant legitimer Erziehung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Legitimität als kompensierende Gegensätzlichkeit . . . . . .

11 11 14 20 20 21 24 37 40 50 55 56 59 62 67 69

2

2.2 Erziehung – warum und wozu? Überlegungen zu moralpädagogischen Zielvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Zielvorstellungen als Verdichtungen ethischer Fragen 2.2.2 Autonomie als großflächige moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73 73 88 88 90 7

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Inhaltsverzeichnis

2.3 Heteronome Kinder vis-à-vis autonomer Erwachsener? 2.3.1 Autonom werden – autonom sein? . . . . . . 2.3.2 Erziehen in »separability« . . . . . . . . . . 2.3.3 Erziehung als »generationing« . . . . . . . . 2.4 Legitimität als angestrebte Kohärenz . . . . . . . . .

Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht . . . . . . . . 3.1 Erziehung und Ethik – Erziehung als Anspruch . 3.2 Vorsprung beanspruchen – Asymmetrie . . . . 3.2.1 Asymmetrie als normativer Anspruch .

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. 99 . 99 . 107 . 114 . 118

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3.2.2 Reversible Differenz und dialektische Asymmetrie im Hinblick auf Erziehung zu Autonomie . . . . . . . 3.2.3 Dialektische Asymmetrie als Ausdruck moralpädagogischer Dependenz . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Verbessern wollen – Richtung . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Unstete Einflussnahme gegenüber steter Richtung . 3.3.2 Richtung als intersubjektive Bemühung mit Risiko .

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Autonomie in Interaktion

134 154 156 158 169

. . . . . . . . . . . . . . . . 177

4.1 Autonomie in Dependenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Autonomie als Ausdruck menschlicher Vernunft (Kant) . . . 4.2.1 Autonomie als Freiheit zur Pflicht und als Pflicht zur Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Gebotene Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Heteronomie als trivialisierte Dependenz? . . . . . 4.2.4 Gebotene Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Autonomie als ungebundene Reflexion in Kooperation (Rawls) 4.3.1 Im Urzustand modellierte Autonomie . . . . . . . 4.3.2 Autonomie als vernünftiger Pluralismus in gerechter sozialer Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Autonomie in Kooperation als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Autonomie in Diskursethik (Habermas) . . . . . . . . . . 4.4.1 Intersubjektive Vernunft im Diskurs . . . . . . . . 4.4.2 Autonomie in gegenseitiger kommunikativer Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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177 180 181 188 194 199 206 207 213 218 220 223 226

Inhaltsverzeichnis

4.4.3 Autonomie in Intersubjektivität . . . . . . . . . . 4.4.4 Autonomie in gegenseitiger Gewährleistung als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . 4.5 Intersubjektiv gegründete Autonomie als funktionaler Wert .

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Autonomie in Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . 240

5.1 Dependenz als Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Autonomie im Kontext verpflichtender Dependenz (MacIntyre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Fähigkeit der Entscheidung (Aristoteles) . . . . . . 5.2.2 Autonomie zwischen erster und zweiter Dependenz . 5.2.3 Autonomie im Zusammenhang kombinierter Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Autonomie zwischen erster und zweiter Dependenz als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . 5.2.5 Fähigkeit der Entscheidung als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Autonomie im Kontext wertender Dependenz (Taylor) . . . 5.3.1 Dependenz und Autonomie im Rahmen menschlicher Sinnsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Relationalität innerhalb von »strongly qualified horizons« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Autonomie als Sinnkrise? . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Autonomie in Sinnsuche und Sinnkrise als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . . . . 5.4 Relational autonomy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Autonomie als konstituiert in sozialen Beziehungen (Oshana) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Autonomie als authentische intersektionale Identität (Meyers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Relational autonomy als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autonomie in Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.1 Autonomie, Authentizität und Zeit . . . . . . . 6.2 Autonomie als Kohärenz (Ekstrom) . . . . . . 6.2.1 Hierarchie, Metakognition und Kohärenz 6.2.2 Kohärenz als Autonomiekriterium . . .

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240 247 250 255 261 264 266 268 273 277 284 285 290 290 295 300 308 308 317 317 327 9

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Inhaltsverzeichnis

6.2.3 Das wahre Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Langsame Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Langsame Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Autonomie als Verschränkung von Selbstbestimmung und »sich bestimmen lassen« (Seel) . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Autonomie in Intersubjektivität – Offenheit und Kontrast . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Autonomie in Unstetigkeit . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Unstetigkeit als A-Rationalität . . . . . . . . . . 6.3.4 Punktuelle Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Autonomie in Zeit als moralpädagogische Zielvorstellung .

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. 331 . 334 . 336 . 339 . 343 . 348 . 353 . 356 . 362

Erziehung in Autonomie – Autonomie in Erziehung . . . 371

7.1 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie in Interaktion, Relationalität und Zeit . . . . . . . . . 7.1.2 Erziehung zu Autonomie – Erziehung in Autonomie 7.1.3 Pädagogisches Paradox ohne Belang . . . . . . . . 7.2 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Autonomie in Dependenz in der Berührungsfläche zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ . . . . . . . . . . . 7.2.2 Die doppelte Unzugänglichkeit von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung . . . . . . . . . 7.2.3 Legitimität als Funktion . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Autonomie in Plastizität und Pluralität . . . . . . .

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371 371 379 383 385 385 391 393 396

Sammanfattning på svenska (Zusammenfassung auf Schwedisch) . . . . . . . . . . . 400

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

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Einleitung

1.1 Folgt nie einer fremden Person! Die Eltern zweier Kinder im Kindergarten- und Primarschulalter sehen sich durch eine tragische, kürzlich in ihrer Wohngegend vorgefallene Entführung eines Kindes durch einen pädophilen Mann veranlasst, ihren beiden Kindern einen wichtigen Imperativ beizubringen: Folgt nie einer fremden Person! Sie hämmern diesen Satz den Kindern ein, strengen sich an zu vermitteln, dass das ein ganz wichtiges Prinzip sei. Die Kinder sollen verstehen, dass, wenn sie den Schulweg alleine zurücklegen sollen, diese ihnen zugestandene Freiheit auch ein Urteilsvermögen voraussetzt, eine Fähigkeit, sich nicht beliebig beeinflussen zu lassen. Um zu testen, ob der Erziehungseinsatz gelungen ist, inszenieren die Eltern durch einen den Kindern unbekannten Mann die aktuelle Szene. Der Mann nähert sich mit seinem Auto den Kindern auf dem Heimweg und bietet Süßigkeiten an mit der Aufforderung, sie mögen doch ins Auto einsteigen. Die beiden Kinder erweisen sich als leicht zu überzeugen. Sie willigen ein und setzen sich ins Auto des für sie fremden Mannes, der sie nach Hause zu den Eltern fährt. Was sagt dieses Ereignis, insofern es als Erziehungssituation verstanden werden kann, über Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung? Wie kann die Erziehungssituation adäquat beschrieben werden? Warum, und wenn ja, in welcher Hinsicht muss der Erziehungseinsatz als gescheitert bewertet werden? Inwiefern wird Autonomie als Zielvorstellung im elterlichen Erziehungseinsatz angestrebt? Aus Sicht der Eltern ist der Erziehungseinsatz missglückt, denn die Kinder entziehen sich dem beabsichtigten Erziehungseffekt. Statt der Verlockung widerstehen zu können, erweisen sie sich als leicht manipulierbar. Der Aufforderung des ihnen fremden Mannes folgend, steigen sie, offenbar ohne die Gefahr der Situation zu erkennen oder zu respektieren, ins Auto ein. Statt dem elterlichen Gebot zu folgen 11 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Einleitung

(was ihnen nach dem Erziehungseinsatz in der Situation als vernünftig erscheinen müsste), lassen sie sich fremdbestimmen durch den Willen eines fremden Mannes und/oder durch die Lust nach Süßigkeiten. Verschiedene Verständnisse von Autonomie würden die Frage, inwiefern das Verhalten der Kinder als autonom bezeichnet werden kann, unterschiedlich beantworten. Wenn Autonomie, wie bei Kant, gleichbedeutend ist mit vernünftig handeln, wären die Kinder kaum als autonom zu betrachten. Wenn Autonomie bedeutet, eigenen Impulsen, auch wenn diese Willensschwäche ausdrücken, zu folgen, wie Martin Seel in seinem Verständnis von Selbstbestimmung vorschlägt, dann wäre das Verhalten der Kinder als autonom zu bezeichnen. Wenn Autonomie wie bei Laura Waddel Ekstrom verstanden wird als Ausdruck eines kohärenten ›wahren‹ Selbst, ausgedrückt in rational autorisierten Präferenzen, dann wäre die eventuelle Autonomie der Kinder abhängig davon, ob sie sie als Ausdruck ihres ›wahren‹ Selbst auffassen würden. Die beiden Kinder handeln, dem Willen des fremden Mannes folgend, insofern selbstbestimmend, als sie, sich über den Imperativ der Eltern hinwegsetzend, ihrem eigenen Wunsch, ihrem eigenen Urteil zufolge agieren. Ihrer Lust nach Süßigkeiten folgend, legen die Kinder Autonomie gegenüber der von den Eltern intendierten Erziehungswirkung an den Tag. Autonom verhalten sich die Kinder insofern, als sie sich der beabsichtigten Erziehungswirkung der Eltern entziehen und sich selbstbestimmend gegenüber dem moralpädagogischen Imperativ, selbstbestimmend auch gegenüber vernünftigen Argumenten, verhalten. Die Situation weckt Fragen zum Gegenüber der Autonomie. Oft wird als Gegenüber von Autonomie Heteronomie oder Dependenz angenommen. In der oben beschriebenen Situation kommen mehrere solcher möglichen Gegenüber zu Autonomie vor: Impulse von ›innen‹, d. h. emotionales Begehren als Gegenüber zu einer rationalen Instanz; der Wille anderer Personen als Gegenüber zu einem eigenen Willen; moralische Prinzipien als Gegenüber zu selbständigem Entscheiden und Wählen. Zugleich können Situationen wie die obige als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Autonomie, als Gegenüber von Dependenz gefasst, weder der Komplexität von Autonomie als ethischem Begriff, noch der Komplexität der moralpädagogischen Situation gerecht wird. Es stellt sich die Frage, ob Autonomie ein solches Gegenüber braucht? Inwiefern ist autonomes Entscheiden und Verhalten abhängig von Dependenz als Gegenüber? Welche alternativen Sicht12 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Folgt nie einer fremden Person!

weisen bieten sich an? Wenn Autonomie nicht von einem solchen Gegenüber her betrachtet wird, wie wirkt sich ein solches Autonomiekonzept auf Erziehung zu Autonomie aus? Das Ereignis weckt auch Fragen zu Asymmetrie, wie sie als für die Erziehungssituation kennzeichnend angenommen wird. Auf Autonomie als Zielvorstellung bezogen muss angesichts des selbstbestimmenden Verhaltens der Kinder gegenüber dem pädagogischen Imperativ der Eltern gefragt werden, inwiefern Asymmetrie eindeutig beanspruchbar ist. Worin besteht in einer Situation wie der hier aufgeführten die Asymmetrie, worin besteht der ›Vorsprung‹ der Eltern gegenüber den Kindern? Inwiefern ist die für den Erziehungseinsatz bestimmte Richtung begründbar? Erziehung wird, so eine wichtige Annahme der Arbeit, zum Risikounternehmen, nicht nur weil Bemühungen scheitern können, sondern auch weil ihre Resultate schlecht zu werten und kaum messbar sind. Autonomie gefasst als Gegenüber zu Dependenz, d. h. als Loslösung von ›fremdem‹ Einfluss Anderer, erweist sich in einer moralpädagogischen Situation wie der oben beschriebenen als problematisch. Autonomie scheint in Situationen wie der oben skizzierten an substantielle, normative Bedingungen geknüpft, hier in Form einer normativen Voraussetzung, dass die Kinder unabhängig von fremdem Einfluss handeln sollen, um sich selbst zu schützen. Es geht den Eltern nicht um Autonomie als unbestimmbare Selbstbestimmung, sondern um Autonomie geknüpft an das eigene Wohl, welches seinerseits an substantielle Werte wie beispielsweise jenem der Integrität geknüpft ist. Das Scheitern wird in diesem Beispiel deutlich. Wohlgemeinte Ermahnung bewirkt scheinbar nichts, hat keine, oder zumindest nicht die beabsichtigte Wirkung auf die Handlung. Eine weitere Frage, die auftaucht, ist, wie Autonomie Aspekte von Kognition, Emotion und Motivation verbindet. Insofern als diese voneinander unterscheidbar sind, deutet das Beispiel eine Komplexität an, die ein Autonomieverständnis nahe legt, welches über eine eindimensionale kognitive Deutung von Autonomie (wie bei Kohlbergs Theorie zur Moralentwicklung zentral) 1 hinausgeht und emotionale und relationale Aspekte integriert. Empirische Studien legen nahe, dass entwicklungspsychologisch zwischen moralischem Wissen und moralischer Motivation, 2 respektive 1 2

Siehe Kapitel 2, Abschnitt 2.3.1. Nunner-Winkler, 2005, 187

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Einleitung

zwischen moralischem Urteil und Handlungsentscheidung 3 unterschieden werden muss. Beides kann im Hinblick auf Autonomie so gedeutet werden, dass ein Konzept der Autonomie, welches emotionale und motivationsbedingte Aspekte umfasst, insbesondere auch hinsichtlich relationaler Bezüge, angemessener ist, als ein strikt an Rationalität orientiertes Konzept, welches den Fokus einseitig auf kognitive Fähigkeiten zur distanzierten Reflexion legt.

1.2 Autonomie und Erziehung mit sptmodernen Konturen Zwei gegenläufige Deutungsmuster zeichnen sich für gegenwärtige gesellschaftstheoretische Analysen im Hinblick auf Autonomie ab. Ein erstes Deutungsmuster identifiziert eine Tendenz zu einem im Exzess gelebten Individualismus. In – oft prophetisch düster gehaltenen – Beschreibungen der gegenwärtigen, als spät- oder postmodern klassifizierten Gesellschaftssituation, werden mit Vorliebe Phänomene wie Individualismus und Fragmentarisierung als Ausdruck entarteter, liberaler Werte lamentiert. Dabei wird insbesondere die Verabsolutierung des individuellen, autonomen Subjektes auf Kosten der Bedeutung gemeinschaftlich geteilter Werte und Praktiken als Zeichen des Zerfalls proklamiert. Zirfas beispielsweise schreibt, Bindungsverluste und Orientierungslosigkeit seien das Resultat der neueren kapitalistischen Struktur. 4 Taylor malt das Bild eines sich ausbreitenden »Sinnverlustes« (»loss of meaning«), gedeutet als Resultat verschwindender moralischer Horizonte (»fading of moral horizons«). Er verortet darin paradoxerweise auch die Ursache eines ebenso ausgebreiteten Freiheitsverlustes, der mit einer Dominanz instrumenteller Vernunft einhergeht. 5 Taylors Behauptung, dass die Moderne einen Freiheitsverlust verursacht hat, ist ein interessanter Aspekt seiner Thesen. Der kausale Zusammenhang zwischen angestrebter individueller Autonomie und dem Verlust von Freiheit macht jedoch nur Sinn, sofern man Taylors metaphysische Voraussetzungen (anknüpfend an eine katholischchristliche Theologie) mit gewissen orientierenden, theologisch defi3 4 5

Keller, 2005, 163 Zirfas, 2004, 190 Taylor, 1991, 10

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Autonomie und Erziehung mit sptmodernen Konturen

nierten ›Wahrheiten‹, teilt. Damit verbunden ist eine theologisch definierte Freiheit, welche nur durch das Raster eines Erlösungsbegriffes zu verstehen ist. Ohne diese Voraussetzung ist der kausale Zusammenhang zwischen dem modernen Autonomieideal und damit verbundener Unfreiheit als Deutungsmuster für die gegenwärtige Zeit nicht unbedingt überzeugend. Interessant ist aber Taylors Feststellung, dass Menschen in ihrer angestrebten Autonomie heute dennoch geprägt sind von Bindungen und Abhängigkeiten. Die durch die Loslösung von vormoderner Metaphysik angestrebte Autonomie hat demgemäß nicht unbedingt mehr Unfreiheit verursacht, scheint aber kontextuelle Bindungen auch nicht überwunden oder behoben zu haben. Aus einer solchen Sichtweise scheinen Autonomie und Dependenz miteinander verflochten zu sein oder zumindest parallel zueinander zu existieren. Ein zweites Deutungsmuster hebt die im Prozess der Globalisierung sich auf neue Weise abzeichnende Verflechtung von Freiheit und Abhängigkeit als kennzeichnend für aktuelle Tendenzen bezüglich Autonomie hervor. Benhabib beschreibt die pluralistische Gesellschaftssituation als globale Erscheinung, die von einem neuen, gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis geprägt ist. Sie bezeichnet Menschen weltweit als »moralische Zeitgenossen« (»moral contemporaries«). In einer globalisierten und pluralistischen Welt seien wir Zeitgenossen mit sowohl geographisch weit entfernten »Anderen«, als auch mit zeitlich entfernten Menschen, d. h. mit nachfolgenden Generationen. Benhabib spricht von einer weltweiten »Gemeinschaft der Interdependenz« (»community of interdependence«). 6 Zirfas spricht von »Dynamiken, die die Singularität des Einzelnen fordern wie unterminieren«. Er weist damit auf ein verbreitetes Ideal der Flexibilität als Ausdruck der parallel bestehenden Werte der »ubiquitären Freiheit« und der »vollständigen Anpassung« hin. 7 Paradoxen wie ein von Jugendlichen erlebter »Zwang zur Wahl« 8 oder die »erzwungene Subjektivität, als StandardBenhabib, 1999, 51. Siehe auch Zirfas, 2004, 184. Zirfas, 2004, 188 8 Tscheetzsch, 2000, 151. Ein Rapport des Amtes für Volksgesundheit in Schweden (Svenska folkhälsoinstitut), welcher veranlasst war durch alarmierende Berichte zunehmender psychisch bedingter Gesundheitsprobleme bei Jugendlichen, weist auf empirische Studien hin, die darauf hinweisen, dass ständig erweiterte Wahlmöglichkeiten, sowie eine Kultur fortgeschrittenen Individualismus von Jugendlichen als psychische Belastung empfunden werden. (Siehe Ungdomar, stress och psykisk ohälsa. Analys och förslag till åtgärder. Statens offentliga utredningar (SOU) 2006:77; http://www.re6 7

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bedingung eines auf Flexibilität getrimmten Arbeitsmarktes« 9 stellen daher, zumindest als »ambivalenter Schub zur Individualisierung«, 10 moralphilosophisch und pädagogisch eine Herausforderung dar, Autonomie als Zielvorstellung von einer Entsprechung dieser verdeutlichten Verflechtung her zu bestimmen und zu begründen. Die beiden Deutungsmuster sollen hier beurteilt werden als einleitender Hinweis darauf, dass Autonomie als modernes Ideal in einem spätmodernen Kontext nicht nur aufgrund einer umstrittenen Wirkungsgeschichte diffus erscheint, sondern auch – und selbstverständlich damit zusammenhängend – normativ eine mehrdeutige, komplexe Funktion hat. Dieser Komplexität widerstehend, drängt sich Autonomie aus einer ethischen Perspektive dennoch als unabdingbares Ideal auf. So hält Meyer-Drawe fest: »Als Chiffre für eine humane Gesellschaft bleibt Autonomie unverzichtbar, weil sie protestiert gegen reale Fremdbestimmung.« 11 Wenn Gesellschaften sich im weitesten Sinne demokratischen Werten verschreiben und dies unter dem Vorzeichen von Pluralismus tun, dann muss Autonomie nicht nur als Recht, sondern auch als pädagogisch anzustrebende Kompetenz wertvoll erscheinen. Aber inwieweit soll eine solche Unverzichtbarkeit aus moralpädagogischer Sicht als berechtigt betrachtet werden? 12 Adorno schreibt Autonomie in seinem Entwurf zu einer »Erziehung nach Auschwitz« als Garant gegen Mitlaufen eine einzigartige Wächterrolle gegen das geringen.se. Zugriff am 13. Mai 2009) Allerdings muss mit Liebau festgehalten werden, dass das Problem ›Wahl- und Entscheidungszwang‹ nicht als allgemeines Problem dargestellt werden kann, sondern charakteristisch ist für die Situation privilegierter, oberer Gesellschaftsschichten. Unter Berücksichtigung einer globalen Perspektive müssten angesichts verbreiteter Armutsverhältnisse, Wahlmöglichkeiten, wie sie viele junge Menschen in der so genannten Westwelt haben, für viele Jugendlichen als illusorisch gelten. (Liebau, 1999, 17) 9 Winkler, 2006, 205, 220 10 Schaare, 1998, 205 11 Meyer-Drawe, 1990, 64 12 Die Begriffe moralpädagogisch und Moralpädagogik werden in dieser Arbeit verwendet, obwohl in der deutschen Sprache dem Begriff Moral gewöhnlicherweise eine enger gefasste Bedeutung anhaftet. Nipkow nennt beispielsweise »Wirtschaftsmoral, Steuermoral und Verkehrsmoral«. (Nipkow, 1998, 72–73) Hier ist keine solche engere Bedeutung von ›Moral‹ vorgesehen. Im Zusammenhang mit Erziehung wird Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung bezeichnet und diskutiert. Dabei wird mit Moral keine bestimmte oder vorgegebene Moral bezeichnet. Vielmehr geht es um einen ethischen Bezug, wie er in der ethischen Perspektive der Arbeit thematisiert und anhand des Begriffes Erziehung aktualisiert wird.

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Autonomie und Erziehung mit sptmodernen Konturen

Böse zu. »Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.« 13 Unter der Voraussetzung grundlegender liberaler Wertungen wird dabei Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung in einem weiten Sinne unabdingbar. Autonomie oder Selbstbestimmung als anzustrebender Aspekt moralischer Kompetenz ist heute kaum anfechtbar. Autonomie ist seit der Moderne eine zentrale Zielvorstellung von Erziehung und unter Arbeiten zur Frage von Autonomie als ›Erziehungsziel‹ finden sich im deutschen Sprachraum gleich zwei Arbeiten mit dem Titel Erziehung zur Autonomie. Johlers Dissertation mit diesem Titel aus dem Jahr 1977 stellt einen Versuch dar, Autonomie als liberales Ideal auf die psychoanalytische Theorie zu beziehen und die Konsequenzen eines solchen Bezugs für Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung zu untersuchen.14 Grundlegend ist dabei ein Interesse an pädagogischer Umsetzung von Autonomie, welches Autonomie philosophisch und psychologisch erörtert, sie auf Erziehung bezieht, dabei aber im Umsetzungseifer die weitergehende Problematik dieses Bezugs, d. h. die vorausgesetzte, gegenseitig legitimierende Funktion als Verbindung zwischen Autonomie und Erziehung, übersieht. Schaares Buch Erziehung zur Autonomie aus dem Jahr 1998 beschäftigt sich mit Autonomie pädagogisch, psychologisch und philosophisch. Schaare beleuchtet Autonomie als philosophisches Konzept und erörtert seinerseits Möglichkeiten zur pädagogischen Umsetzung im Schulkontext. Hier werden Erziehung und Autonomie je einer umfassenden kritischen Analyse unterzogen. Schaares kritische Besprechung von Kants Autonomiekonzept etwa führt zum Schluss, Autonomie müsse modifiziert, d. h. im sozialen Bezug verstanden werden. Dies bedeutet für Schaare insbesondere eine untrennbare Verknüpfung von Freiheit mit Verantwortung.15 Aber auch hier wird in der kritischen Analyse der Bezug von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung auf Erziehung, d. h. der normative Zusammenhang zwischen Autonomie und Erziehung, weitgehend übergangen. Autonomie wird somit von Schaare (und das gilt auch für Johlers 13 14 15

Adorno, 1971, 93 Johler, 1977 Schaare, 1998, 192–197

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Arbeit) als ›Erziehungsziel‹ zwar kritisch diskutiert, ohne aber die Frage auch in ihrer Umkehrung zu berücksichtigen. Als Umkehrung der Frage nach Erziehung zu(r) Autonomie drängt sich aber die Frage auf, inwiefern eine kritische Analyse des Phänomens Erziehung, respektive des normativen Anspruchs, welcher mit ihren eventuellen Möglichkeiten und Begrenzungen verbunden ist, sich auf das ›Erziehungsziel Autonomie‹ auswirken müsste. Der bestimmte Artikel im Titel Erziehung zur Autonomie ist dabei als Hinweis darauf zu verstehen, dass die eine Erziehung mit dem einem Ziel Autonomie normativ vorausgesetzt und der Zusammenhang der beiden nicht (genügend weitgehend) kritisch hinterfragt wird. Wenn für eine solche Umkehrung aber geöffnet wird, erscheint ein komplexeres Bild verschränkter Normativitäten, die eine kritische Bearbeitung – als Bestimmung und Begründung – von Autonomie und Erziehung als zwei normative Größen in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander verlangen. Ein solcher Ansatz liegt, wie im Folgenden näher zu erläutern sein wird, der vorliegenden Arbeit zu Grunde. Es steht hier also – aus ethischer Perspektive – die verschränkte Normativität beider Begriffe zur Diskussion. Der selbstverständliche, zentrale Platz, den Autonomie als philosophisches Ideal und als moralpädagogische Zielvorstellung in liberaler Sichtweise eingenommen hat, ist heute, aufgrund vielfältiger Kritik aus verschiedenen Blickwinkeln, nicht mehr als unproblematisch zu betrachten. 16 Dies wird etwa deutlich in einer Bestimmung von Erziehung, wie sie beispielsweise Winkler vornimmt, indem er Erziehung in Abgrenzung zu »funktionaler Sozialisierung und Enkulturation« als Auslöser eines »Entfremdungs- und Verfremdungsprozesses« beschreibt. Es werde, so Winkler, in Erziehung Distanz geschaffen gegenüber dem, was angeeignet werden soll. »Weil die scheinbar gegebene Welt fremd wird, wird man sich seiner selbst unsicher, bemerkt sich als selbst fremd in einer Welt die einem schon sicher erschien.« 17 Winkler will in der Verlängerung das »pädagogische Geschehen«, statt als eine direkte Aneignung, als eine Konstruktion eines Weltverhältnisses (im Anschluss an Vygotsky) verstanden sehen. 18 »Ihre Aufgabe (der Erziehung, meine Anmerkung) und Leistung besteht darin, dass soziale und kulturelle Möglichkeiten angeeignet und als Handlungspoten16 17 18

Bonnett & Cuypers, 2003, 334 Winkler, 2006, 137 Winkler, 2006, 137–138

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Autonomie und Erziehung mit sptmodernen Konturen

tiale subjektiv verselbständigt sind. (…) Ein Erfolg von Erziehung aber besteht nur darin, wo der Zögling selbst über die Bedingungen verfügt, die sein Leben bestimmen, wo er sie selbst kontrollieren und regeln kann, sich über die nächsten Schritte seines Bildungsprozesses mit sich einigen kann.« 19

Inwiefern ist eine solche Verknüpfung von prägendem, sozialem und kulturellem Kontext mit individueller Kontrolle und Verfügung realistisch? Hier werden Annahmen gemacht, welche Erziehung und Autonomie in eine einander bedingende Verbindung bringen. Erstens wird, ausgehend von Erziehung als bezüglich ihrer Zielvorstellungen an Gesellschaft und Kultur orientiert, die Förderung von Subjektivität als Selbstbestimmung oder Autonomie als ihr wichtigstes und sie legitimierendes Ziel bestimmt. Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung wird zum Kriterium von Erziehungserfolg bestimmt. Der in ›erfolgreicher Erziehung‹ geformte Zögling ist ein Individuum, welches über seine Lebensbedingungen verfügt, sein Leben kontrollieren und regeln kann. In dieser normativen Erhebung von Autonomie zum selbstverständlichen ›Erziehungsziel‹ wird empirisch, epistemologisch und moralisch die Möglichkeit eines selbständigen, primär sich selbst verpflichteten Individuums vorausgesetzt. Zugleich spricht Winkler auch von »der Verbindlichkeit von Gesellschaft und Kultur« und sagt über diese: »Auf sie stoßen wir, an ihnen stoßen wir uns, ihnen können wir uns nicht entziehen«. Sie bilden ein »Feld der Möglichkeiten, die wahrgenommen werden müssen und über die Entscheidungen stattfinden.« 20 Bezeichnenderweise werden offenbar im Zusammenhang mit Erziehung Projektionen zulässig, die in anderen Zusammenhängen als unrealistische Träumereien abgelehnt würden. Wie viele erwachsene Personen würden die Erfahrung ihrer Lebenssituationen mit Verben wie »verfügen, kontrollieren und regeln« beschreiben? Und warum, wenn es im Leben nicht so sehr um Verfügung und Kontrolle geht, erhoffen wir uns für den Nachwuchs, mittels Erziehung, solches zu erreichen, was intuitiv bestimmt nicht eindeutig ist, oder nur selten eigenen Erfahrungen entspricht? Falls Utopie vital ist für Erziehung, was macht sie zulässig? Wenn sich eine problematisierende Handhabung von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung an solche Fragestellungen an19 20

Winkler, 2006, 180 (meine Kursivierung) Winkler, 2006, 184

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Einleitung

lehnt, wäre eine integrierte Sichtweise zwischen Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung verlangt. Winklers Argumentation kann als Verweis darauf gedeutet werden, dass normativ ethisch und pädagogisch nicht mehr sosehr die Frage nach der Quantität der Gemeinschaftlichkeit als Ausdruck der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte 21 interessiert, sondern in ihrer Fortsetzung vielmehr eine kritisch-konstruktiv ausgerichtete Frage nach den qualitativen Eigenschaften von Individualität in Relationalität als bedingend für Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung gefordert ist. Eine solche Fragestellung ist – und das wird in der Fortsetzung der Ansatz dieser Arbeit vielfach zeigen – angereichert mit einer Normativität, die sich im Zusammenhang mit Autonomie sowohl pädagogisch wie philosophisch artikuliert. Zusammenhängend damit ist hier vorausgreifend festzuhalten, dass angesichts dieser Art normativer Fragen der Anspruch, den eine Arbeit wie die vorliegende machen kann, bescheiden sein muss. Es kann nicht um endgültige Antworten gehen. Vielmehr versteht sich diese Arbeit als Beitrag zu einem fortlaufenden Diskurs zur Normativität von Erziehung und ihren Zielvorstellungen in sich ständig wandelnden Umständen und Herausforderungen.

1.3 Aufgabe, Methode, Begriffe

1.3.1 Problemformulierung und methodische Standortbestimmung Die Überlegungen oben sollten in die für diese Arbeit übergreifende Frage nach legitimer Normativität von Erziehung als exemplifiziert an dem Verhältnis zwischen Autonomie und Erziehung in einem spätmodernen Kontext einführen. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zu der Diskussion, welche ethischen Kriterien legitimer Erziehung zugrunde gelegt werden könnten. Was aus ethischer Perspektive interessiert ist die normative Frage nach ethischen Kriterien, anhand derer legitime Erziehung bestimmt werden kann. Autonomie müsste Im Sinne von Binders Frage: »Wieviel Gemeinschaft braucht die Erziehung?« (Binder, 2003)

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Aufgabe, Methode, Begriffe

als moralphilosophisches Ideal und als moralpädagogische Zielvorstellung innerhalb moderner Wertungen eine solche Funktion zugeschrieben werden. Damit wird die Frage aktualisiert, inwiefern innerhalb spätmoderner Konturen Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung eine legitimierende Funktion für Erziehung zukommen kann.

1.3.2 Autonomie als Schlüsselbegriff im modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigma Als entscheidendes Kriterium zur Bestimmung und Abgrenzung legitimer Erziehung kommt Autonomie im Rahmen einer modernen Tradition eine normierende Funktion zu. Erziehung, so die Argumentation, wird als legitim betrachtet insofern sie Autonomie fördert. Anhand der Zielvorstellung Autonomie wird Erziehung (als intentionales Einwirken einer mächtigeren, mündigen Person oder Institution gegenüber einer abhängigen, unmündigen Person) zugleich als notwendig »zur Menschwerdung«22 begründet und abgegrenzt von illegitimer Indoktrination oder Machtausübung. 23 Autonomie kommt somit eine 22 von Oettingen, 2003. Die Bedeutung des Begriffes ›Mündigkeit‹ in der deutschen Pädagogik ist ausführlich dargestellt worden von Rieger-Ladich, 2002. Gemäß Kant ist der Mensch das einzige Wesen, welches erzogen werden muss, denn »er ist nichts was nicht Erziehung aus ihm macht«. (Kant, 1803, 7, 9) Es geht bei Erziehung darum, den Menschen seiner eigentlichen Bestimmung als vernünftiges und damit autonomes Wesen zuzuführen. (Kant 1961, 1984; Siehe Kapitel 4.) Zum Text Über Pädagogik (Kant, 1803) muss hier erwähnt werden, dass er im Jahr 1803 von Theodor Friedrich Rink im Namen Kants herausgegeben wurde. Die Authentizität dieses Texts ist umstritten. Es ist unklar, welche Texte Rink zur Verfügung standen. (Meyer-Drawe, 2004, 49) Nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch erscheint Über Pädagogik als teilweise abweichend vom übrigen Werk Kants. Über Pädagogik beschäftigt sich kaum mit allgemein pädagogischen oder moralpädagogischen Fragen im Zusammenhang mit Kants ethischer und philosophischer Begrifflichkeit, sondern behandelt mehr didaktisch orientierte Fragen zum Umgang mit Kindern. So wird beispielsweise die Nützlichkeit verschiedener Spiele, oder die Schädlichkeit von Kinderwiegen diskutiert. 23 Ofstad, 1990, 42–53 24 Dies ist allerdings keine Aussage, die geschichtlich allgemeingültige Ansprüche machen kann. Geschichte der Kindheit und der Erziehung weist darauf hin, dass von Erziehung zu Autonomie als durchgreifende Praxis kaum die Rede sein kann. Insofern als Autonomie als Ideal in Theorie philosophisch, gesellschaftstheoretisch und auch pädagogisch seit der Aufklärungszeit artikuliert worden ist, kann kaum behauptet werden, dass sie Erziehungspraxis als moralpädagogische Zielvorstellung nachhaltig geprägt hätte. (Siehe Oelkers, 2008. Wie war Erziehung früher? Vortrag an der Tagung ›Ist gute

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zentrale Funktion für das Verständnis von Erziehung und Erziehungstheorie zu. 24 Die Vorstellung, dass Autonomie Erziehung zugleich bedinge und legitimiere, bezeichne ich als das moderne moralpädagogische Legitimitätsparadigma. Es basiert auf der These, Erziehung sei insofern legitim oder berechtigt als sie sich der Zielvorstellung Autonomie verschreibe. Freiheit darf demgemäß legitimerweise begrenzt werden, insofern als diese Einschränkung als Freiheit fördernd oder schaffend betrachtet werden kann. In der Folge ist ein (scheinbar selbstverständlicher) legitimierender Zusammenhang zwischen Erziehung und Autonomie angenommen worden. Die normative Verknüpfung zwischen Autonomie und Erziehung ist innerhalb des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas aber aus pädagogischer Sicht zugleich von einem paradoxen Verhältnis gekennzeichnet. Einerseits hat Autonomie in der Moderne aufgrund seines Status als generelle Zielvorstellung bedingende und legitimierende Funktion im Bezug auf Erziehung. Davon abhängig entsteht andererseits ein paradox erscheinendes Verhältnis zwischen Erziehung und Autonomie. Zur Förderung der Zielvorstellung Autonomie wird Freiheit begrenzende moralpädagogische Praxis als Ausdruck eines (vorübergehend) bevormundenden Anspruches notwendig. Feinberg drückt es so aus: »Respect for the child’s future autonomy, as an adult, often requires preventing his free choice now.« 25 Dies bezeichnet das pädagogische Paradox. Das pädagogische Paradox umfasst zwei Aspekte. Erstens ist mit dem Paradox die Frage angesprochen, wie durch teilweise Entmündigung ›bemündigt‹ werden kann? Es geht um die pädagogisch-didaktische Frage nach dem ›Wie‹ der Erziehung, nach ihrem Mechanismus, nach ihren kausalen Funktionen und Prinzipien. Dass im Fall moralischer Erziehung diese Mechanismen und Funktionsweisen sich nur Erziehung lernbar?‹ 7. Juni 2008, Universität Zürich www.paed.uzh.ch/ap/home/vor traege. Zugriff am 14. Oktober 2008.) Es geht also um eine philosophische Aussage, die sich anhand einer modernen Begrifflichkeit und Normativität artikuliert. Die Zuschreibung einer zentralen Funktion zu Autonomie für Erziehung soll auch nicht als Postulat aufgefasst werden, Autonomie habe im Vergleich zu anderen Zielvorstellungen die Position eines Grundwertes. Der Fokus auf Autonomie in dieser Arbeit ist durch die untersuchte Legitimitätsfrage motiviert. Damit ist aber nicht gesagt, dass andere moralpädagogische Zielvorstellungen weniger bedeutungsvoll oder weniger problematisch wären. Auch von einer Diskussion der moralphilosophischen Frage, wie sich Autonomie zu anderen Idealen verhält, wird hier abgesehen. 25 Feinberg, 2007, 113

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Aufgabe, Methode, Begriffe

als äußerst komplexe und undurchsichtige Zusammenhänge darstellen, so eine zentrale Annahme dieser Arbeit, ist von Bedeutung für die normative Bestimmung und Begründung von Erziehung, sowie ihrer vorgestellten und beanspruchten Zielvorstellungen. Die pädagogische ›Wie-Frage‹ hat zweitens ihre Entsprechung in einer Legitimitätsfrage. Wie kann Erziehung, wenn sie übergreifend auf Selbständigkeit oder Autonomie abzielen soll, als Freiheit einschränkende Kontrollausübung gerechtfertigt werden? Diese letztere Frage thematisiert die Normativität von Erziehung und verlangt nach pädagogischen und moralphilosophischen Antworten. In moderner pädagogischer und philosophischer Theorie zu Erziehung steht das pädagogische Paradox im Zentrum der Legitimitätsfrage. Unter dem Vorzeichen eines Freiheitsideals, ausgedrückt als Streben nach individueller Autonomie, erscheint demgemäß Erziehung als legitim insofern als sie auf Autonomie des zu erziehenden Individuums ausgerichtet ist. Diese legitimierende Funktion, die damit dem Begriff Autonomie zukommt, ist von Gewicht, weil das Unterfangen zu erziehen als Freiheit begrenzende Praxis betrachtet und so als paradox erscheint. Anhand des pädagogischen Paradoxes artikuliert sich also ein Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Erziehung. Diese Arbeit soll die legitimierende Funktion von Autonomie für Erziehung untersuchen und problematisieren. Dabei soll das pädagogische Paradox nicht als zu überwindende oder zu lösende Widersprüchlichkeit und auch nicht als ethisches Problem in einem engeren Sinne, 26 sondern als Ausdruck einer Komplexität, die es in eine ethische Legitimität von Erziehung einzubeziehen gilt, verstanden werden. Nicht im pädagogischen Paradox an sich, sondern in der vielseitigen und ein26 Ein solches würde das pädagogische Paradox nur darstellen, wenn mit Autonomie ausschließlich Mills Freiheitsideal gemeint wäre. Mill spricht selber von »liberty« und »freedom«, kaum jedoch von Autonomie, vermutlich, um sich von Kant, demgegenüber Mill kritisch ist, abzugrenzen. Dennoch kann in seinem Werk On liberty, ein Autonomieideal herausgelesen werden. Dieses definiert Autonomie als ein Recht jeden Individuums, frei zu handeln, mit der Einschränkung, dass damit nicht die Handlungsfreiheit anderer Individuen eingeschränkt werden darf. (Mill, 1859, 68) Abgesehen davon, wie brauchbar Mills Konzept ist, ist Autonomie in einer ausschließlich rechtlichen und gesellschaftstheoretisch gefassten Perspektive nicht relevant für die Aufgabe dieser Arbeit. Denn es geht bei Mill nicht um Fähigkeiten, sondern, wie Juth es treffend formuliert, darum, »die Grenzen einer Privatsphäre abzustecken, innerhalb welche niemand eindringen darf, was uns idealerweise die Möglichkeit gibt, unsere Pläne zu verwirklichen.« (Juth, 2005, 393–395, meine Übersetzung. Siehe auch O’Neill, 2002, 29–34.)

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schneidenden Kritik, welche am Begriff der Autonomie in post- und spätmoderner Theorie enthalten ist, konstituiert sich somit die Problematik, welcher ich mich in dieser Arbeit annehme. Wenn in der Folge der Kritik am Begriff der Autonomie dieser in seiner Definition unklar wird, entsteht darin eine Begründungsproblematik. 27 Zentral an der Kritik, welcher der moderne Autonomiebegriff ausgesetzt ist, ist eine Problematisierung der Definition von Autonomie als Gegenüber von Heteronomie oder Dependenz. Autonomie als gekennzeichnet durch Loslösung und als Gegensatz zu kontextuellen, relationalen und mentalen Abhängigkeiten verschiedener Art, wird von diversen Theoretikern als unrealistische anthropologische Kategorie betrachtet und daher als unattraktives Ideal verworfen. Wie die Besprechung verschiedener Theoretiker in dieser Arbeit zeigen soll, sind Konzeptualisierungen von Autonomie innerhalb von Dependenz auf verschiedene Weisen gestaltet. Die Aufgabe dieser Arbeit ist es somit, die legitimierende Funktion von Autonomie in Erziehung, wie im modernen moralpädagogischen Paradigma etabliert, unter Berücksichtigung spät- oder postmoderner Verständnisse von Autonomie zu beleuchten und zu problematisieren. Dabei wird Fokus auf Möglichkeiten, Autonomie nicht gegenüber, sondern innerhalb von Dependenz zu konzeptualisieren, gelegt. Dies gilt es in der Folge ethisch zu diskutieren. Somit beschäftigt sich die Arbeit mit der Frage, inwiefern Erziehung durch Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung legitimiert werden kann. Damit zusammenhängend ist auch die Frage, wie Autonomie als legitime moralpädagogische Zielvorstellung bestimmt und begründet werden kann. 28

1.3.3 Ethik mit Werten in Funktion Mit dem Interesse für die Legitimitätsfrage hinsichtlich von Erziehung (mit Zielvorstellung Autonomie) zusammenhängend ist in Umkehrung auch eine Legitimitätsfrage, die mit jeder normativen Betrach»Lack of a precise understanding of the concept of autonomy makes it hard to explain why autonomy is, in several respects, a goal.« (Levinsson, 2008, 107) 28 Dass die beiden Fragen miteinander zusammenhängen, wird in Kapitel 2 mit Hinweis auf ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster dargelegt. Innerhalb eines solchen sind Erziehung als Anspruch und moralpädagogische Zielvorstellung in Abstimmung miteinander zu bestimmen und zu begründen. 27

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tung ethischer Werte verknüpft ist. Metaethisch geht es um die Frage nach der Legitimität von Autonomie als ethischer Wert oder als moralphilosophisches Ideal. Inwiefern und warum ist Autonomie ein wünschenswertes Ideal oder als Kompetenz eine erstrebenswerte Kapazität? Insofern als die Frage nach Autonomie als Erziehung legitimierende Zielvorstellung behandelt wird, versteht sich die vorliegende Arbeit auch als Beitrag zur Diskussion um eine legitime Begründung und Bestimmung von Autonomie. Wegleitend dabei ist eine Verpflichtung zu einem Funktionalitätskriterium für ethische Werte. Es geht um Autonomie als funktionalem Wert. Indem die Frage nach der Bestimmung und Begründung von Autonomie via den Zugang durch die moralpädagogischen Fragen nach legitimer Erziehung angegangen wird, wird ein philosophischer Begriff von einem Interesse für seine Funktion, seine Signifikanz für einen partikularen Problembereich thematisiert. Somit wird der Erfahrung einer partikularen Problematik, wie hier jener der Erziehung, entscheidende Bedeutung zur Bestimmung eines philosophischen Begriffes zugemessen. Es geht darum, dass ein ethischer Wert funktional definiert und begründet wird, anhand des grundlegenden Kriteriums, ob ein ethischer Wert sich funktional bewähren kann angesichts der Bedingungen einer partikularen Problematik. Eine funktionale Bewährung kommt dabei der Forderung gleich, dass ein ethischer Wert in Abstimmung mit strukturellen und normativen Voraussetzungen des aktuellen Problembereichs bestimmt wird. Dies soll als alternativer Zugang zu einem Verständnis von ethischen Werten innerhalb hierarchischer Ordnungen verstanden werden. Autonomie wird in liberalen Kontexten oft als einem unantastbaren Wertegrund zugehörig verstanden. Benhabibs Argumentation im Zusammenhang mit Autonomie im Verhältnis zu kulturellem Pluralismus illustriert diesen unantastbaren Stellenwert, den Autonomie als Grundwert einnimmt: »If culture is valuable from the standpoint of political liberalism because it enables a meaningful range of choices in the conduct of our lives and because it forms the horizon for developing a life-plan in the first place, then objectively there is no basis for deciding among national cultures or ethnic cultures, the cultures of religious groups, or those of social movements. (…) If the right to culture derives from individual autonomy, then no differentiation can be

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Benhabib, 1999, 55

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Einleitung

allowed among the value or worth of those cultures except as expressed through the activities of individuals.« 29

Benhabibs Sichtweise impliziert, dass individueller Autonomie (hier als legitimierender Wert im Verhältnis zu kultureller Vielfalt, respektive zu Pluralismus als der positiven Wertung desselben) der Stellenwert eines Grundwertes zugeschrieben wird. Im Verhältnis zu Autonomie, hier verstanden als Grundwert, ist Pluralismus sekundär. Dies setzt eine zweifache hierarchische Ordnung im Zusammenhang mit ethischen Werten voraus. Hierarchien bezüglich ethischer Werte sind aber, wie im Folgenden argumentiert wird, problematisch, weil sie das Problem normativer Beliebigkeit nicht befriedigend zu lösen vermögen. Im Sinne einer kurzgefassten ethischen Standortbestimmung soll nachstehend erstens diese zweifache hierarchische Ordnung diskutiert werden. Anhand dreier Verständnisse des Begriffes ›Grundwerte‹ wird insbesondere auf die darin enthaltene Problematik einer unüberwundenen normativen Beliebigkeit hingewiesen. Zweitens wird dann in die methodische Umsetzung des Begriffes funktionaler Werte, wie in der Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit angewandt, eingeführt. Eine erste hierarchische Ordnung ist enthalten in der Art und Weise, wie gewöhnlicherweise die Begriffe Moral – Ethik – Metaethik verstanden und voneinander unterschieden werden. Es gilt zu betonen, dass nicht die inhaltlichen Definitionen dieses common sense-Gebrauchs der Begriffe in Frage gestellt oder für den Zweck der Arbeit modifiziert werden sollen. Vielmehr geht es darum, ausgehend von dem allgemeinen Verständnis und Gebrauch der Begriffe, die Art und Weise, wie sie aufeinander bezogen sind, zu diskutieren. Moral wird gewöhnlich verstanden als Bereich der alltäglichen Entscheidung in der Praxis, mit einer wertenden Dimension. ›Darüber‹ liegt die Ethik, als theoretische Reflexion über Moral, und ›zuoberst‹, oder darüber erhoben, die Metaethik, bestehend aus einer Begrifflichkeit und aus Theorien, welche sich mit Fragen der Legitimität (der anderen beiden Ebenen) befassen. Die Metapher ›übereinander‹ geschichteter Ebenen zwingt die ethische Argumentation in eine rigide, eindimensionale ›Auf- und Ab- Bewegung‹, egal, ob der Vorzug der deduktiven oder induktiven Argumentationsrichtung gegeben wird. Eindimensional verbleibt die Argumentation selbst dann, wenn, wie etwa im Bestreben, ein reflexives Equilibrium zu erreichen, zugleich in beide Richtun26 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Aufgabe, Methode, Begriffe

gen argumentiert wird. Dieser hierarchischen Ordnung entlang einer eindimensional vermuteten Skala zwischen Partikularem und Abstraktem liegt eine vereinfachende Unterscheidung zwischen Praxis und Theorie zugrunde. Die Einführung eines Funktionskriteriums verlangt nicht eine Aufhebung dieser Unterscheidung, aber eine umfassende Integration der Ebenen, die dann, ihrer hierarchischen Ordnung enthoben, nicht mehr als sozusagen aufeinander gestapelte Ebenen gehandhabt werden können, sondern vielmehr als verschiedene Perspektiven zu gelten haben. Die zweite angesprochene, hierarchische Ordnung betrifft eine Ordnung innerhalb ethischer Werte. Wenn von ›Wertegrund‹ oder ›Grundwerten‹ die Rede ist, dann fragt sich, was für ein ›Grund‹ damit beansprucht wird. Drei mögliche und gewöhnlich vorkommende Verständnisse mit je verschiedenen Distinktionen sollen aufgegriffen und kurz diskutiert werden. Ein erstes Verständnis entspricht der Idee, Grundwerte seien universelle Werte. Als solche werden sie angenommen als eine Teilmenge von Werten, die sich dadurch auszeichnen, dass sie unbeeinflusst von partikularen Verhältnissen historischer Entwicklungen oder kultureller Pluralität sind. Angesichts zunehmender Pluralität und wachsendem Pluralismus ist der Anspruch auf universelle Werte stark kritisiert worden. Autonomie in diesem Sinne als universellen Wert zu beanspruchen ist, abgesehen davon ob ein solcher Anspruch berechtigt ist oder nicht, wenig fruchtbar. 30 Ein zweites Verständnis von Grundwerten identifiziert diese als so genannte Eigenwerte und ist geknüpft an die Distinktion zwischen in30 Moller Okin argumentiert ähnlich wie Benhabib für Autonomie als liberalem Grundwert. Moller Okin macht allerdings im Unterschied zu Benhabib Autonomie abhängig von einem funktionalen Wert in Bezug auf Gleichberechtigung. Dies setzt allerdings voraus, dass Gleichberechtigung als Wert strukturelle und handlungsbezogene Umsetzung verlangt. Moller Okin weist darauf hin, dass aus einer genustheoretischen Sicht ein Anspruch liberaler Grundwerte als universell gültig, auch im Konflikt mit partikularen kulturellen oder religiösen Kontexten, von entscheidender Bedeutung ist für die Gleichberechtigung von Frauen. (Moller Okin, 2007) Moller Okins Argumentation kann als eine Illustration für die Anwendung funktionaler Werte, wie hier vorgeschlagen, betrachtet werden. Obwohl sie sich selber nicht so ausdrückt, und lediglich dafür argumentiert, dass liberale Grundwerte lokalen, unterdrückenden Wertesystemen übergeordnet werden müssen, ist die Funktion von liberalen Werten ausschlaggebend. Insofern liberale Werte bezüglich anzustrebender Gleichberechtigung (besser) funktionieren, sich also auf das Leben der Frauen verändernd auswirken, sind sie als berechtigt zu betrachten.

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trinsischen und instrumentellen Werten. Diese Distinktion ist theoretischer Art und hat in der praktischen Anwendung von Werten nur eine indirekte Bedeutung. Da ein instrumenteller Wert seine normative Bedeutung nur in Abhängigkeit von intrinsischen Werten erhält, ist in der Anwendung nur der intrinsische Wert ausschlaggebend. Der instrumentelle Wert ist also entweder nur sehr begrenzt beanspruchbar oder für seine Begründung abhängig von einem intrinsischen Wert. Wenn etwa Autonomie als (instrumenteller) Wert legitimiert wird aufgrund der Annahme von Glück oder Menschenwürde als intrinsische Werte, um zwei verschiedene theoretische Orientierungen zu nennen, dann lässt sich die Frage stellen, inwiefern damit Autonomie ausreichend begründet ist, respektive, wie sich entscheiden lässt, ob Glück oder Menschenwürde ausreichend grundlegende Werte zur Begründung von Autonomie sind. Somit ist nicht nur die Unterscheidung zwischen intrinsischen und instrumentellen Werten, sondern auch (oder vor allem) die damit assoziierte Wertung derselben problematisch 31 und stellt kein überzeugendes Werkzeug zur Begründung von Werten dar. Ein drittes Verständnis von Grundwerten, welches in jüngerer Zeit einflussreicher zu werden scheint, postuliert diese als intuitive Werte. Diesem Verständnis liegt die als normierend gewertete Distinktion zwischen intuitiv und kontraintuitiv zugrunde. Sie kann gedeutet werden als zweifache Reaktion innerhalb eines normativ ethischen Diskurses. Einerseits ist die normative Anwendung von Intuition zu verstehen als – durchaus berechtigte – Reaktion auf die Debatte zwischen einer kognitiv ausgerichteten Ethik mit einem einengenden Fokus auf Rationalität, wie etwa bei Kant, und Emotivismus. Während aber die Einführung von Intuition Ausdruck ist für ein Bestreben, eine integrierende Perspektive einzuführen, ist der Begriff der Intuition (weder psychologisch noch philosophisch) genügend geklärt. Andererseits ist die Beanspruchung von Intuition in normativen Stellungnahmen auch als Reaktion gegen eine werteobjektivistische Normativität zu verstehen. Solche sind oft im Rückgriff auf metaphysische Annahmen artikuliert, was oft als unzeitgemäß und schlecht verifizierbar erscheint. Wertesubjektivistische Perspektiven, die Werte also in deren Vorkommnis Diese Argumentation ist relevant auch in Bezug auf die Argumentationsstruktur hierarchischer Theorien von Person und Autonomie. Es wird näher darauf eingegangen in Kapitel 6.

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als faktisch feststellbare Wertungen begründen, sind dann auf eine intuitive Argumentation angewiesen, weil sich darin eine breitere Akzeptanz anzubieten scheint. Es geht um einen common sense, der normierend wird. Grundwerte wären demgemäß normierend, weil sie ›intuitiv‹ richtig erscheinen. Oft ist in Argumentationen wie dieser aber weder ersichtlich, warum etwas als intuitiv richtig, respektive als kontraintuitiv zu werten ist, noch, warum solchen intuitiven Urteilen eine normierende Funktion zugestanden werden soll. Auch hier, vielleicht am deutlichsten von den drei Verständnissen, fällt die Normativität auf ein Problem der Beliebigkeit zurück. Diese kurze Charakterisierung verschiedener Argumentationsweisen im Zusammenhang mit ethischen Grundwerten, sowie den damit vorausgesetzten hierarchischen Ordnungen, sollte der Aufzeichnung darin enthaltener Aporien dienen. Diese stellen sich insbesondere als Problematik einer unüberwundenen Beliebigkeit dar. An ihrer Stelle wird in dieser Arbeit ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster vorgeschlagen. Es kommt zur Anwendung bei der Behandlung der Legitimitätsfrage im Zusammenhang mit Erziehung, welche anhand von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung diskutiert wird. Zugleich wird die Verwendung eines kohärenzorientierten Begründungsmusters auch verstanden als Ausdruck eines Plädoyers für funktionale ethische Werte. Indem – als Ausdruck der Umkehrbarkeit der Aufgabe der Arbeit in zwei Richtungen – Autonomie als ethischer Wert anhand einer partikularen Problematik (nämlich der moralpädagogischen Legitimitätsfrage) diskutiert und bestimmt wird, erhält Autonomie zugleich eine Bestimmung und Begründung als funktionaler Wert. Autonomie wird als ethischer Wert somit in Abhängigkeit von der Funktion, welche er in der Begründung legitimer Erziehung einnimmt, bestimmt – und für den Bereich seiner Gültigkeit auch dadurch begrenzt. In einer solchen Begrenzung ist aber, wie auch Meyer-Drawe festhält, gerade die Möglichkeit zu relevanter Erkenntnis begründet: »Die Anerkennung der Partikularität unseres Zur-Welt-Seins strukturiert eine Erkenntnis vor, die sich nicht wie eine solche mit universalistischem Anspruch über ihre Möglichkeiten täuscht, sondern durch Anerkennung ihrer Grenzen die Bedingungen ihrer Möglichkeit allererst schafft.« 32

Die normierende Bedeutung, welche dabei der Funktion eines Wertes 32

Meyer-Drawe, 1987, 21

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im Verhältnis zu einer partikularen Problematik zugeschrieben wird, soll eine Abhängigkeit normativer Begründung von hierarchischen Ordnungen zugunsten einer Kohärenzorientierung überwinden. Dies bedingt einen Ansatz, welcher Funktionalität zum zentralen Kriterium von Legitimität ernennt und somit, auf epistemologische Annahmen des Pragmatismus 33 zurückgreifend, Autonomie anhand eines Funktionalitätskriteriums in Bezug auf seine Funktion als moralpädagogische Zielvorstellung behandelt. Die Voraussetzungen eines solchen Ansatzes sollen hier kurz anhand einiger Ausführungen von Putnam umrissen werden. Die oben skizzierte Kritik an einem hierarchischen Verständnis von Normativität mit entsprechenden Annahmen zu Grundwerten versteht sich in Analogie zur pragmatischen Absage an einen grundlegenden Wahrheitsbegriff im Sinne von Putnams FestIm Zentrum einer pragmatischen Epistemologie, wie sie sich etwa bei William James und Dewey findet, steht die Frage nach dem »praktischen Unterschied« (»practical difference«), welcher durch verschiedene Konzeptualisierungen erreicht wird. (James, 1997, 94–95) Am Problemlösungspotential von Wissen entscheidet sich dessen Wert und Wahrheitsgehalt. James nennt dies »the ›instrumental‹ view of truth«. Er schreibt: »Any idea upon which we can ride, so to speak; any idea that will carry us prosperously from any one part of our experience to any other part, linking things satisfactorily, working securely, simplifying, saving labor; is true for just so much, true in so far forth, true instrumentally.« (James, 1997, 100) Die Signifikanz von Ideen liegt – auf Negativität bezogen – bei James in der Folge darin begründet, dass diese dazu beitragen, Handlungen »durch Schwierigkeiten, Enttäuschungen oder Irrtümer (zu) leiten.« (English, 2005, 54) Dewey beschreibt Wissen als eine Handlung (»knowledge as an act«) und ernennt dabei Kontinuität zwischen Wissen und modifizierender Interaktion mit der Umgebung zum wesentlichen Kriterium für Wissen. Somit ist Wissen »intellektuelle Ressource«, die Handlung intelligent macht. (Dewey, 2004, 329–330) Philosophisches Wissen als »Theorie genereller Realität« (»theory of Reality in general«) ist, wie Dewey emphatisch festhält, für Pragmatismus weder »möglich noch nötig«. (Dewey, 1997, 222) Hier treten die epistemologische und die ethische Frage in Verbindung miteinander auf. Letzteres, d. h. eine fehlende Notwendigkeit eines Anspruchs von Wissen als ›real‹, ist für den ethischen Zusammenhang und die Frage nach funktionalen Werten von Gewicht. 34 Putnam, 1997, 341. Putnams Argument kreist um den Begriff »rational acceptability«. Er betrachtet die ›Wirklichkeit‹ als abhängig von den Kriterien dessen, was als rational akzeptierbar angenommen wird. Damit zeichnet er ein Bild, in welchem ›Wirklichkeit‹ abhängig ist von Werten, und umgekehrt. »We use our criteria of rational acceptability to build up a theoretical picture of the ›empirical world‹ and then as that picture develops we revise our very criteria of rational acceptability in the light of that picture and so on and so on forever. (…) What I am saying is that we must have criteria of rational acceptability to even have an empirical world, that these reveal part of our notion of an optimal speculative intelligence.« (Putnam, 1997, 346) 33

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Aufgabe, Methode, Begriffe

stellung »truth is not the bottom line«. 34 Putnam wendet sich gegen ein dichotomes Verhältnis zwischen ›Fakten‹ und ›Werten‹ und fordert für beide eine Kritik mit rationalen Standards. 35 Seine Sichtweise impliziert eine Verflechtung empirischer und wertender Aspekte. Ihnen ist aus einer ethischen Perspektive Rechnung zu tragen durch Konzepte und Werte, die sich um eine adäquate Widerspiegelung empirischer und wertender Aspekte bemühen. Das pragmatische Kriterium der Nützlichkeit oder Brauchbarkeit zur Bewertung von Konzepten oder Werten entspringt dieser Bemühung, der Verflechtung empirischer und normativer Aspekte gerecht zu werden. Putnam beschreibt die Legitimität moralphilosophischer Konzepte als abhängig von deren Erfolg als Instrumente zur Beschreibung und Generalisierung: »Concepts are used in observation and generalization, and are themselves made legitimate by the success we have in using them to describe and generalize.« 36 Putnam betont, sich auf Dewey berufend, dass eine pragmatische Sichtweise von Werten nicht als Reduktion zu Relativismus oder purem Wertesubjektivismus aufgefasst werden soll. Wertungen, so Putnam, die ständig und untrennbar Handlungen begleiten, werden evaluiert durch »intelligente Reflexion über unsere Wertungen«. Damit ist eine Unterscheidung in berechtigte und unberechtigte Wertungen zulässig und essentiell. 37 Putnam übernimmt mit Hinweis auf Dewey eine Sichtweise, die einer Absage an ontologische Letztbegründungsversuche einerseits und einer Zusage an die Forderung nach Kriterien rationaler Transparenz für ethische Werte andererseits gleichkommt. Er schreibt: »There is no recognition transcendent truth here; we need no better ground for treating ›value judgments‹ as capable of truth and falsity than the fact that we can and do treat them as capable of warranted assertibility and warranted deniability.« 38

So wird ethischen Werten ein objektiv oder ontologisch abgesicherter Grund vorenthalten, nicht jedoch ein ›Grund‹ rationaler Kritik. Viel35 »(…) it is necessary to have standards of rational acceptability in order to have a world at all; either a world of ›empirical facts‹ or a world of ›value facts‹ (a world in which there is beauty and tragedy).« (Putnam, 1997, 360) 36 Putnam, 1997, 354 (meine Kursivierung) 37 Putnam, 2002, 103 38 Putnam, 2002, 110 (meine Kursivierung)

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Einleitung

mehr wird dem Umstand, dass wir ethische Werte offenbar als kritischer Reflexion zugängliche Objekte behandeln, Rechnung tragend, rationale Zugänglichkeit (als ›Grund‹) zum konstitutiven Aspekt gemacht. Insofern geht es nicht um einen (hierarchisch definierten und als unbeweglich aufgefassten) ›Grund‹, sondern um integrierte Prämissen rationaler Zugänglichkeit. Putnam spricht von einer »democratization of inquiry«. 39 Mein Ansatz mit dem Fokus auf Autonomie als funktionalem Wert knüpft an diese pragmatischen Ideen der Nützlichkeit, bzw. Brauchbarkeit als Kriterium an. Indem Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung im Rahmen einer ethischen Studie diskutiert wird, sind die philosophischen Konzeptualisierungen des Begriffes Autonomie im Dialog mit den normativen Rahmenbedingungen, wie sie konstituiert sind in den empirischen Bedingungen von Erziehung (als Erfahrung) zu erörtern. Der Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte (in den Kapiteln 4–6) geht darum eine Diskussion von Erziehung aus ethischer Perspektive voraus. Sowohl die Erarbeitung der moralpädagogischen Legitimitätsfrage (Kapitel 2) wie die evaluierende Charakterisierung der Normativität von Erziehung, d. h. eine Darstellung von Erziehung als Anspruch (Kapitel 3), bilden das argumentative und normierende Raster der funktionalen Bedingungen, anhand welcher die Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung dann vorgenommen wird. Während der Begriff ›instrumenteller Wert‹, wie oben kurz dargelegt, oft mit hierarchischen Ordnungen assoziiert ist, soll der hier verwendete Begriff ›funktionaler Wert‹, als Hinweis auf einen Dialog mit koordinierten und integrierten Argumentationen innerhalb eines kohärenzorientierten Begründungsmusters verstanden werden. Somit geht es – in pragmatischer Weise – um eine Ersetzung von Hierarchie durch Kohärenz. Indem Autonomie als funktionaler Wert bestimmt und begründet wird – im Rahmen dieser Arbeit im Dialog mit moralpädagogischen Voraussetzungen von Erziehung – geht es um einen integrierenden Ansatz, der versucht, Praxis und Theorie als gleichgestellte Perspektiven aufeinander zuzuführen. Diese Aufgabe bedingt einen interdisziplinären Ansatz mit einer Argumentation, die sich insofern als wechselseitig versteht, als Pädagogik und Philosophie aus der Perspektive der ethischen Fragestellung 39

Putnam, 2002, 110

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Aufgabe, Methode, Begriffe

gegenseitig aufeinander bezogen werden. Pädagogische Annahmen zu Erziehung und moralphilosophische Vorstellungen oder Konzepte von Autonomie sollen in ihrem Bezug aufeinander diskutiert werden. Verschiedene moralphilosophische Bestimmungen von Autonomie sollen besprochen und problematisiert, im Zusammenhang mit moralpädagogischen Fragestellungen gebracht und evaluiert werden. Die moralphilosophische Frage nach einem plausiblen Verständnis von Autonomie ist in dieser Arbeit in Verbindung mit der moralpädagogischen Frage nach Erziehung, sowie der ethischen Frage nach deren Legitimität angesprochen. Somit führt die Frage nach ethischen Kriterien legitimer Erziehung einen Ansatz mit sich, welcher philosophische Konzepte in Verbindung mit Pädagogik als einer praxisbezogenen Theorie bringt. Umgekehrt wird durch die Frage nach der Normativität eine pädagogische Problematik aber auch auf ihre Beständigkeit angesichts einer philosophischen Begrifflichkeit und Theoriebildung hin studiert. Diese Argumentationsweise ist bedingt durch das kohärenzorientierte Begründungsmuster, welches in Kapitel 2 vorgeschlagen und begründet wird. Die Arbeit widmet sich somit im Rahmen der oben formulierten Aufgabe einer Reihe von Fragen, die als ineinander verschränkt behandelt werden: Welche Art von Autonomiekonzept ist moralisch sinnvoll oder ethisch legitimierbar? Wie soll Autonomie als Zielvorstellung gefasst und gestaltet werden? Welche Bedeutung kommt Autonomie in Erziehungstheorie zu? Zentral muss dabei aus pädagogischer Sicht auch die Frage sein, wie ein Autonomiekonzept, welches Autonomie innerhalb von Dependenz fasst, die notwendige Abgrenzung zwischen Erziehung und Indoktrination weiterhin garantieren kann. Zu diesem Zweck sollen verschiedene Autonomiekonzepte besprochen und auf die moralpädagogische Fragestellung der Legitimität von Erziehung bezogen werden. Mit der Frage nach der Bestimmung von Autonomie setzt die Aufgabe der Arbeit an der Kritik an, die aus verschiedenen Perspektiven gegen diesen der Aufklärungsphilosophie entsprungenen Begriff gerichtet worden ist. Diese Kritik grundlegend ernst nehmend soll von dem spezifischen Interesse für die moralpädagogische Funktion von Autonomie her gefragt werden nach ethisch plausiblen Anhaltspunkten für eine Bestimmung von Autonomie, die insofern postmodern ist, als sie die problematischen Aspekte des modernen Begriffes Autonomie zu berücksichtigen und überwinden sucht. Als ethisch plausibel in Bezug auf eine moralpädagogische Funktion wird Autonomie innerhalb von Dependenz vorgeschlagen, wobei 33 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Einleitung

diese vorerst grobe Positionierung dann verfeinert werden soll. Es geht demgemäß, bedingt durch die moralpädagogische Frage nach legitimer Erziehung, darum, ethisch begründbare, qualitative Kennzeichen oder Komponenten von Autonomie als Kompetenz vorzuschlagen. Es geht um eine Aufgabe, die sich methodisch hauptsächlich in drei Aktivitäten gliedern lässt: Analyse und Interpretation von Theorien und Konzepten zu Autonomie und zu Erziehung; Problematisieren anhand ethischer Fragestellungen zu Autonomie und Erziehung; konstruktives (Re-)Konzeptualisieren von Autonomie als legitimierende moralpädagogische Zielvorstellung. Diese methodischen Zugriffe werden in der Arbeit nicht systematisch auseinander gehalten und nacheinander vorgenommen, auch wenn verschiedene Teile oder Textabschnitte mehr oder weniger deutlich von einer oder mehreren dieser Aktivitäten geprägt sind. Meist handelt es sich jedoch um eine Verflechtung von Analyse und Interpretation, Problematisierung und (Re-)Konzeptualisierung innerhalb einer zusammengehaltenen Argumentation. Die Arbeitsweise soll in einem hermeneutischen Sinne verstanden werden, als interpretierend vor einem gewissen Verständnishorizont. In einem weiteren Sinne ist dieser Verständnishorizont als westweltlich und spätmodern zu verstehen. In einem engeren Sinne ist der Verständnishorizont dieser Arbeit einerseits durch die Auswahl der gewählten Konzepte und Theorien, andererseits durch die Begriffsbestimmungen im Zusammenhang mit den verwendeten Begriffen bestimmt. Damit muss auch der Anspruch der Arbeit als begrenzt durch die gewählte Perspektive als eine unter mehreren möglichen verstanden werden. Die normativen Intentionen der Arbeit sind also nicht in einem absoluten oder universellen Sinne, sondern als kontextuell geprägt und begrenzt und als Beitrag in einem fortlaufenden Diskurs zu verstehen. Es kann darum bei der Bestimmung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung auch nicht um eine letztbegründete Bestimmung gehen. Vielmehr geht es beim Anspruch der Argumentation dieser Arbeit, im Sinne Taylors um »interpretierende Plausibilität« als genügendes Kriterium. 40 Dies bedingt auch, dass die Kritik und der konstruktive Beitrag sich als Beitrag einer fortwährend zu führen»As for any hermeneutic explanation, interpretive plausibility is the ultimate criterion.« (Taylor, 1985a, 7) 41 Meyer-Drawe, 1990, 4. Meyer-Drawe warnt vor verdeckten Exzessen bezüglich nor40

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Aufgabe, Methode, Begriffe

den Diskussion verstehen. Als solcher ist er zu verstehen als Beitrag, der »den Keim der Widerlegung unablässig in sich trägt«. 41 Als Konsequenz dessen erfolgt eine Arbeitsweise, in welcher Inhalt und Methode sich in einem Verhältnis gegenseitiger Verschränkung befinden. Da es um die Wahl, Problematisierung, Bestimmung und Begründung von Theorien, Begriffen und Konzepten geht, ist die dabei angewandte Methodik immer auch schon inhaltlich angereichert. Anders ausgedrückt, lässt sich die in der Arbeit angewandte Methode nicht losgelöst von den inhaltlichen Bestimmungen der angewandten Begriffe beschreiben. Darum müssen den methodischen Bemerkungen die damit verbundenen, inhaltlichen Festlegungen als Vorbemerkungen vorangestellt werden. Die Arbeit versteht sich als eine normativ ethische Studie von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung in einem pluralistischen Kontext. Die konstruktive Bestimmung und normative Begründung des Begriffes Autonomie als Zielvorstellung stützt sich auf eine kritische Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte einerseits, und ethisch relevanter Aspekte verschiedener Sichtweisen zu Erziehung andererseits. Der ethische Fokus der Arbeit muss dabei sorgfältig unterschieden werden von der (moral)pädagogischen Diskussion von Autonomie. Letztere spielt für die inhaltliche Bestimmung und Begründung von Autonomie als Zielvorstellung eine zentrale Rolle, ist aber nicht primäres Ziel der Arbeit. Mit der Bezeichnung der Studie als normativ ethisch soll dabei einerseits eine Abgrenzung von Fragen mativer Ansprüche: »Die imperiale Geste tarnt sich in vielerlei Weise: Sie gibt vor, dem Unmittelbaren am nächsten zu kommen. Sie triumphiert mit der Behauptung, den besten Überblick zu haben. Sie verheißt Schutz vor dem Zufälligen wie vor dem Unberechenbaren. Sie stellt in Aussicht, den Anfang dingfest machen und das Ende präzisieren zu können. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Ansprüche stets als Prätentionen.« (Meyer-Drawe, 1990, 41–42) Insofern als sich Inhalt und Argumentation dieser Arbeit auf einer überwiegend theoretischen Ebene bewegen, ist die Gefahr, den Eindruck solcher ›imperialer Gesten‹ nicht zu unterschätzen. Indem hier aber festgehalten wird, dass sich die Arbeit als ein Beitrag unter anderen versteht, ist hoffentlich ausreichend klargestellt, dass keine Ansprüche genereller oder gar universalistischer Art gemacht werden. 42 Dazu wird auch die pädagogische Frage des durch den modernen Begriff der Autonomie ausgelösten pädagogischen Paradoxes (die Erreichung von Freiheit durch Zwang) gezählt, die also in dieser Arbeit nicht behandelt wird. Ebenso wenig geht es um die gleichfalls pädagogische Frage nach Autonomie als ›ethischem Regulativ‹ von Erziehung. Diese beiden Fragen verlangen nach Antworten im Sinne pädagogischer Richtlinien. (Siehe dazu beispielsweise Zirfas, 2004, 154–159, 163)

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Einleitung

des pädagogischen ›Wie‹ der Erziehung angezeigt werden. 42 Andererseits soll die Arbeit situiert werden innerhalb eines normativen Diskurses, in welchem Autonomie als Wert, bzw. als Ideal behandelt wird. Die Fragestellung der Arbeit impliziert dabei nicht nur eine Zusammenstellung, sondern eine weitergehende Zusammenführung der beiden Gebiete Moralpädagogik und Moralphilosophie. Damit werden Problemstellungen der beiden Gebiete interaktiv aufeinander bezogen. Die Normativität der Fragestellung, formuliert als Frage nach Anspruch und Legitimierbarkeit, macht das gemeinsame Feld aus, auf welchem sich moralphilosophische und moralpädagogische Überlegungen begegnen. Dieser gegenseitige, interaktive Bezug konstituiert sich also in dem normativen Interesse der Arbeit. Als ethische Studie ist der Hauptfokus moralphilosophischer Art. Dies soll allerdings nicht bedeuten, dass der Moralphilosophie der Vorzug gegeben wird als der Moralpädagogik übergeordnet. Das Verhältnis zwischen den beiden lässt sich nicht im Sinne eines instrumentellen oder kausalen ›Nacheinanders‹ bestimmen. So ist Moralpädagogik nicht einfach abhängig von Moralphilosophie. Normative Aussagen zu Erziehung sind demgemäß nicht als Ableitungen aus moralphilosophischen Bestimmungen zu fassen. (Auch die Umkehrung dieses Verhältnisses, welche nicht dieselbe Verbreitung erfährt, wird somit abgelehnt.) Aber als ethische Studie ist die Problemstellung der Arbeit moralphilosophischer Art. Die Antworten werden somit auch primär moralphilosophischer Art sein, unter Berücksichtigung und im Dialog mit moralpädagogischen Begriffen, Problematiken und Fragestellungen. Die Beschreibung dieser Begegnung als gegenseitig und interaktiv stützt sich auf eine deutliche Ablehnung der Vorstellung von Moralpädagogik als Ausdruck angewandter Moralphilosophie. Insofern als moralpädagogische Überlegungen durch die Gleichstellung mit moralphilosophischen Argumentationen in einen Dialog gebracht werden, wird in meiner Arbeit auch die Distinktion von Theorie und Praxis oder Applikation durchschritten. Als theoretische Besprechung mit Ausgangspunkt in und mit Bezug auf Erziehung als Erfahrung versteht sich die Arbeit als theoretisch und angewandt zugleich. Angewandt nicht nur in Form von Besprechungen konkreter Beispiele, sondern auch als Ausdruck eines Miteinbezuges moralpädagogischer Handlung und Erfahrung in eine theoretische Diskussion.

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Vorbemerkungen zum Begriff der Autonomie

1.4 Vorbemerkungen zum Begriff der Autonomie Die Frage nach der Legitimität von Erziehung durch Autonomie bedingt eine umfassende Analyse verschiedener Autonomiekonzepte. Somit ist die kritische Besprechung einer Reihe von Autonomiekonzepten und eine konstruktive Bestimmung von Autonomie Gegenstand der Aufgabe dieser Arbeit. Es soll in diesem Einleitungskapitel darum keine ausführliche Definition eines einheitlichen Autonomiebegriffes formuliert werden. Vielmehr geht es hier um eine Arbeitsdefinition im Sinne eines Umrisses dessen, was im Rahmen dieser Arbeit mit Autonomie gemeint ist, respektive was nicht gemeint ist. Die Forschung und Literatur zu Autonomie ist umfangreich. Vorausgeschickt werden muss, dass sich diese Arbeit im Hinblick auf eine Bestimmung von Autonomie weder einer begriffsgeschichtlichen Übersicht widmet, noch der Frage nach Autonomie ontologisch nachgeht (im Sinne einer Studie darüber, was Autonomie ›eigentlich‹ ist). Mein Anspruch hier, und in dieser Arbeit insgesamt, ist keine systematische oder erschöpfende Übersicht oder Besprechung des Begriffes Autonomie. Die Auswahl der in der Arbeit besprochenen Autonomiekonzepte wird anhand ihrer Relevanz für die Frage nach der legitimierenden Funktion von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung getroffen. Vorgeschlagen werden – als Vorbemerkungen zu Autonomie – einige Anhaltspunkte zu einer so genannten Arbeitsdefinition von Autonomie. Diese Anhaltspunkte sind insofern als vorläufig aufzufassen, als sie hier entworfen werden, ohne den Anspruch erheben zu können, detailliert bestimmt oder ausreichend begründet zu sein. Es soll damit angegeben werden, womit sich die Arbeit beschäftigt, respektive, was nicht Gegenstand der Arbeit ist. Aus diesem Grunde wird keine exakte Definition (in engerem Sinne des Wortes) angegeben. Von einer solchen müsste eine begriffliche Präzision und Begründung verlangt werden, die in dieser Einleitung nicht angestrebt wird. Wichtiger ist es hier, Grundbedingungen des Zugangs zu Autonomie, sowie – damit zusammenhängend – einige inhaltliche Anhaltspunkte von Autonomie, wie sie in dieser Arbeit untersucht wird, zu skizzieren. Interessant dafür sind Zugänge zu Autonomiekonzepten, welche sich Autonomie von einer ethischen Problematik her nähern und bei der Konzeptualisierung von Autonomie die spezifischen Anforderungen dieser jeweiligen Problematik berücksichtigen. Es werden zu diesem 37 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Einleitung

Zweck hier hauptsächlich die Arbeiten zweier Verfasser herangezogen (und in Dialog mit Anderen gebracht), die je auf verschiedene Art Zugänge zu Autonomie aufweisen, in welchen Autonomie von einer ethischen Problematik her konzeptualisiert wird. Juth (2005) diskutiert Autonomie im Rahmen der ethischen Problematik um Gentests. Er fragt unter anderem, ähnlich wie dies in der vorliegenden Arbeit der Fall ist, nach der Funktion von Autonomie in der Begründung von Gentests. 43 Den Kern seines Autonomiekonzeptes macht Authentizität aus, ausgedrückt in dem als ›eigenen‹ erfahrenen Willen. 44 MacMullen (2007) diskutiert Autonomie im Zusammenhang mit der Frage nach der Legitimitätsproblematik um religiöse Freischulen in liberalen Staaten, respektive staatlicher Subvention derselben. Zentral in seinem Autonomiekonzept ist eine fortlaufende rationale Selbstkritik. 45 Die Wahl dieser beiden Zugänge zu Autonomie, ausgehend von einer praktischen ethischen Problematik, indiziert, dass in dieser Arbeit statt einer systematischen philosophischen Abhandlung von Autonomie, ein Zugang angestrebt wird, der die Konstruktion von Autonomiekonzepten in Abhängigkeit von praktischen ethischen Problematiken aktualisiert. 46 Beiden gemeinsam ist ein Versuch, sowohl ›äußere‹ Umstände wie auch ›innere‹ Voraussetzungen in einer Art grenzüberschreitenden Sichtweise zwischen dem Selbst und seinem Kontext in das Autonomiekonzept einzubeziehen. 47 Schließlich vereint die beiden Autonomiekonzepte auch die Ansicht, dass Autonomie als gradierbar zu verstehen ist. 48 Diese beiden Standpunkte, d. h. Autonomie als gradierJuth, 2005, 15 Juth, 2005, 129. Juth schlägt außerdem ein Verständnis von Authentizität vor, welches die Vorstellung (Harry Frankfurts) strikt hierarchischer Präferenzen ablehnt und an ihrer Stelle eine modifizierte Idee von Authentizität als Ausdruck der Übereinstimmung von Präferenzen mit den beiden Faktoren Wissen und Zustimmung definiert. (Juth, 2005, 142) Inwiefern Juth damit eine bessere Konzeptualisierung von Authentizität als Kern von Autonomie gelingt als jene Konzepte, die er kritisiert, ist unklar. Eine detaillierte Besprechung von Autonomie als Authentizität erfolgt in Kapitel 6. 45 MacMullen, 2007, 8 46 Die Bedingungen der ethischen Problematik dieser Arbeit werden in den Kapiteln 2 und 3 erarbeitet. Ausgehend davon werden dann verschiedene Autonomiekonzepte in den Kapiteln 4–6 studiert. 47 Juth, 2005, 128; MacMullen, 2007, 77, 79 48 Juth, 2005, 128, 55. MacMullen betont dies nicht ausgeprägt. Seine Charakterisierung von Autonomie als »kreativen Prozess« mit »fortschreitendem Engagement« zur kritischen Überprüfung eigener Standpunkte impliziert ein Verständnis von Autonomie 43 44

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Vorbemerkungen zum Begriff der Autonomie

bares und als grenzüberschreitendes Phänomen, sind von grundlegender Bedeutung für die Diskussion von Autonomie im Rahmen dieser Arbeit. Wiederholt wird in diesem Einleitungskapitel auch auf Oshanas (2006) Konzept relationaler Autonomie hingewiesen. Ihre Arbeit ist ein philosophischer Entwurf eines Autonomiekonzeptes, welches Autonomie als abhängig von relationalen Bedingungen denkt. Die ›äußeren‹ Umstände erhalten bei Oshana – im Kontrast zu Juths und MacMullens Konzepten – eine konstituierende Funktion für Autonomie. Dies veranlasst Oshana unter anderem auch zu einem Verständnis von Autonomie als nicht gradierbar. Von Relevanz ist Oshanas Ansatz hier, weil ihr Verständnis von Autonomie einige wichtige Distinktionen beleuchtet. Auf ihr Autonomiekonzept wird in Kapitel 5 zurückzukommen sein. Oshanas Konzept stellt ein herausforderndes – wenn auch nicht unproblematisches – Komplement zu den anderen beiden Konzepten dar. Weiter wird der intersubjektive Ansatz zu Autonomie von Meyer-Drawe (1990) eingeführt, weil ihre Sichtweise von grundlegender Bedeutung ist für ein Verständnis von Autonomie innerhalb von Dependenz, wie es in dieser Arbeit hervorgehoben und vertreten wird. Da die Bestimmung von Autonomie in dieser Arbeit von einer Problematisierung normativer Aspekte von Autonomie, d. h. in ihrer legitimierenden Funktion als moralpädagogische Zielvorstellung, geprägt ist, werden deskriptive und normative Aspekte der Bestimmung von Autonomie als miteinander verschränkt behandelt. Juth unterscheidet zwischen Autonomiekonzepten und Autonomieidealen. Er will »die Frage, wie Autonomie verstanden werden soll (das Konzept von Autonomie)« auseinander halten von »Autonomieidealen«, welche die Fragen behandeln, »was an Autonomie wertvoll ist und / oder welche moralischen Gründe wir mit Autonomie in Verbindung bringen«. 49 Die Zuschreibung von Wert soll hier aber als abhängig von der konzeptuellen Bestimmung gehandhabt werden. Eine Unterscheidung, wie sie Juth vorschlägt, setzt eine klare Trennung zwischen deskriptiver Definition und normativer Wertung voraus. Eine solche Trennung erachte ich weder als methodisch realistisch noch als erstrebenswert, als ›mehr oder weniger‹ ausgeprägt oder entwickelt im Leben einer Person. (MacMullen, 2007, 8) 49 Juth, 2005, 175 (meine Übersetzung)

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denn sie wird dem Begriff Autonomie, welcher als moderner Begriff bereits in seiner Lancierung nie rein philosophisch bestimmt, sondern immer auch als Ideal normativ postuliert wurde, kaum gerecht. Die konzeptuelle Bestimmung und die normative Begründung stellen in dieser Arbeit also eine integrierte Sichtweise dar. Dies hat seinen Grund auch in der normativen Aufgabe der Arbeit. Untersucht werden soll Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung. Damit ist – gemäß Juths Unterscheidung – zwar in erster Linie die Frage nach Autonomie als Ideal gestellt. Im Unterschied zu Juth diskutiere ich aber die Argumentation im Zusammenhang mit Autonomie als Ideal in dessen Abhängigkeit von den konzeptuellen Fragen. Bestimmung und Begründung von Autonomie werden somit als ineinander verschränkt aufgefasst und diskutiert. Die normative Argumentation oder Begründung wird mit anderen Worten als abhängig von der konzeptuellen Argumentation oder inhaltlichen Bestimmung von Autonomie betrachtet.

1.4.1 Autonomie als Kompetenz, Recht und Wert Autonomie wird im Rahmen eines moralphilosophischen und moralpädagogischen Interesses behandelt. Das bedeutet, dass der Fokus auf Fragen betreffend zwischenmenschlicher Beziehungen, insbesondere auf die Implikationen für asymmetrische Beziehungen, wie sie in Erziehungssituationen vorkommen, gelegt wird. Als Arbeitsdefinition formuliert, sind mit Autonomie in dieser Arbeit im weitesten Sinne eine individuelle Fähigkeit zu und ein Ausüben von Selbstbestimmung gemeint. Die Begriffe, aus denen diese Arbeitsdefinition zusammengesetzt ist, sprechen je verschiedene Aspekte des Diskurses um Autonomie an und werden im Folgenden einzeln kommentiert. Der Begriff Selbstbestimmung wird als eher formalistisch gehaltene (›dünnere‹) Entsprechung des inhaltlich oder substantiell gehaltvolleren (›dickeren‹) Begriffes der Autonomie verstanden. 50 AutoDiese hier vorsichtig, bewusst nicht kategorisch definierte Distinktion wird vorgenommen im Anschluss an die von Walzer angewandten Begriffe »thick and thin«, welche er assoziiert mit »maximalistischem« respektive »minimalistischem« Gebrauch ethischer Begriffe. Die Verwendung von Begriffen als »dick« ist dabei gemäß Walzer oft verbunden mit »Qualifikation, Kompromiss, Komplexität und Uneinigkeit«. (Walzer, 1994, 2, 6) Die Unterscheidung zwischen Selbstbestimmung und Autonomie entlang

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nomie ist Selbstbestimmung. 51 Während Selbstbestimmung den inhaltlichen Kern bezeichnet, ist Autonomie als dickerer Begriff in seinem Gebrauch assoziiert mit wertenden, moralphilosophisch oder gesellschaftlich artikulierten Konnotationen. Worin Selbstbestimmung, der Kategorien »thick and thin« ist nicht als allgemein oder einheitlich gültig zu betrachten, sondern dient der Einkreisung des Begriffes der Autonomie im Rahmen der vorliegenden Arbeit. Seels Verwendung des Begriffes Selbstbestimmung beispielsweise (siehe Kapitel 6) entspricht der ›dicken‹ oder gehaltvollen Anwendung des Begriffes Autonomie in dieser Arbeit. 51 Das ist nicht als Definition von Autonomie, sondern lediglich als eine Entsprechung zu verstehen. Autonomie ist zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern autos (Selbst) und nomos (Gesetz) und ist als ›sich selber Gesetz geben‹ zu übersetzen. Im Englischen sind die Begriffe self-government (oder to govern oneself) oder self-determination (to decide one’s own way) gewöhnlich. (Juth, 2005, 55, 125; Mackenzie & Stoljar, 2000, 5). Die etymologische Bedeutung von Selbstbestimmung als Gesetzgebung, d. h. Selbstbestimmung als selbst-legislativer Akt, ist Ausdruck dafür, dass Autonomie ›ursprünglich‹ eine moralische und ethische Dimension anhaftet. Bei Kant ist diese Dimension deutlich. Für ihn verkörpert Autonomie Moral und damit ist Autonomie per Definition moralisch bestimmt. (Siehe Kapitel 4) Der Gebrauch des Begriffes Autonomie ist mittlerweile jedoch mehrdeutig. In verschiedenen Ansätzen kommt eine Absicht, sich von einer solchen moralischen Dimension in kantischem Sinne abgrenzen zu wollen, zum Ausdruck. MacMullen etwa will sein Konzept, für welches er unter der Bezeichnung »personal or ethical autonomy« argumentiert, unterscheiden von dem was er »Kantian moral autonomy« nennt. Bei »personal or ethical autonomy« geht es gemäß MacMullen darum, dass ein Individuum aufgrund rationaler Reflexion eine spezifische Vorstellung guten Lebens vertritt und gemäß ihr lebt. Das Konzept der ethischen oder personalen Autonomie gibt dabei keine Kriterien für ›zulässige‹ Vorstellungen des guten Lebens an. Sie ist gemäß MacMullen neutral oder rein formalistisch gefasst. Er schreibt: »The exercise of moral autonomy defines the set of permissible options: the exercise of ethical autonomy guides the choice within them.« MacMullen fügt hinzu: »The ethically autonomous person uses reason to guide his choice of life goals where the choice is between multiple options all of which are morally permitted.« (MacMullen, 2007, 80) Da MacMullen seinerseits rationale Reflexion als konstituierende Bedingung in sein Konzept individueller Autonomie integriert, ist seine Abgrenzung von Kants Autonomie als kategorische Unterscheidung aber nicht überzeugend. Es ist fraglich, ob nicht MacMullen Kants eigenen, stark kritisierten Anspruch eines formalistischen Autonomiekonzepts wiederholt, wenn er schreibt: »But the crucial point to remember is that autonomy is indicated not by the substantive content of the agent’s beliefs and values and their relations to those of others, but rather by the distinctive manner in which the agent holds these beliefs and values.« (MacMullen, 2007, 80, meine Kursivierung). Angemessener wäre es bei MacMullens Unterscheidung von einem kategorischen Unterschied abzusehen und einen graduellen Unterschied zwischen Autonomiekonzepten mit normativem Universalismus und Pluralismus auf verschiedenen Ebenen zu sehen. Die Frage ist dann, inwiefern, d. h. auf welcher Ebene, die respektiven Autonomiekonzepte normative Grenzen für die Wahlfreiheit der autonomen Person

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respektive ihr Gegenüber besteht, inwiefern sie als möglich und erstrebenswert betrachtet werden kann, ist Gegenstand der in der Arbeit vorgenommenen Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte. Es geht in dieser Arbeit um individuelle Autonomie. Zur Diskussion steht also Autonomie von Individuen, nicht von Gruppen oder Nationen. Damit ist auch bereits angesprochen, dass Autonomie als Selbstbestimmung auf ein Selbst, ein Subjekt angewiesen ist und dass Autonomiekonzepte in ihrer jeweiligen Stellungnahme hinsichtlich des Verständnisses des Selbst variieren. Mit Selbst als normierender Instanz für die Selbstbestimmung ist in einer kantischen Tradition Vernunft oder Rationalität gemeint. Eine andere bedeutende Richtung assoziiert das Selbst mit auf verschiedene Weisen definierter Authentizität. In intersubjektiven Ansätzen, die unter dem Einfluss französischer Phänomenologie stehen, wird das Selbst als in intersubjektiven Interaktionen konstituiert betrachtet, während Vertreter einer kommunitaristischen Tradition das Selbst anhand gemeinschaftlich erworbener und artikulierter, kultureller Identität darstellen. Das jeweilige Verständnis dessen, was das Selbst ausmacht, ist also ein notwendiger und entscheidender Faktor von Autonomiekonzepten. Von Bedeutung ist auch, ob Autonomie (primär) als Kompetenz, als Wert oder als Recht beschrieben und gehandhabt wird. Dies aktualisiert die Unterscheidung zwischen bestimmenden Aussagen einerseits und wertenden und begründenden Aussagen zu Autonomie andererseits. Während Aussagen zu Autonomie als Recht und als Wert wertende und begründende, d. h. normative und legitimierende Aussagen zu Autonomie darstellen, umfassen Aussagen zu Autonomie als Kompetenz sowohl wertende und begründende wie auch bestimmende Aussagen. Letztere definieren Autonomie als Kapazität, erstere formulieren damit verbundene, positiv wertende Aussagen. Mit dem Kompetenzbegriff werden somit sowohl wertende und begründende wie auch bestimmende Aussagen zu Autonomie aktualisiert. Eine grundlegende These der Arbeit ist, dass eine Diskussion von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung diese Anwenimplizieren. (MacMullen, 2007, 67–68) Aber auch hier lässt sich fragen, inwiefern Kants Universalismus (auf prinzipieller Ebene) tatsächlich auf eine Weise zu verstehen ist, die ihn inkompatibel mit Pluralismus (auf der Ebene spezifischer Probleme) macht. Eine eingehendere Besprechung dieser Aspekte von Kants Autonomiekonzept folgt in Kapitel 4.

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dungsbereiche des Autonomiebegriffes zwar voneinander unterscheiden, aber in einer integrativen Perspektive behandeln soll. 52 Autonomie als Kompetenz lässt sich demnach nicht unabhängig von Autonomie als Recht und als Wert diskutieren und es wird eine integrative Perspektive angestrebt. 53 Warum sollte Personen ein Recht auf Autonomie zugesprochen werden, wenn nicht geklärt ist, inwiefern diese zu Selbstbestimmung überhaupt imstande sind, respektive welche Voraussetzungen für eine realistische Möglichkeit zur Selbstbestimmung als Kapazität erfüllt sein müssen? Oder umgekehrt, warum oder inwiefern sollte Autonomie als Kapazität positiv gewertet und als Kompetenz angestrebt werden? Der Ansatz dieser Arbeit will, sich auf beide diese Fragen beziehend, wie oben in der Arbeitsdefinition erwähnt, Autonomie als positiv gewertete Fähigkeit, d. h. als Kompetenz untersuchen. Die Frage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung aktualisiert somit diese in erster Linie als Kompetenz, verstanden als Aspekt moralischer Reife oder als Bestandteil der Summe jener Fähigkeiten oder Charaktereigenschaften, die als erstrebenswert betrachtet werden. Autonomie als Kompetenz beschreibt Juth in seiner Definition dessen, was er »the ideal of capacity« nennt. Juth denkt, dass damit 52 Es ist insbesondere auf dem Gebiet angewandter ethischer Fragestellungen oft ersichtlich, dass Autonomie als kognitive Fähigkeit und als Recht nicht deutlich auseinander gehalten werden, respektive, dass Autonomie als Recht verlangt und behandelt wird, ohne dabei zu fragen, welche Fähigkeiten oder welche Kompetenz ein solches Recht voraussetzt. (Levinsson, 2008, 5, 114–115) 53 Mit einer integrativen Perspektive verbunden ist, dass die Annahme von Autonomie als substantiell gehaltvollem Begriff (wie oben definiert) jene Betrachtungsweisen, welche den Autonomiebegriff isoliert von normativen Konnotationen behandeln wollen, für die Aufgabe dieser Arbeit als unzulänglich betrachtet. Dies führt aber auch allgemein zur Annahme, dass das Phänomen Autonomie nur schlecht isoliert von seinen normativen Konnotationen betrachtet werden kann. Levinsson will anhand des Begriffes Metakognition Autonomie als Kapazität beleuchten. Sein Standpunkt hebt den Umstand hervor, dass eine Vermischung von Autonomie als Recht und als Kapazität zu jener Unklarheit beigetragen hat, von welcher der Gebrauch des Begriffes der Autonomie oft geprägt ist. (Levinsson, 2008, 114–115) Allerdings ist es schwierig, in der Praxis, bei einem Begriff, der gewöhnlicherweise mit einer stark normativen Konnotation einhergeht, von normativen Assoziationen ganz abzusehen. Juths Intention, Autonomiekonzepte und Autonomieideale auseinander zu halten scheint schwierig zu sein. (Siehe die Ausführungen oben zu Juths Ansatz diesbezüglich.) Aus der Sicht der Fragestellung zur moralpädagogischen Legitimitätsfrage, wäre eine solche Intention zur Trennung nicht nur irrelevant, sondern auch unbefriedigend, weil zu vereinfachend.

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nicht faktische Autonomie, d. h. Autonomie als Handlung akzentuiert wird, sondern der Wert, der darin besteht, eine autonome Person zu sein. Es geht also hauptsächlich um ein tugendethisch gefasstes Charakterideal. 54 »This (an autonomous person, meine Anmerkung) is a person with authentic desires, and enough decision competence and efficiency to implement these desires. The autonomous person, then, both has the capacity required and the actual conditions fulfilled in order to independently consider her own projects and values, make decisions on the basis of them and realize them through her own action.« 55

Eine grundlegende Annahme, die verbunden ist mit »Selbstbestimmung oder Autonomie als Kompetenz, gilt es an dieser Stelle hervorzuheben. Wenn Selbstbestimmung nicht als Ausdruck einer einzelnen Situation oder Handlung, sondern als Ausdruck individueller Fähigkeit (über Zeit) betrachtet wird, ist Selbstbestimmung oder eben Autonomie gradierbar. Darauf deutet auch Juths Formulierung oben, mit der Forderung nach »genügend Entscheidungskompetenz«. Der Formulierung liegt die Annahme zugrunde, dass es Autonomie in mehr oder weniger starkem Ausmaß geben kann. Juth schreibt an anderer Stelle: »(…) to be autonomous is to govern oneself or to decide one’s own way. To live autonomously is then to live in accordance with one’s own basic desires or values. (…) This means, autonomy is a matter of degrees: a person can more or less lead the life he has chosen and more or less choose how to live according her own wants«. 56

Indem Juth Autonomie nicht auf einzelne Handlungen bezieht, sondern von Charaktereigenschaften spricht, die sich in der Lebensführung mehr oder weniger durchsetzen, baut er qualitative Kriterien ein, die sich quantitativ auf Autonomie auswirken. Jemand kann mehr oder Juth, 2005, 180 Juth, 2005, 180. Ein solches Verständnis von Autonomie als Kompetenz erlaubt, wie Juth bemerkt, verschiedene Versionen, die sich etwa bezüglich dem Verhältnis zwischen inneren, psychischen und äußeren, relationalen Faktoren als bestimmend für Autonomie unterscheiden. Juth betont auch, dass ein solches Verständnis von Autonomie als moralisches Handlungsprinzip (»action-guiding«) nicht ausreichend ist. (Juth, 2005, 180–181) Juths Definition von Autonomie als Kompetenz knüpft an die drei Komponenten an, die er für Autonomie in seiner Minimidefinition als konstitutiv bezeichnet. Insbesondere die zentrale Bedeutung von Authentizität wiederholt sich hier. 56 Juth, 2005, 55 54 55

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weniger autonom sein. Außerdem fließt in diese tugendethisch gefasste Bestimmung von Autonomie auch eine Zeitdimension ein, die ihrerseits für die Möglichkeit öffnet, mehr oder weniger autonom zu sein. Die Diskussion, inwiefern Autonomie als gradierbar zu verstehen ist, hat in jüngerer Zeit verschiedene Theoretiker beschäftigt. Oshanas Konzept relationaler Autonomie veranschaulicht dies. Sie definiert als autonome Personen jene Personen, die »faktische Kontrolle über die eigenen Wahlen« haben: »Autonomous persons are beings in actual control of their own choices«. 57 Diese faktische Selbstkontrolle ist für Oshana abhängig davon, ob sie der Person von Anderen, zu denen sie in einer Beziehung steht, gewährt wird. »To be autonomous is to stand in a certain position of authority over one’s life with respect to others.« 58 Damit macht Oshana ›äußere‹ (relationale) Bedingungen zum entscheidenden Kriterium für Autonomie. 59 Die ethische Studie von Erziehung macht diese äußeren, relationalen Bedingungen für Autonomie relevant. Inwiefern der zu erziehenden Person von der erziehenden Person in der Erziehungssituation Kontrolle über ihre Wahlen zugestanden, respektive vorenthalten werden, ist von Bedeutung für die moralpädagogische Situation und deren Legitimität in Bezug auf die Zielvorstellung Autonomie. Die Art und Weise wie Oshana relationale Bedingungen zum entscheidenden Kriterium für die Bestimmung von Autonomie ernennt, ist als Gesamtkonzept von Autonomie allerdings wenig überzeugend. 60 Ein Miteinbezug relationaler Bedingungen in Autonomie als ein Faktor unter anderen erscheint als Reaktion auf die Oshana, 2006, 3–4 Oshana, 2006, 95 (meine Kursivierung) 59 Siehe Kapitel 5 60 Dies veranschaulicht auch die Problematik, die mit der normierenden Funktion verbunden ist, die intuitiven Auffassungen von Autonomie in Oshanas Theorie zukommt. Oshana beruft sich auf vermutete Intuitionen zu Autonomie, als eine Art common sense, ohne zu klären, warum diesen überhaupt normierende Funktion zukommen soll oder warum diesen und nicht anderen intuitiven Auffassungen von Autonomie normierender Status zukommen soll. (Oshana, 2006, 46) Ebenso könnte nämlich behauptet werden, dass ein Autonomiekonzept, welches keine gradierbare Autonomie zulässt und ausschließlich auf relationalen Bedingungen beruht, kontraintuitiv sei. Es könnte etwa argumentiert werden, dass kontraintuitiv erscheint, dass die Frage nach der tatsächlichen Autonomie einer ›autonomen Person‹, wie die Hausfrau Harriet, gemäß Oshanas sozial-relationalem Autonomiekonzept, unabhängig von dem Willen der respektiven Person entschieden wird. Da Harriet von ihrem Mann (und anderen Personen um sie herum) nicht als autonome Person behandelt wird, ist sie nicht autonom, egal, ob sie ihre Situation selber gewählt hat und in ihr zufrieden ist. 57 58

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Aporien kantischer Autonomiekonzepte wichtig, insbesondere hinsichtlich der Frage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung. Auf die qualitativen Kriterien solcher relationalen Bedingungen, sowie auf die Bedeutung einer Zeitdimension für die Bestimmung von Autonomie wird zurückzukommen sein. In die Arbeitsdefinition wird auch das Ausüben von Selbstbestimmung einbezogen. Damit soll markiert werden, dass – unter Vorbehalt der Kritik oben an einer alleinig entscheidenden normierenden Funktion relationaler Aspekte – in dieser Arbeit jene Autonomiekonzepte als interessant betrachtet werden, die eine praktische, relationale oder intersubjektive Dimension umfassen. Dies bedingt, dass neben ›inneren‹ Eigenschaften oder Qualitäten des Selbst Autonomie auch an ›äußere‹ 61 Bedingungen geknüpft wird. Autonomie soll bemerkbar sein, soll in konkreten Ausdrücken erkennbar sein. So soll mit dem Einbezug von Ausüben an eine Handlungsdimension angeknüpft werden. MacMullen schließt in seiner »working definition« von Autonomie eine ähnliche Bedingung faktischer Ausübung ein. Autonomie umfasst gemäß MacMullen drei Komponenten: rationales Reflektieren, Engagement dafür oder Motivation dazu und dies über Zeit. »(…) Autonomy is the combined capacity for and commitment to ongoing rational reflection on all of one’s ethical commitments.« 62 Bei MacMullen wird rationales Reflektieren damit eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für die Konzeptualisierung von Autonomie. Er meint, rationales Reflektieren, als Fähigkeit zu Gedanken zweiter Ordnung (»capacity for second-order thought«), sei notwendig, lehnt aber, im Gegensatz zu Levinsson, 63 zugleich die Vorstellung ab, diese sei tauglich als entscheidendes Kriterium für Autonomie. Was es außerdem

Eine strikte Trennung von ›inneren‹ und ›äußeren‹ Faktoren ist problematisch. Wenn etwa Juth Wissen (als ein Aspekt von Authentizität) zu einer Bedingung für Autonomie macht, ist unklar, ob dies nun ein ›innerer‹ Faktor (als Verstehen einer Situation) oder ein ›äußerer‹ Faktor (als bereitgehaltene und zugängliche Information) darstellt. Am ehesten sind wohl beide Faktoren zusammengenommen wichtig für Autonomie. Weiter unten wird eine Sichtweise propagiert, welche sich im Anschluss an Meyer-Drawe um ein intersubjektives Verständnis des Selbst zentriert und sich so um eine Sichtweise bemüht, welche das Selbst als intersubjektiv konstituiert in der gegenseitigen Wahrnehmung und Beeinflussung anderer betrachtet. Mit einer solchen Interdependenz verschwimmen deutliche Konturen zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹. 62 MacMullen, 2007, 23, 67 (meine Kursivierungen) 63 Siehe Kapitel 6 61

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braucht ist ein Engagement, ein Motivationsfaktor, der bewirkt, dass die Fähigkeit rationaler Reflexion als faktische Autonomie zum Ausdruck kommt. 64 Auch Juth integriert eine faktische Dimension in seine Bestimmung von Autonomie. Drei Instanzen oder Phänomene, sowie die diesen zugeordneten Komponenten von Autonomie, betrachtet er als konstitutiv für Autonomie: Wille und Authentizität, Entscheidung und Entscheidungskompetenz, sowie Handlung und Effizienz oder Wirkung. 65 Mit Effizienz wird nicht nur eine Handlungsdimension, sondern auch die Frage der Bedeutung von Motivation für Autonomie aktualisiert. In der Art und Weise wie MacMullen respektive Juth je eine faktische Dimension in ihr Autonomiekonzept einbauen, kommt zum Ausdruck, dass die praktische Problematik, von der aus die beiden Verfasser sich Autonomie nähern, das Verständnis derselben beeinflusst. Für MacMullen steht die pädagogisch-ethische Problematik im Zentrum. Autonomie eine Motivationskomponente zuzuordnen ist relevant, weil pädagogische Motive (zu erziehender Personen) relevant sind. Für Juth hingegen, der vom Problem der autonomen Wahl angesichts genetischer Tests her Autonomie behandelt, ist eher die faktische Ausschlagkraft einer autonomen Wahl zentral. Beide gewähren der Autonomie somit eine grundlegende Gradierbarkeit. Autonomie als Wert wird in dieser Arbeit diskutiert in Abhängigkeit von der legitimierenden Funktion, welche Autonomie in der Frage um Autonomie als Zielvorstellung von Erziehung zukommt. So kann der Ansatz dieser Arbeit aus Sicht der Diskussion des Autonomiebegriffes auch beschrieben werden als eine Erörterung des Wertes von Autonomie innerhalb oder ausgehend von einer moralpädagogischen Problematik. Zur Diskussion steht dabei ein funktionaler Wert von Autonomie. Mit dem Begriff funktionaler Wert soll die potentielle Funktion im Verhältnis zu einer praktisch ethischen Fragestellung als wertegründend hervorgehoben werden, was durch den Ansatz dieser Arbeit bedingt ist. Dies bedingt, wie oben bereits angedeutet, eine inMacMullen, 2007, 69–73 Diese drei Komponenten entnimmt Juth der Definition des schwedischen Philosophen Tännsjö. »A person, in a situation, is autonomous to the extent that she does what she decides to do, because she decides to do it, and decides to do what she wants to do, because she wants to do it.« (Juth, 2005, 127) 64 65

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tegrierende Vorgehensweise, welche den Wert von Autonomie in Abhängigkeit von deren inhaltlichen Bestimmung definiert. Ein grundlegender positiver Wert ist dabei nicht Gegenstand der Aufgabe dieser Arbeit. Vorausgesetzt wird allerdings ein grundlegend demokratisches und liberales Wertesystem und damit verbunden ist auch eine implizite und rudimentäre Annahme von Autonomie als positivem Wert. 66 Dass ein positiver Wert im Zusammenhang mit Autonomie als Ideal in dieser Arbeit vorausgesetzt wird, kommt allerdings nicht der Behauptung gleich, ein solcher sei unumstritten. 67 Vielmehr geht es um eine komplexe Frage, wie es philosophische Diskurse sichtbar machen, die entlang von Unterscheidungen wie etwa instrumentelle – intrinsische Werte; zivile – nicht-zivile Werte geführt werden. 68 Wenn in dieser Arbeit von einem funktionalen Wert von Autonomie die Rede ist, dann soll dies unterschieden werden von Autonomie als instrumentellem Wert. Letzterer gründet auf einer hierarchischen Ordnung mit einer Unter- und Überordnung verschiedener Werte im Verhältnis zueinander und ist für Autonomie oft formuliert worden im Verhältnis zu Pluralität und Pluralismus. 69 Einen positiven Wert als instrumentell im Verhältnis zu einer demokratischen Gesellschaft formuliert Oshana, welche Autonomie als »hervorragende Tugend« und »essentiell für eine erfolgreiche Demokratie« hervorhebt:

Damit ist nicht gesagt, dass Autonomie in der Praxis, bzw. die Folgen autonomer Handlungen immer positiv seien. O’Neill, die sich gegen ein Autonomiekonzept wendet, welches in strikter Gegensätzlichkeit zu Dependenz (siehe weiter unten) bestimmt ist, hebt den zweideutigen moralischen Wert solcher Autonomie hervor: »Independent action may be important or trivial, heroic or brutal, helpful or selfish, admired or distressing to others. If we view individual autonomy as mere, sheer independence, its merits will be highly variable.« (O’Neill, 2002, 25) Ihre Feststellung kann aber auch als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Bestimmung und Begründung als ineinander verschränkt behandelt werden müssen. 67 O’Neill, 2002, 22–23. Juth meint zwar, der positive Wert von Autonomie sei, im Gegensatz zur inhaltlichen Bestimmung von Autonomie, unumstritten. (Juth, 2005, 125) Diese Feststellung knüpft an Juths Intention an, Autonomie als Ideal von Autonomie als Konzept zu trennen, und ist darum für den Ansatz dieser Arbeit nicht relevant. 68 MacMullen widmet diesen Fragen einen längeren Abschnitt. (MacMullen, 2007, 88– 112) 69 Siehe etwa Callan, 2007, 131 66

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»A democracy is, roughly, a sociopolitical alliance of agents who, through representation or direct participation, engage in the task of political governance. It is through the judgment and activity of self-reliant, self-directed persons that the political principles and policies of a liberal constitutional democracy are generated and garner legitimacy.« 70

Der Ansatz dieser Arbeit bedingt einen Fokus auf Autonomie als Wert im Verhältnis zu Erziehung. MacMullen argumentiert für die Annahme eines instrumentellen Wertes von Autonomie (ähnlich wie Oshana) und etikettiert seine Position, die hinsichtlich der moralpädagogischen Frage nach der Berechtigung religiöser Freischulen in eine Befürwortung ›obligatorischer‹ Erziehung zu Autonomie mündet, als »berechtigten liberalen Paternalismus«. 71 Die Frage nach Autonomie als einer berechtigten Zielvorstellung ist aber moralpädagogisch nur teilweise beantwortet mit der politischen Lösung, Erziehung zu Autonomie ›obligatorisch‹ zu machen. Ein deutlicher Einbezug der Voraussetzungen von Erziehung in die moralphilosophischen Überlegungen zum Konzept und Wert von Autonomie, wie er in der vorliegenden Arbeit angestrebt wird, soll die Problematik der Legitimität verfeinert betrachten. Die Diskussion von Erziehung als Anspruch oder der Normativität von Erziehung aktualisiert schließlich auch Autonomie als Recht. Die Frage, welcher ich mich im dritten Kapitel widme, wie ein adäquater Anspruch in Erziehung zu bestimmen sei, tangiert Autonomie als Kompetenz und als Recht. Das Recht auf Autonomie hängt von der Kompetenz ab; umgekehrt ist aber die ethische Diskussion über das Recht auf Autonomie abhängig von der Frage, inwiefern den betroffe70 Oshana, 2006, 129. MacMullen argumentiert ebenfalls für einen instrumentellen Wert von Autonomie in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft. Er macht dies aber mit dem Hinweis auf das autonome Individuum selber respektive dessen Möglichkeit zu einem ›guten Leben‹ in einer solchen Gesellschaft. (MacMullen, 2007, 88) Er will sich dabei abgrenzen von einer Argumentation für Autonomie als intrinsischem Wert. Seine Verankerung von Autonomie als instrumentellem Wert ist aber seinerseits abhängig von einem intrinsischen Wert des ›guten Lebens‹. Dieses bleibt aber bei MacMullen weitgehend unbestimmt und formt so eine unklare Basis für den instrumentellen Wert von Autonomie. Damit ist auch eine klare Abgrenzung zwischen instrumentellem und intrinsischem Wert verwischt. (MacMullen, 2007, 88) 71 MacMullen, 2007, 88. ›Obligatorische Erziehung zu Autonomie‹ bedeutet bei MacMullen die Forderung staatlicher Kontrolle von religiösen Schulen ab der Oberstufe. Zugleich will er, dass Primarschulen größere Freiheit gewährt wird. (MacMullen, 2007, 10–12)

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nen Personen auch Autonomie als Kompetenz zugeschrieben werden kann. 72

1.4.2 Autonomie und Dependenz Ich nähere mich dem Begriff der Autonomie, wie oben bereits dargelegt, vom Blickwinkel ihrer legitimierenden Funktion für Erziehung her. Die Auswahl der besprochenen Autonomiekonzepte erhebt nicht den Anspruch eines kompletten oder systematischen Überblickes, vielmehr versteht sie sich als gesteuert durch die als ethisch relevant identifizierten Aspekte von Erziehung. Dabei wird für Fragen der Erziehung insbesondere die Abgrenzung zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit oder das Verhältnis der beiden zueinander aktuell. Meinen Ausgangspunkt bildet die These einer grundlegenden Inadäquanz und Disfunktionalität eines Verständnisses von Autonomie als Gegensatz zu Heteronomie oder Dependenz für einen spätmodernen Zusammenhang. Wie weitgehend eine Überwindung dieses Gegensatzverhältnisses bei gleichzeitigem Bewahren des Begriffes der Autonomie möglich und sinnvoll ist und wie sich dahingehende Bemühungen in einer Diskussion um Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung ausdrücken, sind somit Fragestellungen, die für die Vorgehensweise der Arbeit wegleitend sind. Als Gegensatzbegriff zu Autonomie bietet sich der Begriff Heteronomie als naheliegend an. Dieser wird jedoch oft mit Immanuel Kants Gebrauch des Begriffes der Heteronomie in Verbindung gebracht. Kant behandelt die beiden Begriffe Autonomie und Heteronomie stark wertend. Während der Begriff der Autonomie gewöhnlich mit einem über Kant hinausgehenden, breiteren Assoziationsfeld in Diese Verknüpfung wird insbesondere in bioethischen und medizinisch ethischen Diskussionen zu Autonomie aktuell. Begriffe wie jener des informed consent werden oft zur Bestimmung von Autonomie als Kompetenz gebraucht. Zugleich veranschaulicht die umfassende Diskussion im Fahrwasser der Arbeit von Beauchamp & Childress (2008) dass nicht nur die Bestimmung von Autonomie als Kompetenz problematisch ist, sondern auch dass das Verhältnis zwischen Autonomie als Recht und als Kompetenz oft ungenügend geklärt ist. Siehe Juth, 2005.) Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung aktualisiert nicht nur Autonomie moralphilosophisch als Wert und moralpädagogisch als Kompetenz, sondern macht, wie die Ausführungen oben ersichtlich machen, auch das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis moralphilosophischer und moralpädagogischer Argumente voneinander sichtbar.

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Verbindung gebracht wird, ist die Anwendung des Begriffes der Heteronomie deutlicher an Kant gebunden. Der Begriff der Heteronomie wird also Kant vorbehalten und ausschließlich im Zusammenhang mit der Besprechung von Kants Konzept der Autonomie gebraucht. Darum ist für diese Arbeit als – vorläufiger und zu diskutierender – Gegensatz zu Autonomie der Begriff Dependenz gewählt worden. 73 Der Begriff der Dependenz soll dabei in Abgrenzung zu Kants Begriff der Heteronomie nicht als mit Negativität behaftet konstruiert werden, sondern lediglich Aspekte dessen hervorheben, was Unverfügbares oder Kontingentes im menschlichen Lebens ausmacht. Somit markiert der Begriff der Dependenz, sowie deren Verhältnis zu Autonomie, eine zweifache Abgrenzung gegenüber Kants Begriff der Heteronomie. Es geht einerseits um die Ablehnung einer Assoziation mit Negativität, andererseits um den Versuch zu einer Aufhebung der Gegensätzlichkeit, die das Verhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie kennzeichnet. Mit den Begriffen Inadäquanz und Disfunktionalität ist der normative Ansatz der Arbeit, wie er im folgenden Kapitel näher bestimmt und begründet wird, angesprochen. Es geht um die Frage nach der legitimierenden Funktion von Autonomie innerhalb des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas. Erziehung wird darin als legitim betrachtet, insofern als diese für die zu erziehende Person Autonomie anstrebt. Die Funktionalität wird dabei anhand struktureller Ähnlichkeiten zwischen der Normativität von Erziehung und der Zielvorstellung Autonomie als Ausdruck von Kohärenz verstanden. Der Auswahl und Besprechung von Autonomiekonzepten liegt die These zu Grunde, dass Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung mit Vorteil auf einem Verständnis von Autonomie gründet, welches Autonomie als einem dichotomen Verhältnis zwischen Autonomie und Dependenz enthoben betrachtet. Als ursprünglich gesellschaftskritischer und revolutionärer Begriff erfüllte Autonomie als Gegensatz zu Heteronomie im Kontext der frühen Aufklärung eine wichtige Funktion mit konkreten gesellschaftlichen Implikationen. Eine Verschiebung des Begriffes der Auto73 Das Verhältnis zwischen den Begriffen Fremdbestimmung respektive Abhängigkeit und Dependenz ist analog zum Verhältnis zwischen Selbstbestimmung und Autonomie. Fremdbestimmung oder Abhängigkeit ist die formalistischer gehaltene (›dünnere‹) Entsprechung des inhaltlich oder substantiell gehaltvolleren (›dickeren‹) Begriffes der Dependenz.

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nomie von primär institutioneller zu einer eher anthropologischen Bedeutung hin (mit Betonung der Bedeutung der Vernunft) ging einher mit zunehmender Unsichtbarkeit »heteronomer Bestimmungen«. 74 Wenn Autonomie als moderner Begriff als Reaktion konstituiert war als Gegenüber zu Dependenz, dann macht ein Verschwinden solcher erkennbar heteronomen Strukturen ein neues Verhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie und damit eine andere Bestimmung und Begründung von Autonomie nötig. Meyer-Drawe verortet die strikte Gegenüberstellung von Autonomie und Heteronomie in der »Signatur der Aufklärung, die durch die Befreiung von jeglicher Fremdbestimmung charakterisiert ist«. 75 Autonomie und Heteronomie existieren aber kaum als reale Alternativen, da »menschliche Existenz weder nur autonom noch nur heteronom« ist und »Autonomie als von Heteronomie durchzogen« sich darstellt. 76 Eine rigide Gegenüberstellung von Autonomie und Heteronomie oder Dependenz erscheint auch in Bezug auf die Funktionalität des Begriffes Autonomie als fraglich. Rieger-Ladich führt im Zusammenhang mit dem Begriff Mündigkeit die gebräuchliche Annahme einer strikten Dichotomie zwischen Mündigkeit und Unmündigkeit in der deutschen Pädagogik auf eine vereinfachende Übernahme von Eigenschaften des juristisch definierten Begriffes Mündigkeit zurück und bezichtigt diese von Rechtswissenschaften inspirierte Vereinfachung einer folgenreichen Vereinfachung der Vorstellung nicht nur des Erziehungsprozesses, sondern auch des Verhältnisses zwischen Kind und Erwachsenem. 77 Obwohl die Annahme eines dichotomen Verhältnisses zwischen Autonomie und Dependenz vermehrt problematisierend dargestellt wird, ist eine entsprechend geprägte Sichtweise nach wie vor moralpädagogisch wie moralphilosophisch einflussreich. 78 Dieses dichotome Meyer-Drawe, 1990, 8 Meyer-Drawe, 1990, 150 76 Meyer-Drawe, 1990, 11–12 77 Rieger-Ladich, 2002, 245–246. Dies wird ausführlich in Kapitel 2 dieser Arbeit diskutiert. 78 In einer Präsentation unterschiedlicher »Entwicklungs- und Sozialisationsziele« wird etwa in Oerter & Montada von einer grundlegend dichotomen Gegensätzlichkeit ausgegangen, in welcher »die Vermittlung der Geltung vorgegebener sozialer Normen oder Autonomie im Sinne einer Ermutigung ihrer kritischen Reflexion« einander gegenübergestellt werden. (Oerter & Montada, 2002, 622, meine Kursivierung) 74 75

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Vorbemerkungen zum Begriff der Autonomie

Verhältnis stellt sich, wie Meyer-Drawe bemerkt, als »eingeschliffene Alternative von Autonomie und Heteronomie« allzu einnehmend dar. 79 Sie spricht von »Illusionen von Autonomie«, weil sie ein »Ich, das vollständig bei sich sein kann«, für irreal hält. 80 Meyer-Drawes Ausdruck »Illusionen von Autonomie« markiert aber nicht nur ihre stark kritische Haltung gegenüber den vereinfachenden und problematischen Autonomiekonzepten subjektphilosophischer Art. Sie verschreibt sich auch einer – für den Ansatz dieser Arbeit wichtigen – methodischen Positionierung. »Die Illusion von Autonomie kann als Illusion begriffen werden und gerade deshalb maßgebliche Kraft entfalten, weil sie sich kritisch gegen reale Verstrickungen wendet. Die transitive Kraft des Begriffs der Autonomie, die darin besteht, dass er die Wirklichkeit, die er begreift, reduziert, kann wirksam werden in dem kritischen Bewusstsein des Unterschieds von Erkennen und Wirklichkeit.« 81

Es geht Meyer-Drawe hier nicht nur um die Wirkungsgeschichte eines utopischen Ideals. Indem sie Illusionen von Autonomie eine »maßgebliche Kraft«, d. h. einen funktionalen Wert (der sich allerdings an Bedingungen der Realität zu messen hat), zugesteht, markiert sie einerseits, dass ein Begriff wie jener der Autonomie von einer integrativen Sichtweise her zu betrachten ist. Wie oben deklariert, wird dies in dieser Arbeit umgesetzt in einem Ansatz, der Autonomie als Kompetenz, Wert und Recht als miteinander verbunden behandelt. Indem Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung im Zusammenhang mit der Legitimitätsfrage von Erziehung behandelt wird, stehen also Aspekte inhaltlicher Bestimmung und normativer Begründung als miteinander verschränkt zur Diskussion. Andererseits markiert Meyer-Drawe anhand ihres Ausdrucks »Illusionen von Autonomie«, dass es bei Autonomie um eine konstruierte und konstruierende Begrifflichkeit geht. Als solche muss sie als reduzierend betrachtet werden und kann nicht beanspruchen ›Wirklichkeit‹ abzubilden. Demgemäß soll die Diskussion um Autonomie in dieser Arbeit auf ontologische Absichten verzichten und in Entsprechung zur Normativität, die dem Begriff Autonomie innewohnt, Autonomie in der Funktion eines Ideals,

79 80 81

Meyer-Drawe, 1990, 63 Meyer-Drawe, 1990, 20 Meyer-Drawe, 1990, 12 (meine Kursivierungen)

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Einleitung

oder als moralpädagogische Zielvorstellung sichtbar machen. 82 Die Besprechung der Autonomiekonzepte in dieser Arbeit hat zum Ziel, anhand einer kritischen Analyse der gewählten Konzepte verschiedene Aspekte hervorzuheben, welche zu konstruktiven Versuchen zu einem Verständnis von Autonomie, welches Autonomie innerhalb von Dependenz fasst, beitragen. 83 Autonomie wird so innerhalb von Dependenz im Sinne von Autonomie als Vorstellung oder Ideal eines kompetenten Umgangs mit Abhängigkeiten verstanden. Interessant ist dann nicht die Frage, wie sich Autonomie von Dependenz abhebt, sondern inwiefern Autonomie Dependenz einbezieht respektive von verschiedenen Aspekten von Abhängigkeit geprägt ist. Die kritische Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte wird nicht komparativ gestaltet. Vergleichend werden die verschiedenen Autonomiekonzepte zwar insofern dargestellt, als dass sie alle auf ihre Funktionalität als Zielvorstellung von Erziehung beurteilt werden. Im Übrigen soll aber den einzelnen Autoren und deren Ansätzen möglichst viel Eigenständigkeit gelassen werden, indem die verschiedenen Konzepte einzeln dargestellt und von ihren je eigenen Fragen und Problemstellungen her besprochen werden. So sollen die je spezifischen Perspektiven der Ansätze und Konzepte zu Autonomie besser zur Geltung kommen. Gemeinsame Kriterien für die kritische Besprechung sind dabei Aspekte ethischer Plausibilität (als Bedingung innerer Konsistenz) sowie der Funktionalität in Bezug auf Erziehung. Also ist die Darstellung und kritische Analyse der verschiedenen Autonomiekonzepte komparativ nur insofern als sie anhand gemeinsamer moralpädagogischer Kriterien bewertet werden. Autonomie wird somit als komplexer, kompetenter Umgang mit Abhängigkeiten diskutiert. Dabei können verschiedene Autonomiekonzepte je Diese Diskussion der Bedeutung von Idealen für moralpädagogische Theorie und Praxis wird anhand einer Besprechung von Papastephanous Arbeit zur Bedeutung von Utopien fortgesetzt in Kapitel 2. 83 Autonomie innerhalb von Dependenz zu fassen, bedeutet, dass die beiden nicht in gegensätzlicher Gegenüberstellung, sondern in gegenseitigem Bezug zueinander oder integriert ineinander betrachtet werden. Eine integrierte Sichtweise bedeutet natürlich auch, dass Aspekte oder Ausdrücke von Dependenz in ihrer normativen Bestimmung ihrerseits von einem integrierten Verständnis von Autonomie abhängig sind. Ein Beispiel dazu findet sich in Blasis Studie Autonomie im Gehorsam. Blasi macht den Vorschlag, »richtig verstandenen Gehorsam« in Abhängigkeit von Autonomie zu definieren. Autonomie als kritische Urteilskraft ist demgemäß auf verschiedenen Ebenen ein Garant für legitimen Gehorsam. (Blasi, 1984, 302, meine Übersetzung) 82

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Vorbemerkungen zum Begriff der Autonomie

verschiedene Aspekte von Dependenz hervorheben, verschiedene Abhängigkeiten thematisieren und als integrative Aspekte von Autonomie erfassen.

1.4.3 Autonomie und Mündigkeit Das Bild, welches sich bei einer Studie von Autonomie ergibt, ist nicht nur komplex, weil keine einheitliche Definition oder Verwendung des Begriffs Autonomie auszumachen ist, sondern auch, weil es eine Reihe angrenzender Begriffe gibt, welche in ihrer Bedeutung nicht nur eng an Autonomie anknüpfen, sondern teilweise auch überlappend gebraucht werden. Der parallele Gebrauch des Begriffes Autonomie als Wert, Recht und Kompetenz hat seine Entsprechung in der Art und Weise wie der Begriff der Mündigkeit im deutschen Sprachbereich gebraucht worden ist und wird. Auch dieser weist einen rechtlichen und einen mehr bildungstheoretischen Gebrauch auf. 84 Nicht nur diese zweifache Anwendung, sondern auch die inhaltliche Bestimmung bildungstheoretischer Art von Mündigkeit und Autonomie kann als Indiz betrachtet werden, dass die beiden Begriffe Autonomie und Mündigkeit einander sehr nahestehen. Die bildungstheoretische Definition von Mündigkeit, die Benner und Brüggen vor dem Hintergrund einer historischen Behandlung des Begriffes Mündigkeit festlegen, definiert Mündigkeit als »Fähigkeit des Menschen, die eigene Lebensführung reflektieren und zu dieser sowie zu den Formen des menschlichen Zusammenlebens Stellung nehmen zu können«. 85 Auf diese Art als Fähigkeit, als Aspekt moralischer Kompetenz definiert, entspricht Mündigkeit, bildungstheoretisch gefasst als »Leitkategorie des pädagogischen Diskurses in Deutschland«, 86 weitgehend der oben rudimentär und vorläufig angegebenen Definition von Autonomie. Anhand beider Begriffe wird die philosophische Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, angrenzend an die politisch gefasste Frage nach dem Verhältnis zwischen Bürger und Staat oder Gesellschaft problematisiert. Anhand beider Begriffe wird auch die anthropologische Frage nach dem Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem, respektive die ethische 84 85 86

Benner & Brüggen, 2004, 687 Benner & Brüggen, 2004, 687 Rieger-Ladich, 2002, 17

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Einleitung

Frage nach den mit der positiven Wertung der Fähigkeit zu Mündigkeit oder Autonomie einhergehenden Privilegien aktualisiert. Die weitgehende Deckung der beiden Begriffe Mündigkeit und Autonomie machen eine strikte Unterscheidung der Begriffe zu einem schweren und auch unnötigen Unterfangen, denn Abgrenzungen dieser Art sind, je nach Interesse eher willkürlich und können auf verschiedenen Basen argumentiert werden. Es ist daher vorzuziehen, von einer Sachfrage ausgehend zu operieren und dabei in Kauf zu nehmen, dass der Begriff Autonomie auch Mündigkeit bezeichnen könnte und umgekehrt. Eine solche Haltung wird auch dem Umstand gerecht, dass mit dem Begriff der Autonomie – oder eben der Mündigkeit – verschiedene Diskurse und wissenschaftliche Disziplinen angeschnitten werden. Darin, d. h. in der Zugehörigkeit zu einem gewissen Diskurs, liegt auch der sich am deutlichsten abzeichnende Unterschied zwischen Autonomie und Mündigkeit. Die Frage, warum in dieser Arbeit dem Begriff der Autonomie und nicht dem der Mündigkeit der Vorzug gegeben wird, soll demgemäß nicht anhand einer begrifflichen Abgrenzung beantwortet, sondern mit dem Verweis auf unterschiedliche Diskurszugehörigkeiten motiviert werden. Während der Begriff Mündigkeit vorwiegend in pädagogischen Diskursen angesiedelt ist, findet sich der Begriff Autonomie in philosophischen und ethischen Diskursen. Da diese Arbeit sich aufgrund der oben definierten Aufgabe als ethische Studie versteht, ist Autonomie der Begriff, der einen direkteren Zugang zu den für die Aufgabe relevanten Texten und Diskursen eröffnet, was mich dazu veranlasst, dem Begriff der Autonomie den Vorzug zu geben. Diese Begriffswahl erfolgt, obwohl die Arbeit von der durch ihre Aufgabe aufgegriffenen Problematik her auch eine Arbeit zum Begriff Mündigkeit hätte sein können.

1.5 Vorbemerkungen zum Begriff der Erziehung Hinter dem Begriff Erziehung verbergen sich unzählige verschiedene Praktiken und Situationen. Erziehung betrifft Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Oft ist Erziehung ein gegenseitiger Prozess des Einflussnehmens und Beeinflusst-Werdens und muss als kommunikativer Handlungskontext betrachtet werden. 87 Erziehung kann spontane 87

Meyer-Drawe, 1987, 11

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Vorbemerkungen zum Begriff der Erziehung

Handlung sein oder kann eher langfristig vorgestellt und geplant sein. Eine erzieherische Intention kann mehr oder weniger bewusst und offen artikuliert, mehr oder weniger autoritär oder demokratisch, nach gemeinsamen Überlegungen festgelegt sein. Erziehung kann im Rahmen formeller Bedingungen, wie beispielsweise einer staatlichen, obligatorischen Grundschule, oder auf informellem Feld, wie etwa durch mediale Einflussnahme, stattfinden. Für diese Arbeit wird keine Abgrenzung entlang einer dieser Linien vorgenommen. Vielmehr möchte ich Erziehung als allgemeines Phänomen behandeln und dabei verschiedene Situationen innerhalb der hier genannten Erscheinungsformen diskutieren. Für diese Diskussion – und hiermit wird eine einschneidende Abgrenzung bezüglich relevanter Fragen und relevantem Material vorgenommen – wird eine ethische Perspektive gewählt, anhand welcher Aspekte der Normativität von Erziehung thematisiert und problematisiert werden. 88 Zu diesem Zweck soll ein gemeinsamer kleinster Nenner eines allgemeinen Phänomens Erziehung festgestellt werden. Dieser betrifft in Entsprechung mit dem ethischen Fokus der Arbeit zwei grundlegende und für ethische Fragestellungen relevante Aspekte, welche den Anspruch von Erziehung – oder, wie im Folgenden ausgedrückt, Erziehung als Anspruch – kennzeichnen: Asymmetrie und Richtung. Anhand dieser zwei Aspekte soll Erziehung als Anspruch fokussiert werden. Die für die Arbeit gewählte ethische Perspektive auf Erziehung als Anspruch rückt den Blickwinkel der erziehenden Person (oder Institution) ins Zentrum der Studie. Die Wahl der Perspektive der erziehenden Person ist abhängig von der Aufgabe der Bestimmung und Begründung von Autonomie als Zielvorstellung für Erziehung. Interessant ist für die Frage der Legitimierung von Zielvorstellungen in erster Linie die Rolle der erziehenden Person gegenüber der zu erziehenden Per88 Der Ansatz der Arbeit ist geprägt von einem ethischen Interesse für die Normativität von Erziehung. Somit lässt sich die Arbeit methodisch anhand von Unterscheidungen, wie sie bisweilen in der Pädagogik vorgenommen worden sind nur schlecht bestimmen. Die Unterscheidung Benners zwischen »Theorie der Erziehung« (als gerichtet auf »Aussagen über die Möglichkeiten, Modalitäten und Grenzen pädagogischen Wirkens« respektive auf »Erfahrung und Situationsbewältigung«) und »Theorie der Bildung« (als gerichtet auf »die Aufgaben und die Zweck- oder Sinnbestimmung pädagogischer Praxis«) etwa, ist für den Ansatz der vorliegenden Arbeit nicht relevant, da diese gerade im Zusammenhang zwischen den Möglichkeiten pädagogischen Wirkens und dessen Zweckbestimmungen ethisch interessante und zu analysierende Annahmen verortet. (Benner, 2005a, 132–134, 150; Benner 1978, 17)

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Einleitung

son. Denn letztere sieht sich in der Erziehungssituation von gewissen Ansprüchen ersterer konfrontiert. Dies ist als formale Bestimmung hinsichtlich der für die Aufgabe der Studie relevanten Problematisierung der Bestimmung und Begründung von Zielvorstellungen für Erziehung zu verstehen, nicht als eine inhaltlich-normative Ernennung der Perspektive der erziehenden Person als primär. Mit anderen Worten soll die gewählte Fokussierung auf die erziehende Person nicht als Stellungnahme gegen eine im weitesten Sinne reformpädagogische Anerkennung der Relevanz der Bedingungen der zu erziehenden Person – meist das Kind oder den Jugendlichen – in ihrer spezifischen Situation und mit ihren spezifischen Voraussetzungen gedeutet werden. Umgekehrt macht eine solche reformpädagogisch gefärbte Anerkennung ein Interesse für die Bedingungen und die Rolle der erziehenden Person nicht irrelevant. Im Gegenteil trägt die hier angewandte ethische Perspektive, wie zu zeigen sein wird, mit einer Problematisierung des Anspruchs von Erziehung zu einer Nuancierung der Bedeutung der Bedingungen der zu erziehenden Personen bei. Der interdisziplinäre Charakter dieser Arbeit macht, um eine möglichst fruchtbare Begegnung verschiedener Perspektiven zu ermöglichen, Abgrenzungen nötig. Diese Abgrenzungen werden mittels eingrenzender Begriffsbestimmungen einerseits und mittels einer Perspektivenwahl andererseits vorgenommen. Zu diesen beiden Abgrenzungen, der begrifflichen und der perspektivischen, ist dabei Folgendes zu sagen: Erstens sind die beiden Abgrenzungen nicht in einem strikten Sinne voneinander zu trennen. Vielmehr sind Begriffsbestimmung und Perspektivenwahl voneinander abhängig und miteinander verschränkt. Zweitens sind sie als Abgrenzungen beide bewusst eklektisch. Sie werden motiviert im Hinblick auf ihre Relevanz für die Problemstellung der Arbeit. Wie die Begründung der getroffenen begrifflichen wie perspektivischen Abgrenzungen hoffentlich glaubwürdig machen kann, sind sie im Hinblick auf die zu beantwortenden Fragestellungen der Arbeit angemessen. Im Folgenden wird zuerst auf den Begriff Erziehung eingegangen. Es wird – vorerst nur in groben Konturen – angegeben, was mit Erziehung im Rahmen dieser Arbeit gemeint ist. Diese Bestimmung wird in den Kapiteln 2 und 3 problematisierend verfeinert. Danach wird die an diese Begriffsbestimmung angrenzende Perspektivenwahl erläutert. Es geht dabei insbesondere um eine Positionierung innerhalb der Debatte um Inhalt, Aufgabe und Methode von Pädagogik. 58 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Vorbemerkungen zum Begriff der Erziehung

1.5.1 Erziehung im Spannungsfeld zwischen Asymmetrie und Richtung Die Unterscheidung zwischen den Begriffen Bildung und Erziehung kann als »deutsche Besonderheit« bezeichnet werden. 89 Es mag seltsam erscheinen, dass für diese Arbeit der Begriff Erziehung gewählt worden ist. Durch ihre Frage nach Autonomie als Zielvorstellung in Verbindung mit der pädagogischen Legitimitätsfrage knüpft die vorliegende Arbeit doch deutlich an jene Thematik an, die im deutschen Sprachraum eng mit dem Begriff der Bildung verbunden ist. Anhand des Bildungsbegriffes artikulierten sich traditionellerweise Fragestellungen, die um eine Thematik des »Übergangs von Kindheit zu Reife« kreisen, typischerweise gedeutet im Rahmen eines Verständnisses des Reifeprozesses ausgedrückt als Emanzipationsprozess. 90 Eine systematische und präzise Unterscheidung der Begriffe Bildung und Erziehung wird hier nicht angestrebt, da sie eine umfangreiche Diskussion bedingen würde. Für die Zwecke dieser begrifflichen und methodischen Einführung in den Themenbereich der Arbeit, sowie einer Motivation der Begriffswahl Erziehung begnüge ich mich hier mit einer kurzgefassten Bezugnahme auf zwei Aspekte der beiden Begriffe Erziehung und Bildung. Während Bildung erstens geschichtlich sehr stark in einer Aufklärungsideologie verankert ist, verweist der Begriff Erziehung auf breitere, d. h. geschichtlich ältere Bezüge und öffnet damit auch für neuere Bezüge. 91 Mit anderen Worten steht der Begriff Erziehung nicht wie der Bildungsbegriff in einem direkten Bezug zur Aufklärungstradition. Erziehung ist zweitens deutlicher mit einer relational definierten Handlungsdimension verknüpft. Im Begriff Erziehung als »Geschehen zwischen Menschen« ist gewissermaßen ein Verweis auf ethische Aspekte schon enthalten. 92 Dies unterstreichen auch die im Englischen verwendeten Begriffe wie child-rearing oder upbringing. Der Erziehungsbegriff bewegt sich aufgrund seiner Handlungsdimension deutlicher als der Bildungsbegriff in einem Feld, welches Kommunikation und Interaktion aktualisiert. 89 90 91 92

Benner & Oelkers, 2004, 9 Blake Smeyers, Smith, Standish, 2003, 9 Oelkers, 2004, 304 ff. Fuhr, 1998, 15

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»Unter ›Erziehung‹ kann allgemein die moralische Kommunikation zwischen Personen und Institutionen sowie mit und über Medien verstanden werden, soweit sie auf dauerhafte Einwirkungen abzielt und ein Gefälle voraussetzt.« 93

Wenn es um Erziehung als Handlung, als Situation und Relation geht, insbesondere aus der Perspektive der erziehenden Person, sind damit Fragen zur normativen Gestaltung derselben verbunden. Es geht beim Erziehungsbegriff, deutlicher als beim Bildungsbegriff, um kommunikative Handlungen, selbst wenn, wie die Darstellung hier deutlich machen soll, die Linien, entlang welcher diese Unterscheidungen aufgezeichnet und motiviert werden, kaum geeignet scheinen, feste oder klar abtrennende Kategorien zu schaffen. Begrifflich begrenzt wird Erziehung auf Erziehung als intentionales Handeln, welches, Zielvorstellungen umfassend oder formulierend, verbunden ist mit einem Anspruch von Asymmetrie in Form eines beanspruchten ›Vorsprunges‹ oder ›Wissensgefälles‹ einerseits und mit einem Anspruch von Richtung als beabsichtigte Veränderung zum Besseren andererseits. Eine solche, vorerst nur im Umriss skizzierte Definition ist Ausdruck des Versuchs, Erziehung aus der Perspektive der erziehenden Person, d. h. von ihrer Intentionalität und den sich im Zusammenhang damit stellenden ethischen Fragen her zu erfassen. Diese Perspektive hat einen schmälernden Effekt auf das Phänomen Erziehung. Wenn Erziehung umgekehrt aus der Perspektive zu erziehender oder erzogenen Personen betrachtet wird, müssten, zumindest retrospektiv, ein breiteres Spektrum an Lernerfahrungen und Prozessen als ›erziehend‹ oder dem Phänomen Erziehung zugehörig miteinbezogen werden. Dabei wäre durchaus denkbar, dass ein Kriterium bewusster Intentionalität nicht unbedingt erfüllt sein müsste und eine Lernerfahrung dennoch als Erziehungserfahrung gedeutet werden könnte. Es ist auch kaum bestreitbar, dass gerade solche Erfahrungen von durch Andere beeinflussten Lernprozessen, die in eine weitere Definition von Erziehung fallen würden, durchaus eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Unbewusste und bewusste Erfahrungen und Lernprozesse sind in diesem Sinne durchaus als ›erziehend‹ zu deuten. Hier soll es jedoch um Erziehung in einem engeren Sinne gehen, wo diese als beabsichtigtes Einwirken verstanden werden kann. Mit Erziehung sind also absichtliche Handlungen gemeint. Diese Begrenzung hat ihre Begründung darin, dass es bei dieser Arbeit um eine 93

Oelkers, 2004, 303 (meine Kursivierung)

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ethische Studie geht. Aus ethischer Sicht ist die Intentionalität, die auf Andere ausgerichtet ist, von besonderer Relevanz. Dies nicht nur im Hinblick darauf, dass es sich um eine stellvertretende, d. h. auf andere ausgerichtete, und damit in gewisser Hinsicht einschränkende Intentionalität geht, sondern vor allem im Hinblick auf den gleichzeitigen Anspruch von Asymmetrie. Mit anderen Worten ist es die Intentionalität als Kombination eines Anspruches an Asymmetrie und Richtung, die ethisch von Interesse ist und die im Zusammenhang mit der Aufgabe dieser Arbeit für ein engeres, primär von der Sicht der erziehenden Person gestaltetes Verständnis von Erziehung spricht. Es handelt sich außerdem bei dem Fokus auf Erziehung als intentionale Handlung um einen Ansatz, der historisch und kulturell bedingte Vielfalt praktischer und theoretischer Handhabungsweisen von Erziehung nicht ignoriert, dessen Fokus aber auf das als einheitlich vorausgesetzte Phänomen Erziehung gerichtet ist. 94 Dies setzt eine »eigene Logik des Pädagogischen« 95 voraus, jedoch nicht als nach außen hin geschlossen, 96 sondern als Bezeichnung einer Einheitlichkeit gewisser Grundbedingungen. Die Reflexion darüber macht darum auch ein »unterscheidbares Reflexionsfeld« 97 aus. Es soll hier ebenfalls betont werden, dass es nicht um universalistische Ansprüche oder ein Suspendieren der Bedeutung kontextueller Aspekte für Erziehung geht. Einheitlich ist das Phänomen Erziehung nur insofern, als es um eine grundlegende Erfahrung von Erziehung als Anspruch an Asymmetrie und Richtung geht. Anhand dieser zwei Ansprüche, die als ethisch relevante Aspekte identifiziert und zugleich als konstitutive

94 Nur wenn Unterscheidungen wie Praxis – Theorie, Partikularität – Universalität als einander gegenseitig ausschließend aufgefasst werden, führt ein Ansatz, der sich Erziehung als einheitliches Phänomen nähern will, zu universalistischen Ansprüchen. Wird jedoch die Abstraktion, die in einer generellen Fassung von Erziehung liegt, nicht als Aufhebung, sondern als Inklusion des Konkreten und der dieses kennzeichnenden Vieldeutigkeit betrachtet, kann Erziehung, wie hier beabsichtigt, als einheitliches Phänomen behandelt werden, ohne dass dabei automatisch ein universalistischer Anspruch gemacht wird. 95 Liebau, 1999, 6 96 Im Sinne der Feststellung Oelkers, dass es bei Erziehung nicht um eine »begrenzbare Totalität oder Ganzheit« gehen kann, und dass keine Erziehungstheorie Anspruch darauf machen kann, zu erfassen, was bei Erziehung »insgesamt geschieht.« (Oelkers, 2001, 232) 97 Oelkers, 2001, 11

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Einleitung

Kennzeichen von Erziehung verstanden werden, wird Erziehung in dieser Arbeit als einheitliches Phänomen gefasst.

1.5.2 Der Vorzug von Pädagogik als diskursiver und ungefährer Perspektive Die zwei oben angegebenen, für die hier gewählte ethische Perspektive relevanten Aspekte von Erziehung (Asymmetrie und Richtung) sollen auch vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Erziehung als Generationenverhältnis gesehen werden. Zentral für diese Sichtweise ist eine zeitgeschichtlich relativierende und relational angelegte Betrachtungsweise pädagogischer Zusammenhänge. Es geht darum, dass, wenn ein kritischer (und selbstkritischer) Ansatz im Bereich der Pädagogik als möglich erachtet werden soll, dies nur vor dem Hintergrund einer pädagogischen Theorie, die sich selber als »partiell und tendenziell« 98 versteht, plausibel ist. Eine solche geschichtlich-relational angelegte Sichtweise ist auch bereits im Generationsbegriff impliziert: »Generationen gibt es nie an sich und isoliert, sondern nur im Zusammenhang und in Differenz zu anderen Generationen sowie einem Bewusstsein darüber, wie dieser Zusammenhang aussieht.« 99 Dies wirkt sich nicht nur auf methodische Aspekte wie Reichweite und Anspruch der vorgelegten Argumentation der Arbeit aus, sondern hat auch eine inhaltliche Prägung der ethischen Perspektive auf Erziehung, sowie den daraus konstruierten Kriterien zur Beurteilung der Bestimmung und Begründung von Autonomie als Zielvorstellung zur Folge. Angesprochen werden durch den Begriff Generationenverhältnis nicht nur die oben angeführten Aspekte (Asymmetrie und Richtung), sondern auch die Begegnung und Interaktion von Kindern und Erwachsenen. Wesentlich ist dabei der Umstand, dass das Verständnis von Erziehung als Generationenverhältnis die Reflexionen in Bezug auf moralpädagogische Zielvorstellungen einer zeitlichen und relationalen Perspektive unterwirft. Methodisch gesehen drängt dies zu einer Relativierung möglicher Argumente und Schlussfolgerungen. Der normative Ansatz und Anspruch dieser Arbeit versteht sich somit als ein – hoffentlich plausibler – Beitrag zu einer fortzusetzenden Diskussion. 98 99

Meyer-Drawe, 1987, 14 Zirfas, 2004, 131

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Es geht in dieser Arbeit um die moralpädagogische Bestimmung und Begründung von Autonomie. Dies fordert einen Kommentar zum Gebiet der Moralpädagogik. Als Unterkategorie von Pädagogik, welche Erziehung, Bildung und Unterricht zum Gegenstand hat, bezeichnet eine moralpädagogische Perspektive Fragen zu Erziehung. Erziehung ist durch den Bezug auf moralische Wertungen gekennzeichnet. 100 Während in der Arbeit das Adjektiv ›moralpädagogisch‹ häufig gebraucht wird, ist darunter nicht eine deutlich abgrenzbare, eigene Kategorie von Fragen zu verstehen. Es geht lediglich darum, den Fokus auf Erziehung als pädagogischen Zusammenhang mit Bezug auf Werte und Wertungen zu markieren. Es stellt sich hier insbesondere auch die Frage, inwiefern sich Pädagogik (Moralpädagogik eingeschlossen) von Erziehungswissenschaft unterscheidet, und was deren Inhalt und Aufgaben sind und sein sollen. Als Reaktion auf Pädagogik als normative Lehre der Erziehung ist der Begriff Erziehungswissenschaft Ende der 1960er Jahre im Rahmen einer wissenschaftstheoretischen Debatte als im Gegensatz zur Pädagogik wissenschaftlich abgesichert (im Sinne des im Englischen angewandten Begriffes evidence-based) gebraucht worden. Die Gegenüberstellung der beiden Begriffe, in Form von Debatten um Pädagogik oder Erziehungswissenschaft war bis Ende 20. Jahrhundert präsent. Diese kontrastierende Gegenüberstellung der Begriffe wich dann aber mehr und mehr einem Prozess interner »Ausdifferenzierung« und »Reintegration«. Die Begriffe Erziehungswissenschaft und Pädagogik werden seither kaum mehr zum Zweck systematischer Unterteilungen gebraucht. 101 Obwohl die Bedeutung und Anwendung des Begriffes Erziehungswissenschaft nicht einheitlich ist, wirft die Debatte um eine empirisch begründete, wissenschaftlich angelegte Erziehungswissenschaft die Problematik der Normativität auf, welche auch für den Ansatz dieser Arbeit relevant ist und hier kurz besprochen werden soll. Ausgangspunkt ist die Kritik, dass Wissenschaft nicht normative Aussagen machen kann und soll. Vielmehr sollen Studien zu Erziehung – nunmehr als Erziehungswissenschaft benannt – sich auf Empirie gestützte Deskription beschränken. Diese Sichtweise vertritt beispielsweise Siehe Fußnote 12, S. 16. Tenorth, 2004, 374, 280–382. Brezinkas Buch Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft (1971) wird zentrale Bedeutung für diese Gegenüberstellung von Pädagogik und Erziehungswissenschaft zugeschrieben. 100 101

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Einleitung

Beutler, der einer klassisch geisteswissenschaftlich geprägten Pädagogik mit normativen Entwürfen zu Erziehung eine auf Empirie abgestützte Erziehungswissenschaft gegenüberstellt. Beutler schreibt: »Die Erziehungswissenschaft kann also feststellen, welche Erziehungsziele in einer Gesellschaft für wichtig und welche für unerheblich erachtet werden. Insofern kann sie über Erziehungsziele befinden. Aber sie kann selbst nicht mit wissenschaftlichen Gründen angeben, was sein soll und was nicht. (…) Wenn die Ansätze normativer Pädagogik Empfehlungen für das Erziehungshandeln geben und dabei dann auch Erziehungsziele präskriptiv festlegen, so lässt sich dies nicht absichern.« 102

Beutlers Argumentation muss verstanden werden als polemisch gegenüber responsiv angelegten Versuchen, Erziehung als Mittel gegen einen als allgemein angenommenen Wertezerfall einzusetzen. 103 Es geht ihm aber nicht nur um die Ablehnung eines universalistischen Konservatismus, sondern auch um die Art und Weise, wie mit der Normativität der Erziehung wissenschaftlich umgegangen werden soll. Beutler will die Aufgabe der Erziehungswissenschaft auf deskriptive, auf Empirie abgestützte Erörterung der in der Erziehung praktizierten Normativität beschränken. In Beutlers Darstellung besteht ein grundlegender Unterschied in der Funktion oder Position, welche Erziehung einnimmt. Erziehung als in sich normative Praxis wird von einer strikt empirisch orientierten Erziehungswissenschaft als Forschungsobjekt von außen, als Geschehen studiert, während klassische oder klassisch orientierte, neuzeitliche Pädagogik sich der Erziehung als Subjekt bemächtigt, indem sie sich quasi deren Normativität zu eigen macht. Bezeichnenderweise stellt aber Beutlers eigene Argumentation eine normative und zugleich wissenschaftlich artikulierte Stellungnahme in dieser Debatte dar. Denn er argumentiert nicht nur für die empirische Begründung, sondern auch allgemein, und dies aus philosophischen, nicht empirisch nachweisbaren Gründen, gegen eine universalistische und für ein kontextuell-historisches Verständnis der Erziehung. Beutler kann aber entgegengehalten werden, dass diese exklusivistisch empirischen und auf Deskription angelegten Ansätze der Erziehungswissenschaft an den eigentlichen Kern erzieherischer Problematik nicht herankommen. Diesen Vorwurf formuliert Winkler: Beutler, 1996, 274 Insbesondere das Bonner Forum »Mut zur Erziehung« ist hier angesprochen. Siehe Benner, 2005a, 140–141; Beutler, 1996, 277–278. 102 103

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»Ihr (der Erziehungswissenschaft, meine Anmerkung) Dilemma besteht offensichtlich darin, dass ihr in der Wende zu Empirie und Daten nicht nur die Tradition der eigenen Begrifflichkeit aus dem Blick gerät. Vielmehr verliert sie die sprachlich-reflexive Gebundenheit ihrer Gegenstände und damit diese selbst. Platt formuliert: Mit allen Daten einer empirischen Forschung pädagogischer Phänomene wissen wir nicht mehr, was diese als pädagogische Phänomene auszeichnet.« 104

Den Grund dafür sieht Winkler im Umstand, dass es empirischer Erziehungswissenschaft an einer Begrifflichkeit und Methode mangelt, die das, was »als sinnhaft von den Beteiligten gedeutet und gestaltet wird«, erfassen können. Wie Winkler auch bemerkt: »Erziehung muss eben gedacht werden, hat mit einer Idee zu tun.« 105 »Normen sind Teil der sozialen Wirklichkeit, die als Erwartungen mit Erziehung verbunden werden und diese formativ bestimmen. Daher stellt Normativität einen aufzuklärenden Sachverhalt dar, zumal er Optionen und Folgen sichtbar macht, die aus deren Wahl entstehen.« 106

Beutlers Unterscheidung von empirisch begründeter und rein deskriptiver Erziehungswissenschaft von normativer, moralphilosophisch artikulierter Pädagogik ist zu vereinfachend und darum problematisch. Zu Empirie sagt Beutler zwar, dass auch sie von Theoriebildung geprägt ist und im Lichte derselben Daten interpretiert, aber er macht Empirie dennoch zu dem entscheidenden Faktor, der als Garant für wissenschaftliche Objektivität dient. 107 Was er nicht diskutiert, ist die Möglichkeit, für eine nicht-empirische Vorgehensweise, Kriterien aufzustellen, die gleichzeitig Wissenschaftlichkeit garantieren und normative Schlüsse zulässig machen. Pädagogik soll hier im Anschluss an Winkler als »Nachdenken über Erziehung« verstanden werden. Dies geschieht, so Winkler, innerhalb der Spannung zwischen Wissenschaftlichkeit und öffentlicher Debatte, als Suche nach »Denkwege(n) im Dickicht« oder als »Nachdenklichkeit, die sich des Sinns der Pädagogik zu vergewissern versucht, ohne vor empirischen Befunden halt zu machen«. 108 So definiert geht es bei Pädagogik nicht um beliebige Verkündigung von Dogmen. Viel104 105 106 107 108

Winkler, 2006, 33–34 Winkler, 2006, 33–34 Winkler, 2006, 37 Beutler, 1996, 277 Winkler, 2006, 9

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Einleitung

mehr ist Pädagogik der Bedingung rationaler Zugänglichkeit unterworfen. Diese Bedingungen teilt die Pädagogik mit der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplin. Die Herausforderung besteht dann darin, eine »reflexive Pädagogik« zu formen, die um die »Ungewissheit ihres Stoffes« weiß und sich als »offenes Nachdenken«, methodisch zentriert um »Diskursivität als Konstruktionsform« versteht. 109 Ein solcher Ansatz gibt Anlass zu fragen, ob dies nicht eine Verschiebung der Perspektive auf eine Metaebene zur Folge hat. Winklers Sichtweise diesbezüglich macht eine solche Schlussfolgerung naheliegend: »Erziehung ist nur als ein Zusammenhang einer Problemstruktur, eines Handelns und der Deutung dieses Geschehens durch einen Diskurs und in diesem zu begreifen. (…) Die Wirklichkeit der Erziehung ist in Reflexion und Kommunikation gebunden, die Sache und der Begriff, den sich Menschen von ihr machen, lassen sich nicht trennen.« 110

Es würde bei einer Arbeit wie dieser, die von Erziehung handelt, also mehr um die Vorstellung, die Deutung und den Diskurs der Erziehung als um die eigentlichen erzieherischen Handlungen gehen. Man müsste dann, was vielleicht angesichts des Konfliktes zwischen empirisch angelegter Erziehungswissenschaft und Pädagogik als befreiender Ausweg erscheinen könnte, wissenschaftliche Aussagen zu Erziehung als unzugänglicher Erscheinung auf eine meta-pädagogische Ebene 111 beschränken. Es ginge dabei nicht um Erziehung selbst, sondern um den meta-pädagogisch gefassten Überbau der Erziehung. Eine solche Schlussfolgerung würde aber der inkludierenden Sichtweise Winklers zu Erziehung gerade widersprechen. Was er geltend macht, ist, dass Erziehung eben beides untrennbar umfasst: die Handlung und den reflexiven und diskursiven Überbau dazu. Somit geht es – und das ist auch die Absicht dieser Arbeit – um eine Integration der Ebenen in eine Perspektive, die Erziehung ausgehend von Handlung und Erfahrung

Winkler, 2006, 47 Winkler, 2006, 50 111 Ein entsprechender Ansatz findet sich in Benners »Theorie der Pädagogik«, verstanden als »erziehungsphilosophische Klärung ihrer (der Pädagogik, meine Anmerkung) Voraussetzungen«. (Benner, 1978, 88) Dies könnte auch in Analogie mit dem von Nielsen lancierten Begriff »Didaktologie«, als »Theorie zu Unterrichtsinhalt, Ziel und Begründung« betrachtet werden. (Siehe Wiberg, 2007, 10; meine Übersetzung aus dem Dänischen.) 109 110

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Vorbemerkungen zum Begriff der Erziehung

reflektiert, dabei aber vor der darin enthaltenen Normativität nicht zurückschreckt. In Meyer-Drawes Darstellung sind aber mit dem Disput zwischen geisteswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung nicht nur verschiedene Methoden verbunden. Es besteht auch ein Unterschied bezüglich inhaltlicher Orientierungen, welcher mit grundlegenden Annahmen zu individueller Autonomie zusammenhängt. Die Herausforderung der am Bildungsideal orientierten geisteswissenschaftlichen und philosophischen Forschung durch den Sozialisationsbegriff sozialwissenschaftlicher Forschung in den 1960er Jahren war darum so einschneidend, weil mit ihr »die vielfältigen Verwicklungen des Individuums in seine sozialen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen« ins Zentrum rückten. Meyer-Drawe hebt diese Herausforderung als »Bereicherung geisteswissenschaftlicher oder philosophischer Forschung durch sozialwissenschaftliche Fragestellungen« hervor. Durch diese werde ein »Blick auf die überpersonalen Bedingungen und Voraussetzungen subjektiven und intersubjektiven Handelns« durch »interdisziplinäre Bearbeitung« ermöglicht. 112 Für den oben dargelegten Ansatz dieser Arbeit, mit moralpädagogischer Bestimmung und Begründung von Autonomie in Dependenz als zentrale Aufgabe, ist eine solche methodische und inhaltliche Erweiterung im Rahmen einer »Offenheit der Diskurse« im Einklang mit einer »interdisziplinär anschlussfähigen theoretischen Pädagogik« ebenfalls wichtig. 113 Sie soll unter anderem durch Hinweise zu Forschung aus dem Gebiet empirischer Kindheitsforschung berücksichtigt werden.

1.5.3 Erziehende und zu erziehende Person Wenn Erziehung angesprochen wird, geht es letztlich um Kinder und um das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen. 114 Sobald von Meyer-Drawe, 1990, 37–38 Benner, 2005a, 312 114 Damit soll nicht gesagt sein, dass Erziehung nicht zwischen Erwachsenen stattfinden kann. Der Ansatz hier ist, wie oben dargelegt, bedingt durch die ethische Frage nach Erziehung als Anspruch, auf Erziehung als allgemeines Phänomen, d. h. unabhängig von Abgrenzungen anhand spezifischer Altersgruppen, ausgerichtet. Somit umfassen die Reflexionen zu Erziehung streng genommen nicht nur Erziehung von Kindern. Da es aber im Weiteren um die Frage nach Erziehung zu Autonomie geht, und Autonomie 112 113

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Einleitung

einem Verständnis von Erziehung, deren Methoden und Zielvorstellungen die Rede ist, spielen Vorstellungen von Kindern und Erwachsenen mit. 115 Sie fließen in Reflexionen zu Erziehung ein. Insbesondere wenn, wie in dieser Arbeit, nach der Bestimmung und Begründung von Zielvorstellungen gefragt wird, spielen Vorstellungen zu Kindern und Erwachsenen eine wichtige Rolle. Für die Zwecke der Arbeit wird von einer grundlegenden Annahme ausgegangen, nämlich, dass die Begriffe Kinder und Erwachsene als veränderliche soziale Konstruktionen aufzufassen sind. 116 Ein solcher relationaler Fokus wird auch durch die Verwendung der Begriffe erziehende und zu erziehende Person117 hervorgehoben. In der Erziehungssituation stehen sich Kinder und Erwachsene gegenüber. 118 Dieses Gegenüberstehen von Kindern und Erwachsenen und die daraus folgende Interaktion konstituiert eine Situation mit relationalen Aspekten. In der Erziehungssituation interagieren sie als erziehende und von diesen als zu erziehende identifizierte Personen. Der Begriff Person ist dabei an sich relational zu verstehen. Zurückgehend auf die lateinische und griechische Ursprungsbedeutung Maske, bezeichnet der Begriff Person in einem antiken oder vormodernen Verständnis die von einem Schauspieler gespielte Rolle und, in erweiterter Bedeutung etwa beim stoischen Philosophen Epictetus die Rolle, welche jemand in seinem Leben annimmt. Dies suggeriert ein – auch für die Zwecke hier geeignetes – Verständnis des Begriffes Person als ein »subject of relations«. 119 Die Bezeichnungen erziehende respektive dabei diskutiert wird als Aspekt moralischer Kompetenz, wird in dieser Arbeit der Fokus auf Erziehung von Kindern, d. h. Erziehung im Generationenverhältnis, gelegt. 115 Smeyers & Wringe, 2003, 311 116 Smeyers & Wringe, 2003, 312–314 117 Benner spricht von »Zu-Erziehenden« im Zusammenhang mit der Formulierung der beiden pädagogischen Prinzipien Bildsamkeit und Aufforderung zur Selbsttätigkeit, die für den Ausgangspunkt dieser Arbeit von zentraler Bedeutung sind. Es wird darauf in Kapitel 2 näher eingegangen. (Benner, 2005a, 83 ff.) 118 Was natürlich keineswegs auf exkludierende Weise zu verstehen ist. Kinder und Erwachsene begegnen sich nicht ausschließlich im Rahmen von Erziehungssituationen. Wenn Kinder und Erwachsene relationale Begriffe sind, machen die in der Erziehungssituation konstituierten Relationen und Identitäten nur eine Sichtweise vieler möglicher aus. 119 Singer, 2002, 133–136. Singer stellt den relationalen Gebrauch des Begriffes einem substantiellen Verständnis von Person gegenüber. Singer ist kritisch gegenüber einem substantiellen Verständnis des Begriffes Person, vor allem weil er meint, dass damit ein Verständnis verbunden ist, welches Person zum Synonym für den Begriff Mensch

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Strukturierung der Arbeit

zu erziehende Personen heben die im moralpädagogischen Anspruch konstituierten und für die ethische Perspektive relevanten, relational konstituierten Identitäten in Bezug auf die moralpädagogische Situation hervor. Indem erziehende und zu erziehende Personen in der moralpädagogischen Situation miteinander kommunizieren und interagieren sind sie geprägt von ihrer jeweiligen Rolle oder Position in der moralpädagogischen Situation. Bedingt durch den ethischen Fokus dieser Arbeit auf Erziehung als Anspruch ist eine relationale und situationsbezogene Betrachtungsweise angebracht. Damit ist gemeint, dass von der grundlegenden Annahme ausgegangen wird, dass dem Charakter der jeweiligen Relation und der Situation Bedeutung für Erfahrung, Selbstverständnis, sowie Verhalten der beteiligten Personen zukommt. Relevant für die Fragestellungen der Arbeit im Zusammenhang mit der Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung ist dabei eine Sichtweise, die die in der Erziehungssituation beteiligten Personen aus dieser Situation heraus und damit in der Art und Weise wie sie aufeinander bezogen sind, betrachtet. Insbesondere die in Erziehungssituationen beanspruchte Asymmetrie wird damit thematisiert und problematisiert als konstitutiv für die Situation, aber auch als bestimmend für die darin beteiligten Personen.

1.6 Strukturierung der Arbeit Kapitel 2 ist der Legitimitätsfrage im Zusammenhang mit Erziehung und insbesondere der moralpädagogischen Zielvorstellung Autonomie gewidmet. Ausgehend von einer kritischen Besprechung des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas und des darin artikulierten pädagogischen Paradoxes wird für die Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung für ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster argumentiert. Kapitel 3 besteht aus einer kritischen Analyse von Erziehung aus ethischer Perspektive mit Fokus auf Erziehung als Anspruch. Die Diskussion kreist um die als zentral identifizierten Ansprüche Asym-

macht. Nur Menschen können demgemäß Personen sein und nur Menschen können so in den Genuss des damit verbundenen moralischen Status kommen.

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Einleitung

metrie und Richtung. Diese werden als adäquate Ansprüche postuliert als dialektische Asymmetrie und riskante Richtung. Die folgenden Kapitel 4–6 sind dann der Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte gewidmet, wobei die verschiedenen Autonomiekonzepte gruppiert werden um je einen spezifischen Ausdruck von Dependenz, innerhalb welcher Autonomie situiert wird. Die jeweiligen Autonomiekonzepte werden innerhalb des kohärenzorientierten Begründungsmusters jeweils auf strukturelle Ähnlichkeiten mit den als adäquat postulierten Ansprüchen in Erziehung untersucht. In Kapitel 4 wird Autonomie in Interaktion besprochen. Es wird ein Autonomieverständnis von Kants Autonomiebegriff her aufgerollt. Autonomie (und Heteronomie) ist bei Kant moralisch gefasst und beleuchtet diese aus der Perspektive ihrer moralischen Bedingtheit und Implikationen. Auf Kriterien zur Bestimmung ethisch erstrebenswerter Interaktion bauend, spielt respektvolle Interaktion eine wichtige Rolle für Kants Autonomieverständnis. Diese Aspekte normierter Interaktion greifen Rawls und Habermas auf je eigene Weise auf, sodass Autonomie bei ihnen bestimmt und begründet wird anhand einer Bereitschaft zu Kooperation respektive gegenseitiger kommunikativer Gewährleistung. Insgesamt drängen diese Betrachtungsweisen, so mein Argument, zu einer Interpretation von Autonomie in kantischem Sinne, welche Autonomie durchaus in Dependenz als Interaktion fassen kann. Die Bedeutung einer solchen Interpretation wird anhand der in Kapitel 3 präsentierten, adäquaten Ansprüche in Erziehung dargestellt und motiviert. Kapitel 5 ist Konzepten von Autonomie gewidmet, welche Autonomie als Funktion von Beziehungen, d. h. in Relationalität konzeptualisieren. Die hier besprochenen Autonomieverständnisse gründen auf einer Sichtweise des Individuums als mehr oder weniger weitgehend in relationalen Bezügen konstituiert. Autonomie, insofern beim Individuum von solcher die Rede sein kann, zeichnet sich in oder an Beziehungen ab. Bei Taylor geht es um Autonomie als Sinnsuche innerhalb vorgefundener Verständnishorizonte. Bei MacIntyre findet sich Autonomie im Praxisbegriff begründet und formuliert als Bedingung für eine zweite Dependenz. Jüngere Konzepte relationaler Autonomie, wie jener Oshanas, verorten Autonomie in der Bedingung, dass jemand von anderen Personen als autonome Person betrachtet und behandelt wird. Meyers versteht Autonomie als authentische intersektionale Identität und schlägt somit eine Sichtweise vor, die relationale 70 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Strukturierung der Arbeit

Bedingungen als bestimmend, aber nicht unbedingt auf eine direkte und kausale Weise, betrachtet. Kapitel 6 betrachtet Autonomie aus einer Perspektive, die eine Zeitdimension als Ausdruck von Dependenz thematisiert, als Autonomie in Zeit. Autonomie in Dependenz ist hier Autonomie in Abhängigkeit von zeitlichen Prozessen oder Verläufen, innerhalb welcher Autonomie in Abhängigkeit vorhergehender oder nachfolgender Entscheidungen, Präferenzen oder Handlungen konzeptualisiert wird. Hier werden zwei Konzepte von Autonomie, in welchen eine Zeitdimension eine entscheidende Rolle spielt, einander gegenübergestellt. Ekstroms Autonomiekonzept macht Authentizität, verstanden als – über Zeit heranwachsende – Kohärenz zum Kern von Autonomie. Ihr Konzept konstituiert eine Art langsamer Autonomie. Seels Verständnis von Selbstbestimmung wendet sich gegen die Vorstellung von Kontinuität als Kriterium für Autonomie. Seine Theorie macht gerade die zeitlose Punktualität als Abwesenheit zeitlicher Kontinuität zum Kriterium für Selbstbestimmung. Schließlich werden in Kapitel 7 die Schlussfolgerungen der vorhergehenden Kapitel summiert. Anhand einiger Aspekte werden verschiedene Problembereiche inhaltlicher, wie methodischer Art vertiefend aufgegriffen. Es wird dabei für eine Sichtweise argumentiert, welche das Verhältnis der normativen Größen Autonomie und Erziehung, anhand eines kohärenzorientierten Begründungsmusters als von gegenseitiger Abstimmung und einem dynamischen Legitimierungsverhältnis geprägt betrachtet. Dies wird im Rückgriff sowohl auf die als adäquat vorgeschlagenen Ansprüche dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung wie auch auf die verschiedenen Ausdrücke von Dependenz als integrierte Aspekte von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung dargestellt. Damit ist erstens der Umstand angesprochen, dass Erziehung nicht in erster Linie als Erziehung zu Autonomie zu fassen ist, sondern – kohärenzorientiert – als Erziehung in Autonomie zu verstehen ist. Autonomie kann demgemäß als moralpädagogische Zielvorstellung insofern ein funktionaler Wert sein, als sie die Erziehungssituation respektive die darin artikulierten Ansprüche auf plausible Weise prägt. Als Zielvorstellung kann Autonomie sowohl realistisch wie auch utopisch orientiert sein, aber es geht nicht um einen zeitlich definierbaren Prozess mit einer kontinuierlichen und zunehmenden Annäherung an ein in der Ferne liegendes Ziel. Dies impliziert eine weitgehende Ab71 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Einleitung

sage an die Vorstellung, Autonomie werde durch einen linear oder kontrollierbar beanspruchbaren Prozess erzieherisch erarbeitet oder gefördert. Erziehung macht nicht abhängige Kinder zu autonomen Erwachsenen und kann nicht glaubwürdig mit einem solchen Anspruch verbunden werden. Vielmehr ist Erziehung in Autonomie als Anspruch und als vielfältige relationale Situation orientiert an einem Autonomieideal, welches seinerseits für seine Bestimmung und Begründung an den Bedingungen der Situation orientiert ist. Damit ist zweitens ein umkehrbares, legitimierendes Verhältnis zwischen Autonomie und Erziehung angesprochen. Die Interpretation von Erziehung zu Autonomie als Erziehung in Autonomie macht eine Bestimmung und Begründung von Autonomie kontextuell abhängig von dem praktischen Zusammenhang der Erziehung. Die Bedingungen von Erziehung, dargestellt als von der Erziehungssituation abhängige Normativität und formuliert als Ansprüche, werden – wiederum gemäß einem kohärenzorientierten Begründungsmuster – zu definitorischen und normativen Kriterien für die Zielvorstellung Autonomie. Insgesamt entsteht in einem kohärenzorientierten Begründungsmuster eine Sichtweise, welche das pädagogische Paradox als belanglos erscheinen lässt. Dies hat über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehende Implikationen für die Bestimmung und Begründung moralphilosophischer Begriffe und ethischer Werte oder Ideale. Die Argumentation für die Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung anhand der Normativität von Erziehung kann also als allgemeines Argument dafür verstanden werden, dass philosophische Begriffe und ethische Ideale sich, um Plausibilität zu erreichen, für ihre Bestimmung und Begründung mit Vorteil an praktischen, kontextgebundenen Bedingungen orientieren.

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2 Die Legitimittsfrage – Autonomie als Garant legitimer Erziehung?

2.1 Legitimitt als kompensierende Gegenstzlichkeit Im Einleitungskapitel wurde festgehalten, dass dieser Arbeit, trotz der vielfachen und ernsthaften Kritik, welcher sich der Begriff Autonomie ausgesetzt sieht, eine Annahme von Autonomie als unverzichtbares ethisches Ideal in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft zu Grunde liegt. 1 Die philosophische Diskussion um den Begriff Autonomie war in den vergangenen drei Jahrzehnten umfangreich. 2 Es geht einerseits (im Fahrwasser kontinentaler Philosophie mit starker Kritik an subjektphilosophischen Konzepten) um die Frage, inwiefern der Begriff Autonomie sich überhaupt als resistent erweisen vermag gegenüber jenen Sichtweisen, die Autonomie als nicht mehr haltbar oder funktional betrachten. Andererseits (in einer Reihe jüngerer, vorDiese Annahme rudimentärer Art impliziert auch eine Abgrenzung der Aufgabe der Arbeit. Es geht hier nicht darum, Autonomie auf eine grundlegende Art zu begründen. Vielmehr geht es um die Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung. Die dabei herbeigezogenen moralpädagogischen Bedingungen werden in diesem und dem folgenden Kapitel 3 entwickelt. Dies setzt aber eine grundlegend positive Wertung von Autonomie bereits voraus. Als gesellschaftliches Ideal in einer Demokratie müsste unterschieden werden zwischen dem eher grundlegenden philosophischen Ideal Autonomie (»noncivic value of autonomy«) und Autonomie als gesellschaftstheoretischem Ideal (»civic goal«). Letzteres setzt Ersteres voraus, bezieht sich aber konkreter auf die Intention der Selbsterhaltung einer demokratischen Gesellschaftsstruktur. (MacMullen, 2007, 60–63) Erziehung zu Autonomie bezieht sich in dieser Arbeit nicht explizit auf Autonomie als gesellschaftstheoretisches Ideal, sondern diskutiert Autonomie in erster Linie als philosophisches Ideal. Allerdings fließen gesellschaftstheoretische Aspekte ein, insbesondere in der Bearbeitung von Rawls’ Autonomiekonzept. (Siehe Kapitel 4.) 2 Aufschlussreiche Übersichten finden sich in Oshana, 2006; Mackenzie & Stoljar, 2000. 1

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Die Legitimittsfrage – Autonomie als Garant legitimer Erziehung?

wiegend im englischen Sprachraum angesiedelten Ansätze) geht es um die etwas mildere Frage, wie sich diese Kritik auf alternative inhaltliche Bestimmungen und Begründungen des Begriffs Autonomie auswirken kann und soll. Unabhängig davon, ob es sich um radikalere oder mildere Formen von Kritik am Begriff der Autonomie dreht, gründen sie auf einer grundlegenden Beurteilung von Autonomie als unrealistische anthropologische Kategorie. Deskriptive und normative Aspekte sind in diesen Diskursen ineinander verflochten. Es geht sowohl um die Frage, inwiefern menschliches Verhalten überhaupt als autonom charakterisiert werden kann, wie auch um die Frage, inwiefern Autonomie ein erstrebenswertes Ideal sei. Der Bestimmung von Autonomie sind die Kapitel 4–6 dieser Arbeit gewidmet. In diesem Kapitel steht der Begriff der Autonomie in seiner Funktion als moralpädagogische Zielvorstellung zur Diskussion. Es geht hier also um die Frage, was es ethisch bedeutet, wenn ›zu Autonomie‹ erzogen werden soll. Wenn Autonomie grundsätzlich als unrealistisches anthropologisches Ideal betrachtet wird, insbesondere bezüglich pädagogisch beanspruchbarer Erreichbarkeit oder Machbarkeit, 3 dann wird die Frage nach der ethischen Bedeutung von Erziehung zu Autonomie prekär. 4 Was auf dem Spiel steht, ist die Begründbarkeit von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung. Kann eine unerreichbare oder nur schwer erreichbare Zielvorstellung für Erziehung begründet werden? Ist es berechtigt, mit Erziehung ein unrealistisches Ziel anzustreben? Nicht nur Autonomie, sondern moralpädagogische Zielvorstellungen generell, sind von einer grundlegenden Ungewissheit oder Unverfügbarkeit betroffen. Oelkers meint, Erziehungstheorie messe oft Erziehung am Ergebnis, statt am »erwarteten Zusammenhang von Prozess und Produkt«. Das Problem sei dabei, dass »niemand den Prozess überblicken kann, während er andauert«. Ziele seien als »Näherungsgrößen, die besser oder schlechter angestrebt werden können« zu verstehen. (Oelkers, 2001, 242, 249–250) Im anschließenden Kapitel 3 dieser Arbeit wird dieser Problematik innerhalb einer Analyse von Erziehung als Anspruch eingehend nachgegangen. 4 Mit dem Ausdruck Erziehung zu Autonomie ist die zentrale Thematik angesprochen, mit der sich diese Arbeit beschäftigt. Zwei Kommentare müssen zu diesem Ausdruck hier gemacht werden. Die ethische Fragestellung, anhand welcher Erziehung zu Autonomie hier problematisiert wird, ließe sich erstens ebenso oder ähnlich bearbeiten im Zusammenhang mit Begriffen wie Erziehung zu Mündigkeit, Selbständigkeit, Selbstbestimmung. (Siehe Kapitel 1 für eine begriffliche Abgrenzung, sowie Begründung der Wahl des Begriffes Autonomie für diese Arbeit.) Zweitens werden die folgenden Ausführungen zum Anlass genommen, die vorausgesetzte Richtung im Ausdruck Erziehung zu Autonomie in erweiterter Perspektive zu betrachten und dafür zu plädieren, dass Erziehung zu Autonomie sich auch als Erziehung in Autonomie artikulieren soll. 3

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Legitimitt als kompensierende Gegenstzlichkeit

Diese Frage nach der Berechtigung einer moralpädagogischen Zielvorstellung ist wichtig. Sie hängt jedoch in ihrer Umkehrung eng zusammen mit der Frage nach der Legitimität von Erziehung an sich. Erziehung wird innerhalb eines Rahmens einer – wiederum im weitesten Sinne – modernen Normativität als legitim betrachtet, insofern sie auf Autonomie hinzielt. Die Zielvorstellung Autonomie wird so, d. h. ausgehend von Prämissen unter modernen Vorzeichen, zum Garant legitimer Erziehung. Die Annahme, dass Erziehung als Freiheit begrenzende Praxis und als Ausdruck stellvertretender Intentionalität legitim sei, solange damit die Zielvorstellung Autonomie angestrebt wird, konstituiert das, was hier als das moderne moralpädagogische Legitimitätsparadigma benannt wird. Es umfasst die Vorstellung, dass Erziehung anhand der Zielvorstellung Autonomie legitimiert sei 5 und bedingt ein Begründungsmuster, welches die Legitimität von Erziehung als begründet mittels einer kompensierenden Gegensätzlichkeit entwirft. Damit ist gemeint, dass die Zielvorstellung Autonomie für den vorübergehenden (und als problematisch dargestellten) begrenzenden Eingriff in die Freiheit oder Autonomie der zu erziehenden Person quasi zu kompensieren hat. Das Begründungsmuster kompensierender Gegensätzlichkeit setzt demgemäß einen Gegensatz zwischen Erziehung als Anspruch und Praxis und deren Zielvorstellung Autonomie voraus. Die Argumentation dieses Kapitels stellt dieses gegensätzliche Verhältnis zwischen Erziehung als Anspruch und Praxis und ihrer Zielvorstellung in Frage, und präsentiert im Anschluss daran ein alternatives, so genannt kohärenzorientiertes Begründungsmuster. Innerhalb des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas steht aber mehr auf dem Spiel als die Begründbarkeit einer moralpädagogischen Zielvorstellung. Über die Frage der Erreichbarkeit einer Zielvorstellung hinaus geht es um die Überwindung einer pädaOfstad verleiht der Zielvorstellung Autonomie eine legitimierende Funktion und zugleich den Status eines Kriteriums zur Abgrenzung von Erziehung von Indoktrination. Letztere ist dann eine Abart von Erziehung, eine illegitime Form der Ausübung von Beeinflussung. (Ofstad, 1990) Die Legitimität von Erziehung durch die Zielvorstellung Autonomie, wie in dieser Arbeit thematisiert, ist vor einem weiteren geschichtlichen Hintergrund der modernen pädagogischen Annahme allgemeiner Bildsamkeit überhaupt zu verstehen. Erst mit »dem Untergang der hierarchischen und teleologischen Ordnung der gesellschaftlichen Tätigkeiten« aufgrund der »Industrialisierung und Bürokratisierung aller Lebensbereiche« wird die »moderne Fassung der konstitutiven Prinzipien pädagogischen Denkens« (Bildsamkeit und Aufforderung zur Selbsttätigkeit) möglich. (Benner, 2005a, 103)

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Die Legitimittsfrage – Autonomie als Garant legitimer Erziehung?

gogischen Gegensätzlichkeit zwischen Mittel und Zweck, zwischen Handlung und Zielvorstellung und damit um den Anspruch von Erziehung an sich. Das moderne moralpädagogische Paradigma ist dabei zu verstehen als Ausdruck eines Versuchs zur Lösung des ethischen Aspektes des pädagogischen Paradoxes. Mit dem Ausdruck pädagogisches Paradox wird im weitesten Sinne die Annahme eines pädagogischen Prinzips bezeichnet, dass Autonomie gefördert werde und zu fördern sei durch Erziehung als vorübergehend Freiheit und Autonomie begrenzendes Handeln. 6 Alexander von Oettingen beschreibt das Paradox als Folge des Umstandes, dass mit der Moderne Erziehung als Affirmation eines bestimmten Erwachsenendaseins abgelöst wird durch nicht-affirmative Erziehung auf »ein mögliches Erwachsenendasein«. 7 Damit verbunden sind eine Pluralität und ein Pluralismus bezüglich des Erwachsenseins in einer zunehmend globalisierten Welt, die pädagogisch eine Vereinung scheinbar gegensätzlicher Zielvorstellungen wie Toleranz und substantielle Identität oder kulturelle Zugehörigkeit verlangt. 8 Das pädagogische Paradox kommt als Bearbeitung verschiedener Problematiken zum Ausdruck. Relevant für die hier aufgeworfene Frage sind in erster Linie jene ethischen Aspekte, welche die Frage nach der Legitimität von Erziehung ansprechen. In jüngerer Zeit hat ein umfangreicher Diskurs um civic education und citizenship das pädagogische Paradox aus der Sicht einer gesellschaftstheoretischen politischen Dimension aktualisiert. Es geht dabei um gesellschaftliche Mit dieser doppelten Formulierung soll festgehalten werden, dass im pädagogischen Paradox ein eher deskriptiv-funktionaler Aspekt und ein eher normativer Aspekt nur schlecht voneinander auseinanderzuhalten sind. 7 von Oettingen, 2003, 166 8 Walzer diskutiert Toleranz als Ideal politischer Theorie und formuliert unter der Bezeichnung »the reproduction of the regime of toleration« aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive das pädagogische Paradox: »Doesn’t the regime have to teach all of its children, whatever their group memberships, the value of its own constitutional arrangements and the virtues of its founders, heroes and current leaders? And won’t that teaching, which is more or less unitary in character, interfere with or at least compete with the socialization of children into the various cultural communities?« Walzer meint, beide Fragen seien bejahend zu beantworten und weist im Hinblick auf sein Thema der Toleranz darauf hin, dass es mehr um Konkurrenz als um Konflikt zwischen den beiden Idealen geht. Er vermutet (ohne dies allerdings pädagogisch genauer zu klären), dass die Konfrontation mit konkurrierenden Wertesystemen für die Zielvorstellung Toleranz fördernd sei. (Walzer, 1997, 71–72) 6

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Legitimitt als kompensierende Gegenstzlichkeit

Strukturen und Machtordnungen, um Rangordnung und Begründung moralpädagogischer Zielvorstellungen unter dem Vorzeichen demokratischer und liberaler Wertungen und damit um den Anspruch an Legitimität von Erziehung und ihren Zielvorstellungen. So etwa formuliert MacMullen das Paradox, wie es innerhalb dieses Diskurses auf prägnante Weise zum Ausdruck kommt: »Does the importance of reproducing and improving our liberal democratic political community take priority over the private interests of individuals and families? Can the liberal state legitimately appeal to the contested value of individual autonomy to justify its use of coercive power?« 9

Während sich in der Debatte um civic education und citizenship die Legitimitätsfrage strukturell konkretisiert anhand politischer Lösungen, bewegt sich die Fragestellung dieser Arbeit nach der Legitimität von Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie innerhalb ethischer Legitimität. Dies aktualisiert sowohl individuelle wie auch soziale Aspekte des Paradoxes. Ein Bezug auf das pädagogische Paradox ist auch im Zusammenhang mit einem in jüngerer Zeit ebenfalls vielfach diskutierten Verständnis von Autonomie als abhängig von oder bestimmt durch Authentizität zu finden. 10 Dabei wird deutlich, dass auch eine Sichtweise, welche Autonomie weniger ausschließlich kognitiv fasst und sie als Kompetenz an multiple psychische und mentale Funktionen des autonomen Individuums sowie dessen relationale Bezüge knüpft, sich auf das pädagogische Paradox, wie es sich im Zusammenhang mit Erziehung zu Autonomie darstellt, beziehen. Cuypers und Hajis Beschreibung des pädagogischen Paradoxes, wie es sich in »authentic education« darstellt, illustriert dies: »(…) if education, as it appears, entails deliberate moulding of the child – it requires, for example, intentional instilment of certain motivational elements in the child – but such intentional moulding in the absence of the agent’s consent is generally incompatible with authenticity, how is an authentic education possible?« 11

MacMullen, 2007, 3. Den Konflikt zwischen staatlichem Interesse und individueller Freiheit oder Autonomie diskutiert MacMullen anhand der Frage nach staatlicher Zulassung, respektive Unterstützung religiöser Freischulen. 10 Siehe Kapitel 6. 11 Cuypers & Haji, 2007, 78 9

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Die Legitimittsfrage – Autonomie als Garant legitimer Erziehung?

Cuypers und Hajis Beschreibung der Möglichkeit, durch Erziehung als »deliberate moulding of the child« Kinder einfach zu formen, erscheint gar opportunistisch und unreflektiert. Ihre Aussage ist aber ein Hinweis auf die ethische Problematik des pädagogischen Paradoxes. Ziel und Mittel der Erziehung stehen auch angesichts eines Verständnisses von Autonomie als bedingt durch Authentizität im Widerspruch oder zumindest in einem paradoxen Verhältnis zueinander. 12 Von Oettingen, welcher das pädagogische Paradox aus der Sicht einiger ›klassischer‹ Pädagogen behandelt, definiert das Paradox als in »nur scheinbaren Gegensätzen« manifestiert. Dass diese Gegensätzlichkeit nur scheinbar ist, begründet von Oettingen anhand einer Trennung von pädagogischer Praxis und Theorie. Es liegt gemäß seinem Verständnis ein theoretisches Problem vor ohne Entsprechung in der Praxis. Er schreibt: »Das pädagogische Paradox will nicht darauf aufmerksam machen, dass wir nicht erziehen können, sondern nur darauf, dass Erziehung in ihrer theoretischen Reflexion unlogisch ist. (…) Was stattfindet in der Praxis, ist ein Problem in der Theorie.« 13 Diese Trennung zwischen Theorie und Praxis erscheint in diesem Zusammenhang sowohl unnötig wie auch problematisch. Unnötig ist sie, weil ein Paradox ohnehin nicht als Gegensätzlichkeit in engerem Sinne verstanden werden soll. Problematisch ist die Trennung aus zwei Gründen. Erstens ist nicht ersichtlich, warum die Feststellung, dass Kinder faktisch erzogen werden, Erziehung als Praxis als nicht-paradox erscheinen lassen soll. Zweitens setzt von Oettingens Argumentation ein eher schmales Den Lösungsvorschlag, welchen Cuypers & Haji in dem hier zitierten Artikel entwerfen, geht darauf hinaus, das pädagogische Paradox insofern zu entschärfen, als Authentizität verstanden wird, nicht als Authentizität per se, sondern als so genannte relationale Authentizität. Eine solche setzen die Verfasser nicht nur in Verbindung mit moralischer Verantwortung, sondern sehen sich durch diese Verbindung dazu veranlasst, Authentizität normativen Auflagen unterzuordnen. Wie die Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte in den Kapiteln 4–6 dieser Arbeit zeigt, wird auch hier kein formalistisches Verständnis von Autonomie vertreten. Vielmehr wird in der Besprechung mehrerer Autonomiekonzepte deutlich, dass normative Auflagen an Autonomie adäquat sind. Dass damit das pädagogische Paradox entschärft wird, wird auch hier zu einem zentralen Argument. Ein möglicher Einwand, dass der Autonomiebegriff in dieser Arbeit anhand solcher Überlegungen von seiner Originalbedeutung abweichend zur Unkenntlichkeit umdefiniert wird, könnte auch auf Cuypers & Hajis Bearbeitung des Begriffes Authentizität zutreffend sein. Zumindest ihre Formulierung, dass es eine Authentizität per se nicht gibt, erscheint angesichts verbreiteter formalistischer Verständnisse von Authentizität etwas sehr drastisch. (Cuypers & Haji, 2007, 85) 13 von Oettingen, 2003, 165 (meine Übersetzung) 12

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Legitimitt als kompensierende Gegenstzlichkeit

Verständnis von Theorie als Praxis reflektierend und erklärend voraus. Wenn Theorie auch normativ verstanden wird, wie hier zentral im Zusammenhang mit der Frage nach der Legitimität von Erziehung, dann lässt sie sich nicht so abtrennen von Praxis. Vielmehr interagieren dann Praxis und Theorie, indem beide einander gegenseitig informieren und formen. Dann kann sich aber das paradoxe am Phänomen nicht ausschließlich auf die Theorie beschränken, sondern färbt auch die Praxis. Dies kommt auch zum Ausdruck in von Oettingens genereller Umschreibung der Essens eines Paradoxes damit, dass »ein Phänomen, ein Sachverhalt oder eine Begebenheit sich nicht unmittelbar erklären lässt«. 14 Von Oettingen hebt in seiner Darstellung hervor, dass das pädagogische Paradox sich erstmals bei Rousseau abzeichnet. Bei Rousseau, so von Oettingen, stellt sich die Frage, »wie dem Kind zu Selbständigkeit verholfen werden kann durch eine äußere Abhängigkeit« respektive »wie ein Mensch zu Freiheit erzogen werden kann durch eine von außen kommende pädagogische Autorität«. 15 Von Oettingen führt Kants und Herbarts Bearbeitung dieser Fragestellung an als fokussiert auf ethische Aspekte des pädagogischen Paradoxes. Aber auch bei Schleiermacher, der das pädagogische Paradox im Generationenverhältnis betrachtet, sind ethische Aspekte zentral. Mit der Frage »was die ältere Generation eigentlich mit der jüngeren will«, klingen Legitimitätsfragen, aber auch generell Fragen zu Verantwortung und zu Autonomie an. 16 Von Oettingen betont in seiner Arbeit, dass die aufgegriffenen Ansätze das Paradox nicht als aufzulösende Widersprüchlichkeit betrachten, sondern Theoriebildungen sind, die versuchen das pädagogische Paradox zu umfassen. Als zentral hebt dabei von Oettingen im Anschluss an Benner und zurückgreifend auf Herbart den Begriff der Bildsamkeit und die Idee, dass »nur ein selbstbewusster Erwachsener das Kind zu Selbständigkeit aufordern kann« hervor. Mit Bildsamkeit meint von Oettingen die Annahme, dass das Kind lernen kann und will, dass in Erziehung von einer potentiellen Freiheit ausgegangen werden muss. 17 Bei Benner kommt dies zum Ausdruck in einer Annah14 15 16 17

von Oettingen, 2003, 165 (meine Übersetzung) von Oettingen, 2003, 33 (meine Übersetzung) von Oettingen, 2003, 43, 55 (meine Übersetzung) von Oettingen, 2003, 104, 168

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me und Verhaltensweise gegenüber dem Kind, die das Paradoxe von Erziehung (und Bildung) in dem Bewusstsein gestalten, dass es darum geht, Kindern in Erziehung zu begegnen »als ob« sie frei oder autonom wären. Die beiden Prinzipien der Bildsamkeit und der Aufforderung zur Selbsttätigkeit beschreibt Benner als dialektisch zueinander, aber nicht widersprüchlich in einem Ausmaß, welches pädagogische Interaktion unmöglich erscheinen ließe. 18 Die Annahme, dass das Kind in seiner potentiellen Autonomie (als Bildsamkeit) abhängig ist von der Aufforderung zur Selbständigkeit durch einen selbstbewussten Erwachsenen, ist aber problematisch. Nicht nur, weil die Annahme auf einer hypothetischen Prämisse beruht, nämlich, dass ein Kind ohne diese Aufforderung seine potentielle Autonomie nicht entfalten könnte, sondern auch, weil der Anspruch von Erziehung damit auf eine unrealistisch hohe kausale Kontrollierbarkeit verwiesen wäre. Das Paradoxe besteht dabei in der Annahme eines kausalen Zusammenhanges trotz einer Gegensätzlichkeit zwischen pädagogischem Mittel und Zweck. Es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass das pädagogische Paradox so verstanden zwar eine Gegensätzlichkeit, nicht aber eine Widersprüchlichkeit in engerem Sinne umfasst. Somit macht das pädagogische Paradox nicht unbedingt ein ethisches Problem aus und soll hier nicht als negativ zu werten behandelt werden. Dem pädagogischen Prinzip, welches im pädagogischen Paradox zum Ausdruck kommt, entsprechend ist aber ethisch artikuliert die Legitimitätsfrage von Erziehung. Hiermit wird, wie es Kants Formulierung veranschaulicht, die Frage aktualisiert, inwiefern es ethisch legitim sei, Freiheit oder Autonomie zu begrenzen mit der Begründung, dies solle auf (mehr) Autonomie abzielen. »Eines der grössesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freyheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nöthig! Wie kultiviere ich die Freyheit bey dem Zwang? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner FreyBenner, 2005a, 82; von Oettingen, 2003, 148 Kant, 1803, 33. (Siehe dazu auch Fußnote 22, S. 21.) Angesichts Kants (im selben Band abgedruckten) mutmaßlicher Auffassung, dass Menschsein Erziehung voraussetze, ist das pädagogische Paradox, auch bezüglich seines ethischen Aspekts eigentlich unproblematisch. Kant postuliert nämlich: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.« (Kant, 1803, 7) Demzufolge wird in der Erziehung kein freies Wesen begrenzt, vielmehr ist Erziehung die Voraussetzung, die Freiheit erst möglich macht.

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heit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freyheit gut zu gebrauchen.« 19

In ihrem Buch Illusionen von Autonomie diskutiert Meyer-Drawe die Frage, wie etwas, das nie ganz gelingen kann, zugleich als unabdingbar betrachtet werden kann. Ihre Argumentation veranschaulicht den engen Zusammenhang der beiden Legitimitätsfragen. Meyer-Drawe hebt die inhärente Widersprüchlichkeit des unerreichbaren oder unrealistischen Ideales hervor: »Als Chiffre für eine humane Gesellschaft bleibt Autonomie unverzichtbar, weil sie protestiert gegen reale Fremdbestimmungen, wenngleich deren vollständige Beseitigung aussichtslos ist.« 20 Damit spricht sie die Legitimitätsproblematik im Hinblick auf die Zielvorstellung Autonomie an. In ihrer vermuteten »Aussichtslosigkeit« gerät Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung ins Zwielicht. Diese Schlussfolgerung drängt sich für Meyer-Drawe als Konsequenz verschiedener kritischer Stimmen gegenüber einer bewusstseinsphilosophisch geprägten Anthropologie auf. Unter der Rubrik »Unvermeidliche Illusionen« beschreibt Meyer-Drawe die Funktion von Autonomie als Illusion. »Die Illusion von Autonomie kann als Illusion begriffen werden und gerade deshalb maßgebliche Kraft entfalten, weil sie sich kritisch gegen reale Verstrickungen wendet. Die transitive Kraft des Begriffs Autonomie, die darin besteht, dass er die Wirklichkeit, die er begreift, reduziert, kann wirksam werden in dem kritischen Bewusstsein des Unterschieds von Erkennen und Wirklichkeit. (…) Dieser Glaube, diese illusio, ist eine Realität eigener Art, die geeignet ist, die Notwendigkeit des Alltäglichen zu übersteigen, ohne sie zu vergessen.« 21

In der Definition von Autonomie als Illusion erscheinen die beiden Legitimitätsfragen oben also in enger Verknüpfung miteinander. Die Unerreichbarkeit eines Ideals erhält eine pädagogische Funktion, indem sie als unvermeidliche Illusion beschrieben wird. Die Unvermeidlichkeit ist erkenntnistheoretischer und psychologischer Art, ist Ausdruck menschlichen Bedarfs sinnstiftender Deutung. Zugleich wird die Unvermeidlichkeit, d. h. der Umstand, dass wir Illusionen so zulassen, von Meyer-Drawe als wirksam und somit pädagogisch umsetzbar konzipiert. Indem Meyer-Drawe der Illusion eine »maßgebliche« und »transitive Kraft« zuschreibt, indem sie von einer »Realität eigener 20 21

Meyer-Drawe, 1990, 64 (meine Kursivierungen) Meyer-Drawe, 1990, 12

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Art« spricht, macht sie die Illusion auch pädagogisch verfügbar. Wenn Illusionen aber als Zielvorstellungen für Erziehung pädagogisch verfügt werden, dann haben sie damit eine legitimierende Funktion für Erziehung erhalten und somit ist die zweite Legitimitätsfrage angesprochen. Es lässt sich fragen, inwiefern Legitimität überzeugend begründet werden kann aufgrund der Wirksamkeit einer Illusion. Wenn MeyerDrawe von Illusionen von Autonomie spricht, ist Illusion bei ihr nicht in einem strengen Sinne zu verstehen. Ihre Option für Autonomie als Illusion hat damit zu tun, dass sie unwillig ist, sich auf die Wahl zwischen dem »unverzichtbaren Anspruch auf Autonomie und der Preisgabe konstituierender Subjektivität« von Autonomie einzulassen. 22 »Illusionen von Autonomie« sind bei Meyer-Drawe Illusionen, die sich durchaus an der erlebten Realität orientieren und insofern handelt es sich nicht um realitätsferne Konstrukte. An phänomenologischer und psychoanalytischer Theoriebildung kristallisieren sich nämlich in den folgenden Kapiteln ihres Buches die Rahmenbedingungen von »Illusionen von Autonomie« heraus. Auf diese Weise entstehen verschiedene Modifikationen jener Aspekte eines Begriffes, die ihm dann Funktionalität verleihen. Auf diese Modifikationen Meyer-Drawes wird in der vorliegenden Arbeit mehrfach zurückzukommen sein. Die Argumentationsstruktur des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas zeichnet sich ab in Lees Beschreibung des Verhältnisses zwischen Kindern und Erwachsenen innerhalb einer modernen Gesellschaftsstruktur mit liberalen Wertungen. Insbesondere seine Analyse des normierenden Status, welcher Erwachsenen zugeschrieben wird, veranschaulicht die Art und Weise, wie Erziehung innerhalb des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas legitimiert wird anhand einer Idee, die hier als die Idee kompensierender Gegensätzlichkeit bezeichnet wird. Diese umfasst, wie oben bereits angesprochen, die Idee, dass Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung Erziehung (als Autonomie oder Freiheit begrenzend) insofern legitimiert als sie sie durch ihre Gegensätzlichkeit kompensiert. Intentionale Einflussnahme und darin entstehende Abhängigkeit in Form begrenzter Freiheit oder Autonomie in der Erziehungssituation wird also als berechtigt betrachtet unter der Voraussetzung, dass es sich um eine vorübergehende Abhängigkeit zum Zweck zu erringender Auto22

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nomie handelt. Diese Argumentationsstruktur ist geprägt von der Annahme einer Gegensätzlichkeit zwischen der Heteronomie der zu erziehenden Person in der Erziehungssituation und der Autonomie, welche darin oder durch sie angestrebt wird. In Lees Darstellung kommt dem normierenden Status des als autonom aufgefassten Erwachsenen eine entscheidende Bedeutung zu. Lee kritisiert beide Annahmen, das Bild des autonomen Erwachsenen und die normierende Funktion, welche diesem anhängt. »(…) adult authority over children, the ability of adults to speak for children and to make decisions on their behalf, has been supported by the image of the standard adult.« 23 Wenn Erwachsene für Kinder sprechen, wenn sie stellvertretend Entscheidungen treffen, dann ist dies Ausdruck einer Bevormundung, wie sie (unter anderem) in Erziehungssituationen vorkommt. Erwachsensein wird dabei gemäß Lee von einem standardisierten Bild des Erwachsenen her mit Unabhängigkeit, Stabilität und Vollkommenheit assoziiert. So definiert werden Erwachsene zum »standard model of a person, which stands ready to be used to measure children’s incompleteness«. Kinder werden im Kontrast zu Erwachsenen verstanden als abhängig, unvollständig und demgemäß als »becoming«, als werdende Erwachsene. 24 Der idealisierenden Vorstellung von erwachsener Unabhängigkeit entspricht somit ein »Kindheitsideal beschützter Abhängigkeit«. 25 Lee folgert: »This process of measurement underlies, and acts as a justification for, many distributions of power and authority along lines of age and maturity«. 26 Für Lee ist diese normative Funktion der Vorstellung einer unabhängigen und vollkommenen erwachsenen Person abhängig von der erlebten Stabilität erwachsenen Lebens. Er zeigt, dass ökonomiehisLee, 2001, 10 Lee, 2001, 5–6. Lee entwickelt dazu eine These der Genese des Verständnisses von Kindern als abhängig. Er meint, dass die Vorstellung von Kindern als abhängig eng mit der Entwicklung von Nationalstaaten im 17. bis 19. Jahrhundert verbunden ist. Die Identität europäischer Staaten war gemäß Lee abhängig von gegenseitigem militärischem und ökonomischem Wettbewerb. Innerhalb dieser Konkurrenzsituation erhielten Kinder den Status einer Investition. Es galt, sie zu beschützen und zu formen als zukünftige Bürger und es ging in der Folge darum, Kindheit zu kontrollieren. Mit der Globalisierung wurden Kinder jedoch auch ›globale Bürger‹ mit Identitäten außerhalb der Nation. Damit wird Abhängigkeit von Kindern aus der Sicht des Nationalstaates ambivalent. (Lee, 2001, 22, 34–35) 25 Lee, 2001, 70 26 Lee, 2001, 9 23 24

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torisch und was intime Beziehungen respektive gewöhnliche Familienkonstellationen betrifft, Stabilität das Erwachsensein bis ungefähr in die 1970er Jahre prägte. Darauf folgte das, was er »age of uncertainty« nennt. Die neue Ungewissheit, welche gemäß Lee die Bedingungen der Erwachsenenwelt kennzeichnet, macht das Selbstverständnis von Erwachsenen als autonome Personen problematisch. 27 Obwohl diese Beschreibung geschichtlicher Veränderungen stark vereinfachend erscheint, und Ungewissheit sicherlich auch in anderen Zeiten als der jetzigen das Erwachsein auf verschiedene Weisen geprägt hat, sind Ungewissheit und Veränderlichkeit sicher zu berücksichtigende Faktoren. Bezogen auf die Idee einer kompensierenden Gegensätzlichkeit als Grund der Argumentationsstruktur innerhalb des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas bedeutet eine solche ›neue‹ Ungewissheit, dass Erwachsene nicht als eindeutig autonom und stabil gelte können. Ihre Unsicherheit bewirkt einen Verlust hinsichtlich des Kontrastes zum vermuteten, heteronomen und instabilen Status von Kindern. Dies bringt die Gegensätzlichkeit ins Schwanken und somit die Plausibilität eines entsprechenden Begründungsmusters von Legitimität für Erziehung. Auf Lees Argumentation wird im Abschnitt 2.3 dieses Kapitels näher eingegangen. Im Hinblick auf Autonomie als Zielvorstellung dreht sich die Legitimitätsproblematik (beider Fragen oben) um die Achse des Verhältnisses zwischen dem moralpädagogisch erst Angestrebten und dem normativ schon Vorausgesetzten. Winkler drückt dies im Hinblick auf Subjektivität (als Status des autonomen Individuums) folgendermaßen aus: »Wie ist das Subjekt, wie ist Subjektivität möglich, wenn doch aller Anschein dafür spricht, dass sie durch Erziehung erst erzeugt wird oder hervorgerufen werden muss, gerade darin aber schon in ihrer Entstehung praktisch dementiert wird?« 28

Winklers Frage veranschaulicht nicht nur das pädagogische Problem, welches sich angesichts der Forderung nach einer Erklärung des obskuren kausalen Mechanismus stellt. Dieser ist obskur, insofern als er eine Widersprüchlichkeit in Form einer Verleugnung des Angestrebten umfasst. Winklers Frage tangiert aber auch die Legitimität von Erziehung durch Autonomie als Zielvorstellung. So kann seine Frage auch 27 28

Lee, 2001, 11–19 Winkler, 2006, 116

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als Anfrage an die Legitimität gedeutet werden. Wenn pädagogisch nicht gezeigt werden kann, wie Erziehung durch praktische Dementierung ihrer eigenen Zielvorstellungen diese wirksam verfolgen kann, dann muss ihre Legitimität als fraglich gelten. Adorno formuliert im Gespräch über moralpädagogische Zielvorstellungen die Legitimitätsproblematik des pädagogischen Paradoxes folgendermaßen: »Man fragt sich, woher heute irgend jemand das Recht sich nimmt, darüber zu entscheiden, wozu andere erzogen werden sollen. (…) Sie (die Bedingungen einer Erziehungsziele vorschreibenden Denkweise, meine Anmerkung) stehen im Widerspruch zur Idee eines autonomen, mündigen Menschen, wie Kant sie unübertroffen formuliert in der Forderung, die Menschheit habe sich von ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien.« 29

Adorno folgert im Anschluss an diese Überlegung, dass Erziehung nur »die Herstellung eines richtigen Bewusstseins« sein kann und dass dies als eine politische Forderung der Demokratie verstanden werden muss. Er meint damit Mündigkeit als »selbstständige bewusste Entscheidung jedes einzelnen Menschen«.30 Es wird auch hier deutlich, dass die Zielvorstellung Mündigkeit (analog zur Zielvorstellung Autonomie) eine Gegensätzlichkeit zwischen Zielvorstellung und Erziehungssituation voraussetzt. Letztere betrachtet Adorno nur insofern legitim als ihre bevormundende Praxis kompensiert wird, indem durch sie Autonomie angestrebt wird. Feinberg widmet sich dem pädagogischen Paradox 31 in seinem Artikel The Child’s Right to an Open Future. In seiner Definition des Paradoxes geht es in erster Linie um die Legitimität der stellvertretenden Intentionalität von Erwachsenen gegenüber Kindern. Erwachsene treffen Entscheidungen, die die Wahlmöglichkeiten von Kindern einschränken. Es geht somit um Autonomie als Selbstbestimmungsrecht. Feinbergs Thesen zum Paradox sind jedoch relevant für die Diskussion von Autonomie als Kompetenz. Feinbergs hält fest, dass das pädagogiAdorno, 1971, 107 Adorno, 1971, 107 31 Feinberg unterscheidet zwischen einem »paradox of self-determination« und einem »paradox of self-fulfillment«. Letzteres entsteht aus einer aristotelisch orientierten, tugendethischen Sichtweise, ersteres bezieht sich auf mit liberalen Ausdrucksweisen definierter Autonomie. Feinberg behandelt die beiden Paradoxien insofern als parallele Paradoxien, als die Problematik der stellvertretenden Intention bei beiden in ähnlicher Weise vorkommt. (Feinberg, 2007, 120) 29 30

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sche Paradox keines sein muss, wenn Moralentwicklung (und somit Erziehung) als Kontinuum betrachtet wird. Er meint, dass ein pädagogisches Paradox fälschlicherweise eine rigide Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen voraussetzt. »There is no sharp line between the two stages of human life; they are really only useful abstractions from a continuous process of development every phase of which differs only in degree from that preceding it. (…) Any ›mere child‹ beyond the stage of infancy is only a child in some respects, and already an adult in others. (…) In the continuous development of the relative-adult out of the relative-child there is no point before which the child himself has no part in his own shaping, and after which he is the sole responsible maker of his own character and life plan.« 32

Feinbergs Kritik an einer rigiden Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen 33 ist wichtig, nicht nur weil er dadurch zu einem nuancierteren Generationenverhältnis herausfordert, sondern auch, weil ein Bezweifeln einer solchen Unterscheidung den Status von Selbstbestimmung oder Autonomie als adäquaten Parameter für Moralentwicklung in Frage stellt. So weit geht aber Feinberg nicht und das ist auch der Grund dafür, dass seine Argumentation die legitimierende Funktion von Autonomie der Idee einer kompensierenden Gegensätzlichkeit nicht wirklich enthebt. Wenn die Entwicklung von Selbstbestimmung oder Autonomie als Kontinuum betrachtet wird, ändert dies nämlich nichts an einer grundlegenden Gegensätzlichkeit zwischen den beiden Extremen eines solchen Kontinuums. Für Feinberg stellt das Streben nach kontinuierlich zunehmender Autonomie aufgrund von deren Gegensätzlichkeit zur relativen Abhängigkeit des Kindes die Legitimität dessen dar, was als vorübergehende Begrenzung der Autonomie zu betrachten ist. Er betrachtet nämlich das pädagogische Paradox als unproblematisch angesichts der kontinuierlich wachsenden Möglichkeit des Kindes, Selbstbestimmung auszuüben. Mit anderen Worten liegt der legitimierenden Funktion von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung auch bei Feinberg eine Annahme kompensierender Gegensätzlichkeit zugrunde. Ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess ändert in seiner Argumentation nichts daran, dass der Zielvorstellung Autonomie aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit Feinberg, 2007, 121 Sie wird im Abschnitt 2.3 dieses Kapitels aufgegriffen und mehr eingehend besprochen.

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zur vorübergehend Freiheit begrenzenden Praxis von Erziehung eine legitimierende Funktion zugeschrieben wird. In diesem ersten Abschnitt wurde ausgegangen von einer grundlegenden Annahme der ethisch bedingten Unabdingbarkeit von Autonomie für liberale und demokratische Gesellschaften allgemein und spezifischer für die Legitimität von Erziehung unter modernen Vorzeichen. Innerhalb des Rahmens eines modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas wurde die normative, legitimierende Funktion von Autonomie als abhängig von der Vorstellung einer kompensierenden Gegensätzlichkeit charakterisiert. Die Bedingungen der darin konstituierten Argumentationsstruktur sollen nun näher unter die Lupe genommen und auf Aporien hin untersucht werden. Es geht aufgrund der vorausgesetzten Unabdingbarkeit von Autonomie nicht darum, das Legitimitätsparadigma zu ersetzen. Die Kritik, in welche aufgedeckte Aporien münden, ist mit anderen Worten nicht so weitgehend, dass die Angemessenheit einer legitimierenden Funktion von Autonomie als Zielvorstellung für Erziehung angezweifelt würde. Vielmehr geht es um eine Analyse der Art und Weise, wie die legitimierende Funktion von Autonomie innerhalb des Legitimitätsparadigmas verstanden wird respektive von welchen Prämissen sie abhängig ist. Die oben referierten Beispiele sollten illustrieren, dass der legitimierenden Funktion von Autonomie innerhalb des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas gewohnheitsgemäß, in einer Art Standardargumentation, eine Idee kompensierender Gegensätzlichkeit zugrunde liegt. Die folgende Argumentation führt zwei hauptsächliche Einwände gegen ein solches Verständnis der legitimierenden Funktion von Autonomie an. Der erste Einwand, dem der Abschnitt 2.2 gewidmet ist, hat mit moralpädagogischen Zielvorstellungen zu tun. Autonomie wird als so genannte großflächige Zielvorstellung charakterisiert. Mit dieser Großflächigkeit sind Fragen zur Begründung angesprochen, deren Antworten, so die These hier, nach einer integrierenden Sichtweise bezüglich moralischer Zielvorstellungen und moralpädagogischer Situationen verlangen. Dies führt zu einer Sichtweise, die eine Trennbarkeit zwischen Zielvorstellungen und Erziehungssituation, wie sie für eine kompensierende Gegensätzlichkeit vorausgesetzt ist, als problematisch erscheinen lässt. Der zweite Einwand, dem der Abschnitt 2.3 gewidmet ist, besteht in der Problematisierung der Vorstellung, Erziehung sei zu verstehen als Förderung im Sinne eines geradlinigen Prozesses von Abhängigkeit zu (gradweise mehr) Autonomie. Vorgeschlagen wird eine 87 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Charakterisierung von Erziehung als »generationing«, unter der Bedingung gegenseitiger Abhängigkeiten und Freiheiten. Ein solches Verständnis der moralpädagogischen Situation als geprägt von gegenseitigen Abhängigkeiten lässt seinerseits die Idee kompensierender Gegensätzlichkeit als unangemessen erscheinen. An Stelle einer kompensierenden Gegensätzlichkeit wird dann abschließend im Abschnitt 2.4 ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster vorgeschlagen.

2.2 Erziehung – warum und wozu? berlegungen zu moralpdagogischen Zielvorstellungen 2.2.1 Zielvorstellungen als Verdichtungen ethischer Fragen Moralpädagogische Zielvorstellungen werden zum Zweck der Analyse der Legitimitätsfrage aus einer ethischen Perspektive betrachtet. Oelkers weist (die Zweck-Mittel-Unterscheidung Herbarts kommentierend) auf die Schwierigkeit hin, sich moralpädagogischen Zielvorstellungen zu nähern. Er schreibt: »Zudem sind philosophische noch keine pädagogischen Zwecke in dem Sinne, dass allgemeine Begründungen etwa der Tugend sich nicht von sich aus in pädagogische Felder übertragen lassen.« Er meint weiter, dass dies nur möglich sei, unter der Bedingung, dass eine »Nachfrage« besteht und dass eine »Übersetzung tatsächlich geleistet wird«. 34 Der philosophisch bestimmte und begründete Zweck Autonomie muss sich also, um als pädagogischer Zweck, als moralpädagogische Zielvorstellung begründet werden zu können, demgemäß auf eine Nachfrage beziehen und ›übersetzt‹ werden. Diese beiden Momente, Nachfrage und Übersetzung sollen hier, zum Zweck der Überleitung in die folgenden Diskussion von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung kurz kommentiert werden. Die Nachfrage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung soll im Sinne von Meyer-Drawes »Chiffre für eine humane Gesellschaft« 35 als begründet angenommen werden in einer grundlegend an liberalen Werten orientierten, offenen und demokratischen Gesellschaft. Die angenommene Situation von Pluralität und Pluralis34 35

Oelkers, 2001, 107 Siehe Fußnote 20, S. 81.

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mus verschärft das darin auf unabdingliche Weise begründete Bedürfnis nach Autonomie. Wenn mit anderen Worten eine Gesellschaftssituation als erstrebenswert betrachtet wird, die ihren Bürgern Freiheit bezüglich biographischer, kultureller, religiöser und ideologischer Wahlen garantieren will, dann ist eine Nachfrage nach Autonomie als Recht und Kompetenz darin implizit begründet. Pädagogisch ist vor allem Letzteres, Autonomie als Kompetenz, auf grundlegende Weise richtunggebend. In dieser Arbeit soll diese Nachfrage nach Autonomie unter der Voraussetzung von Demokratie und Pluralismus als grundlegende und unabdingliche Annahme vorausgesetzt werden. In der Frage nach der Bestimmung von Autonomie, die als Frage nach dem Verhältnis zwischen Autonomie und Dependenz besprochen wird, werden die Details dieser Nachfrage dann zu diskutieren sein. Welche Art von Autonomie ist als ethisches Ideal erstrebenswert? Wie soll Autonomie bestimmt werden, um der Anforderung ihrer legitimierenden Funktion gerecht werden zu können? Das ist Gegenstand der Kapitel 4–6. Die ›Übersetzung‹ dieser moralphilosophischen Gesichtspunkte erfolgt anhand der in Kapitel 3 dieser Arbeit identifizierten ethisch relevanten Kennzeichen von Erziehung als Anspruch. An moralpädagogischen Zielvorstellungen verdichten sich ethische Fragestellungen. An der Frage der Legitimität oder der Begründung von Zielvorstellungen lassen sich ethische Fragestellungen von Erziehung sichtbar machen. In der Diskussion um die Legitimität, respektive Legitimitätsansprüche, die durch oder mit Zielvorstellungen gemacht werden, entsteht eine Fläche, an welcher sich eine ethische Problematik kondensiert. Moralpädagogische Zielvorstellungen beinhalten Annahmen zu Voraussetzungen, Aufgaben, Möglichkeiten und Begrenzungen von Erziehung und können so als Kondensate, als Verdichtungen damit zusammenhängender, ethischer Fragestellungen betrachtet werden. Der für diese Arbeit gewählte Fokus auf die Frage nach der Legitimität von Erziehung aufgrund einer Zielvorstellung Autonomie versteht sich deshalb als eine ethische Aufgabe. Die folgende Besprechung moralpädagogischer Zielvorstellungen mit Fokus auf Autonomie ist demnach nicht so sehr auf ihre pädagogische Bestimmung, sondern in erster Linie auf ihre ethische Bedeutung, d. h. auf ihre argumentative Funktion innerhalb der Legitimitätsfrage hin ausgerichtet.

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2.2.2 Autonomie als großflächige moralpädagogische Zielvorstellung In seinen Überlegungen zur Frage, wie sich die Forderung, ein zweites Auschwitz zu verhindern, auf Erziehung auswirkt, was die Bedeutung und Legitimität von »Erziehung nach Auschwitz« sein kann, landet Adorno beim Begriff Autonomie. »Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.« 36 Autonomie wird zum Strohhalm, an dem Erziehung, um Legitimität ringend, sich möglicherweise festhalten kann. Was verhindert werden soll, ist, was Adorno »die blinde Identifikation mit dem Kollektiv« nennt, denn »Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selber schon zu etwas wie Material, löschen sich als selbstbestimmte Wesen aus.« 37 Die Erinnerung an Auschwitz ist zugleich die Bedrohung einer erneuten Möglichkeit des Grauens. Sie ist in Adornos Gedankengang artikuliert als mögliche Folge einer ausgebreiteten Heteronomie, ausgenutzt als Manipulierbarkeit durch Personen, die bereit sind »andere als amorphe Masse zu behandeln«. 38 Autonomie figuriert dabei als moralpädagogische Zielvorstellung nicht nur als die befreiende Gegenkraft zur Verhinderung blinden Mitlaufens, sondern auch in legitimierender Funktion von Erziehung nach der Katastrophe überhaupt. Indem Adorno sich dem Ideal der Autonomie als Garant zur Verhinderung der Katastrophe verschreibt, verwendet er die Zielvorstellung Autonomie auch zum Zweck der prinzipiellen Legitimitätsfrage für Erziehung. Wenn Erziehung (als Ausdruck manipulierender Intention eigener Art) überhaupt als gerechtfertigt gelten kann, dann nur unter der Bedingung, dass sie sich der Zielvorstellung Autonomie verpflichtet. Damit erhält Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung in Adornos Argument diese zweifache Funktion. Es wird hier deutlich, dass die Frage nach der Legitimität von Erziehung durch die Zielvorstellung Autonomie – nicht nur im extremen Fall der Verhinderung der Katastrophe Auschwitz, sondern auch unter weniger dramatischen

Adorno, 1971, 93. Adorno meint mit Erziehung hier sowohl Erziehung von Kindern wie auch eine allgemeine Aufklärungsaufgabe in der Gesellschaft. 37 Adorno, 1971, 95, 97 38 Adorno, 1971, 97 36

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Umständen – auf ein komplexes Gefüge positiver Wertesysteme und ihrer negativen Antagonismen zurückgreift. Adornos Argument im Zusammenhang mit Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung veranschaulicht den Umstand, dass moralpädagogische Zielvorstellungen, als Ideale, innerhalb eines Spannungsverhältnisses zwischen Reaktion und Vision lokalisiert sind. Die Reaktion gegenüber dem abschreckenden Resultat unmenschlicher Manipulation heteronomer Massen ist verflochten mit der Vision einer Gesellschaft, die getragen wird von der Moral ihrer durch Autonomie zu vernünftiger Selbstkritik befähigten Mitglieder. In diesem Sinne hält Adorno fest: »Man kann sich Demokratie nur als Gesellschaft der Mündigen vorstellen.« 39 Die zwei Komponenten Vision und Reaktion sollen im Folgenden beschrieben werden als normative Bezüge, die konträr zueinander, aber zugleich miteinander verschränkt und komplementär aufeinander bezogen sind innerhalb moralpädagogischer Zielvorstellungen des Idealen. Die Vision des mündigen Individuums als Baustein einer offenen und demokratischen Gesellschaft bei Adorno beispielsweise geht einher mit der Reaktion gegenüber der Unfähigkeit Einzelner, sich zu distanzieren, mit der Folge einer Manipulierbarkeit ›des blinden Kollektivs‹. Während erstere Eigenschaft positiv gewertet wird, wird letztere als zu überwindendes Defizit gewertet. Solche visionären und responsiven, normativen Entwürfe beziehen ihre Ideale aus verschiedenen, nicht oder nur indirekt auf Pädagogik bezogene Annahmen. Sie werden aber in der Bemühung um pädagogische Umsetzung mit den Bedingungen pädagogischer Praxis als Erfahrung der Realität konfrontiert. Daraus entsteht ein mehrfacher normativer Bezug moralpädagogischer Zielvorstellungen zu den Eckpunkten Vision, Reaktion und erfahrene Realität der Erziehungspraxis. 40 Anhand dieser Beschreibung von Eckpunkten soll ein zweifaches Spannungsverhältnis aufgezeichnet wer39 Adorno, 1971, 107. Adornos starke Überzeugung dieser moralischen Funktion von Autonomie kann natürlich bezweifelt werden. In den Kapiteln 4–6 wird die Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte diese Problematik miteinbeziehen. Hier soll darauf nicht eingegangen werden. 40 Es soll bei dieser Darstellung hier bewusst abgesehen werden von einer Polarisierung zwischen Praxis und Theorie. Die ethische Perspektive dieser Arbeit bedingt einen Fokus auf die Normativität von Erziehung. Dies aktualisiert eine integrative Perspektive bezüglich Theorie und Praxis, sodass letztere als theoretische Reflexion umfassend zu betrachten ist.

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den in Bezug auf moralpädagogische Zielvorstellungen. Einerseits geht es um die Spannung zwischen Ideal und Realität, anderseits um die Spannung zwischen Vision und Reaktion. Letzteres Spannungsverhältnis zeichnet sich ab innerhalb der Kategorie Ideal, d. h. Vision und Reaktion sind je verschiedene Ausdrucksweisen von Idealvorstellungen. Als Eckpunkte markieren Vision, Reaktion und Realität der Praxis zwar feststellbare Anhaltspunkte. Sie dienen aber keiner klaren Abgrenzung. Darum wird der Umstand, dass sich moralpädagogische Zielvorstellungen wie Autonomie vom Bezug zu diesen drei Eckpunkten her bestimmen lassen, zum Anlass genommen von einer Großflächigkeit moralpädagogischer Zielvorstellungen zu sprechen. Mit der Bezeichnung großflächig ist eine Komplexität angesprochen, die sich nicht nur in der pädagogischen Legitimitätsfrage ausdrückt, sondern auch in der Frage nach der moralpädagogischen Bestimmung und Begründung thematisiert wird. Auf diese mehrfachen und komplexen normativen Bezüge moralpädagogischer Zielvorstellungen macht im Zusammenhang mit Autonomie unter anderen MacMullen aufmerksam, indem er die Schwierigkeit, erfolgreiche Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie respektive »good citizenship« zu beurteilen, beschreibt. »Good citizenship cannot simply be measured by counting acts of political participation, and autonomy cannot be gauged by observing the rate at which children defect from the doctrine in which they were raised. Education for autonomy and citizenship aims to give a certain form and character to a person’s ethical reflection and political participation, but these qualities are scarcely amenable to measurement by social scientists.« 41

Wenn es demgemäß nicht um erkennbare und abgrenzbare Handlungen geht, sondern um »eine gewisse Form und einen Charakter der ethischen Reflexion«, dann ist damit eine Zielvorstellung bezeichnet, die zumindest aus pädagogischer Sicht als diffus, oder mit der hier gebrauchten Bezeichnung als großflächig erscheint. Die Großflächigkeit moralpädagogischer Zielvorstellungen ist somit nicht nur in einem Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Realität begründet, sondern zeigt sich auch – innerhalb eines Bezuges auf Ideale – anhand eines Spannungsverhältnisses zwischen Vision und Reaktion. Dieses soll anhand von Papastephanous Thesen zur Funktion von Utopie und Dys41

MacMullen, 2007, 6

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topie für Bildung und Erziehung näher unter die Lupe genommen und diskutiert werden. 42 In der Gegenüberstellung von Vision und Reaktion geht es um ein Spannungsverhältnis zwischen dem positiven Entwurf erwünschenswerten menschlichen Lebens und dazu nötigen Eigenschaften oder Kompetenzen einerseits und der negativ ansetzenden, responsiven Identifikation jener Eigenschaften, die als destruktiv aufgefasst werden, andererseits. Visionäre Zielvorstellungen bestimmen Erziehung ›nach vorne blickend‹, vom erstrebenswerten, bzw. vom Ideal her, während responsive Zielvorstellungen Erziehung als Problembewältigung, notwendig zur Überwindung unerwünschter Übel fassen. Etwas vereinfacht geht es um die Spannung zwischen einem Begründungsmuster im Sinne von ›Erziehung – wozu‹, respektive ›Erziehung – warum‹. Die beiden normativen Bezüge Vision und Reaktion sind aber selten ausschließlich vorhanden, sondern werden meist parallel artikuliert. Moralpädagogische Zielvorstellungen sind als visionäre und responsive Entwürfe Vorstellungen von erstrebenswerten respektive zu überwindenden individuellen und gesellschaftlichen Zuständen. Als solche sind sie zu verstehen, nicht als Ziele eines Prozesses, im Sinne klar abgrenzbarer Resultate einer Serie kausal miteinander verbundener Ereignisse und Handlungen. Vielmehr handelt es sich bei moralpädagogischen Zielvorstellungen um Ideen, gespeist aus Idealen des ›guten Lebens‹. Sie beschäftigen sich mit ›dem was nicht ist, aber sein könnte‹, mit dem was über den erlebten Status quo hinausgeht. Wie weit sie sich als normative Entwürfe binden lassen wollen und sollen von als realistisch erlebten Bedingungen, von einer Orientierung am pädagogisch Machbaren steht zur Diskussion. Dass für die deutsche Pädagogik ein geisteswissenschaftlich orientierter Idealismus kennzeichnend ist, der Erziehungsziele in realitätsferner Leidenschaft zur »Pathosformel« stilisiert hat, zeigt Rieger-Ladich in seiner Arbeit Mündigkeit als Pathosformel. 43 Papastephanou startet ihre Thesen zur Funktion von Utopie und Dystopie für Bildung und Erziehung mit der Beobachtung, dass Bil42 Der hier referierte Artikel behandelt unter dem Begriff »educational practice« in erster Linie Fragen bezüglich nachgymnasialer Ausbildung. Papastephanous Thesen zur Funktion von Utopie und Dystopie behandeln die Normativität von Bildung und sind für die Frage nach der Normativität von Erziehung durchaus von Relevanz. 43 Rieger-Ladich, 2002

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dung in jüngerer Zeit ihre gesellschaftskritische Substanz weitgehend eingebüßt habe. Sie schreibt diese Entwicklung der – an sich positiven – bildungspolitischen Intention zu, Zielvorstellungen deutlicher an Bedingungen und Forderungen der aktuellen gesellschaftlichen Situation zu orientieren. Diese Offenheit und Sensibilität gegenüber dem spezifischen historischen Kontext, so Papastephanou, habe aber dazu geführt, dass pädagogische Praxis heute als weitgehend vereinnahmt von wirtschaftlich bedingten Zwecken zu gelten hat. Pädagogische Praxis zeige sich deshalb in dieser Bestrebung einer »Nähe zu den Bedürfnissen des alltäglichen Lebens« als desillusioniert und gekennzeichnet von Konformität. 44 Papastephanou führt diese Tendenz zu Konformität auf eine anti-utopische Einstellung zurück. Damit meint sie »die Überzeugung, dass Utopie prinzipiell gefährlich sei und unverzüglich zu Totalitarismus führe«. 45 Somit ist das Gegenteil zur Utopie die AntiUtopie, nicht die Dystopie. Letztere will Papastephanou definieren als überspitzte Vorstellung des Abschreckenden, des Nicht-Wünschenswerten. Sie schreibt: »In exaggerating the faults of the system this kind of dystopia revitalizes the urge for change, the yearning for a better life.« 46 Ein illustratives Beispiel einer solchen, auf utopisch und dystopisch artikulierten »Übertreibungen« bauenden, Argumentation für moralpädagogische Zielvorstellungen ist Liebaus einleitendes Plädoyer für »Werteerziehung als Pädagogik der Teilhabe«. Die darin enthaltenen Annahmen zur Aufgabe und Möglichkeit von Werteerziehung sollen hier nicht kommentiert werden. Für meine Zwecke hier ist Liebaus Argumentation interessant als Illustration einer ›übertriebenen‹ Argumentation. »Unter den mit der Modernisierung verbundenen Bedingungen wachsender Pluralisierung und Individualisierung, wachsender Orientierungsprobleme und dementsprechend wachsender Heterogenität der in der Gesellschaft gelebten Werte steigen dementsprechend die Schwierigkeiten, gemeinsame verbindliche Werte zu finden und zu begründen und zu darauf bezogenen tragfähigen pädagogischen Konzepten zu kommen. Gleichzeitig wächst freilich die Notwendigkeit, den gesellschaftlichen und politischen demokratischen Grundkonsens

44 45 46

Papastephanou, 2008, 89 Papastephanou, 2008, 94 (meine Übersetzung) Papastephanou, 2008, 95 (meine Kursivierung)

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zu sichern, um die gesellschaftliche Integration zu gewährleisten und eine friedliche gemeinsame Zukunft zu sichern.« 47

Die Utopie einer »friedlichen gemeinsamen Zukunft« wird angeführt in Verknüpfung mit der Dystopie eines entgleisten Modernisierungsprozesses, geprägt von einem Szenario »wachsender Orientierungsprobleme und dementsprechend wachsender Heteronomie«. Es geht um beinahe tendenziöse Rhetorik, die das scheinbar einfach zu »Sichernde« mit der düsteren Prophetie kontrastiert. Für Papastephanou ist Utopie als Vorstellung der besseren Welt, der guten Gesellschaft oder des guten Lebens 48 unabdingbar für pädagogische Theorie und Praxis. Anti-utopische Einflüsse auf Pädagogik hätten einen Verlust der kritischen Kraft von Pädagogik zur Folge. 49 Die Bezeichnung anti-utopisch betitelt eine Einstellung, die generell negativ ist gegenüber Utopien. Papastephanou beobachtet anti-utopische Einstellung als sich ausbreitend in Folge postmoderner relativierender Tendenzen bezüglich des Verständnisses von »Zeit und Raum«. 50 Sie beschreibt das Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Realität als unausweichlich und positiv zu werten für Pädagogik. »Theory (of education, meine Anmerkung) aspires to formulate an appropriate regulative ideal; practice (of education, meine Anmerkung) aspires to approximate it, but, more than that, practice raises a demand for ›here and now‹ that prevents the degeneration of the ideal into an ever receding futurism. It also provides means for critiquing and modifying the ideal through the scrutiny that actuality invigorates and recharges. Besides, utopia and education have a common denominator: the former presupposes the plasticity of humanity, the latter constantly moulds and remoulds it. However, the anti-utopian loss of faith in human malleability has pervaded education too, thus having a share in the educational failure to meet the task of forging a better humanity.« 51 Liebau, 1999, 6 (meine Kursivierung) Papastephanou unterscheidet zwischen Utopie als Genre der Literatur und als »soziopolitischem philosophischem Projekt«. Utopie gemäß ersterem Verständnis besteht aus »dreamworlds imagined«. Diese sind räumlich bestimmt und stehen als solche in abruptem Verhältnis zur realen Welt. Utopie gemäß letzterem Verständnis besteht aus »dreamworlds attempted« und ist zeitlicher Art und daher anzustreben durch kontinuierliche Prozesse. (Papastephanou, 2008, 92) Insofern moralpädagogische Zielvorstellungen als Utopie verstanden werden, gehören sie – als Versuche – der zweiten Kategorie an. 49 Papastephanou, 2008, 91 50 Papastephanou, 2008, 93 51 Papastephanou, 2008, 91 47 48

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Hier ist gegenüber Papastephanous Ausführungen der Einwand, dass Praxis eine regulative Funktion gegenüber Theorie nur haben kann, indem sie reflektierend und damit auch theoretisierend ist, angebracht. Umgekehrt ist Theorie nur empfänglich für das Regulativ der Praxis insofern sie auf Praxis tatsächlich bezogen ist. Trotz der in diesem Sinne zu rigiden Unterscheidung von Theorie und Praxis ist Papastephanous Charakterisierung von Bildung und Erziehung treffend. Sie beschreibt Bildung als gefangen innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen dem visionären oder responsiven Entwurf des Ideals und der Orientierung an Realität. Unabhängig davon, inwiefern die Aufgabe von Erziehung verstanden wird als Versuch, den Status quo zu überwinden und zu verbessern, ist Papstephanous Hinweis auf die grundlegende Annahme einer Plastizität wichtig für die Diskussion von moralpädagogischen Zielvorstellungen. Insofern als moralpädagogische Zielvorstellungen (wie Utopien) eine Formbarkeit voraussetzen, umfassen sie ein utopisches Element. Die Notwendigkeit eines solchen utopischen Elements lässt sich aber nur teilweise begründen mit der erzieherischen Intention, Menschlichkeit zu verbessern. Erziehung kann sich ja schließlich damit begnügen, als Sozialisierung den Status quo zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten. Selbst Adornos Plädoyer für Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung zur Verhinderung eines neuen Auschwitz kann auf diese minimalistisch anmutende Weise verstanden werden. Eine Begründung der Notwendigkeit eines utopischen Elements in moralpädagogischen Zielvorstellungen anhand von Dystopie, wie sie Papastephanou in einem weiteren Schritt ihrer Argumentation anführt, ist interessanter. Mit der Diskussion von Utopie im Verhältnis zu Dystopie respektive deren gemeinsamer Funktion für Erziehung und moralpädagogische Zielvorstellungen ist die Frage nach der Bestimmung des Ideals als Vision und/oder Reaktion angesprochen. Für Papastephanou sind Utopie und Dystopie nicht gegensätzlich, sondern komplementär zueinander. Wenn Utopie eine inhaltlich angereicherte Vorstellung des besseren Lebens oder der guten Gesellschaft sein soll, dann muss sie parallel zur Dystopie, der abschreckenden Vorstellung, artikuliert werden. Wenn die beiden komplementär zueinander verstanden werden, dann haben sie gemäß Papastephanou eine dynamische Funktion für Pädagogik:

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»A discussion of dystopian elements in educational reality can function as a directive of utopian thought toward alternative futures and away from existing pathologies mistaken as inevitable. A discussion of the possible slippage of ambitious ideas for change into dystopian distortions can function as a corrective of utopian thought that enlarges its imaginative reach: utopian theory should deal not only with ideal contents but also with their possible degeneration. Educational dystopia then becomes not a discourse of forecasting but of foreboding, mixed with tenacious hope.« 52

Dystopie funktioniert demgemäß als richtungweisende Korrektur gegenüber Utopie und sichert so einerseits einen Realitätsbezug, andererseits einen Anspruch, der sich imaginär über die Gegebenheiten der Realität hinauswagt. Umgekehrt führt eine Vernachlässigung dystopischer Auffassungen zu »unkritischer Normalisierung«. »Fragmentary and discontinuous hope intersects with instances of lived nightmare. But failure to perceive these dystopian instances normalizes them and blocks the effort to pursue the utopian moment. (…) I have argued that what remedies this normalization of societal symptoms is the turning of dystopia not against utopian imagination but against the dominant reality.« 53

Papastephanou argumentiert in ihrer Diskussion von Utopie und Dystopie für ein Verständnis von Utopie und Dystopie als einander ergänzend und miteinander verflochten. Sie verweist auf die Notwendigkeit von Utopie und Dystopie trotz oder wegen ihrer Unmöglichkeit, verwirklicht zu werden. Für ein Verständnis von moralpädagogischen Zielvorstellungen innerhalb eines Spannungsverhältnisses zwischen Ideal und Realität sowie zwischen Vision und Reaktion bedeutet dies, dass Ideal (als Vision und Reaktion) und Realität einander in kritischer Dynamik gegenseitig ergänzend, in moralpädagogische Praxis und deren Reflexion eingehen sollen. An Idealvorstellungen orientierte, unrealistische Zielvorstellungen sind demgemäß nicht aufgrund ihrer realitätsfernen Normativität an sich abzuwerten, sondern nur insofern als sie einseitig oder ausschließlich auf eine unrealistische Vorstellung des Wünschenswerten bezogen sind. Durch einen Dialog zwischen einer Orientierung am Ideal (welches seinerseits ein Spannungsverhältnis zwischen Vision und Reaktion umfasst) und Realität entsteht – paradoxerweise gerade durch die Zulassung des Utopischen – ein Realitätsbezug. Man könnte von einem qualifizierten Realitätsbezug 52 53

Papastephanou, 2008, 95 Papastephanou, 2008, 95

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sprechen. Dessen Qualifikation besteht in einer Erziehungsreflexion, in welcher die positive, visionäre Vorstellung des Unerreichbaren im Dialog mit der responsiven Vorstellung des abschreckend Bedrohlichen einen kritischen Realitätsbezug sicherstellt. Dies verlangt aber nach der etwas unbequem erscheinenden Bereitschaft, moralpädagogische Zielvorstellungen nicht als loslösbar darzustellen, sondern auf grundlegende Weise eingebunden in ein Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Realität. Die Spannung ist nicht aufzulösen. Sie besteht in einer gewissen Widersprüchlichkeit, die in ihrer Funktion insofern dynamisch ist, als sie zu einer ständigen Diskussion der Bestimmung solcher Zielvorstellungen drängt. Dieser mehrfache normative Bezug moralpädagogischer Zielvorstellungen – zum utopischen Ideal, zum dystopischen Szenario, sowie zu den Bedingungen der als Realität erlebten pädagogischen Praxis – betrachtet diese als auf konstitutive Weise (d. h. in ihrer Bestimmung und Begründung) integriert in die Erziehungspraxis. Im Rückgriff auf das eingangs in diesem Kapitel beschriebene Begründungsmuster (kompensierender Gegensätzlichkeit) innerhalb des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas, erweist sich die Bedingung eines qualifizierten Realitätsbezugs moralpädagogischer Zielvorstellungen als problematisch. Die legitimierende Funktion von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung ist oben charakterisiert worden als von einer kompensierenden Gegensätzlichkeit gekennzeichnet. Wenn das Begründungsmuster der Idee kompensierender Gegensätzlichkeit folgt, ist Erziehung legitim, insofern als sie sich an der Zielvorstellung Autonomie orientiert, weil Autonomie als Ideal die Praxis der Erziehung als vorläufig entmündigende Situation kompensiert. Wenn aber Autonomie verstanden wird als so genannte großflächige moralpädagogische Zielvorstellung, die utopisch und dystopisch zugleich ist, und die sich als solche kritisch reflektierend auf Realität bezieht, dann erscheint die Idee kompensierender Gegensätzlichkeit als eine unzulässige Vereinfachung einer viel komplexeren Verflochtenheit zwischen Ideal und Realität. Mit anderen Worten ausgedrückt legt ein Verständnis von moralpädagogischen Zielvorstellungen als Verflechtungen von Vision, Reaktion und Realität als erfahrene Praxis (so wie es oben in Anlehnung an Papastephanous Thesen zur Bedeutung von Utopie und Dystopie für Erziehung skizziert wurde) die Schlussfolgerung nahe, die Idee kompensierender Gegensätzlichkeit sei als unzulängliches Begründungsmuster zu betrachten für die legitimierende Funktion der Zielvorstellung Autonomie. 98 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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2.3 Heteronome Kinder vis--vis autonomer Erwachsener?

2.3.1 Autonom werden – autonom sein? In ihrer empirischen Studie mit dem Ziel, Erziehungserfahrungen von 11- bis 12-jährigen Kindern (wohnhaft in Genf) zu erfassen, stellt Montandon fest, dass die befragten Kinder klare Vorstellungen davon haben, was sie von ihren Eltern erwarten. Es werden Erwartungen formuliert bezüglich Wissen mit Relevanz für Moral, praktische Lebenskenntnisse, sowie relationale Fähigkeiten. Viele Kinder drücken die Erwartung aus, die Eltern hätten ihre Autonomie zu fördern. Montandon schließt aus ihren Resultaten, Kinder betonten die »Aneignung moralischer und relationaler Kompetenz« stärker als ihre Eltern, welche ihrerseits mehr fokussiert seien auf »Alltagsbewältigung und schulische Forderungen«. 54 Zwei für die Aufgabe hier relevante Gedanken drängen sich auf. Die befragten Kinder formulieren erstens deutliche Erwartungen an ihre eigene Erziehung. Sie reflektieren über ihre aktuelle und potentielle Erziehung und formulieren moralpädagogische Zielvorstellungen. Es zeichnet sich damit ein komplexes Bild ab. Erziehungserwartungen von Kindern sind sicherlich einerseits geprägt von Zielvorstellungen der Eltern. Andererseits ist anzunehmen, dass die Kinder mit ihren Erwartungen die Erziehungssituation beeinflussen, sodass Erziehung zu verstehen wäre als geprägt von Intersubjektivität mit komplexer gegenseitiger Einflussnahme und Abhängigkeit. Dass Kinder von Eltern erwarten, dass diese ihre Autonomie fördern, spiegelt zweitens eine enge Verschränkung von Selbstbestimmung und gegenseitigen Abhängigkeiten wider. Wer für sich selber Autonomie will respektive sich von anderen Personen erhofft, dass diese sich um die Entwicklung ihrer oder seiner Autonomie bemühen, manifestiert mit dieser Erwartung bereits autonomes Verhalten und damit einhergehend zugleich auch ein Bewusstsein seiner Abhängigkeit. In der Artikulation solcher Erwartungen wird deutlich, dass sich in der Erziehungssituation nicht einfach abhängige Kinder und autonome Erwachsene gegenüberstehen. Angesichts des hohen Grades an Bewusstsein und Refle54

Montandon, 2001, 58–60

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xion von moralpädagogischen Zielvorstellungen bei (älteren) Kindern scheint es vielmehr angebracht, moralpädagogische Zielvorstellungen als eingebettet in eine intersubjektive Situation zu betrachten. Das Verständnis von Kindern und ihrer Moralität war lange geprägt von einem entwicklungspsychologischen Verständnis, dominiert von der Sichtweise Piagets und Kohlbergs. Bei Piaget (der betont, dass er das moralische Urteil in Relation zu Spielregeln und nicht zu Moral an sich untersucht) sind dabei zwei Annahmen grundlegend. Erstens die Sichtweise, Moralentwicklung sei parallel zu kognitiver Entwicklung zu verstehen. 55 Piaget beschreibt das kleine Kind als geprägt von Egozentrismus, verstanden als intellektuelle und emotionale Unfähigkeit, eigene Interessen im Zusammenhang mit Interessen Anderer zu bringen. Für Piaget ist dieser kindliche Egozentrismus eine Anomalie. »It is only through contact with the judgments and evaluations of others that this intellectual and affective anomy will gradually yield to the pressure of collective logical and moral laws.« 56 Das egozentrische Kind stellt somit die Abweichung vom Standard dar. Billmann-Mahechas und Horsters Studien zeigen, dass Kinder ab dem 10. Lebensjahr Regeln nicht mehr nur als kategorisch gültig annehmen, sondern ausführliche Reflexionen zur hypothetischen Regelüberschreitung anstellen, was die Verfasser als einen »entscheidenden Wandel« deuten. 57 Auch hier fließt somit eine stark positive Wertung der Bedeutung kognitiver Selbständigkeit für Moralentwicklung ein. Zweitens ist bei Piaget die Annahme, Moralentwicklung folge einer Linie von Heteronomie zu Autonomie von grundlegender Bedeutung. Moralische Reife wird demgemäß verstanden als identifizierbar an dem zunehmenden Grad an Autonomie. Damit wird Autonomie zum Parameter moralischer Entwicklung und zum Leitbild moralpädagogischer Einflussnahme. Piaget beschreibt den Übergang zwischen den beiden Stufen von Moral folgendermaßen: »A new morality follows upon that of pure duty. Heteronomy steps aside to make way for a

Piaget, 1932, 404. Blasi betont, dass bei Piaget und (noch deutlicher) bei Kohlberg Moralentwicklung als gegründet auf moralisches Verstehen beschrieben wird, sodass ›Verstehen‹ zum eigentlichen Kern von Moral wird. (Blasi, 2004, 337–338) 56 Piaget, 1932, 408 57 Billmann-Mahecha & Horster, 2005, 208–209 58 Piaget, 1932, 411, 413. Piaget drückt sich kritisch aus gegenüber der Auffassung, Pädagogik sei direkt aus der Psychologie herleitbar. 55

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consciousness of good, of which the autonomy results from the acceptance of the norms of reciprocity.« 58 In ihrer Darstellung von Piagets Theorie der Moralentwicklung veranschaulicht Keller die trivialisierende Vorstellung von einem eindeutigen Verhältnis zwischen dem heteronomen Kind und dem autonomen Erwachsen. Bei Piaget ist die Moralität des Kindes, so Keller, deutlich »in den unilateralen Macht-Beziehungen zwischen Eltern und Kind verankert, in der zunächst einer der Partner (die Eltern) Verhaltensmaßnahmen setzt, die der andere (das Kind) befolgt«. 59 Entscheidend für die Heteronomie der Kinder ist dabei »eine Mischung von Liebe und Furcht« im Verhältnis zu den Eltern, aber auch die anfängliche kognitive Unfähigkeit der Kinder zur Perspektivenübernahme. Der Erwerb derselben erlaubt dann autonome Moral unter der Norm der Reziprozität. 60 Kohlberg griff genau diese Kernannahmen – mit der positiven Wertung von Autonomie und Reziprozität – auf und verfeinerte sie in seiner Stufentheorie von Moralentwicklung. Zentral ist dabei für die Formulierung der Stufentheorie eine Moral, welche sich orientiert an ethischen Kriterien wie Neutralität (»unpartiality«), Universalisierbarkeit sowie einer rational orientierten Bereitwilligkeit zu einem Streben nach Konsens. Diese liegen Kohlbergs Stufentheorie zugrunde, welche auf moralische Kognition anhand des »moralischen Urteils« fokussiert und die Entwicklung derselben als von vorkonventionell via konventionell zu post-konventionell orientiert beschreibt. 61 Nach Piagets und Kohlbergs Theorien entwickeln sich Kinder von heteronomen zu autonomen Personen. Erwachsen zu werden und moralisch zu reifen heißt, zunehmend autonomer zu werden. Autonomie wird von Piaget und Kohlberg gleichgestellt mit moralischer Reife. Diese wird verstanden als kognitive Fähigkeit, Regeln als veränderlich zu betrachten und sich ihnen gegenüber deliberativ und kritisch zu verhalten. 62 Es geht jedoch bei den beiden Ansätzen nicht um Moral als komplexer Bereich bestehend aus Kognition, Handlung, Motivation, Emotion und sozialer Kontextualität, sondern um die »EntwickKeller, 2005, 151 Keller, 2005, 151 61 Kohlberg; Levine; Hewer, 1983, 20–22. Für eine übersichtliche Darstellung methodischer und inhaltlicher Aspekte von Kohlbergs Stufentheorie zur Moralentwicklung, siehe Keller, 2005. 62 O’Neill, 2002, 24 63 Oerter & Montada, 2002, 629 59 60

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lung des Denkens über Moral«. 63 Piagets zwei Stadien bezeichnen zwei verschiedene Betrachtungs- oder Umgangsweisen mit moralischen Normen (oder eben Spielregeln), die direkt abhängig von der kognitiven Fähigkeit der Perspektiveübernahme sind. Kohlberg geht es um das moralische Urteil, respektive die Art und Weise, wie ein moralisches Urteil begründet werden kann. Die Reduktion von Moralität auf ein kognitiv erklärbares und an einem engen Gerechtigkeitsprinzip orientiertes Moralurteil führt Kohlberg verstärkt weiter. 64 Es ist die Kombination dieser beiden Annahmen, welche konstituierend ist für die allzu vereinfachende Vorstellung autonomer Erwachsener, die heteronome Kinder erziehen. Moralentwicklung wird hauptsächlich in kognitiver Hinsicht verstanden und Autonomie (als kognitiv bestimmte Fähigkeit) wird zum Schlusspunkt dieser Entwicklung. Die nur schwer aufzulösende Verstrickung empirischer und normativer Aspekte einer solchen Sichtweise wird dabei offensichtlich. 65 Piagets Interesse für die Eigenart kindlicher Kognition und Moralität kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Theorie stark geprägt ist von einer positiven Wertung einer Vorstellung von kognitiver und moralischer Abgeschiedenheit oder Selbständigkeit (»separateness«). 66 Die Aporien dieser Sichtweise sowie der problematischen Forschungsmethoden, die ihr zugrunde liegt, hat unter Anderen Gilligan dargelegt. Gilligans Kritik wendet sich nicht nur gegen Kohlbergs einseitig kognitives Verständnis von Moral, sondern hebt auch gegen genustheoretisch bedingte Mängel seiner Forschung hervor. (Gilligan, 1982) Wichtige empirische Daten, die Anlass geben dazu, Kohlbergs Theorie zu modifizieren bezüglich ihres universalistischen Anspruchs haben unter Anderen Bergling und Keller geliefert. Beide zeigen, dass Kohlberg kulturelle Unterschiede zu wenig berücksichtigt hat und dass insbesondere die früheren Stufen in Kohlbergs Theorie »theoretisch unzulänglich definiert sind, da sie genuin moralische und prosozial-empathische Emotionen nicht zulassen«. (Bergling, 1981; Keller, 2005, 157–161) Shaffer beschreibt verschiedene, einander ablösende Paradigmen in entwicklungspsychologischer Forschung. Seine Darstellung macht eine Verschiebung des Forschungsinteresses deutlich, die entlang einer Linie von einem Fokus auf die Entwicklung individueller Fähigkeiten zu einem Fokus auf die Bedeutung von sozialer Interaktion verläuft. (Shaffer, 1984) Mehrere aktuelle Ansätze, die auf breiter ansetzende Modelle zum Verständnis von Moralentwicklung zielen, finden sich bei Lapsley & Narvaez. (Lapsley & Narvaez, 2004) 65 In der Pädagogik wird eine Theoriebildung zu Autonomie, gekennzeichnet durch die Verschränkung von einem Verständnis von Erwachsensein als autonom sein mit der Wertung des so verstanden Erwachsenseins als Standard, oft Herbart zugeschrieben. (Smeyers & Wringe, 2003, 311–313) 66 Lee, 2005, 30–32 64

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Das einseitige Interesse entwicklungspsychologischer Forschung für Moral als individueller kognitiver Fähigkeit greift auch Johansson auf. Johansson hat in ihren empirischen Studien von Kindern in Vorschulen in Schweden empathisches Verhalten studiert. Sie stellt unter anderem fest, dass die Resultate ihrer Studien als Hinweis darauf interpretiert werden können, dass Moral im Leben von Kleinkindern (1–3 Jahre) früh eine wichtige Rolle spielt. Moral, so Johansson, ist wichtig, bevor die Kinder die kognitiven Fähigkeiten aufweisen, die gemäß Piaget (und Kohlberg) vorhanden sein müssen für Moral. Johansson kritisiert eine Sichtweise, welche Moral als verschiedene Fähigkeiten im Individuum konzipiert und erforscht. Sie plädiert an ihrer Stelle für eine Sichtweise, die Moral als erlebt und ausgedrückt in Intersubjektivität in den Lebenswelten der Kinder betrachtet. Dabei liegt der Fokus auf der Art und Weise wie Kinder mit Anderen interagieren. Es ergibt sich so eine breitere Sichtweise von Moral, die Verhalten nicht einfach als Ausdruck einer vorhandenen individuellen (hauptsächlich kognitiven) Fähigkeit interpretieren lässt, sondern ihren Fokus auf komplexe Verhaltensweisen, die auf Kontextualität bezogen verstanden werden, legt. 67 Was Johanssons Studien zeigen, ist nicht nur, dass die Bedeutung emotionaler Aspekte der Moralentwicklung oft unterschätzt wird und damit insbesondere das Verständnis der Moralität kleinerer Kinder unzureichend ausfällt. Sie zeigen auch, dass Interpretationen von moralischen Verhaltensweisen (wie hier pro-soziale oder empathische Verhaltensweise in der Gruppe Gleichaltriger) gravierend verschieden ausfallen, wenn sie nicht isoliert als individuelle Fähigkeiten betrachtet werden, sondern als Ausdruck und Resultat intersubjektiver Situationen und Verständigungen. Meehan bezieht sich auf empirische Forschung mit Säuglingen und Kleinkindern und unterscheidet dabei zwei Modelle der Entwicklung des Selbst: ein intrapsychisches und ein intersubjektives Modell. Ersteres Modell versteht die Entwicklung des Selbst als fortschreitenden Prozess der Separation von der Bezugsperson und damit als eine intrapsychische Funktion. Durch die Separation bildet sich eine eigene Identität heraus. Meehan macht den wichtigen Hinweis, dass gemäß einem solchen Verständnis Beziehungen immer eine Bedrohung für die Entwicklung des Selbst darstellen. Letzteres Modell deutet die Entwicklung des Selbst als eine Funktion der Interaktion mit Anderen. 67

Johansson, 2008, 45

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Grundlegend ist dabei von Geburt an die Fähigkeit zu »cross-modal unification of sensations« des Säuglings. Damit ist gemeint, dass der Säugling in der Interaktion mit einer anderen Person fähig ist, Wahrnehmungen verschiedener Art ein und derselben Person zuzuordnen und sich damit eine einheitliche Auffassung des Anderen als Person zu bilden. Damit einhergehend kann der Säugling auch sich selber als Gegenüber zu dieser Person auffassen. Dies zeigen empirisch festgestellte Fähigkeiten von Säuglingen, Erwachsene zu imitieren, oder visuelle und audiologische Signale ein und derselben Person zuzuordnen. Gerade in der Fähigkeit zu imitieren, so Meehan, liegt die – noch unbewusste – Fähigkeit, das Selbst vom Anderen ausreichend unterscheiden zu können, um das Selbst dem Anderen anzugleichen. 68 Meehan folgert, dass, obwohl das Kleinkind biologisch dazu ausgerüstet ist, eine Ich-Identität zu entwickeln, dies nur intersubjektiv möglich ist durch die Interaktion mit Anderen. »Thus the self is a psychic derivation made possible by biology but made real only in attachment relationships with other human beings. This is because a self becomes a self through a process of assimilation and ›using‹ selves outside itself, splitting them into good, bad, desired, or repudiated, taking such parts whether real or imagined, and either identifying with them or projecting them back onto their source or onto other selves.« 69

Auch hier wird deutlich, dass Ich-Identität sich in Relationalität konstituiert und dass somit keine Gegensätzlichkeit anzunehmen ist zwischen den Abhängigkeiten, welche die Beziehungen insbesondere kleinerer Kinder kennzeichnen und den selbstbestimmenden Verhaltensweisen, die sie im Kontext dieser Relationalität aufweisen. Wenn sich auf dem Gebiet entwicklungspsychologischer Forschung so ein komplexeres Bild des Kindes abzeichnet, als dies bei den kognitiven Entwicklungstheorien Piagets und Kohlbergs der Fall ist, dann sind in pädagogischen Ansätzen entsprechende Tendenzen festzustellen. Sie verstärken die Erfordernis, das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen nicht als gegensätzlich auf einer Achse Heteronomie – Autonomie zu betrachten. In ihrer Arbeit zu Autonomie und zu Erziehung kritisiert Meyer-Drawe die Vorstellung von Moralentwicklung als geradlinig von Heteronomie zu Autonomie verlaufend.

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Meehan, 2001, 236–237 Meehan, 2001, 239

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Mit Bezug auf phänomenologische und psychoanalytische Theoriebildung hinterfragt sie sowohl die Annahme von Autonomie als realistischem Aspekt moralischer Kompetenz sowie die positive Wertung von derselben. Meyer-Drawe strebt ein Verständnis des Subjekts (als autonome Person) an, welche eine einseitige Betonung kognitiver Fähigkeiten als auszeichnend für Subjekte überwindet und sie als in Intersubjektivität konstituiert betrachtet. »Subjekte markieren (…) weder den Anfang noch das Ende von Entwicklungsprozessen. Sie formieren sich in Praktiken der Unterwerfung und Beherrschung.« Es geht ihr darum, die Gegensätzlichkeit zwischen Heteronomie und Autonomie zu überwinden. »Dabei soll die insulare Auffassung des Subjekts als cogito überwunden werden, ohne es in Relationen aufzulösen.« 70 Meyer-Drawe definiert das Selbst im Anschluss an eine hauptsächlich phänomenologische Sichtweise als »Beziehungsgefüge (…) und kein Kern, der in zunehmendem Maße durch Ablegen von Schalen erreicht wird«. Sie folgert, dass ein solches Verständnis des Selbst eine Sichtweise von Ich-Entwicklung nach sich zieht, die diese als nicht abschließbar betrachtet. Dies beruht auf einer grundlegenden Geschichtlichkeit des Selbst, gefasst als Intersubjektivität. 71 Demzufolge zeichnet sich das Subjekt in Beziehungen zu Anderen ab, durch »verschiedene Komplexe der Differenzierung von Ich und Nicht-Ich, die sich wechselseitig konstituieren«. 72 Die Vorstellung eines autonomen Ichs als Endprodukt einer linearen Entwicklung von Heteronomie zu zunehmend mehr Autonomie muss gemäß einer solchen Sichtweise aufgegeben werden. »Jede Phase (im Sinne von Wendung) der Entwicklung bedeutet eine neue Organisation von Subjektivität und damit eine neue Strukturierung im Diskurs des Anderen. Damit wird nicht bestritten, dass sich Subjektivität regelhaft und überindividuell entwickelt, allerdings wird bezweifelt, dass eine Architektur des Ich vorliegt, die ihren vollkommenen Ausdruck in einem Autonomiezustand des Ich findet.« 73

Ins Zentrum ihrer Überlegungen zu Autonomie stellt Meyer-Drawe eine »Kritik am Logo- und Subjektzentrismus traditioneller Theo-

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Meyer-Drawe, 1990, 18–19 Meyer-Drawe, 1990, 122 Meyer-Drawe, 1990, 19 Meyer-Drawe, 1990, 123

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rien«. 74 Ausgehend von einer solchen Kritik, so Meyer-Drawe, kann Entwicklung des Subjektes, d. h. Entwicklung von Autonomie, statt »positiv als akkumulativer Vollzug« als »komplexes Konfliktgeschehen« verstanden werden. Dies ist gekennzeichnet durch »die Zunahme an Möglichkeiten, durchkreuzt (…) durch Prozesse des Verdrängens und Vergessens«. Sie spricht von einem Subjekt, welches »auftaucht oder untertaucht, indem es sich in historisch spezifischer Weise inszeniert oder desartikuliert«. 75 Es kristallisiert sich so ein alternatives Verständnis von Ich-Entwicklung heraus. In diesem ist Autonomie weder eindeutiger noch alleiniger Parameter von Entwicklung, sondern eher ein Thema innerhalb dessen Ich-Entwicklung als Sozialisierung, Identitätsfindung als soziale Einbettung geschieht. Damit ist die Idee der Entwicklung als Prozess zu zunehmend mehr Autonomie durchbrochen. Meyer-Drawe schreibt: »Es geht um den Versuch, Sozialisation zu begreifen als einen Verwicklungsprozess von Akteur und sozialen Lebensformen, der krisenhaft verläuft als Organisationsvollzug von Erfahrung, als Formation von Subjektivität in Maskeraden des Ich und im Spiegelbild von Anderen.« 76 Ihre Sichtweise umfasst eine deutlich weitere Auffassung von Ich-Entwicklung und Moralentwicklung. Kognitive Entwicklung verliert so den Status eines maßgeblichen Faktors und Autonomie die Funktion eines Parameters von Moralentwicklung. »Als leibliche Wesen sind wir den Dingen und unseren Mitmenschen nicht nur denkend zugewandt, sondern primär agierend und empfindend lernen wir durch gemeinsames Handeln und in der spezifischen Weise, wie wir mit anderen und mit Dingen umgehen. Wir lernen das Untunliche nicht dadurch dass wir sprachlichen Verboten und nachfolgenden Sanktionen ausgesetzt sind. Es gibt eine viel subtilere Zensur, indem wir vor der Schwelle ausdrücklicher Thematisierung lernen, unser Verhalten den Üblichkeiten unseres Milieus anzupassen.« 77

Eine derartige Vorstellung von Entwicklung als Konfliktgeschehen statt als Akkumulation von mehr und mehr Autonomie ist von grundMeyer-Drawe, 1990, 142. Meyer-Drawe bezieht sich dabei auf Foucault, Adorno, Bourdieu und Merleau-Ponty, die sie alle, aus je verschiedenen Interessen, einordnet in diese so genannte Zentrierungskritik. 75 Meyer-Drawe, 1990, 142 76 Meyer-Drawe, 1990, 45 77 Meyer-Drawe, 1990, 59 (meine Kursivierung) 74

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sätzlicher Bedeutung für das Generationenverhältnis und für das Verständnis von Erziehung als Anspruch, wie er im folgenden Kapitel besprochen wird. Es stehen sich in der Erziehungssituation nicht heteronome Kinder und autonome Erwachsene gegenüber und die Vorstellung von Entwicklung zum Erwachsensein als zunehmende Erwerbung von Autonomie erweist sich im Licht einer solchen Kritik als unangemessen. Es geht somit nicht so sehr um Entwicklung zu Autonomie oder Erziehung zu Autonomie als vielmehr um Erziehung innerhalb von Subjektgestaltung, innerhalb welcher Subjekte sich sowohl voneinander abzeichnen, wie auch ineinander verschwinden. Wenn Erziehung als intersubjektiv konstituierte Situationen betrachtet wird, erscheint die oben beschriebene legitimierende Funktion von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung, gründend auf kompensierender Gegensätzlichkeit, als inadäquat.

2.3.2 Erziehen in »separability« Vor dem Hintergrund der Charakterisierung von Subjektwerdung und Erziehung, wie sie Meyer-Drawe anhand eines Verständnisses von Intersubjektivität als grundlegend umreißt, ist Lees Begrifflichkeit zum Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen aufschlussreich. Auch er kritisiert die Kontrastierung von Kindern und Erwachsenen entlang der Gegensätzlichkeit Heteronomie – Autonomie, sowie die standardisierende Wertung, die damit meist einhergeht. Illustrativ ist seine Diskussion einiger gesellschaftlicher Kontexte, die – als untypische Orte für Kinder – diese Dichotomie als problematisch erscheinen lassen. In einer Analyse der Art und Weise, wie sich Gesellschaften gegenüber der Situation von Straßenkindern verhalten, stellt er fest, dass hier eine Verwässerung von traditionellen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Generationen eintrifft. »In the age of uncertainty, the weight of adult problems of maintaining social order has come to rest on poor children. Their ambiguity puts them in the position to be blamed for social problems and to be treated as a well-spring of social disorder.« 78

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Lee spricht von einer Ambivalenz von Kindheit und Erwachsensein, welche »the age of uncertainty« prägt. Die Unterscheidung »becoming/being«, die für das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen lange prägend war, verliert gemäß Lee ihre Relevanz, nicht nur durch das Phänomen Straßenkinder, sondern auch innerhalb der klassischen Orte, die diese Aufteilung aufrechterhalten haben, nämlich Familie und Schule. Fernsehen und Informationstechnologien verunmöglichen die Kontrolle von Erwachsenen über die Zugänglichkeit zu Information. Dies schafft gemäß Lee nicht eine Umkehrung der Verhältnisse, sondern eine neue Komplexität, eine beidseitige Ambivalenz, welcher die Unterscheidung »becoming/being« nicht gerecht werden kann. 79 Lee ahnt ein Verfließen von Grenzen mit der Folge der Unbestimmbarkeit von Erwachsenen und Kindern. Er will beide Kategorien beschreiben als gekennzeichnet von einer idealisierten Veränderlichkeit und Labilität: »But beyond the increasing ambiguity of childhood, we have also seen the emergence of ›becoming without end‹, in both the figure of the pupil in the networked school and the adult in the learning society. (…), recent social change is leading to an abandonment of the category ›human being‹, an abandonment of the notions of completeness, stability and journey’s end. The condition of human becoming is spreading throughout the life-course.« 80

Mit der Einführung der Begriffe »becoming humans« und »multiple becomings« will Lee zeigen, dass Kinder und Erwachsene auf grundlegende Weise abhängig und inkomplett sind, und dass das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen einem beiden gleichermaßen gemeinsamen Zustand von dauernder Veränderlichkeit unterworfen ist. 81 Lee nennt dies auch »a strategy of emptying ›being‹ and multiplying ›becoming‹«. Als »becoming humans« sind Kinder und Erwachsene gemäß Lee dennoch entlang einer zeitlich bedingten Linie unterscheidbar. Erwachsensein muss gemäß Lee mit einer langsameren Veränderlichkeit assoziiert werden. 82 Er schreibt: »(…) growing up is a matter of the slowing of the pace of change between orders.« 83 Lee, 2001, 71, 75–85 Lee, 2001, 85 81 Lee, 2001, 103, 119 82 Lee, 2001, 140–143. Prout macht den Hinweis, dass neuere Kindheitsforschung die dichotomen Strukturen, die bislang der Unterscheidung zwischen Kindern und Erwach79 80

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Vor dem Hintergrund einer solchen als für Kinder und Erwachsene kennzeichnenden Veränderlichkeit eröffnen sich Möglichkeiten, das Generationenverhältnis in moralpädagogischer Hinsicht als Situationen mit gemeinsam geteilten Bedingungen zu betrachten. Lee schlägt vor, ein Ideal von »separateness« als kennzeichnend für Erwachsensein und damit normierend für Erziehung zu ersetzen durch ein Konzept von »separability« als prägend für die Erziehungssituation. »Separability« definiert er als »the possibility of children’s temporary and partial separation from their carers, communities or cultures, the possibility that they might be considered for their own sake beyond the claims of those they otherwise ›belong‹ to«. 84 Es ist nicht so sehr diese Definition von »separability«, sondern Lees normative Verwendung des Begriffes, die für die Frage nach Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung von Interesse ist. In Lees Beschreibung bietet sich »separability« als gleichermaßen normierend für Kinder und Erwachsene an und formt somit – im Unterschied zu »separateness« – eine Generationen vereinende Normativität. Lee vertritt die These, dass das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen in modernen oder ›westlichen‹ Gesellschaften geprägt sei von einer grundlegenden Verknüpfung von »separateness« mit Erwachsensein und mit Menschenwert. Er meint weiter, dass Erwachsene, die dieser modernen, positiven Wertung von »separateness« oder Autonomie unterworfen sind, selber ständig versuchen »separateness« in ihrem Leben mit »performances of separateness« zu gestalten, während sie auf Kinder gegensätzliche Vorstellungen von Abhängigkeit senen zugrunde lagen, vorläufig nur umgekehrt hat. Die Idee des kompetenten Kindes, wie es in neuerer Kindheitsforschung auch unter der Bezeichnung »the child as a being« konzeptualisiert wird, und welches als aktives Subjekt beschrieben wird, ist verständlich als eine Reaktion auf die negativ wertende Vorstellung des Kindes als passiv, abhängig und »becoming«. Eine Überwindung dieser dichotomen Strukturen ist aber gemäß Prout der nächste wichtige Schritt, der Kindheitsforschung erst weiterführen kann in ein Verständnis von Kindheit, welches Unterscheidungskriterien zwischen Erwachsenen und Kindern komplexeren Strukturen zu unterwerfen im Stande ist. (Prout, 2005, 10– 11) Lees Konzeptualisierung von Erwachsenen und Kindern als »becoming« stellt demgemäß auch keine solche von Prout verlangte Überwindung der Dichotomie dar. Dies wird deutlich insbesondere an seiner Feststellung, dass Erwachsensein eine Verlangsamung der Veränderlichkeit darstelle. Dieser Forderung kann jedoch Lees Begriff »separability« (siehe unten) zumindest ansatzweise gerecht werden. 83 Lee, 2001, 142 84 Lee, 2005, 37

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projizieren. Es geht dabei gemäß Lee um Unabhängigkeit respektive Abhängigkeit in Bezug auf Kategorien wie Körper/Natur, geschichtliche und soziale Kontextualität. Erwachsene nehmen Kinder also als abhängig wahr und werten sie als solche, indem sie Kinder als ihren Besitz auffassen. 85 Lee führt dies auf eine Tendenz zurück, dass »performance of separateness« hohen Status zugeschrieben wird. Lee spricht von »significance of separation in the creation of value and in the assignment of value to persons«. Er schreibt: »Western societies (…) came to distribute resources of social respect and personal dignity according to a scale of separateness or independence.« 86 Was den Begriff »separability« interessant macht, insbesondere als Ersatz für das »separateness«-Ideal, ist seine normative Bedeutung. Indem Lee mit »separability« als der »Möglichkeit von Beziehung« ein Bild von verschränkter Subjektivität und Intersubjektivität zeichnet, 87 entfällt der normative Status von »separateness«. Es ist mit anderen Worten vor dem Hintergrund von »separability« nicht plausibel, Autonomie als Entwicklungsziel und als moralpädagogische Zielvorstellung der Erziehungssituation als Kontrast gegenüberzustellen und Autonomie damit eine normativ übergeordnete Stellung gegenüber Heteronomie zu verleihen. Vielmehr formt »separability« als eine normativ prägende Bedingung für Erziehung eine Autonomie und Heteronomie integrierende Bedingung. »If all separateness rests on separability, then everyone, adult and child, no matter how effective their performance of separateness is in gathering value to themselves, is always also attached, connected and dependent. The appearance Lee, 2005, 153–154. Lee begründet seine These mithilfe einer Argumentation psychologischer Art. Kinder werden als Besitztum von Eltern, von Institutionen oder Nationen betrachtet. Damit verbunden ist gemäß Lee eine Separationsangst seitens der Erwachsenen. Die psychologische Argumentation Lees setzt unter anderem die Annahme voraus, dass Identität durch Abgrenzung und Absonderung abgesichert wird. Durch die Projektion jener Eigenschaften auf Kinder, die als gegensätzlich zu den für Erwachsene erstrebenswerten Eigenschaften aufgefasst werden, sichern sich Erwachsene ihre Identität. Inwiefern solche Projektions- und Identitätsmechanismen miteinander zusammenhängen müsste erst gezeigt werden. Lee verbindet damit die These, dass es bei dem Widerstand Erwachsener, Kinder als kompetent und zu gewisser Selbständigkeit berechtigt zu sehen, auch um Separationsangst gehe. Dies, weil Erwachsene Kinder in erster Linie als Besitz werten und weil die Selbständigkeit der Kinder als Bedrohung dieses Besitzverhältnis erlebt wird. (Lee, 2005, 11–20) 86 Lee, 2005, 21, 37–38 (meine Kursivierungen) 87 Lee, 2005, 154 85

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of actual and complete separateness is an effect of the concealment of connections. Likewise, any appearance of actual and complete attachment is an effect of the concealment of separateness.« 88

Interessant ist Lees Begriff der »separability«, weil er ein Verständnis von Erziehung ermöglicht, welches Erziehung nicht als Überbrückung zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt betrachtet. Mit anderen Worten ist Erziehung – wenn sie in »separability« geschieht – nicht das, was aus Kindern Erwachsene macht, nicht das, was aus abhängigen oder heteronomen Wesen unabhängige oder autonome Personen macht. Das öffnet für die Möglichkeit ›Erziehung zu Autonomie‹ als Erziehung in »separability« zu sehen. Es könnte dann mehr um qualitative Unterschiede statt um quantitative Entwicklung gehen. Lees Begrifflichkeit und Argumentation ist relevant für die Frage nach der legitimierenden Funktion der moralpädagogischen Zielvorstellung Autonomie. Mit dem Begriff »separability« postuliert Lee eine grundlegende Fähigkeit, die Kinder und Erwachsene gemeinsam, d. h. in ihrer Bezogenheit aufeinander, prägt. Die Annahme von »separability« als kennzeichnender Bedingung für die Erziehungssituation lässt die Vorstellung von Erziehung als geradlinige Bewegung von Heteronomie zu zunehmend mehr Autonomie als unzulänglich erscheinen. Die Annahme einer solchen gemeinsamen ›Plattform‹ für Kinder und Erwachsene spricht gegen die Plausibilität eines Verständnisses von einem Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen als Beziehung zwischen abhängigen und unabhängigen, zwischen heteronomen und autonomen Personen. Erziehung ist dann nicht einfach eine geradlinige Förderung einer Entwicklung zu zunehmender Autonomie als Annäherungsprozess zum Erwachsensein. Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten prägen als ineinander verschränkt das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen und so die Erziehungssituation. Als moralpädagogische Zielvorstellung gerät Autonomie somit nicht in eine gegensätzliche Position zur Erziehungssituation oder zu Erziehung als erlebte Praxis. Lee, 2005, 156. Lee betont zugleich, dass die Annahme von »separability« als für Kinder und Erwachsene zugleich geltende Bedingung nicht einer Annahme gleichkommt, dass kein Unterschied bestehe zwischen Kindern und Erwachsenen bezüglich der Fähigkeit selbständig oder autonom zu handeln. Lee stützt sich unter anderem auf Vygotskys Beobachtungen zur Fähigkeit »selber zu denken« und folgert: »(…) adults and children often have quite different positions within distributions of separability«. (Lee, 2005, 157)

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»Separability« als bedingend für die Praxis und die Normativität von Erziehung enthebt Erziehung der Problematik des pädagogischen Paradoxes. Wenn »separability« als Normativität Erziehung prägt, ist eine Gegensätzlichkeit zwischen der Erziehungssituation (als Freiheit begrenzend) und der Zielvorstellung Autonomie aufgehoben oder zumindest abgeschwächt. Wenn Erziehung als unter einer Bedingung von »separability«, d. h. ›in‹ »separability« dargestellt wird, dann erscheint ein Begründungsmuster zur Legitimität von Erziehung, welches für die legitimierende Funktion von Autonomie eine kompensierende Gegensätzlichkeit voraussetzt, in der Folge als inadäquat. Der »separability« Begriff Lees erscheint interessant auch vor dem Hintergrund der Befunde einer aufschlussreichen empirischen Studie von Mayall. Sein theoretischer Ausgangspunkt besteht unter anderem in der Annahme, dass »generational forces« eine entscheidende Rolle spielen für die Gestaltung von Kindheit. 89 Die Art und Weise, wie Erwachsene sich Kindern gegenüber verhalten, ist von zentraler Bedeutung. Mayall nennt insbesondere »care and control relationships« als konstituierend für die Bestimmung des sozialen und moralischen Status von Kindern. 90 Mayall definiert moralische Kompetenz als zwei Komponenten umfassend: eine Wissenskomponente (als Weisheit, die richtige Entscheidung zu treffen) und eine Handlungskomponente (als Mut, den besten Versuch zu machen und Verantwortung dafür zu übernehmen). Moralische Kompetenz von Kindern, so Mayall, erweise sich als »kontext-bezogen« und entstehe durch konkrete Anforderungen an Argumentation, Emotion und Handlung in aktuellen Situationen. Er schreibt: »To the extent that children are denied the opportunity to exercise competence, they are likely to be less competent and through processes of mutual reinforcement they are especially likely to be regarded as lacking competence.« 91

Mayall erfasste die Erfahrung von Schulkindern in London bezüglich ihrer eigenen moralischen Autonomie. Dabei stellte er eine Diskrepanz fest zwischen dem moralischen Status, der Kindern zugeschrieben wird (gemäß ihren eigenen Schilderungen) und ihrer faktischen moralischen Kompetenz. Es wird ihnen von umgebenden Erwachsenen im Vergleich zu ihrer eigenen Selbsteinschätzung ein geringerer mora89 90 91

Siehe die Kommentare unten zur »neueren Kindheitsforschung«. Mayall, 2001, 124 Mayall, 2001, 124–125

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lischer Status (»inferior moral status«) zugeschrieben. Zugleich werden sie jedoch mit Erwartungen konfrontiert, die moralische Kompetenz in ihrem Verhalten verlangt. Während Kindern ein geringerer moralischer Status zugeschrieben wird im Verhältnis zu Erwachsenen, legten die Kinder in ihrem faktischen Verhalten (respektive ihren Reflexionen dazu in den von Mayall durchgeführten Gesprächen) höhere moralische Kompetenz an den Tag. Es ging Mayall dabei sowohl um soziale Kompetenzen, wie etwa Verhaltensweisen zur Konfliktlösung zwischen Erwachsenen (meist Eltern und Lehrer) und den Kindern, wie auch ihre Reflexionen über ihr Verhalten. Gemäß Mayall war das Verhalten der Kinder oft auf avancierte Weise darauf angelegt, Konflikte zu vermeiden oder zu besänftigen, um die Beziehungen zu erhalten. Ebenso waren sie fähig, selbständig über die sozialen Situationen und Konflikte zu reflektieren. Mayall meint also, dass Erwachsene nicht nur Kinder unterschätzen, sondern selbst oft übertroffen werden von der moralischen oder sozialen Kompetenz der Kinder. »Thus children comforted parents, showed tolerance for and dealt with varying parent and sibling moods and behaviour, maintained contacts with non-resident fathers and grandparents; and assessed and coped with teachers’ bad moods. Though they did not overtly assign moral status to their actions here, their accounts show that they understood that child-adult relationships involved activity by the child as well as by the adult.« 92

Mayall unterscheidet in den Schilderungen der Kinder drei Aspekte ihrer moralischen Kompetenz (als ausgedrückt in autonomem Verhalten (»agency«)): (1) Lernen, ein »genug gutes Mitglied der Familie und Kultur zu sein«, (2) »arbeiten am Projekt des eigenen Lebens« und (3) »Widerstand gegen Kontrolle durch Erwachsene«. Mayall betont, dass in der Beurteilung, die Kinder selbst über ihr soziales Leben ma92 Mayall, 2001 125–126. Mayall interpretiert diese Diskrepanz vor dem Hintergrund der Lebensumstände in London und Großbritannien. Er meint, dass aufgrund einer verhältnismäßig geringen Verantwortung des Staates und einer desto größeren Verantwortung der Eltern für die Sicherheit der Kinder diese sich mit sehr einschneidenden Begrenzungen ihrer Bewegungsfreiheit konfrontiert sehen. Insbesondere weil in einer Großstadt wie London kaum Kontexte zur Verfügung stehen, die für Kinder sicher wären (»traffic danger« und »stranger danger«), sehen sich Eltern gezwungen, ihren Kindern gegenüber sehr überwachend zu sein. Kinder erleben so nur in äußerst geringem Maße tatsächlich Freiraum. Nur innerhalb der Familie und unter Gleichaltrigen im überwachten Kontext der Schule können sie Entscheidungen treffen. (Mayall, 2001, 115, 126–127)

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chen, Interdependenz als verschränkt mit Wertungen von Unabhängigkeit und Autonomie erscheint.93 Mayalls Folgerung, dass Kinder ihr Streben nach Autonomie selbst als integriert in Interdependenzen sehen, bestätigt die Unzulänglichkeit der Vorstellung, heteronome Kinder ständen autonomen Erwachsenen gegenüber. Was sich ergibt ist ein Bild, welches auch anhand des Begriffes »separability« beschrieben werden kann. Autonome Verhaltensweisen (im Sinne von Lees »performances of separateness«) in Konfliktsituationen werden in enger Verschränkung mit Abhängigkeiten und sozialen Kompetenzen prägend für das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen. Gerade auch Mayalls Beobachtung, dass Erwachsene Kinder bezüglich moralischer Kompetenz unterschätzen (und damit sich selbst im Verhältnis überschätzen), deutet darauf hin, dass die Vorstellung von Moralentwicklung als von Heteronomie zu Autonomie verlaufend unbefriedigend ist. Somit ist Autonomie an sich (als Gegenüber zu Heteronomie) auch kein adäquater Parameter von (Moral-)Entwicklung oder von Erziehung als zeitlichem oder kausalem Prozess.

2.3.3 Erziehung als »generationing« Die bisherigen Ausführungen zum Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen sind dahingehend gedeutet worden, dass gegenseitige Abhängigkeit und eine grundlegende Intersubjektivität kennzeichnend für das Verhältnis sind. Hier soll nun ein Schritt weitergegangen werden anhand einer relationalen Konzeptualisierung des Generationenbegriffes, wie sie in der »neueren Kindheitsforschung« zum tragen kommt. Mit »neuerer Kindheitsforschung« wird die Bezeichnung übernommen, die üblich ist im Zusammenhang mit jener Neuorientierung, die vor allem seit der von James und Prout 1990 erstmals herausgegebenen Anthologie Constructing and Reconstructing Childhood stattgefunden hat und die auf englisch meist als new social studies of childhood bezeichnet wird. Mit Neuorientierung sind in erster Linie interdisziplinäre Ansätze zu Kindheit gemeint, welche Kindheit als soziale Konstruktion betrachten. Dabei wird die kontextuelle Abhängigkeit des Konzeptes Kindheit wichtig und es folgt eine Kritik an einem 93

Mayall, 2001, 128

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universellen und ahistorischen Kindheitskonzept. Damit einhergehend ist jedoch auch eine These des »kompetenten Kindes«, mit einer Betonung des Kindes als Subjekt, bisweilen als »Kompetenz-Paradigma« bezeichnet. 94 Diese beiden miteinander einhergehenden Aspekte neuerer Kindheitsforschung sind in gewisser Weise als gegensätzlich zueinander zu verstehen. Die Annahme von Kindheit als sozialer Konstruktion stellt im structure-actor-Diskurs eine structure-Position dar. Betont werden sozial vorgegebene Strukturen als Kindheit bedingend. Die These des kompetenten Kindes hingegen betont eine actor-Position, welche Kinder als mitgestaltende Akteure darstellt. Prout hat später diese Positionierungen innerhalb eines polarisierenden Diskurses mit dem Paradigmenwechsel und der damit zusammenhängenden anfänglich polemischen Orientierung neuerer Kindheitsforschung erklärt. Er will neuere Kindheitsforschung eher inklusiv definieren und jenseits vereinfachender Polarisierungen ansiedeln. Dualistische Strukturen wie etwa biologisch – sozial, structure – actor etc. bezichtigt er einer illegitimen Vereinfachung. Prout meint, dass neuere Kindheitsforschung, diese dualistischen Strukturen überwindend, Kindheit konzipieren soll als »heterogeneous assembly in which the social, technological and biological aspects of childhood are already ›impure‹ entities«. Er hebt unter anderem Alanens Generationenbegriff hervor als einen Ansatz, der jenseits der vereinfachenden Dualismen angesiedelt ist. Solche Ansätze ermöglichen eine Sichtweise, die Kindheit sowohl als sozial wie auch als biologisch reell betrachten. 95 Alter als Unterscheidungs- und Identifikationskriterium der Kategorien Kinder und Erwachsene markiert eine ungenügende Grundlage für die Zwecke dieser Arbeit. Denn eine Unterscheidung durch ein Alterskriterium erweckt, wie Alanen festhält, den Eindruck Kinder und Erwachsene existierten als Gruppen unabhängig voneinander. Ein Alterskriterium hat Alanen gemäß die Folge, dass die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen sich als äußerlich darstellen. Wenn Kinder hingegen ausgehend von einem relationalen Generationenbegriff her betrachtet werden, sind die Kategorien Kinder und Erwachsene für ihre Konstitution direkt abhängig voneinander. »Neither of 94 James & Prout, 1997. Siehe ebenfalls Prout, 2005, 60; Hutchby & Moran-Ellis, 1998; Mayall, 2001, 120; Lee, 2001, 43–54; Bremberg; Johansson; Kampmann, 2004; James, 1998 95 Prout, 2005, 3–5, 57, 75–78, 82

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them can exist without the other, what each of them is (a child, an adult) is dependent on its relation to the other, and change in one is tied to change in the other.« 96 Der Kontrast zu einer entwicklungspsychologischen Theoriebildung wird hier deutlich. Eine intersubjektive Sichtweise wie jene Meyer-Drawes lässt vor allem die Voraussetzung als problematisch erscheinen, dass Kindheit als eine aufgrund zeitlicher und biologischer Kriterien homogen bestimmbare Einheit behandelt werden kann. Kindheit in der Einzahl erscheint jedoch in einer globalisierten und pluralistischen Welt als obsolet. Zu verschieden sind die konstituierenden Bedingungen; es müsste von Kindheiten im Plural gesprochen werden. 97 Es ist jedoch zugleich zu sagen, dass eine zunehmend globalisierte Welt kulturell sowohl differenzierende wie auch homogenisierende Tendenzen aufweist. Wenn Produkte, die sich an Kinder als Konsumenten wenden, global zugänglich werden und Kinder in verschiedenen Ländern dieselben Spiele spielen und dieselben Kleider tragen, wird Kindheit homogenisiert. Das zunehmend größere Angebot solcher Produkte und damit verbundenen Aktivitäten und Identitäten führt aber zugleich zu einer zunehmenden Differenzierung. 98 Insofern als Erwachsene in ihrer Rolle als erziehende Personen abhängig sind von Kindern als zu erziehenden Personen, sind Kinder nicht einfach auf Objekte der Erziehung reduziert, sondern sind aktiv beteiligt an der Gestaltung der Erziehungssituation, wie sie konstituiert ist in der Interaktion sich begegnender Subjekte. Dies bedingt ein Verständnis von Kindern und Erwachsenen als relationale Kategorien. Entwicklungspsychologische Sichtweisen bieten sich damit als eine behilfliche Sichtweise unter anderen an. Dies aber nur unter der Voraussetzung, dass mit Hilfe ihrer Erkenntnisse Kinder in Intersubjektivität auf Erwachsene (und andere Kinder) bezogen betrachtet werden können. Die Verwendung der Begriffe erziehende Person und zu erziehende Person soll diesen Umstand gegenseitiger Abhängigkeit und relationaler oder inter-subjektiver Bestimmung in der moralpädagogischen Situation hervorheben. Grundlegend dafür soll die Annahme einer »generationalen Strukturierung« (»generational stucturing«) als be96 97 98

Alanen, 2001b, 129 Hutchby & Moran-Ellis, 1998, vii Prout, 2005, 28–30

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dingend für die an der moralpädagogischen Situation beteiligten Personen angenommen werden. Alanen, die generationale Strukturierung als Verb, d. h. als »generationing«, verstehen will, definiert sie als »the complexity of social processes through which people become (are constructed as) ›children‹ while other people become (are constructed as) ›adults‹«. Die Konstruktion, so Alanen, setzt Kinder und Erwachsene als handelnde Subjekte voraus, welche in Interdependenz zueinander gemeinsam an diesen Konstruktionen beteiligt sind. Alanen braucht den Generationenbegriff in analoger Weise zu dem Gebrauch der Begriffe Genus und Klasse als Kategorie, die sich bemerkbar macht als »praktisch effektiv« in Bezug auf die Gestaltung von »Aktivitäten, Möglichkeiten, Erfahrungen und Identitäten, sowie die Beziehungen zwischen den generationalen Kategorien«. 99 So wird die Erziehungssituation mit Alanens begrifflicher Konstruktion zu einem Ausdruck für »generationing«. Darin konstituieren sich Kinder und Erwachsene in Abhängigkeit voneinander und von der Art und Weise wie sie einander und sich selbst verstehen. Eine solche Sichtweise kompliziert die Bestimmung und Begründung von Zielvorstellungen. Ein Verständnis von Erziehung als »generationing« bedingt eine Aufhebung einfacher, linearer Zeitverhältnisse. Die Vorstellung, in der Erziehungssituation werde ausgehend von einem vorgefundenen, aktuellen Zustand auf einen in der Zukunft liegenden, besseren Zustand hin gearbeitet, wird nämlich problematisch. Wenn sich in der Erziehungssituation Generationen nicht einfach als erziehende und zu erziehende Personen begegnen, sondern sich darin in Abhängigkeit voneinander konstituieren, dann sind in der moralpädagogischen Situation sowohl die erlebte Gegenwart wie die vorgestellte Zukunft konstruiert und konstituierend zugleich. Zeitliche Vorstellungen im Zusammenhang mit Erziehung werden also durch den Begriff »generationing« herausgefordert. Es kann bei Erziehung nicht einfach darum gehen, Kinder in einem ersten Schritt in ihren altersmäßig bestimmten, moralpsychologischen Voraussetzungen zu ›verstehen‹ um dann – darauf bezogen – in einem zweiten Schritt Zielvorstellungen zu bestimmen. Unter Berücksichtigung der Bedeutung gegenseitiger konstitutiver Abhängigkeiten in der moralpädagogischen Situation, wie sie Ala-

99

Alanen, 2001b, 129; Alanen 2001a, 14, 18–19 (meine Übersetzung)

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nens Begriff »generationing« nahe legt, erweist sich die legitimierende Funktion von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung sowohl als wichtig wie auch als diffus. Wichtig ist Autonomie insofern als sich Erziehung als Situation geprägt von gegenseitiger, konstituierender Formung ethisch an identifizierbaren Idealen zu orientieren hat, wenn nicht irgendwelche Einwirkung unter ihrem Namen betrieben werden soll. Es geht, anders ausgedrückt, angesichts einer scheinbar unüberblickbaren Plastizität um die eingangs genannte Abgrenzung von Indoktrination, von der eine als legitim zu betrachtende Erziehung in einer demokratischen Gesellschaftssituation dann doch abhängig zu sein scheint. Diffus erscheint die legitimierende Funktion von Autonomie, weil gerade der Umstand von »generationing« als Bedingung für Erziehung eine klare Bestimmung von Autonomie als unrealistisch und damit unzulässig erscheinen lässt. Autonomie muss es sich in einer Situation intersubjektiver Dependenzen gefallen lassen, ihre früher unangefochtene Position als eindeutiges und klar abgrenzbares Ideal aufzugeben. Kompensierende Gegensätzlichkeit als tragende Idee eines Argumentationsmusters für die Legitimität von Erziehung durch Autonomie erscheint angesichts dieser Diffusität nicht als überzeugend.

2.4 Legitimitt als angestrebte Kohrenz Die bisherigen Ausführungen dieses Kapitels sollten das Argumentationsmuster der legitimierenden Funktion von Autonomie in einem modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigma problematisieren. Es wurde anfangs gezeigt, dass Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung legitimierend für Erziehung betrachtet wird, insofern als das Streben nach Autonomie die vorübergehende Einschränkung von Autonomie aufwiegt. Diesem Gedankengang zugrunde liegend ist eine Idee kompensierender Gegensätzlichkeit. Zwei Einwände wurden gegen ein solches Begründungsmuster angeführt. Erstens wurde anhand einer Darstellung von moralpädagogischen Zielvorstellungen als Verschränkungen von Vision, Reaktion und Realität die Plausibilität einer Trennbarkeit oder Gegensätzlichkeit zwischen Zielvorstellung und Erziehungssituation hinterfragt. Zweitens wurde die Vorstellung, Erziehung sei die Förderung einer Entwicklung von Heteronomie zu Autonomie kritisiert. An ihrer Stelle wurde ein Konzept von Erziehung als 118 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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intersubjektive Situation von »generationing« und innerhalb von »separability« vorgeschlagen. Es wurde eingangs festgehalten, dass es nicht darum geht, das moderne moralpädagogische Legitimitätsparadigma an sich zu ersetzen. Es soll also nicht bezweifelt werden, dass Erziehung, um als legitim betrachtet zu werden, auf eine grundlegende Weise abhängig ist von Autonomie als Zielvorstellung. Vielmehr soll das Begründungsmuster für die legitimierende Funktion von Autonomie als Zielvorstellung diskutiert werden. Vorgeschlagen wird nun ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster. Innerhalb eines solchen geht es um Autonomie als Wert in Funktion, d. h. als Wert, welcher anhand von Erziehung als eine praktische Problematik bestimmt und begründet wird. 100 Damit wird zugleich die Vorgehensweise der folgenden Kapitel dieser Arbeit angegeben. Statt einer Idee kompensierender Gegensätzlichkeit, rückt damit eine Bedingung angestrebter Kohärenz als Orientierung an strukturellen Ähnlichkeiten zwischen der Zielvorstellung Autonomie und Erziehung als Anspruch ins Zentrum. Die These der Arbeit umfasst demnach ein Begründungsmuster, welches anhand einer ethischen Begrifflichkeit, d. h. mit Fokus auf die moralpädagogische Normativität, Bedingungen von Erziehung auf normierende Weise mit deren Zielvorstellung zu verknüpfen sucht. Ethik wird in diesem Zusammenhang nicht verstanden als eine normative ethische Theorie, sondern als wissenschaftliche Disziplin, die Wertefragen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen hat. Anhand einer ethischen Perspektive sollen also die normativen Aspekte von Erziehung und Zielvorstellungen ins Zentrum der Analyse und Besprechung gestellt werden. Erziehung, als pädagogische Praxis, Situation und Beziehung, wird somit als normativer Anspruch thematisiert und problematisiert. Ausgehend von den pädagogischen Voraussetzungen und der Erfahrung von Erziehung, insbesondere aus der Sicht erziehender Personen, werden die Rahmenbedingungen für die Legitimität dieser Ansprüche diskutiert. Diese werden als Anhaltspunkte für Kohärenz auf Autonomie als moralphilosophisches Ideal und moralpädagogische Zielvorstellung bezogen. Autonomie, d. h. verschiedene Autonomiekonzepte, werden ihrerseits als normative Vorstellungen von Autonomie, als erstrebenswerte Kompetenz diskutiert. Dies mündet in ein Begründungsmuster, welches Erziehung insofern als durch Auto100

Siehe Kapitel 1, Abschnitt 1.3.3.

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Die Legitimittsfrage – Autonomie als Garant legitimer Erziehung?

nomie legitimiert respektive Autonomie als legitime Zielvorstellung betrachtet, als kohärente Strukturen ersichtlich sind bei den als adäquat bestimmten Ansprüchen von Erziehung und der Konzeptualisierung von Autonomie. Es gilt zu beachten, dass hinsichtlich des kohärenzorientierten Begründungsmusters zwei wichtige Einschränkungen zu berücksichtigen sind. Erstens soll die Bezeichnung kohärenzorientiert den Anspruch des Begründungsmusters relativieren. Kohärenz soll angestrebt werden als eine Annäherungsgröße, die eine orientierende Funktion hat. Als solche ist sie bedingt durch strukturelle Ähnlichkeiten, welche im gegenseitigen Bezug von Interpretationen normativer Aspekte von Erziehung und von philosophischen Bestimmungen von Autonomie erkannt werden können. Es kann dabei, aufgrund des hermeneutischen Charakters der Aufgabe, nicht um Kohärenz als exaktes Kriterium gehen. Mit dem kohärenzorientierten Begründungsmuster wird zweitens keine umfassende Theorie, sondern nur ein Muster als wegweisend für eine argumentative Vorgehensweise vorgeschlagen. Ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster ist insofern zirkulär, als ein Kohärenzkriterium anstatt eines (deduktiven) Letztbegründung-Ansatzes vorgeschlagen wird. Es geht darum, dass weder philosophische noch pädagogische Normativität von einem ›Grund‹ her letztbegründet werden können. Darum kann das Kohärenzkriterium sich auch von der umgekehrten Richtung her bestätigen. Die Ansprüche, die in der Erziehungssituation gemacht werden, müssen, um als Ansprüche oder als pädagogische Verfügungen legitim zu sein, in Abstimmung mit der entsprechend angestrebten Zielvorstellung entworfen werden. Die Zirkularität des Begründungsmusters reflektiert die Idee der Kohärenz, die anhand einer ethischen Begrifflichkeit die pädagogische Situation ›von innen‹ heraus, d. h. anhand ihrer inhärenten Bedingungen, begründet. Dieses Kohärenzkriterium ist jedoch abhängig von einem Bezug auf Erziehungserfahrung mit Zugang auf empirische Befunde. Insbesondere Befunde aus Studien innerhalb von Kindheitsforschung sind von Bedeutung für die Argumentation dieser Arbeit. Dies verlangt eine Argumentation in drei Schritten. Erstens eine Interpretation der Normativität, wie sie Erziehung als Praxis oder Erfahrung prägt. Die ethische Perspektive bedingt dabei eine Fokussierung auf Erziehung als Anspruch. Welche Art von Anspruch kommt in Erziehungssituationen und Relationen zum Ausdruck, wie ist er zu beschreiben? Zweitens, sich darauf beziehend, eine kritische Diskus120 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Legitimitt als angestrebte Kohrenz

sion dieses Anspruchs, sowie eine Formulierung adäquater pädagogischer Ansprüche. Diese beiden ersten Schritte eines Begründungsvorgehens gemäß einem kohärenz-orientierten Begründungsmuster werden im anschließenden Kapitel 3 durchgeführt. Drittens sollen verschiedene Autonomiekonzepte auf eventuelle Kohärenz mit den normativen Ansprüchen von Erziehung untersucht werden. Dies wird im Rahmen dieser Arbeit in den Kapiteln 4–6 durchgeführt, im Zusammenhang mit der Präsentation und der kritischen Besprechung der verschiedenen Autonomiekonzepte. Der Bezug auf Erziehungserfahrung soll komplementär sein zum Kohärenzkriterium und somit einer Beliebigkeit im – sonst in sich geschlossenen – kohärenten Begründungsmuster entgegenwirken. Vorwegnehmend kann hier gesagt werden, dass jenen Autonomiekonzepten der Vorzug gegeben wird, die auf verschiedene Weisen versuchen, Autonomie innerhalb von Dependenz zu fassen. Eine entsprechende Bestimmung von Autonomie skizziert diese im weitesten Sinne als kompetenten Umgang mit Abhängigkeiten oder Dependenz. So kann Autonomie, vorwegnehmend, betrachtet werden, als gekennzeichnet etwa durch Aspekte wie gegenseitige Anerkennung, Langsamkeit als Rückbindung an Person und Unbestimmbarkeit als A-Rationalität.

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3 Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

3.1 Erziehung und Ethik – Erziehung als Anspruch Zweck dieses Kapitels ist es, die Normativität von Erziehung zu beleuchten. Es gilt, Erziehung als Anspruch respektive den Anspruch von Erziehung 1 zu problematisieren und ein adäquates Verständnis von Erziehung als Anspruch zu präsentieren. Dabei sollen strukturelle Eigenschaften von Erziehung als Anspruch identifiziert und anhand der Begriffe Asymmetrie und Richtung charakterisiert und problematisiert werden. Der Fokus auf Erziehung als Anspruch macht zugleich die für die Arbeit gewählte ethische Perspektive aus. Indem Erziehung als Anspruch behandelt wird, wird auf einen Ansatz verzichtet, der es sich zum Ziel macht, Erziehung ›insgesamt‹ zu bestimmen und zu erklären. Dabei werden methodisch-pädagogische und empirische Aspekte von Erziehung nur sekundär aufgegriffen, d. h. insofern als sie für die ethische Frage nach dem Anspruch relevant sind. Die ethische Problematisierung von Erziehung als Anspruch soll sich verstehen als Versuch, eine moralpädagogische Problematik als normative Problematik zu beleuchten. Dabei werden anhand der ethischen Perspektive pädagogische Problematiken für Fragen der Philosophie erschlossen und umgekehrt. 2 Es geht um einen Versuch zur »Klärung des Anspruchs« wie ihn Oelkers zur »Innovationszone« der Theorie der Erziehung ernannt hat. 3 Die Aufgabe hier kann auch ver-

Beide sind Ausdrücke der Normativität von Erziehung. In Bezug auf Erziehung sind Philosophie und Pädagogik zwar auseinanderhaltbare Disziplinen, aber dennoch in gegenseitiger Abhängigkeit ineinander verschränkt. Oksenburg Rorty schreibt: »If educational policy is blind without the guidance of philosophy, philosophy rings hollow without critical attention to its educational import.« (Oksenburg Rorty, 1998, 2) 3 Oelkers, 2001, 254 1 2

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Erziehung und Ethik – Erziehung als Anspruch

standen werden im Anschluss an das von Rieger-Ladich identifizierte Bedürfnis an Studien, »die jene Mechanismen und Funktionen erhellen, die sich unterhalb der Ebene der Selbstbeschreibung des Bildungssystems und gleichsam im Schatten der strahlenden Vollendungsformeln vollziehen«. 4 Rieger-Ladichs Anfrage drückt eine wichtige Herausforderung betreffend kritischer Tiefe und disziplinärer Breite aus, welcher im Rahmen der vorliegenden Arbeit mit einer ethischen Studie zur moralpädagogischen Legitimitätsfrage begegnet wird. Es geht – in meiner Deutung dieser Anfragen zusammengenommen – um kritisch-konstruktive Ansätze zu moralpädagogischen Zusammenhängen, die diese von der Frage nach der Normativität her problematisieren. Bestimmung und Begründung von Zielvorstellungen wie Mündigkeit oder Autonomie erscheinen von der Frage nach Normativität her in Verbindung miteinander. Eine ethische Perspektive muss demgemäß insbesondere den Zusammenhang zwischen Erziehungssituationen und Zielvorstellungen (die von Vollendungsformeln absehen) unter die Lupe nehmen. In der Frage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung werden dabei Spannungsverhältnisse aktualisiert, welchen sich sowohl Moralphilosophen wie auch Pädagogen verpflichtet fühlen. Es geht mit Andresens Formulierung um die »Ambivalenz von Anpassung und Einzigartigkeit« oder um das »Spannungsfeld von sozialen Konstitutionen des Selbst und deren Verortung im Gesellschaftlichen«. 5 Einhergehend mit der Wahl, Erziehung anhand einer ethischen Perspektive als Anspruch zu problematisieren, ist zugleich eine Absage an eine Perspektive, die Erziehung als Prozess zu verstehen oder darzustellen sucht. Die Frage von Erziehung als Anspruch beleuchtet Erziehung als Situation und diskutiert ethisch relevante Aspekte der darin entstehenden moralpädagogischen Relationen. Diese Bemerkung ist insbesondere darum wichtig, weil das Interesse an Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung den Eindruck erwecken könnte, Erziehung werde als ein sich über einen kürzer oder länger gefassten Zeitabschnitt erstreckenden Prozess mit einem definierbaren Anfangsund Schlusspunkt verstanden. Es geht um die Frage, ob nicht die Rede von Zielvorstellungen, sowie von deren Bestimmung und Begründung, einen Prozess bereits unproblematisiert oder unhinterfragt voraus4 5

Rieger-Ladich, 2002, 451 Andresen, 2005, 119

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Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

setzt. Der Fokus auf den Anspruch ist jedoch gerade Ausdruck der Absicht, Erziehung nicht als einheitlich verlaufenden, moralpädagogischen Prozess zu verstehen. Die hier angestrebte Kritik und Problematisierung einer solchen Vorstellung sollen aber auch nicht darauf abzielen, dem mit Erwartungen verbundenen Phänomen Erziehung eine Existenzberechtigung gänzlich abzusprechen. Illustrativ ist in diesem Zusammenhang Winklers Hinweis auf das »Tur-Tur-Phänomen«. Erziehung wird von Winkler in Analogie zum Riesen Tur-Tur in Michael Endes Erzählung Jim Knopf und der Lokomotivenführer dargestellt. Tur-Tur, der ein ›Scheinriese‹ ist, erscheint aus der Distanz groß, aus der Nähe jedoch klein. So zerfällt in Analogie das Phänomen Erziehung aus der Nähe betrachtet in scheinbar unbedeutende und unbestimmbare Ereignisse. Winkler meint, es gebe zu Erziehung zwei Mythen: den abschreckenden »Mythos von der Größe der Aufgabe« einerseits und den Mythos von »der geringen Größe der Erziehung« andererseits. Während ersterer Mythos der Erziehung weltverbessernde Aufgaben und Funktionen zuschreibt, spricht letzterer Mythos von der Erfahrung, Erziehung sei gar nicht zu bemerken und daher zu bewältigen. 6 Winkler folgert für pädagogisches Denken über Erziehung, dass trotz der Schwierigkeiten das Phänomen Erziehung theoretisch zu erfassen weder dem großen noch dem kleinen Mythos Vorrang gegeben werden solle. Dass Erziehung nicht fassbar sei, solle, so Winkler, nicht den Umstand verhüllen, dass Erziehung »doch vermutet werden muss«. Er meint weiter, dass die »Diffusität der Pädagogik und ihrem Erziehungsbegriff« nicht gleichzusetzen ist mit einer »Unmöglichkeit der Erkenntnis«. Dies bedingt aber gemäß Winkler, dass pädagogisches Denken »formal und inhaltlich in Bewegung« bleiben muss. 7 Winklers Ausführungen fordern also insgesamt zu Ansätzen auf, die sich weder vor der bedrohenden Größe des Problems einschüchtern noch von deren geringen Größe täuschen lassen. Zugleich muss ein Zugriff auf Erziehung den Schwierigkeiten der Unbestimmbarkeit von Erziehung Rechnung tragen. Für die ethische Perspektive dieser Arbeit bedeutet dies eine Absage an universalistische Ansprüche. Anhand der ethischen Perspektive werden dennoch normative Aussagen Winkler, 2006, 39–41. Winkler beschreibt den Mythos von der geringen Größe von Erziehung als resultierend in einer Identifikation von Erziehen als »plagende Müdigkeit«. 7 Winkler, 2006, 43–44 6

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Erziehung und Ethik – Erziehung als Anspruch

zu Erziehung gemacht, allerdings unter dem Vorbehalt, dass dabei ein Beitrag in einem fortzusetzenden Diskurs geleistet wird. Es geht, mit Meyer-Drawes Formulierung, um die Ansiedlung pädagogischer Reflexion auf einer »mittleren Reflexionsebene«, gekennzeichnet durch einen Respekt der »Tragik der Nicht-Koinzidenz von Vollzug und Thematisierung«, ohne Verzicht aber auf »rationale Erkenntnis überhaupt«. 8 Meyer-Drawe geht es um die Notwendigkeit einer theoretischen Flexibilität oder Beweglichkeit. Sie schreibt: »Die Reflexion beraubt die Wirklichkeit, indem sie sie zum Stillstand bringt. Das führt dazu, dass die Sinnüberschüsse konkreter Praxis die Theorien zu ständigen Revisionen herausfordern.« 9 Der für diese Arbeit gewählte Zugriff auf Erziehung als Anspruch und die damit einhergehende Verwendung einer ethischen Begrifflichkeit soll in diesem Sinne Respekt vor einer sich verschließenden und veränderlichen Wirklichkeit angesichts einer unzulänglichen theoretisierenden Methode ausdrücken und stellt somit eine problematisierende, aber nicht gänzlich pessimistische Perspektive dar. Damit einhergehend ist auch der Umstand, dass es sich aus dieser ethischen Perspektive um eine Thematisierung von moralpädagogischen Zielvorstellungen handelt. Diese bezeichnen die Normativität von Erziehung und nicht ›Erziehungsziele‹ als Resultate eines vermuteten Prozesses. Wichtig ist dabei, dass die Aufgabe der Problematisierung des Anspruchs von Erziehung als Angelegenheit mit ethischen Dimensionen verstanden wird. Erziehung wird dabei als relationale Situation oder als Situation intersubjektiver Art betrachtet. Der Fokus auf Erziehung als Anspruch bedeutet zugleich eine Perspektive aus dem Blickwinkel der erziehenden Person oder Institution, wobei sich das Kind oder der Jugendliche als zu erziehende Person in seiner ›Alterität‹ hervorhebt. Der Anspruch von Erziehung ist insofern ethisch zu problematisieren als diese die ›Alterität‹ oder die ›Andersheit‹ des Kindes in der Erziehungssituation mit einer Wertung verbunden ist. In der Erziehungssituation kommt aus Sicht der erziehenden Person ein Vorzug eigener Wertungen zum Ausdruck. Er besteht darin, dass das Verständnis der erziehenden Person der Situation und der definierten Asymmetrie sowie der einzuschlagenden Richtung als maßgebend beurteilt und gehandhabt wird. Verhaltensweisen des Kindes werden diesem normativen 8 9

Meyer-Drawe, 1987, 230–231 Meyer-Drawe, 1987, 250–251

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Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

Urteil gemäß bewertet und zu regulieren versucht. Es werden Vorschriften gemacht, Gebote und Verbote formuliert. Es geht also um Normativität, die in relationalen Situationen zum Ausdruck kommt. Dies soll in dem ethischen Zugriff auf Erziehung als Anspruch mit Bezug auf Erziehung als Generationenverhältnis behandelt werden. Erziehung als Generationenverhältnis bedeutet einen Bezug zu einer geschichtlichen Situierung, als Herkunft und als Bezogensein zu anderen Generationen. 10 Der hier angestrebte Fokus auf die Normativität von Erziehung ist im Generationenverhältnis als einer grundlegenden Ambition der Erhaltung sozialer Ordnung enthalten. 11 Es geht bei Erziehung als Generationenverhältnis um Erziehung als »Quasi-Vertrag« zwischen Generationen, wobei Generationen nicht als abgrenzbare soziale Gruppen zu betrachten sind, sondern als in der Öffentlichkeit diskutierte Erwartung, dass vorhergehende Generationen sich gegenüber nachfolgenden Generationen um pädagogische Chancen bemühen. 12 Auch hier wird Generation mit Normativität in Verbindung gebracht. Erziehung als Generationenverhältnis stellt sich in der Folge als Ausdruck von Erwartungen und Ansprüchen dar. Im Anschluss an Alanen und Mayall kann Generation auch als Begriff betrachtet werden, der in seiner Funktion analog zu Begriffen wie Klasse, Ethnizität oder Genus ist. 13 Generationenzugehörigkeit wird so zu einem relevanten Aspekt in Bezug auf die relationalen Verhältnisse, wie sie Erziehung schafft. Eine Problematisierung von Erziehung als Anspruch zielt somit auch auf eine ethische Besprechung von den in Erziehung geschaffenen Verhältnissen zwischen Generationen. Es geht bei der Problematisierung von Erziehung als Anspruch, insbesondere mit Bezug auf die Zielvorstellung Autonomie, auch darum, den Verlust wettzumachen, der gemäß Rieger-Ladich als Folge einer Immunität der Allgemeinen Pädagogik gegenüber »subjektkritischen Anfragen aus dem Bereich der Philosophie und der Soziologie« bezeichnet werden muss. Dies, so Rieger-Ladich, hat dazu geführt, dass sich die Allgemeine Pädagogik »der Artikulation von Idealen und Wunschvorstellungen« gewidmet hat und ihr dabei sowohl die »reale Verfasstheit der Zöglinge« wie auch die »ungleich kompliziertere Er10 11 12 13

Zirfas, 2004, 131 James & James, 2004, 3 Oelkers, 2001, 274 Alanen & Mayall, 2001

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Vorsprung beanspruchen – Asymmetrie

ziehungswirklichkeit« abhanden gekommen sind. 14 Rieger-Ladich reklamiert als wirklichkeitsfremde Wunschvorstellung insbesondere die vereinfachende »dichotome Unterscheidung« von Mündigkeit und Unmündigkeit. Er zeigt, dass das Begriffspaar aus dem juristischen Gebrauch, wo eine klare Unterscheidung der beiden Begriffe plausibel erscheint, übernommen worden ist und er bezichtigt diese für die Verhältnisse und Problemstellungen der Pädagogik zu stark vereinfachende Dichotomie der Verursachung des Realitätsverlustes in der Pädagogik. 15 Inwiefern dieser kausale Zusammenhang zutreffend ist respektive wie zentral seine Bedeutung ist, sei hier dahingestellt. Realitätsferne Vorstellungen und dementsprechende hohe Ansprüche in der Pädagogik verlangen umfassende Bearbeitungen der Problematik. 16

3.2 Vorsprung beanspruchen – Asymmetrie Asymmetrie ist als normativer Anspruch auf einen Vorsprung oder auf ein Gefälle grundlegend konstitutiv für Erziehung. Ohne die Annahme eines Gefälles – mit Annahme eines ›Niveauunterschiedes‹ und einer ›Fließrichtung‹ zugleich – kann von Erziehung nicht die Rede sein. Der Begriff Asymmetrie bezeichnet also als normativer Anspruch in dieser Arbeit einen für die gewählte ethische Perspektive relevanten Aspekt von Erziehung. Wenn von Asymmetrie in diesem Sinne, d. h. als normativem Anspruch, die Rede ist, muss dieser Begriff sorgfältig vom Begriff faktisch erfahrbarer Differenz in der Praxis, wie sie in einer pädagogischen Perspektive erfasst wird, unterschieden werden. 17 Rieger-Ladich, 2002, 19 (meine Kursivierungen) Rieger-Ladich, 2002, 439, 19 16 Dass es in der Pädagogik (ebenso wie anderenorts) beispielsweise auch um gesellschaftlich geformte Machtstrukturen geht, die Vereinfachungen systematisch nutzen und dann in eine realitätsfremde Pädagogik münden, zeigt Luhmann in seinem Erziehungssystem der Gesellschaft. (Luhmann, 2002) Auch Zirfas’ Kritik einer vereinfachenden Anthropologie als Grundlage für realitätsfremde Pädagogik wäre anzuführen als Versuch, die Ursachen zur Verbreitung umfassender Ansprüche in der Pädagogik zu klären. (Zirfas, 2004) 17 Die Unterscheidung einer ethischen von einer pädagogischen Sichtweise wird hier vorgenommen, um den Fokus auf Erziehung als Anspruch deutlich in einem normativen Diskurs zu situieren. Damit soll nicht gesagt sein, dass Pädagogik oder eine pädagogische Perspektive nicht Normativität umfassen. Hier geht es lediglich darum, mit der 14 15

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Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

Asymmetrie bezieht sich als Anspruch also auf Differenz als Erfahrung in der Praxis. Im Anspruch werden die faktisch erfahrenen Differenzen mit Bezug auf eine Zielvorstellung wertend betrachtet und erhalten so den normativen Status eines Vorsprunges oder eines Gefälles. Der Satz: »Ich kann etwas, was du nicht kannst« veranschaulicht den pädagogisch erfassbaren Umstand einer erfahrenen Differenz. Asymmetrie als Anspruch hingegen kommt zum Ausdruck in dem Satz: »Ich kann etwas, was du auch können solltest.« Seitens der erziehenden Person wird ein quantitativ oder qualitativ bestimmtes Gefälle normativ beansprucht. Die Partei, welche für sich den Vorsprung beansprucht, macht in der Erziehungssituation geltend, dass die Differenz wertend zu betrachten sei, d. h. dass es erstrebenswert sei, einen Ausgleich anzustreben. Es ist wichtig zu betonen, dass die Begriffe Differenz und Asymmetrie nicht zwei verschiedene Phänomene bezeichnen, sondern in der Folge der Wahl verschiedener Perspektiven verschiedene Aspekte ein und desselben Phänomens erfassen. Die für diese Arbeit gewählte ethische Perspektive verpflichtet sich dazu, normative Aspekte hervorzuheben und ins Zentrum der Diskussion zu stellen. Bezüglich des Verhältnisses zwischen Differenz und Asymmetrie wird dabei vorausgesetzt, dass die Erfahrung in der Praxis für die Bestimmung adäquater normativer Ansprüche relevant ist. Im Folgenden wird zuerst – im Rückgriff auf erfahrbare Differenz – die Bedeutung der Normativität des Anspruchs Asymmetrie diskutiert. Dann wird dieser Anspruch präzisiert in Bezug auf Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung.

3.2.1 Asymmetrie als normativer Anspruch Differenzen verschiedener Art sind für die Erziehungssituation kennzeichnend. Es geht um Aspekte wie Alter, sozialer Status, Wissen, oder Erfahrung. Diese Differenzen zeichnen aber viele, oder sogar die Mehrheit alltäglich erlebter Begegnungen und Situationen aus. Die Situation interagierender Menschen ist selten ganz symmetrisch. Was hinZuordnung von Asymmetrie als Aspekt von Erziehung als Anspruch zu einer ethischen Perspektive zu zeigen, dass es die normativen Aspekte der pädagogischen Praxis sind, die hier unter die Lupe genommen werden sollen.

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gegen Erziehung auszeichnet und zugleich aus ethischer Sicht interessant macht, ist eine grundlegende Asymmetrie als beanspruchtes Kompetenzgefälle. Winkler definiert Asymmetrie in der moralpädagogischen Beziehung wie folgt: »Innehalten und Distanz rücken gegenüber der Diffusität der Welt eine definierte soziale Beziehung in das Geschehen. Erziehung vollzieht also eine Gewalttat, weil sie eine Struktur gegen das bloß informelle und non-formale Geschehen einrichtet, das die Alltagswelt und ihre Praktiken auszeichnet. Sie kennzeichnen Asymmetrien, weil das Innehalten selbst Gewalt ausübt: So geht das nicht weiter! Wer dies ausspricht, definiert die Situation, wer also Erziehung will, läuft Gefahr, seine Ambition so durchzusetzen, dass sie kontraproduktiv wird. Umgekehrt zielt die Subjektivität des Zöglings eben auch darauf, Subjektivität zu gewinnen, um Kontrolle über sich und die Welt ausüben zu können.«18

Was Winkler hervorhebt ist, dass die beanspruchte Asymmetrie in der Erziehungssituation definierte soziale Beziehungen schafft. Die Bezeichnung ›definiert‹ muss hier bei Winkler in ihrem engeren Sinne, als abgrenzend gedeutet werden, denn Erziehung grenzt durch Struktur Formelles von Informellem und Non-formalem ab. Er bezeichnet dies als Gewaltausübung gegenüber der sich selbst befürwortenden Subjektivität des Kindes. In Winklers Darstellung wird so der Anspruch der Asymmetrie konkretisiert. Er muss sichtbar und für das Kind spürbar werden in Strukturen, die der Subjektivität gewaltsam gegenüber stehen. Dahinter verbirgt sich der Anspruch ›besserer‹ Einsicht oder Erfahrung, der Anspruch eines Gefälles, welches nicht nur den Unterschied, sondern auch die Bewegungsrichtung der Vermittlung bezeichnen will. Die Aussage »So geht das nicht weiter!« entspricht der Aussage »Ich weiß besser als du, dass das so nicht weitergehen darf und ich verlange von dir, zu akzeptieren, dass ich das besser weiß!« Darin enthalten ist Asymmetrie als moralpädagogischer Anspruch. Mehrere Einwände müssen jedoch gegenüber Winklers Sichtweise gemacht werden. Ob Struktur an sich und so generell, wie es Winklers Formulierung nahe legt, immer oder unbedingt mit einer Gewalttat gleichzusetzen ist, lässt sich bezweifeln. Strukturlosigkeit kann auch Gewalttat sein. Winkler hält fest, dass diese sich in formalen 18

Winkler, 2006, 172

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Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

Strukturen materialisierende, beanspruchte Asymmetrie beim Kind auf ein Gegenüber von Subjektivität stößt. Ihre Gewaltsamkeit ist damit zumindest eingeschränkt. Weiter ist der von Winkler aufgezeichnete Kontrast zwischen einem von Diffusität gekennzeichneten Alltag und einer strukturell geordneter Erziehungssituation überzeichnet. Während die Struktur der Erziehungssituation leicht an Klarheit verliert, sobald sich Kinder den Ansprüchen erziehender Personen widersetzen oder entziehen, prägen auch im Alltag strukturell organisierte Begegnungen und Beziehungen tägliche Erfahrungen. Beim Einkaufen, bei der Arbeit, oder beim Zahnarzt finden Begegnungen statt, die zumindest teilweise von formalisierten Strukturen, die Asymmetrien umfassen, geprägt sind. Die Besonderheit der Erziehungssituation ist in der Diskussion um ihre Normativität also nur bedingt verfügbar. Der Hinweis auf die der Asymmetrie gegenläufige Subjektivität des Kindes führt Winkler zum Kontrollbegriff. Es geht – trotz der vielleicht oft einseitigen und sicher auch ungerechtfertigten ›Gewaltausübung Erziehung‹ – um ein gegenseitiges Ringen um Kontrolle. Und wiederum muss gefragt werden, inwiefern dieses gegenseitige Ringen für die Erziehungssituation spezifisch kennzeichnend ist. Spezifisch kennzeichnend für die Erziehungssituation ist nicht das Ringen um Kontrolle an sich, sondern der damit verbundene Anspruch eines Gefälles. Dieses Gefälle wiederum wird als Aussage zur erziehenden Person (oder Institution) im Verhältnis zur zu erziehenden Person beansprucht. Oelkers spricht von einer Art moralisch motivierten Selbstbezogenheit. »Moral braucht Moralisten, (…) und die haben immer ein Glaubwürdigkeitsproblem eigener Art. Sie müssen so tun, als ob sie ihre Ansprüche, die sie an andere richten, mit sich selbst am besten erfüllen können. Sie sind daher immer Vorbild, also in einer riskanten Position. Moralische Höhe verlangt Perfektion (…). Die Geschichte der pädagogischen Vorbilder ist gekennzeichnet durch das Verhältnis von Bedeutungshöhe und Absicherung, was nur mit Inszenierungen möglich ist, die jedem Verdacht vorgreifen können.« 19

Im moralpädagogischen Anspruch der Asymmetrie liegt also eine Erfüllungsbehauptung, die auf die Qualität der erziehenden Person bezogen ist. Dies ist nicht nur in der Vorstellung der erziehenden Person als Vorbild problematisch, sondern auch bei weniger anspruchsvollen Erziehungsrelationen. Was Asymmetrie in moralpädagogischen Situatio19

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Vorsprung beanspruchen – Asymmetrie

nen auszeichnet, ist ein normativer Anspruch, der damit verbunden ist, dass jemand sich das Vorrecht nimmt, Wertungen zu machen und diese als für jemand Anderen gültig zu behaupten. Der für die Erziehungssituation konstitutive Anspruch der Asymmetrie suggeriert gemäß Oelkers in moralischer Hinsicht auf zweifache Weise Eindeutigkeit. Die erziehende Person muss in Bezug auf die moralischen Ansprüche der Erziehungssituation eindeutig sein, während das Kind als ›Adressat‹ der Erziehungsbemühungen seinerseits auf ebenso eindeutige Weise als moralisch bedürftig konstruiert wird. Oelkers bezeichnet die im Feld der Pädagogik verbreiteten Eindeutigkeiten dieser Art als »starke Überzeugungen, die nicht zufällig an religiöse Programme erinnern«. Wenn Moral jedoch, so Oelkers, als komplex anerkannt wird und moralische Regeln als oft hypothetisch verstanden werden, ist Eindeutigkeit weder auf Seite der Erwachsenen (und deren Doppelmoral) noch auf Seite der Kinder kennzeichnend. Bei Erziehung kann es darum nicht schlicht um »verinnerlichen« gehen. Vielmehr ist Erziehung mit dem Erlernen des »Umgangs« mit Moral beschäftigt. 20 Somit ist Erziehung, wenn sie darauf verzichtet, sich auf solche ›Eindeutigkeit‹ zu berufen, mit einem starken Anspruch an Asymmetrie schlecht vereinbar. Asymmetrie als beanspruchbare Differenz wird durch einen weiteren Umstand abgeschwächt. Es geht um ein Abhängigkeitsverhältnis in einem weiteren, gesellschaftlichen Kontext, in welchem Erziehung als gesellschaftliche Funktion situiert ist. Die Erziehungssituation und die moralpädagogische Relation müssen gemäß Winkler in Bezug auf das, was in der Welt und der Gesellschaft vorgefunden wird, verstanden werden. Erziehung ist auch als Kooperation damit bestimmt. In diesem weiteren Bezug, der sich durch gesellschaftliche Erwartungen in »Kooperation und Koproduktion« manifestieren muss, sind die erziehende 20 Oelkers, 2005, 89, 99–102. Für eine komplexere Sichtweise des Erlernens von Moral sprechen auch Johanssons Befunde zu erlerntem empathischen Verhalten bei Vorschulkindern. Johansson argumentiert anhand ihrer empirischen Studien zu empathischem Verhalten von Kindern in Kinderkrippen-Settings für ein Verständnis, welches die empathischen Verhaltensweisen der Kinder als Ausdruck ihrer Integration in intersubjektiv konstituierten Lebenswelten deutet. Es geht demgemäß darum, dass die Kinder, deren kognitive und emotionale Fähigkeiten mit Empathie im Sinne von Empathie bei Erwachsenen nicht unbedingt vergleichbar sind, Verhalten (als normativ und wertend) anderer Kinder und Erwachsenen erfahren und daran beteiligt werden. (Johansson, 2008)

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Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

Person und die zu erziehende Person einander »als gleichrangige Akteure« gegenübergestellt. Weil sie für den pädagogischen Prozess darauf verwiesen sind, zusammen zu wirken, entsteht eine Indifferenz zwischen den Beiden, denn »sie müssen eben miteinander wirken«. 21 Wenn »der Zögling gegenüber den Ansprüchen des Erziehers durch den Verweis auf die eigene Aneignungstätigkeit seine eigene Integrität sichert«, dann ist dies im weiteren Bezug auf gesellschaftliche Erwartungen, denen sich erziehende und zu erziehende Personen gegenüber sehen, zu verstehen. 22 Ein Anspruch auf Asymmetrie wurde oben als für Erziehung konstitutiv dargestellt. Anhand Winklers Sichtweise zur Funktion gesellschaftlicher Erwartungen wurde aber auf Umstände, welche Asymmetrie abschwächen, hingewiesen. Insofern als der moralpädagogische Zusammenhang sich in einer Gesellschaft, in welcher Erziehung auch ökonomisch, gesellschaftlich und politisch abgesichert sein muss (und das gilt auch für die von gesellschaftlichen Ansichten und familienpolitischen Entscheiden abhängige Familie als Ort ›informeller‹ Erziehung) ist die Asymmetrie innerhalb der moralpädagogischen Situation im Verhältnis zu ihr überordneten Strukturen und Machtgefügen relativiert. Gegenläufig zu diesen, die Asymmetrie abschwächenden Aspekten lässt sich aber eine andere Tendenz identifizieren, die sich auf den Anspruch Asymmetrie wiederum eher verstärkend auswirkt. Während eine ›nüchterne‹ Sichtweise von der Moral Erwachsener und die gleichzeitige Anerkennung gewisser Kompetenzen bei Kindern eine abgeschwächte Asymmetrie nahe legen, ist die pädagogische Entwicklung jüngerer Zeit Ursache für verschärfte Asymmetrien in Erziehungssituationen. Arendt hat in ihrer Kritik an der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts diesen gegenläufigen Effekt der Intention, Kinder als kompetent zu respektieren und zu behandeln, aufgezeigt. Arendt bezichtigt die Grundideen der Reformpädagogik der Verursachung verschärfter Ungleichheiten (Differenzen) und verstärkter Asymmetrien. 23 Die Annahme einer eigenen »autonomen Welt von Kindheit« mit Eigenwert und bestehend aus »autonomen Kindern«, würde, so Winkler, 2004, 139–141 Winkler, 2004, 141 23 Die Schlussfolgerungen ihrer Kritik an der Reformpädagogik sind sehr weitgehend. Es gilt zu beachten, dass sich Arendt in dem hier referierten Artikel auf deren Ausdrucksformen im Schulsystem in den USA bezieht. Die Vehemenz ihrer Kritik ist fraglich, spielt aber für mein Argument hier nur eine untergeordnete Rolle. 21 22

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Vorsprung beanspruchen – Asymmetrie

Arendt, nicht nur dazu führen, dass Erwachsene in eine Art untergeordnete Helferrolle abgedrängt würden, sondern auch dazu, dass das individuelle Kind aufgrund seiner Einordnung in das Kollektiv der Kinder seine persönliche Autonomie als Möglichkeit zur Einflussnahme einbüßt. Denn nun stehen sich zwei ungleiche Kollektive gegenüber, eines mit Minorität und eines mit erdrückender Majorität. Arendt schreibt: »Therefore by being emancipated from the authority of adults the child has not been freed but has been subjected to a much more terrifying and truly tyrannical authority, the tyranny of the majority.« 24 James und James machen ihrerseits den Hinweis, dass eine neuere Sichtweise von Kindheit und die damit einhergehende Institutionalisierung der Kindheit sich als zunehmend radikalere Trennung von Erwachsenenwelt und Kinderwelt auswirken. Kindheit werde zunehmend »geschützt«, d. h. als eigene zeitliche und räumliche Einheit abgetrennt. Dies führe dazu, dass Kindheit nicht nur von übrigen gesellschaftlichen Prozessen marginalisiert werde, sondern auch, dass Kinder zunehmend überwacht und kontrolliert würden. Trotz der seit den 1970er Jahren gewinnenden Auffassung, dass Kinder vermehrt ins Zentrum pädagogischer Anstrengungen gestellt werden müssten, hätte dies also auch den umgekehrten Effekt einer Schwächung der Position von Kindern in der Gesellschaft zur Folge gehabt. 25 Erhöhte pädagogische Einsätze haben also den Anspruch an Asymmetrie eher verstärkt, weil sie Kindern durch die Zuschreibung eines ›reinen‹ Kindheitsstatus den Zugang zur Erwachsenenwelt verwehrt haben. Daraus entstehen Situationen, in denen deutliche Abhängigkeiten starke Ansprüche zu legitimieren scheinen. 26 Prout bezieht eine verstärkte Kontrolle von Kindern durch Erwachsene als (»tightening control over children«) auf durch Globalisierung bedingte, ökonomische Bedingungen. Er meint, dass Nationalstaaten durch eine intensivierte globale Konkurrenzsituation in der Kontrolle ihrer eigenen ökonomischen Aktivität zunehmend eingeschränkt seien. Die Formung zukünftiger Arbeitskraft sei somit eine letzte verbleibende Domäne, in denen Staaten die 24 Arendt, 1993, 180–181, 183. Der weitere Zusammenhang, in welchem Arendts These situiert ist, ist zu finden in ihrer Analyse der Bedeutung der Moderne für ein verändertes Kindheitskonzept und für Erziehung. Dies wird nochmals detaillierter aufgegriffen im folgenden Abschnitt 3.3. 25 James & James, 2004, 35–37 26 Dies schafft insbesondere für den Anspruch der Asymmetrie gegenüber älteren Kindern und Jugendlichen problematische Verhältnisse.

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Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

Bedingungen ihrer ökonomischen Entwicklung als kontrollierbar erlebten. Somit sei in Schul- und Ausbildungssystemen eine verschärfte Kontrolle zu beobachten, die sich in standardisierenden und regulierenden Ansätzen ausdrückt.27 Diese Hintergrundbeschreibung zu moralpädagogischen Ansprüchen kann als weiterer möglicher Hinweis auf eine Art ›erneut verstärkter‹ Asymmetrie betrachtet werden. Ein normatives Verständnis von Asymmetrie als Anspruch prägt Erziehung auf eine konstitutive Art. Ohne den Anspruch einer gewissen Asymmetrie kann Dialog, Austausch, Lernen oder Entwicklung stattfinden – nicht aber Erziehung. Als Anspruch muss Asymmetrie vorhanden sein, wenn von Erziehung die Rede sein soll. So jedenfalls soll die Bestimmung von Erziehung für den Zusammenhang dieser Arbeit abgesteckt werden. Die Normativität von Erziehung ist so an die Ansprüche erziehender Personen und deren intendierte und gerichtete Handlung gebunden. Durch verschiedene Umstände, wie etwa die Sichtweise zu moralischer Kompetenz beim Kind und beim Erwachsenen sowie gesellschaftlicher Erwartungen, wird Asymmetrie als Anspruch beeinflusst oder modifiziert. In einem nächsten Schritt geht es nun um die Bestimmung eines adäquaten Anspruchs an Asymmetrie.

3.2.2 Reversible Differenz und dialektische Asymmetrie im Hinblick auf Erziehung zu Autonomie Die oben angeschnittenen Aspekte mit modifizierender Bedeutung für den Anspruch von Asymmetrie in Erziehung sollen nun mit Bezug auf die Zielvorstellung Autonomie weiter vertieft werden. Autonomie soll hier nach wie vor im Sinne der im ersten Kapitel dieser Arbeit bewusst rudimentär und vorläufig gelassenen Definition als eine Fähigkeit zu und ein Ausüben von Selbstbestimmung in Bezug auf moralische Urteile und Stellungnahmen angenommen werden. 28 Im Folgenden soll die erfahrbare Differenz zwischen erziehenden und zu erziehenden Personen im Hinblick auf eine Zielvorstellung Autonomie als reversibel charakterisiert werden. Im Anschluss an diese Charakterisierung soll für eine Konzeptualisierung dialektischer Asymmetrie als adäquaProut, 2005, 32–33 In den Kapiteln 4–6 werden die hier erarbeiteten moralpädagogischen Bedingungen auf verschiedene Autonomiekonzepte bezogen.

27 28

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tem Anspruch argumentiert werden. Der Vorschlag dialektischer Asymmetrie als adäquater Anspruch in Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie stützt sich auf Argumente dreier Diskussionsbereiche: eine Problematisierung von Autonomie als Parameter von Entwicklung oder moralischer Reife; eine damit zusammenhängende Diskussion von Kindheit und Kindheitskonzepten als formierend für die moralpädagogische Relation; sowie eine Diskussion der Bedeutung verpflichtender gesellschaftlicher Erwartungen an Erziehung. In Entwürfen der moralpädagogischen Relation in der Erziehungssituation stehen sich zwei Extrempositionen gegenüber. Beide vereint jedoch die Vorstellung, dass Autonomie ein Parameter von Moralentwicklung ist. Auf der einen Seite stehen Auffassungen, die das Kind als abhängig definieren und es einem unabhängigen, autonomen Erwachsenen gegenüberstellen. Erziehung, so die Behauptung, führe zu gradweise mehr Autonomie. Prägend für Kindheit sei jedoch eine grundlegende Abhängigkeit. 29 Auf der anderen Seite stehen Auffassungen, die das Kind als ›autonom‹ in einem beinahe archaischen Sinne zeichnen. Erziehung ist Sozialisation. Das Kind muss sukzessive in Moral als gemeinschaftlich geteilte Normen und Regeln eingeführt werden, es muss ›gesellschaftsfähig‹ gemacht werden. Autonomie als Ausdruck eines eigenen Willens wird dem Kind von frühem Alter zugestanden, sie muss dann durch Erziehung gebändigt werden. Als Gegensatz zum sozialisierten, gesellschaftsfähigen Individuum, ist das archaisch autonome (Klein-)Kind mit seiner unwissenden, unzivilisierten Autonomie durch Einverleibung in kollektiv geteilte Moral zu erziehen. 30 Meine Argumentation in Kapitel 2 hat gezeigt, dass sich in der 29 Signifikant ist Johlers Frage zu Beginn seiner Arbeit Erziehung zur Autonomie: »Wie wird aus dem von der Umwelt völlig abhängigen Säugling ein sich selbst bestimmendes Individuum (…)?« (Johler, 1977, 3) Ein jüngeres Beispiel ist enthalten in der folgenden Formulierung: »(…) The radical dependence of the human infant, and the universal human need for relations of intimacy and trust without which normal maturation is impossible, means that each of us will come to questions of our values and identities with a unique and inescapable emotional history.« (Burtt, 2003, 192) 30 Abgesehen von stark autoritärer Erziehung, die auf Gehorsam zielt, kommt eine solche Sichtweise in jüngerer Zeit zum Ausdruck in Entwürfen, wie sie etwa in der Antologie von Carr und Steutel enthalten sind. Darin sind verschiedene tugendethisch gefärbte Ansätze als Ausdruck einer neo-aristotelischen Moralpädagogik repräsentiert. Erziehung als Aneignung von phronesis durch Gewöhnung, wie sie Aristoteles entworfen hat, wird durch verschiedene Ansätze einer liberalen Moralpädagogik entgegen-

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Erziehungssituation nicht einfach abhängige oder heteronome Kinder und autonome Erwachsenen gegenüber stehen. Erziehung als einen eindeutigen Prozess (im wortwörtlichen Sinne des Wortes als Fortschreiten), in welchem Autonomie als zunehmende oder abnehmende Quantität messbar wäre, zu beschreiben, ist nicht plausibel. Seitens Erwachsener ist heute allgemein eine zunehmende Unsicherheit bezüglich ihrer Identität als erziehende Personen zu verzeichnen. Ein Hinweis darauf ist die Tendenz jüngerer Zeit, Erziehung unter dem Stichwort ›Grenzen setzen‹ zu debattieren. 31 Die Thematisierung der Rolle erziehender Personen als gekennzeichnet durch die Aufgabe, ›Grenzen zu setzen‹, enthält eine ambivalente Auffassung des autonomen Erwachsenen. Einerseits ist das kantische autonome Subjekt angesprochen, welches normative Grenzen souverän definiert. Andererseits bereitet die Herausforderung, die vom grenzüberschreitenden oder gar grenzenlosen Kind ausgeht, Sorgen in einer Kultur, die sich anhand eines Autonomieideales soweit von Grenzen befreit hat, dass Grenzen überhaupt erst gesetzt werden müssen. Dies verunsichert. Als Faktoren, die diese Unsicherheit bewirken, werden von Smeyers und Wringe unter anderem die zunehmende Pluralität der heutigen Gesellschaften, weniger Zeit, die von den Eltern mit den Kindern verbracht wird, eine abwertende Einstellung gegenüber »caring practices« sowie eine zunehmende Übergabe von Erziehungsfragen an so genannte Experten genannt. Interessant ist dabei auch das in dieser Situation entstehende Spannungsverhältnis zwischen dem Umstand, dass Eltern heute Kinderkriegen meist planen und ihre Elternschaft damit gewählt ist einerseits und dem Umstand, dass in dieser aktiven Wahl die emotionale Abhängigkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern verstärkt wird, andererseits. Die eigene Autonomie der Eltern steht der vorgestellten Autonomie der Kinder gegenüber. 32 James und James knüpfen ihrerseits an eine Kontrollproblematik an. »No matter how much adults seek to control childhood and children, each child has the capacity from the moment of its birth to exercise a degree of agency.« 33 Die Erfahrung von Erziehung legt eine gestellt. Inwiefern phronesis Elemente liberaler Vorstellungen von Autonomie umfassen kann, ist eine der diskutierten Fragen. (Carr & Steutel, 1999) 31 Winkler, 2006, 102 32 Smeyers & Wringe, 2003, 314–315, 322 33 James & James, 2004, 6

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Sichtweise nahe, in der die Autonomie des Kindes keinen eindeutigen Parameter darstellt. Vielmehr scheint es in der Erziehungssituation um ein Ringen um Kontrolle oder um eine Interaktion, in welcher auf beiden Seiten sowohl mit Autonomie wie mit Dependenzen gerechnet werden muss, zu gehen. Warum müsste sonst überhaupt »die Bestimmtheit des kindlichen Willens, die den Erziehern Angst macht, weil der Wille imstande ist, sich der Erziehung zu entziehen« 34 ein Thema sein? Es ist nicht die Macht der Eltern, sondern die Erfahrung von Ohnmacht und von Verunsicherung, die Eltern Vorträge besuchen und Kurse absolvieren lasen, wie sie heutzutage etwa durch die Gemeindebehörden vieler schwedischer Orte kostenlos angeboten werden. 35 Der moderne Entwurf des erwachsenen, rational reflektierenden und autonom handelnden Individuums muss als in postmoderner Kritik zu stark beeinträchtigt betrachtet werden, als dass sich Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie darauf berufen könnte. Die Erziehungssituation – in dem oben beschriebenen, eindeutigen Sinne – als Begegnung zwischen einer autonomen, erziehenden Person und einer abhängigen, zu erziehenden Person darzustellen, ist nicht (mehr) plausibel. Meyer-Drawe malt aus einer phänomenologischen Sichtweise ein Bild der Erziehungssituation, in welcher der Erwachsene sich als entfremdet von der Rationalität des Kindes findet. Wird der vom Erwachsenen beanspruchte Vorsprung auf diese Weise als Entfremdung gedeutet, verliert die Differenz ebenfalls an Eindeutigkeit und der Anspruch an Asymmetrie wird beeinträchtigt. »Rationalität der Erfahrung, das besagt (…), dass wir in pädagogischen Prozessen nicht extern eine bestimmte Wissensmöglichkeit an aus dieser Sicht UnwisOelkers, 2001, 254 Dieses für die Eltern kostenlose und breit angelegte Angebot existiert (unter anderem) infolge einer umfangreichen staatlichen Studie, bestellt durch die schwedische Regierung und durchgeführt durch das nationale Volksgesundheitsamt (Statens Folkhälsoinsitut), zur Bedeutung von staatlich geförderter und finanzierter ›Unterstützung‹ (föräldrastöd) von Eltern. (Siehe http://www.fhi.se.) Smeyers und Wringe schreiben die in jüngerer Zeit steigende Unsicherheit von Eltern in ihrer erziehenden Rolle hauptsächlich zwei Faktoren zu. Erstens wird die Pluralität, wie sie heutige Gesellschaften weitgehend kennzeichnet, als verunsichernd gedeutet. Zweitens seien die Erwartungen an die Familie als Garant für die Selbstverwirklichung der einzelnen Familienmitglieder gestiegen. Ein erlebtes Zukurzkommen in der Möglichkeit einer solchen optimalen Förderung individueller Potenziale trage zur Verunsicherung der Eltern bei. (Smeyers & Wringe, 2003, 314) 34 35

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sende herantragen, sondern dass wir uns als Lehrende auseinanderzusetzen haben mit einer uns z. T. fremd gewordenen Gestalt von Rationalität, die wir durch unsere historisch bedingten Denkgewohnheiten vergessen haben.« 36

In dieser Beschreibung wird Vorsprung umgekehrt und wird zu Vergessen. Es geht Meyer-Drawe im Zusammenhang darum, ein Verständnis kindlicher Rationalität als defizitär, wie es sich im Fahrwasser einer Piagetanischen Auffassung von Entwicklung darstellt, zu kritisieren. Meyer-Drawe kehrt dabei die damit assoziierten Wertungen um und hinterfragt eine Sichtweise, die die Fähigkeiten Erwachsener auf absolute Weise zum normierenden Standard machen und damit die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen fälschlich in Eindeutigkeit darstellen. Inwiefern die Bezeichnung ›vergessen‹ adäquat ist für die Beschreibung erwachsener Rationalität im Verhältnis zu jener von Kindern, sei dahingestellt. Meyer-Drawes Kritik kann aber zumindest als Anlass dazu genommen werden, Erziehung unter den Bedingungen einer gewissen Uneindeutigkeit bezüglich der Differenz zwischen Erwachsenem und Kind zu betrachten. Wenn Kinder und Erwachsene sich in der Erziehungssituation aus je eigenen Verständnishorizonten als ›Fremde‹ begegnen, wäre ethisch zu folgern, dass der Anspruch an Asymmetrie dies berücksichtigen müsste. Ein adäquater Anspruch an Asymmetrie könnte, sich auf ein Element von Entfremdung beziehend, als dialektisch gefasst werden. Als solcher beharrt er zwar auf einer Asymmetrie als Vorsprung, betrachtet diesen jedoch als einer potentiellen Mehrdeutigkeit der Differenz unterworfen. Rieger-Ladich schlägt für die pädagogische Situation (und allgemein) eine Neubestimmung der vermeintlich gegensätzlichen Begriffe Mündigkeit und Unmündigkeit vor. Statt als Attribute von sich in der Erziehungssituation gegenüberstehenden Erwachsenen und Kindern, sollen Mündigkeit und Unmündigkeit als »auf vielfältige Weisen ineinander verflochten und verwoben« verstanden werden. Eine solche Verflechtung vermeintlich gegensätzlicher Attribute ließe auch die in der Erziehungssituation vermutete und beanspruchte Differenz in einem komplexeren Verhältnis erscheinen. »Weil das widerstandsfähige Subjekt sein Leben jedoch in einem Raum jenseits der Pole von Mündigkeit und Unmündigkeit lebt, bleibt ihm der Purismus der Extreme weitgehend fremd: Noch in den entmündigendsten Strukturen – sei es

36

Meyer-Drawe, 1987, 242

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in der frühen Kindheit oder in gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen – entdeckt es Spielräume des Verhaltens, in denen es sich dem totalen Zugriff wenigstens partiell entziehen kann. Umgekehrt verhält es sich allerdings auch in jenen Situationen, in denen es doch scheinbar völlig selbstbestimmt und selbstverantwortlich handelt, nie völlig unabhängig von habituellen Prägungen, Spuren der Subjektivierung und machtförmigen Feldeffekten.« 37

Inwiefern von Autonomie bei Erwachsenen im Unterschied zu Kindern die Rede sein kann, ist abhängig von dem Autonomiekonzept, welches dabei beansprucht wird. Es wird in der folgenden Diskussion von Autonomiekonzepten in dieser Arbeit für eine Sichtweise propagiert, welche Autonomie innerhalb von Dependenz ansiedelt. Im Vergleich werden Kinder, wenn Autonomie als innerhalb von Dependenz aufgefasst wird, nicht als mehr oder weniger autonom als Erwachsene betrachtet, sondern als anders autonom. Wenn in einer Erziehungssituation bezüglich einer Zielvorstellung Autonomie Asymmetrie beansprucht werden soll, dann müssen ethisch begründete Kennzeichen von moralpädagogisch anzustrebender Autonomie für diesen Anspruch bestimmend sein. Damit sind Kinder und Erwachsene nicht unbedingt auf eine deutliche Weise voneinander unterscheidbar im Sinne einer quantitativen oder qualitativen Unterscheidung. Insofern als Autonomie als gradierbar verstanden werden soll, müsste auch gesagt werden können, anhand welcher Kriterien zu bestimmen ist, ob jemand mehr oder weniger autonom ist respektive wie jemand ›autonomer‹ werden kann. Solche Kriterien sind gemäß einem kohärenzorientierten Begründungsmuster zur Bestimmung und Begründung der Zielvorstellung Autonomie von der moralpädagogischen Situation abhängig. Dies drängt zu einer Betrachtungsweise, die die Erziehungssituation als intersubjektiv bestimmend für erziehende wie zu erziehende Personen beleuchtet. Halldén hebt die Bedeutung von aktuellen Beziehungen, sowie die damit verbundenen Idealvorstellungen hervor: »Wir können die Bedingungen von Kindern nicht verstehen, ohne die Beziehungen zu verstehen, die Kindern angeboten werden sowie die Vorstellungen und Ideen des guten Lebens, welche von jenen Personen vertreten werden, zu welchen die Kinder in Beziehungen stehen.« 38

Halldén spricht von einem Angebot an Beziehungen, welches Kindern 37 Rieger-Ladich, 2002, 441 (Rieger-Ladich bezieht sich hier auf die Theorien von Foucault und Bourdieu.) 38 Halldén, 2007, 184 (meine Übersetzung)

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von Erwachsenen gemacht wird. Beziehungen werden aber nicht nur einseitig angeboten und ›entgegengenommen‹, sondern, wie Alanens Begriff »generationing« veranschaulicht, in Intersubjektivität gestaltet. Wenn die Erziehungssituation respektive ihre intersubjektive Bedingungen in Zusammenhang mit einer moralpädagogischen Zielvorstellungen Autonomie gebracht werden, ergibt sich somit ein komplexes Bild, welches einen Anspruch an Asymmetrie reflektieren sollte. Meyer-Drawe betrachtet Beziehungen, in welchen Kinder sich befinden, als wichtig für die Entwicklung von Autonomie. Sie argumentiert gegen Piaget, d. h. gegen eine Sichtweise, die Kinder als anfänglich egozentrisch und dann nach und nach sozialisierter betrachtet. MeyerDrawes Argumentation legt eine Sichtweise nahe, die die Entwicklung des ›Ichs‹ (und damit von Voraussetzungen für Autonomie als Kompetenz) innerhalb von sozialer Kontextualität oder Dependenz betrachtet. »Es gibt zwar präpersonales Sein, aber kein präsoziales. Die kindliche Entwicklung der Sozialität geht aus von einer ›anonymen Kollektivität‹, aus der sich das Ich allererst durch Modifikation und Umstrukturierung des Erfahrungshorizontes herausbildet.« 39

Meyer-Drawes Sichtweise kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass es Sinn macht, moralpsychologisch oder moralpädagogisch davon abzusehen, Autonomie als alleinig entscheidenden und freistehenden Parameter von Erziehung zu betrachten. Es geht nicht um soziale Kontextualität als Gegenüber von Selbstbestimmung und mit Erziehung wird nicht die Entwicklung ›vom einen heraus‹ (von Egozentrizität heraus oder von totaler Abhängigkeit heraus) ›ins andere hinein‹ (in Sozialisierung hinein oder in Sebstbestimmung hinein) herbeigebracht. Neben Argumenten wie diesen drängt auch die gewählte ethische Perspektive zu einem Fokus auf die Bedeutung intersubjektiver und relationaler Aspekte für Erziehung respektive für deren Normativität. Winkler beschreibt die Relationalität der Erziehung als geprägt von starken, emotionalen Abhängigkeiten. Er spricht von einer »inneren Geschlossenheit der Praxis der Erziehung«, verbunden mit »affektiver Gebundenheit der Beteiligten«. Dies, so Winkler, führe zu einer verpflichtenden Emotionalität. 40 In der Erziehungssituation entstehen so Meyer-Drawe, 1987, 30. Meyer-Drawes Sichtweise baut auf die Phänomenologie Merleau-Pontys. Es wird darauf zurückgekommen im Abschnitt zu Richtung. 40 Winkler, 2006, 121 39

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gegenseitige Abhängigkeiten, die der faktisch erfahrbaren Differenz und der beanspruchbaren Asymmetrie entgegenwirken. Das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen scheint von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt zu sein. Damit kann Erziehung auch nicht die Förderung einer Entwicklung von Abhängigkeit zu Autonomie sein. Befunde aus ›neuerer‹ Kindheitsforschung 41 aktualisieren ein Verständnis von Kindern respektive ein Verständnis vom Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen, welche die erfahrene Differenz bezüglich Autonomie als umkehrbar oder reversibel erscheinen lassen. Eine reversible Differenz legt bezüglich der Normativität von Erziehung als adäquaten Anspruch im Zusammenhang mit der Zielvorstellung Autonomie dialektische Asymmetrie nahe. Während dem ›kompetenten Kind‹ Eigenschaften wie Aktivität, Initiative und Kreativität zugeschrieben werden, erscheinen Stabilität und Rationalität von Erwachsenen in der Erziehungssituation als durch Unsicherheiten und Frustrationen beeinträchtigt. 42 Der Begriff »generationig«, den Alanen verwendet, um Erziehungssituationen als Beziehungsgefüge mit gegenseitigen Abhängigkeiten zu beschreiben, stellt die Erziehungssituation als von zwei Seiten beeinflussbar dar. Veränderungen in der Handlungsweise seitens der Eltern oder des Kindes beeinflussen die Handlungsmöglichkeiten der jeweils anderen Person. Dabei werden die Begriffe Kind und Erwachsener zu relationalen Begriffen, die nur in ihrer Beziehung zum generationsbezogenen Gegenüber verstanden werden können. Alanen betont aber zugleich, dass diese gegenseitigen Abhängigkeiten keine vollständige Aufhebung der Asymmetrie bedingen. 43 Die Vorstellung von Erziehungssituationen als einseitig kontrollierbar von den erziehenden Personen oder Institutionen, unabhängig vom Verhalten der zu erziehenden Personen, ist demgemäß nicht angemessen. Zugleich ist ein Anspruch an Asymmetrie konstitutiv für die Erziehungssituation. Es erwächst ein Bild von Erziehung, welches diese anhand gegenläufiger oder reversibler Differenzen darstellt. Ein adäquater Anspruch an Asymmetrie bezüglich einer Zielvorstellung Autonomie, welcher sich an reversiblen Differenzen orientiert, wäre demgemäß in dialektischer Asymmetrie zu finden. Verschiedene Kindheitsbilder konstruieren Kinder entweder als 41 42 43

Siehe Abschnitt 2.3.3 in Kapitel 2. Halldén, 2007, 27, 34; Prout, 2005 Alanen, 2001a, 21, 19

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»becoming«, als werdende, sich entwickelnde Erwachsene oder als »being«, indem sie die Eigenart des Kindes betonen. Wie Halldén betont, können beide diese Konzeptualisierungen, abgesehen von den kritisierten, dahinter liegenden Wertvorstellungen, einen abschwächenden Effekt auf die Asymmetrie zwischen Kindern und Erwachsenen haben. Wenn Kinder in Entwicklung betrachtet werden, geschieht dies oft in einem Zusammenhang, in welchem lebenslanges Lernen zum Ideal wird und in welchem sich Erwachsenenleben als »ständige Forderung nach Flexibilität« manifestieren muss. 44 Das bedingt nicht nur eine »Annäherung von Erwachsenen an Kinder« 45 sondern eine weitgehende Umkehrung der Differenz. Damit verbunden ist dann auch eine radikale Abschwächung beanspruchbarer Asymmetrie, denn Kinder werden als sich entwickelnde Personen zum normierenden Vorbild für Erwachsene. Schließlich sind alle der Bedingung der fortlaufenden Entwicklung unterworfen. Wenn Kinder jedoch in ihrer Eigenart betrachtet werden, was hier nicht gleichbedeutend ist mit einer Sichtweise von Kindern als sich entwickelnd, rückt ihre Kompetenz und Eigenständigkeit ins Zentrum. Sie sind somit, wie Halldén hervorhebt, aus der Sicht der Erwachsenen ernst zu nehmen. In keinem der beiden Kindheitskonzepte (als becoming oder als being) müssen Kinder gegenüber Erwachsenen in erster Linie als defizitär und abhängig vorgestellt werden. Dies markiert einen deutlichen Unterschied zu Kindheitsvorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts, welche die Diskrepanzen zwischen Kindern und Erwachsenen akzentuierten. 46 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Verwerfung eindeutiger Abgrenzungen zwischen Kindsein und Erwachsenenwelt in moralischer oder moralpädagogischer Hinsicht mit einer Kritik an der Vorstellung, Kindheit sei mit Erziehungszeit gleichzusetzen, einhergeht. 47 Wenn Erziehung nicht auf ganzheitliche Weise über Kindheit ›verfügen‹ kann und wenn der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen unscharf aufgefasst wird, dann ist eine legitime Beanspruchung eindeutiger Asymmetrie auch dadurch beeinträchtigt. Sandin zeigt, wie sich (in Schweden) im Laufe des 20. Jahrhunderts die Vorstellung von Kindheit als zu Erwachsenensein kontrastiv 44 45 46 47

Halldén, 2007, 175 Bremberg, Johansson, Kampmann, 2004, 19 Halldén, 2007, 185 Oelkers, 2001, 268

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gradweise zur neuzeitlichen Vorstellung von Kindheit entwickelte. Letztere ist geprägt von einem Ideal der Gleichstellung von Kindern und Erwachsenen. Von einer Romantisierung der Kindheit als ein Zustand planlosen, freien Daseins und mit Betonung jener Eigenschaften von Kindern, die als verschieden von jenen Erwachsener zu betrachten sind, werden Kinder zunehmend als ›kompetente Kinder‹ konzipiert und zunehmend an Prozessen und Praktiken der Erwachsenenwelt beteiligt. So werden beispielsweise Schulkinder an der Planung ihrer Schulbildung beteiligt und durch Schülerrepräsentation an der Schulleitung beteiligt. Dies, so Sandin, habe dazu geführt, dass heute die Gleichartigkeit der Kinder zu Erwachsenen hervorgehoben werde und Kinder von Erwachsenen (auch professionellen Pädagogen in Schulen) als ›kompetente Mitakteure‹ behandelt würden. 48 Der Umstand, dass Konzepte des ›kompetenten Kindes‹ die Kindheitsvorstellungen, welche um Defizite der Kinder kreisten, herausgefordert haben, hat aber nicht unbedingt eindeutige Veränderungen für die beanspruchte Asymmetrie in der Erziehungssituation zur Folge. Es geht dabei bei der Bezeichnung ›das kompetente Kind‹ um die Unterscheidung zwischen Recht und Kompetenz. Bremberg et al. machen den aufschlussreichen Hinweis, dass das Konzept des ›kompetenten Kindes‹ aus skandinavischer Sicht zwei Varianten aufweist. Gemäß einer ersten Variante, die sich auf die Menschenrechte bezieht, geht es beim kompetenten Kind um »a kind of universal child who has the right to be met with respect no matter what age or how s/he performs his/her competence«. 49 In einer zweiten, in skandinavischen Ländern mit Wohlfahrtssystemen verbreiteten Variante des kompetenten Kindes geht es nicht so sehr um einen rechtlichen Status, sondern in erster Linie um eine Kompetenz mit zu erwerbenden Fähigkeiten. Die Verfasser definieren diese zweite Variante wie folgt: »The competent child within the welfare state is a reasonable, responsible and reflexive child, a child who takes the responsibility for his/her own learning, who is a critical and conscious consumer, and who is able to take part in democratic processes, in pupil’s councils as well as in family discussions«.50

48 49 50

Sandin, 2001, 234–236 Bremberg, Johansson, Kampmann, 2004, 21 Bremberg, Johansson, Kampmann, 2004, 22

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In der ersten Variante des ›kompetenten Kindes‹ geht es um eine universell zugeschriebene Anerkennung, welche sich als Rechte manifestiert. In der zweiten Variante geht es um eine erlernte Kompetenz, die nicht alle Kinder pauschal umfassen kann. Interessant für die Frage der Asymmetrie als Anspruch der Erziehung ist die Schlussfolgerung der Verfasser, dass die beiden Varianten des ›kompetenten Kindes‹ sich je verschieden auf die moralpädagogische Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern auswirken. Die erste, universelle und rechtlich begründete Sichtweise des ›kompetenten Kindes‹ muss dem Kind in der moralpädagogischen Situation (wortwörtlich) Spielraum und Handlungsfreiheit einräumen und muss damit mit Unberechenbarkeit und Ungewissheit rechnen. Es wird, wenn dem Kind Spielraum gegeben wird, sowohl für das Kind selber wie auch für die Erwachsenen unvorhersehbare Effekte geben müssen. Das ›kompetente Kind‹ mit erlernter Kompetenz hingegen, wie es in skandinavischen Wohlfahrtsgesellschaften konzipiert wird und in Schulleitdokumenten und pädagogischen Handlungsplänen zum Ausdruck kommt, wird in »Projekte von Erwachsenen mit Kindern« miteinbezogen und integriert. Durch diese Einverleibung des Kindes in die durch Erwachsene geformten Strukturen seiner eigenen Erziehung wird das Kind – im Gegensatz zu den ihm zugestandenen Rechten – seiner Unabhängigkeit enthoben. Das Kind wird dazu gebracht, durch die Förderung seiner aktiven Beteiligung selbst »dasselbe Endprodukt zu erschaffen, wie es Erwachsene getan hätten«. 51 Was Bremberg et al. zeigen ist nicht nur, dass Kindheitsvorstellungen sich auf die erfahrene Differenz in der moralpädagogischen Situation auswirken, sondern auch, dass im Hinblick auf Autonomie als Zielvorstellung eine Diskrepanz entstehen kann zwischen beanspruchbarer und tatsächlich beanspruchter Asymmetrie. Die Art, wie sich Kindheitskonzepte auf den Anspruch von Asymmetrie auswirken, scheint nicht unbedingt geradlinig zu sein, sondern kommt offenbar auch in gegensätzlichen Effekten zum Ausdruck. Im Falle der skandinavischen Bildungssysteme, die sich in ihrem Ideal auf die rechtliche Variante des kompetenten Kindes beziehen, deutet die Analyse von Bremberg et al. darauf hin, dass ein Kindheitskonzept, welches auf der Absicht gründet, die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen im Bildungssystem zu vermindern, den gegenteiligen Effekt hat und zu 51

Bremberg, Johansson, Kampmann, 2004, 22

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einem (wenn auch verdeckt) verschärften Anspruch an Asymmetrie führt. Es geht darum, dass sich die Erwachsenen durch die Miteinbeziehung der Kinder in (moral)pädagogische Strukturen ihrer Freiheit bemächtigen. Erwachsene, erziehende Personen verstärken durch die Einbeziehung der Kinder ihre eigenen Möglichkeiten der Kontrolle der Erziehungs- und Bildungssituationen. Die Kompetenz (und damit erhaltene Autonomie) von Kindern wird in diesem verschärften Anspruch an Asymmetrie für die eigenen Zwecke Erwachsener eingesetzt. Aufschlussreich für die Frage nach dem Anspruch der Asymmetrie in Erziehung sowie die Frage nach der Kompetenz und der Autonomie von Kindern ist eine Studie, welche in einem ländlichen Gebiet in Bolivien von Punch durchgeführt wurde. Punch beschreibt den Alltag dieser Kinder als geprägt von der verpflichtenden Erwartung, sich früh an der häuslichen Arbeit zu beteiligen. Sobald es die physischen Voraussetzungen erlauben, werden Kinder an Pflichten wie Wasser holen, Geschwister betreuen oder Tiere hüten, beteiligt. Der Alltag von Schulkindern erlaubt nicht viel Zeit, die von den Kindern frei disponiert werden kann. Vor und nach der Schule haben sie verschiedene Pflichten im Haushalt zu erfüllen. In dieser Situation hat Punch die Verhaltensweise von Kindern gegenüber diesen Pflichten studiert. Sie beschreibt diese als Verhandlungen, die die Kinder um das führen, was Punch ihre »relative Autonomie« nennt. 52 In Punchs Studie erscheint der Umstand problematisch, dass sie nicht deutlich zwischen Autonomie als Recht(e), d. h. als die faktisch erreichten Freiheiten der Kinder, und Autonomie als Kompetenz, d. h. ihren Verhandlungsfähigkeiten und Strategien, unterscheidet. Interessant für meine Frage sind nicht so sehr die in Verhandlungen erreichten Rechte, sondern die Fähigkeiten zu verhandeln, die die Kinder zur Erlangung eigener Rechte einsetzen. Als Strategien zur Verhandlung von Autonomie identifiziert Punch Widerstand, Ablehnung, Umgehung sowie eine aktive Umgestaltung (»coping strategies«) der Arbeitsaufgabe. So können Arbeiten auf viele verschiedene Weisen verweigert, umgangen, auf Geschwister übertragen oder anders, d. h. mit integriertem Spielen ausgeführt oder verzögert werden. 53 Kinder erscheinen in einer Situation, die aufgrund ihrer frühen und umfangreichen Beteiligung an der häuslichen Arbeit als relativ begrenzend beschrieben werden könnte, nicht 52 53

Punch, 2001, 25–26 Punch, 2001, 26–27

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nur als geschickte Partner in Verhandlungen, sondern auch als kreativ und strategisch erfindungsreich bezüglich der Gestaltung ihres Spielund Lebensraumes insgesamt. Autonomie gestaltet sich im Leben dieser bolivianischen Kinder sehr konkret als Umgang mit Abhängigkeiten. Ähnliche Strategien bei Kindern identifizieren Backett-Milburn und Harden in einer qualitativen Studie von Familien in und um Edinburgh. Auch hier wird Erziehung als Verhandlung zwischen Eltern und Kindern beschrieben. So werden Faktoren wie gewährte Freiheiten, die Einschätzung von Risiken oder Altersgrenzen von Kindern und Erwachsenen als Gegenstand von Verhandlungen beschrieben. Zugleich ist in den durchgeführten Interviews die Rede von »bottom lines«. Damit sind »extern (durch die Eltern) festgestellte Grenzen«, um die in der Familie nicht verhandelt wird, gemeint. Dennoch beschreiben Kinder Wege, diese ›unverhandelbaren‹ Grenzen zu umgehen. Zeitbegrenzungen werden umgangen, indem die Uhr umgestellt wird. FernsehEinschränkungen werden durch Fernsehen im Geheimen umgangen und ›zu spätes‹ Nachhausekommen wird erklärt als verursacht dadurch, dass das Geld für den Bus fehlte. Backett-Milburn und Harden folgern, dass beispielsweise Risiko als Thema der Erziehung und als Gegenstand familiärer Verhandlungen als sozial konstruiert und veränderlich zu verstehen ist. Kinder werden in diesen Verhandlungen und durch ihre Strategien gegenüber dem, was eigentlich nicht verhandelt werden kann, zu sozialen Akteuren. Die Familie macht (im Normalfall) den bedingenden und begrenzenden sozialen Kontext aus, anhand dessen Kinder Autonomie ausüben. 54 Auch hier wird deutlich, dass Abhängigkeiten nicht unbedingt Autonomie behindern. Ebenso ist der Umstand, dass Erziehung (mit Zielvorstellung Autonomie) oft in Form von Verhandlungen stattfindet, ein Hinweis auf reversible Differenzen zwischen erziehender und zu erziehender Person. Auch hier scheint bezüglich der gegenseitigen Abhängigkeiten in der Erziehungssituation ein Anspruch an Asymmetrie als dialektisch angemessen. Punch fügt hinsichtlich der von Kindern angewandten Strategien, Regeln oder Grenzen zu umgehen, hinzu, auch Anpassung und Gehorsam könne Ausdruck autonomer Entscheidung sein. 55 Autonomie als 54 55

Backett-Milburn & Harden, 2004 Punch, 2001, 25

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Kompetenz konkretisiert sich demgemäß als komplexe Fähigkeit, sich als selbständiges Subjekt eine Position innerhalb relationaler Bezüge und gegenseitigen Abhängigkeiten zu sichern. Dabei geht es konkret darum, für sich selbst, in Interaktion und Verhandlung mit anderen Subjekten (Familienmitgliedern) Zeit und Raum zu schaffen. Der Erfolg der Verhandlungsprozesse ist seitens des Kindes nicht nur von der eigenen Verhandlungsfähigkeit, sondern auch von den Reaktionen, auf die seine Strategien stoßen, abhängig. Interessant ist dabei folgende Schlussfolgerung von Punch: »This study of rural Bolivia shows that the transition from childhood to adulthood is not a simple linear progression from dependence and incompetence to independence and competence. (…) children move in and out of relative independence and competence in relation to different people. (…) The notion of interdependence is a more appropriate way to understand relations between children and adults, and between children.« 56

Punch spricht also von einer »relativen Unabhängigkeit und Kompetenz«, die sich im Verhältnis zu Erwachsenen und anderen Kindern konstituiert. Dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Punchs Beobachtung der alltäglichen Lebensverhältnisse dieser bolivianischen Kinder sowie der einzelnen Erziehungssituationen, die in diesem Alltag entstehen, die Angemessenheit einer linearen Entwicklungslinie von Abhängigkeit in Richtung ›ständig zunehmender Unabhängigkeit‹ in Frage stellt. Es müsste vielmehr von einer in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich zum Ausdruck kommenden »relativen Autonomie« von Kindern gesprochen werden. Von einer »relativen Autonomie« sind in der Folge auch jene erziehenden Personen gekennzeichnet, welche mit den ›relativ autonomen‹ Kindern in Erziehungssituationen verhandeln. Diese »relative Autonomie« konstituiert sich als personen- und situationsabhängiges Resultat von Verhandlungen und verschiedenen Interessen und Bedürfnissen innerhalb des relationalen Gefüges der Familie und ist damit durch die verschiedenen Faktoren von »generationing« bedingt. Die erfahrene Differenz in der Erziehungssituation ist somit von einer relational bedingten Reversibilität oder Umkehrbarkeit, in der erziehende und zu erziehende Personen einander in Verhandlungssituationen gegenüberstehen, gekennzeichnet. Der Anspruch an 56

Punch, 2001, 25, 34 (meine Kursivierung)

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Asymmetrie in Bezug auf Erziehung zu – als relational konstituierter und in Relativität zum Ausdruck kommender – Autonomie müsste dann diese generationsmäßig bedingten Interdependenzen reflektieren. Ähnliche Befunde sind auch in einer Studie von 11- bis 12-jährigen Kindern in Genf ersichtlich. Mit der Studie sollten Erfahrungen von Kindern in ihrer Erziehungssituation erfasst werden. Es zeigen sich bei den Kindern, ähnlich wie bei den von Punch studierten Kindern in Bolivien, vielfältige Strategien zur Umgehung elterlicher Autorität. In Montandons Aufzählung kommen unter anderem folgende Strategien vor: Anpassung (»conformity«), Umgehen von Regeln, Ermüden der Eltern (»wearing down«), laute Proteste (»vociferous defeat«), Verhandlung und Diskussion. 57 Montandon schließt aus ihren Befunden hinsichtlich Autonomie auf eine gewisse Ambivalenz der befragten Kinder. Sie drücken deutlich Erwartungen aus, indem sie sich von den Eltern Anteilnahme und Unterstützung erwünschen. Zugleich »kämpfen« sie um ihre Autonomie. 58 Es scheint sowohl um emotionale Abhängigkeiten wie auch um begrenzende Situationen mit einschränkenden Regeln zu gehen. Die Strategien, welche die Kinder anwenden, können auch hier als Ausdruck von Autonomie als Umgang mit Abhängigkeiten gedeutet werden. Die Erziehungssituation stellt sich in der Folge als von gegenseitigen Abhängigkeiten aber auch von beidseitigen Möglichkeiten zum selbstbestimmten Umgang mit diesen Abhängigkeiten gekennzeichnet dar. Wie die in den Kapiteln 4–6 folgende Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte zeigen soll, macht es Sinn, Autonomie generell als gekennzeichnet durch den Umgang mit verschiedenen Abhängigkeiten zu entwerfen. Die befragten Kinder drücken aus, dass aus ihrer Sicht ein Streben nach Autonomie nicht unbedingt als Widerspruch zur eigenen Abhängigkeit gesehen werden muss. Beides scheint die Erfahrungen der Kinder gleichzeitig zu prägen. Das Bestreben der Kinder, Autonomie trotz erfahrener Abhängigkeiten zu erringen, kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die von den erziehenden Erwachsenden erfahrene Differenz als reversibel aufgefasst werden muss. Montandons Schlussfolgerungen bezüglich ihrer Studie können in zweifacher Weise als Hinweis darauf gedeutet werden. Aus Sicht der Erwachsenen ist die erfahrene Differenz inso57 58

Montandon, 2001, 61–62 Montandon, 2001, 64

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fern reversibel, als Kinder erstens als Mitgestalter ihrer Beziehungen zu den Eltern verstanden werden müssen. Als solche sind sie aktiv an der Erziehungssituation beteiligt. Zweitens sind diese Beziehungen, wie Montandon betont, nicht als »permanente Konstruktionen« zu betrachten. Vielmehr scheint es angemessen, von einer kontinuierlichen Neu- und Umgestaltung (»remodelling«) der Beziehung in Erziehung auszugehen. 59 Dies bedingt eine Veränderlichkeit und eine Ungewissheit, über die weder erziehende noch zu erziehende Personen selbstbestimmt verfügen. Ein adäquater Anspruch an Asymmetrie, der solchen ambivalenten Erfahrungen der Erziehungssituation Rechnung tragen möchte, müsste sich insofern als dialektisch verstehen, als Differenz bezüglich Autonomie aus dieser Erfahrung gegenseitiger Abhängigkeiten sowie gleichzeitiger Bestrebungen nach Autonomie heraus beansprucht werden soll. Eine weitere Studie, durchgeführt von Zeiher mit Kindern in Westberlin, legt ebenso die Schlussfolgerung nahe, dass die Bedingungen für die Autonomie der Kinder und der damit zusammenhängende Anspruch auf Asymmetrie durch komplexe Interdependenzen im Familiengefüge bestimmt werden. Auch hier erscheint die Erziehungssituation komplex und Erziehung lässt sich nicht auf eine eindeutige, linear verlaufende Entwicklung von Abhängigkeit zu zunehmender Unabhängigkeit reduzieren. Zeiher beschreibt die Entwicklung von Kindern in Richtung Selbständigkeit als biologisch bedingt, aber von gesellschaftlichen Konzepten von Kindheit gebremst oder beschleunigt. Kulturell ist die Situation dieser Kinder anders als jene von Kindern im ländlichen Bolivien. Hier hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine »doppelte Zeitdynamik« die Autonomie von Kindern beeinflusst. Im Zuge liberaler Wertungen sind einerseits zunehmend Unabhängigkeit und Autonomie zu zentralen Zielvorstellungen erhoben worden. Pädagogisch ist Kindern im Zusammenhang mit ihrer Entwicklung und Bildung mehr Selbständigkeit zugeschrieben worden. Andererseits wurden durch die wachsende Zuteilung von Mitteln zur Bildung die Abhängigkeiten von Kindern und Jugendlichen biographisch verlängert. Der vermehrten Gleichstellung in der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen wird also durch den zunehmenden Ausbau des Bildungssystems und der Ausbildungszeiten zu-

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Montandon, 2001, 69

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gleich entgegengewirkt. Frühere und spürbarere Selbständigkeit geht einher mit länger währender Abhängigkeit. 60 Für die Frage nach Autonomie als Zielvorstellung ist Zeihers Unterscheidung von drei verschiedenen Generationenverhältnissen, wie sie in Familien zum Ausdruck kommen, interessant. 61 Anhand von Fallstudien zeigt Zeiher, wie verschiedene Generationenverhältnisse bezüglich der Selbständigkeit der Kinder zu je verschiedenen Strategien führen. In einem ersten Generationenverhältnis, welches auf eine »Mutter-als-Hausfrau« (vorherrschend Mitte 20. Jahrhundert) baut, werden die strikt hierarchischen Verhältnisse zwischen Vater und Mutter im Verhältnis zu den Knaben und Mädchen in schwächerer Form reproduziert. Vor allem Knaben kommen dabei in den Genuss einer Kindheit, die durch die umfassende Dienstleistung der »Mutter-alsHausfrau« geprägt ist. Selbständigkeit kann das Kind nur erreichen, indem es sich der hierarchischen Ordnung und deren Abhängigkeit konkret räumlich entzieht. Ein zweites Generationenverhältnis (ab Ende der 1960er Jahre) ist geprägt von einer zunehmenden elterlichen Betreuung als Entwicklungsförderung für die Kinder. Die Aufgabe der Eltern wird erweitert und ihr Versuch der – pädagogisch möglichst gerechten – Einflussnahme wird erheblich umfassender angesetzt. Kinder werden so abhängiger von Erwachsenen, werden aber von Erwachsenen zugleich als gleichgestellter betrachtet, sodass vorher geltende Hierarchien zunehmend verflachen. Es werden möglichst »kindergerechte« Umgebungen geschaffen, die so umfassend sind, dass Kinder sich kaum davon befreien können. In einem dritten Generationenverhältnis ist die Hierarchie zwischen Erwachsenen und Kindern im Haushalt noch weiter verflacht, da beide Eltern nun erwerbsarbeitend sind und alle Familienmitglieder sich zu Hause aufgrund den daraus resultierenden, zeitlich begrenzten Kapazitäten der Eltern an der Haushaltsarbeit beteiligen müssen. Von Kindern wird so früher erwartet, selbständig zu sein sowie sich an der Haushaltsarbeit zu beteiligen. Sie

Zeiher, 2001, 37–40 Zeiher schreibt diese verschiedenen Generationenverhältnisse der historischen Entwicklung von Gesellschaftsstrukturen zu, vor allem der veränderten Situation von Frauen mit zunehmender Erwerbsarbeit. Sie bemerkt aber zugleich, dass in ihrer Studie diese verschiedenen, von historischen Tendenzen geprägten Generationenverhältnisse parallel vorkommend und je unterschiedlich in verschiedenen Familien repräsentiert sind.

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entwickeln gemäß Zeiher innerhalb der Familie Selbständigkeit durch die ihnen übertragenen Verantwortungsbereiche und Pflichten. 62 Zeiher hebt bezüglich der Verhältnisse des dritten Falles, wo die Eltern gleichberechtigt Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung und Haushaltsarbeit teilen, den Umstand hervor, dass in dieser Situation zeitlich mehr Raum entsteht, in welchem die Kinder alleine für ihre Zeit Verantwortung übernehmen müssen. Die Kinder sind es gewohnt, dass die Eltern tagsüber eigenen Pflichten nachgehen, während sie sich selber beschäftigen und sich an Haushaltsaufgaben wie der Zubereitung von Mahlzeiten beteiligen müssen. Zeihers positive Interpretation der Bedeutung eines solchen Familiengefüges für die Förderung von Selbständigkeit der Kinder fällt etwas übertrieben und vereinfachend optimistisch aus. Es ist in Zeihers Ausführungen nicht klar, warum der Umstand zeitlich und räumlich umfangreicherer Trennung (aufgrund der Erwerbstätigkeit beider Elternteile) auch zu verstärkter Autonomie des Kindes führen sollte. Die durch die praktischen Umstände bedingte, größere Beteiligung der Kinder an Haushaltsarbeiten kann sich, wie die oben besprochene Studie von Punch zeigt, auf vielfältige Weisen auf die Beziehung zwischen Kindern und Eltern auswirken. Dennoch zeigt Zeihers Vergleich der verschiedenen Familiensituationen, dass sich erfahrene Differenz und Asymmetrie als Anspruch nicht nur bedingt durch konkrete Familien- und Generationengefüge konstituiert, sondern auch anhand dieser artikuliert wird. Dies wird in Zeihers Studie nicht so sehr im Vergleich der räumlichen und zeitlichen Präsenzen der Eltern deutlich, sondern vielmehr in damit verbundenen Vorstellungen der Eltern zu Kindheit und zu ihrer Rolle als Erzieher. Während Kindheit in der zweiten Familiensituation als wertvoll ›an sich‹ (im Sinne von Kindheit als being) betrachtet wird, tritt Kindheit im dritten Fall stärker als in Bezug auf die Bedingungen Erwachsenenwelt definiert hervor. Elterliche Erziehung – mit einer Zielvorstellung Autonomie – wird am aufwändigsten in der zweiten Familiensituation ›betrieben‹. Gerade in dieser Bemühung um Autonomie entstehen aber Abhängigkeiten. Zugleich scheinen die Erziehungssituationen, die in der dritten Familiensituation entstehen, eher Autonomie als Zielvorstellung zu begünstigen. Anhand der drei verschiedenen Familiensituationen wird deutlich, dass die erfahrene Differenz bezüglich Autonomie sich als Variabel der jeweiligen Konzepte zu Kindheit im Verhältnis zur 62

Zeiher, 2001, 50–53

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Erwachsenwelt konstituiert. Die Erziehungssituationen scheinen allgemein, aber auch insbesondere in Zusammenhang mit intensiven Bemühungen um Autonomie, von reversibler Differenz geprägt zu sein. Wenn sich die Umstände gegenseitiger Abhängigkeiten und reversibler Differenz im Anspruch an Asymmetrie angemessen abbilden sollen, müsste dieser die Ungewissheiten und die Umkehrbarkeit der moralpädagogischen Relation berücksichtigen. Ein adäquater Anspruch an Asymmetrie bietet sich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen als dialektisch an. Der Anspruch an Asymmetrie hängt aber, wie oben angesprochen wurde, auch mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Erziehung respektive deren Möglichkeiten und Aufgaben zusammen. Wenn Erziehung nicht nur auf die Moralentwicklung eines Individuums abzielt, sondern (auch) als Mittel zum Fortschritt der Menschheit betrachtet wird, formen sich auch darin Bedingungen, die für die entstehenden Erziehungssituationen respektive der darin erfahrenen Differenz von Bedeutung sind. Zirfas beschreibt diese gesellschaftliche Erwartung an Erziehung als Ausdruck einer hegelianischen Vorstellung des Fortschrittes: »Die ständige Erinnerung an das noch Ausstehende im Fortschritt verpflichtet die Pädagogen, sie werden mit ihr an ein Versprechen gebunden, das in der performativen Anrufung als Ziel des Fortschritts ständig neu erzeugt wird.« 63 Ein solches »verpflichtendes Versprechen« beeinflusst die erfahrenen Differenzen der Erziehungssituation, indem erziehende Personen oder Institutionen an eine gesellschaftliche Erwartung gebunden sind. Einerseits verleitet der äußere Erwartungsdruck zu verschärften Ansprüchen. Andererseits wird die beanspruchbare Asymmetrie durch die eigene Abhängigkeit von gesellschaftlichen Erwartungen (und den davon abhängigen finanziellen Mitteln für Bildungssysteme) auch abgeschwächt. Erziehende Personen oder Institutionen sind abhängig davon, ›Erziehungserfolg‹ vorzeigen zu können. Damit sind sie auch vom Kooperationswillen der zu erziehenden Personen abhängig. James und James beschreiben das Verhältnis zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt (als sozial konstruierte Kategorien mit wertenden Aspekten) als ein wechselseitiges Verhältnis, in welchem bezüglich der ›Konstruktion Kindheit‹ auch Kinder als Subjekte und Mitgestalter zu betrachten sind.

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Zirfas, 2004, 40 (meine Kursivierung)

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»(…) We have argued, that there is a highly dynamic and symbiotic relationship between the conceptualisation of childhood as a particular generational and cultural space, and children’s actions as the occupants of that space; that children are social members of the category ›child‹ who, through their interactions and engagement with the adult world, help to form both the categorical identity of ›child‹ with which they are ascribed and the generational space of ›childhood‹ to which they belong; and that this relationship delineates the ›how‹ of the socialisation process.« 64

Beanspruchte Asymmetrie reflektiert somit nicht nur den konkreten Anspruch der jeweiligen erziehenden Person oder Institution, sondern repräsentiert auch gesellschaftlich sanktionierte Konzepte zu Kindheit. In diesen Konzepten ist auch das Verhalten der Kinder innerhalb solcher Konzeptualisierungen einbegriffen. Gesellschaftlich geformte und sanktionierte Konzeptualisierungen von Kindheit und Erwachsenenwelt bilden dementsprechend für die Erziehungssituation normative Rahmenbedingungen, über welche erziehende Personen oder Institutionen nicht frei verfügen. Die erziehende Person ist diesen gesellschaftlich ausgeformten und normativen Rahmenbedingungen gegenüber eher abhängig als autonom. Dies bedeutet, dass die Asymmetrie, die seitens erziehender Personen oder Institutionen angemessenerweise beansprucht werden kann, auch die Funktion gesellschaftlicher Konzepte von Kindheit berücksichtigen müsste. Über gesellschaftliche Konzepte verfügt in der Erziehungssituation weder die erziehende noch die zu erziehende Person. Allerdings geht es gemäß James und James um eine Wechselwirkung zwischen »actor and structure«, d. h. zwischen Kindern und Kindheitskonzepten. James und James beschreiben einen »kombinierten Effekt«, der vom Verhalten von Kindern und von Reaktionen Erwachsener ausgeht. Dies resultiere sowohl in Kontinuität wie auch in Veränderlichkeit bezüglich der Konstruktion Kindheit. James und James weisen darauf hin, dass Kinder nicht nur von der sie umgebenden Kultur geformt werden, sondern diese Kultur auch mitformen. Sie nennen Kinder »agents of change«. 65 Diese Beobachtungen sollen insgesamt als Verweis darauf gedeutet werden, dass Erziehung als Anspruch innerhalb eines Kontexts gehaltvoller und wertender Konzepte gemacht wird. Über diese verfügen James & James, 2004, 74 James & James, 2004, 75, 71, 118. Die Verfasser diskutieren hier auch die Funktion, die die Gesetzgebung als zentraler, institutioneller Ausdruck der sozialen und kulturellen Konstruktion Kindheit einnimmt 64 65

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die an der Erziehungssituation beteiligten Personen nur in äußerst begrenztem Ausmaß. Erziehende und zu erziehende Personen sind beide von sozialen Konzepten dieser Art abhängig. Beide sind sie aber auch modifizierende Mitgestalter dieser Konzepte. Im Verhältnis zu diesen weiteren, kontextuellen Bedingungen von Erziehung erscheint ein adäquater Anspruch an Asymmetrie durch beidseitige Abhängigkeiten als Ausdruck von Dependenz abgeschwächt. Sowohl Kinder wie Erwachsene sind im Verhältnis zu der jeweiligen Generationenzugehörigkeit, anhand derer sich der Anspruch an Asymmetrie in Erziehung gestalten lässt, strukturiert und strukturierend.

3.2.3 Dialektische Asymmetrie als Ausdruck moralpädagogischer Dependenz Winkler spricht im Zusammenhang mit Asymmetrie in Erziehung von »zwei gegenläufigen Asymmetrien«. Während eine »lebenspraktische Überlegenheit« den Erzieher kennzeichnet, ist der Zögling seinerseits ein »autonomes Subjekt« und als solches »frei, unabhängig und selbständig«. 66 Was Winkler als gegenläufige Asymmetrien bezeichnet, wird in dieser Arbeit als reversible Differenz bezeichnet. Diese begriffliche Verschiebung ist in dem Fokus auf Erziehung als Anspruch innerhalb einer ethischen Perspektive begründet. Asymmetrie als Anspruch muss zu diesem Zweck von Differenz als in der Praxis erfahrenem Unterschied unterschieden werden. Es gilt an dieser Stelle nochmals zu betonen, dass mit den Begriffen Differenz und Asymmetrie nicht zwei verschiedene Phänomene bezeichnet werden sollen, sondern dass sie als Begriffe für verschiedene Perspektiven jeweils andere Aspekte thematisieren. Eine ethische Perspektive interessiert sich primär für die Normativität von Erziehung, gefasst als Erziehung als Anspruch. Mit dem Begriff Asymmetrie soll der normative Anspruch an einen Vorsprung bezeichnet werden. Dieser Anspruch beruft sich auf eine erfahrene Differenz. Die Ausführungen des Abschnittes oben haben Asymmetrie als Anspruch insbesondere bezüglich einer Zielvorstellung Autonomie problematisiert. Bezüglich einer Zielvorstellung Autonomie erschien die in der Erziehungssituation erfahrene Differenz als reversibel, was zum Anlass genommen wurde, Asymmetrie als adä66

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quaten Anspruch als dialektisch zu bestimmen. Der Anspruch dialektischer Asymmetrie bezieht sich (aufgrund gegenseitiger Abhängigkeitsverhältnisse in der Erziehungssituation) also auf eine reversible Differenz zwischen erziehenden und zu erziehenden Personen. Wenn Asymmetrie dialektisch beansprucht wird, bedeutet dies eine Modifikation des Anspruchs, die den Umstand der Reversibilität der Differenz zu berücksichtigen versucht. Dialektische Asymmetrie (im Hinblick auf die Zielvorstellung Autonomie) wäre dann anhand einer Einstellung, wie sie die folgende Formulierung veranschaulicht, zu artikulieren: »Ich erlebe aus meinem Blickwinkel, dass ich etwas kann, was du auch können solltest. Wenn ich mich darum bemühe, dir etwas zu vermitteln, was auf einen Ausgleich der Differenz zwischen dir und mir zielt, mache ich das im Bewusstsein darüber, dass du Qualitäten und Fähigkeiten hast, die mit meinen konkurrieren können und dass meine Bemühungen deinen Zielen eventuell entgegengesetzt sind. In meinen Bemühungen bin ich also abhängig von dir und von dem Zusammenspiel zwischen uns. Ich verstehe meine Bemühungen somit als Teil der Dialektik unserer beidseitigen Abhängigkeiten und Selbstbestimmungen.« Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie ist als moralpädagogische Situation vom Anspruch eines Vorsprunges, d. h. von Asymmetrie, geprägt. Der Anspruch an Asymmetrie ist sowohl von den Umständen der Erziehungssituation als auch vom Autonomiekonzept, welches die Zielvorstellung der Erziehung prägt, abhängig. Eine detaillierte Diskussion verschiedener Autonomiekonzepte und deren Bedeutung für Erziehung als Anspruch wird in den Kapiteln 4–6 folgen. Hier wurde anhand einer Charakterisierung von Differenz und Asymmetrie festgehalten, dass erziehende und zu erziehende Personen in der Erziehungssituation von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt sind. Dies kann auch als moralpädagogische Dependenz bezeichnet werden. Sie erschöpft sich nicht in der erziehungsinternen, moralpädagogischen Situation oder Relation, sondern ist auf eine weitere Kontextualität zu beziehen. Gesellschaftliche Erwartungen und Strukturen beeinflussen Erziehung als Anspruch. Erziehung wird zu einem Handlungskomplex, welches in einem von Dependenz geprägten Beziehungsgefüge stattfindet. Erziehung, die traditionell als einseitiges Einwirken beansprucht wird, muss im Lichte dieser Umstände reversibler Differenzen anhand bescheidenerer Ansprüche artikuliert werden. Meine Argumentation versucht dieser Forderung nach einem be155 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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scheideneren Anspruch mit dem Begriff dialektischer Asymmetrie als adäquatem Anspruch bezüglich einer Zielvorstellung Autonomie gerecht zu werden.

3.3 Verbessern wollen – Richtung Im vorhergehenden Abschnitt zu Asymmetrie als Anspruch wurde Erziehung primär als Situation diskutiert. In einer solchen Betrachtungsweise erscheint Erziehung als statisch. Der zweite Aspekt von Erziehung als Anspruch, welchem dieser Abschnitt gewidmet ist, bringt die dynamischen Aspekte von Erziehung in den Blick, denn es geht bei Erziehung um die Initiative zu Bewegung ›weg von‹ etwas und ›hin zu‹ etwas Anderem. Es geht um eine negative Wertung des Status quo und um die Vision einer Veränderung zu etwas Besserem. Hier soll nach wie vor davon abgesehen werden, Erziehung als einen einheitlich feststellbaren Prozess mit einem zeitlichen und kausalen Anfangs- und Schlusspunkt zu beschreiben. Doch es geht bei Erziehung um intendierte Einflussnahme, im Sinne einer für Erziehung allgemein kennzeichnenden »Grundassoziation Einwirken auf oder Entwickeln von«. 67 Markant für diese Intentionalität (im Zusammenhang mit einer Diskussion von Autonomie als Zielvorstellung) ist der Umstand, dass es sich um stellvertretende Intentionalität handelt. Damit ist im Sinne des pädagogischen Paradoxes das Problem angesprochen, dass unter dem Vorwand von ›bemündigenden‹ Zielvorstellungen ›entmündigende‹ Handlungen zu rechtfertigen sind. Erziehung enthält diesbezüglich den Anspruch, dass Kinder und Jugendliche lernen soll(t)en, »was nach dem Willen der sie umgebenden Personen für notwendig gehalten wird.« 68 Aus ethischer Sicht wird diese intendierte Einflussnahme in ErzieOelkers, 2001, 9, 261. Oelkers beschreibt »Einwirken auf« und »Entwickeln von« als mit Vorstellungen der Stetigkeit verbunden. Hier werden diese beiden Begriffe mit dem Begriff Einflussnahme zusammengefasst und als Bezeichnung pädagogischer Praxis gebraucht. Dabei wird Einflussnahme in der Praxis als unstetig charakterisiert. 68 Beutler, 1996, 269. Eine genauere Bestimmung des pädagogischen Paradoxes findet sich in Kapitel 2. In der für diese Arbeit gewählten ethischen Perspektive soll die Frage der stellvertretenden Intentionalität eher ausgeblendet werden. Was im Zentrum der Problematisierung steht, ist das Verhältnis zwischen dem Anspruch der Richtung und der pädagogischen Praxis von Einflussnahme. 67

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hung als Verbesserung beansprucht.69 Dieser normative Anspruch bezüglich intendierter Einflussnahme als Verbesserung wird hier als Richtung bezeichnet. Mit der Unterscheidung zwischen Richtung als Anspruch und intendierter Einflussnahme wird die bereits im vorhergehenden Abschnitt vertretene Auseinanderhaltung von Erziehung als Anspruch und Erziehung aus pädagogischer Sicht weitergeführt. Analog zur Unterscheidung zwischen Differenz und Asymmetrie wird hier also die Unterscheidung zwischen intendierter Einflussnahme und Richtung wichtig. 70 Richtung als Anspruch der Erziehung ist – zusammen mit dem Anspruch der Asymmetrie – für Erziehung konstitutiv. Ohne den responsiven, visionären und damit wertenden Entwurf einer Richtung, die sich in Zielvorstellungen ausdrückt, kann von Erziehung nicht die Rede sein. Der Anspruch an Richtung muss nicht unbedingt einen Erziehungsprozess mit Kontinuität voraussetzen. Insofern als der Anspruch an Richtung und die damit verbundene Zielvorstellung aber die Bedingungen der konkreten Situation visionär ›transzendieren‹, wird mit Richtung auch Stetigkeit beansprucht. Die beanspruchte Stetigkeit ist begründet im Anspruch an Verbesserung. Es ist wichtig, zu bemerken, dass der Ausdruck Verbesserung dabei keine externe Wertung, sondern nur eine Wertung bezüglich der Zielvorstellung Oelkers, 2001, 216 Dies bedingt eine Verwendung des Begriffes Richtung, die sich von Deweys Verwendung des Begriffes »direction« teilweise unterscheidet. Deweys Interesse gilt der generellen Funktion von Erziehung. Er inkludiert in seine Diskussion von Erziehung als Richtung sowohl Richtung als Anspruch wie auch methodische Aspekte pädagogischer Praxis. »Education as direction« kommt bei Dewey in intendierter Kontrollausübung zum Ausdruck. Diese hat ihren Grund im Anspruch einer Diskrepanz zwischen Impulsen junger Gesellschaftsmitglieder und den Traditionen der Gesellschaft und äußert sich als pädagogische Praxis, die – sich auf bestimmte Ziele beziehend – Impulse zu bündeln und ordnen versucht. »The natural or native impulses of the young do not agree with the life-customs of the group into which they are born. Consequently they have to be directed or guided. This control (…) consists in centering the impulses acting at any one time upon some specific end and in introducing an order of continuity into sequences of acts.« (Dewey, 2004, 39) Es ist bei Dewey das Interesse für den Zusammenhang zwischen Anspruch und Praxis, der zentral ist. Während sich die vorliegende Arbeit im aktuellen Kapitel dazu verpflichtet, anhand einer ethischen Besprechung von Erziehung als Anspruch einen adäquaten Anspruch zu eruieren, ist Deweys Interesse auf eine Bestimmung einer legitimen pädagogischen Praxis ausgerichtet. (Dewey, 2004, 22–39) Hier ist also der Begriff Richtung eine Bezeichnung für den Anspruch von Erziehung. Zum Zweck der ethischen Bestimmung von Erziehung ist er abgesondert von intendierter Einflussnahme als Aspekt pädagogischer Praxis. 69 70

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Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

von Erziehung angibt. Nur als Annäherung an diese Zielvorstellung kann Einflussnahme als Verbesserung beansprucht werden. Somit äußert sich der Anspruch an Richtung als Anspruch an Verbesserung in Bezug auf eine moralpädagogische Zielvorstellung. Die Zielvorstellung wird zur normierenden Vorgabe von Richtung und die intendierte Einflussnahme könnte ausgedrückt werden mir dem Satz: »Ich will Einfluss auf dich nehmen.« Der daran anschließende Anspruch an Verbesserung, d. h. der Anspruch an Richtung, wird veranschaulicht in folgendem Satz: »Mein Versuch der Einflussname auf dich ist ein Versuch zur Verbesserung deiner (moralischen) Reife.« Aufgabe des folgenden Abschnittes ist eine Problematisierung von Richtung als Anspruch. Diese ethische Problematisierung des Normativen geschieht mit Bezug auf einen Versuch zur pädagogischen Charakterisierung von intendierter Einflussnahme. Dies mündet in eine Bestimmung von Richtung als adäquatem Anspruch. Dabei soll zuerst gezeigt werden, dass ein Spannungsverhältnis zwischen intendierter Einflussnahme als Praxis und Richtung als Anspruch vorliegt. Während intendierte Einflussnahme als pädagogische Praxis von Fragilität oder Unstetigkeit geprägt ist, wird mit Richtung als Anspruch (oft) Stabilität oder Stetigkeit beansprucht. Dies geschieht meist in Verbindung mit großflächigen moralpädagogischen Zielvorstellungen. Es soll im Anschluss daran diskutiert werden, wie sich Richtung als adäquater Anspruch an Verbesserung auf dieses Spannungsverhältnis beziehen soll.

3.3.1 Unstete Einflussnahme gegenüber steter Richtung Erziehung als erfahrbare Praxis zerfällt in eine Vielfalt oft divergierender Situationen und Handlungen. Es ergibt sich aus pädagogischer Sichtweise ein Bild von Fragilität, von zerbrechlichen Strukturen mit weitgehend fehlender zeitlicher und kausaler Kontinuität. Einflussnahme ist von Unstetigkeit geprägt. Dies ist begründet nicht nur im Umstand, dass Kinder von verschiedenen Personen erzogen werden und daher verschiedenen, teilweise widersprüchlichen Ansätzen zur Einflussnahme ausgesetzt sind, sondern auch im Umstand, dass einzelne Erziehungssituationen generell nur in loser Verbindung zueinander stehen. Die Unstetigkeit intentionaler Einflussnahme findet ihren frappantesten Ausdruck in der Frage, was denn der ›eigentliche Mo158 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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ment‹ oder welches denn die ›eigentlich erziehende Handlung‹ sei. Winkler, der sich zwar gegen eine Sichtweise ausspricht, die Erziehung bezüglich ihrer Wirkung unterschätzt, zeichnet ein Bild von Erziehung als losgerückte, alltägliche Situationen ohne erkennbare Kontinuität und damit ohne einheitlich beanspruchbare Richtung. »In der Tat trifft zu: So genau weiß keiner, wann er erzieht. Zwischen dem Wechseln von Windeln, der Aufforderung das Zimmer aufzuräumen, dem gemeinsamen Gang zu McDonalds, den Auseinandersetzungen über Kleidung an kalten Tagen, Tischmanieren, hinreichendes Zähneputzen und dem GuteNacht-Kuss verschwindet Erziehung auf eigentümliche Weise, zunächst in kleine Gesten, der hochgezogenen Augenbraue oder den leicht verschärften Ton. (…) In all dem plagt Erziehung nur als jene Müdigkeit, die aus einer vergeblich erscheinenden Wiederholung von Aufforderungen zu Selbstverständlichem entsteht, das aus Selbständigkeit geschehen sollte.« 71

Bei genauerem Betrachten kann sich in Erfahrungen dieser Art seitens erziehender Personen der eigentliche Zusammenhang von Erziehung als Einflussnahme scheinbar gänzlich verflüchtigen. Wenn Erziehung in dieser Weise von Fragilität oder Unstetigkeit gekennzeichnet ist und intentionale Einflussnahme in Einzelmomente spontaner und kaum bewusst durchdachter Reaktionen – wie etwa jene der hochgezogenen Augenbraue – zerfällt, worauf soll sich dann ein Anspruch an Richtung beziehen? Aber nicht nur die Unstetigkeit, die sowohl eine zeitliche wie eine kausale Dimension betrifft, sondern auch deren Diskrepanz zu ausholenden, großflächigen Ambitionen und Intentionen gibt zu denken. Denn die »Müdigkeit«, die Winkler beschreibt, entsteht nicht nur als Resultat erlebter Wirkungslosigkeit von Erziehung, sondern auch, weil die einzelnen Situationen nur schwerlich mit übergeordneten Zielvorstellungen, die in den Köpfen erziehender Personen kursieren, in Beziehung zu bringen sind. Darum stellt sich die Frage, wie sich Richtung als Anspruch zum Erziehungsalltag als Erfahrung unsteter Einflussnahme verhält und verhalten soll. Erziehung kann gemäß Oelkers nicht als linearer oder kausaler Prozess des Einwirkens beschrieben werden. Die Vorstellung einer linear-progressiven Steigerung sei, so Oelkers, unrealistisch. Dennoch werde Erziehung entworfen als »starke Erwartung, die immer dann abgerufen wird, wenn soziale und im Weiteren moralische Probleme auftreten, die auf Kinder und Jugendliche oder überhaupt auf Bedürf71

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tige projiziert werden können«. 72 Oelkers hält weiter fest, die zunehmende Übernahme von Erziehung durch Experten habe zur Folge, dass Erziehung (wie bei Schleiermacher) an Ideen des Guten gebunden wird. Das bedeute, dass »Belastungsfaktoren ausgeklammert« werden und »ein reines Bild des pädagogisch Möglichen gezeichnet wird«. 73 Es geht bei Einflussnahme als moralpädagogischer Praxis um Situationen und Handlungen, die mit einheitlichen Zielvorstellungen und steter Richtung als Anspruch nur sehr lose verbunden zu sein scheinen. Diesen mangelnden Zusammenhang mit der Stetigkeit des Anspruchs beschreibt Oelkers wie folgt: »Versteht man ›Erziehung‹ (…) nicht als eine geschlossenen Kausalität, sondern als Handlungswirklichkeit, die in der Folge und Verknüpfung von Situationen realisiert wird, dann löst sich die Vorstellung auf, man habe es mit einem kompakten Prozess zu tun, der sich wie ein Schicksal vollzieht. Die Realitäten von Erziehung sind fragile Erfahrungen des Austausches, bei denen Intentionen und Wirkungen nicht passungsgleich verstanden werden können.« 74

Als »fragile Erfahrungen des Austauschs«, wie es Oelkers formuliert, ist Erziehung in ähnlicher Sichtweise gemäß Benner auch als »Erfahrung von Negativität« zu beschreiben. Bildende Erfahrungen werden als negativ und irritierend erfahren – seitens erziehender Personen als nicht (mehr) wirksame Maßnahmen, seitens zu erziehender Personen als Erfahrung, dass »eingeübte Urteilsmuster sich als untauglich erweisen«. 75 Diese irritierenden, negativen Erfahrungen sind nicht als in eine lineare Zeitdimension integriert zu verstehen, sondern als in einem Zwischenraum situiert, der nicht einfach begrenzt ist von ›schon‹ Gekonntem und ›noch nicht‹ Gekonntem. Ausgehend von einem Verständnis von Lernen als in der Transformation von Unbekanntem in Bekanntes und von Bekanntem in Unbekanntes konstituiert, beschreibt Benner eine »Gleichzeitigkeit von Wissen und Nicht-Wissen, Können und Nicht-Können«. Darin entsteht ein Zwischenraum, der »nach allen Richtungen durch Wissen und Nicht-Wissen, Können und Nicht-Können« begrenzt ist. 76 Wenn dieser Zwischenraum als ein Raum zwischen ›Schon‹ und ›Noch-nicht‹, d. h. als zeitlich linearer Zwischen72 73 74 75 76

Oelkers, 2001, 86, 226, 17–24 Oelkers, 2001, 200 Oelkers, 2001, 277 (meine Kursivierung) Benner, 2005b, 8 Benner, 2005b, 8–9

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raum, verstanden wird, dann ist dies aber verkürzend. Benners Sichtweise fokussiert auf »Räume (…), die durch Verfremdungen eines schon Bekannten« strukturiert sind. Er fügt hinzu: »Solche Verfremdungen eines schon Bekannten sind für Suchbewegungen offen, die nicht auf ein bekanntes Noch-Nicht, sondern ohne festen Ort auf ein Unbekanntes finalisiert sind.« 77 Somit ist Erziehung Erfahrung nicht nur von Negativität, sondern auch von einer komplexen Zeitdimension. Dass Lernen als Transformation Zeit in Anspruch nehmen muss, ist kaum zu bestreiten. Dass sie dies aber nicht im Sinne eines linearen und quantitativ bestimmbaren Zeitraumes tun kann, macht diese, für Erziehung aktuelle, Zeitdimension komplex. Was sich daraus für die Frage nach Erziehung als Anspruch ergibt, ist keine geradlinige Erziehungsrichtung, sondern ein unstetiges Manövrieren in oft überraschendem Terrain. Mit pädagogischer Praxis ist eine Erfahrung weitgehend ausbleibender, kontrollierbarer Wirkung verbunden. Selbst wenn gewisse Verhaltensweisen, Wertungen oder Fähigkeiten auf gewisse Aspekte erfahrener Erziehung ›später‹ zurückführbar sind, sind sie es nie in einem strikt kausalen Sinne. Was auch immer als Resultat von Erziehung dargestellt wird, so lässt es sich »dem pädagogischen Geschehen nicht unmittelbar zuordnen«. 78 Trotz dieser ausbleibenden Unmittelbarkeit von Einflussnahme, wird Richtung in Erziehung als Verbesserung beansprucht. Selbst wenn sich Erziehung in der Praxis aus »fragilen Erfahrungen des Austauschs« zusammensetzt, ist ein einheitlicher Anspruch damit verbunden, der Richtung als Verbesserung mit Stetigkeit verbindet. Es geht bei Erziehung um großflächige Zielvorstellungen, die an moralphilosophische Ideale anknüpfen. Dies ist der Fall nicht nur in theoretischen pädagogischen Ausschweifungen, sondern auch in Ansätzen, die sich auf ein konkretes Problem beziehen und konkrete Handlungspläne entwerfen wollen. 79 Es fragt sich, wie in der Verbindung von Richtung als Anspruch an Benner, 2005b, 10 Winkler, 2006, 161 (meine Kursivierung) 79 Dazu gehören international bekannte und angewandte Programme wie COPE oder Parent Management Training (PMT, auf schwedisch Komet). Wenn großflächige Zielvorstellungen, wie verbesserte Kommunikationsfähigkeit oder sicheres Selbstgefühl als didaktisch umsetzbar in eine Methode, wo etwa Gehorsam mit Goldsternchen belohnt wird, dargestellt wird, erscheint die Großflächigkeit zwar abbaubar. Dies geschieht aber nicht nur auf Kosten der Komplexität der Zielvorstellung selbst, sondern auch, und das 77 78

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Verbesserung und Einflussnahme als Vielfalt loser Handlungen dieser Spannung zwischen Stetigkeit und Unstetigkeit Rechnung getragen werden kann. Erziehung wird als Anspruch oft als Einheit entworfen, da sie auf übergeordnete Zielvorstellungen bezogen ist. Selbst wenn eine Mehrzahl von Zielen oder Teilzielen vorliegt, wird die Normativität der Richtung dennoch auf eine ganzheitliche Weise beansprucht, die Richtung als Stetigkeit impliziert. Dies zu erfassen – und gleichzeitig als realitätsfern zu kritisieren – versucht Rieger-Ladich mit dem Begriff Pathosformel. Mündigkeit, so muss aus Rieger-Ladichs Arbeit gefolgert werden, hat als ursprünglich juristischer Begriff den Weg in die deutsche Pädagogik gefunden und dabei eine Metamorphose durchgemacht. Im Kontext der Pädagogik wurde (und wird) Mündigkeit leidenschaftlich artikuliert. 80 Als Formel für einen Pathos suggeriert sie (auf meine Begrifflichkeit übertragen) für den Anspruch an Richtung Stetigkeit. Die Pathosformel wird zum fernen, großflächigen Ziel, die nur ganzheitlich nahbar erscheint. Großflächigkeit von Zielvorstellungen impliziert einen Anspruch an Richtung als stetig. Dies wird auch deutlich in der von Wiberg vorgenommenen pädagogischen Aufarbeitung des Begriffes Freiheit in Zusammenhang mit Bildung. Sie beschreibt die moralpädagogische Funktion von Freiheit als Wert, der sowohl für die erziehende wie auch die zu erziehende Person von Bedeutung ist. »Freiheit soll als Wert betrachtet werden, der in einer bildungstheoretischen Perspektive als wirkender Wert für das lernende Subjekt intendiert ist; zugleich ist Freiheit für den Erzieher (…) ein Bildungswert, der theoretisch in ein didaktologisches Niveau inbegriffen ist. Damit ist ein Wert gemeint, der als Bildungsinhalt und damit als Grundlage für didaktische Überlegungen diskutiert wird.« 81

Wiberg betrachtet Freiheit als normativ wirksam für die lernende Person und für die lehrende oder erziehende Personen. Wibergs Unterscheidung dieser zweifachen Wirksamkeit ist von Interesse für die ist besonders bedenklich, auf Kosten eines grundlegenden Respekts sowohl der zu erziehenden wie auch der erziehenden Person gegenüber. (Siehe Kapitel 5.) 80 Rieger-Ladich, 2002, 17–19 81 Wiberg, 2007, 191 (meine Übersetzung). Den Begriff »didaktologisch« leiht Wiberg von Nielsen, welche »didaktologisch« von didaktisch unterscheidet. Didaktologie handelt statt von konkreten methodischen Überlegungen von theoretischen Überlegungen zur Bestimmung und Begründung von pädagogischen Zielvorstellungen oder Werten. (Siehe Wiberg, 2007, 10.)

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ethische Diskussion von Erziehung als Anspruch. Sie scheint vorauszusetzen, dass die Freiheit als für das lernende Subjekt wirksamer Wert eine Voraussetzung für die Annahme von Freiheit als didaktologischer Wert sei. Damit gerät Freiheit als Wert aber in eine ambivalente Funktion für Bildung oder Erziehung. Freiheit wird einerseits beim lernenden Subjekt verortet – und normativ verlangt – andererseits als didaktologischer Wert als richtunggebend für Erziehung oder Bildung gefordert. Es stellt sich die Frage, inwiefern eine moralpädagogische Zielvorstellung Fähigkeiten oder Eigenschaften umfassen kann, die bei der zu erziehenden Person zum Zweck der normativen Legitimität der moralpädagogischen Richtungsbestimmung zugleich bereits vorausgesetzt werden müssten. Diese Frage stellt sich auch im Zusammenhang mit Autonomie und wird in dieser Arbeit beantwortet mithilfe einer Bestimmung von Autonomie als Zielvorstellung (siehe Kapitel 4–6). Für den Zusammenhang hier ist festzustellen, dass diese zweifache Funktion Freiheit pädagogisch großflächig darstellt, sodass Erziehungsrichtung mit Bezug auf Freiheit sich als stetig darstellt. Die Großflächigkeit des Begriffes Freiheit kommt insbesondere in dem von Wiberg lancierten Begriff »Praxiswert« zum Ausdruck. Wiberg will mit dem Begriff Praxiswert die Art der Inanspruchnahme des Begriffes Freiheit für moralisches und ethisches Lernen 82 beschreiben: 82 Wiberg unterscheidet dabei moralisches Lernen von ethischem Lernen. Die beiden, so Wiberg in Anlehnung an Dewey, sind unterscheidbar, aber dialektisch miteinander verbunden. Im Zusammenspiel zwischen moralischem und ethischem Lernen entsteht »eine moralische Person«. Bei moralischem Lernen geht es um die Aneignung moralischer Normen und Wertungen sowie sozial sanktionierter Konventionen. Ethisches Lernen ist die Reflexion, die im Zusammenhang damit geschieht. (Wiberg, 2007, 46– 53) Wiberg unterscheidet also die Begriffe Moral und Ethik, mit ihren analogen Entsprechungen in moralischem und ethischem Lernen, nicht nur in einer Praxis – TheorieDimension, sondern auch im Lichte einer existentialistischen Sichtweise als Ausdruck zwischen passiver Sozialisierung und selbstständiger Wahl. Beide Dimensionen sind problematisch, vor allem in Kombination miteinander. Ethisches Lernen hat dann mit selbständiger Reflexion zu tun, während moralisches Lernen Aneignung auf praktischer Ebene als Übernahme sozialer Konventionen gleichkommt. In dieser Arbeit werden in der Diskussion verschiedener Konzepte zu Autonomie beide diese Annahmen kritisiert und vorgeschlagen wird ein Autonomiebegriff, der sich weder durch die Gegensätze Reflexion – Praxis, noch soziale Konvention – subjektive Wahl abgrenzen lässt. (Siehe Kap 4–6.) Wibergs stipulative Definition von Freiheit als pädagogischer Praxiswert, der Freiheit mit Bezugnahme auf verschiedene tugendethisch beeinflusste Sichtweisen definiert, widerspricht allerdings zum Teil den Unterscheidungslinien, die sie im Zusammenhang mit den Begriffen moralisches und ethisches Lernen macht. In dem sie Frei-

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»Ein Praxiswert ist eine wertegeladene Idee, die als richtungweisendes Werkzeug in Praxis gebraucht wird. So kann ein Praxiswert verstanden werden als intentionales Werkzeug. Ein Praxiswert funktioniert als konstituierender Wert im Zusammenhang mit Situationen oder Handlungen. Dadurch dass Praxiswerte gegebene Situationen und Handlungen konstituieren, können sie als Eigenschaften derselben beschrieben werden. Als konstituierende Idee verweist dieser (der Praxiswert, meine Anmerkung) zugleich zurück auf Erfahrungsmaterial und eine Wirkungsgeschichte und vorwärts in Zusammenhang mit einer gegebenen Situation oder Handlung.« 83

Freiheit wird so, d. h. als Praxiswert, zu einer großflächigen pädagogischen Zielvorstellung, die aufgrund ihrer konstituierenden Funktion Erziehungssituationen und pädagogische Intentionen großflächig ›abdeckt‹. Freiheit wird zu einem Wert, dem pädagogisch nicht zu entrinnen ist. Wiberg nimmt sich keine normative Problematisierung der moralpädagogischen Anwendung des Begriffes Freiheit vor. Sie will mit dem Begriff Praxiswert deskriptiv erfassen, wie der Begriff Freiheit pädagogisch gebraucht wird. Sie macht zwar einen eigenen, normativen Vorschlag zur inhaltlichen Bestimmung von Freiheit als Praxiswert, formuliert diesen aber nicht in einem expliziten Bezug auf eine Problematisierung moralpädagogischer Zielvorstellung. Auf diese Weise unterscheidet sich Wibergs Ansatz vom Ansatz der vorliegenden Arbeit. Insofern als Wiberg den moralpädagogischen Anspruch nicht problematisiert, sondern die normative inhaltliche Bestimmung von Freiheit unabhängig von den Bedingungen von Bildung oder Erziehung in der Praxis vornimmt, wird ihre Anwendung des Begriffes Praxiswert zu einer Illustration großflächigen Anspruchs. Aus der für diese Arbeit gewählten ethischen Sichtweise erweist sich Wibergs Begriff Praxiswert als Ausdruck eines zu umfassenden und ungenügend hinterfragten pädagogischen Anspruchs. Wiberg will gemäß ihrer Definition Situationen und Handlungen als im Praxiswert konstituiert sehen. Damit zusammenhängend verbindet sich im Praxiswert (als konstitutiv für Situationen und Handlungen) Vergangenheit und Zukunft. Praxiswerte erhalten in einem solchen Gebrauch als richtungweisend für

heit als Praxiswert bestimmt als die Dimensionen »Urteilskraft, Mitsichzurategehen, Intelligenz, Reflexion und Ernsthaftigkeit« umfassend, schlägt sie nämlich dennoch eine integrative Sichtweise von Reflexion und selbständiger Wahl vor. (Wiberg, 2007, 191– 214) 83 Wiberg, 2007, 127 (meine Übersetzung)

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Erziehung eine Großflächigkeit, die den Anspruch an Richtung als stetig impliziert. Oelkers weist in einer Diskussion von Herbart auf die Problematik hin, die bezüglich der Erziehung in der Verbindung zwischen stellvertretender Richtungsbestimmung und einer unvermeidlichen Ausrichtung auf Zukunft entsteht. »(…) Moralität ist zwischen den Lebensaltern von Kindern und Erwachsenen kein Kontinuum, das sich durch Erziehung beherrschen ließe.« 84 Oelkers macht anderenorts auch darauf aufmerksam, dass Moralität sich aus der Sicht der Erwachsenen nicht als beherrschbar darstellen lässt. »Erziehung ist im Anspruch gekoppelt an Moral. Kinder ›erziehen‹ heißt, ihnen Moral zu vermitteln. (…) Die Moral überfordert, es ist allzu menschlich, ihre Ansprüche selektiv zu behandeln. Aber dann wäre Erziehung absurd, sie würde das bestärken, was sich ihr entzieht.« 85

Kleinere und größere Diskrepanzen zwischen Ideal und Wirklichkeit gehören zur alltäglichen moralischen Erfahrung. Auf Erziehung als Anspruch bezogen ist damit aber eine Problematik verbunden, die sich als Ausdruck des Spannungsverhältnisses zwischen der Unstetigkeit von Einflussnahme und der Stetigkeit von Richtung deuten lässt. Es stehen sich ein Anspruch an Richtung als normative Moralität und eine Erfahrung von Unstetigkeit in einem Spannungsverhältnis gegenüber. Dieses Spannungsverhältnis betrifft in Gestalt eines moralischen Unvermögens und einer pädagogischen Unzulänglichkeit die erziehende Person und in Gestalt einer Unerreichbarkeit die zu erziehende Person. Richtung als Anspruch an Verbesserung setzt aber genau das voraus, was hier zu fehlen scheint, nämlich dass sich Moralität durch Erziehung insofern beherrschen ließe, als sie in die gewünschte Richtung geleitet werden könnte. Anhand eines adäquaten Anspruchs zu erziehen hieße unter Berücksichtigung der Überlegungen oben, einen Anspruch an Verbesserung nicht aufzugeben, ihn aber im Bewusstsein moralischen Unvermögens und pädagogischer Unzulänglichkeit sowie der Unerreichbarkeit der zu erziehenden Person zu artikulieren. Gemäß einer solchen Sichtweise stellt sich der Anspruch an Richtung als mit Risiken verbunden dar. Ein adäquater Anspruch an Verbesserung kommt als riskante Richtung zum Ausdruck. Riskant ist der Anspruch 84 85

Oelkers, 2001, 109 Oelkers, 2001, 189; siehe auch Oelkers, 2005

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insofern, als er im Bewusstsein dieser Aspekte von Unstetigkeit an einer Zielvorstellung festhält, die angesichts faktisch erlebter Moralität als teilweise illusionär oder zumindest kontrafaktisch gelten muss. Riskant ist Richtung als Anspruch an Verbesserung auch, weil Erziehung, wie Oelkers festhält, durch ein zeitliches Paradox charakterisiert ist: »Zeit aber paradoxiert Erziehung, weil Erziehung als Prozess, Bewegung in der Zeit, vorgestellt werden muss, ohne die Eigenmacht der Zeit in der Bewegung in Rechnung stellen zu können. Erziehung ist Bewegung letztlich ohne Zeit; anders wäre es nicht möglich, sie auf Ziele zu beziehen, die außerstande sind, die Zeit zu kalkulieren, welche für ihr Erreichen notwendig wäre. Aber Gerechtigkeit, Glück, Charakter, Identität, Mündigkeit oder Moral sind zeitimmune Größen, die auf Erziehung bezogen werden, ohne dass die Verknüpfung klar wäre. Es sind einfach geduldige Ziele.« 86

Was Erziehung paradoxiert, ist also ein widersprüchliches Verhältnis zwischen moralpädagogischen Zielvorstellungen und der Einflussnahme als Praxis in einer zeitlichen Dimension. Einerseits braucht Erziehung als Einflussnahme Zeit. Andererseits kann Erziehung als Anspruch an Richtung Verbesserung nicht auf quantitative Angaben zur ›benötigten‹ zeitlichen Dauer beziehen. Es können bei großflächigen Zielvorstellungen, die Oelkers als »zeitimmune Größen« und »geduldige Ziele« bezeichnet, keine zeitlichen Angaben gemacht werden. Ein Spannungsverhältnis zwischen Erziehung als unsteter Einflussnahme in der Praxis und Erziehung als Anspruch an Richtung, die insofern stetig ist als sie ein Anspruch an Verbesserung sein muss, kommt also auch in einem zeitlichen Paradox zum Ausdruck. Mit der Schwierigkeit, im Zusammenhang mit Erziehung von zeitlich bedingter Stetigkeit zu sprechen, hängt auch der Umstand zusammen, dass Einflussnahme auch kausal unstetig erscheint. Moralpädagogische Einflussnahme kausal aufzuzeichnen ist darum mit Schwierigkeiten verbunden, weil Erziehungswirkung immer ungewiss ist. Bei Zirfas, der Erziehung im Zusammenhang mit einer »heuristischen Anthropologie« betrachten will, wird Erziehung zur »Bestimmung von Unbestimmtheit«. 87 Damit ist angedeutet, dass mit ErzieOelkers, 2001, 226 Zirfas, 2004, 38. Zirfas betont die Unbestimmbarkeit des Menschen anthropologisch. Mit seiner »heuristischen pädagogischen Anthropologie« will er statt »die Frage nach dem Menschen« zu stellen, sich darauf beschränken, »strukturelle anthropologische

86 87

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hungswirkung nur insofern zu rechnen ist, als sie in einem Raum unüberschaubarer Variablen wirkt und somit der Mensch letztlich als unbestimmbar erscheint. Winkler hingegen spricht von Erziehung als situiert in »unbestimmter Bestimmtheit«. Diese sei zusammengesetzt aus »natürlichen und kulturellen Bestimmungen«. Hier wird Erziehungswirkung als Herausbildung eines Bewusstseins beschrieben, welches den Umgang mit diesen Bestimmungen insofern gelernt hat, als es sich in Differenz zu ihnen selbstbestimmen kann. 88 Erziehung als inbegriffen in eine Spannung zwischen Gewolltem und Nicht-Verfügbarem beschreibt Oelkers wie folgt: »Menschen sind nicht das, was Erziehung aus ihnen machen will, wie immer glücklich oder schädlich die Erziehungserfahrungen beschaffen sein mögen. Vielmehr ist Erziehung ein mehr oder weniger berechtigter Versuch, der sich in Teilprojekten oder Episoden konkretisiert, ohne auf eine grundlegende ›Ursache‹ oder ›Kraft‹ zurückzuverweisen. Ein solcher alternativer Zugang stellt die übliche Kausalannahme ›Erziehung‹ infrage und dekonstruiert das Assoziationsfeld (…), ohne es ein zweites Mal erfinden zu können. Was vermieden wird, ist doktrinäre Selbstsicherheit und so eine eminente Theorieschwäche.« 89

Oelkers schlägt vor, Erziehung als »Ereignisatome« zu betrachten und von »partikularen Verhältnissen auszugehen, die Auftragsrevisionen erlauben«. 90 Wenn »Aufträge« oder Zielvorstellungen, revidiert werden, bedeutet das, dass auf Stetigkeit als Versprechen oder als Anspruch verzichtet wird. Oelkers schlägt drei Bedingungen oder Kriterien für einen legitimen Umgang mit dieser Spannung zwischen dem, was hier als Anspruch an Richtung und als Praxis intendierter Einflussnahme Dimensionen auf pädagogische Sachverhalte zu beziehen«. Er identifiziert zu diesem Zwecke, d. h. um »den Menschen zu thematisieren« eine Anzahl »bestimmte(r) Aspekte«, die für den Menschen charakteristisch sind. Dazu gehören »Liminalität, Korporalität, Kulturalität, Sozialität und Subjektivität«. Diese Dimensionen sind für Zirfas eine Art loser Rahmenbedingungen, innerhalb welcher dann auf heuristische Weise und mit Rücksichtsnahme auf die Historizität sowohl des anthropologischen Zugriffes wie auch seines Gegenstandes, der Mensch charakterisiert werden kann. (Zirfas, 2004, 34–37) Es ist fraglich, inwiefern Zirfas bei der Bestimmung der anthropologischen Dimensionen tatsächlich einen Ansatz präsentiert, der der Unbestimmtheit und der Geschichtlichkeit des Menschen gerecht werden kann. Denn seine Bestimmung ist auch als offene Bestimmung eine Festlegung auf Eigenschaften, die ›über‹ der Historizität des Menschen zu stehen scheint. 88 Winkler, 2006, 69 89 Oelkers, 2001, 266 90 Oelkers, 2001, 86, 264

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bezeichnet worden ist, vor: Größtmögliche Transparenz der Entscheidungen, ein Verständnis von Erziehung vom Problemfluss her und Anerkennung der partikularen Zuständigkeit von Erziehung. 91 Während das erste Kriterium der Transparenz am ehesten mit der im vorhergehenden Abschnitt vorgeschlagenen dialektischen Asymmetrie in Verbindung gebracht werden kann, sind die beiden anderen Kriterien von Oelkers in der Terminologie dieser Arbeit auf den Anspruch der Richtung bezogen. Wenn Erziehung vom Problemfluss her verstanden wird, muss eine gewisse Unstetigkeit das Resultat sein. Anstatt eines Verständnisses von Erziehung, welches Richtung von einer großflächigen Zielvorstellung her als stetige Bewegung auf das Ziel hin beansprucht, geht es um unvorhersehbare Ereignisse, die Richtungsänderungen oder Modifikationen als Ausdruck von Unstetigkeit berücksichtigen müssten. Die Anerkennung des partikularen Bezugs von Erziehungssituationen hängt schließlich eng damit zusammen. Wenn Richtung als unstetig beansprucht wird, dann wird dabei vorausgesetzt, dass moralpädagogische Einflussnahme von teilweise unüberschaubaren und unkontrollierbaren Dynamiken geprägt ist. Im Anschluss an Luhmanns »Ausgangsverständnis« von Erziehung, welches er an den Anfang seiner Reflexionen stellt, kann Einflussnahme als Aspekt von Erziehung als Bemühung beschrieben werden. Erziehung, so Luhmann, ist »eine intentionale Tätigkeit, die sich darum bemüht, Fähigkeiten von Menschen zu entwickeln und in ihrer sozialen Anschlussfähigkeit zu fördern«. 92 Winkler verwendet neben dem Begriff »Bemühen« auch den Begriff »Bekümmern«. Er versucht damit, eine moralpädagogische Intentionalität zu etikettieren, die sich – wiederum auf die Terminologie dieser Arbeit übertragen – zwar auf einen normativen Anspruch an Richtung einlässt, diesen aber nicht als stete Richtung beansprucht. »Darin liegt der Ernst der Erziehung: Es muss begriffen werden, dass es weder darum geht, Naturprozesse voranschreiten zu lassen, noch Sozialisation zu vollstrecken. Pädagogik hat mit einer Differenz zu tun, die auch daraus entsteht, dass Wertfragen bekümmern und der zuweilen vergeblich erscheinende Versuch unternommen wird, sich um eine gute Kultur des Aufwachsens kollektiv wie individuell zu bemühen.« 93

91 92 93

Oelkers, 2001, 278–279 Luhmann, 2002, 15 Winkler, 2006, 20–21 (meine Kursivierung)

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Wenn moralpädagogische Intentionalität als »Bekümmern« und »Bemühen« gefasst wird, lässt sich darin Richtung als deutlich normativer Anspruch im Sinne eines Willens zu Verbesserung verorten. »Bekümmern« setzt voraus, dass eine Bezugnahme zweier oder mehrerer Blickwinkel aufeinander stattfindet. Wenn die erziehende Person sich bekümmert, dann macht sie das ausgehend von ihrem Blickwinkel, ihrer Geschichtlichkeit und Kontextualität, d. h. ausgehend von ihren Wertungen. Die normativen Referenzpunkte entstehen im reagierenden und zugleich visionären Vergleich von Anforderung und Kompetenz und in einer erlebten Diskrepanz zwischen Status quo und Ideal. Bekümmern als ›Sorge‹ drückt zusätzlich eine Tendenz zu persönlichem Engagement für eine andere Person aus. Zugleich ist mit den Begriffen »Bekümmern« und »Bemühen« ausgedrückt, dass es sich um einen Anspruch ohne Wirkungsversprechen handelt. Die beiden Begriffe »Bekümmern« und »Bemühen« lassen sich – innerhalb meiner Terminologie – ebenfalls als Ausdruck eines Versuchs verstehen, das Spannungsverhältnis zwischen der Großflächigkeit von Zielvorstellungen (einhergehend mit dem Anspruch an Richtung als stetig) und Erziehung als Praxis unsteter Einflussnahme zu erfassen. Wenn ein Anspruch an Richtung bezüglich der Erziehung als »Bekümmern« und »Bemühen« gedeutet wird, wird die Großflächigkeit normativer Zielvorstellungen beibehalten. Richtung ist als »Bekümmern« responsiv und visionär, als »Bemühen« jedoch zugleich auf Unstetigkeit bezüglich intendierter Einflussnahme eingestellt. Als adäquater Anspruch an Richtung bietet sich riskante Richtung an. Erziehung mit einem Anspruch riskanter Richtung ist davon gekennzeichnet, dass sie sich einerseits durch die Unstetigkeit möglicher Einflussnahme nicht beirren lässt. Andererseits wird riskante Richtung nur mit dem Vorbehalt, dass Erziehung ungewiss sein muss, beansprucht.

3.3.2 Richtung als intersubjektive Bemühung mit Risiko Ein Anspruch riskanter Richtung müsste unter Beibehaltung eines Anspruchs an Verbesserung die Unstetigkeit intendierter Einflussnahme in die Stetigkeit des Anspruchs integrieren. Dies kann sie, wenn Erziehung als grundlegend intersubjektiv betrachtet wird. Unter Beizug von Meyer-Drawes Bestimmung von Erziehung in Intersubjektivität soll eine Integration der Unstetigkeit in den steten Anspruch an Richtung 169 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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skizziert werden. Damit wird aber Richtung als adäquater Anspruch riskant. Riskante Richtung bezieht sich auf den Umstand eines Spannungsverhältnisses zwischen unsteter Einflussnahme als Erziehungspraxis und Stetigkeit in Erziehung als Anspruch. Der Anspruch an Richtung ist dabei insofern stetig, als er – um seiner Glaubwürdigkeit willen im Sinne eines legitimen Bezugs auf eine Zielvorstellung – eine Vorstellung der Verbesserung umfassen muss. Im Anspruch ist Richtung, so die These hier, zwar Verbesserung, dies aber nur unter Berücksichtigung intendierter Einflussnahme als unstetig und zeitlich und kausal nicht verfügbar. 94 In der Folge solcher zeitlich und kausal bedingter Unstetigkeit intendierter Einflussnahme muss Richtung immer wieder neu definiert und geändert werden können. Diese Flexibilität des Anspruchs an Richtung soll hier anhand einer intersubjektiven Bestimmung von Erziehung veranschaulicht werden. In der Erziehungssituation ist gemäß einer intersubjektiven Sichtweise die erziehende Person von der zu erziehenden Person abhängig. Wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen, bedeutet eine intersubjektive Sichtweise hier für die Aufgabe der Bestimmung eines adäquaten Anspruchs in Bezug auf Richtung, dass Erziehung als intendierte Einflussnahme nicht ausschließlich von der Perspektive der erziehenden Person her betrachtet werden kann. Vielmehr entsteht die Einflussnahme und der damit verbundene Anspruch an Verbesserung ›zwischen‹ der erziehenden und der zu erziehenden Person, d. h. aus der Beziehung heraus, die die beiden zueinander haben und in welcher sie beide als Subjekte konstituiert sind. Innerhalb der Erziehungssituation findet Moralentwicklung nicht einseitig bei der zu erziehenden Person, sondern auch bei der erziehenden Person statt. 95 Es drängt sich eine Betrachtungsweise auf, welche darum bemüht ist, der gegenseitigen Einflussnahme von erziehenden

Winkler spricht von einem prinzipiellen Risiko als kennzeichnend für Erziehung als Praxis. Er begründet dies, indem er Erziehung »ein Spiel mit Möglichkeiten« nennt. (Winkler, 2006, 160) In dieser Arbeit ist Risiko jedoch darüber hinaus im Verhältnis zwischen Praxis und Anspruch begründet. Damit knüpft der Gebrauch des Begriffes Risiko in dieser Arbeit an Winklers Feststellung an, erweitert und vertieft sie aber zugleich. Es geht somit nicht nur um ein pädagogisches Risiko ausbleibender oder von Intentionen abweichender Wirkung. Vielmehr geht es hier aufgrund der ethischen Perspektive um Risiko als mit einem Legitimitätsproblem verknüpft. 95 Siehe beispielsweise Oerter & Montada, 2002, 627. 94

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und zu erziehenden Personen in der Erziehungssituation gerecht zu werden. Kinder sind dabei aktiv an der »Konstruktion, Perpetuation und Transformation ihrer sozialen Welt« beteiligt. Sie sind »Produzenten sozialer Prozesse wie auch Produkte«. 96 Erziehung ist in Entsprechung mit der in dieser Arbeit vorgenommenen Unterscheidung zwischen Erziehung als Praxis und Erziehung als Anspruch in zweifacher Weise intersubjektiv: bezüglich intendierter Einflussnahme als in Intersubjektivität konstituierter Praxis und bezüglich des in Intersubjektivität artikulierten Anspruchs. Ein Risiko besteht gemäß Oelkers darin, dass »die Realität der Erziehung als sequentielles Handeln erscheint, das (…) unmöglich bereits am Anfang vollständig determiniert sein kann. So kann »Erziehung immer nur als riskante Fortsetzung des einmal Erreichten verstanden werden.« 97 Wenn Erziehung als »riskante Fortsetzung des einmal Erreichten« vorgestellt wird, ist ihre Möglichkeit zu bestimmter Wirksamkeit beträchtlich eingeschränkt. Die Sichtweise Meyer-Drawes verdeutlicht dies durch die Annahme einer grundlegend prägenden Intersubjektivität, die in der Erziehungssituation gegenseitige Abhängigkeiten zwischen erziehender und zu erziehender Person schafft. In ihrer Sichtweise argumentiert Meyer-Drawe dafür, »Intersubjektivität als konstituierende Kategorie pädagogischen Denkens und Handelns« anzunehmen. 98 Sie verweist anhand einer Analyse phänomenologischer Sichtweisen zu Intersubjektivität (vor allem jener Merleau-Pontys) auf ein Verständnis individueller Identität als »immer schon durchwoben von sozialen Strukturen« und »immer bereits intentional strukturiert«. 99 Dies deutet sie im Licht einer die menschliche Existenz grundlegend prägenden Leiblichkeit, in der auch die Intersubjektivität derselben begründet ist: »Dadurch dass wir als leibliche Wesen zugleich sichtbar und sehend, wahrnehmbar und wahrnehmend sind (…), wird die primordiale Sphäre des ego gleichursprünglich mit der primordialen Sphäre des tu. Damit ist aber die absolute Eigenheit oder Eigentlichkeit relativiert und die Fremdheit ontologisch aufgewertet.« 100

Montandon, 2001, 56, 64 Oelkers, 2001, 227 98 Meyer-Drawe, 1987, 215 99 Meyer-Drawe, 1987, 156 100 Meyer-Drawe, 1987, 156 96 97

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Es geht Meyer-Drawe mit dem Begriff Leiblichkeit darum, auf eine intersubjektiv bedingte Existenz zu verweisen. Damit stellt sie sich auf die Seite Merleau-Pontys in dessen Kritik an der Sichtweise Piagets zur Entwicklung von Sozialität beim Kind. Eine Sichtweise des Kindes als anfänglich egozentrisch und dann nach und nach mehr auf andere bezogen und sozialisiert wird verworfen. An ihrer Stelle wird eine ›von Anfang an‹ grundlegende Kollektivität, die anfänglich als »anonyme Kollektivität« oder als »präpersonale Intersubjektivität« verstanden wird und innerhalb welcher sich dann anhand einer »Differenzierung von Individuen« ein Verständnis für die eigene und andere Person herausbilden, vorgeschlagen. 101 Ein wesentlicher Unterschied zu Piaget liegt dabei in der Betrachtungsweise der Sozialität oder Kollektivität als für menschliche Existenz grundlegend. Entwicklung geschieht gemäß Meyer-Drawe (im Anschluss an Merleau-Ponty) nicht ›hin zu‹, sondern innerhalb sozialer Identität. Es geht dabei nicht nur um die Entwicklung, sondern auch um die kontinuierliche Konstitution des Ich in einer unausweichlichen Intersubjektivität. Eine ähnliche Sichtweise von Erziehung als in soziale Zusammenhänge integriert vertritt Winkler, der Erziehung als in gegenseitiger Kooperation wirksam beschreibt. Er betont, es gehe bei Erziehung nur insofern um Individualität, als es sich um »eine soziale Konfiguration von Individualität« handle. Er schreibt: »Pädagogisches Handeln bezieht sich auf Kontexte von Kontexten, auf Rahmungen von Kooperationen, in welchen dann Subjekte figuriert sind. Deshalb lassen sich Kinder nicht unmittelbar beeinflussen. Sie sind in ihrer Gebundenheit zu beeinflussen (…). Kontextuell organisierte, schon vermittelte Subjekte eignen Welt an, die durch Erziehung zugänglich wird.« 102

Winkler macht somit den wichtigen Hinweis, dass sich in der Erziehungssituation nicht Individuen gegenüberstehen und dass Erziehung als Einflussnahme nicht nur einseitig auf das von Kontextualität losgelöste Kind bezogen ist. Es kann in diesem Sinne mit dem Anspruch an Richtung keine Unmittelbarkeit beansprucht werden. Wenn Intersub101 Meyer-Drawe, 1987, 164, 175, 179. Einer der wesentlichen Kritikpunkte an Piaget ist, dass bei ihm die »Genese von Sozialität« zwar von der »Entwicklung der Intelligenz« unterschieden wird, dass die beiden aber dennoch zusammenfallen, indem die Entwicklung gemäß Piagets Sichtweise auf »dezentrierte Rationalität und formale Reversibilität« hinstrebt. (Meyer-Drawe, 1987, 170) 102 Winkler, 2006, 150 (meine Kursivierung)

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jektivität als konstituierend für Individuen und für die Erziehungssituation angenommen wird, dann sollte sich das auf einen adäquaten Anspruch als Berücksichtigung darin gründender Unverfügbarkeit auswirken. Intersubjektivität als Erziehung prägend bedeutet, dass Einflussnahme nicht einseitig geschieht. Die erziehende Person ist bezüglich ihrer Intention und ihrer Handlung von der Interaktion beeinflusst. Meyer-Drawe beschreibt aus einer intersubjektiven Perspektive Erziehung im Zusammenhang mit einer Bedingung von Rationalität als gegenseitige Auseinandersetzung Lehrender miteinander. »Rationalität der Erfahrung, das besagt zusammenfassend, dass wir in pädagogischen Prozessen nicht extern eine bestimmte Wissensmöglichkeit an aus dieser Sicht Unwissende herantragen, sondern dass wir uns als Lehrende auseinanderzusetzen haben mit einer uns z. T. fremd gewordenen Gestalt von Rationalität, die wir durch unsere historisch bedingten Denkgewohnheiten vergessen haben.« 103

Eine solche Sichtweise ist ein Verweis darauf, dass Erziehung nicht einseitig gestaltet wird, dass sie nicht als ein einseitig von der erziehenden Person initiierten und kontrollierten Prozess betrachtet werden kann. Vielmehr geht es in der Erziehungssituation um die Begegnung zweier oder mehrerer Subjekte, wobei die Intention der erziehenden Person nicht unabhängig von der in dieser Begegnung entstehenden Intersubjektivität zu denken ist. Für die Normativität von Erziehung, d. h. für die hier gestellte Frage nach Richtung als Anspruch an Verbesserung, fragt sich, wie ein intersubjektives Verständnis von Erziehung als Praxis intendierter Einflussnahme sich in der Bestimmung und Begründung von Richtung als adäquatem Anspruch abbilden soll. MeyerDrawe deutet den Umstand der Intersubjektivität als Forderung, im Zusammenhang mit Erziehungsstilen von Versuchen zu Letztbegründungen abzusehen. »Handlungsverbindlichkeiten müssen der durch die persönliche Erfahrungsgeschichte und die gemeinsamen Kontexte konstituierten Praxis abgerungen werden. Sie zeigen sich weder als Ziele eines selbsttransparenten Wissens noch als Forderungen einer Sache. (…) Nicht sind schon demokratische oder laissezfaire Stile von sich aus die humaneren im Vergleich etwa zu den autoritären Weisen des Unterrichts. Sie haben sich als Strukturierungsform auch in Bezug

103

Meyer-Drawe, 1987, 242–243

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Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

auf ihre Folgen und in Bezug auf ihre Grenzen zu bewähren und ihre Verbindlichkeit zu erweisen.« 104

Meyer-Drawe bezieht sich hier in erster Linie auf das, was sie als »Stile« bezeichnet. Ihre beiden Beispiele sind vor allem ein Verweis auf didaktische Stile, wie sie in der vorliegenden Arbeit nicht näher behandelt werden. In enger Verbindung damit steht jedoch die Normativität von Erziehung, die, sich auf Zielvorstellungen beziehend, als Anspruch der Erziehung artikuliert. Im Rahmen dieser Arbeit wird diesbezüglich ein kohärenzorientiertes Begründungmuster vorgeschlagen und angewandt. Dieses macht in Entsprechung mit Meyer-Drawes Überlegung zur Begründung von Erziehungsstilen die Begründung der Normativität von den Bedingungen erfahrener Erziehungspraxis abhängig. Wenn die Erziehungssituation intersubjektiv bedingt zu verstehen ist und sich daraus Ungewissheit und eine grundlegende Unverfügbarkeit der Situation durch die erziehende Person ergeben, dann müsste sich deren intendierte Einflussnahme als Bemühung um Verbesserung auf adäquate Weise als Anspruch riskanter Richtung ausdrücken. Die Unstetigkeit intendierter Einflussnahme veranlasst damit eine Absage an einen Anspruch an Richtung in Verbindung mit Stetigkeit. Unstetigkeit erscheint im Zusammenhang mit Erziehung darum als Risiko, weil es sich um einen Kontrast zwischen ›gut gemeinten‹ Absichten und ungewisser Wirkung handelt. Mit Meyer-Drawe kann die Unstetigkeit der Einflussnahme als durch Leiblichkeit und Intersubjektivität als grundlegend konstitutiv für Erziehungssituationen begründet gedeutet werden. Moralpädagogische Intentionen und Handlungen einer erziehenden Person gegenüber einer zu erziehenden Person sind somit abhängig von der sich in Intersubjektivität konstituierenden Situation und von der Interaktion, die darin stattfindet. Richtung als Anspruch ist dementsprechend immer auch als Reaktion zu verstehen. Erziehende Personen artikulieren einen Anspruch an Richtung, indem sie initiieren und parieren. Richtung als adäquater Anspruch an Verbesserung stellt sich in der Folge als riskant dar. Das Risiko entsteht im Kontrast zwischen dem steten Anspruch von Richtung als Verbesserung und der Unstetigkeit der Einflussnahme. In Bezug auf Erziehung mit einer Zielvorstellung Autonomie tritt die Unstetigkeit der Einflussnahme deutlich hervor, was als adäquaten

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Verbessern wollen – Richtung

Anspruch riskante Richtung nahe legt. Meyer-Drawe vertritt die Ansicht, dass die Vorstellung von Erziehung als primär auf die Herausbildung eines Individuums ausgerichtet eine »Überschätzung des Individuums« bewirke. Umgekehrt, so Meyer-Drawe, bedienten sich Sichtweisen von Erziehung, welche kollektive Prozesse als zentral betrachten, einer einseitigen Betonung der »Determinierung durch kollektive Institutionen« und führten zu einer Beschwörung »ungreifbare(r) kollektive(r) Mächte«. 105 Die intersubjektive Sichtweise, die Meyer-Drawe sich auf Merleau-Ponty beziehend vorschlägt, betrachtet Intersubjektivität als existentiell primär und unhintergehbar. Pädagogisch folgert sie: »Sozialer Sinn entwickelt sich in dieser Perspektive nicht erst nachträglich aus der Selbstbezüglichkeit eines nur seiner Selbst sicheren Bewusstseins, sondern er ist fundierender Modus unserer Existenz. Diese Beschreibung darf nun nicht dahingehend missverstanden werden, als gelte es wie in kollektivistischen Überfremdungen nun doch, das Ich zu eskamotieren. Das Ich ist hingegen neu zu begreifen, nämlich als non-egologisches, d. h. als eine Weise konkreter InterSubjektivität, als situiertes Ich, das in gewisser Weise immer schon vom Anderen ›enteignet‹ ist.« 106

Ein Spannungsverhältnis zwischen individueller Identität und Bezogensein auf Andere charakterisiert demgemäß menschliche Existenz – sowohl in der Erfahrung des Kindes wie in der Erfahrung des Erwachsenen. Meyer-Drawe betont, dass es bei der Herausbildung individueller Identität als Differenzierung nicht um einen zu vollendenden Prozess mit einem eindeutig erreichbaren Ziel gehe, sondern dass die Spannung bestehe: »Ebenso wie die eigene Identität nicht vollständig authentisch wird, weil ich mich ständig auch ›in den Augen des Anderen‹ erfahre, wird die Intersubjektivität die Andersheit des Anderen nicht aufheben.« 107 Es geht ausgehend von einer solchen Sichtweise bei Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie nicht unbedingt um Erziehung ›hin zu‹ zunehmend mehr Individualität und Autonomie. In der Argumentation dieser Arbeit stellt sich aufgrund des kohärenzorientierten Begründungsmusters Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie nicht so sehr als Erziehung zu Autonomie dar. Denn Erziehung mit Zielvorstellung 105 106 107

Meyer-Drawe, 1987, 15 Meyer-Drawe, 1987, 16 Meyer-Drawe, 1987, 191

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Asymmetrie, Richtung und Risiko – Erziehung aus ethischer Sicht

Autonomie erscheint aufgrund ihrer intersubjektiven Beschaffenheit nicht als eindeutiger oder linearer Prozess im Sinne einer kontinuierlichen Annäherung an Autonomie. Ein adäquater Anspruch an riskante Richtung bedingt demzufolge auch einen Fokus auf die Bedingungen und die Normativität in der Erziehungssituation. Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie wird dann auch zu Erziehung in Autonomie. In diesem Kapitel wurden anhand einer Problematisierung der Normativität von Erziehung die Ansprüche Asymmetrie und Richtung diskutiert und als adäquate Ansprüche bestimmt. Vorgeschlagen wurde mit Bezug auf Autonomie als Zielvorstellung, den Anspruch an Asymmetrie als dialektisch und den Anspruch an Richtung als riskant zu bestimmen. Dabei ist auch die These vertreten worden, dass Autonomie rein quantitativ ein unzulänglicher Parameter von Einflussnahme und Richtung ist. Die beiden ›klassischen‹ Vorstellungen, die Autonomie zu einem eindeutigen Parameter von Erziehung machen, werden damit unzulänglich: die Vorstellung, Erziehung führe aus dem Status totaler Dependenz des abhängigen und unselbständigen Kleinkindes zum autonomen Status des Erwachsenen einerseits und die Vorstellung, Erziehung führe von unbegrenzter Selbstbestimmung im Sinne kindlicher Egozentrizität zu sozialisierter Gesellschaftsfähigkeit andererseits. Als alternative Sichtweise wurde ein intersubjektives Verständnis von Erziehung vorgeschlagen. In den folgenden Kapiteln wird – als dritter Schritt eines kohärenzorientierten Begründungsmusters – zu erörtern sein, wie sich die Berücksichtigung eines Verständnisses von Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie als intersubjektives Geschehen sowie ein Bezug auf die als adäquat bestimmten Ansprüche dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung auf das Verständnis von Autonomie auswirken sollen.

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4 Autonomie in Interaktion

4.1 Autonomie in Dependenz Im vorhergehenden Kapitel wurde Erziehung im Rahmen einer ethischen Perspektive als Anspruch besprochen. Eine evaluierende Diskussion zu adäquaten Ansprüchen hat eine Identifizierung der Ansprüche dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung ergeben. Diese sollen nun, verstanden als Anhaltspunkte zu einem Funktionskriterium, in der folgenden Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte (Kapitel 4–6) angewandt werden zur Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung – oder als Wert in Funktion. Dies bedingt eine eingehende und kritische Besprechung moralphilosophischer Bestimmungen der jeweiligen Autonomiekonzepte, welche sodann in Abstimmung mit den Prämissen moralpädagogischen Anspruchs beurteilt werden. Somit stellt dieser Kapitelanfang den Übergang in den dritten Schritt innerhalb des (im Einleitungskapitel beschriebenen und im zweiten Kapitel begründeten) kohärenzorientierten Begründungsmusters dar. Er besteht, anders ausgedrückt, aus der Untersuchung verschiedener Autonomiekonzepte auf strukturelle Ähnlichkeiten mit den Strukturen der als adäquat identifizierten Ansprüche von Erziehung. Im Einleitungskapitel wurde auf die These einer grundlegenden Inadäquanz und Disfunktionalität eines Verständnisses von Autonomie als Gegensatz zu Heteronomie oder Dependenz für einen spätmodernen Zusammenhang verwiesen. Diese These soll anhand der folgenden Besprechungen verschiedener Autonomiekonzepte vertiefend bearbeitet werden. Im Zentrum der Besprechung der Autonomiekonzepte steht darum die Frage nach verschiedenen Aspekten von Dependenz als in das Verständnis von Autonomie integriert. Dabei wird durch die Bestimmung von Autonomie auch die jeweilige Bedeutung von Dependenz zu erläutern sein. Jedes der folgenden drei Kapitel ist 177 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Autonomie in Interaktion

einem anderen Aspekt von Dependenz gewidmet. Die vorgenommene Einteilung der Autonomiekonzepte reflektiert also einen gemeinsamen Bezug der jeweiligen Autonomiekonzepte auf je verschiedene Aspekte von Dependenz. Es wird dabei kein Anspruch erschöpfender Systematik hinsichtlich der Darstellung von Dependenz erhoben. Die zugrunde liegenden Unterscheidungen sollen überdies nicht als einander ausschließend verstanden werden. Die Berührungspunkte sind vielfältig und es geht deshalb vielmehr darum, durch die gewählte Einteilung in verschiedene Aspekte von Dependenz die jeweiligen Implikationen einer Integration derselben in ein Verständnis von Autonomie zu beleuchten. Dependenz wird demgemäß behandelt als durch Interaktion bedingt (Kapitel 4), als Relationalität (Kapitel 5) und als zeitliche Abhängigkeit (Kapitel 6). Die hier folgende Besprechung hebt Autonomiekonzepte hervor, in welchen Autonomie bestimmt und begründet ist in einem Verständnis von der Art und Weise, wie Menschen – als ethische Subjekte – miteinander interagieren. Autonomie wird in dieser Arbeit im Rahmen eines ethischen und moralpädagogischen Interesses behandelt. Das bedeutet, dass auf Fragen betreffend zwischenmenschlicher Beziehungen, und insbesondere auf die Implikationen für asymmetrische Beziehungen, fokussiert wird. Meine Perspektive ist dabei geprägt von einem normativen Interesse. Dies drückt sich in der Arbeit auf zwei Arten aus. Erstens stehen die normativen Aspekte von Erziehung, so wie es in Kapitel 3 als Erziehung als Anspruch definiert wurde, im Vordergrund. Zweitens mündet die Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte in normative Aussagen zu adäquaten Verständnissen von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung. Ausgehend von der Diskussion einer Auswahl verschiedener Konzepte und Verständnisse soll also, was nun folgt, als Beitrag zu einer konstruktiven Diskussion zum Verständnis von Autonomie verstanden werden. Allerdings soll dabei nicht ein Konzept von Autonomie angestrebt werden. Vielmehr wird, ausgehend von einer Vielfalt funktionaler Bedingungen, eine Vielfalt von Aspekten verschiedener Autonomiekonzepte als funktional adäquat und somit attraktiv hervorgehoben. Die folgende Besprechung von Autonomie in Interaktion soll mit Bezug auf gegenwärtige Diskussionen in Schulen und Medien zur Verwendung verschiedener Technologien zur Überwachung von Kindern und Jugendlichen durchgeführt werden. Zwei Tendenzen sind in der gegenwärtigen Situation auszumachen: Einerseits scheint Erziehungs178 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Autonomie in Dependenz

zeit in Folge hoher Anforderungen des Arbeitsmarktes sowie ständig wachsender Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche zu schrumpfen. Eltern und Kinder verbringen immer weniger Zeit zusammen. 1 Andererseits, und damit wahrscheinlich zusammenhängend, scheinen Eltern und Schulen ein zunehmendes Bedürfnis zu haben, Kinder und Jugendliche zu ›überwachen‹. Der Rückgriff auf verschiedene moderne Technologien zum Zweck, Kinder und Jugendliche kontrollieren zu können, scheint bei Eltern und Schulpersonal eine relativ breite Akzeptanz zu finden. Die Installation von Überwachungskameras in Schulen ist in den letzten Jahren vielerorts von Behörden bewilligt und als notwendig erachtet worden, 2 nicht nur zur Verhinderung von Vandalismus, sondern auch zur Vorbeugung von Gewalt an oder unter Schülern. 3 Eine erneute Beurteilung der Situation von Schulen in Schweden durch die Behörde für Datenschutz hatte kürzlich zur Folge, dass viele der installierten Kameras in Schulräumen als illegal befunden und in der Folge wieder abmontiert wurden. 4 Ein weiteres Beispiel der Anwendung von Überwachungstechnologie ist das Angebot von Schulen, Eltern einen so genannten ›Schwänz-Alarm‹ per SMS zu senden, sobald ihr Kind abwesend ist. 5 Vor kurzem haben Gymnasien in Göteborg begonnen, Eltern solche ›Schwänz-SMS‹ anzubieten. Eine schnelIn einer Präsentation verschiedener Elternausbildungen, zusammengestellt vom schwedischen Amt für Volksgesundheit, wird deutlich, dass mangelnde gemeinsame Zeit und Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Eltern und ihren Kindern eine grundlegende Problematik ist. Mehrere der angebotenen Kurse für Eltern sind fokussiert darauf, nicht nur gemeinsame Zeit sinnvoll zu gestalten, sondern auch solche Zeit erstmals zu schaffen. Mehrere Kurse betonen den Eltern gegenüber die Bedeutung des Umganges mit den Kindern. Siehe På rätt kurs! Metoder för föräldrastöd från förskolan till tonåren. (http://www.ab.lst.se. Zugriff am 28. April 2009) 2 Siehe zum Beispiel Diskussionen im Gemeinderat in Mannheim, wo im Herbst 2008 von 95 öffentlichen Schulen 17 Videoüberwachung hatten. (http://www.stuttgarter-zei tung.de. Zugriff am 9. Oktober 2008) Ähnliche Diskussionen fanden in Lüneburg und Düsseldorf statt. (http://www.welt.de und http://www.rp-online.de. Zugriff am 9. Oktober 2008) 3 Die Form ›Schüler‹ in der Mehrzahl wird in dieser Arbeit gebraucht als beide Geschlechter umfassend. Der Einfachheit halber werden auch in der Einzahl, selbst wenn beide Geschlechter gemeint sind, nicht doppelte Formen (Schüler und Schülerin) verwendet, sondern es wird jeweils nur die maskuline Form gebraucht. 4 http://www.sydsvenskan.se. (Zugriff am 2. Oktober 2008) Ein Beamter der Inspektionsbehörde stellte fest, dass das Niveau der Überwachung vieler Schulen an ›anderen Arbeitsplätzen‹ kaum als akzeptabel betrachtet würde. 5 http://www.kinderpressedienst.de, http://www.schulinfosms.de. (Zugriff am 9. Oktober 2008) 1

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Autonomie in Interaktion

le Kommunikation zwischen Schule und Eltern soll zur Lösung des in den letzten Jahren gemäß schuleigener Statistik stark ansteigenden Problems schwänzender Schüler führen. Die Lehrer registrieren die Anwesenheit in ihren Lektionen jeweils elektronisch, worauf im Fall von Abwesenheit eines Schülers den Eltern automatisch eine SMS zugesandt wird. 6 Es stellt sich nicht nur die ethische Frage nach der Berechtigung der Anwendung solcher technologischer Überwachung, sondern auch die pädagogische Frage, inwiefern die Verwendung von Überwachungstechnologie gegenüber Kindern und Jugendlichen als legitimer Aspekt ihrer Erziehung zu betrachten sei. Welche Bedeutung fällt solcher Überwachung in Bezug auf Erziehung zu? Ist die SMS des Schulsekretariats an die Eltern erziehend und wenn ja, welche Art von Anspruch bezüglich Asymmetrie und Richtung ist darin dem Schüler gegenüber ausgedrückt? Wie stellt sich eine eventuelle Anwendung überwachender Technologien, wie etwa Kameraüberwachung in Schulkorridoren und Aufenthaltsräumen, im Verhältnis zu Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung dar? Es soll im Rahmen dieser Arbeit nicht entschieden werden, inwiefern die einzelnen Einsätze verschiedener Technologien eine pädagogisch legitime Funktion haben. Aber es sollen in diesem Kapitel im Anschluss an die Analyse der Autonomiekonzepte Kants, Rawls’ und Habermas’ einige Anhaltspunkte zu ethisch relevanten Aspekten von ›Erziehung als Überwachung‹ diskutiert werden.

4.2 Autonomie als Ausdruck menschlicher Vernunft (Kant) In diesem ersten Abschnitt soll ein lange dominantes Konzept der Autonomie diskutiert werden. Verschiedene Ausdrucksweisen gruppieren sich um die gemeinsame und grundlegende Vorstellung, dass der Mensch autonom ist, insofern er gemäß seiner Vernunft handelt. Immanuel Kant ist der Name, der sich aufdrängt im Zusammenhang mit der Konzeptualisierung einer vernunftbedingten Autonomie. Seine herausragenden Formulierungen sind aber stark geprägt von zeitgenössischen philosophischen Diskursen.7 Die folgende Besprechung von http://www.dn.se. (Zugriff am 22. September 2008); http://www.svt.se. (Zugriff am 23. September 2008) 7 Schneewind liefert in seinem umfangreichen Buch The Invention of Autonomy eine 6

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Autonomie als Ausdruck menschlicher Vernunft (Kant)

Kants vernunftbedingtem Autonomieverständnis soll unter anderem auf jene Aspekte hinweisen, welche ein Verständnis kantischer Autonomie, welches diese nicht als ausschließliches Gegenüber zu Heteronomie versteht, erlauben. Damit wird auch der Begriff der Heteronomie bei Kant Gegenstand der folgenden Besprechung. Selbst wenn das Gegensatzverhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie bei Kant zentral ist, kommen bei näherer Betrachtung zumindest ansatzweise auch integrierende Aspekte zum Vorschein. 8

4.2.1 Autonomie als Freiheit zur Pflicht und als Pflicht zur Freiheit Unter den kritischen Reaktionen auf Kants Autonomiekonzept lassen sich zwei Richtungen erörtern. Aus der einen Richtung wird Kant vorgeworfen, Autonomie rein formalistisch zu definieren und in der Folge ein souveränes Individuum heraufzubeschwören, welches als autonomes ethisches Subjekt aufgefordert werde, seine Souveränität uneingeschränkt auszuüben. So argumentiert MacIntyre, der Kant vorwirft, Pflicht und Tugend losgelöst von einem sozialen Kontext und von substantiellen Vorstellungen des Guten respektive von Glück zu bestimmen. In der Folge sieht MacIntyre den kategorischen Imperativ – als eine Art formalistischer Klimax – als Ausdruck für eine Ethik, in welcher jede Handlung gerechtfertigt werden könne. 9 Wie sich in der ausführliche Darlegung der Abhängigkeit Kants von Fragestellungen und Interessen, die den philosophischen Diskurs seiner Zeit kennzeichneten. Insbesondere die theologische Debatte zum Voluntarismus (in welcher Kant für die Antivoluntaristen Stellung nimmt), die Frage des Perfektionismus, die epistemologische (und theologische) Frage allgemeinen und egalitären Zugangs zu moralischer Kompetenz, sowie das anthropologische Problem des gleichzeitigen Vorhandenseins sozialer und antisozialer Tendenzen beim Menschen sind von Bedeutung für Kants Konzept der Autonomie. (Schneewind, 1998) 8 Es gilt angesichts der umfassenden Werke Kants, Habermas’ und Rawls’ zu betonen, dass die folgenden Besprechungen von Autonomiekonzepten auf die Konzeptualisierung von Autonomie bei den entsprechenden Theoretikern fokussieren. Damit wird jeweils nur auf jene Aspekte der entsprechenden Arbeiten eingegangen, welche für die Frage nach Autonomie von besonderem Interesse sind. 9 MacIntyre, 1967, 197–198. Da MacIntyre, der aristotelischen Tradition verpflichtet, als grundlegend für jede Ethik eine substantielle Vorstellung des Guten als Vorstellung von ›Glück‹ betrachtet, wirft er Kant auch vor, eine »parasitäre ethische Theorie« zu formulieren (»parasitic upon some already existing morality«), die verdeckt abhängig sei und Gebrauch mache von substantieller Moral. (MacIntyre, 1967, 198) Wie die fol-

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Autonomie in Interaktion

folgenden Besprechung von Kants Autonomiekonzept zeigen wird, ist der Vorwurf aus dieser Richtung unbegründet. Seine Ethik kann nicht als rein formalistisch bezeichnet werden und in der Folge zeichnet sich als autonomes Subjekt auch nicht ein unbegrenzt souveränes Individuum ab. Aus der anderen Richtung wirft man Kant vor, sein Autonomiekonzept sei von moralischen Auflagen an Autonomie durchdrungen, d. h. Autonomie sei normativ an gewisse Bedingungen gebunden. Dieser Kritik liegt eine Interpretation von Kants Ethik als substantielle Annahmen umfassend zugrunde. Inwiefern die normativen Annahmen Kants tatsächlich substantieller Art sind, respektive inwiefern die Distinktion zwischen substantiell und formalistisch sinnvoll ist, lässt sich diskutieren. Hier soll aber festgehalten werden, dass die Interpretation von Kants Autonomieverständnis, welche dieser Kritik zugrunde liegt, angesichts der Art, wie Kant den Menschen als vernünftiges Wesen versteht, plausibler erscheint. Wenngleich die Ausführungen unten auf problematische Aspekte im Zusammenhang mit Kants Bestimmungen dieser moralischen Auflagen an Autonomie hinweisen, so enthält der Umstand, dass Kant moralische Auflagen macht an Autonomie aus einer moralpädagogischen Sicht eher Möglichkeiten als Probleme. Dies wird aber sorgfältig zu untersuchen sein. Anstoß erregt bei den Kritikern dieser zweiten Richtung Kants Vernunftbegriff respektive die normierende Bedeutung, welche Vernunft in Bezug auf Autonomie erhält. Kants Autonomiebegriff wird im Fahrwasser dieser Kritik im Englischen gelegentlich als »moral autonomy« bezeichnet. MacMullen etwa will sein eigenes Autonomiekonzept, welches er als »individual or ethical autonomy« bezeichnet, als kategorisch verschieden zu Kants Autonomie verstehen. MacMullen nimmt diese Abgrenzung wie folgt vor: gende Besprechung von Kants Autonomiekonzept zeigen soll, ist Kants Ethik gekennzeichnet von Annahmen, welcher sie sich nicht unbedingt parasitär bemächtigt. Vielmehr sind sie als integrierte Aspekte von Kants Ethik zu betrachten. Der Vorwurf, es entstehe eine uneingeschränkte normative Beliebigkeit, ist andererseits und bezeichnenderweise ein Vorwurf, der auch gegenüber MacIntyres Tugendethik gemacht werden kann. Zentral ist dabei MacIntyres normierender Praxisbegriff, welcher Praxis eine normative Funktion zuschreibt, sodass interne Werte in Praxis generiert werden. Sie sind abhängig von einer Normativität, die an einen gewissen sozialen Kontext gebunden und somit in sich geschlossen ist. Dieser kann nicht anhand externer, sondern nur anhand des Kontexts zugehöriger, interner Normen bewertet werden. (MacIntyre, 1984)

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»A first step in characterizing personal or ethical autonomy is to distinguish it carefully from another form of autonomy, which may be called Kantian moral autonomy. Ethical autonomy is a rationally reflective way in which a person may hold (and act according to) one particular conception of the good life rather than other conceptions, where all the options under consideration are morally permissible. Kantian moral autonomy describes a rational way in which individuals may come to and be motivated by an answer to the prior question: what maxims of action are morally permissible (and, therefore, which conceptions of the good can permissibly be pursued)? The exercise of moral autonomy defines the set of permissible options: the exercise of ethical autonomy guides the choice within that set.« 10

Es wird deutlich, dass MacMullen – im Gegensatz zu Kant – Autonomie so definieren will, dass die Wertungen des Individuums ohne Einschränkungen den Präferenzen des autonomen Individuums überlassen sind. Durch den Begriff der Autonomie wird keine normative Beurteilung dazu festgelegt, was als moralisch erlaubt oder gut zu gelten hat. Es geht MacMullen hinsichtlich Autonomie nur um die individuelle Wahlfreiheit, respektive das Recht dazu. Allerdings will auch er Autonomie einem Rationalitätskriterium verschreiben. Es geht MacMullen um Autonomie als »ongoing and distinctively rational reflection about one’s ethical beliefs and values«. 11 Die kategorische Unterscheidung, die MacMullen zwischen seinem und Kants Verständnis von Autonomie geltend machen will, beruht auf seiner Identifizierung von Moralität als aufteilbar in zwei Arten autonomer Wahl: Eine erste (bei ethischer Autonomie zur Geltung kommende) autonome Wahl betrifft persönliche Präferenzen innerhalb gegebener normativer Systeme. Eine zweite (bei moralischer Autonomie aktualisierte) Art autonomer Wahl betrifft Urteile zu verschiedenen normativen Systemen. MacMullen beachtet dabei aber nicht, dass bei Kants Autonomie beide Arten autonomer Wahl zusammenfallen. Der Mensch ist bei Kant – als vernünftiges Wesen – gerade darin einzigartig, dass er, indem er autonom wählt, zugleich auch normierend urteilt. Darin besteht für Kant der moralische Wert von Autonomie. Als vernünftiges Wesen hat der Mensch so eine einzigartige und unausweichliche Rolle als moralischer Gesetzgeber. Dies bedeutet, dass die beiden von MacMullen aufgezeichneten Ausdrücke von Autonomie – die Wahl innerhalb normativer Systeme und das Urteil über 10 11

MacMullen, 2007, 67 MacMullen, 2007, 69

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dieselben – bei Kant miteinander verbunden sind. Kants Autonomiekonzept zeichnet sich darin aus, dass es die autonome Wahl als normierende Wahl betrachtet. Sein Autonomiekonzept ist nur verständlich vor dem Hintergrund dessen, was der Kern seiner Ethik ausmacht, nämlich, mit Oshanas Formulierung ausgedrückt, die »Einheit von personaler Autonomie und Moral«. 12 Wenn jemand eine autonome Wahl vornimmt, konstituiert sich darin gemäß Kants Sichtweise zugleich ein normierendes Urteil. Außerdem ist unklar, inwiefern sich MacMullens Rationalitätskriterium tatsächlich kategorisch unterscheidet von Kants Vernunftkriterium. Vernunft ist bei Kant, wie die folgenden Ausführungen zeigen, bestimmt als anthropologische Kategorie und gebunden an eine metaphysische und teleologische Auffassung der Menschheit. Damit sind, wie ebenfalls unten gezeigt wird, zweifelsohne Probleme verbunden. Der Rationalitätsbegriff, den etwa MacMullen an der Stelle von Kants Vernunftbegriff einsetzt, ist jedoch seinerseits problematisch. Denn er verbleibt bezüglich eines Unterschieds zu Kants Vernunftbegriff weitgehend ungeklärt. 13 Für ein moralpädagogisches Interesse sind Kants Begriffe der Pflicht und der Freiheit von zentraler Bedeutung. Kant definiert die Moralität des Menschen innerhalb des Spannungsfeldes dieser beiden Begriffe. Das Spannungsverhältnis zwischen Pflicht und Freiheit löst Kant mit Hilfe des Vernunftbegriffes. Indem er die Pflicht als – einzig gültigen – Ausdruck der Vernunft und des vernünftigen Willens bestimmt, wirkt sie nicht begrenzend, sondern befreiend. Pflicht und Freiheit bedingen einander gegenseitig. 14 Es ist für die Frage nach Autonomie und insbesondere die Frage nach Aspekten in Kants Verständnis von Autonomie als integriert in Dependenz von entscheidender Bedeutung, dass Kant, wenn er den Menschen beschreibt, ein abstrahiertes Individuum als Repräsentant der Menschheit als Ganzes meint. 15 Insofern sich MacMullens Konzept ethischer Autonomie von Kants Autonomiekonzept unterscheidet, ist ein wesentlicher Unterschied darin begründet, dass MacMullen von Autonomie als kennOshana, 2006, 10–11. Siehe auch Juth, 2005, 140. Rationalität wird nur verständlich und als Kriterium nützlich, wenn dessen Bedingungen dargelegt werden. Darin kommen aber oft bereits normative Voraussetzungen zum Vorschein. (Siehe MacMullen, 2007, 69, 75.) 14 Kant, 1961, 169, 184–190 15 Meyer-Drawe, 2004, 47 12 13

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Autonomie als Ausdruck menschlicher Vernunft (Kant)

zeichnend für den Handlungsspielraum eines konkreten Individuums spricht. Diese Sichtweise ist charakteristisch für die Art und Weise, wie Mill die Freiheit des Individuums in einer liberalen Gesellschaft definiert hat. 16 In bioethischen Ansätzen wird der Begriff Autonomie oft in diesem Sinne gebraucht. 17 Kants Anthropologie ist jedoch zugleich und untrennbar eine Beschreibung psychischer und metaphysischer Zusammenhänge. 18 In der metaphysischen Bestimmung der Menschheit ist die psychische Bestimmung des Menschen begründet. Die moralphilosophische Bestimmung des Menschen ist bei Kant eingebettet in eine transzendentale Argumentation, welche zum Ausdruck kommt in einem Verständnis des Menschen als abstrahiertes ethisches Subjekt. 19 Dennoch – und das ist wohl einer der meist hervorstehenden Aporien in Kants Moraltheorie – zeichnet sich ein Spannungsverhältnis mit Diskrepanzen zwischen Kants metaphysischer und psychischer Bestimmung des Menschen ab. Während er hinsichtlich Ersterer eine Theorie der Eindeutigkeit der menschlichen Freiheit als vernünftiges Wesen präsentiert, muss er hinsichtlich Letzterer Zugeständnisse an eine zweideutige Erfahrungswelt machen. Menschliche Freiheit, welche Autonomie voraussetzt, besteht für Kant nicht aus einer Freiheit, zu tun, was man will, als gesetzloses Dasein, sondern gründet auf Selbstbestimmung als unwillkürlich bezogen auf die Pflicht und damit auf das Moralgesetz. 20 O’Neills ForMill, 1974 Levinsson spricht von einem Autonomieverständnis in Bioethik, welches Autonomie als »local feature focusing on decision-making in a particular situation« behandelt. Es geht also in bioethischen Debatten oft um konkrete Kriterien zur Beurteilung, ob eine Person autonom ist. (Levinsson, 2008, 139) 18 Die Bezeichnung psychisch verwendet Kant nicht selber. Sie wird hier gebraucht um ›innere‹ Umstände oder Abhängigkeiten von ›äußeren‹ zu unterscheiden. Es wird darauf mehrfach zurückzukommen sein. Siehe insbesondere Kapitel 7, Abschnitt 7.2.1. 19 »The transcendental character of Kant’s argument resides in positing a priori categories which are deduced to constitute the consciousness of the human subject, as that which organizes perception as a timeless and universal structure.« (Olssen, 2006, 251) Olssen hebt die Bedeutung der transzendenten und ahistorischen Perspektive Kants hervor als zentral für den universellen Anspruch Kants. Olssens Charakterisierung des kantischen, ethischen Subjekts als zeitlos ist von Interesse für die in Kapitel 6 dieser Arbeit aufgegriffene Zeitdimension als ein Aspekt von Dependenz. Das ethische Subjekt ist bei Kant einer zeitlichen Dimension enthoben und erscheint so als losgelöst von zeitlichen und historischen Kontingenzen. 20 In einer eher praktisch orientierten Perspektive lässt sich diese bei Kant vor allem metaphysisch begründete Sichtweise als Untrennbarkeit von Freiheit und Verantwor16 17

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Autonomie in Interaktion

mulierung der Bedeutung der Pflicht für Kants Autonomiekonzept ist signifikant: »Kantian autonomy is manifested in a life in which duties are met, in which there is respect for others and their rights, rather than in a life liberated from all bonds. (…) It is a matter of acting on certain sorts of principles, and specifically on principles of obligation.« 21

Ein freier Wille und ein »Wille unter sittlichen Gesetzen« sind für Kant identisch. Freiheit wird von Kant sowohl negativ wie auch positiv bestimmt. Negative Freiheit ist die Eigenschaft der Kausalität des vernünftigen Wesens, wenn dieses »unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen« handelt. Positive Freiheit ist die »eigene Gesetzgebung des Willens«, d. h. Autonomie. 22 In einer psychischen Hinsicht offenbart sich eine Ambivalenz in Kants Anthropologie, denn das »strenge Gebot der Pflicht«, welches sich der Mensch als vernünftiges Wesen selber vorgibt, verlangt gleichzeitig, wie Kant eingesteht, auch »Selbstverleugnung«. 23 Freiheit in psychischer Hinsicht besteht aus der »Unabhängigkeit von der Sinnenwelt«, d. h. Unabhängigkeit von »der ungestümen Zudringlichkeit der Neigungen« und in der »Achtung für uns selbst im Bewusstsein unserer Freiheit«. Die Freiheit des Menschen ist darum die »Kausalität eines Wesens, so fern es zur intelligibelen Welt gehört«. Freiheit ist »das Vermögen der Bestimmung seines Willens, nach dem Gesetze einer intelligibelen Welt«. 24 Pflicht ist für Kant moralisch normierend und ist als »Vorstellung des Gesetzes« durch ein vernünftiges Wesen das, was einer Handlung »moralischen Wert« verleiht. Wenn, mit anderen Worten, eine Handlung ausschließlich aus Pflicht erfolgt, ohne dass emotionale Motive (»Neigungen«) hinter der Handlung stecken, dann hat jene Handlung »echten moralischen Wert«. 25 Dieses Verständnis der Pflicht muss im Licht von Kants Verständnis der Vernunft betrachtet werden, denn (alleinig) verpflichtend ist tung ausdrücken. »Freiheit ist die Möglichkeit entscheiden zu können, denn Unfreiheit ist Fremdbestimmung. (…) Freiheit und Verantwortung sind untrennbar.« (Schaare, 1998, 194–195) 21 O’Neill, 2002, 83 22 Kant, 1984, 104, 103, 109, 112 23 Kant, 1984, 49 24 Kant, 1961, 210, 251–252; 1984, 113–114 25 Kant, 1984, 33–40

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Autonomie als Ausdruck menschlicher Vernunft (Kant)

für Kant die »Pflicht als Pflicht überhaupt vor aller Erfahrung in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft«.26 Da die Vernunft gemäß Kant als reine Vernunft (d. h. frei von emotionalen oder erfahrungsbedingten Einflüssen) den Willen bestimmen kann (d. h. auch praktisch ist), beinhaltet sie die Möglichkeit, gesetzgebend zu sein. Kant schreibt dem Willen des vernünftigen Wesens Autonomie zu. Autonomie des Willens kontrastiert er mit Heteronomie, welche ihre Bestimmung darin hat, dass der Wille »in der Beschaffenheit irgend eines seiner Objekte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll«. 27 Den Zusammenhang bei Kant zwischen Pflicht (und damit Gehorsam) und darin bedingter Freiheit, ausgeübt als Autonomie, stellt MacIntyre treffend dar: »The ought of the categorical imperative can only have application to an agent capable of obedience. In this sense ought implies can. And to be capable of obedience implies that one has evaded the determination of one’s actions by one’s inclinations, simply because the imperative which guides action determined by inclination is always a hypothetical one. This is the content of moral freedom.« 28

MacIntyre, der wie oben dargelegt, den kategorischen Imperativ als Ausdruck formalistischer Ethik deutet, sieht darin eine Problematik begründet. Das Verhältnis zwischen Pflicht und Vernunft ist aber bei Kant so ausgelegt, dass weder blinder Gehorsam noch unbegrenzter Individualismus die Folge sein kann. Es zeichnet sich vielmehr ein paradoxes Bild des ethischen Subjekts ab. Dieses ist durch seine Vernunft der Freiheit zu sich selber verpflichtet. Dieses paradoxe Bild als Beschreibung eines konkreten Individuums zu verstehen fällt schon darum schwer, weil es als wirklichkeitsfremde Darstellung erscheint. Als normative Bestimmung des – in transzendenter Argumentation begründeten – ethischen Subjektes gedeutet, erscheint das von Kant gezeichnete Bild zwar nicht weniger paradox, aber zumindest insofern zugänglicher als in diesem Falle kein Anspruch auf eine realistische Beschreibung gemacht werden muss. Es lässt sich allerdings fragen, inwiefern das paradoxe Verhältnis zwischen Freiheit und Pflicht als

26 27 28

Kant, 1984, 49–50 Kant, 1984, 96 MacIntyre, 1967, 196

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normative Bestimmung von Autonomie berechtigt ist. Dieser Frage wird nun näher nachgegangen.

4.2.2 Gebotene Autonomie Wie die Ausführungen oben zeigen, versteht Kant also den Menschen als inbegriffen in ein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Pflicht. In psychischer Hinsicht kommt dieses Spannungsverhältnis zum Ausdruck im Verhältnis zwischen der Vernunft einerseits und den Neigungen andererseits. Metaphysisch versteht Kant den Menschen als vernünftiges Wesen, welches bestimmt ist zu einer Freiheit, die aus einer Verpflichtung gegenüber sich selbst als vernünftiges Wesen besteht. Diese Bestimmung des Menschen zu Freiheit kann gedeutet werden als Aufruf an jedes Individuum, sich seiner Autonomie innezuwerden. 29 Die auf der menschlichen Vernunft gründende Freiheit ist in einem Gebot zur Autonomie begründet und kommt zum Ausdruck in einem Verständnis der Autonomie als geboten. »Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien. Dass diese praktische Regel ein Imperativ sei, d. i. der Wille jedes vernünftigen Wesens an sie als Bedingung notwendig gebunden sei, kann durch bloße Zergliederung der in ihm vorkommenden Begriffe nicht bewiesen werden, (…). Allein, dass gedachtes Prinzip der Autonomie das alleinige Prinzip der Moral sei, lässt sich durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl dartun. Denn dadurch findet sich, dass ihr Prinzip ein kategorischer Imperativ sein müsse, dieser aber nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie gebiete.« 30

Eine gebotene Autonomie erscheint paradox. Das Gebot der Autonomie hat seine Erklärung in der Verknüpfung von Pflicht und Freiheit. Autonomie ist bei Kant einerseits die Pflicht zur Freiheit und andererseits die Freiheit zur Pflicht. Die Vereinigung der beiden Gegensätze von Pflicht und Freiheit ist für das Verständnis der Autonomie bei Kant zentral. Es geht darum, dass im kategorischen Impera29 30

Zirfas, 2004, 28 Kant, 1984, 95–96 (meine Kursivierungen)

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tiv 31 Autonomie und Gehorsam vereint sind. Die Autonomie, als selbst-gesetzgebende Kapazität der Vernunft, und die Kapazität zum Gehorsam gegenüber der Pflicht machen zusammen die Idee des kategorischen Imperativs aus. 32 Die Freiheit des vernünftigen Wesens, verstanden als Selbstbestimmung, muss bei Kant im Zusammenhang mit seiner Hervorhebung der menschlichen Würde als inhaltliche Bestimmung und Limitierung der Autonomie gesehen werden. 33 Der Vorschlag hier, Kants Autonomiekonzept als gebotene Autonomie zu verstehen, findet Unterstützung in O’Neills Lesart von Kant. Sie spricht ausgehend von einer Darlegung der Bedeutung des geschichtlichen Kontextes für Kants Autonomiekonzept von »principled autonomy«. 34 O’Neill betrachtet Kants Autonomiekonzept als situiert in jener modernen naturgesetzlichen Tradition, die von der Ambition gekennzeichnet ist, menschliche Verpflichtungen (als Grundlage für Rechte) zu begründen. O’Neill folgert, dass Kants Interesse für ›Selbstgesetzgebung‹ nicht dem ›Selbst‹ an sich galt, sondern dass das ›Selbst‹ als reflexiver Begriff zu verstehen ist. »Self-legislation is legislation that does not refer to or derive from anything else; it is non-derivative legislation.« 35 Das selbstbestimmte oder autonome Selbst ist demnach, so O’Neill, bei Kant als gleichbedeutend mit »Prinzipien, welche als allgemeine Gesetze gelten können« (»principles that fit to be laws for all«) zu verstehen. Dies kommt zum Ausdruck in einer Fähigkeit des autonomen Individuums, seine Handlungen in Interaktion mit Anderen und in Kommunikation mit Anderen begründen zu können. Demgemäß ist vernunftbedingte Autonomie gemäß O’Neill zu verstehen als »law-like and followable by others«. 36 O’Neill schließt, dass Kants Autonomiekonzept ein Verständnis von Autonomie darstellt, welches – im Gegensatz zu individueller Autonomie – für einen Miteinbezug von Vertrauen offen ist. Vertrauen will O’Neill mit Hinweis auf Kant (insbesondere in bioethischen und 31 »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« (Kant, 1984, 68) »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« (Kant, 1984, 79) 32 Johnston, 2006, 386 33 Taylor, 1989, 83–84 34 O’Neill, 2002, 83 35 O’Neill, 2002, 85 36 O’Neill, 2002, 93. Siehe dazu auch Meijboom, 2008, 125–127.

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medizinisch ethischen Fragen) als einen integrierten Aspekt von Autonomie betrachten. O’Neill argumentiert für ihre Sichtweise, indem sie Kants »principled autonomy« versteht als einer Gesetzlichkeit verpflichtet, welche durch rationale Zugänglichkeit für Diskussion und Kritik Freiheit nicht begrenzt, sondern erhält. »It (›self-legislation‹, meine Anmerkung) is the basic characteristic of ways of thinking or willing that are conducted with sufficient discipline to be followable by or accessible to others. Such ways of thinking and acting must be lawlike rather than lawless, and will thereby be in principle intelligible to others, and open to their criticism, rebuttal or reasoned agreement.« 37

O’Neills Deutungsweise von Kant hebt jene Aspekte seiner Ethik hervor, die für die hier gestellte Frage nach Aspekten von Dependenz in Verknüpfung mit Autonomie von wichtiger Bedeutung sind. O’Neills Begriff »principled autonomy« ist zu verstehen als Kritik gegenüber jenen Autonomiekonzepten, die durch eine enge Fokussierung auf das Individuum in bio- und medizinisch-ethischen Situationen Vertrauen als Ausdruck eingeschränkter Individualität ausschließen. Es geht bei Kant aber nicht um ein konkretes Individuum und Autonomie handelt nicht von individuellem Recht auf unabhängige Selbstbestimmung. Insofern Vertrauen als Aspekt von Dependenz zu verstehen ist, bedeutet O’Neills Charakterisierung von Kants Autonomiekonzept als Vertrauen umfassend eine Integration von Dependenz in Autonomie. O’Neills Argumentation bedeutet, dass Autonomie, verstanden in Anlehnung an Kant, im Zusammenhang mit Vertrauen zu denken ist. Dies ist hier unter der Bezeichnung gebotener Autonomie als Ausdruck dafür interpretiert worden, dass Autonomie in dieser Hinsicht bei Kant nicht als Gegenüber zu Dependenz, sondern innerhalb von Dependenz verstanden werden muss. Dependenz äußert sich dabei als Abhängigkeit in Bezug auf eine Interaktion, welche Ausdruck gegenseitigen Vertrauens ist. Dies führt dazu, dass Autonomie (auf diese Weise konzeptualisiert innerhalb von Dependenz) im engen Zusammenhang mit Vertrauen gesehen werden soll. 38 Ein solcher konzeptueller Zusammenhang zwischen Autonomie und Vertrauen ist umgekehrt einzufordern von einer O’Neill, 2002, 95 Eine deutlichere Verknüpfung zwischen Autonomie und Vertrauen will im Zusammenhang mit medizinischer Ethik auch Tauber sehen. Dies setzt ein Autonomieverständnis voraus, welches persönliche Identität in relationaler Weise konstruiert. Tauber beschreibt, ähnlich wie O’Neill, eine medizinische Ethik, welche unter Berücksichtigung

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Definition von Vertrauen. Mit anderen Worten setzt Vertrauen in einer Beziehung oder einer Situation bei den Beteiligten auch Autonomie voraus. 39 Als vernünftiges Wesen soll sich der Mensch hinsichtlich gebotener Autonomie sozusagen als bestimmt durch eine ›unbedingt bedingte‹ Wahlfreiheit verstehen. Er muss sich (und darin drückt sich die Bedingtheit aus), um moralisch richtig oder gut zu handeln, an die Wahl der Vernunft (die unbedingt ist) halten. Diese vernünftige Wahl beinhaltet zugleich aber radikale Wahlfreiheit, da sie ausschließlich sich selber verpflichtet ist, sodass Autonomie Ausdruck dafür ist, dass der Mensch durch seine Vernunft eine moralische Macht revolutionierender Dimension innehat. Kant provozierte zu seiner Zeit, weil er diese Verinnerlichung der Macht herausfordernd formulierte 40 im Sinne eines Postulates: »the power is within«. 41 Diese verinnerlichte Macht umfasst bei Kant sowohl eine normierende Funktion (als morarelationaler Aspekte zugleich auf Autonomie und Vertrauen als Ideale baut. (Tauber, 2003) 39 Den Vertrauensbegriff diskutiert auf aufschlussreiche Weise auch Meijboom. Er versteht Vertrauen in Abhängigkeit von Vertrauenswürdigkeit und weist darauf hin, dass Vertrauen und Autonomie eng miteinander verbunden sind. Meijboom identifiziert drei Voraussetzungen für Vertrauen: Individuen als unterscheidbar von, aber Teil des sozialen Kontextes, Autonomie als Freiheit und Intentionalität, sowie eine Teilnehmerperspektive in Interaktion. Diese Identifikation von drei Voraussetzungen beleuchtet den Umstand, dass die zusammengehörenden Begriffe Autonomie und Vertrauen in ihrem gemeinsamen Bezug auf einen sozialen Kontext der Interaktion in Dependenz integriert sind. (Meijboom, 2008) 40 Kants ethische und philosophische Aussagen zu Autonomie sind u. a. gesellschaftstheoretisch artikuliert in dem Artikel Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Die mögliche radikale Dimension seiner Ethik modifiziert Kant in gesellschaftstheoretischer Hinsicht, wenn er Autonomie skizziert als Aufforderung: »Räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; nur gehorcht!« (Kant, 1974) 41 Taylor, 2007, 8. Sich Kant von der Frage nach seiner Bedeutung für die Entstehung eines säkularen Zeitalters nähernd schildert Taylor ihn anhand einer religiösen Metaphorik: »(…) we cannot but feel reverence (Achtung) for this power (…) we look up to the power of law-giving with admiration and awe«. (Taylor, 2007, 8, meine Kursivierung) Taylor spricht mit diesen religiösen Metaphern des Hinaufschauens oder der Bewunderung nicht nur den Umstand an, dass Kant als Aufklärungsphilosoph durchaus von einer theologischen Anthropologie geprägt war, sondern verweist auch auf das paradoxe Verhältnis der kantischen Autonomie als Pflicht zu sich selber. Taylor führt die Bedeutung von Kant zurück auf eine Faszination an einer in Aufklärungszeiten neuen Macht. Es ist die Macht, die dem Menschen dadurch zukommt als er als vernünftiges Subjekt dazu die Autorität hat, sich eigene Gesetze zu geben. Pflicht bedeutet bei Kant insofern nicht nur Freiheit, sondern auch Macht.

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lische Gesetzgebung) wie auch die Fähigkeit als vernunftbestimmtes Wesen, dieses Moralgesetz tatsächlich zu befolgen. Darin ist die verinnerlichte Macht aber bereits bedingt. Als gebotene Autonomie ist sie an die verpflichtende Vernunft gebunden. Schneewind beschreibt das Verhältnis zwischen der menschlichen Wahlfreiheit und dem moralisch Guten bei Kant als Ausdruck dafür, dass der gesetzgebende menschliche Wille als ebenbürtig mit dem Willen Gottes erscheint. »To be good, is thus, to be willed by a will governed by the moral law. Our will is such a will, and so is God’s. (…) His astonishing claim is that God and we can share membership in a single moral community only if we all equally legislate the law we are to obey.« 42

Schneewinds Beobachtung ist ein Hinweis darauf, dass Autonomie bei Kant eine radikale Freiheit im Moralgesetz mit einer Abhängigkeit vereint, welche in der normierenden Funktion der Vernunft bestimmt und begrenzt ist. Der Umstand, dass der Mensch als vernünftiges Wesen an der göttlichen Gesetzgebung teilhat, führt dazu, dass Moral zugleich Gehorsam und Autonomie umfasst. Aus der Sichtweise der metaphysischen Begründung menschlicher Autonomie könnte man den Schluss ziehen, bei Kant werde die Dichotomie zwischen Autonomie und Heteronomie durch eine integrierte Sichtweise entschärft. Als vernünftiges Wesen ist die Menschheit durch den Zugang zur Vernunft metaphysisch quasi über die Heteronomie erhoben. Für eine solche Schlussfolgerung könnte auch mit Schneewinds Beschreibung des Verhältnisses zwischen menschlicher und göttlicher moralischer Autorität argumentiert werden. Schneewind verweist darauf, dass bei Kant die Menschheit trotz ihrer Abhängigkeit von ihrem Schöpfer Schneewind, 1998, 512–513. Die Verbindung moralischer Autonomie mit einem allgemeingültigen Rationalitätskriterium ist nicht einzigartig für Kant. Vielmehr stellt, wie Schneewind gezeigt hat, Kants Ambition ihn diesbezüglich in Verbindung mit sowohl naturgesetzlichen wie perfektionistischen ethischen Theoretikern. Grundlegend und vereinend ist dabei ein Anti-Voluntarismus, der sich mit einer Grundlegung der Ethik in einem für den Menschen undurchschaubaren oder willkürlichen Willen Gottes nicht zufrieden gibt. Zugleich ist Kants Verständnis von Autonomie ausdrucksvoll. Schneewind meint, dass Kant im Unterschied zu anderen Anti-Voluntaristen dem Menschen nicht nur die Fähigkeit der Kenntnis moralischer Wahrheit anerkennt, sondern ihm die doppelte Fähigkeit, moralisches Gesetz zu stiften und ihm gemäß zu leben, zuschreibt. Schneewind bezeichnet dies als Kants »Erfindung der Autonomie« und unterscheidet diese von der von vielen anderen vormodernen und modernen Philosophen vertretenen moralischen Selbststeuerung (self-governance).

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diesem nicht unterstellt ist, sondern durch die Vernunft als menschliche und göttliche Eigenschaft im Einklang mit ihm steht. Metaphysisch ist der Mensch als vernünftiges Wesen teilhabend an der Autonomie Gottes. 43 Kant diskutiert Autonomie nicht von einem relationalen Interesse her. Er befasst sich mit Moral als Sphäre zwischenmenschlicher Konflikte nur indirekt. Im Fokus seines Interesses steht vielmehr die metaphysische Bestimmung des Menschen. Autonom ist, wer frei, d. h. konsequent vernünftig und damit in Entsprechung mit der Pflicht, handelt. Die Frage der moralischen Selbstbestimmung ist einerseits eine Frage nach der inneren, psychisch bedingten Freiheit des (abstrahierten) Individuums gegenüber seinen eigenen Emotionen (Neigungen) und andererseits eine Frage nach der Freiheit der Menschheit als vernünftige Wesen gegenüber der nicht-vernünftigen, empirischen Welt. Diese beiden Bestimmungen sind aber nur theoretisch klar unterscheidbar. Insofern als sie miteinander verbunden sind und die Bestimmung von Autonomie normativ zu verstehen ist, lassen sich, so die These hier, im Konzept gebotener Autonomie Anhaltspunkte ausmachen, welche eine integrierte Sichtweise von Autonomie erlauben. Darin eröffnen sich Möglichkeiten, Aspekte von Dependenz als integriert in ein kantisches Autonomiekonzept zu betrachten. 44 Autonomes Handeln muss gemäß einem kantischen Verständnis vernünftiges Handeln sein und muss als solches als ›geboten‹ oder verpflichtend betrachtet werden. Diese Pflicht ist bei Kant metaphysisch begründet, kann aber mittels intersubjektiver oder relationaler Ausdrucksweisen gedeutet werden. In den beiden Formulierungen des kategorischen Imperativs 45 ist ersichtlich, dass Autonomie gemäß Kants Verständnis durchaus intersubjektive und relationale Dimensionen umfasst. Das Individuum ist als ethisches Subjekt durch den kategorischen Imperativ in seinem Urteil und in seiner moralischen Verantwortung zugleich auf eine radikale Weise abgeschieden von seinem Kontext und verbunden mit anderen Menschen. Die Abgesondertheit des

Schneewind, 1998, 510, 521 Autonomie bei Kant ist, wie Zirfas treffend feststellt, durch die Verknüpfung mit dem kategorischen Imperativ »kein monologisches Konzept (…), da es in seiner Struktur immer schon auf eine Anzahl bzw. auf die Allgemeinheit von vernünftigen Subjekten verweist.« (Zirfas, 2004, 157) 45 Siehe Fußnote 31, S. 189 43 44

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Individuums ist durch die Idee des kategorischen Imperativs abhängig von der ethischen Verbundenheit mit anderen Menschen. 46

4.2.3 Heteronomie als trivialisierte Dependenz? Die der ›eigentlichen‹ (bei Kant gleichbedeutend mit der metaphysischen) Bestimmung des Menschen entgegengesetzte und daher ständig bedrohende Heteronomie besteht gemäß Kant hauptsächlich aus zwei mit einander verbundenen Abhängigkeitsverhältnissen: auf einer psychischen Ebene die Abhängigkeit von Neigungen oder Emotionen und auf einer metaphysischen Ebene die Abhängigkeit von der Sinnes- oder Erfahrungswelt. 47 Dies setzt eine rigide und problematische Trennung zwischen Erfahrung und Vernunft einerseits, zwischen Emotion und

Diese Verknüpfung wird auch sichtbar in Bordums Versuch, über die beiden bekannten Formulierungen hinaus zwei weitere Formulierungen des kategorischen Imperativs in Kants Texten zu identifizieren. Interessant für diesen Zusammenhang ist Bordums Formulierung des kategorischen Imperativs, welche diesen mit Kants »Reich der Zwecke« verbindet. »Therefore, every rational being must so act as if he were through his maxim always a legislating member of the universal kingdom of ends.« (Bordum, 2005, 854. Siehe Kant: »Das vernünftige Wesen muss sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reiche der Zwecke betrachten, es mag nun sein als Glied oder als Oberhaupt.« Kant, 1984, 86) Diese Formulierung des kategorischen Imperativs ist einer längeren Diskussion Kants zu demselben entnommen. Was Bordum als weitere Formulierung des kategorischen Imperativs beschreibt, wird besser als enthalten in den beiden bekannten Formulierungen Kants (insbesondere in der zweiten Formulierung) gedeutet. Das zeigen auch Bordums Zusammenfassungen der Formulierungen. Kants zweite Formulierung des kategorischen Imperativs und seine ›Dritte‹ fasst er zusammen wie folgt: »(2) a reciprocal duty to recognize other’s rational selflegislation, (3) a duty to acknowledge all persons objective and common rational selflegislation«. (Bordum, 2005, 857) Beide Formulierungen thematisieren die Pflicht, die autonome, gesetzgebende Funktion rationaler Wesen zu anerkennen. Mit seinem Begriff »Reich der Zwecke« (als »systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze«) nimmt Kant jedoch bereits eine deutliche Situierung des vernünftigen Individuums in einer moralisch verpflichtenden Gemeinschaft vor. (Kant, 1984, 85–87) 47 Kants Interesse für Heteronomie ist natürlich auch von den umwälzenden politischen Ereignissen seiner Zeit geprägt. Zu nennen wären Diskussionen im Zusammenhang mit Religionsedikt und Zensuredikt. Die Frage nach Autonomie wurde sozusagen indirekt aktualisiert durch die »vielfachen Provokationen und elementaren Gefährdungen menschlicher Freiheit«. (Nipkow, 2005, 394) 46

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Vernunft andererseits voraus und stipuliert ein Verständnis von Heteronomie als trivialisierte Dependenz. Die Trennung zwischen Erfahrung und Vernunft ist hinsichtlich mehrerer Aspekte problematisch. Epistemologisch setzt Kant Vernunft oder Denken auf äußerst schmale, exklusive Weise voraus. Autonomie wird so zum Ausdruck losgelösten Denkens. Dies deutet Meyer-Drawe als Suspendierung der normativen Funktion inhaltlicher Elemente des Denkens: »Pure Selbstgesetzgebung des Denkens bedeutet eine Missachtung der Inhaltlichkeit der Reflexion, eine Ignoranz gegenüber dem Worüber des Denkens.« 48 Meyer-Drawe folgert, dass das autonome Subjekt als bürgerliches Subjekt »sich in nichts fremd ist« und »sich abhebt von der Ordnung der Dinge«. 49 Im Kontrast dazu plädiert sie für ein Verständnis von Denken, welches auf einen deutlichen Miteinbezug inhaltlicher Bestimmung angelegt ist: »Das Denken bewahrt die Signatur unserer leiblichen Existenz und damit die Spuren einer Erfahrungsgeschichte (…).« Sie beharrt dabei auf der Notwendigkeit »der Anerkennung dessen, dass sowohl Denken als auch Wahrnehmen und Handeln gebunden bleiben an das, worauf sie sich beziehen (…)«. 50 Bei Kant ist ein solcher Bezug Ausdruck negativ gewerteter und darum möglichst zu vermeidender Heteronomie. Seine Sichtweise verlangt vom ›Subjekt des Begehrens‹ die Verleugnung seiner selbst. 51 Aus ethischer Perspektive bedeutet eine kantische Sichtweise die Ausklammerung der Erfahrungswelt als normativ relevant. Es ist allerdings nicht unumstritten, wie strikt Kants Rückgriff auf die Vernunft als ausschließliche, ethisch normative Instanz gedeutet werden soll. So wendet Louden ein, Kant werde oft fälschlicherweise als ausschließlich an einer reinen Ethik interessiert betrachtet. Seine These, die um ein vermutetes Interesse Kants auch für eine ›unreine Ethik‹ kreist, begründet Louden ausgehend von einer Anzahl älterer Texte, deren Authentizität und Bedeutung für Kants Gesamtwerk nicht eindeutig festgestellt sind. Es ist daher eher zweifelhaft, ob Loudens Bild dieses ›früheren‹ Kant (vor 1770) das Verständnis seiner späteren Texte nachhaltig prägen soll. Angesichts der oben mehrfach angesprochenen Spannung zwischen der metaphysischen Bestimmung und der psy48 49 50 51

Meyer-Drawe, 1990, 64 Meyer-Drawe, 1990, 89 Meyer-Drawe, 1990, 64–65 Meyer-Drawe, 1990, 90

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chischen Schilderung des Menschen bei Kant finden sich jedoch bei Louden einige aufschlussreiche Anmerkungen. So beispielsweise seine Feststellung, Kants Verständnis des moralischen Urteils deute auf einer angewandten Ebene darauf hin, dass formalistische Einsichten der Vernunft die Berücksichtigung partikularer Aspekte nicht ausschließen. Louden interpretiert Kant folgendermaßen: »We don’t derive moral norms from empirical facts; but when these norms are applied to human beings they must be consistent with the facts of human life.« 52 Selbst wenn Loudens Einwand als berechtigt betrachtet und Kants Verständnis der normativen Funktion der Vernunft als weniger exklusiv gedeutet wird, ist schwerlich zu bestreiten, dass Kant die Vernunft als alleiniges und entscheidendes Mittel der Überwindung der Heteronomie betrachtet. Nur die Vernunft kann gemäß Kant das Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der Erfahrungswelt und die ›Fremdbestimmung‹ durch Emotionen bezwingen. Diese Sichtweise ist mit Pluralismus als positive Wertung von Pluralität schlecht kompatibel, da Pluralismus ein interaktives Verhältnis zwischen Erfahrungswelt und gemeinsamer oder individueller Reflexion derselben auf grundlegende Weise voraussetzt. Insofern hat Louden Recht, wenn er meint, Kants Formalismus schließe eine inhaltlich gehaltvolle Bestimmung der Moral nicht aus. Wenn historische, soziale oder kulturelle Kontexte normativ als distrahierend oder irrelevant betrachtet werden sollen, macht es wenig Sinn, Vielfalt positiv zu werten. Aus einer pluralistischen Perspektive, wie zu Beginn des Kapitels als relevant identifiziert für die moralpädagogische Frage nach der Bestimmung und Begründung von Autonomie, muss daher Kants Verständnis der Heteronomie als trivial erscheinen, denn er definiert den Menschen nur als entweder autonom oder heteronom handelnd. Was nicht von der Vernunft gesteuert ist, muss in Kants Betrachtungsweise als Fremdbestimmung klassifiziert werden. Wenn Pluralität jedoch als normativ relevant und ethisch wertvoll betrachtet wird, ist für ein adäquates und funktionales Verständnis von Autonomie ein komplexeres Verständnis von der Bedeutung von Interaktion als Aspekt von Dependenz verlangt. Als Trivialisierung der Dependenz bei Kant kann auch der oben mehrfach tangierte Umstand gedeutet werden, dass Kant vom Menschen in abstrakter Fassung spricht. Der Mensch ist zugleich indivi52

Louden, 2000, 5–9

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dualisiertes ethisches Subjekt und universalisierte Menschheit. Einer solchen Abstraktion des Menschen kommt in Kants Ethik eine wichtige Funktion zu. 53 Problematisch ist dabei, dass Kant nicht immer explizit macht, in welcher Bedeutung er vom Menschen spricht. Diese Unklarheit soll aber im Zusammenhang mit der oben bereits angesprochenen Identifikation von Moral und Autonomie betrachtet werden. Darin lassen sich in Kants Autonomiekonzept nämlich Aspekte ausmachen, welche für ein Verständnis von Autonomie innerhalb Dependenz als realistischer orientierte Komplexität öffnen. Rieger-Ladich spricht von einer Komplexität hinsichtlich »äußerer und innerer Widerstände« als kennzeichnend für Kants Auffassung des »Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit«. 54 Insofern als Kants Verständnis der Autonomie im Bezug auf eine solche in Komplexität dargestellte Dependenz zu verstehen ist, lassen sich somit auch Möglichkeiten zu einer mehr integrierten Sichtweise erkennen. Seel beschreibt die zentrale Rolle des Begriffspaares Autonomie und Heteronomie als bestimmend für Kants praktische Philosophie. Kants negative Wertung der Heteronomie, welche für ihn im Umstand, dass sie der menschlichen Bestimmung zuwiderlaufend ist, begründet ist, sei parallel mit seiner Beschreibung derselben als unvermeidlichem Bestandteil menschlichen Lebens zu betrachten. Die Kombination beider Standpunkte komme einer Preisgabe von Autonomie als »durchgreifend wirksamer Selbstbestim53 Die ethische Bedeutung eines abstrahierten Anderen ist umstritten. So kann argumentiert werden, dass für das Konzept von Respekt, wie es in Kants Ethik zentral ist, ein abstrahiertes Verständnis des Anderen unabdinglich ist. »(…) we can respect persons only inasmuch as we consider them as abstract right-holders. Much of our moral advancement has depended on such a tendency toward abstraction.« (Appiah, 2005, XV) Umgekehrt wird aber auch die Bedeutung der Begegnung mit dem konkreten ›Anderen‹ diskutiert und problematisiert, gerade auch im Zusammenhang mit Erziehung im multikulturellen Kontext. Eine interessante Argumentation findet sich bei Stables. Er kritisiert die Annahme, die Begegnung mit Vielfalt fördere an sich und immer die Ziele einer interkulturellen Erziehung und weist darauf hin, dass Vorurteile und Konflikte dabei befestigt statt behoben werden können. Er betont, dass sowohl die Bedeutung der Begegnung mit dem konkreten ›Anderen‹ wie auch die Anerkennung der Unmöglichkeit eines vollständig geteilten Wertesystems, berücksichtigt werden müssen für Erziehung im Pluralismus. (Stables, 2005) Es stellt sich somit weder die Bedeutung des abstrahierten noch jene des konkreten Anderen als ethisch eindeutig dar. Pädagogisch gilt es, eine Bereitschaft gegenüber der Komplexität möglicher Effekte zu haben sowie zugleich der ethischen Bedeutung des abstrakten Konzepts und der konkreten Begegnung versuchen gerecht zu werden. 54 Rieger-Ladich, 2002, 443. Siehe auch Kant, 1974, 9.

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mung« gleich. 55 Seels Argumentation drängt zur Schlussfolgerung, eine Interpretation von Kants Autonomiekonzept als ausschließlich aus der Abgrenzung zur Heteronomie zu verstehen sei unzulänglich. Das gegensätzliche Verhältnis der beiden macht demgemäß ein essentielles aber nicht erschöpfendes Merkmal von Kants Autonomiekonzept aus. Es ist in der Besprechung oben mehrfach betont worden, dass Kants Anthropologie, d. h. die Bestimmung des Menschen als vernünftiges und damit autonomes Wesen, nicht deskriptiv zu verstehen ist. Sie als eine Beschreibung des Menschen zu lesen und ihm unrealistische Vorstellungen vom autonomen Individuum vorzuwerfen, ist daher ein Schuss ins Leere. Seine normative Absicht wird darin verkannt. Rieger-Ladich greift die Ambivalenz in Kants Anthropologie auf und schlägt statt einer deskriptiven eine hypothetische Lesart vor: »Der Mensch ist nicht jenes reine Vernunftwesen, das seine bereits angelegte Mündigkeit lediglich noch zu entfalten und zu entwickeln hätte. (…) Sinnlichen Begierden unterworfen und zugleich der Verstandeswelt angehörig, wird er zerrieben zwischen widerstreitenden Ansprüchen und konfligierenden Imperativen. Weil dieser elementare und prinzipiell unlösbare Widerstreit zur conditio humana gehört, bleibt die Rede von der Freiheit und der Autonomie des Willens stets hypothetischer Natur: Freiheit ist aus diesem Grund keine Eigenschaft, die den Menschen als Menschen auszeichnet, und die seine Würde begründet; vielmehr handelt es sich dabei um eine Annahme, die wir nach Kant zwingend machen müssen, um ihn überhaupt als unter dem kategorischen Imperativ stehend denken zu können« 56

Während Rieger-Ladich zu Recht festhält, Kants ambivalente Darstellung des Menschen zeuge davon, dass dieser keine realistische Abbildung des Menschen beabsichtigt, geht seine Schlussfolgerung, Kants Anthropologie sei als hypothetisch zu verstehen, nicht weit genug. Kant stellt sich weder die Frage, wie der Mensch tatsächlich ist, noch wie er sein könnte, sondern er widmet sich der Frage, wie der Mensch sein soll. Der Mensch als vernünftiges und autonomes Wesen kann bei Kant zwar als hypothetische Vorstellung bezeichnet werden. Es handelt sich aber um mehr als eine hypothetische Annahme. Es geht Kant um ein normatives Ideal. Jegliche Anwendung oder Kritik von Kants Autonomiebegriff müsste in Entsprechung einer normativen Lesart Auto55 56

Seel, 2002, 281–282 Rieger-Ladich, 2002, 444

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nomie als Ideal applizieren respektive kritisieren. Kants Autonomiekonzept kommt einer Aufforderung an den Menschen gleich, seiner Bestimmung gefälligst zu entsprechen! Der Mensch als vernünftiges Wesen und als autonomes ethisches Subjekt ist weder Realität noch Hypothese, sondern normativ ethisches Ideal. Darin ist auch die moralpädagogische Relevanz begründet. Insofern als eine normative Lesart seiner Anthropologie angemessen ist, kann von einem Interesse für das ethische Subjekt, welchem Autonomie geboten ist, gesprochen werden. Eine normative Lesart von Kants Anthropologie eröffnet die Möglichkeit, Autonomie als Ideal zu behandeln, welches trotz seinem Abstraktionsniveau (moralpädagogisch in dieser Arbeit als Großflächigkeit ausgedrückt) auf eine Realität bezogen ist, in welcher Aspekte von Dependenz relevant sind für Autonomie. Autonomie als gebotenes, unerreichbares Ideal ist für seine utopische Bestimmung und Begründung abhängig von einer Realität als gekennzeichnet von Dependenz. Gefasst als großflächige, moralpädagogische Zielvorstellung muss die metaphysisch begründete und unerreichbare Autonomie nicht unbedingt als problematisch erscheinen. Gerade in ihrer Abhängigkeit (als Reaktion auf Realität oder Status quo) hat sie pädagogisch ihre Berechtigung. Pädagogisch entsteht so eine Verbindung zwischen gebotener Autonomie (als großflächige Zielvorstellung) und Dependenz als empirisch erfahrbar und reell. Die pädagogische Bemühung um Autonomie stellt eine integrierende Verbindung zwischen der großflächigen Zielvorstellung als utopischem Ideal und jenen Aspekten von Dependenz, die die Erziehungssituation kennzeichnen, dar.

4.2.4 Gebotene Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung Wie kommen diese Bestimmungen Kants zum Ausdruck, wenn Kants Autonomiekonzept, gedeutet als gebotene Autonomie, als moralpädagogische Zielvorstellung artikuliert wird? Kann gebotene Autonomie im Sinne Kants Erziehung auf funktionale Weise bestimmen und legitimieren, d. h. lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten zwischen gebotener Autonomie als Zielvorstellung und den Ansprüchen dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung aufzeichnen? Wie könnte Erziehung zu gebotener Autonomie aussehen? Für Kant ist das pädagogische Paradox eigentlich kein Problem. Die zu moralpädagogischen 199 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Zwecken temporär vorgenommene Bevormundung zum Zweck der Bemündigung ist gemäß seiner Sichtweise insofern unproblematisch, als für ihn Kinder und auch ein Großteil der Erwachsenen ›unfreie‹ Individuen sind. 57 Die Legitimität von Erziehung wäre somit in ihrer Notwendigkeit begründet. Aus moralpädagogischer Sicht erscheint aber Kants dualistische Bestimmung des Menschen als vernünftiges Wesen einerseits und als von Neigungen geprägtes Wesen andererseits als komplexer. Ein Verständnis von Autonomie als gebotener Autonomie eröffnet aber eine interessante Möglichkeit, Autonomie im Anschluss an das pädagogische Paradox zu betrachten. Kants gebotene Autonomie greift ein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Pflicht auf, welches auch im pädagogischen Paradox zum Ausdruck kommt. Kants Autonomiekonzept enthält ein Spannungsverhältnis, welches sich auch im pädagogischen Paradox ausdrückt. Es ist oben festgestellt worden, dass Kants gebotene Autonomie insofern einen Ansatz zu einer integrierten Sichtweise von Autonomie und Dependenz darstellt, als Autonomie nicht als Ausdruck unbegrenzter individueller Freiheit verstanden wird, sondern mit moralischen Auflagen verbunden ist. Diese Auflagen bestehen aus einem Verständnis von Freiheit als Verpflichtung zu Vernunft, welche ein grundlegendes Kriterium für die Bestimmung und die Legitimität von Autonomie darstellt. Es wurde darauf hingewiesen, dass ein solches Verständnis Autonomie als in Aspekte von Interaktion integriert, wie sie etwa in Respekt und Vertrauen zum Ausdruck kommen, betrachtet. Die zu Anfang des Kapitels erwähnten ›Schwänz-SMS‹ in Göteborger Gymnasien aktualisieren das Dilemma des pädagogischen Paradoxes. Der Rektor der betreffenden Schule hält in einem Interview fest, die Absicht sei, Schüler zu mehr Eigenverantwortung zu bringen. Zugleich beschreibt er die Methode der ›Schwänz-SMS‹ als Intention der Schule, die Kontrolle über die Schüler auszuweiten. 58 Damit ist die Der Mensch muss gemäß Kant (gemäß dem umstrittenen Werk Über Pädagogik) erzogen werden, um überhaupt Mensch zu werden. (Kant, 1803, 7, 32; siehe dazu Fußnote 22, S. 21.) Hier wird wiederum die Ambivalenz bezüglich eines empirischen Status des Menschen deutlich. Während Kant metaphysisch und normativ (siehe oben) den Menschen als vernünftiges Wesen beschreibt, scheint er den einzelnen konkreten Menschen nicht als tatsächlich autonom zu betrachten. (Smeyers, 2006) 58 Interview mit dem Schulrektor in dem Nachrichtenmagazin ›Rapport‹ http://svt.se/ (Zugriff am 22. September 2008). Die Ausweitung der Kontrolle durch den ›SMSDienst‹ bei Schwänzen macht allerdings nur eine geringe Verschärfung der bereits seit ein paar Jahren erhöhten Kontrolle unerlaubter Abwesenheit aus. Seit 2006 sind gemäß 57

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Autonomie als Ausdruck menschlicher Vernunft (Kant)

Frage nach Dependenz als in Autonomie integriert angesprochen. Inwiefern kann soziale Kontrolle, wie durch ›Schwänz-SMS‹ ausgeübt, als Ausdruck von Dependenz, die integrierter Aspekt von Autonomie ist, betrachtet werden? Ist die Kontrolle gerechtfertigt als pädagogisch notwendiges oder zumindest funktionierendes Mittel zur Förderung von Autonomie als kompetentem (d. h. gemäß Kant vernünftigem) Umgang mit Abhängigkeiten? Gemäß einem kantischen Verständnis von Autonomie ist autonom, wer der Vernunft gemäß, d. h. in gegenseitigem Respekt handelt. Aus der Sicht der Schule und der Eltern ist Schwänzen kaum legitimer Ausdruck von Autonomie als vernünftiger Wahl. Das setzt aber umgekehrt einen Schulkontext voraus, welcher von den Schülern als sinnvoll erlebt wird. Dem Schüler spricht die Kontrolle durch ›Schwänz-SMS‹ in gewisser Weise ihre Integrität ab und kann als Ausdruck fehlenden Respekts empfunden werden. Vor allem aber ist ein Ausüben solcher Kontrolle Ausdruck fehlenden Vertrauens. Schülern wird durch die Kontrollausübung anhand von ›Schwänz-SMS‹ nicht nur Vertrauen entzogen, sondern auch Vertrauenswürdigkeit abgesprochen. Der Rückgriff der Schulleitung und der Eltern auf Kontrollausübung durch ›Schwänz-SMS‹ ist anhand von Meijbooms oben erwähntem Verständnis von Vertrauen ein Hinweis auf deren Unvermögen »mit Unsicherheit oder fehlender Kontrolle umgehen zu können«. 59 Meijboom hebt für seine Definition von Vertrauen (als Umgang mit Ungewissheit) die Notwendigkeit »eine(r) Haltung, die befähigt, mit autonomen Subjekten in Situationen der Ungewissheit umzugehen« hervor. 60 Er integriert so sowohl den Begriff Vertrauen wie auch jenen der Autonomie in einen Kontext sozialer Interaktion. In der Folge des Zusammenhanges zwischen Vertrauen und Autonomie erscheint beeinträchtigtes Vertrauen gegenüber jemandem sowie der damit einhergehende Entzug von Vertrauenswürdigkeit zugleich als Beeinträchtigung der Autonomie der eigenen und anderen Person. Dies ist der Fall bei der Anwendung von ›SchwänzSMS‹. 61 Wie oben besprochen, ist eine Beeinträchtigung von Vertrauen schwedischem Schulgesetz Rektoren verpflichtet, unerlaubte Abwesenheit Eltern mitzuteilen. Außerdem können Eltern schon seit etwa zwei Jahren in den besagten Schulen via Internet in die digitalen Anwesenheitsregister einloggen, um die Anwesenheit ihrer Kinder abzurufen. 59 Meijboom, 2008, 128 60 Meijboom, 2008, 128 (meine Übersetzung) 61 Meijboom schreibt: »Trusting or withdrawing trust illustrates how a person judges

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Autonomie in Interaktion

nicht einfach ein Nebeneffekt, sondern in Bezug auf Autonomie von zentraler Bedeutung. Denn wenn Autonomie und Vertrauen voneinander abhängig sind, dann ist es schwierig, Maßnahmen wie jene der ›Schwänz-SMS‹ zu rechtfertigen innerhalb von Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie. Der Kontrast zwischen einer Zielvorstellung ›gebotener Autonomie‹ und den starken Ansprüchen, die durch ›Schwänz-SMS‹ artikuliert werden, ist aus der Perspektive eines kohärenzorientierten Begründungsmusters zu stark. Wenig Aufschluss zur Bedeutung von Kants Autonomiekonzept als moralpädagogischer Zielvorstellung geben die spärlichen und eher spekulativen Kommentare Kants zu Moralentwicklung und Erziehung. Er spricht von einem »unaufhörliche(n) Streben zur pünktlichen und durchgängigen Befolgung eines strengen unnachsichtlichen, dennoch aber nicht idealischen, sondern wahren Vernunftgebots«. 62 Moralentwicklung ist für Kant ein »ins unendlich gehender Progressus« zur »völligen Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze«. 63 Ausgangspunkt für die Moralerziehung ist ein »noch ungebildetes oder verwildertes Gemüt«. 64 Kant beschreibt den moralpädagogischen Prozess als einen zunehmenden »Fortschritt der Urteilskraft«. Es geht dabei um Erkenntnis und um Ansichten. 65 Die Erkenntnis des moralischen Wertes einer pflichtgemäß ausgeführten Handlung, meint Kant, erzeugt Wirkungen auf die Seele, die sich »erhebt«, sodass sich der »Wunsch erregt, auch so handeln zu können«. Diese Wirkung der vernunftgemäßen Erkenntnis auf emotional gesteuerte Motivation kommt gemäß Kant schon bei »Kindern von mittlerem Alter« vor. Kant wendet sich gegen eine »vermischte Sittenlehre, die aus Triebfedern von Gefühlen und Neigungen und zugleich aus Vernunftbegrifhis own autonomy and that of the other agent.« Während blindes Vertrauen eine Beeinträchtigung eigener Autonomie ausdrückt, kommt der Entzug von Vertrauenswürdigkeit einer abwertenden Haltung gegenüber der Autonomie der anderen Person gleich. (Meijboom, 2008, 131) 62 Kant, 1961, 195–196 63 Kant, 1961, 194 64 Kant, 1961, 238 65 Kant, 1961, 242. Kant schlägt eine konkrete Methode vor, bei welcher von Biographien ausgegangen werden soll. Kinder und Jugendliche sollen Handlungen vergleichen und beurteilen. Kant bezeichnet dies als »Spiel der Urteilskraft«. Die Kinder sollen wetteifern. Dabei erwerben sie eine Gewohnheit, Handlungen als gut oder schlecht zu beurteilen. Dieses Urteilsvermögen bezeichnet Kant als »Grundlage zur Rechtschaffenheit im Lebenswandel«. (Kant, 1961, 242)

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Autonomie als Ausdruck menschlicher Vernunft (Kant)

fen zusammengesetzt ist«. 66 Aber diese Ausführungen müssen verstanden werden vor dem Hintergrund des Umstandes, dass für Kant Moralentwicklung ein lebenslanger Annäherungsprozess an ein nicht erreichbares Ideal ist. Die Erreichung der totalen Autonomie, d. h. des »höchsten Gutes«, ist, so gesteht Kant, nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich. 67 Kants Verweis auf die Unsterblichkeit der Seele markiert einen Abbruch im Verhältnis zu den Ansprüchen, die er im Übrigen macht. So fällt Kants radikales metaphysisches Verständnis des Menschen zurück auf seine Beschreibung der psychischen Ambivalenz zwischen Emotionen und Vernunft. Kants Sichtweise zu Moralentwicklung und Erziehung macht einen eher unbedachten Eindruck. Außerdem sind die spärlichen Kommentare dazu in zweifacher Weise problematisch. Erstens wird Erziehung von Kant dargestellt als Stärkung der Vernunft respektive deren Einfluss auf Emotionen. Dabei setzt er ein allzu enges Verständnis von Vernunft voraus, was ein trivialisiertes Bild von Dependenz ergibt. Zweitens muss Erziehung bei Kant auch als Versuch zur Überbrückung der Diskrepanz zwischen metaphysischem Ideal und psychischer Realität verstanden werden. Wie genau sich diese beiden Kategorien aufeinander beziehen und wie die Funktion von Erziehung in dieser Hinsicht verstanden werden soll, verbleibt unklar bei Kant. Es soll in der Folge hier eher darum gehen, Kants Autonomieverständnis als ethisch definiert (und unabhängig von Kants spekulativen Kommentaren zu Moralentwicklung und Erziehung) auf eine mögliche moralpädagogische Funktionalität hin zu untersuchen.

Kant, 1984, 54 Für Kant sind das moralische Gesetz und die menschliche Moralentwicklung in der Unsterblichkeit der Seele begründet. Damit verlagert er Autonomie in einen Bereich metaphysischer Annahmen, mit denen eine Begründungsproblematik verbunden ist. (Rieger-Ladich, 2002, 444) Bei Kant ist Moralentwicklung sowohl phylogenetisch wie auch ontogenetisch zu verstehen, sodass das primäre Ziel von Moralerziehung nicht auf individuelle Entwicklung ausgerichtet ist, sondern kosmopolitisch, auf »species perfection«. Diese Sichtweise projiziert die Verwirklichung moralpädagogischer Ideale auf die Menschheit als Ganzes. Durch konstante Verbesserung von einer Generation zur nächsten wird die Menschheit vom Zustand der Zivilisation in einen Zustand der Moralisierung übergehen. (Kant, 1803, 8–14; Louden, 2000, 53–55) Diese Ausführungen zu Erziehung sind Über Pädagogik entnommen. (Siehe dazu Fußnote 22, S. 21.) Allerdings passt ein solches Verständnis in die metaphysisch bestimmten Aussagen Kants zu Autonomie, wie oben dargelegt. 66 67

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Die dem Menschen als vernünftiges Wesen gebotene Autonomie ist, wie oben diskutiert, weder gradierbar noch realistisch erreichbar, sondern muss als normatives Ideal verstanden werden. Die Vernunft als nur sich selber verpflichtet und damit alleinig normativ kann Autonomie nur als Totalität erstreben. Gebotene Autonomie stellt sich, wie in Kapitel 2 besprochen, in diesem Sinne als deutliche Illustration einer großflächigen Zielvorstellung dar. Anhand der Autonomie im Sinne Kants kann darum keine starke Asymmetrie zwischen Kindern und Erwachsenen beansprucht werden. Kants negative Wertung von Heteronomie zeichnet sich in seinem Autonomiekonzept als Reaktion und Vision ab. Als unerreichbares Ideal kann Autonomie nur einen Anspruch dialektischer Asymmetrie aktualisieren. Autonomie im Sinne Kants stellt kein konkretes Ziel als Resultat eines abgrenzbaren und kontrollierbaren Lernprozesses dar. Erziehung zu Autonomie bietet sich somit eher als Erziehung in Autonomie an. Es kann – ausgehend von einem kantischen Autonomieverständnis – nicht darum gehen, dass ein ›autonomer Erwachsener‹ Autonomie modelliert und gestaltet. Vielmehr bedingt gebotene Autonomie als Zielvorstellung Erziehungssituationen, welche geprägt sind von gemeinsamen Bemühungen um Autonomie durch die erziehende und zu erziehende Person. Kants Autonomiekonzept präsentiert sich somit als Ziel für einen Entstehungs- oder Einwirkungsprozess nicht als plausibel, 68 sondern bietet sich eher als übergreifende Normativität oder als normative Rahmenbedingungen im Sinne von Erziehung ›unter dem Vorzeichen‹ gebotener Autonomie an. Kants gebotene Autonomie kann insofern als funktionalen Wert betrachtet werden, als sie, auf die Erziehungssituation bezogen, normative Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt. Zentral ist dabei für das Verständnis gebotener Autonomie, dass bei Kant autonom handeln – als vernünftig handeln – anhand des kategorischen Imperativs zu deuten ist. Autonomie ist konstituiert in Handlungen, die Respekt gegenüber Anderen ausdrücken. Damit ist, wenn gebotene Autonomie normativ sein soll, ein Moment gegenseitigen Respekts als kennzeichnend für die Erziehungssituation erforderlich. Dies entspricht einem Anspruch dialektischer Asymmetrie. Es geht darum, dass erziehende und zu erziehende Person in der Erziehungssituation sich

Den bekanntesten Versuch, kantische Autonomie in Bezug auf einen Entwicklungsprozess zu erfassen, stellt Kohlbergs Stufentheorie zu Moralentwicklung dar.

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Autonomie als Ausdruck menschlicher Vernunft (Kant)

gegenseitig Respekt gewähren. Dies knüpft an den Begriff generationing als intersubjektives und gegenseitiges Konstituieren von Identitäten an. Gegenseitiger Respekt geht einher mit gegenseitigen Abhängigkeiten in der Erziehungssituation, die von einer Zielvorstellung gebotener Autonomie geprägt ist. Wenn gebotene Autonomie auf diese Weise normierend für Erziehung in Autonomie, d. h. für Erziehungssituationen, gedeutet wird, erscheint der Anspruch dialektischer Asymmetrie angemessen. Darin konstituiert sich eine Bedingung gegenseitigen Respekts. Die Verwendung verschiedener Technologien zur Überwachung von Kindern und Jugendlichen kann unter Beizug eines kohärenzorientierten Begründungsmusters mit diesen normativen Vorgaben der Zielvorstellung gebotener Autonomie abgestimmt werden. Optimalerweise geschieht das gemeinsame Ringen um Autonomie in gegenseitigem Einverständnis. So allerdings stellt sich die Erziehungssituation nur selten dar. Schilderungen mehr oder weniger aufreibender Konflikte dominieren oft Beschreibungen von Erziehungssituationen – sowohl seitens der Eltern wie seitens der Kinder. 69 Wenn Jugendliche der Schule fernbleiben, stellt dies einen Konflikt dar, in welchem Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung ins Wanken gerät. Der Versuch von Schulen und Eltern, mit ›Schwänz-SMS‹ Schulschwänzen zu verhindern, stellt einen Kontrast zur Vorstellung der Erziehungssituation als gemeinsames Streben nach Autonomie dar. Insofern als es, ausgehend von Kants Autonomiekonzept, um einen Anspruch dialektischer Asymmetrie geht, müssten sich erziehende und zu erziehende Person beide um Autonomie bemühen. In dem gemeinsamen Ringen um Autonomie erscheint als adäquater Anspruch dialektische Asymmetrie. Die zu Beginn des Kapitels erwähnten Überwachungstechnologien repräsentieren jedoch einen Anspruch an Asymmetrie als einseitige Berechtigung zu Kontrolle. Problematisch erscheint dies aus einer kantischen Sichtweise allein schon darum, weil fraglich ist, ob einer solchen Kontrolle wirklich Respekt zugrunde liegt. O’Neills Forderung, kantische Autonomie mit einer Bedingung von Vertrauen zu verbinden, macht weiter deutlich, dass Erziehung zu (oder in) Autonomie, wie konzep69 Zahlreiche Beispiele finden sich in Aussagen von Eltern zu ihrer Rolle als Erzieher im Rapport des schwedischen Amtes für Volksgesundheit (Statens Folkhälsoinstitut) Nya möjligheter. Metoder för föräldrastöd från förskolan till tonåren. (Statens Folkhälsoinstitut, 2005)

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tualisiert von Kant, schlecht vereinbar ist einem Anspruch an Kontrolle, wie er mit einer ›Schwänz-SMS‹ direkt aus der Schule zum Ausdruck kommt. Es fragt sich, inwiefern Kontrolle durch Schule und Eltern als lückenlose Überwachung der Schüler berechtigt ist durch die ›wohlwollende‹ Absicht der Erwachsenen bezüglich der Schulbildung der Kinder. Die Möglichkeit solcher lückenlosen Überwachung stellt sich bezüglich des Anspruches an Asymmetrie als starke Machtausübung dar, was in einem scharfen Kontrast zur Zielvorstellung Autonomie (und Eigenverantwortung, wie es der Rektor ausdrückte) steht. Das ›Gebot der Autonomie‹ kommt zum Ausdruck in der Verbindung von Freiheit und Pflicht. Die menschliche Freiheit, begründet im Zugang zur Vernunft, ist verpflichtend und verlangt moralische Autonomie als ethische Verbindlichkeit. Autonomie als normativer Begriff bestimmt bei Kant das ethische Subjekt. Gebotene Autonomie im Sinne Kants bietet sich, so die Argumentation hier, als legitime moralpädagogische Zielvorstellung insofern an, als sie in Zusammenhang mit einem Anspruch an dialektische Asymmetrie verstanden wird. So kann sie eine Erziehungssituation insofern normativ prägen, als sie ein Ringen um Autonomie als kennzeichnend und wertvoll für die erziehende und die zu erziehende Person wertet. Autonomie, verbunden in ihrer Bestimmung und Begründung mit dem kategorischen Imperativ, bedingt respektierende Interaktion.

4.3 Autonomie als ungebundene Reflexion in Kooperation (Rawls) Im Rahmen einer kantischen Ethik sind mehrere Versuche zu verzeichnen, ein kantisches Verständnis der Autonomie weiterzuentwickeln und zu erweitern mittels eines intersubjektiv gegründeten Verständnisses von Autonomie. Dazu gehören die Ansätze von Rawls und Habermas. Beide sind mit Kant einig, dass moralische Autonomie nicht nur ethisch wertvoll ist, sondern auch normierende Funktion hat. Die normative Gültigkeit einer Handlung oder einer moralischen Stellungnahme ist (unter anderem) zu beurteilen anhand der dabei vorhandenen Autonomie. Dabei werden, ebenfalls in Anlehnung an Kant, drei Kriterien an eine normierende Autonomie geknüpft. Autonomie wird erstens mit Rationalität als notwendiger Bedingung verbunden. Autonomie wird zweitens im Rahmen eines – mehr oder weniger plausibel 206 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Autonomie als ungebundene Reflexion in Kooperation (Rawls)

artikulierten – Formalismus fixiert und wird drittens mit einem universellen Anspruch versehen. Was die beiden in den zwei folgenden Abschnitten besprochenen und als intersubjektive Konzepte der Autonomie bezeichneten Konzepte von Kants Konzept unterscheidet, ist, was Binder hinsichtlich Rawls als Erweiterung von »Kants Vorstellung einer individuellen Prüfung (…) um eine intersubjektive Lesart« bezeichnet. Binder wertet diese intersubjektive Lesart bei Rawls außerdem als durch Umstände der spätmodernen Gesellschaft, insbesondere Wertepluralismus und das »Fehlen ultimativer Begründungsmaßstäbe«, berechtigt. 70 Diese Annahmen sollen in Bezug auf die beiden Autoren Rawls und Habermas untersucht werden. Die nachfolgende Besprechung geht also darauf ein, inwiefern diese intersubjektive Lesart tatsächlich einen essentiellen Unterschied zu Kant ausmacht. Die Frage, inwiefern ein solcher Unterschied den Bedingungen einer spätmodernen Gesellschaft (besser) gerecht wird, ist damit ebenfalls angeschnitten. Es wird dabei zurückgekommen auf die oben bereits berührten Aspekte überwachender Technologien als Aspekt von Erziehung. Hier wird außerdem die übergeordnete Frage beleuchtet, inwiefern eine intersubjektiv gefasste Autonomie innerhalb der Dichotomie zwischen Autonomie und Dependenz zu verstehen ist und was dies bedeutet.

4.3.1 Im Urzustand modellierte Autonomie Rawls’ Autonomiekonzept ist kontraktethisch bedingt. Ausgangspunkt ist die Auffassung, Menschen seien generell von einer egozentrischen und damit antisozialen Tendenz gekennzeichnet und dieser müsse entgegengewirkt werden, wenn eine auf Gerechtigkeit gegründete Gesellschaft etabliert werden soll. Die Tendenz der Einzelperson oder von Interessengemeinschaften, primär eigene Bedürfnisse zu befriedigen, muss quasi überlistet werden. Zu diesem Zweck lanciert Rawls den Schleier des Nichtwissens (»veil of ignorance«). Dieser ist eine Art Leerraum in welchem sich das Individuum in Unkenntnis der eigenen Voraussetzungen und der persönlichen Situation befindet. Während der Schleier des Nichtwissens also Bindungen des Individuums an gesellschaftliche Strukturen aufhebt, werden diese ›ungebundenen‹ Indi70

Binder, 2003, 51–52

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Autonomie in Interaktion

viduen einander im Urzustand (»original position of equality«) 71 zum Zweck der intersubjektiven Reflexion zugeführt. 72 Rawls’ Modell bettet das ethische Subjekt in ein Spannungsverhältnis zwischen relationaler Abgeschiedenheit und Verbundenheit. Einerseits wird das Individuum durch den Schleier des Nichtwissens seinen sozialen Bestimmungen und relationalen Bindungen enthoben. Abhängigkeiten und Machtverhältnisse sollen außer Spiel gesetzt werden, sodass Einzelpersonen weder als Alliierte noch als Konkurrenten auftreten können und somit nur als absolut Gleichgestellte miteinander verhandeln können. Auf diese Weise radikalisiert Rawls das losgelöste ethische Subjekt Kants. Andererseits werden die Einzelpersonen in diesem Zustand der Ungebundenheit gerade miteinander vereint, indem sie ihren Mitmenschen im Urzustand zugeführt werden. Der Urzustand stellt so paradoxerweise eine Art unzertrennliche Schicksalsgemeinschaft dar, in welcher voneinander unabhängige Einzelpersonen den Umstand gegenseitiger Abhängigkeit zu regeln haben. Es geht für Rawls bei Gerechtigkeit und Moral immer um Verhandlungen und um Abkommen. In diesem kontraktethischen Sinne sind die voneinander losgelösten Individuen stets zugleich auf eine grundlegende Wie Binder bemerkt, ist der deutsche Begriff Urzustand als Übersetzung des Begriffes original position irreführend, da der Begriff Urzustand eine Zeitperspektive zu suggerieren scheint. (Binder, 2003, 49) Da Urzustand aber die gebräuchliche Übersetzung von original position ist, wird der Begriff auch in dieser Arbeit angewendet. 72 Rawls, 1971, 126, 128. Hauptsächlicher Fokus dieses Abschnittes sind die moralphilosophischen Aspekte von Rawls’ Theorie in Bezug auf sein Autonomiekonzept. Rawls’ Werk auf diese Weise zu lesen, kann problematisch erscheinen, da Rawls in jüngeren Texten keine metaphysischen, sondern nur politische Ansprüche machen will. (Siehe dazu Rawls, 1993.) Dies ist gemäß Frohock zu verstehen als Ausfall von Rawls’ Replik auf Kritik, die gegen ihn aus kommunitaristischer Richtung gerichtet worden ist. Kommunitaristen haben Rawls vorgeworfen, ein Personenkonzept (metaphysischer Art) zu vertreten, welches die Person als unencumbered self, als leeres und isoliertes Selbst konstruiert. Dagegen hat Rawls erwidert, der Urzustand sei hypothetisch zu verstehen. Frohock bemerkt, dass alle politische Theorie abhängig und geprägt ist von metaphysischen Annahmen und dass insbesondere liberale politische Theorie stark abhängig ist von metaphysischen Annahmen bezüglich der Person. (Frohock, 1997) Mit diesen metaphysischen Annahmen zur Person sind, wie die folgende Besprechung von Rawls deutlich machen soll, auch moralphilosophische Annahmen zu Autonomie verbunden. Wie Binder außerdem bemerkt, erzwingt die politische Verschiebung in Rawls’ Werk keine durchgreifende Revision seiner früheren, eher metaphysisch und moralphilosophisch formulierten Ansprüche. (Binder, 2003, 46–47) In diesem Sinne werden in dieser Arbeit philosophische und moralphilosophische Aspekte von Rawls – teilweise politisch formuliertem – Autonomiekonzept behandelt. 71

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Weise miteinander verbunden und abhängig voneinander. Dieses Spannungsverhältnis ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Rawls’ Autonomiekonzept. Darin wird das Verhältnis zwischen Autonomie und Dependenz, welches oben als bei Kant trivialisiert dargelegt wurde, verfeinert und als komplexeres Verhältnis dargestellt. Grundlegend wird das Verhältnis zwischen Autonomie und Dependenz bei Rawls, wie nachfolgend gezeigt wird, aber dennoch als Dichotomie verstanden. Rawls’ Autonomiekonzept ist einerseits um das kantische Ideal der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung durch Vernunft zentriert. Die Bedeutung und Funktion von Vernunft oder Rationalität wird dabei anhand der Prozedur des Urzustandes festgelegt. Wer Prinzipien befolgt, welche Ausdruck gemeinsamer, unter den Bedingungen des Urzustandes zustande gekommenen Abkommen sind, handelt autonom. 73 Andererseits kommt gerade in dieser im Urzustand festgelegten Prozedur auch Rawls’ intersubjektive Lesart Kants zum Vorschein und im Rahmen dieser finden sich auch Aspekte des Autonomiekonzeptes, die Autonomie innerhalb von Dependenz ansiedeln. Die Freiheit des Einzelnen ist ständig begrenzt durch die Zusammengehörigkeit des Einzelnen mit Anderen im Urzustand. In dieser Bezogenheit ist das ethische Subjekt in seiner Autonomie intersubjektiv bestimmt. Rawls verlegt mit Hilfe des Urzustandes die autonome Reflexion und Stellungnahme des Individuums in das Kollektiv gleichgestellter, rationaler Individuen und unterstellt sie dem übergeordneten Ziel, eine gerechte Gesellschaft zu etablieren. »The person’s choice as a noumenal self I have assumed to be a collective one. The force of the self’s being equal is that the principles chosen must be acceptable to other selves. Since all are similarly free and rational, each must have an equal say in adopting the public principles of the ethical commonwealth.« 74

Der Urzustand ist bei Rawls als verbunden mit seinem Konzept des reflexiven Equilibriums zu betrachten. Es geht ihm um eine hypothetische Reflexion, welche durch ein reflektierendes Hin- und Herpendeln zwischen Urteilen und Prinzipien, oder allgemeiner, zwischen Argumenten verschiedener Generalisierungsebenen, zustande kommt. 75 Rawls, 1999a, 452–453 Rawls, 1971, 257 (meine Kursivierung) 75 Rawls, 1999a, 18; 1993, 8. Rawls erweckt damit den Eindruck, die Bedingungen des Urzustandes seien nicht ein für alle Male fixiert. Zugleich betont er, dass die Reflexion, 73 74

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Der Urzustand ist kein rein formalistisch definierter Parameter für normativ gültige Rationalität. Dies bedeutet gemäß Rawls, dass, was ausgehend von der Perspektive des Urzustandes angenommen wird, nicht in beliebigen Prinzipien zum Ausdruck kommen kann. »To say that a certain conception of justice would be chosen in the original position is equivalent to saying that rational deliberation satisfying certain conditions and restrictions would reach a certain conclusion.«76

Diese Annahme Rawls’ ist parallel mit Habermas’ Annahme, dass ein Diskurs mit idealer Sprechsituation immer zu einem Konsens führen kann. Beide Verfasser müssen, um an diesem Formalismus (oder Prozeduralismus) festhalten zu können, zugleich von der problematischen kantischen Annahme ausgehen, dass der Mensch auf eine grundlegende Weise vernünftig und moralisch dem Guten verpflichtet ist. Autonomie wird gemäß Rawls im Urzustand, d. h. anhand dessen konstituierenden Bedingungen ›modelliert‹. Rawls unterscheidet dabei zwischen »rationaler und vollständiger Autonomie« (»rational and full autonomy«). Rationale Autonomie ist gemäß Rawls nicht als Ideal, sondern als »eine Weise, die Idee des Rationalen zu modellieren« zu verstehen. Vollständige Autonomie dagegen ist als politisches Ideal zu verstehen. 77 Vollständige Autonomie ist modelliert in den strukturellen Aspekten des Urzustandes (»how it is set up«), in der Art und Weiwelche zum reflexiven Equilibrium führt, nur hypothetischer Art ist. Es ist wichtig festzuhalten, dass Rawls mit dem reflexiven Equilibrium ein Kohärenzkriterium einführt und damit eine Letztbegründung umgeht. In seiner Beschreibung und Anwendung des Urzustandes behandelt Rawls diesen aber als in seinen formalistisch gefassten Bedingungen festgelegt. So wird er im Folgenden auch gedeutet. 76 Rawls, 1971, 255 77 Rawls, 1999a, 453; 1993, 28. Der Umstand, dass Rawls’ rationale Autonomie nicht als Ideal bezeichnet, muss vor dem Hintergrund der politischen Dimension seiner Arbeit verstanden werden. Rawls meint kaum, rationale Autonomie sei, im Unterschied zu vollständiger Autonomie als faktisch vorhanden oder gänzlich verwirklicht zu betrachten. Vielmehr bedeutet seine Aussage, dass vollständige Autonomie als politisches Ideal als konkretisierbar oder umsetzbar zu betrachten ist. In einem moralphilosophischen Sinne ist aber gerade sein Konzept rationaler Autonomie als Ideal zu verstehen. Die Unterscheidung zwischen rationaler und vollständiger Autonomie kann auch gedeutet werden als ein Unterschied bezüglich des Autonomieverständnisses, wie er zwischen einem Autonomieverständnis gemäß Mill und einem Autonomieverständnis gemäß Kant besteht. Während Mill Autonomie als das gesellschaftlich sanktionierte Recht des Individuums auf Freiheit definiert und diskutiert, geht es bei Kant um ein Ideal geknüpft an und bedingt durch Rationalität. (Siehe Fußnote 16, S. 185.)

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se, wie die Beteiligten im Urzustand in Bezug aufeinander und in Bezug auf das Nichtwissen situiert sind. Rawls betont dabei, dass er vollständige Autonomie nicht als ethischen Wert, sondern als politisches und damit realisierbares Ideal versteht. Er spricht also von der Autonomie von Bürgern, wenn diese gemäß Prinzipien der Gerechtigkeit (als Ausdruck fairer Kooperation) handeln, die sie sich selber vorschreiben würden unter den Bedingungen des Urzustandes. 78 Vollständige Autonomie ist somit als politisches Ideal gekennzeichnet von einer kooperativen und handlungsorientierten Perspektive und es gilt nun zu sehen, inwiefern eine solche Bestimmung auch für rationale Autonomie gilt. Rationale Autonomie ist modelliert im Urzustand. Was Bürger dazu befähigt, rational autonom zu sein, sind deren intellektuelle und moralische Fähigkeiten. Dazu gehören die moralische Fähigkeit, ein Konzept des Guten formen, revidieren und befolgen zu können; die Fähigkeit zu einer Vorstellung von Gerechtigkeit; die Fähigkeit zu Authentizität und damit Berechtigung, gültige moralische Ansprüche zu machen (im Zusammenhang mit diesen Konzepten des Guten und den Vorstellungen von Gerechtigkeit); die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen für Folgen dieser Ansprüche als Bereitschaft zur Beurteilung durch Andere; sowie die Fähigkeit, Abkommen zu treffen, insofern diese unter vernünftigen Formen gebildet werden. 79 In der Formulierung dieser Aspekte von Autonomie als Kompetenz verbleibt eher unklar, inwiefern das autonome Individuum als eingebettet in soziale Strukturen zu verstehen ist. Abhängig vom Verständnis des Guten und Gerechten (als gemeinschaftlich oder individuell konstituiert) etwa lassen sich diese Formulierungen Rawls’ unterschiedlich deuten. Gemäß Rawls äußert sich rationale Autonomie auf zwei Weisen. Erstens ist rationale Autonomie Ausdruck der »rein prozeduralen Gerechtigkeit« (pure procedural justice) des Urzustandes. Rein prozedurale Gerechtigkeit macht die im Urzustand angenommenen Prinzipien ausschließlich abhängig von den Bedingungen des Urzustandes. Keine externen Voraussetzungen sind für den Prozess im Urzustand normativ. Autonomie besteht somit in einer Loslösung vom Partikularen und von substantiellen Annahmen. Zweitens ist rationale Autonomie Ausdruck von Interessen höherer Ordnung, welche die Entscheidungen der hypo78 79

Rawls, 1993, 77–78 Rawls, 1993, 77, 30–34, 72

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thetischen Beteiligten steuern. Aufgrund der oben genannten intellektuellen und moralischen Fähigkeiten werden die Interessen der Beteiligten als Interessen höherer Ordnung betrachtet, d. h. als grundlegende und »normalerweise regulative und effektive« Interessen. Demgemäß meint Rawls, dass rationale Autonomie in einer Ungebundenheit von primären oder unabhängigen Prinzipien konstituiert ist und als Funktion authentischer Vertretung der eingenommenen Interessen zu verstehen ist. Rawls betont dabei, dass diese Interessen als Interessen höherer Ordnung nicht direkter und simpler Ausdruck primärer Bedürfnisse wie etwa Nahrung oder Wohlstand sind. (Diese versteht Rawls’ Ausdruck von Heteronomie). Vielmehr sind die primären Bedürfnisse als Mittel zur Verwirklichung ›höherer‹ moralischer Ziele zu verstehen. 80 Während vollständige Autonomie also Aspekte gerechter Kooperation und Handlungsorientierung umfasst, enthält rationale Autonomie vordergründig einen prozeduralen Aspekt sowie einen Aspekt der Authentizität. Diese Aspekte sind auf verschiedene Weisen Ausdruck eines Autonomiekonzeptes, welches Autonomie sowohl als Gegenüber zu Dependenz wie auch innerhalb von Dependenz fasst. Der Aspekt gerechter Kooperation ist zentral für Rawls’ Autonomiekonzept und wird im folgenden Abschnitt ausführlicher besprochen. Handlungsorientierung weist als Aspekt politischer Autonomie auf ein Interesse Rawls’ hin, welches über Kants metaphysische und moralphilosophische Bestimmung des autonomen Individuums hinausgeht und öffnet für Sichtweisen, welche Autonomie innerhalb von Dependenz ansiedeln. Allerdings macht der politische Charakter von Rawls’ Diskussion eine im Bezug auf das moralphilosophische und moralpädagogische Interesse dieser Arbeit weniger relevante Perspektive aus. Es geht hier bei Rawls eher um die politische Organisation entsprechender Gesellschaftsstrukturen als um die Frage nach Autonomie als Aspekt moralischer Kompetenz. Der Aspekt der Authentizität, in welchem sich Rawls auf eine konsistente Vertretung und Befolgung von Interessen höherer Ordnung beruft, fasst Authentizität als Kohärenz mit der eigenen Person und deren Präferenzen. 81 Damit einherRawls, 1993, 72–76 Rawls entwickelt sein Verständnis so genannt höherer Interessen und die Funktion von Authentizität für Autonomie nicht näher. Seine hier referierten Aussagen deuten jedoch auf ein Verständnis von Authentizität als Kohärenz hin, wie es auch von Ekstrom vertreten wird. In Kapitel 6 werden hierarchische Theorien zu Person und Autonomie sowie die Bedeutung von Authentizität für Autonomie näher besprochen.

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Autonomie als ungebundene Reflexion in Kooperation (Rawls)

gehend ist eine Tendenz zu einer rigiden Unterscheidung zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹, ausgedrückt in einer Absonderung des Individuums von seiner Umwelt. Der prozedurale Aspekt rationaler Autonomie verweist seinerseits schließlich auf ein Autonomiekonzept, welches Autonomie als Gegenüber von Dependenz versteht. Einhergehend mit dem oben beschriebenen Formalismus ist die im Urzustand festgehaltene Distanzierung von partikularen Umständen. Nur wenn von partikularen Umständen ›entfernt‹ und ›ungestört‹ geurteilt wird, kann, so Rawls, von einem fairen Abkommen die Rede sein. 82 Dabei dient der Schleier des Nichtwissens dazu, zu verhindern, dass moralische Sichtweisen in Übereinstimmung mit partikularen Bindungen und ausgehend von gewissen Interessen geformt werden. 83 Durch diesen Ausschluss des Partikularen vom Urzustand verbleibt Autonomie bei Rawls grundlegend ein Gegenüber zu Dependenz. Darin spiegelt sich auch Rawls’ Abhängigkeit von Kant wider. Insbesondere dessen (oben besprochene) trivialisierte Auffassung von Dependenz macht sich in Rawls’ Formulierungen bemerkbar. Eine zentrale Frage, welcher im Folgenden nachgegangen wird, ist, inwiefern Kants Formalismus (ausgedrückt im kategorischen Imperativ) bei Rawls durch einen Prozeduralismus (ausgedrückt im Urzustand) ersetzt wird, respektive welche Bedeutung diesem Unterschied bezüglich des Verhältnisses zwischen Autonomie und Dependenz zugemessen werden soll. 84

4.3.2 Autonomie als vernünftiger Pluralismus in gerechter sozialer Kooperation Autonomie muss bei Rawls im Zusammenhang mit seinem Interesse für Gerechtigkeit und für die politische Ordnung der gerechten Gesellschaft verstanden werden. Für Rawls ist Autonomie interessant, insoRawls, 1993, 22–23 Rawls, 1999a, 453 84 So misst etwa Binder diesem Unterschied entscheidende Bedeutung zu. Er schreibt, Rawls ersetze Kants »transzendentalen Idealismus« mit einer »prozeduralen Deutung«. (Binder, 2003, 50) Es geht hier aber kaum um einen ›Ersatz‹, denn der transzendentale Idealismus, den Rawls in Kants Sinne tatsächlich nicht umfasst, ist bei Kant als prozedural zu verstehen. Der kategorische Imperativ gibt, genau wie der Urzustand, Bedingungen für eine normativ gerechtfertigte und damit normierende Prozedur an. 82 83

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fern sie Voraussetzung und Mittel für Gerechtigkeit ist. Dieses gesellschaftliche und politische Interesse äußert sich unter anderem darin, dass Autonomie von Rawls als grundlegende Funktion der Kooperation der Mitglieder einer Gesellschaft betrachtet wird. In dieser Funktion kommt der intersubjektive Aspekt von Rawls’ Autonomiekonzept zum Tragen und hier finden sich auch jene Aspekte, die eine Interpretation seines Autonomiekonzeptes als zumindest ansatzweise innerhalb von Dependenz angesiedelt erlauben. Die Gesellschaft als faires System der Kooperation ist für Rawls Grundlage für sein Verständnis der Gerechtigkeit. Für Rawls ist implizit in der Idee einer demokratischen Gesellschaft die Idee einer fairen sozialen Kooperation auf Zeit, d. h. über Generationen hin, enthalten. Diese Kooperation ist in einer demokratischen Gesellschaft, so Rawls, nicht als fixe Ordnung oder als institutionelle Hierarchie zu betrachten. Vielmehr soll sie gekennzeichnet sein vom Vorkommen dreier Komponenten: Gerechte Kooperation baut auf öffentlich anerkannte Regeln und Prozeduren; sie soll Gerechtigkeit umfassen im Sinne von Reziprozität, d. h. der Akzeptanz aller Beteiligten; und sie soll einen ›rationalen Vorteil‹ für alle Beteiligten und deren spezifische Ziele enthalten. 85 Insbesondere die beiden ersten Komponenten gerechter sozialer Kooperation, nämlich ein Öffentlichkeitsprinzip und eine Bedingung der Reziprozität, stellen Aspekte einer intersubjektiven Lesart von Kants kategorischem Imperativ dar. Indem Rawls Autonomie an Funktionen von Kooperation knüpft, gibt er Ausdruck für ein Autonomiekonzept, welches Autonomie innerhalb von Dependenz ansiedelt und diese zugleich von allgemeiner, unqualifizierter Autonomie abgrenzt. Es geht also auch bei Rawls – wie bei Kant – nicht um Autonomie als unbegrenztes Recht zu individueller Selbstbestimmung, sondern um Autonomie mit normativen Auflagen, welche in intersubjektiver Verbundenheit normativ bestimmt und begründet sind. Dabei ist die Abgrenzung ethisch gültiger Autonomie von Autonomie als kontraktethisch konzeptualisiertem ›ursprünglichem Egoismus‹ wichtig. Letzterer ist nämlich, wie folgende Erläuterungen zeigen, nicht innerhalb, sondern gegenüber von Dependenz angesiedelt. Rawls’ Theorie illustriert anhand dieser Abgrenzung wie ein Autonomiekonzept, welches Autonomie als innerhalb von Dependenz angesiedelt versteht, qualita85

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tive Bedingungen an Autonomie knüpfen kann. Hier muss Rawls’ kontraktethisch bedingte, negativ ansetzende Vorstellung von Dependenz als geprägt durch die egoistische Veranlagung des Menschen in Erinnerung gerufen werden. 86 Diese führt zu einem Autonomiekonzept, welches ethisch gültige Autonomie als qualifizierten Selbstbezug darstellt. Der eigene Standpunkt des Individuums ist ein wichtiger Referenzpunkt, erhält aber seine ethische Gültigkeit in der Abstimmung mit den Präferenzen Anderer. Eine Abgrenzung negativer von positiver Autonomie mit einer Art Qualifizierung ethisch erstrebenswerter Autonomie ist charakteristisch für kantische Ansätze. In Rawls’ Theorie baut diese normative Unterscheidung ethisch erstrebenswerter Autonomie ähnlich wie bei Kant auf eine ambivalente Beschreibung des Menschen. Einerseits ist der Mensch von Grund auf egoistisch. Andererseits schafft er selber durch die Bedingung sozialer gerechter Kooperation Bedingungen, diesen Egoismus in eine positiv gewertete, sozusagen qualifizierte Autonomie umzuwandeln. Da Einzelpersonen auf egoistische Art Eigeninteressen befolgen, müssen gemeinsame Abkommen dafür sorgen, diese zu koordinieren, um die sonst destruktiven Folgen eines frei herrschenden Egoismus so weit wie möglich abzumildern. So formen sich soziale Bindungen oder ›Kontrakte‹ als eine Art artifizielle Interdependenz. Egoismus wird durch die Kooperation im Urzustand zu qualifizierter Autonomie. Letztere ist auf diese Weise in ihrer Bestimmung und Begründung innerhalb von Dependenz angelegt und als tragendes Element der Kooperation zu verstehen. Während also Autonomie als ursprünglicher Egoismus als Gegenüber von Dependenz erscheint, ist in Kooperation qualifizierte Autonomie innerhalb von Dependenz angesiedelt. Ein bisher unbeachtet gelassener, aber wesentlicher Aspekt von Rawls’ Theorie kompliziert jedoch diese Schlussfolgerung und beeinträchtigt die Interpretation von Rawls’ Autonomiekonzept als innerhalb von Dependenz angesiedelt. Im Unterschied zu Habermas, der konkrete Diskurse verlangt, 87 ist für Rawls der Urzustand lediglich 86 Wie Binder zu Recht feststellt, »kooperieren die Individuen (im Urzustand) nicht aus Gründen der Sympathie oder eines Altruismus, sondern vielmehr aus rationaler Erkenntnis, dass die Zusammenarbeit mit anderen auch ihnen zum Vorteil gereicht«. (Binder, 2003, 52) 87 Habermas, 1996a, 76–77. Es wird darauf zurückgekommen in der folgenden Besprechung von Habermas’ Autonomieverständnis.

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hypothetischer Art. Der Urzustand mit dem damit verbundenen Schleier des Nichtwissens soll gemäß Rawls verstanden werden als eine Art »natural guide to intuition« oder als eine jederzeit einnehmbare Perspektive im Sinne der Perspektive des vernünftigen Selbst (»point of view from which noumenal selves see the world«). Rawls nennt den Urzustand auch ein »Werkzeug der Vernunft«. 88 So kann Rawls’ Begriff des Urzustandes als »Repräsentationsordnung« und der Schleier des Nichtwissens als »Gedankenexperiment« verstanden werden. 89 Der hypothetische Charakter des Urzustandes sowie der imaginäre Charakter des Schleiers des Nichtwissens haben ein zweideutiges Verhältnis der Autonomie zu Dependenz zur Folge. Diese Zweideutigkeit verläuft entlang der Linie von Rawls’ Unterscheidung in rationale und vollständige Autonomie. Seine Unterscheidung kann auch als Unterscheidung zwischen einer moralphilosophischen Bestimmung von Autonomie und einer pragmatischen, prozeduralen und politischen Bestimmung von Autonomie dargestellt werden. Wenn der Urzustand lediglich als hypothetisch und von jeder Einzelperson jederzeit einnehmbare, geistige Einstellung verstanden wird, ist in rationaler Autonomie als ethischem Modell eine Dimension von Dependenz nur hypothetisch repräsentiert. In vollständiger Autonomie als politischem Ideal kann Dependenz jedoch auf konkretere Weise als Bestandteil der Autonomie betrachtet werden. Autonomie wird, wie oben besprochen, in den Bedingungen des Urzustandes modelliert. Damit legt Rawls fest, dass Autonomie nicht als beliebige oder uneingeschränkte Selbstbestimmung zu verstehen ist. Vielmehr ist sie Regeln und Prinzipien gemeinsam getroffener Abkommen unterworfen. Einhergehend mit dieser normativen Einschränkung der Autonomie ist eine normative Einschränkung von Pluralismus. Nicht jede beliebige Entscheidung und nicht jedes Prinzip ist akzeptabel. Rawls schreibt: »We are not literally to respect the conscience of an individual. Rather we are to respect him as a person and we do this by limiting his actions, when this proves necessary, only as the principles we would both acknowledge permit. In the original position the parties agree to be held responsible for the conception of Rawls, 1971, 138–139; 1993, 75, 27. Im Rahmen des politischen Interesses in Rawls’ späteren Texten wird der Urzustand auch als konkretes politisches Werkzeug der Repräsentation beschrieben. (Siehe Rawls, 1993, sowie Rawls, 1999b.) 89 Frohock, 1997 88

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justice that is chosen. There is no violation of our autonomy so long as its principles are properly followed.« 90

Autonomie ist bei Rawls bedingt oder ›voraussetzungsvoll‹ formalistisch zu verstehen. Sie kommt zum Ausdruck in grundlegender, gemeinsamer Bereitschaft zu Kooperation innerhalb eines demokratischen Systems. Rawls spricht von einer »Vereinung sozialer Kooperation von einer Generation zur nächsten« und bezeichnet jene Personen als ›vernünftig‹, welche ein »Verlangen nach einer sozialen Welt umfassen, in welcher sie frei und gleichgestellt kooperieren können aufgrund von allen akzeptierten Bedingungen«. Den daraus folgenden, akzeptierbaren Pluralismus nennt er »vernünftigen Pluralismus«. 91 Sowohl Autonomie wie auch Pluralismus sind also normativ bestimmt in den Bedingungen des Urzustandes. Der Urzustand wird damit zu einem für die beiden Werte gemeinsamen Bezugspunkt. Die im Urzustand definierten normativen Rahmenbedingungen für Pluralismus und Autonomie werden bei Rawls anhand politischer Begriffe und Strukturen konkretisiert. 92 Als politische Konkretisierungen in Form demokratischer Strukturen und Gesetzgebung ist Rawls’ Forderung einer grundlegenden Bereitschaft zu Kooperation nachvollziehbarer als sie es aus moralphilosophischer Sicht ist. Hier ist es schwierig, sich dem Eindruck zu erwehren, Rawls behandle die Unversöhnlichkeit tief greifender Konflikte in pluralistischen Situationen etwas leichtfertig. 93 In dem im Urzustand modellierten Autonomiebegriff manifesRawls, 1999a, 454–455 Rawls, 1993, xvii, 11, 50 (meine Übersetzung) 92 Siehe u. a. Rawls, 1993 und 1999b. 93 Buchwalter bezeichnet diese Einstellung Rawls’ gegenüber Pluralismus als ambivalent. Rawls betrachte, so Buchwalter, Pluralität »more as a condition to be managed than a value to be championed«. Buchwalter folgert, Rawls’ Theorie umfasse damit »a substantive premium on public reason construed as consensus rather than, say dissensus« und führe zu einem Ausschluss solcher Doktrine, die eine derartige Kooperation als Ideal nicht enthalten. Prägnant ist dabei, so Buchwalter, dass Rawls, der von einem Interesse für unvereinbare Pluralität ausgeht, durch diese Wertungen in einer Idealisierung von Versöhnung landet. Buchwalter schliesst: »It is certainly not a vision in which diversity, difference, and heterogeneity play a defining role in the composition and identity of society.« (Buchwalter, 2001, 341–342) Wenn Buchwalter dies als »ambivalente Einstellung« gegenüber Pluralismus bezeichnet, setzt er eine einseitige Bestimmung von Pluralismus voraus als uneingeschränkte und damit relativistische Befürwortung von Vielfalt und implizit damit auch eine uneingeschränkte Autonomie. Beides ist aus der hier vertretenen Sicht problematisch. 90 91

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tiert sich demzufolge Rawls’ Identifikation von ›vernünftig‹ mit der Bereitschaft zu sozialer Kooperation zwischen freien und gleichgestellten Individuen. Darin kommt auch Rawls’ ›intersubjektive Lesart‹ von Kant zum Ausdruck. Rawls’ Ansatz ist geprägt von einem Verständnis, welches Autonomie und andere liberale Werte in normativer Hinsicht nicht als unbedingt oder uneingeschränkt gültig, sondern in komplexer Weise aufeinander bezogen, versteht. Insofern als Kooperation grundlegend bedingend ist für das Verständnis von Autonomie, ist diese integriert in einen normierenden Kontext von Interaktion und damit auch in einen Aspekt von Dependenz bei Rawls.

4.3.3 Autonomie in Kooperation als moralpädagogische Zielvorstellung Für die Frage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung werden in Rawls’ Unterscheidung sowohl Aspekte rationaler wie auch vollständiger Autonomie aktualisiert. Während sich in seinen Ausführungen zu vollständiger Autonomie Angaben mit Relevanz für die moralpädagogische Situation und insbesondere den Anspruch an Asymmetrie finden lassen, können Rawls’ Bestimmung rationaler Autonomie relevante Angaben zur Bestimmung von Autonomie als Zielvorstellung und insbesondere zum Anspruch an Richtung entnommen werden. Kooperation (als definiert entlang der Linie eines vernünftigen Pluralismus) ist bei Rawls hervorgehoben worden als konstituierende Kompetenz für Autonomie. Verstanden als Kriterium für legitime Autonomie verbindet die Bedingung von Kooperation die beiden Arten von Autonomie. Wenn Autonomie als Ausdruck von Kooperation im vernünftigen Pluralismus als Ideal angestrebt wird, kann dies als normierend zugleich für Erziehungssituation und für Zielvorstellung gedeutet werden. Dabei müsste aber Rawls’ Unterscheidung zwischen rationaler und vollständiger Autonomie zum Zweck der pädagogischen Fragestellung, und insbesondere ausgehend von einem Interesse für die Normativität von Erziehung, missachtet werden. Wenn Autonomie bestimmt werden soll als Wert mit einem Funktionskriterium, welches verstanden wird als Kohärenz, dann müsste das Kriterium der Kooperation als relevant sowohl für die Erziehungssituation wie auch für die Zielvorstellung gedeutet werden. Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie wäre dann Erziehung zu einer Kompetenz der 218 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Selbstbestimmung im Rahmen eines vernünftigen Pluralismus in Kooperation mit Anderen. Eine solche Zielvorstellung müsste sich auch in der Erziehungssituation respektive in den darin gemachten Ansprüchen ausdrücken. Insofern als Kooperation als erstrebenswerte Autonomie qualifizierend betrachtet wird, erscheint ein Anspruch der erziehenden Person an Asymmetrie als relativiert. Ein Anspruch dialektischer Asymmetrie äußert sich in einer Erziehungssituation mit Zielvorstellung Autonomie sinngemäß als gegenseitige Abhängigkeit, welche bedingt ist im Umstand, dass erziehende und zu erziehende Person bezüglich einer Bereitschaft zu Kooperation voneinander abhängig sind. Die zu Beginn des Kapitels genannten Überwachungstechnologien, die von Schulen eingesetzt werden, lassen sich als Aspekt von Erziehung und ausgehend von einem Verständnis von Autonomie als Bereitschaft zu Kooperation betrachten. Wenn Erziehungszeit schrumpft und Eltern und Schulleitung ein Bedürfnis empfinden, Kontrolle zu wahren, dann ist der Zugriff auf Überwachungskameras oder ›Schwänz-SMS‹ zwar verständlich, aber vor dem Hintergrund eines Kooperationskriteriums für legitime Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie ethisch fraglich. Vertrauen und Kooperation sind ersetzt durch Kontrolle. Der Anspruch, welcher etwa von der Rechtfertigung umfassender Videoüberwachung in Schulräumen ausgeht, ist ein Anspruch starker Asymmetrie. Erziehende Personen oder Institutionen entziehen sich durch die Anwendung überwachender Technologie der Forderung nach Kooperation. Überwachungskameras vermitteln Schülern nicht nur, dass sie überwacht und kontrolliert sind, sondern auch, dass Erwachsene sich als berechtigt betrachten, Kinder und Jugendliche so zu kontrollieren. So sind Kameras in Schulen Ausdruck einer starken Asymmetrie, die schlecht vereinbar ist mit einer Zielvorstellung Autonomie im Sinne einer Bereitschaft zu Kooperation, d. h. Autonomie als Ausdruck respektierender Selbstbestimmung. Andererseits kann der Rückgriff von Schulen auf ›Schwänz-SMS‹ oder Überwachungskameras auch als Ausdruck dafür gedeutet werden, dass Schüler sich ihrerseits der Erziehungssituation als bedingt durch gegenseitigen Respekt oder Kooperation entzogen haben. Sollen Schüler unkontrolliert Schule schwänzen können? Wenn Autonomie gemäß Rawls’ (oder Kants) Verständnis Zielvorstellung für Erziehung ist, würden die moralischen Auflagen, formuliert als vernünftiger Pluralismus und als Forderung nach Bereitschaft zu Kooperation als Aspekte 219 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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autonomen Verhaltens, eine solche Schlussfolgerung erschweren. Sind damit Maßnahmen der Überwachung gerechtfertigt? Bezüglich des Anspruchs riskanter Richtung ist Rawls’ normative Auflage an Autonomie als Prinzipien folgend, welche Ausdruck gemeinsamer, unter den Bedingungen des Urzustandes zustande gekommener Abkommen sind, ebenfalls relevant. Riskante Richtung ist geprägt von einem Respekt vor dem Unbestimmbaren und dem Unkontrollierbaren. Ebenso drückt sich eine Ungewissheit aus in Rawls’ Autonomiekonzept aufgrund eines normativ bedingten Respekts gegenüber den Interessen Anderer sowie der Forderung, Handlungsprinzipien der Kooperation mit Anderen zu unterwerfen. Die Verwendung überwachender Technologie zur Kontrolle von Kindern und Jugendlichen kann als Ausdruck einer Absicht, Risiko auszuschließen oder zu reduzieren, gedeutet werden. Insofern als Erziehung als Anspruch riskanter Richtung zum Ausdruck kommt, erscheinen angesichts einer Zielvorstellung Autonomie als Bereitschaft zu Kooperation überwachende Maßnahmen – zumindest als Aspekt von Erziehung – als nur schwerlich zu legitimieren.

4.4 Autonomie in Diskursethik (Habermas) In Habermas’ Texten taucht der Begriff Autonomie nur selten auf. Inwiefern dies eine absichtliche Markierung des Verfassers ist, muss hier offen bleiben. Habermas’ anti-kapitalistische, politische und philosophische Position 94 stellt einen möglichen Erklärungsgrund dafür dar. Wie aus dem folgenden Abschnitt hervorgehen wird, bilden jedoch Annahmen und Reflexionen zu moralischer Autonomie einen wesentlichen Teil der Theorie kommunikativen Handelns und der Diskursethik. 95 Dies kommt vor allem in der kantischen Prägung von Habermas’ Moralphilosophie zum Ausdruck. Damit zusammenhängend ist das von Habermas vorausgesetzte, aber auch problematisierte Verständnis des Menschen als grundlegend rational. In einem engeren Sinne kann nicht von ›Habermas’ Konzept der Autonomie‹ die Rede Für eine detaillierte Beschreibung von Habermas’ politischen und philosophischen Positionen, auch in Relation zu anderen Vertretern der Frankfurter Schule, siehe Dews, 1992; Rehg & Bohman, 2001. 95 Baynes, 2001, 70 94

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sein. Darum wird im Folgenden etwas abgemildert von ›Habermas’ Verständnis der Autonomie‹ gesprochen. Hierbei werden explizite Aussagen zu Autonomie beleuchtet und mit Textabschnitten, die Autonomie eher implizit berühren, in Verbindung gebracht. Ausgangspunkt für Habermas’ Autonomieverständnis bildet der »egalitäre Universalismus«, welchen er bei Kant und Rousseau leiht. In diesem enthalten ist gemäß Habermas ein Autonomiebegriff, welcher Autonomie als »die Fähigkeit, den eigenen Willen an Gesetze zu binden, die von allen aus Einsicht in das für jeden gleichmäßig Gute adoptiert werden können«. Dieser Sichtweise misst Habermas »große Sprengkraft« bei. 96 Was hier wie auch in den folgenden Darstellungen hervorsticht, ist Habermas’ Interesse für die logische und moralphilosophische Verbindung zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven, zwischen dem Intrasubjektiven und dem Intersubjektiven als Grundlage für legitime Autonomie. Habermas formuliert sein Autonomieverständnis als Ausdruck der Intention, »einen normativ gehaltvollen Begriff der Autonomie« ausgehend »vom Modell verständigungsorientierten Handelns« zu entwickeln. Er konkretisiert den Grund für ein diskursethisches Autonomieverständnis wie folgt: »Die notwendigen Voraussetzungen kommunikativen Handelns bilden (…) eine Infrastruktur möglicher Verständigung, die einen moralischen Kern enthält – die Idee zwangsloser Intersubjektivität.« 97 Grundlegend ist dabei Habermas’ Sichtweise individueller und kollektiver Identität als unzertrennlich miteinander verbunden. »In kommunikativen Bildungsprozessen formen und erhalten sich die Identität des Einzelnen und die des Kollektives als gleichursprünglich. (…) Je weiter sich die Strukturen einer Lebenswelt ausdifferenzieren, um so klarer sieht man, wie die wachsende Selbstbestimmung des individuierten Einzelnen mit der zunehmenden Integration in vervielfältigte soziale Abhängigkeiten verschränkt ist.« 98

Es ist Habermas’ Intention, mit der Diskursethik eine Theorie zu formulieren, welche dieser Verbundenheit zwischen individueller Selbst-

Habermas, 1999, 321 (meine Kursivierung) Habermas, 1991, 97–98 98 Habermas, 1991, 15 Er schreibt auch: »(…) die Identität der Gruppe reproduziert sich über intakte Verhältnisse reziproker Anerkennung.« (Habermas, 1991, 70) 96 97

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bestimmung und kollektiven Abhängigkeiten Rechnung trägt, indem Prinzipien der Gerechtigkeit und der Solidarität als komplementär in einer gemeinsamen ethischen Theorie zusammengeführt werden. »Weil Moralen auf die Versehrbarkeit von Lebewesen zugeschnitten sind, die durch Vergesellschaftung individuiert werden, müssen sie stets zwei Aufgaben in einem lösen: Sie bringen die Unantastbarkeit der Individuen zur Geltung, indem sie gleichmäßige Achtung vor der Würde eines Jeden fordern; im selben Maße schützen sie aber auch die intersubjektiven Beziehungen reziproker Anerkennung, durch die sich die Individuen als Angehörige einer Gemeinschaft erhalten. Den beiden komplementären Aspekten entsprechen die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Solidarität. (…) Die Diskursethik erklärt, warum beide Prinzipien auf ein und dieselbe Wurzel der Moral zurückgehen – eben auf die kompensationsbedürftige Verletzbarkeit von Lebewesen, die sich nur durch Vergesellschaftung zu Individuen vereinzeln, so dass die Moral das eine nicht ohne das andere schützen kann: die Rechte des Individuums nicht ohne das Wohl der Gemeinschaft, dem es angehört.« 99

Es handelt sich dabei, wie nachstehend gezeigt wird, um ein Verständnis der Autonomie, welches diese auf dreifache Weise beschreibt. Erstens ist Autonomie für Habermas mittels des Diskurses als Zwischenebene ethisch normierend. Autonomie ist zweitens eine Funktion hypothetischer oder mit Kants Ausdruck reiner Vernunft. Autonomie ist drittens intersubjektiv als gegenseitige Gewährleistung gefasst. Die drei Bestimmungen von Autonomie sind dabei in der gegebenen Ordnung ethisch, epistemologisch und kommunikationstheoretisch bedingt. Die ersten beiden Bestimmungen der Autonomie (als ethisch normierend und als Funktion reiner Vernunft), welche beide direkt im Anschluss an Kants Konzept der Autonomie ausgeformt sind, werden im folgenden Abschnitt (4.4.1) diskutiert. Die dritte, kommunikationstheoretische Bestimmung von Autonomie als gegenseitige Gewährleistung, welche die deutlichste Weiterentwicklung im Verhältnis zu Kants Autonomiekonzept ausmacht, wird im darauf folgenden Abschnitt (4.4.2) diskutiert. Die Frage, inwiefern Habermas sich von Kant unterscheidet, wird dabei in beiden Abschnitten laufend behandelt.

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4.4.1 Intersubjektive Vernunft im Diskurs Habermas’ intersubjektive Lesart Kants drückt sich darin aus, dass er im Rahmen seiner Diskursethik Kants kategorischen Imperativ als »konsensermöglichendes Brückenprinzip« deutet. Habermas macht geltend, dass er sich innerhalb der Prämissen Kants bewegt. Diese Prämissen deutet Habermas so, dass eine Verschiebung des Autonomieprinzips Kants in eine intersubjektive Sphäre nicht nur zulässig ist, sondern sich geradezu aufdrängt. Während Normativität bei Kant auf dem autonomen, rationalen Willen des Individuums gründet, wird Normativität bei Habermas an »einen allgemeinen Willen« als »qualifizierte Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen« gebunden. »Das Moralprinzip wird so gefasst, dass es die Normen als ungültig ausschließt, die nicht die qualifizierte Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen finden könnten. Das konsensermöglichende Brückenprinzip soll also sicherstellen, dass nur die Normen als gültig akzeptiert werden, die einen allgemeinen Willen ausdrücken: sie müssen sich, wie Kant immer wieder formuliert, zum ›allgemeinen Gesetz‹ eignen. Der Kategorische Imperativ lässt sich als ein Prinzip verstehen, welches die Verallgemeinerungsfähigkeit von Handlungsweisen und Maximen bzw. der von ihnen berücksichtigten (also in Handlungsnormen verkörperten) Interessen fordert.« 100

Habermas’ Definition des Diskurses beinhaltet als Kontext einer intersubjektiv gefassten Autonomie wichtige Anhaltspunkte für sein Autonomieverständnis. Papastephanou, welche Habermas’ (und Apels) Diskurstheorie als »postmetaphysische und nicht-fundamentalistische« Theorie bezeichnet, macht geltend, Habermas’ Ansatz verknüpfe durch die Situierung der Rationalität im Sprachkontext diese mit historischen, praktischen und erfahrungsbasierten Aspekten. Damit, so Papastephanou, werde Rationalität in der Diskurstheorie nicht mehr als absoluter und transzendentaler Ursprung verstanden, sondern werde

100 Habermas, 1996a, 73. Konkret kommt dieses Moralprinzip bei Habermas zum Ausdruck in den beiden Formulierungen – (U) und (D) – des diskursethischen Grundprinzips. »(U) Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können. (…) (D) Jede gültige Norm müsste die Zustimmung aller Betroffenen, wenn diese nur an einem praktischen Diskurs teilnehmen würden, finden können.« (Habermas, 1984b, 219)

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genau wie Sprache als transhistorisch verstanden. 101 Die Art und Weise, wie Habermas den Diskurs definiert, widerspricht jedoch einer solchen Interpretation. Insbesondere den direkten Bezug auf Praxis und Erfahrung soll der Diskurs ausklammern. In der folgenden Darstellung soll gezeigt werden, dass Habermas’ diskursethische Verschiebung in eine intersubjektive Sphäre vom kantischen Konzept der Vernunft als ›rein‹, oder mit Habermas’ Formulierung ›hypothetisierend‹, weitgehend abhängig bleibt. Diskurse nennt Habermas »nachträgliche und temporäre Entkoppelungen« respektive »eine Art reflexiv gewordenen kommunikativen Handelns«. 102 In seiner Definition des Diskurses wird deutlich, dass Habermas ähnlich wie Kant Autonomie als Gegensatz zu Dependenz betrachtet. Dies ist ersichtlich in Habermas’ Gleichstellung oder Identifikation des ethisch Gültigen mit dem von bindenden Abhängigkeiten befreiten, d. h. autonomen Urteil. Insbesondere die Bestimmung zweier Grundbedingungen für den Diskurs sind wichtig für sein Autonomieverständnis: die Distanzierung zu Handlungen und Erfahrungen. »Um Diskurse zu führen, müssen wir in gewisser Weise aus Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen heraustreten; (…) Diskurse verlangen erstens eine Suspendierung von Handlungszwängen, welche dazu führen soll, dass alle Motive außer dem einzigen kooperativer Verständigungsbereitschaft außer Kraft gesetzt (…) werden können. Zweitens erfordern sie eine Virtualisierung von Geltungsansprüchen, welche dazu führen soll, dass wir gegenüber Gegenständen der Erfahrung (…) einen Existenzvorbehalt anmelden und Tatsachen wie Normen unter dem Gesichtspunkt möglicher Existenz, bzw. Legitimität betrachten (d. h. hypothetisch behandeln) können.« 103

Der Diskurs soll also hypothetische Überlegungen und Diskussionen ermöglichen. Habermas nimmt dabei an, dass dies unter vorübergehendem Ausschluss von Handlungszwängen und Erfahrungsgegenständen geschehen kann. 104 Damit wird gemäß Habermas der Diskurs Papastephanou, 1999, 423–424 Habermas, 1984a, 131; Habermas, 1991, 17 103 Habermas, 1984a, 130–131 104 Was die Rolle von Erfahrungen betrifft, beschreibt Habermas diese detaillierter wie folgt: »Wissen und Überzeugung ziehen ihre ›Kraft‹ aus Begründungen (…). Unmittelbar stützen sich diese ›Gewissheiten‹ auf Argumentation und nicht auf Erfahrung, obgleich empirische Wahrnehmungsurteile, bzw. Beobachtungssätze in die Argumentation natürlich eingehen können. (…) Die Akte des Wissens und der Überzeugung, welche die Anerkennung diskursiv eingelöster Wahrheits- und Richtigkeitsansprüche 101 102

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zur normierenden Instanz, welche durch eine Loslösung von praktischen und erfahrungsmäßigen Dimensionen Moral auf einer theoretischen, vernunftbasierten Ebene ansiedelt. Autonomie ist im Rahmen dieses exklusiven Vernunftverständnisses – ganz wie bei Kant – innerhalb eines Gegensatzverhältnisses, d. h. einer Dichotomie, welche Autonomie als Gegenüber von Dependenz versteht, definiert. Abhängigkeit ist hier – ebenfalls wie bei Kant – der Bezug auf Handlung und auf Erfahrung. Dies ist allerdings – im Unterschied zu Kant – nicht metaphysisch, sondern pragmatisch-ethisch begründet, nämlich damit, dass ein intersubjektiver Konsens als alleinig normatives gültiges Maß unter ethisch definierbaren, legitimen Umständen erreichbar sein muss. Das Autonomieverständnis Habermas’ ist davon gekennzeichnet, dass er mittels des Diskurses eine intersubjektive Ebene in die normierende Funktion der Autonomie einschiebt. Während Autonomie als reine Anwendung der Vernunft des Individuums bei Kant direkt normierend ist für die Begründung ethischer Normen, wird bei Habermas der Diskurs als ›Zwischenebene‹ wichtig. Die Benennung ›Zwischenebene‹ soll hier den Umstand hervorheben, dass der Diskurs, aufgrund von Habermas’ normativer Bestimmung desselben, die Autonomie des Individuums nicht ersetzt, sondern ein im Diskurs autonom handelndes Individuum weiterhin voraussetzt. Dies ist dadurch bedingt, dass der Diskurs als ideale Sprechsituation autonome Diskursteilnehmer fordert. Darin besteht aus ethischer Sicht eine problematische Dimension der Diskursethik. Sie besteht im Widerspruch, der zwischen dieser exklusiven Bestimmung des Diskurses (manifestiert in den utopisch hohen Anforderungen an die Diskursteilnehmer) und der normierenden Funktion des Diskurses entsteht. Die normierende Funktion des Diskurses setzt eine Inklusivität (als alle Betroffenen umfassend) voraus. Daraus ergibt sich ein Problem für Ethik als Praxis, welches auch aus pädagogischer Sicht Anlass zum Zweifel sein muss. Trotz häufiger Verwendung von Habermas’ Diskursethik muss festgehalten werden, dass die Diskursethik nicht einfach pädagogisch umsetzbar ist. 105 So ist ausdrücken, sind, wie wir gesagt haben, in Erfahrung nur fundiert. Sie sind von einem Typus von ›Gewissheitserlebnis‹ begleitet, das sich allein der Erfahrung des eigentümlich zwanglosen Zwanges des besseren Argumentes verdankt.« (Habermas, 1984a, 144; meine Kursivierung) 105 Es sind nicht nur didaktische Versuche zur Umsetzung einer idealen Sprechsituation, sondern auch eine Anwendung von Habermas’ Diskursethik in mehr allgemeinen pädagogischen Ansätzen zu verzeichnen. Beides ist problematisch, nicht nur weil dabei auf

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sie bei Habermas auch nicht gedacht. Die utopisch gesetzten Bedingungen des Diskurses, sowohl an die Situation wie auch an die im Diskurs Beteiligten, schaffen somit problematische Voraussetzungen für Versuche praktischer Umsetzung. Von einer solchen wird hier abgesehen. Die Relevanz der Diskursethik für Erziehung ist theoretischer Art. Es geht hier darum, den Bedingungen der Diskursethik, respektive der darin formulierten Normativität, Bedingungen für ein Autonomieverständnis zu entnehmen.

4.4.2 Autonomie in gegenseitiger kommunikativer Gewährleistung Die normierende Funktion des Diskurses106 ist bestimmt durch Bedingungen, welche den Diskurs als ideale Sprechsituation bestimmen. Die ideale Sprechsituation ist gekennzeichnet durch »eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen«. Aus dieser »allgemeinen Symmetrieforderung« leitet Habermas »Forderungen nach Gleichverteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen« ab. 107 Diese Bestimmungen des Diskurses als ideale Sprechsituation verkörpern sein Verständnis von Autonomie als geein fälschliches Verständnis des Diskurses bei Habermas als praktische Methode gebaut wird, sondern auch weil dies oft mit einer Ausklammerung des für die Diskursethik grundlegenden Formalismus einhergeht. Letzteres dokumentiert Nykänen in einer Analyse der Funktion von Habermas’ Demokratieideal in Leitdokumenten der schwedischen Grundschule. (Nykänen, 2008, 66–89. Siehe auch Fjellström, 2004, 190–191; Sprod, 2001) 106 Habermas weist selber auf eine Problematik in frühen Texten der Diskursethik hin, die als zirkuläres Begründungsmuster zum Ausdruck kommt. Wenn die Diskursethik ›zu stark‹ als Idee der Rechfertigung von Normen verstanden wird, besteht die Gefahr, dass das Resultat des Diskurses bereits in den für den Diskurs definierten Prämissen enthalten ist. (Habermas, 1991, 13) 107 Habermas, 1984a, 177–178. Der Diskurs ist gemäß Habermas als kontrafaktisch, d. h. als nie ganz erreichbares Ideal, zu verstehen. Die in diesem kontrafaktischen Status des Diskurses konstituierte Spannung löst Habermas, indem er zwei Argumente anführt. Erstens meint er, die ideale Sprechsituation sei wirksam, indem sie antizipiert wird. Zweitens meint er, dass Beschränkungen des realen Diskurses »durch institutionelle Vorkehrungen entweder kompensiert oder doch in ihren Auswirkungen auf das deklarierte Ziel einer Gleichverteilung der Chancen, Sprechakte zu verwenden, neutralisiert werden können«. (Habermas, 1984a, 179–181) Das Problem der Konkretisierung der Diskursethik soll hier nicht weiter diskutiert werden. Die wirksame Antizipation der idealen Sprechsituation stellt jedoch ein Problem dar, welches für die Frage der Intersubjektivität

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genseitige Anerkennung oder intersubjektive Gewährleistung. Dies geschieht zugleich in Anlehnung an und als Weiterentwicklung von Kants Autonomieverständnis, welches die Instrumentalisierung anderer vernünftiger Wesen ausschließt. Der Umstand, dass Habermas diesen Unterschied zwischen der Autonomie bei Kant und der eigenen ethisch fasst, wird in der folgenden Formulierung deutlich: »Die Diskursethik gibt auch den bewusstseinsphilosophischen Begriff von Autonomie preis, der Freiheit unter selbstgegebenen Gesetzen nicht ohne die objektivierende Unterwerfung der eigenen subjektiven Natur zu denken erlaubt. Der intersubjektivistische Begriff der Autonomie trägt der Tatsache Rechnung, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden von der Realisation der Freiheit aller Personen abhängt.« 108

Da Habermas’ Autonomieverständnis im Diskurs und in der idealen Sprechsituation begründet ist, beleuchtet eine Klärung der epistemologischen und kommunikativen Voraussetzungen im Zusammenhang mit dem idealen Diskurs oder der idealen Sprechsituation eben dieses. Grundlegend ist, dass für Habermas die Selbstbestimmung des Individuums, d. h. des einzelnen Diskursteilnehmers, und der gemeinsame Konsens nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern einander gegenseitig bedingende Aspekte der kommunikativen Situation sind. Die Selbständigkeit des einzelnen Diskursteilnehmers und die Übereinstimmung der Gemeinschaft gehören also zusammen. »Das diskursiv erzielte Einverständnis hängt gleichzeitig ab von dem nicht-substituierbaren ›Ja‹ oder ›Nein‹ eines jeden einzelnen wie auch von der Überwindung seiner egozentrischen Perspektive. Ohne die uneingeschränkte individuelle Freiheit der Stellungnahme zu kritisierbaren Geltungsansprüchen kann eine faktisch erzielte Zustimmung nicht wahrhaft allgemein sein; ohne die solidarische Einfühlung eines jeden in die Lage aller anderen wird es zu einer Lösung, die allgemeine Zustimmung verdient, gar nicht erst kommen können. Das Verfahren diskursiver Willensbildung trägt dem inneren Zusammenhang beider Aspekte Rechnung – der Autonomie unvertretbarer Individuen und ihrer Einbettung in intersubjektiv geteilte Lebensformen.« 109 von Bedeutung ist. Wenn eine ideale Sprechsituation antizipiert werden kann und so wirksam ist, erscheint es auch nahe liegend, dass wie bei Rawls die Kommunikation auch als solche vom Individuum ›antizipiert‹ werden könnte und so als hypothetischer Diskurs wirksam wäre. Dass erstere Antizipation letztere begründen könnte, würde jedoch Habermas verneinen. Er hält an der Notwendigkeit des konkreten Diskurses fest. 108 Habermas, 1991, 25 109 Habermas, 1991, 19

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Die Begründung der gegenseitigen Bedingung zwischen der Autonomie des Individuums und dem im Diskurs ereichten Konsens ist in Habermas’ kommunikationstheoretischen Annahmen zu finden. Im Zusammenhang mit seiner Diskussion des immer zu erreichenden Konsenses und dessen normativen Gültigkeit (unter der Voraussetzung, dass er in einer idealen Sprechsituation erreicht worden ist) spricht Habermas von einem auf Vernunft gegründeten »der Sprache innewohnenden Telos der Verständigung«. 110 Dies muss jedoch im Zusammenhang mit Habermas’ »Idee der vernünftigen Nicht-Übereinstimmung« gesehen werden, welche er im Zusammenhang mit dem Umstand einer zunehmend sichtbaren Pluralität diskutiert. Er meint damit einen temporären, auf Vernunft basierten Entschluss, verschiedene Sichtweisen und deren widersprüchliche Geltungsansprüche ungelöst zu lassen und begründet diese Uneinigkeit mit der »Unbestimmtheit des diskursiven Verfahrens«, der »lokalen Begrenztheit verfügbarer Informationen und Gründe« und der »Provinzialität unseres endlichen Geistes gegenüber der Zukunft«. 111 An dieser Stelle wird nochmals die oben bereits erwähnte und bedeutsame Schwäche der Diskursethik deutlich, nämlich die Spannung zwischen dem Diskurs als ideale und als reale Form der Kommunikation. Diese Spannung zwischen Ideal und Realität reflektiert zugleich die Spannweite in Habermas’ Werk, die sich zwischen Philosophie und Politik ausstreckt. Habermas macht dabei geltend, die Spannung zwischen Ideal und Realität trete in die »soziale Wirklichkeit von situierten Interaktionen und Institutionen« ein. Es handle sich dabei um die Transformation des »Reinen« in das »Situierte«. 112 Von Bedeutung für ein Autonomieverständnis wie in dieser Arbeit thematisiert als moralpädagogische Zielvorstellung, ist insbesondere folgender Aspekt der idealen Bestimmung des Diskurses: das Verhältnis zwischen dem autonomen, aber auch ›situierten‹ Diskursteilnehmer und dem im Diskurs zu erreichenden Konsens. In der Bestimmung dieses Verhältnisses ist Habermas’ intersubjektive Begründung der Autonomie abgebildet. Die ideale Sprechsituation setzt Diskursteilnehmer als »ideale Diskursteilnehmer« voraus. Habermas knüpft bei der Beschreibung eines solchen an Kohlbergs postkonven110 111 112

Habermas, 1984a, 498 Habermas, 1991, 206–207 Habermas, 2001, 12

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tionelle Stadien an und spricht von dem »hypothetisch eingestellten Diskursteilnehmer«. 113 Er beschreibt dessen moralische Kompetenz wie folgt: »Mit dem Übergang zur postkonventionellen Stufe der Interaktion dreht sich der Erwachsene aus der Naivität der Alltagspraxis heraus. (…) Von dieser metakommunikativen Ebene aus eröffnen sich nur noch Retrospektiven auf die gelebte Welt: im Licht hypothetischer Geltungsansprüche wird die Welt existierender Sachverhalte theoretisiert, die Welt legitim geordneter Beziehungen moralisiert. (…) Der Begriff der Legitimität von Handlungsnormen wird in die Bestandteile der faktischen Anerkennung und der Anerkennungswürdigkeit zerlegt; die soziale Geltung bestehender Normen deckt sich nicht mehr mit der Gültigkeit gerechtfertigter Normen.« 114

Die Beschreibung des hypothetisch eingestellten Diskursteilnehmers veranschaulicht Habermas’ Abhängigkeit, nicht nur von einem kantischen Autonomiekonzept, sondern auch von Kohlberg. Bei Beiden spielt das rational distanzierte Individuum eine zentrale Rolle. Trotz seinem Postulat einer intersubjektiven Sphäre als Kontext der Moral und Moralentwicklung verbleibt Habermas einer kantischen Gegenüberstellung zwischen Autonomie und Heteronomie verpflichtet. Seine Anlehnung an Kohlberg hat zur Folge, dass die – für kommunikatives Handeln eigentlich zentrale – Bedeutung anderer relevanter Kompetenzen an Gewicht verliert. 115 Bei Habermas zeigt sich diese ›Distanzierung‹ als ein Nicht-Abhängigsein von der Praxis, von sozialen Kontexten und von Normen. Es wird hier deutlich, dass Autonomie bei Habermas diesbezüglich innerhalb der Dichotomie zwischen Autonomie und Dependenz verbleibt. Letztere umfasst dabei ähnlich wie bei Kant Aspekte intrasubjektiver und intersubjektiver Abhängigkeit. 116 Habermas, 1996b, 173 Habermas, 1996b, 172–173 115 Dies betrifft beispielsweise moralische Kompetenz als Empathie, Vorstellungskraft sowie Familienbeziehungen. Die Bedeutung verschiedener Gemeinschaften oder von Genus wird bei Habermas ebenfalls vernachlässigt. (Meehan, 2001, 231) 116 Habermas bestreitet an anderer Stelle seine Abhängigkeit von Kant in diesem Punkt, indem er darauf hinweist, dass die Diskursethik auf Kants strikte Unterscheidung zwischen dem Intelligibelen (welches Pflicht und freier Wille umfasst) und dem Phänomenalen (welches Neigungen sowie bindende staatliche und gesellschaftliche Institutionen umfasst) verzichtet. Abhängigkeit ist also für Habermas nicht wie für Kant zusammenfallend mit dem Phänomenalen oder Empirischen. Wenn von Abhängigkeit oder Zwang (bei Kant Heteronomie) die Rede sein kann, dann, so meint Habermas, nur im Rahmen 113 114

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Dies muss aber vor dem Hintergrund einer weiteren, wichtigen Unterscheidung verstanden werden. Habermas meint, die faktische Teilnahme an Kommunikation sei von epistemologischer und ethischer Bedeutung und er unterscheidet eine »objektivierende« von einer »performativen« Einstellung. Letztere kennzeichnet die in Kommunikationsprozesse involvierte Person: »Wer beobachtet oder meint, dass ›p‹, oder wer beabsichtigt, dass ›p‹ herbeigeführt wird, nimmt eine objektivierende Einstellung zu etwas in der objektiven Welt ein. Wer hingegen an Kommunikationsprozessen teilnimmt, indem er etwas sagt und versteht, was gesagt wird (…), muss (…) er eine performative Einstellung einnehmen. Diese Einstellung lässt den Wechsel zwischen Dritter Person oder objektivierender Einstellung, Zweiter Person oder regelkonformer Einstellung, und Erster Person oder expressiver Einstellung zu.« 117

Hier wird deutlich, dass die Teilnahme an Kommunikation und am Diskurs gemäß Habermas auch für den Diskursteilnehmer selber von grundlegender Bedeutung ist. Indem der Diskursteilnehmer eine performative Einstellung annimmt, wird seine Autonomie in eine intersubjektive Dynamik inbegriffen. Hier unterscheidet sich Habermas von Kant, der Autonomie ausschließlich als innere, noumenale Angelegenheit des Individuums betrachtet. 118 Diese sprachtheoretischen Postulate sind also grundlegend für das Verständnis von Habermas’ Diskursethik und für sein intersubjektiv bestimmtes Verständnis von

der Bedingungen idealer Kommunikation. Habermas will die empirisch bedingte Heteronomie Kants mit einer »gleichsam transzendentalen Nötigung« ersetzen. »Eine gleichsam transzendentale Nötigung, unter der sich verständigungsorientiert eingestellte Subjekte an Geltungsansprüchen orientieren, macht sich nur in dem Zwang bemerkbar, unter idealisierenden Voraussetzungen zu sprechen und zu handeln. Der Hiatus zwischen Intelligiblem und Empirischem wird zu einer Spannung abgemildert, die sich in der faktischen Kraft kontrafaktischer Unterstellungen innerhalb der kommunikativen Alltagspraxis selber bemerkbar macht.« (Habermas, 1991, 20) Habermas distanziert sich hier deutlich von Kants Begriff der Heteronomie. Wie andere hier zitierte Textabschnitte Habermas’ zeigen, ist er jedoch nicht konsequent in seiner Absicht, sich von Kants Heteronomie und damit von der Dichotomie zwischen Autonomie und Dependenz zu befreien. 117 Habermas, 1996c, 34 118 Habermas distanziert sich von Kant auch bezüglich dessen Anwendungsbereich des kategorischen Imperativs. Habermas wirft Kant vor, nicht klar zwischen dem kategorischen Imperativ als Mittel zur Rechtfertigung konkreter Handlungen und als Mittel zur Beurteilung allgemeingültiger Normen zu unterscheiden. Habermas betont dabei, dass der Diskurs nur letztere Funktion haben soll. (Habermas, 1991, 95)

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Autonomie. Zentral ist dabei auch Habermas’ Unterscheidung von »strategischem und kommunikativem Handeln«. »Während im strategischen Handeln einer auf den anderen empirisch, mit der Androhung von Sanktionen oder der Aussicht auf Gratifikationen einwirkt, um die erwünschte Fortsetzung einer Interaktion zu veranlassen, wird im kommunikativen Handeln einer vom anderen zu einer Anschlusshandlung rational motiviert, und dies kraft des illokutionären Bindungseffektes eines Sprechaktangebotes.« 119

Dies steht, wie oben im Zusammenhang mit der idealen Sprechsituation deutlich wurde, im Kontrast zur Intention der Einwirkung oder Veranlassung. Das Kriterium der gegenseitigen, rationalen Handlungsmotivation ist ein Hinweis auf ein Verständnis von Autonomie als bedingt durch eine ethisch grundlegende Reziprozität. Diese äußert sich als Gewährleistung unter den miteinander kommunizierenden Subjekten im Sinne einer gegenseitigen Anerkennung von Autonomie. Auch Papastephanou sieht Habermas’ Autonomieverständnis in Verbindung mit dem Begriff kommunikativen Handelns und einer damit verbundenen kommunikativen Rationalität (im Kontrast zum strategischen Handeln und strategischer Rationalität). Durch die Verpflichtung kommunikativer Rationalität zu verallgemeinerbaren Interessen, so Papastephanou, wird kommunikative Rationalität zum Garant für persönliche und politische Autonomie und damit einhergehend für Empathie, Solidarität und Gerechtigkeit. 120 Autonomie ist damit ethisch legitim nur innerhalb des Rahmens kommunikativen Handelns, wo sie auf Rationalität gestützt eine Bedingung ethisch richtiger Relationalität darstellt. Durch diese Situierung der Autonomie im kommunikativen Handeln wird nochmals deutlich, dass Habermas’ Autonomieverständnis nur im Zusammenhang mit der ethischen Forderung gegenseitigen Respekts, wie sie Kant im kategorischen Imperativ formuliert hat, verständlich wird. Diese in der intersubjektiven Sphäre begründete, ethische Auflage des Respekts und der Reziprozität an Autonomie ist zentral für Habermas’ Verständnis von Autonomie. Habermas’ Autonomieverständnis soll hier im Anschluss daran als

119 Habermas, 1996a, 68. Mit dem Begriff »illokutionärer Bindungseffekt« meint Habermas eine der Sprache innewohnende Handlungsdimension. Sprechen ist demgemäß zugleich Handeln, da es die Umwelt beeinflusst wie eine Handlung. 120 Papastephanou, 1999, 424

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Ausdruck gegenseitiger kommunikativer Gewährleistung dargestellt werden.

4.4.3 Autonomie in Intersubjektivität Mit dieser Darlegung von Habermas’ Autonomieverständnis soll markiert werden, dass Habermas das Autonomiekonzept Kants nicht grundlegend verändert, sondern dessen Ansatz nur in eine verstärkt intersubjektive Richtung weiterentwickelt. Wie bei Kant ist Autonomie bei Habermas als Ausdruck einer hypothetisierenden oder reinen Vernunft und als Gegenüber von Dependenz zu verstehen. Bei Habermas ist Dependenz bezeichnet als Handlungszwang und Erfahrungsdruck. Autonomie ist damit auch bei Habermas die Bezwingung oder Überwindung dieser beiden – die Ausübung der hypothetisierenden Vernunft störenden – Einflüsse oder eben Abhängigkeiten. Habermas’ Autonomieverständnis als Gegenüber zu Dependenz kann mit Meehan auch als Ausdruck einer Art Blindheit seitens Habermas gegenüber emotionalen Aspekten des Selbst gedeutet werden. Meehan kritisiert Habermas dafür, durch die Begründung von Intersubjektivität innerhalb der Sphäre kommunikativer Rationalität eine einseitige und unvollständige Theorie vom Selbst zu präsentieren. Habermas habe es verfehlt, kommunikative Rationalität auf Emotionen, Verlangen, Phantasien und Ängste als vitale andere Aspekte des Selbst zu beziehen. Dies ist gemäß Meehan dadurch bedingt, dass Habermas seinen linguistic turn zu weit verfolgt, sodass die Beziehungen, in denen sich das Selbst intersubjektiv konstituiert, rein sprachlich definiert sind. In der Folge zeichne sich das intersubjektiv konstituierte Selbst ausschließlich in sprachlicher Natur ab. 121 Während Meehans Kritik in den Vorwurf mündet, Habermas vernachlässige emotionale und erfahrungsbezogene Aspekte, ist die Schlussfolgerung der oben durchgeführten Analyse von Habermas’ Autonomieverständnis in Bezug auf die Dichotomie zwischen Autonomie und Dependenz weitergehender. Mit Meehan übereinstimmend ist meine Folgerung, dass Habermas’ Begriff kommunikativen Handelns und kommunikativer Rationalität und damit sprachtheoretische Ausführungen konstitutiv für sein Verständnis des Selbst und der Au121

Meehan, 2001, 252

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tonomie sind. Hier wird aber außerdem geltend gemacht, dass Habermas, aufgrund seiner Abhängigkeit von einer kantischen Sichtweise, Unabhängigkeit von emotionalen und erfahrungsbezogenen Aspekten als konstitutiven Teil seines im kommunikativem Handeln begründeten Autonomieverständnisses betrachtet. Mit anderen Worten vernachlässigt Habermas’ sprachtheoretisch begründetes Autonomieverständnis nicht nur emotionale und erfahrungsbezogene Aspekte, sondern ist von deren Ausschluss abhängig. In Übereinstimmung mit Kant gelten in der Diskursethik emotionale und erfahrungsbezogene Aspekte als Abhängigkeiten, d. h. sie sind Ausdruck von Dependenz und werden damit als Gegenüber von Autonomie verstanden. Durch die Weiterentwicklung der kantischen Bedingung gegenseitigen Respekts in Form der auf sprachtheoretische Annahmen gegründeten Diskursethik erstellt Habermas jedoch eine Basis, von welcher aus ein Autonomieverständnis formuliert werden kann, welches teilweise auch innerhalb von Dependenz angesiedelt ist. Im Bezug auf intersubjektive und kommunikative Verpflichtungen als gegenseitige Gewährleistung ist bei Habermas die Dichotomie zwischen Autonomie und Dependenz überwunden. Anders ausgedrückt entsteht Autonomie gemäß Habermas im Diskurs als ideale Sprechsituation aufgrund der gegenseitigen, verpflichtenden Abhängigkeit von in Kommunikation interagierenden Subjekten. Insofern als der Zweck der Verständigung berücksichtigt wird, ist individuelle Autonomie nicht als Gegensatz, sondern als eine Funktion der intersubjektiven Abhängigkeit zu verstehen. Dies wird deutlich in Habermas’ Diskussion bezüglich entwicklungspsychologischer Aspekte von Autonomie, wo er von »eine(r) wechselseitige(n) Abhängigkeit von Sozialisation und Individuierung, eine(r) Verschränkung von persönlicher Autonomie und gesellschaftlicher Solidarität, die zum Hintergrundwissen aller kommunikativ handelnden Subjekte gehört« spricht.122 Diese im Diskurs intersubjektiv begründete Aufhebung der Dichotomie stellt dar, was zu Beginn dieses Abschnittes als intersubjektive Lesart von Kant bezeichnet worden ist. Autonom ist für Habermas nicht das gemäß seiner Vernunft handelnde Individuum, sondern wer durch die Teilnahme am Diskurs als idealer Sprechsituation teilhabend ist am gemeinsam erreichten Konsens. Der Umstand dieser Teilnahme, spezifiziert als gegenseitige Gewährleistung, ist, was die intersubjekti122

Habermas, 1991, 78

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ve Begründung von Autonomie bei Habermas ausmacht. Dabei ist der eigene Anspruch auf Autonomie per Definition verbunden mit der Anerkennung der Autonomie anderer. Habermas macht damit die von Kant an Autonomie gebundene, ethische Auflage des Respekts gegenüber vernünftigen Wesen deutlicher sichtbar anhand einer gegenseitigen, intersubjektiven Bedingung. Einhergehend mit Habermas’ Ansiedlung der Autonomie innerhalb von Intersubjektivität ist eine deutliche Diskontinuität zu Kant bezüglich der Begründung der Autonomie. Autonomie soll bei Kant metaphysisch letztbegründet werden. Bei Habermas bleibt eine solche Letztbegründung aus. 123 Dies ist insofern ein Vorteil, als damit Möglichkeiten eröffnet werden, einer pluralistischen Situation besser gerecht zu werden. Habermas meint, es gebe für ihn keinen Widerspruch zwischen dem universellen Anspruch der Diskursethik und einem Pluralismus als Anerkennung von Vielfalt. Er betont, die Diskursethik könne als kantische Ethik in einer pluralistischen Situation funktionieren, weil sie einen formalistischen Ansatz mit universellem Anspruch beinhalte. In einer pluralistischen Situation, so Habermas, seien die moralisch gerechtfertigten Normen allgemeiner und abstrakter Art. Dies treffe zu, je mehr Diversität in partikularen Lebensformen vorhanden ist. 124 Insofern als Habermas den Konsens und damit den normierenden Diskurs im Pluralismus auf allgemeine und abstrakte Niveaus bezieht, nimmt er eine Normierung der Autonomie durch Pluralismus vor. Diese Normierung verläuft entlang der Linie zwischen allgemein und konkret, zwischen Prinzipien, Rechten und Prozeduren einerseits und Lebensformen und Konzepten des Guten andererseits. Habermas ist aber kritisiert worden für sein einseitiges und optimistisches Festhalten am Konsens als Voraussetzung für die Diskursethik. Die Erreichung eines weitgehenden Konsens als gesamtgesellschaftlich geteilte Perspektive in pluralistischen Gesellschaften ist eher unwahrscheinlich. Es lässt sich aber auch fragen, inwiefern Habermas’ strikte Trennung zwischen generell gehaltenen Konsensen und Diversität auf dem konkreten Niveau von Lebensformen glaubwürdig aufrechterhalten werden kann. 125 Habermas’ Hervorhebung des Konsenses als ethisch normierend 123 Das ist auch in seiner sprachtheoretisch bestimmten Konsenstheorie der Wahrheit begründet. (Habermas, 1984a) 124 Habermas, 1991, 23 125 Warnke, 2001, 295–299

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ist demgemäß in einer pluralistischen Situation nicht unproblematisch. Auf sein Autonomieverständnis bezogen ist jedoch nicht der Konsens an sich, sondern die der Sprache innewohnende Bereitschaft zur Verständigung oder zum Konsens als zentral identifiziert worden. Die gegenseitige Gewährleistung wurde oben als zentrales Kriterium für das Autonomieverständnis identifiziert. Diese kommunikativ bestimmten Aspekte einer diskursethisch artikulierten Autonomie können aufrechterhalten werden trotz dem Problem bezüglich eines Konsenses, der nur auf genereller Ebene erreichbar ist. Sie orientieren sich an gehaltvollen Bestimmungen einer normativen Prozedur und tun dies unabhängig davon, wie realistisch das Erreichen eines Konsenses in einer Situation von Diversität tatsächlich ist. Der Wert einer diskursethischen Bestimmung der Autonomie für eine pluralistische Situation kann somit auch dahingehend gedeutet werden, dass die voraussetzungsvolle Seite derselben hervorzuheben ist. Damit rückt die ethisch gehaltvolle, kommunikationstheoretische Bestimmung der Autonomie als gegenseitige Gewährleistung ins Zentrum. Wenn Autonomie wie bei Habermas intersubjektiv und bestimmt als Funktion kommunikativer Spielregeln verstanden wird, umfasst sie eine Bedingung der Gegenseitigkeit, welche Ansprüche, Verpflichtungen sowie damit verbundene Kompetenzen aller Beteiligten normativ festlegt. Es kann gefolgert werden, dass Autonomie als gegenseitige Gewährleistung in einer pluralistischen Situation zum Maß der Toleranz wird.

4.4.4 Autonomie in gegenseitiger Gewährleistung als moralpädagogische Zielvorstellung Was bedeutet eine Annahme von Autonomie in gegenseitiger Gewährleistung als moralpädagogische Zielvorstellung? Wie oben bereits angeschnitten worden ist, kann es hier nicht um eine pädagogische Umsetzung von Habermas’ Diskursethik gehen. Vielmehr soll nach der Relevanz des Autonomieverständnisses, wie in Habermas’ Diskursethik enthalten, für Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung gefragt werden. Autonomie ist bei Habermas normativ an gegenseitige Gewährleistung gebunden. Wenn dies als moralpädagogische Zielvorstellung gelten soll und Erziehung als Anspruch zudem einem kohärenzorientierten Begründungsmuster unterworfen werden soll, 235 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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dann müsste die intersubjektiv bestimmte, gegenseitige Gewährleistung auch in der Erziehungssituation normierende Funktion haben. Ein Anspruch dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung erscheint hier auf grundlegende Weise als in der Zielvorstellung Autonomie bedingt, wenn diese anhand kommunikativ definierter Gegenseitigkeit bestimmt ist. Autonomie als bedingt durch gegenseitige Gewährleistung verpflichtet anders ausgedrückt als moralpädagogische Zielvorstellung zu einem gewissen Maß an kommunikativ ausgedrückter Symmetrie. Allerdings zeichnet sich die Erziehungssituation gerade durch Ungleichheiten als erfahrene Differenz und als Intention zu verändern aus. Habermas’ Autonomieverständnis stellt als moralpädagogische Zielvorstellung eine normative Herausforderung an die Erziehungssituation dar. Aufgrund der Bedingung gegenseitiger Gewährleistung kann der Anspruch an Asymmetrie nur dialektisch sein und Richtung nur als riskant beansprucht werden. Darin drückt sich wiederum eine Komplexität bezüglich der Erziehungssituation aus, welche didaktische Umsetzung diskursethischer Prinzipien als zu vereinfachend erscheinen lässt. 126 Wenn Schüler schwänzen und Eltern und Schulpersonal diesem Verhalten beikommen wollen, müsste, unter der Voraussetzung, dass Autonomie moralpädagogische Zielvorstellung ist, gefragt werden, wie sich eine Verpflichtung zu gegenseitiger Gewährleistung (als normativ bedingender Ausdruck dieser Zielvorstellung im Sinne von Habermas’ Autonomieverständnis) aus Sicht erziehender Personen und Institutionen ausdrücken müsste in den erzieherischen Maßnahmen. Umgekehrt kann hinsichtlich der oben erwähnten ›Schwänz-SMS‹ gefragt werden, was eine derartig weitgehende Kontrollausübung, gefestigt durch automatische Mitteilungen direkt von der Schule an die Eltern, bezüglich eines in kommunikativer Gegenseitigkeit bedingten Autonomieideales ausdrückt? Worin könnte die gegenseitige Gewährleistung bestehen? Durch Kontrollausübung mit ›Schwänz-SMS‹ als einseitig ausgeübte Macht wird die Gegenleistung der Schüler, welche durch das Ideal gegenseitiger Gewährleistung gefordert wäre, aufgrund eines Entzuges von Vertrauen eigentlich von vornherein ausgeschlossen oder zumindest als ungenügend beurteilt. Was dabei vermittelt wird, ist von Seiten der erziehenden Person oder Institution: »Ich weiß 126

Siehe Sprod, 2001.

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immer und sofort, wo du dich aufhältst.« Diese ständige Kontrollmöglichkeit gibt Eltern und Schulleitungen einen Vorsprung, einen Machtüberschuss, der eine eventuelle oder erwartete Gegenleistung des Schülers bereits im Vornherein abgewertet. Umgekehrt entspricht das Schwänzen des Schülers natürlich auch einem Vertrauensentzug (und angesichts allgemeiner Schulpflicht auch einer Machtdemonstration). Allerdings fragt sich, inwiefern die ›Schwänz-SMS‹ eingesetzt werden als Reaktion auf wiederholtes Schwänzen gewisser Schüler, oder ob es sich als allgemeine Methode zur generellen Vorbeugung gegen Schwänzen etablieren wird. Letzteres wäre problematisch insofern als ›Schwänz-SMS‹ einen Vertrauensentzug und eine Machtausübung implizieren, die zu weitgehend erscheint hinsichtlich einer Zielvorstellung Autonomie, die bedingt ist durch gegenseitige Gewährleistung. Allerdings muss eingeräumt werden, dass der Gebrauch einer solchen Technologie ungeachtet einer Berücksichtigung weiterer Aspekte der entsprechenden Erziehungssituation schlecht zu bewerten ist. Die Frage nach der Berechtigung der ›Schwänz-SMS‹ als moralpädagogische Maßnahme müsste demgemäß eine Beurteilung der ›Schwänz-SMS‹ im weiteren Zusammenhang umfassen. So spielt etwa die weitere Handhabung der ›Schwänz-SMS‹ sowie die damit verbundenen Verhaltensweisen gegenüber den Schülern eine Rolle. Folgen Gespräche mit schwänzenden Schülern, um gegenseitiges Vertrauen wieder herzustellen? Wie oben erwähnt, müsste dem Aspekt des Vertrauensentzugs respektive der Wiederherstellung von Vertrauen angesichts einer Zielvorstellung Autonomie hier eine entscheidende Funktion zugestanden werden.

4.5 Intersubjektiv gegrndete Autonomie als funktionaler Wert Die Verschiebung der Normativität von einer intrasubjektiven in eine intersubjektive Sphäre, welche Kant, Rawls und Habermas je auf eigene Weise und unterschiedlich weitgehend vornehmen, kommt keiner Auflösung des autonomen Individuums gleich. In der Besprechung oben haben sich jedoch Diskrepanzen herauskristallisiert zwischen den Autoren bezüglich der Verteilung zwischen Individuen und dem ›zwischenindividuellen Raum‹. Diese Diskrepanzen zeigen, dass die Idee der Intersubjektivität unterschiedliche Auswirkung auf die Rolle des Individuums und damit auf das Verständnis individueller Auto237 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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nomie haben kann. Hier soll abschließend dafür argumentiert werden, dass ein intersubjektives Konzept von Autonomie – im Vergleich zu intrasubjektiv gefasster Autonomie – diese ethisch und pädagogisch zugänglicher macht. Dies ist interessant, wenn Autonomie, wie im Einleitungskapitel dargelegt, als funktionaler Wert bestimmt und begründet werden soll. Bei Rawls ist die Bedeutung des Individuums stärker als bei Habermas. Rawls verbleibt darum auch näher bei Kant. Da der Urzustand immer nur als hypothetisch oder imaginär vorgestellt wird, verbleibt bei Rawls’ Normativität und Autonomie, trotz Miteinbezug sozialer und intersubjektiver Aspekte, letztlich dennoch eine Angelegenheit individueller Reflexion. Bei Habermas, der konkrete Diskurse kontrafaktischer Art fordert, ist die Bedeutung des Individuums deutlicher durch die normative Funktion der idealen, intersubjektiven Sprechsituation eingeschränkt und bestimmt. Der im Diskurs erreichte Konsens ist Ausdruck einer Bindung der Normativität an den ›zwischenindividuellen‹ oder ›intersubjektiven Raum‹. 127 Das Individuum ist in seiner normierenden Rolle dem Konsens untergeordnet. Seine Autonomie ist dabei nur in den von Habermas aufgestellten Bedingungen des Diskurses als ideale Sprechsituation ersichtlich und legitim. Insbesondere in der Bedingung der kommunikativen Gewährleistung liegt das Verständnis des Individuums als autonome Instanz begründet. Habermas nimmt also, im Vergleich zu Rawls, eine deutlichere 127 Es ist mit Recht gefragt worden, worin eigentlich der Raum ›zwischen‹ den Subjekten bestehe und wie er zu bestimmen sei. Illustrativ ist beispielsweise Benjamins Einwand gegenüber Habermas, er übersehe »the constitutive problematic of Otherness«. Aus psychoanalytischer Perspektive meint Benjamin, Habermas vergesse die psychischen Tendenzen des Menschen, dominieren und zerstören zu wollen. Benjamin behauptet, gegenseitiges Verständnis sei generell schwierig und unwahrscheinlich. (Benjamin, 2006) Benjamins Kritik ist nicht nur gegen Habermas’ oben erwähnten Optimismus bezüglich der menschlichem Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung und, damit verbunden, zu Respekt gerichtet, sondern stellt auch die weitergehende Frage zur Substanz des intersubjektiven Raumes. Was ist damit gemeint, und wie ist dieser epistemologisch und ethisch zu fassen? Diese grundlegenden Fragen können hier nicht erschlossen werden. Die Problematik, welche mit Habermas’ und Kants Optimismus bezüglich der menschlichen Motivation zum Konsens und generell zum ›Guten‹, zusammenhängt, wurde oben erwähnt. Für die Frage nach Erziehung stellt die Erziehungssituation einen intersubjektiven Raum dar. Dieser ist in den Kapiteln 2 und 3 näher umschrieben und problematisiert worden. Aus ethischer Sicht wurde der intersubjektive Raum in Erziehung konkretisiert als in der Erziehungssituation artikulierter Anspruch.

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Intersubjektiv gegrndete Autonomie als funktionaler Wert

Verschiebung der Normativität in den intersubjektiven Raum vor. Beiden gemeinsam jedoch ist die Verpflichtung zur – im Grunde kantischen – Intention, Moral durch Autonomie als gebunden an Rationalitätskriterien rational zugänglich zu machen. Der intersubjektive Raum ist oben bei Rawls als Kooperation und bei Habermas als gegenseitige Gewährleistung identifiziert worden. Ein intersubjektiv gegründetes Autonomiekonzept verankert Autonomie nicht nur in der Vernunft des Individuums als ethisches Subjekt, sondern im intersubjektiven Raum, als Arena für kommunikative oder politisch organisierte Interaktion zwischen Individuen. Damit wird die »rationale Bürde« 128 beibehalten, aber für seine ethischen Kriterien an Bedingungen der Interaktion erschlossen. Intersubjektiv begründete Autonomie wird damit per Definition auf ethische Argumentationen als Problematisierung zwischenmenschlicher Interaktion bezogen. Sie wird durch ihre Bestimmung und Begründung anhand von Bedingungen der Interaktion oder Kommunikation zugänglicher. Autonomie in Interaktion ist als intrasubjektives Phänomen nicht im Bewusstsein des Individuums eingeschlossen, sondern rationalen Bestimmungen von Interaktion unterworfen. Normativ besteht die Zugänglichkeit aus Kriterien wie jenem des Respekts, der Gleichstellung, der Inklusion aller Betroffenen und der Reziprozität. Diese Kriterien stellen insbesondere für moralpädagogische Situationen bedeutende Anhaltspunkte dar. Wenn Autonomie in Interaktion bestimmt und begründet und als moralpädagogische Zielvorstellung betrachtet wird, sind darin normative Anhaltspunkte zur Beurteilung des Anspruchs in der Erziehungssituation enthalten. In der Folge müsste innerhalb eines kohärenzorientierten Begründungsmusters ein adäquater Anspruch sich an Bedingungen allgemeinen Respekts, einer Bereitwilligkeit zu Kooperation, oder gegenseitiger Gewährleistung orientieren. Erziehung zu Autonomie erscheint gemäß dieser Argumentation als Erziehung in Autonomie. Bezüglich einer Zielvorstellung Autonomie in Interaktion geht es um Erziehung, welche die in den Erziehungssituationen ausgedrückten Ansprüche in Abstimmung mit den normativen Bedingungen der intersubjektiven Bestimmung von Autonomie auszuformen versucht.

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Frohock, 1997

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5 Autonomie in Relationalitt

5.1 Dependenz als Relationalitt Mit dem erklärten Ziel, die Kommunikation (und damit die Relation) zwischen Eltern und Kind zu verbessern, wird gegenwärtig in Schweden von einer Vielzahl von Gemeinden eine Elternausbildung namens Komet (Abkürzung für Kommunikationsmethode) angeboten. Komet wird als eine mehrerer Methoden zur Elternausbildung in verschiedenen Rapporten des schwedischen Amts für Volksgesundheit (Statens folkhälsoinstitut) beschrieben und empfohlen. 1 Komet richtet sich an Eltern mit verhaltensauffälligen Kindern im Alter von 3–9 Jahren. Die Methode geht auf eine amerikanische Elternausbildung mit dem Namen Parent Management Training (PMT) zurück. Zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Eltern und Kind wird insbesondere die Bedeutung von Lob hervorgehoben. Anmerkungswert ist die dabei angewandte »Sternchenschlange«, welche eine Art Belohnungssystem für ausgeführte Aufgaben darstellt. »Zur Hilfe haben die Eltern ein einfaches Belohnungssystem. Eine gezeichnete Schlange auf einem A4-Blatt wird am Kühlschrank aufgehängt. Der Schlangenschwanz hat 90 leere Felder. Ungefähr in jedem fünften Feld hat es ein Fragezeichen. Jeden Tag erhält das Kind drei sich wiederholende Aufgaben. Für jede gelöste Aufgabe erhält das Kind einen Stern zum Festmachen in einem der Felder der Schlange. Bei den Fragezeichen gibt es eine Belohnung, zum Beispiel ein Eis zur Nachspeise oder eine zusätzliche Gutenachtgeschichte.« 2

Die Rapporte sind zustande gekommen im Rahmen eines umfangreichen Regierungsauftrages mit dem Zweck verschiedene Formen staatlich initiierter Unterstützung von Eltern zu untersuchen und vorzuschlagen. Siehe http://www.fhi.se. 2 På rätt kurs! Metoder för föräldrastöd från förskolan till tonåren, 2006, 21 http:// www.fhi.se (Zugriff am 24. Oktober, 2008, meine Übersetzung) 1

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Dependenz als Relationalitt

Als Gegenleistung wird (quasi als Hausaufgabe) von den Eltern verlangt, sich jeden Tag dem Kind eine Viertelstunde zu widmen. 3 Die Komet-Methode kann kaum als Ausdruck von Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie verstanden werden. Es geht darum, Kommunikation zwischen Eltern und Kindern zu verbessern. Es fragt sich dabei nicht nur, welche Art Kommunikation gefördert werden soll, wenn die Rolle der Eltern sich (neben einer Viertelstunde Umgang mit dem Kind) vor allem in der Verteilung von Aufgaben und der Austeilung von Sternchen zu erschöpfen scheint. Es lässt sich aus der Perspektive dieser Arbeit aber auch fragen, inwiefern geglückte Kommunikation von Autonomie als Zielvorstellung (eine unter anderen) gänzlich absehen kann. Die Sternchenschlange scheint auf eine behavioristische Psychologie zu setzen. Sie kreiert Situationen, welche seitens der erziehenden Person mit der Beanspruchung einer starken Asymmetrie verbunden sind (und die Assoziation mit den Tierexperimenten der 1960er Jahre ist nahe liegend). Die Sternchen sind die Belohnung für Handlungen, deren Wert darin besteht, dass sie der Vorgabe der Eltern entsprechen. Selbständiges Denken oder eigene Initiative und Verantwortung sind nicht gefragt, sondern was gefördert werden soll ist Orientierung an Belohnung und Gehorsam. Wenn die Mutter einer 8-jährigen Tochter enthusiastisch feststellt, ihre Tochter liebe die Sternchenschlange, 4 ist der Eindruck einer beinahe demütigenden Relationalität unausweichlich. Bereits im vorhergehenden Kapitel wurde legitime Erziehung zu Autonomie als bedingt in der Gestaltung der Erziehungssituation respektive in den darin artikulierten Ansprüchen beschrieben. Dafür wurde im Zusammenhang mit dem kohärenzorientierten Begründungsmuster argumentiert und es wurde als Erziehung in Autonomie bezeichnet. In diesem Kapitel soll diese Idee weiter verfolgt werden anhand von Autonomiekonzepten, welche Autonomie insofern innerhalb von Dependenz verstehen, als sie Autonomie auf verschiedene Weisen in Relationalität ansiedeln. Wie die Sternchenschlange als BeiPå rätt kurs! Metoder för föräldrastöd från förskolan till tonåren, 2006, 21 http:// www.fhi.se (Zugriff am 24. Oktober 2008) In dem Rapport nennen nach dem Kurs befragte Eltern sowie Sozialarbeiter, die mit der Methode arbeiten, dass sie zufrieden sind mit Komet und dass durch die Methode veränderte Verhaltensweisen und verbesserte Beziehungen erreicht werden. 4 Nya möjligheter. Metoder för föräldrastöd från förskolan till tonåren http:// www.fhi.se (Zugriff am 24. Oktober, 2008) 3

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Autonomie in Relationalitt

spiel einer Erziehungspraxis illustriert, stellen die Konsequenzen, welche moralpädagogische Zielvorstellungen für die Erziehungssituation und den darin gemachten Ansprüchen haben, aufschlussreiche Indizien für die Legitimitätsfrage dar. Ungeachtet der fraglichen Methode, mit einer Sternchenschlange als Belohnungssystem zu arbeiten, wird deutlich, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Zielvorstellung und Erziehungssituation sowie der darin konstituierten Relationalität. Eine Grundthese für dieses Kapitel ist ausgehend von einem kohärenzorientierten Begründungsmuster, dass eine Zielvorstellung Autonomie in Relationalität sich in der Erziehungssituation als Anspruch an dialektische Asymmetrie und riskante Richtung ausdrücken müsste. Autonomie in Relationalität wird zuerst in kommunitaristischer Tradition anhand von Texten von MacIntyre und Taylor beleuchtet. Bei diesen Philosophen nimmt der Begriff Autonomie keinen zentralen Platz ein. Beide befassen sich aber aufgrund ihrer Kritik an der Moderne mit Autonomie, deren Bedeutung und Wert sie anthropologisch und ethisch hinterfragen. Sowohl MacIntyre wie Taylor greifen dabei vorzugsweise auf aristotelische Konzepte zurück, um an einem modernen Konzept des autonomen Individuums Kritik zu üben. MacIntyres Verständnis von Moral als Wertungen, die gemeinsames Gut sind in Gemeinschaften und in deren Praktiken begründet sind, ist nicht als absolute Absage an individuelle Möglichkeiten zu Selbstbestimmung zu deuten. Vielmehr geht es ihm ausgehend von einer Kritik an modernen Vorstellungen von Subjekt und Rationalität darum, die Voraussetzungen und Umstände individueller Autonomie zu diskutieren. 5 Gerade durch ihre Kritik an dem Begriff der Autonomie haben MacIntyre und Taylor einen interessanten Beitrag an ein erweitertes Verständnis von Autonomie als bestimmt und begründet in Relationalität zu geben. Zentral ist ihr Verständnis des reflektierenden Subjektes unter dem Vorzeichen dessen engen Abhängigkeitsverhältnisses von kontextuellen Faktoren wie Tradition und Praxis. Dies lässt Autonomie des reflektierenden Subjektes eher als »co-authorship« respektive »self-interpretation« erscheinen, wobei der Rationalitätsbegriff als verankert in einem kontextuellen, relationalen Bezug auftritt. 6 Jüngere Ansätze zu Sichtweisen von Autonomie als abhängig von Relationalität sind im englischsprachigen Raum in den letzten Jahren 5 6

Sigurdson, 2001, 22 MacMullen, 2007, 83–87

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unter der Bezeichnung relational autonomy diskutiert worden. Relational autonomy wird dabei als Sammelbegriff gebraucht für Autonomiekonzepte, welche seit den 1990er Jahren (auch unter anderen Bezeichnungen wie etwa personal autonomy) diskutiert werden und um eine gemeinsame Kritik kreisen gegenüber Autonomieverständnissen, welche grundlegend individualistisch und rationalistisch angelegt sind. Es geht bei relational autonomy um Ansätze, die Autonomie als wichtigen Begriff beibehalten, ihn aber anhand eines social self neu erarbeiten wollen. Insbesondere feministisch artikulierte Ansätze spielen dabei eine zentrale Rolle. 7 In diesem Kapitel sollen die Ansätze von Oshana und Meyers näher besprochen werden. Oshanas Autonomiekonzept, welches sie »personal autonomy« nennt und als sozial-relationales Phänomen bezeichnet, 8 stellt eine radikale Definition von Autonomie als in Relationalität konstituiert dar. Sie stellt ins Zentrum ihres Konzeptes die faktische Möglichkeit des Individuums, Autonomie auszuüben. Die Ausübung von Autonomie macht Oshana von einem relational bedingten Zugeständnis an das autonome Individuum durch Andere abhängig. Meyers beleuchtet mit ihrem Konzept die Frage, wie Autonomie, wenn relational bestimmt und begründet, möglich wird in einer Relationalität, welche dieses relational bedingte Zugeständnis (im Sinne Oshanas) nicht oder nur begrenzt macht. Meyers’ Sichtweise knüpft an jene Bedingungen an, die sie in intersektionaler Identität identifiziert und in ihrer Funktion für Autonomie diskutiert. Meyers nuanciert die relationale Bedingtheit von Autonomie. Relationalität und Authentizität sind zwei Faktoren, welche beide auf komplexe Weise die Autonomie einer Person beeinflussen. Mit Meyers’ Autonomiekonzept ist die Vorstellung angesprochen, Autonomie setze Authentizität voraus, was im nächsten Kapitel näher betrachtet wird. Im vorhergehenden Kapitel wurde Autonomie in Interaktion beschrieben. Autonomie wurde als in Interaktion normiert beleuchtet. Interaktion ist dabei als intersubjektiver Zwischenraum zu verstehen. Darin sind Aspekte enthalten, die Autonomie nicht (ausschließlich) mit losgelösten oder distanzierten Subjekten verbinden. In diesem Kapitel sollen Autonomiekonzepte besprochen werden, welche die Bedeutung des sozialen Kontexts als konstitutiv für Autonomie betrachten. Der in diesem Kapitel aktualisierte Aspekt von Dependenz ist dem7 8

Mackenzie & Stoljar, 2000, 3–5 Oshana, 2006, 49

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gemäß Relationalität. Die Unterscheidung zwischen Autonomie in Interaktion und Autonomie in Relationalität ist nicht als kategorische Unterscheidung zu verstehen. Wie die folgende Darstellung zeigt, kommen bei den beiden Kategorien von Autonomiekonzepten mehrfach Anknüpfungspunkte und geteilte Perspektiven vor. Beide Kategorien von Autonomiekonzepten wenden sich gegen das individualistisch bestimmte, autonome Subjekt, welches aufgrund seiner Autonomie abgeschieden ist. Unter der Kategorie Autonomie in Interaktion wurden Konzepte beschrieben, in welchen das autonome Subjekt von seinem intersubjektiven Bezug her gedeutet wird. Der Bezug auf einen intersubjektiven Zwischenraum, in welchem Interaktion zwischen Subjekten stattfindet, stellt dann eine Normativität dar, die auf das autonome Subjekt bestimmend und teilweise auch einschränkend wirkt (als Forderung gegenseitiger Gewährleistung etwa). Es entsteht dabei eine gegenseitige Bestimmung des Subjekts anhand des intersubjektiven Raumes einerseits und des intersubjektiven Raumes anhand der interagierenden Subjekte andererseits, denn ein intersubjektiver Raum ist abhängig von der Existenz von Subjekten. Bei den Autonomieverständnissen, welche hier als Autonomie in Relationalität besprochen werden, ist die autonome Person unmittelbarer an ihr soziales Umfeld gebunden und durch dieses bestimmt. Es handelt sich hier nicht um eine gegenseitige, sondern um eine (mehr oder weniger radikal formulierte) einseitige Bestimmung vom Subjekt durch seinen relationalen Kontext. Personen sind sozusagen in Relationalität konstituiert. Sie sind ohne relationalen Bezug nicht zu verstehen, sondern sind in ihrer Existenz oder ihrer Funktion als ethische Subjekte von Relationalität abhängig. Insofern als sie autonom sind, ist demgemäß ihre Autonomie bedingt durch die sie bestimmende Relationalität. Es geht nicht um ein gegenseitig konstituierendes Verhältnis, sondern um eine Sichtweise, gemäß welcher die autonome Person in ihrem sozialen Umfeld konstituiert ist. 9 Autonomie stellt sich gemäß einer solchen Sichtweise als Funktion sozialer Beziehungen dar. Dies führt dazu, dass Autonomie anWie die folgenden Ausführungen zeigen, ist dies am deutlichsten ausgedrückt bei MacIntyre und Oshana. Bei MacIntyre ist Autonomie (sowohl entstehungsgeschichtlich wie normativ ethisch) sekundär im Verhältnis zu Dependenz. Auch bei Oshana ist diese einseitige Bedingtheit deutlich, indem sie Autonomie als auf entscheidende Weise abhängig von Beziehungen, innerhalb welcher einer Person Autonomie zugestanden wird, betrachtet.

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hand relationaler Bedingungen definiert wird, sodass die als notwendig oder konstitutiv identifizierten Bedingungen von Autonomie den Bedingungen der Beziehungen, in welcher eine Person lebt, entnommen werden. 10 Generell ist ein Verständnis von Autonomie in Relationalität interessant für die Frage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung, weil darin die Bedeutung konkreter, relationaler Situationen als relevant für Entstehen und Ausdrucksweisen von Autonomie aktualisiert wird. In den hier besprochenen Autonomiekonzepten gestaltet sich die relationale Bestimmung von Autonomie unterschiedlich. Dabei ist auch das Ausmaß, in welchem die relationale Bedingtheit des ethischen Subjekts respektive seiner Autonomie durch soziale Beziehungen ausgedrückt wird, unterschiedlich weitgehend. Mackenzie und Stoljar unterscheiden zwei Arten relationaler Autonomiekonzepte. Kausal relationale Konzepte betrachten das ethische Subjekt als Produkt sozialer Bedingungen und Kontexte. In der Folge ist Autonomie insofern relational bestimmt, als sie bedingt ist von der sozialen Bestimmung des Subjektes. Konstitutiv (oder intrinsisch) relationale Autonomiekonzepte sind gekennzeichnet durch die Annahme, dass die Ausübung von Autonomie im sozialen Kontext bestimmt ist. 11 Das Verständnis von Autonomie wird demgemäß in konstitutiv relationalen Konzepten zur unmittelbaren Funktion von Relationalität, während sie in kausal relationalen Konzepten als Funktion von Relationalität nur mittelbar, d. h. abhängig von der relationalen Identität des autonomen Subjekts, ist. Inwiefern diese Unterscheidung begrifflich klar abgrenzbar ist, lässt sich diskutieren. Es scheint sich eher um einen Unterschied bezüglich des Ausmaßes der relationalen Bestimmung von Autonomie zu drehen. Denn wenn das ethische Subjekt als kausal in Relationen bestimmt verstanden wird, dann muss es auch in autonomen Urteilen und Handlungen von diesem kausalen Verhältnis beeinflusst sein. Es ist mit anderen Worten fraglich, ob Autonomie in Loslösung vom autonomen Individuum betrachtet werden kann oder ob eine Bestimmung des Individuums als relational konstituiert nicht auch ein relational konstituiertes Verständnis seiner Autonomie einschließt. Mackenzie & Stoljar, 2000, 21 »Those approaches focusing on the social constitution of the agent or the social nature of the capacity of autonomy itself, are constitutive conceptions, whereas those focusing on the ways in which socialization and social relationships impede or enhance autonomy are causal conceptions.« (Mackenzie & Stoljar, 2000, 22) 10 11

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Mackenzies und Stoljars Unterscheidung erscheint plausibler, wenn sie den Umstand markiert, dass sich Autonomie in Relationalität unterschiedlich weitgehend relational definieren lässt. Mit dem Vorbehalt, dass die Unterscheidung zwischen kausal relationalen und konstitutiv relationalen Autonomiekonzepten auf diese Weise eher eine graduelle als eine kategorische Unterscheidung darstellt, lassen sich die im Folgenden besprochenen Autonomiekonzepte anhand dieser Unterscheidung charakterisieren. Während Taylors und Meyers’ Konzepte eher kausal relational sind, stellt Oshanas Autonomiekonzept ein konstitutiv relationales Verständnis von Autonomie dar. Betreffend MacIntyres Autonomieverständnis müsste unterschieden werden zwischen älteren und jüngeren Texten. Die Sichtweise zu Autonomie, welche MacIntyre in seinen jüngeren Texten erarbeitet, ist deutlicher konstitutiv relational, während seine früheren Texte, näher an Aristoteles anknüpfend eher kausal relationale Aspekte von Autonomie darstellen. Evaluierende Überlegungen zur Legitimität von Autonomie in Relationalität als moralpädagogischer Zielvorstellung (im Anschluss an die jeweiligen Besprechungen der Autonomiekonzepte) sollen in diesem Kapitel unter Beizug einer pädagogischen Praxis, wie gegenwärtig an schwedischen Grundschulen angewandt, beleuchtet werden. Im Gegensatz zur Sternchenschlange wird hier eine pädagogische Situation mit einer Relationalität, welche geprägt ist von Gleichstellung zwischen erziehender und zu erziehender Person, angestrebt. Es geht um die an schwedischen Grundschulen übliche Praxis im Zusammenhang mit individuellen Schüler-Eltern-Lehrer-Gesprächen einen individuellen Studienplan in Form eines so genannten Vertrags aufzustellen. In diesem wird nach einem gemeinsamen Gespräch ein persönliches Entwicklungsziel für das kommende Semester schriftlich festgehalten. Nachdem sich Schüler, Lehrer und Eltern auf eine Zielvorstellung geeinigt haben, wird dies anhand eines Vertrages schriftlich dokumentiert, der mit den Unterschriften aller drei Parteien (Schüler, Lehrkraft und Elternteil) versehen wird. Vielleicht könnte eingewandt werden, dass Verträge dieser Art eine Praxis darstellen, die nicht so sehr mit Erziehung, sondern eher mit Bildung zu tun hat. Ein Vertrag mit Unterschriften ist aber nicht nur als Methode zur Erreichung von Lernzielen zu verstehen, sondern ist auch mit Werten assoziiert, wie etwa jenem der Autonomie. Erklärtes Ziel ist es dabei, alle drei Parteien in einen Lernprozess der Schüler zu involvieren. Alle verpflichten sich durch die Unterschrift, zur Errei246 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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chung des Lernzieles beizutragen. Aber was wird tatsächlich pädagogisch vermittelt durch einen solchen Vertrag? Kann überhaupt von einem Vertrag die Rede sein, wenn nicht alle Parteien wirklich symmetrisch, d. h. mit denselben grundlegenden Voraussetzungen und Kompetenzen, aufeinander bezogen sind? Letztere Frage soll hier nicht eingehend behandelt werden, da sie eher eine juristische Frage darstellt und zur Frage nach der Legitimität einer solchen pädagogischen Praxis wenig beiträgt. Relevant hingegen sind hier die Fragen, welche moralpädagogische Zielvorstellung die Anwendung eines Vertrags umfasst, was vermittelt wird und welche Art von Relationalität durch die pädagogische Praxis entsteht. Mit einem Vertrag, den das Kind, seine Eltern und die Lehrkraft unterschreiben, scheint man dem Kind Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit vermitteln zu wollen. Soll damit zu Autonomie aufgefordert werden? Es ist anzunehmen, dass das Kind, welches ohnehin in einem starken Abhängigkeitsverhältnis steht zu Eltern und Lehrer, zumindest in den ersten Schuljahren eigene Präferenzen schlechter artikulieren kann als es die beteiligten Erwachsenen können. Der Vertrag scheint die Gleichstellung aller drei Parteien eher zu suggerieren als zu etablieren. Was dies bedeuten kann und inwiefern es legitim ist, wenn assoziiert mit einer Zielvorstellung Autonomie in Relationalität, wird im Zusammenhang mit den verschiedenen Autonomiekonzepten respektive ihrer Funktion als moralpädagogischer Zielvorstellung diskutiert.

5.2 Autonomie im Kontext verpflichtender Dependenz (MacIntyre) Gemeinsamer Ausgangspunkt aller in diesem Kapitel besprochenen Autonomiekonzepte ist die Kritik an einem modernen Autonomieverständnis. Ein solches wird von MacIntyre 12 aufgrund seiner Abhängig12 Die folgende Darstellung von MacIntyres Autonomieverständnis hebt neben mehr bekannten Texten (vor allem aus dem Werk After Virtue) auch zwei jüngere Texte hervor, beide aus dem Jahr 1999 (Social Structures and Their Threats to Moral Agency und Dependent Rational Animals). Diese beiden Texte sind hier interessant, weil sie die Frage individueller Autonomie innerhalb eines Kollektivs oder einer Gemeinschaft beleuchten. Es gilt zu beachten, dass MacIntyre in älteren Texten kommunitaristische Sichtweisen weitergehender ausdrückt. Damit soll nicht gesagt sein, dass, was MacIntyre in diesen jüngeren Texten ausdrückt, eine inhaltliche Diskontinuität zu früheren Texten darstellt.

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keit von einem rational handelnden Individuum als eine Illusion bezeichnet. »The rational and rationally justified autonomous moral subject of the eighteenth century is a fiction, an illusion.« 13 MacIntyre betrachtet individuelle Autonomie und selbstbestimmende Wahl als bedingt durch das Rahmenwerk, welches in einer ›Gemeinschaft‹ dem Individuum vorgegeben ist. 14 In der kritischen Auseinandersetzung mit den Sichtweisen der Moderne entsteht aber keine konsequente Absage an die Vorstellung Autonomie, sondern es entstehen alternative Sichtweisen mit mehr oder weniger expliziten Ausdrücken von Autonomie als verankert oder konstituiert in Relationalität. Illustrativ ist in diesem Zusammenhang MacIntyres Bestimmung vom Verhältnis zwischen sozialem Kontext und individueller Autonomie (moral agency). Diesem Verhältnis widmet er sich in einer Vorlesung mit dem Titel Social Structures and Their Threats to Moral Agency. MacIntyre beschreibt die moralische Funktion und Verantwortlichkeit des Individuums und des sozialen Kontextes nicht als einander gegenübergestellt oder ausschließend, sondern als komplementär. Die moralische Verantwortlichkeit des Individuums, so MacIntyre, gründet auf einer komAngemessener ist die Interpretation, dass MacIntyre, seine Sichtweise bezüglich der Bedeutung des Einzelnen, nach wie vor als Mitglied von Gemeinschaften konzipiert, verfeinern will. Er reagiert dabei vor allem auf Kritik an seiner Vorstellung der Bedeutung der Gemeinschaft für die Moral. In After Virtue spielt beispielsweise die narrative Identität, welche das Individuum durch die Interaktion mit anderen in vorgegebenen sozialen Kontexten erhält, eine zentrale Rolle. Damit nimmt MacIntyre eine Position ein, die verglichen mit Aristoteles die Bedeutung des Individuums respektive dessen Selbständigkeit im Verhältnis zu seinen sozialen Kontexten bedeutend abschwächt. Bei Aristoteles fällt dem Individuum trotz sozialer Abhängigkeit eine moralisch wichtige Rolle zu. Diese wird in MacIntyres Interpretation und durch die Einführung einer narrativ geprägten, kommunikativ vermittelten Dimension etwas verzerrt. In Whose Justice? Which Rationality? befasst sich MacIntyre weiter mit dem Liberalismus und verfechtet die These, auch Liberalismus sei seiner universalistischen und formalistischen Absicht zuwider als Tradition zu verstehen. Tradition versteht er als Ausdruck davon, dass intellektuelle Überlegung und Theorie immer von inhaltlichen Vorstellungen des Guten abhängig sind und integriert sind in den respektiven sozialen und moralischen Lebensweisen. Insgesamt bleibt MacIntyre seiner kommunitaristischen Sichtweise treu. Dies trifft auch, wie nachfolgende Besprechung zeigt, auf seine in Dependent Rational Animals ausgeführten Reflexionen zur Autonomie des Individuums zu. Dependenz ist gemäß MacIntyre ein Kontinuum im menschlichen Leben. Dennoch interessiert er sich in diesem Text mehr für die innerhalb des Rahmens der Dependenz ausgeübte Freiheit des Individuums. (Siehe MacIntyre, 1984, 217; MacIntyre, 1988.) 13 MacIntyre, 1984, 114 14 MacIntyre, 1984, 126

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binierten Verantwortlichkeit des sozialen, formenden Kontextes einerseits und der individuellen Fähigkeit zu distanzierter Kritik andererseits. Jedes Individuum lebt folglich in zwei moralischen Systemen: in jenem der je etablierten sozialen Ordnungen und in jenem der kritischen Bewertung derselben. Letzteres System besteht in der kritischen Urteilskraft jedes Individuums. Das Individuum ist in seiner Kritikfähigkeit aber nicht isoliert, sondern auch diesbezüglich relational abhängig. MacIntyre betont dabei, dass die moralische Verantwortlichkeit von den sozialen Strukturen respektive deren moralischen Ordnungen abhängig ist, da diese die Kritik des Individuums zulassen und fördern oder hemmen. »There must therefore be a place in any social order in which the exercise of the powers of moral agency is to be a real possibility for milieus in which reflective critical questioning of standards hitherto taken for granted is an activity that is at home. (…) The necessary presupposition of such questioning is some more or less shared conception of what it is to be a good human being that focuses upon those qualities which individuals possess qua individuals, independently of their roles, and which are exemplified in part by their capacity or their lack of capacity to stand back from and reconsider their engagement with the established rolestructures.« 15

Obwohl das Individuum sozial abhängig ist, ist es zugleich eine eigene, moralisch wesentliche Einheit. Bemerkenswert ist, dass MacIntyre eine aristotelische, teleologische Sichtweise mit liberalen Perspektiven und Werten mischt. Eine gemeinsame Wertung als Vorstellung des Guten wird kombiniert mit der Fähigkeit des Individuums, diese Wertungen in Frage zu stellen und damit zu durchschreiten. Diese Sichtweise umfasst eine Spannung, die MacIntyre nicht richtig zu lösen vermag. Autonomie als individuelle Fähigkeit »to stand back and reconsider« entspringt der sozialen Struktur. Autonomie steht somit unter der Prämisse gemeinschaftlicher Verbindungen. Zugleich aber soll das Individuum mit seiner Autonomie als Fähigkeit zu hinterfragen den sozialen Kontext durchschreiten. Epistemologisch und ethisch ist diese Spannung problematisch. Wie kann der soziale Kontext aus sich selber heraus die Möglichkeit zur Durchbrechung seiner eigenen Grenzen hervorbringen? Aus einer pädagogischen Sichtweise hat diese Spannung ihre Entsprechung in der Frage des pädagogischen Paradoxes: Wie kann Erziehung als Begrenzung von Handlungsfreiheit zur För15

MacIntyre, 1999b, 317

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derung von Autonomie beitragen? Kann Erziehung als relationale Situationen gewissermaßen über sich selbst hinausführend zu Autonomie als Distanzierung von dieser Relationalität führen? Wie kann aus einem konkreten Kontext etwas hervorgebracht werden, was über diesen hinausgehend oder von diesem unabhängig ist? Dass eine Vorstellung von Autonomie als Idee individueller Selbstbestimmung und als ethisches und moralpädagogisches Ideal in aristotelisch geprägten Theoriebildungen nicht ganz wegzudenken ist, dafür sind auch moralpädagogische Diskussionen innerhalb und im Anschluss derselben ein Hinweis. 16 Der Besprechung von MacIntyres Autonomieverständnis sollen hier ein paar kurzgefasste Bemerkungen zu einer aristotelischen Sichtweise zu individueller Selbstbestimmung oder Autonomie vorangestellt werden. Dies nicht als umfassende Darstellung, sondern lediglich als Hinweis auf einige, für die Frage nach Autonomieverständnis aus moralpädagogischer Sicht relevante Strukturen, wie sie bei Aristoteles vorkommen und für MacIntyres Sichtweise von Bedeutung sind.

5.2.1 Fähigkeit der Entscheidung (Aristoteles) Sich Aristoteles im Zusammenhang mit der Frage nach Autonomie zu nähern, erweist sich (insofern als es angesichts des darin bedingten Anachronismus überhaupt zulässig ist) durchaus als ergiebig. Relevant ist insbesondere Aristoteles’ Unterscheidung von »Freiwilligkeit« und »Fähigkeit der Entscheidung«. Freiwilligkeit kommt gemäß Aristoteles bei Kindern vor, Fähigkeit der Entscheidung nur bei (männlichen) Erwachsenen. Erstere setzt voraus, dass die handelnde Person Ursache der Handlung ist und dass sie in Kenntnis der Umstände der Handlung handelt. Eine grundlegende kausale Bedingung sowie ein grundlegendes Selbstbewusstsein konstituieren also Freiwilligkeit. Fähigkeit zur Entscheidung hingegen setzt darüber hinausgehend eine Fähigkeit der »Überlegung«, der »richtigen Planung« und des »Durchdenkens« voraus. Interessant ist hierbei, dass Aristoteles Überlegung von Wünschen unterscheidet. Während Überlegung sich nur auf das bezieht, Aufschlussreich ist beispielsweise Maxwells und Reichenbachs moralpädagogische Beschreibung aristotelischer Ethik als eine Form von Pädagogik, welche Autonomie in genereller Weise als Ideal umfasst. (Maxwell & Reichenbach, 2007)

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was für den Menschen durchführbar oder erreichbar ist, können Wünsche auch auf Unmögliches bezogen sein. 17 Es geht also bei der Fähigkeit der Entscheidung um Freiwilligkeit, definiert durch eine Bedingung der Kausalität und des Bewusstseins. Damit zusammenhängend ist ein kognitiver Aspekt, welcher seinerseits an ein Kriterium der Kontrollierbarkeit geknüpft ist. Dieser kognitive Aspekt ist bei Aristoteles auf die Tugend der praktischen Weisheit (phronesis) bezogen und steht damit in naher Beziehung zu Praxis und einer konkreten Handlungsdimension. Außerdem ist dies vor dem Hintergrund der teleologischen Metaphysik Aristoteles’ zu verstehen. Für den Menschen ist dessen Ziel oder Bestimmung nicht an sich verfügbar. Er verfügt lediglich über die Mittel, die zum Ziel, zu welchem die Menschheit bestimmt ist, führen. 18 Insofern als ein Individuum selbstbestimmt ist und sein soll, kann es dies auf eine normativ richtige Weise nur innerhalb des Rahmens dieser teleologisch vorgegebenen Zielsetzung. Freilich geht es Aristoteles bei der Beschreibung der Fähigkeit der Entscheidung um kognitive Fähigkeiten, welche durch eine qualitative Veränderung von Freiwilligkeit zur Fähigkeit der Entscheidung führen. Es ist dieser qualitative Unterschied, bedingt durch kognitive Fähigkeiten, die sich das Kind aneignen muss, und welcher Ähnlichkeiten mit liberalen Konzepten moralischer Entwicklung aufweist. Diese Ähnlichkeit bezüglich der Bedeutung kognitiver Fähigkeiten für die Moralentwicklung wird auch in verschiedenen Studien zum Begriff der phronesis, in welchen der kognitive oder rationale Aspekt dieser für Aristoteles zentralen Tugend hervorgehoben wird, deutlich. 19 Die Fähigkeit der Entscheidung kann somit in einer aristotelischen Sichtweise durchaus als moralpädagogische Zielvorstellung betrachtet werden und ist dabei kein unbedeutender Aspekt von Erziehung. Das kognitiv und moralisch reifende Individuum ist aber bei Aristoteles auch zunehmend integriert in eine gemeinschaftlich geteilte Moral. Die Entwicklung des Individuums ist zugleich die Entwicklung der Gesellschaft. Das Individuum und das Kollektiv sind gleichermaßen dem telos der Menschheit als gemeinsamer und übergeordneter Zielorientierung untergeordnet. Dieses ist definiert als Glück (eudaimonia), er17 18 19

Aristoteles, 2003, 58–65, 85–86 Aristoteles, 2003, 295–297, 172, 155 Siehe hierzu Dunne, 1999; Curren, 1999.

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reicht und ausgedrückt durch die edelste Tugend, die der praktischen Vernunft (phronesis). Es besteht für Aristoteles keine Gegensätzlichkeit zwischen den beiden, da das Interesse des Individuums mit jenem der Gesellschaft kongruent ist. Die Tugend der phronesis kann beschrieben werden als Fähigkeit, moralische Urteile in Entsprechung mit dem übergeordneten telos zu machen. 20 Neo-aristotelische Sichtweisen haben hervorgehoben, dass Relationalität bei Aristoteles sowohl Voraussetzung wie auch Zielvorstellung von Erziehung ist. 21 Zentral ist der Begriff der Gewöhnung (habituation), durch welche stabile Haltungen erlernt werden sollen im Sinne einer Aneignung einer »acquired resourcefulness« bezüglich moralischer Urteile. 22 Relationalität erscheint in diesen Darstellungen als grundlegende Bedingung für Erziehung und deren Zielvorstellungen. Insofern als individuelle Selbstbestimmung als erstrebenswert dargestellt wird, ist sie dies immer nur innerhalb relationaler Bedingungen möglich und erstrebenswert. Selbstbestimmung oder Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung lässt sich also anhand einer aristotelischen Perspektive nicht als Bewegung des Individuums im Verhältnis zu einer Gemeinschaft (wie etwa bei Kohlberg, der moralische Entwicklung ausschließlich als Bewegung des Individuums im Verhältnis zu den kollektiven Konventionen fasst) beschreiben. Vielmehr findet die Entwicklung des Individuums innerhalb des sozialen Kontexts statt. Diese Sichtweise hat auch Konsequenzen für Erziehung als Anspruch. Da die erziehende und die zu erziehende Person gleichermaßen vom sozialen Kontext abhängig sind, müsste ein Anspruch an Asymmetrie bezüglich einer Zielvorstellung Autonomie im weitesten Sinne als abgeschwächte Asymmetrie gelten. Sowohl erziehende wie auch zu erziehende Personen sind in diesem Bezug auf den sozialen Kontext bestimmt und ein anzunehmender Vorsprung der erziehenden Person bezüglich der Fähigkeit der Entscheidung (als Autonomie) muss sich in Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Relationalität artikulieren. Darum erscheint dialektische Asymmetrie auch in einer aristotelischen Sichtweise als adäquater Anspruch. Aristoteles misst signifikanterweise der Freundschaft eine wichtige und effektive erzieherische Funktion

20 21 22

Aristoteles, 2003, 17, 158–161 Carr & Steutel, 1999 Dunne, 1999, 58–60

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zu. Die Gegenseitigkeit, welche eine freundschaftliche Beziehung kennzeichnet, schließt nicht aus, dass erzogen wird. 23 Diese kurze Darstellung von Aristoteles’ Begriff der Fähigkeit zur Entscheidung zeigt, wie auch die nachfolgende Besprechung von MacIntyres Autonomieverständnis zeigen wird, dass die Bedeutung des sozialen Kontexts zwar im Kontrast steht zu einem modernen Verständnis individueller Autonomie, dass sich aber auch Parallelen finden lassen. Johnston präsentiert eine Sichtweise, welche versucht, die Gegensätzlichkeit zwischen deontologischen und tugendethischen Sichtweisen zu überbrücken. Er meint, Autonomie könne auch gemäß einem kantischem Konzept durchaus im Zusammenhang mit aristotelischen oder tugendethischen Perspektiven verstanden werden. Er macht dabei geltend, es gehe eher um ein umgekehrtes Verhältnis zwischen Autonomie und Tugend als um zwei Sichtweisen, die sich ausschließen. Während aus kantischer Perspektive Autonomie der Tugend vorangestellt wird, ist ein tugendethischer Ansatz von einem umgekehrten Verhältnis zwischen Autonomie und Tugend gekennzeichnet. Johnston beschreibt Kants Sichtweise folgendermaßen: »(…) there is a fortiori a relationship between virtue and autonomy: that is, to have or to practice virtue is to presuppose autonomy. This is so, because autonomy is the ground for the very possibility of virtue.« 24 Diese These Johnstons zu Kant macht insofern Sinn, als der grundlegende normierende Stellenwert, welchen Autonomie einnimmt für den Wert allen menschlichen Handelns, damit treffend festgehalten wird. Wie im vorhergehenden Kapitel festgestellt wurde, ist Autonomie als Pflicht zur Vernunft für jede erstrebenswerte Handlung grundlegend und müsste somit auch für Tugenden als grundlegend betrachtet werden. Allerdings kommt bei Kant kein deutlicher Tugendbegriff vor. Johnstons Versuch, einen Tugendbegriff in kantischer Weise, nämlich in Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ als Kapazität zum Gehorsam zur Pflicht, zu formulieren, kann etwas gewagt erscheinen. Zugleich ist damit im Hinblick auf die hier aktuelle Frage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung eine interessante Parallele angesprochen. Sie besteht darin, dass Autonomie in beiden Traditionen, trotz in vielen Hinsichten gegensätzlicher Vorstellungen, deutlich an substantiellen Annahmen orientiert ist. Wenn 23 24

Aristoteles, 2003, 298, 270 Johnston, 2006, 386

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Autonomie tugendethisch gefasst wird, müsste sie als moralpädagogische Zielvorstellung als Aspekt einer weiter gefassten und substantiell formulierten Anthropologie betrachtet werden. Dies ist aber gemäß Johnstons These auch bei Kant zu finden. In Kapitel 4 wurde Kants Autonomiekonzept anhand des Begriffes gebotener Autonomie beschrieben. Dabei wurde auf die Verbindung zur Pflicht als wesentlich für eine (moralpädagogische) Interpretation von Kants Autonomiebegriff hingewiesen. Habermas, der ebenfalls solche Parallelen zu erörtern sucht, meint, zentral bei Aristoteles sei die Abwesenheit der Annahme, »sittliche Einsicht« habe »die motivbildende Kraft eines Bildungsprozesses«. Umgekehrt setzt die Motivation »eine gelungene Charakterbildung« voraus. 25 In der Umkehrung dieser Feststellung sind liberale Ansätze davon geprägt, dass sie die kognitive Einsicht der Charakterbildung voranstellen. Dies bedeutet, dass der Unterschied zwischen einer aristotelisch und einer kantisch beeinflussten Moralpädagogik nicht so sehr als Unterschied bezüglich der moralpädagogischen Zielvorstellung zu verstehen wäre. Deutlicher kommt der Unterschied bezüglich unterschiedlicher erkenntnistheoretischer und entwicklungspsychologischer Sichtweisen zum Ausdruck. Dies äußert sich pädagogisch im Stellenwert, den eine Praxis- oder Handlungsorientierung einnimmt. Beide Orientierungen haben demgemäß zum Ziel, Verhalten und Handlungen zu beeinflussen. Während bei einer kantisch beeinflussten Moralpädagogik kognitiver Einsicht eine zentrale moralische Funktion zugeschrieben wird, sind bei einer aristotelisch beeinflussten Moralpädagogik die Gewöhnung und das Einüben erwünschter Handlungen wichtig. 26 MacIntyre greift die Bedeutung eines gemeinsamen telos bei Aristoteles auf und übersetzt sie in einen pluralistischen Kontext durch den Begriff der Praxis. Damit verwirft MacIntyre Aristoteles’ universalistische Sichtweise unter Beibehaltung der Idee, dass Tugenden als Mittel zur Erreichung der in der Praxis konstituierten Werte zu beHabermas, 1999, 320 Auf einer konkreten pädagogischen Ebene lässt sich Habermas’ These mit dem Hinweis auf den Begriff der Gewöhnung (habituation) bestätigen. Gewöhnung wird hier sowohl als autoritär vorschreibend wie auch als kontrafaktisch voraussetzend verstanden. Aristoteles lehnt ethische Argumentation als moralpädagogisch effektvolle Methode ab. Er lehnt die Vorstellung ab, dass solche Argumentation zu einer wirklichen Veränderung des Charakters führt. (Aristoteles, 2003, 296)

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trachten sind. 27 Tugenden sind demgemäß als erstrebenswerte Charaktereigenschaften in den internen Werten einer Praxis konstituiert. Eine Tugend ist bei MacIntyre definiert wie folgt: »A virtue is an acquired human quality the possession and exercise of which tends to enable us to achieve those goods which are internal to practices. (…) Virtues are those goods by reference of which (…) we define our relationships to those other people with whom we share the kind of purposes and standards which inform practices.« 28

Dies ist von Bedeutung hier, weil die Bestimmung und die Begründung einer Tugend abhängig sind von den internen Werten, wie sie in der aktuellen Praxis konstituiert sind. Unabhängig von der Praxis, welche ihrerseits in Relationalität konstituiert ist, lässt sich also gemäß einer solchen Sichtweise eine Tugend als erstrebenswerte Charaktereigenschaft weder bestimmen noch begründen. Insofern als ein Ideal moralphilosophisch oder moralpädagogisch artikuliert werden soll, muss dies anhand der relational bestimmten Praxis geschehen. Somit ist die Relationalität grundlegend normierend. Insofern als Selbstbestimmung oder Autonomie des Individuums als moralpädagogische Zielvorstellung bestimmt und begründet werden soll, wird dies relevant bezüglich einer Internalisierung oder Gewöhnung an interne Werte einer Praxis.

5.2.2 Autonomie zwischen erster und zweiter Dependenz Der normierende Stellenwert, den Praxis in MacIntyres Sichtweise einnimmt, hat einen sekundären Status von Autonomie im Verhältnis zu Dependenz (hier nun gedeutet als in Praxis manifestierte Relationalität) zur Folge. Dass es dabei nicht um eine Autonomie innerhalb, sondern eben ›nach‹ oder ›durch‹ Dependenz geht, wird insbesondere in MacIntyres entwicklungspsychologisch begründeter Sichtweise zum Verhältnis zwischen Autonomie und Dependenz deutlich. Diese entwicklungspsychologische Sichtweise entfaltet er in Dependent Rational Animals. Dort beschreibt er die moralische Entwicklung des Menschen als ausgehend von Dependenz via einer Fähigkeit zu rationaler und distanzierter Reflexion und hinein in eine moralisch geformte De-

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MacIntyre, 1984, 184–187 MacIntyre, 1984, 191

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pendenz. Darin zeichnet sich ein Verständnis von Moralentwicklung als zirkulär oder spiralförmig ab. Obwohl die Richtung als ›vorwärts‹ zugleich eine Bewegung ›aufwärts‹ ist, ist sie auch deutlich kreisförmig, da der Ausgangspunkt – in modifizierter Form – zugleich auch den Schlusspunkt der Entwicklung bildet. Es ist eine Entwicklung von Dependenz zu Dependenz. Je nachdem wie die Modifikation der Dependenz, die im Laufe der Entwicklung stattfindet, interpretiert wird, d. h. welche Bedeutung ihr für das Gesamtbild der Entwicklung zugemessen wird, ist diese als zirkulär oder spiralförmig zu betrachten. Es werden hier für die Darstellung und Besprechung von MacIntyres Sichtweise beide Bilder verwendet. Die Moralentwicklung ist als Entwicklung ›von Dependenz zurück zu Dependenz‹ zirkulär. MacIntyre beschreibt Moralentwicklung ausgehend von der Annahme, dass Dependenz nie überwunden wird. Die Bezeichnung zirkulär ist ein Hinweis darauf, dass MacIntyre Dependenz als Kontinuum versteht. Dependenz ist auf kontinuierliche Weise grundlegend für das Verständnis des Menschen als ethisches Subjekt. Innerhalb dieses Kontinuums grundlegender Dependenz gestaltet sich Moralentwicklung als Bewegung von ursprünglicher Dependenz via rationales Erkenntnisvermögen (und damit verbunden eine Fähigkeit zu moralisch autonomem Urteil und Handeln) zu einer ›neuen‹ Dependenz. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie als bewusste und moralische Dependenz aufgefasst werden kann. Insofern als in dieser Entwicklung eine zweite von einer ersten Dependenz unterscheidbar ist, ist sie auch spiralförmig. Die dabei erreichte neue Dependenz beschreibt MacIntyre als grundsätzlich verschieden von der ursprünglichen Dependenz. Um diesen moralpädagogisch relevanten Unterschied hervorzuheben, wird hier von einer ersten und einer zweiten Dependenz gesprochen. (MacIntyre spricht von einer neuen Dependenz.) Mein Fokus ist somit auf Rationalität oder Autonomie als Modifikation der ersten Dependenz gerichtet. MacIntyre ist am Verhältnis zwischen Dependenz und Rationalität interessiert. Für MacIntyre ist dieses Verhältnis instrumenteller Art. »It is because and insofar as rational inquiry serves and partly constitutes that common good that it is itself the good that it is.« 29 Kennzeichnend für sein Verständnis ist, dass der ursprünglichen Dependenz eine moralische Dimension zugeführt wird. Dependenz wird 29

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also durch das rationale Erkenntnisvermögen des Menschen zur moralischen, verpflichtenden Dependenz. Insofern als MacIntyre von Autonomie als kritischer Selbstbestimmung des Individuums spricht, fasst er diese als untergeordnet im Verhältnis zu Dependenz. Autonomie hat eine instrumentelle Funktion im Verhältnis zu Dependenz und dient dieser, indem sie sie als typisch menschliche, »neue Dependenz« qualifiziert. »Rational enquiry about my practical beliefs, relationships, and commitments is therefore not something that I undertake by attempting to separate myself from the whole set of my beliefs, relationships, and commitments and to view them from some external standpoint. It is something that we undertake from within our shared mode of practice by asking, when we have good reason to do so, what the strongest and soundest objections are to this or that particular belief or concept that we have up to this point taken for granted.« 30

MacIntyre argumentiert auf aristotelische Weise und in Fortsetzung seiner Thesen in After Virtue für ein Konzept des Guten als partikular und pluralistisch gefasst. Ausgangspunkt für MacIntyre ist eine grund-

30 MacIntyre, 1999a, 157. MacIntyre argumentiert ausgehend vom Tierreich. Dabei macht er zwei grundlegende Hinweise. Einerseits will er den Menschen in seiner biologischen, körperlichen Ähnlichkeit mit Tieren darstellen, um so auf die Dependenz als kennzeichnend für die menschliche Existenz und analog zu jener von Tieren hinzuweisen. Andererseits hebt er die an menschliche Leistungen angrenzenden Leistungen höher entwickelter Tierarten hervor, um auch von dieser Richtung her auf Kontinuität zwischen Mensch und Tier zu verweisen. Unter anderem beschreibt er Delphine und zeigt, dass viele der kognitiven, emotionalen, sozialen, ja sogar der sprachlichen (bei Tieren prelinguistic) Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die gewöhnlich als exklusiv menschlich dargestellt wurden, auch bei Delphinen vorkommen. Daraus folgert er, dass menschliche Fähigkeiten Erwachsener verstanden als hervorgegangen aus und teilweise abhängig von diesen Fähigkeiten anderer intelligenter Tiere werden sollen und dass also eine wesentliche Kontinuität zwischen Tieren und Menschen vorliegt. (MacIntyre, 1999a, 6, 27, 41, 50–51) Es verbleibt in MacIntyres Text trotz ausführlicher Beschreibungen von Verhaltensweisen von Tieren im Vergleich zum Menschen unklar, wie diese Umstände zur normativen Beurteilung menschlicher Moral beitragen können. Hinweise auf Kontinuität zwischen Tierreich und Menschenwelt sind zwar lehrreich, aber in ihrer Bedeutung für normative Schlussfolgerungen zweifelhaft. In der beidseitigen Angleichung von Tier und Mensch – oder eben von non-human und human animals – geht es um eine Nivellierung in zwei Richtungen. Einerseits sind die Fähigkeiten der Tiere fortgeschrittener als bisher eingestanden, andererseits ist der Mensch nicht über die Fähigkeiten anderer Tiere erhöht, wie bisher vielfach beansprucht. Wenn der Mensch Vieles gemeinsam hat mit (intelligenten) Tieren, teilt er auch die Abhängigkeit und die biologische Bestimmung mit ihnen.

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legende und unausweichliche Dependenz als kennzeichnend für die menschliche Existenz. Diese anfängliche Dependenz nenne ich erste Dependenz. In Dependent Rational Animals kombiniert MacIntyre diese Sichtweise einer grundlegenden Dependenz mit einer Beschreibung des Menschen als geprägt auch von der ihn auszeichnenden Fähigkeit zu Reflexion und zu Rationalität. Der Mensch, so gesteht MacIntyre trotz aller Kontinuität zur Tierwelt ein, muss, um als Mensch ›blühen‹ zu können, lernen, über sich selber und seine Zwecke zu reflektieren. MacIntyre beschreibt dabei eine Entwicklung vom abhängigen Kleinkind zum unabhängigen praktischen Denker. Er meint, das Hauptmerkmal dieser Entwicklung bestehe darin, zu lernen, die eigenen Verlangen oder Begehren aus »genügender Distanz« (»sufficiently detached from ones own immediate desires«) zu reflektieren und evaluieren zu können. 31 MacIntyre betont, dass die Entwicklung zum selbständigen praktischen Denker nur innerhalb von Abhängigkeit in Form von Relationalität geschehen kann. Die dabei erreichte Unabhängigkeit oder Autonomie führt wiederum zurück in Dependenz und es bildet sich eine neue Dependenz. 32 Dependenz ist hier entwicklungspsychologisch bestimmt. Der Mensch ist von Anfang an in seiner Existenz als Kleinkind von Abhängigkeit geprägt. Das werdende, selbständig denkende und handelnde Subjekt ist von Pflege und Fürsorge abhängig. 33 Für MacIntyre ist die moralische Selbstbestimmung in ihrer Entstehung und in ihrem Gebrauch vom Kontext sozialer Relationen abhängig. »What we need from others, if we are not only to exercise our initial animal capacities, but also to develop the capacities of independent practical reasoners, are those relationships necessary for fostering the ability to evaluate, modify, or reject our own practical judgments, to ask, that is, whether what we take to be good reasons for action really are sufficiently good reasons, and the ability to imagine realistically alternative possible futures, so as to be able to make rational choices between them, and the ability to stand back from our desires, so as to be able to enquire rationally what the pursuit of our good here and now requires and how our desires must be directed and, if necessary reeducated, if we are to attain it.« 34

Hier wird deutlich, dass für MacIntyre die Autonomie des Individuums 31 32 33 34

MacIntyre, 1999a, 97, 67, 72 MacIntyre, 1999a, 99 MacIntyre, 1999a, 82 MacIntyre, 1999a, 83

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aus Dependenz (als Abhängigkeit von Relationalität) entsteht. Dabei ist Dependenz im Verhältnis zu Autonomie primär. Sie ist primär im Sinne eines entwicklungspsychologischen – und damit auch moralpädagogischen – Nacheinanders. Aus dem abhängigen Kleinkind wird ein autonom handelndes ethisches Subjekt. Mit dieser aus dem Zustand der Dependenz heraus entstehenden Autonomie ist die Entwicklung gemäß MacIntyre aber nicht abgeschlossen. In einem weiteren Schritt – und hier nimmt die Moralentwicklung zirkuläre oder eben spiralförmige Formen an – soll sich der Mensch zum moralisch verpflichteten ethischen Subjekt entwickeln. Durch diesen zweiten Schritt entsteht gemäß MacIntyre das typisch Menschliche. Moralisch verpflichtet ist der Mensch durch die erfahrene (erste) Dependenz. Schon das etwas ältere Kind (MacIntyre macht keine Altersangaben), welches gelernt hat, reflektierend mit seinen Begehren umzugehen, weist gemäß MacIntyre eine »neue Dependenz« auf. Diese Dependenz ist bezogen auf die Praktiken des umgebenden Kontextes und deren interne Werte und Tugenden. 35 Diese »neue« oder zweite Dependenz hat eine deutlich moralische Dimension. »But, unlike dolphins, they (human beings, meine Anmerkung) also have the possibility of understanding their animal identity through time from conception to death and with it their need at different past and future stages of life for the care of others, that is, as those who, having received care, will be from time to time called upon, to give care, and who, having given, will from time to time themselves once more be in need of care by and from others.« 36

Während die anfängliche, erste Dependenz den Menschen mit den Tieren vereint, unterscheidet die »neue Dependenz« oder eben zweite Dependenz ihn von non-human animals. Einhergehend mit der Fähigkeit zur selbstbewussten Distanz gegenüber der eigenen Existenz und der rationalen Erkenntnis des Menschen seiner Dependenz ist gemäß MacIntyre eine Forderung nach Reziprozität, verstanden als moralischer Imperativ. Diese moralische Dimension, von welcher MacIntyre annimmt, dass sie der Dependenz als genereller Erfahrung auf eine grundlegende Weise innewohnt, definiert er wie folgt: »Dependency as an inescapable fact translates morally as indebtedness. Indebtedness

35 36

MacIntyre, 1999a, 91–92 MacIntyre, 1999a, 83 (meine Kursivierung)

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resides in the fact that one has received. And one’s corresponding obligation is to give.« 37 MacIntyre beschreibt mit seinem Begriff »indebtedness« eine Dankbarkeitsschuld jenen Personen gegenüber, die sich um uns in unser Abhängigkeit gesorgt haben. Diese Schuld erklärt sich im Umstand, dass wir von der Fürsorge Anderer profitiert haben und profitieren. Zugleich lehnt er aber eine »strikte Reziprozität« ab und mach geltend, dass es nur um eine Reziprozität genereller Art geht. 38 Er spricht also von einer Schuld, die auf genereller Verpflichtung in Dankbarkeit basiert. Dies mildert aber nicht den Umstand, dass MacIntyre, wenn auch auf genereller Ebene, die erste Dependenz als verpflichtende Bedingung schildert. Aus den Bedingungen menschlicher Existenz wächst also in Form einer zweiten Dependenz eine ethische Verpflichtung. Wichtig dabei sind die so genannten »virtues of acknowledged dependence«. Unter den Tugenden stechen jene der gerechten Großzügigkeit (»just generosity«) und der Dankbarkeit (»gratitude«) hervor. 39 Es ist in MacIntyres Argumentation nicht klar, warum aus einer nicht gewählten, unausweichlichen Abhängigkeit mit Automatik eine moralische Verpflichtung erwachsen soll. 40 Man könnte sagen, gerade weil die erste Dependenz nicht selber gewählt und unausweichlich war, resultiert daraus keine Verpflichtung. MacIntyres Schlussfolgerung baut auf implizite Annahmen, die problematisch sind und zum Teil ungeklärt bleiben. Ethisch setzt er ein Prinzip der Reziprozität voraus, welches seinerseits in einer Idee eines gerechten Gleichgewichts gründet. Die erlebte, anfängliche Asymmetrie der ersten Beziehungen müssen sozusagen durch eigene Einsätze anderen, abhängigen Personen gegenüber aufgewogen werden. MacIntyre setzt ein Gefühl der Dankbarkeit voraus, welches seinerseits nicht unproblematisch ist. Nicht alle Dunne, 2002, 349 MacIntyre, 1999a, 100–101, Dunne, 2002, 351 39 MacIntyre spricht von »uncalculated giving and graceful receiving« und plädiert dafür, dass Erziehung zu diesen Tugenden die Erziehung von Emotionen einschließen muss, da moralische Verpflichtung im Sinne von Reziprozität affektive Reaktionen umfassen muss. (MacIntyre, 1999a, 121–127; Siehe auch Dunne, 2002, 351.) 40 Die Forderung nach Reziprozität ist bei MacIntyre als moralischer Imperativ nicht wie bei Kant kategorisch begründet. Sie ist bedingt durch Erfahrungen, wobei es, wie oben erwähnt, nicht um eine strikte Reziprozität, sondern nur um eine generelle Reziprozität geht. Was bei Kant problematisch ist, weil er sich auf metaphysische Prämissen stützt, mit denen seine Ethik steht oder fällt, ist bei MacIntyre ersetzt durch eine Unklarheit, die ihrerseits in der Argumentation eine Lücke offen lässt. 37 38

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empfinden das so, insbesondere angesichts misslungener Fürsorge oder gar traumatischer Kindheiten ist emotional nicht automatisch mit Dankbarkeit zu rechnen. Außerdem kann auch bei erfahrener Fürsorge und liebevoller Pflege die Frage gestellt werden, ob das Kind tatsächlich dankbar sein muss dafür, dass jemand auf seine unausweichliche, nicht selber verschuldete Abhängigkeit eingegangen ist.

5.2.3 Autonomie im Zusammenhang kombinierter Tugenden Wenn MacIntyre eine Entwicklung von einer ersten Dependenz, via Autonomie, zu einer »neuen Dependenz« beschreibt, dann macht er das als Reaktion auf Kritik seiner früheren Werke. Diese sind kritisiert worden für seine allzu optimistische und unkritische Beschreibung der Funktion, welche ›Gemeinschaft‹ für das menschlichen Leben hat. In Dependent Rational Animals versucht MacIntyre ein nuancierteres Bild zu geben und auch den Umstand zu berücksichtigen, dass menschliche Kooperation oft durch Konflikte belastet ist und damit hinsichtlich ihrer normierenden moralischen Funktion gefährdet sein kann. So konstatiert er etwa, Menschen hätten Grund dazu, andere Menschen auch zu fürchten. Obwohl er hier also Relationalität auch als potentielle Bedrohung darstellt, fällt MacIntyre immer wieder in ein romantisierendes Bild der »flourishing local community« zurück. 41 Die Entwicklung von der ersten Dependenz zur zweiten ist eine Entwicklung von unmittelbarer Abhängigkeit zu mittelbarer Abhängigkeit. Während unmittelbare Abhängigkeit sich durch konkrete physisch, kognitiv und psychisch bedingte, defizitäre Umstände beim Kind ausdrückt, besteht mittelbare Abhängigkeit aus einer soziokulturell und moralisch artikulierten, gegenseitigen Abhängigkeit. Sie ist nur mittels moralischer Vorgaben, als der ersten Abhängigkeit entspringende Verpflichtung und als Forderung nach Reziprozität, verstehbar. MacIntyre macht dabei die menschliche Fähigkeit zur Reflexion zum zentralen Faktor der Entwicklung. Dies veranlasst für die Fragestellung dieser Arbeit drei Bemerkungen. 41 MacIntyre, 1999a, 97–98, 108. Von seiner ursprünglichen Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen menschlicher Dependenz und Rationalität ist MacIntyre mit diesen romantisch anmutenden Vorstellungen vom Individuum als in Gemeinschaft eingebunden abgewichen.

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Erstens wird in MacIntyres Darstellung (wie oben bereits angesprochen) nicht ersichtlich, warum die zweite, moralisch definierte Dependenz in der ersten Dependenz als Verpflichtung enthalten ist. Es ist also unklar, worin eine solche Begründung besteht. Es könnte geradeso argumentiert werden, dass die erste Dependenz, da unumgänglich und nicht selber gewählt, nur einseitig, d. h. für jene Person, die im Stande ist, Pflege und Fürsorge zu erbringen, verpflichtend ist. Auch eine einseitige Verpflichtung könnte jedoch bestritten werden. Unklar ist außerdem, was der Vergleich zum Tierreich zur Argumentation MacIntyres beiträgt. Insbesondere der Umstand, dass die menschliche Fähigkeit zur Reflexion für ihn so zentral zu sein scheint, verbleibt ungenügend geklärt. Zweitens beschreibt MacIntyre Moralentwicklung in reduzierender Weise als Ausdruck kognitiver Fähigkeiten. Es geht vor allem um die mentale Fähigkeit, sich distanziert gegenüber eigener Emotionen und Begehren verhalten zu können. Dies erinnert stark an ein kantisches Autonomiekonzept und an Kohlbergs Sichtweise der Moralentwicklung. Selbst wenn MacIntyre moralische Reife nicht als Autonomie, sondern als zweite Dependenz fasst, bedingt diese zweite Dependenz ein Autonomieverständnis, welche Autonomie als Gegenüber zu Dependenz fasst. Somit repräsentiert MacIntyres Begriff der Dependenz keine integrierte Sichtweise von Dependenz und Autonomie. MacIntyres Konzept der zweiten Dependenz erinnert auch an Habermas’ Begriff der gegenseitigen Gewährleistung, was Anlass zur dritten Bemerkung gibt. Sowohl Habermas wie MacIntyre verstehen Autonomie als Umgang mit Dependenz. Allerdings besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden. Habermas’ Begriff der gegenseitigen Gewährleistung wird anhand kommunikativer Funktionen dargestellt und ist damit breiter angelegt als MacIntyres zweite Dependenz. Während letztere rein moralisch als Ausdruck eines verpflichtenden Reziprozitätsideales verstanden wird, ist Habermas’ Verständnis von Dependenz und Autonomie mit einem formalistischen Ansatz ausgedrückt. Sein Begriff der gegenseitigen kommunikativen Gewährleistung wurde als Aspekt gedeutet, welcher Autonomie innerhalb von Dependenz fasst. Bei MacIntyre, der die neue (oder zweite) Dependenz als moralisch verpflichtende Reziprozität definiert, erhält Autonomie einen ganz anderen, deutlich untergeordneten und sekundären Status. Sie ist dem Reziprozitätsideal untergeordnet und durch dieses bedingt 262 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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und eingeschränkt. Damit wird Dependenz bei MacIntyre durch ihre strikt moralisch definierte Funktion zum Gegenüber von Autonomie. Man kann bei MacIntyre allerdings auch einen Ansatz zu einem Verständnis von Autonomie innerhalb von Dependenz finden. Zumindest, wenn man als Integration ein Nebeneinander gelten lässt. Er betont (im Anschluss an Winnicott), Unabhängigkeit gehe mit der Anerkennung von Abhängigkeit und Verbundenheit einher. MacIntyre schreibt: »Acknowledgment of dependence is the key to independence.« 42 Insofern als Autonomie bei MacIntyre innerhalb von Dependenz verstanden werden kann, ist dies teleologisch artikuliert und als Ausdruck einer grundlegenden Relationalität formuliert. Im Anschluss an Aristoteles meint MacIntyre, selbständiges, praktisches Denken oder Autonomie umfasse nur Mittel, sei aber nicht anhand von Zwecken zu bestimmen. Teleologisch sind die Zwecke nicht zugänglich für das autonome Individuum. Zwecke sind als interne Güter von Praktiken und damit in sozialen Gefügen festgelegt. Diese Sichtweise führt MacIntyre zu einem Autonomieverständnis, welches diese als praktisches Denken innerhalb von sozialen Beziehungen, d. h. zusammen mit Anderen, konzipiert. 43 Diese integrierte Sichtweise von Autonomie kommt am deutlichsten zum Ausdruck in MacIntyres Argument, die Kombination zweier Arten von Tugenden sei wichtig: Tugenden unabhängigen, rationalen Handelns und Tugenden anerkannter Abhängigkeit (»virtues of independent rational agency and virtues of acknowledged dependence«). 44 Er beschreibt aber das Verhältnis dieser zwei Arten von Tugenden als »counterpart« und präsentiert somit keine integrierte, sondern eine kontrastierende Sichtweise. 45 Damit bringt er wiederum zum Ausdruck, dass kein integriertes Verhältnis zwischen Relationalität oder Dependenz und Autonomie vorliegt, sondern, dass die beiden in einem Gegensatzverhältnis zueinander stehen.

42 43 44 45

MacIntyre, 1999a, 85 MacIntyre, 1999a, 106–107 MacIntyre, 1999a, 8–9, 77 MacIntyre, 1999a, 120

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5.2.4 Autonomie zwischen erster und zweiter Dependenz als moralpädagogische Zielvorstellung Die in der oben besprochenen Sichtweise zu Autonomie ersichtlichen, unterschiedlichen Tendenzen im Verhältnis zu älteren und jüngeren Arbeiten MacIntyres müssen sich in Bezug auf die Frage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung als teilweise divergierende Folgerungen abbilden. Hinsichtlich des Autonomieverständnisses als rationale Erkenntnis und Bewusstsein bezüglich einer ersten Dependenz, stellt sich aus pädagogischer Perspektive die vordergründige Frage, was mit Erziehung zu Autonomie geschieht, wenn Autonomie als ein vorübergehendes Zwischenziel aufgefasst wird. Aufgrund seines sekundären Status im Verhältnis zu Dependenz als Relationalität, ist ein Verständnis von Autonomie bei MacIntyre nicht hauptsächliche Zielvorstellung. Insofern als die rationale Erkenntnis und das Bewusstsein einer zu Reziprozität verpflichtenden ersten Dependenz als Autonomie bezeichnet werden kann, ist diese, als moralpädagogische Zielvorstellung artikuliert, dem eigentlichen Ziel in einem instrumentellen Verhältnis untergeordnet. Denn als übergeordnete Zielvorstellung zeichnet sich in MacIntyres Sichtweise eine Vorstellung ab, dass sich Kinder ihrer Verpflichtung dem relationalen Kontext gegenüber bewusst werden müssen und sich so, via rationalem Erkennen einer verpflichtenden Reziprozität, als zweiter, moralisch bestimmter Dependenz verschreiben. Insofern als die kreis- oder spiralförmige Entwicklung, wie sie MacIntyre beschreibt, von erster zu zweiter Dependenz führt und für diese Bewegung von rationalem Erkennen und Bewusstsein abhängig ist, müssten Autonomie und Dependenz zugleich zur moralpädagogischen Zielvorstellung gezählt werden. Wenn Erziehung so als eine zweite Dependenz anstrebend konzipiert wird, bedeutet dies keine radikale Veränderung, aber eine Verschiebung der Legitimitätsfrage. Erziehung wäre gemäß einer solchen Sichtweise nicht legitim, weil sie Autonomie anstrebt, sondern weil sie sich um den Zustand einer zweiten Dependenz bemüht. Dies macht sie anhand einer Bemühung um Autonomie (als rationales Erkennen und Selbstbewusstsein hinsichtlich der ersten Dependenz) mit der Zielvorstellung Dankbarkeit als anzustrebende Tugend. Letztere ist dabei Ausdruck einer Integration von Autonomie in eine reziproke Relationalität. Erziehung umfasst aus der Sichtweise MacIntyres somit Dependenz und Autonomie und integriert die beiden als moralpädago264 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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gische Zielvorstellungen insofern ineinander, als sie beide normierend sind und einander bedingen. Es könnte hier entgegnet werden, dass die Verwendung des Begriffs der Autonomie zur Beschreibung der Fähigkeit rationalen Erkennens und Selbstbewusstseins, wie es gemäß MacIntyre für die zweite Dependenz notwendig ist, den Autonomiebegriff überdehnt. In einem engeren Sinne kann ausgehend von MacIntyres hier verwendetem Text von Autonomie als individueller Selbstbestimmung nicht die Rede sein. Dies hat drei Gründe: Erstens ist unklar, inwiefern das selbstbestimmte Individuum ausreichend von seinem sozialen Kontext unterschieden werden kann, sodass von Selbstbestimmung die Rede sein kann. Wenn Werte als vom Individuum in den sozialen Strukturen vorgefunden beschrieben werden und für dieses nicht verfügbar sind, dann ist das Individuum nur bedingt selbstbestimmend. Zweitens fehlt der Bestimmung und Begründung von ›Autonomie‹ bei MacIntyre (wiederum als rationale Erkenntnis und Selbstbewusstsein), wie im Einleitungskapitel als »dickeren« Begriff 46 bestimmt, eine deutlich positive Wertung. Autonomie verbleibt auch normativ sekundär im Verhältnis zur zweiten Dependenz. Sie wird nämlich nur insofern als wertvoll dargestellt, als sie notwendige Voraussetzung zur zweiten Dependenz ist. MacIntyres Beschreibung der zweiten Dependenz als verpflichtende Dependenz im Sinne einer generellen Reziprozität macht drittens ›Autonomie‹ als Zielvorstellung substantiell voraussagbar. Ein Hinweis darauf ist die Charakterisierung von MacIntyres Sichtweise zu Moralentwicklung als kreisförmig oder spiralförmig. Insbesondere bezüglich der Erziehungsrichtung stellt sich dies als problematisch dar, denn Richtung als Anspruch wird dann nicht riskant, sondern vorausbestimmend. Wenn Tugenden wie jene der Dankbarkeit zur substantiellen Bestimmung von ›Autonomie‹ herbeigezogen werden, bedingt ein solches Autonomieverständnis als moralpädagogische Zielvorstellung Richtung als Anspruch nur insofern als riskant, als die dafür notwendige Entwicklung von Gefühlen und Verhaltensweisen scheitern können. Darin könnte zwar ein Risiko erörtert werden, als solches ist es aber aufgrund der Voraussagbarkeit der Zielvorstellung auf eine triviale Alternative zwischen Scheitern und Gelingen reduziert.

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Zur Verwendung dieses Begriffes siehe Fußnote 50, S. 40 f.

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5.2.5 Fähigkeit der Entscheidung als moralpädagogische Zielvorstellung Wie oben in der Besprechung von Aristoteles sowie der aristotelisch beeinflussten, früheren Sichtweise MacIntyres zum Vorschein kommt, lassen sich anhand der Tugend phronesis oder der Fähigkeit der Entscheidung pädagogische Gesichtspunkte zu einer Erziehung zu Autonomie 47 in Relationalität erörtern. Insofern als phronesis innerhalb einer Praxis zu verstehen ist und darin Elemente rationaler Entscheidung enthalten sind, birgt sich darin eine – teilweise anders angelegte – Möglichkeit, Autonomie innerhalb von Relationalität als Dependenz zu verstehen. Phronesis als Tugend, die sich an internen Werten einer Praxis herauskristallisiert, ist insofern als Ansatz einer moralpädagogischen Zielvorstellung Autonomie interessant, als sich darin ein selbstbestimmendes Individuum abzeichnet, welches nicht über die wertende Praxis verfügt, aber an ihr durch seine relationale Situierung beteiligt ist. In dem zu Beginn des Kapitels beschriebenen Vertrag, welcher in Schulen als pädagogische Methode im Zusammenhang mit individuellen Lernzielen zur Anwendung kommt, wird eine solche Beteiligung zu etablieren versucht. Selbst wenn der Begriff und die Praxis eines Vertrages zweifelhaft erscheinen, weil damit die grundlegenden Bedingungen, die für einen Vertrag notwendig wären, kaum erfüllt sind, wird darin eine wertende Praxis ersichtlich. Über sie verfügt der individuelle Schüler nicht, aber er ist an ihr beteiligt. Beteiligung, wie sie ausgedrückt wird in einem Vertrag, setzt aber eigenständige oder autonome Individuen voraus. Der Vertrag veranschaulicht somit Beteiligung als einen Aspekt individueller Autonomie. Die im Vertrag sich einigenden Parteien sind durch ihre Unterschrift einer gemeinsamen Zielvorstellung verpflichtet und sind daran gemeinsam miteinander beteiligt. Die Situation der Beteiligung setzt zugleich die Verbindung und die Eigenständigkeit der beteiligten Parteien voraus. Wenn das Gespräch zwischen Eltern, Lehrer und Kind als Aspekt einer Praxis betrachtet wird, brauchen die Bedingungen, zu welchen man sich – hoffentlich einigermaßen frei diskutierend – einigt und in einem Vertrag festhält, nicht Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung zu Der Begriff Autonomie wird, wie bereits im vorhergehenden Abschnitt erwähnt, verwendet, obwohl er in einem engeren Sinne in den behandelten Texten nicht vorkommt.

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widersprechen. Sie können als Bedingungen dafür betrachtet werden. Somit kann ein Vertrag, insofern als er eine relationale Beteiligung festhält und vom beteiligten Individuum eine Fähigkeit der Entscheidung abverlangt, als Bemühung um eine Zielvorstellung von Autonomie in Relationalität gedeutet werden. Wenn diese Absicht der Beteiligung bei der Erstellung eines Vertrages hervorgehoben wird, drückt sich in ihr hinsichtlich des hier gezeichneten Autonomieverständnisses eine plausible Zielvorstellung aus. Ob die Form des Vertrags dabei dieser Zielvorstellung wirklich gerecht werden kann, lässt sich allerdings daran nicht eindeutig entscheiden. Es wird im Zusammenhang mit Taylors Autonomieverständnis darauf zurückzukommen sein. Anhand der Begriffe der Fähigkeit der Entscheidung und Praxis als wertende Relationalität oder Dependenz entsteht ein Autonomieverständnis, welches Autonomie als integriert in Dependenz versteht. Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt dargestellten, sekundären Verhältnis von Autonomie zu Dependenz, wird in MacIntyres Praxisbegriff auch ein anderes Verständnis von Autonomie sichtbar. Insofern als das selbstbestimmende Individuum sich durch seine Beteiligung an einer Praxis selbstbestimmt, sind die Wertungen der Praxis zwar bedingend, aber nicht außer Reichweite für das Individuum. Die Werte der Praxis sind nicht unverfügbar, denn das Individuum ist durch seine Beteiligung an der Praxis mitbestimmend in einer Relationalität, durch welche es selber bestimmt ist. Die von Aristoteles definierte Fähigkeit der Entscheidung könnte somit in Anlehnung an MacInytres Praxisbegriff als moralpädagogische Zielvorstellung in Zusammenhang mit Autonomie in Relationalität artikuliert werden. Sie zeichnet sich als ein an Relationalität beteiligter Umgang mit vorgefundenen, aber nicht unverfügbaren Werten ab. Eine solche Zielvorstellung aktualisiert Erziehung als Anspruch, ausgedrückt durch dialektische Asymmetrie. Wenn die Erziehungssituation als gekennzeichnet durch wertende Praxis betrachtet wird, sind erziehende und zu erziehende Person situiert in einer gemeinsamen, relational gegründeten Situation. Sie müssten beide in ihrem Bezug aufeinander die in Relationalität ausgedrückten, normativen Ausgangspunkte berücksichtigen.

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5.3 Autonomie im Kontext wertender Dependenz (Taylor) Der Praxisbegriff MacIntyres stellt als Bezeichnung einer normierenden Relationalität eine Sichtweise dar, die auch bei Taylor von grundlegender Bedeutung ist. Bei Letzterem geht es um die Vorstellung, das Individuum sei in wertende »Horizonte« (»horizons of significance«) eingebettet. 48 Solche Horizonte bestehen gemäß Taylor aus kollektiv artikulierten Werten, von denen das Individuum auf zweifache Weise abhängig ist. Das Individuum ist erstens epistemologisch von wertenden Horizonten geprägt. Es ist zweitens – und das ist besonders kennzeichnend für Taylors Sichtweise – für sein Wohlbefinden von der Orientierung an diesen ›vorgefundenen‹ Werten abhängig. Somit konstituieren Taylors »horizons of significance« die Möglichkeit zu einer sinnstiftenden Orientierung. Ich deute diese hier als Ausdruck einer wertenden Dependenz. Taylors Autonomieverständnis 49 ist von der Bedeutung einer wertenden Dependenz oder normierenden Relationalität her zu verstehen. Taylor setzt seine Kritik am Liberalismus an der Bedeutung der individuellen und selbstbestimmten Wahl an. Er beschreibt die Bedeutung individueller Wahl gemäß liberaler Sichtweisen nicht nur als undifferenziert, sondern auch als unbegründet positiv gewertet. »All choices are equally valid; but they must be choices. The view that makes freedom of choice this absolute is one that exalts choice as a human capacity. It carries with it the demand that we become beings capable of choice, that we rise to the level of self-consciousness and autonomy where we can exercise choice, that we not remain enmired through fear, sloth, ignorance, or superstition in some code imposed by tradition, society, or fate which tells us how we should dispose of what belongs to us.« 50 Taylor, 1991, 68 Wie zu Beginn dieses Kapitels festgehalten worden ist, verwendet Taylor den Begriff Autonomie kaum. Allzu sehr scheint dieser Begriff mit einer modernen Philosophie verbunden zu sein, der gegenüber Taylor kritisch ist. Taylors Interesse für Dependenz, so soll die folgende Besprechung zeigen, beinhaltet jedoch (wie jene von MacIntyre) Annahmen zu Autonomie. Indem Taylor Dependenz eingrenzt, deren Funktion und Wert beschreibt sowie deren Reichweite absteckt, macht er auch Aussagen zu jener Theoriebildung, die primär auf Autonomie fokussiert. In diesem kritischen Bezug auf Philosophien, die Autonomie thematisieren, sind die Konturen von Taylors eigener Sichtweise zu Selbstbestimmung des Individuums im Verhältnis zu seinem sozialen Kontext ersichtlich. 50 Taylor, 1985b, 197 48 49

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Taylor kritisiert einen Autonomiebegriff, welcher Autonomie ein Ideal der Loslösung oder Distanzierung (»ideal of disengagement«) zugrunde legt. 51 Im Mittelpunkt steht seine Kritik am modernen Verständnis des Individuums als losgelöstem Subjekt, welches unabhängig von kontextuellen Faktoren urteilt und handelt. Taylor schreibt: »This modern notion of subjectivity has spawned a number of conceptions of freedom which see it as something men win through to by setting aside obstacles or breaking loose from external impediments, ties or entanglements. To be free is to be untrammelled, to depend in one’s action only on oneself.« 52

Taylor nennt dies ein Verständnis von Freiheit als Selbst-Dependenz (»self-dependence«) und macht geltend, dass damit die Grenzen zwischen negativer und positiver Freiheit verschwimmen. Freiheit als Selbst-Dependenz betont die Unabhängigkeit von ›inneren‹ und ›äußeren‹ Abhängigkeiten. Es geht um einen ausschließlich normativen Bezug auf das Selbst als von kontextuellen Einflüssen losgelöst. Diese Unabhängigkeit wird zugleich als Ausdruck jenes Teiles des Selbst, welches als ›genuin‹ gewertet wird, verstanden. 53 Ein solches Verständnis von Freiheit als Selbst-Dependenz ist gemäß Taylor aufgrund fehlender substantieller Parameter nicht plausibel. 54 Er beschreibt das so verstandene, freie Selbst als »charakterlos« und bezichtigt die beiden Begriffe Rationalität und Kreativität, welche in modernen Sichtweisen als die positiven Kriterien der Freiheit angegeben werden, der UnfähigTaylor, 1985a, 5 Taylor, 1979, 155 53 Taylor, 1979, 156. Im Falle einer kantischen Sichtweise ist das ›genuine‹ Selbst das rationale Selbst. Autonomie als Selbst-Dependenz wurde im Zusammenhang mit Kants Autonomiekonzept anhand von O’Neills Deutung desselben diskutiert. (Siehe Kapitel 4.) Es wird auf die Vorstellung eines ›genuinen‹ Selbst zurückgekommen in Kapitel 6. 54 Es könnte diskutiert werden, inwiefern die prozedural artikulierten Wertungen liberaler Gesellschaften, wie etwa jener der Freiheit, tatsächlich Ausdruck einer verpflichtenden Dependenz sind. Damit stellt sich in der Verlängerung allerdings auch die Frage nach der Plausibilität der Unterscheidung zwischen prozeduralen und substantiellen ethischen Systemen. Taylor macht geltend, eine solche Unterscheidung sei nicht haltbar. Eine ausführliche Diskussion der Frage findet sich in Taylors Kritik an Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns. Taylor argumentiert gegen die Möglichkeit einer genügenden Begründung einer formalistischen Ethik als rein verfahrensethische Theorie, wie Habermas sie vertritt. Zur Begründung müsse, so Taylor, eine substantiell gehaltvolle Theorie herangezogen werden, da jede ethische Theorie von substantiellen Annahmen zum menschlichen Leben abhängig sei. (Taylor, 1986) 51 52

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keit, Orientierung und Inhalt anzugeben. Taylor spricht von einem »Dilemma der Leere« (»dilemma of vacuity«). Der Versuch, Freiheit radikal und absolut zu fassen, resultiert statt in einer Bereicherung des Begriffes in einer Verarmung oder Entleerung desselben. Gemäß Taylor finden sich in der konkreten Situation und dem Kontext inhaltliche Kriterien der Freiheit. Taylor will, sich auf Hegel beziehend, Freiheit situieren. Damit meint Taylor einen Ansatz, der Handlung als Reaktion auf befindliche Situationen versteht. Die Kennzeichen der jeweiligen Situation sollen als konstituierend für jene Bedingungen, in welchen sich die Menschen als »natürliche und soziale Wesen« befinden, verstanden werden. Es geht Taylor um eine Akzeptanz des Umstandes, dass Menschen in ihrer jeweiligen Situation bestimmt sind. Darum spricht er von »defining situation«. Ein Bemühen um Freiheit setzt demgemäß eine Bejahung der bestimmenden Situation voraus. 55 In seinem Buch Ethics of Authenticity hebt Taylor in seiner Kritik an liberalen Sichtweisen den Begriff Authentizität als eine Art Ersatz für den liberal gefärbten Autonomiebegriff hervor. 56 In Taylors Definition von Authentizität wird deutlich, dass er Authentizität in Abhängigkeit einer relationalen Dependenz versteht. Authentizität beinhaltet bei Taylor zwei Aspekte, einen der Selbstbestimmung und einen der Orientierung an einer wertenden Dependenz. Letztere versteht er als relational artikulierte Horizonte. Er zählt die zentralen Aspekte der Selbstbestimmung auf wie folgt: »Creation and construction as well as discovery, originality, and frequently opposition to the rules of society and even potentially to what we recognize as morality.« Zu Aspekten der Orientierung zählt er »openness to horizons of significance (…) and a self-definition in dialogue«. 57 Dass sein Begriff der Authentizität hier an den liberalen Begriff der Autonomie anknüpft und sogar von dessen Bestimmung Gebrauch macht, wird auch darin deutlich, dass Taylor festhält: »Authenticity is itself an idea of freedom; it involves

Taylor, 1979, 157–160, 164 Im nächsten Kapitel werden Autonomiekonzepte besprochen, die Autonomie auf verschiedene Weisen als Authentizität verstehen. Taylors Sichtweise umfasst einen begrenzten Gebrauch des Begriffes Authentizität, welcher bei ihm deutlich mit Relationalität verbunden ist. Da die relationalen Aspekte auf diese Weise bei Taylor zentral sind, wird er im Zusammenhang mit Konzepten, welche Autonomie in Relationalität verstehen, besprochen. 57 Taylor, 1991, 66 55 56

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my finding the design of my life myself, against the demands of external conformity.« 58 In der Aufsatzsammlung Philosophy and Human Sciences diskutiert Taylor die positive Wertung individueller Autonomie in liberalen Gesellschaften, indem er deren Voraussetzungen klärt. Er spricht von einer verpflichtenden Dependenz als kennzeichnend auch für liberale Gesellschaften. Er markiert damit seine Überzeugung, auch Liberalismus baue auf gemeinschaftlich verankerte, substantielle Wertungen. Taylor definiert diese Verpflichtung als »significant obligation to belong«. Für ihn kann individuelle Autonomie nur anhand von Dependenz erreicht werden und diese Dependenz ist auch für den autonomen Erwachsenen bestimmend. Das in einer Gesellschaft, welche das Recht zu Freiheit umfasst, zu Autonomie erzogene Individuum, ist gemäß Taylor in seiner Autonomie an jenes Wertungssystem gebunden, welches die Entstehung seiner Autonomie ermöglicht hat. 59 Gemäß Taylors Sichtweise muss, wer die individuellen Rechte und Freiheiten als ethisch und politisch wertvoll vertritt, zugleich auch seine Zugehörigkeit zu einem Kontext anerkennen. Wie Smith zeigt, geht es Taylor dabei nicht in erster Linie um Dependenz auf einer persönlichen Ebene, d. h. im Verhältnis zu signifikanten Anderen. Es geht ihm vor allem um eine gesellschaftliche und kulturell oder auch politisch manifestierte Verbundenheit. Dies ist, so Smith, darin begründet, dass Taylor Autonomie und Freiheit als Kapazitäten versteht, die nur unter »speziellen sozialen und kulturellen Bedingungen« entstehen können. Darin entsteht eine Dependenz, die normierend und verpflichtend ist. 60 Im Zusammenhang mit einer auf diese Weise normierenden Dependenz weist Smith auf zwei Aporien in Taylors Argumentation hin. Die erste Aporie besteht für Smith im Umstand, dass eine Zugehörigkeit nicht als Pflicht gedeutet wird. Smith behauptet, Zugehörigkeit sei ein affektiver Zustand und könne als solcher nicht als Verpflichtung gefasst werden. Smith scheint sich dabei auf ein kantisches Verständnis von Pflicht zu stützen. Gemäß einem solchen ist die Pflicht für ihre Bestimmung und Begründung ausschließlich von der Vernunft abhängig. 61 Eine solche Bestimmung von Pflicht ist zu einseitig und darum 58 59 60 61

Taylor, 1991, 67–68 Taylor, 1985b, 206 Smith, 2002, 145 Smith, 2002, 148

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zur Begründung nicht überzeugt. Smith kann entgegengehalten werden, dass Zugehörigkeit gewiss als Verpflichtung gefasst werden kann. Mein Einwand hier hat damit zu tun, dass erstens unklar ist, inwiefern Zugehörigkeit ein ausschließlich affektiver Zustand ist und dass zweitens bestritten werden kann, ob ein affektiver Zustand keinen verpflichtenden Ausdruck haben kann. Die andere Aporie, die Smith hervorhebt, ist hingegen wichtig. Er macht den berechtigten Einwand, in Taylors Überlegung sei nicht ersichtlich, warum die soziale Konstitution des Individuums auch normativ konstituierend sein sollte. Warum sollten die faktischen Bedingungen des Selbst auch eine normative und positive Wertung mit sich bringen? 62 Während Dependenz als Verpflichtung in dieser Arbeit im Falle MacIntyres als zentral gewertet wird, ist sie bei Taylor eher als Randphänomen einzustufen. Zur Charakterisierung dessen, was den Kern von Taylors Sichtweise ausmacht, soll hier ein anderer Aspekt hervorgehoben werden. Es geht um Taylors Interesse für Sinnfragen als Schlüssel zum Verständnis der Relationalität des Menschen. Was hier bei Taylor als eine wertende Dependenz bezeichnet wird, ist begründet in seinem Verständnis des Menschen als grundlegend abhängig von Sinn. Taylor nähert sich (wie MacIntyre) der Dependenz mit einem moralischen Fokus. Die für diesen Zusammenhang interessantesten Texte sind vorwiegend den Aufsatzsammlungen Human Agency and Language und Philosophy and Human Sciences entnommen. Viele der darin formulierten Thesen werden in Taylors bekanntem Werk Sources of the Self verfeinert und weiter ausgearbeitet. Abhängig ist der Mensch gemäß Taylor als Selbst oder als ethisches Subjekt in erste Linie in Bezug auf die im sozialen Kontext verwurzelten, moralischen Wertungen. Moralische Wertungen, von Taylor »qualitative Unterscheidungen« (»qualitative discriminations«) benannt, sind Ausdruck substantieller Wertvorstellungen (»goods«). Diese formen einen Horizont, welcher hier als wertende Dependenz etikettiert wird. Autonomie kann bei Taylor nur innerhalb dieser wertenden Dependenz gefasst werden. Insofern als das Individuum sich im Verhältnis zu dieser wertenden Dependenz auch unabhängig oder frei verhalten kann, geht es um eine moralisch bestimmte Kompetenz. Dies ist auch, was Taylors

Smith, 2002, 149. Smith macht allerdings auch den Hinweis, dass diese Hervorhebung der verpflichtenden Zugehörigkeit in späteren Texten Taylors ausbleibt.

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Sichtweise für das Interesse dieser Arbeit für Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung und als Kompetenz relevant macht.

5.3.1 Dependenz und Autonomie im Rahmen menschlicher Sinnsuche Taylor interessiert sich für die Identität des Individuums. Wie ist diese aufzufassen, worin besteht sie und was zeichnet sie als spezifisch menschlich aus? Er widmete sich bereits in den 1980er Jahren damit assoziierten Fragestellungen. Im Zusammenhang mit dem Interesse für die Identität des menschlichen Individuums diskutiert Taylor auch Autonomie. In seinem Aufsatz Atomism (in Philosophy and the Human Sciences) beschreibt Taylor seine These zu dem, was er die »sozialen Bedingungen der Freiheit« nennt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass Taylor von »entwickelter Freiheit« (»developed freedom«) spricht. Er meint damit nicht nur eine Erwartung, dass Freiheit in einer psychologischen Entwicklungsperspektive gesehen werden soll, sondern widmet sich auch der Verpflichtung zur Freiheit als Ideal. Die These umfasst zwei grundlegende Annahmen. Erstens verlangt entwickelte Freiheit ein spezifisches Verständnis des Selbst. In diesem inbegriffen ist eine Annahme von einem Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung als möglich. Zweitens ist ein solches Selbstbild nicht das Produkt eines solitären Prozesses, sondern entsteht aus den Praktiken und Wertungen von Gemeinschaften. »The thesis is that the identity of the autonomous, self-determining individual requires a social matrix, one for instance which through a series of practices recognizes the right to autonomous decision and which calls for the individual having a voice in deliberation about public action.« 63

Es geht Taylor darum, zu zeigen, dass Autonomie, insofern sie das entwickelte Individuum kennzeichnet, von den sie umgebenden und zulassenden sozialen Wertesystemen abhängig ist. Er benutzt dazu den Begriff »social matrix«. Ein zu Autonomie herangewachsenes Individuum hat sozusagen die Genese und die Aufrechterhaltung der für seine Autonomie notwendigen Fähigkeiten diesen Wertungen zu verdanken. Taylors These impliziert in der Umkehrung aber auch, dass ein Individuum nicht autonom sein kann, wenn es in einer Gesellschaft 63

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aufgewachsen ist und lebt, welche liberale Werte ablehnt. 64 Insofern als diese sozialen Wertesysteme als Dependenz zu verstehen sind und das Selbstverständnis des autonomen Individuums davon abhängig ist, ist Taylors Sichtweise Ausdruck eines Autonomieverständnisses, welches Autonomie als in Dependenz (als wertende Relationalität) integriert betrachtet. Es entsteht in seiner Perspektive eine Verflechtung von sozialer Praxis und Wertung. Eine moralisch verpflichtende Abhängigkeit als bedingend für Autonomie (wie zentral bei MacIntyre) könnte daraus entwickelt werden. Diese ist bei Taylor aber nicht unbedingt zentrales Kennzeichen des Abhängigkeitsverhältnisses. Vielmehr steht hier ein breiteres und komplexeres Konzept einer sozialen, wertenden Praxis im Zentrum. Gemäß einer solchen Sichtweise ist Autonomie als Loslösung des Individuums von sozialen Wertesystemen grundlegend unrealistisch. Es ist an dieser Stelle wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass für Taylor moralische Wertungen als qualitative Unterscheidungen nicht separat von substantiellen Wertvorstellungen (»goods«) betrachtet werden können. Vielmehr besteht ein Abhängigkeitsverhältnis. Dieses hat eine existentielle Dimension. Die qualitative Unterscheidung funktioniert als Definition einer substantiellen Wertvorstellung. 65 »So we can see the place that qualitative discriminations have in our ethical life. Prearticulately, they function as an orienting sense of what is important, valuable or commanding, which emerges in our particulate intuitions about how we should act, feel, respond on different occasions, and on which we draw when we deliberate about ethical matters. Articulating these distinctions is setting out the moral point of the actions and feelings our intuitions enjoin on us, or invite us to, or present as admirable. They have this place as much in the broader domain of goods that we pursue across the whole range of our lives, as in the more special domain of higher goods, which claim a status of incomparably greater importance or urgency.« 66

Selbst wenn Taylors Begriffe »hypergood« oder »higher good«, »goods« und »qualitative discriminations« hierarchisch zu verstehen sind, ist Gesehen aus dieser Richtung ist Taylors These problematisch. Wie wären persönliche Revolten, größere Revolutionen, aber auch weniger dramatische Umwälzungen gesellschaftlicher Systeme überhaupt zu erklären? Es wird auf die Funktion sozialer Kontexte für individuelle, relational definierte Autonomie zurückgekommen in der Besprechung von Meyers’ Sichtweise in diesem Kapitel. 65 Taylor, 1989, 53–55, 77–80 66 Taylor, 1989, 77–78 64

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dies nicht in argumentationstheoretischem Sinne als kausale Ordnung zu verstehen. Es ist Taylors Absicht, zu zeigen, dass Moral als Entscheidungen und Handlungen immer auf ein integriertes System solcher substantiell informierter Wertvorstellungen zurückgreifen. Diese Verbundenheit von qualitativen Unterscheidungen und substantiellen Wertvorstellungen ist für das Verständnis von Taylors Hervorhebung der Orientierung an Sinnfragen von zentraler Bedeutung. In seinem Aufsatz mit dem Titel The Concept of a Person (in Human Agency and Language) beschreibt Taylor zwei grundlegende theoretische Ansätze hinsichtlich moralischer Überlegung und Wahl. Die beiden theoretischen Ansätze kommen, so Taylor, in praktischen Überlegungen und Handlungen oft vermischt vor, sind aber theoretisch dennoch auseinanderzuhalten. Sie gründen auf zwei verschiedenen Konzepten der Person, verstanden als ethisches Subjekt. Die beiden Konzepte stellen je verschiedene Eigenschaften ins Zentrum dessen, was das spezifisch Menschliche auszeichnet, d. h. was den Menschen zum ethischen Subjekt macht. Das eine Konzept, welches Wurzeln in der Aufklärung hat und »Abbildungssichtweise« (»representation view«) genannt wird, stellt die Fähigkeit zu Bewusstsein und mentaler Repräsentation ins Zentrum. Das andere Konzept legt den Fokus auf die Fähigkeit zur Empfindung von Sinn. Diese letztere Perspektive nennt Taylor »Sinnsichtweise« (»significance view«). Zentral ist gemäß dieser die menschliche Eigenschaft, angesichts Erlebtem Sinn zu empfinden und sich zum Sinn der Dinge Gedanken zu machen. Taylor schreibt: »What is crucial about agents is that things matter to them.« 67 Taylor kontrastiert die Konzepte zu moralischer Überlegung und Wahl, welche implizit in den beiden Sichtweisen enthalten sind. Die Repräsentationssichtweise geht von bestimmten Zielen aus. Diese sind entweder naturwissenschaftlich bestimmt oder anthropologisch in einer bestimmten religiösen Tradition verankert. Moralische Überlegung und Wahl engagieren demnach instrumentelle Rationalität, die auf diese bestimmten Ziele hin ausgerichtet und im Verhältnis dazu strategisch ist. Als Ideal dient das losgelöste (»disengaged«) Wählen, welches losgelöst sein soll vor allem auch von menschlichen Emotio67 Taylor, 1985a, 98–99. Der schwedische Kognitionsforscher Gärdenfors hat diese menschliche Eigenschaft eingehend beschrieben, allerdings ohne dabei den Menschen als ›sinnsuchendes Wesen‹ im Sinne Taylors an eine relationale Dimension zu knüpfen. (Gärdenfors, 2006)

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nen. Die Sinnsichtweise hingegen hat als Ideal die Fähigkeit zur Bestimmung ›echter‹, d. h. moralisch guter Emotionen. Es geht um die Interpretation und die Bestimmung von Sinn, wie er sich an der menschlichen Existenz bildet. Während erstere Sichtweise gemäß Taylor das ethische Subjekt mit einer beträchtlichen Sicherheit und Kontrollmöglichkeit ausstattet, geht es in letzterer Sichtweise um ein ergründendes Vorgehen eher unbestimmbarer und ungewisser Art. 68 Für die Frage nach Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung sind in Taylors Darstellung zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: die Identifikation der zur Autonomie benötigten Fähigkeiten und die Reichweite von Autonomie als Kapazität oder Kompetenz. In der Repräsentationssichtweise geht es um instrumentelle Rationalität, während es bei der Sinnsichtweise um hermeneutisch geprägte Interpretation geht. Bezüglich der Reichweite der Autonomie geht es um Autonomie als formalistisch begrenzte Tätigkeit versus substantiell informierter Tätigkeit. Dies zieht für Taylor auch auf einer psychologischen Ebene einen Unterschied nach sich. Während die Repräsentationssichtweise gekennzeichnet ist durch ein Streben nach Kontrolle, ist die Sinnsichtweise geprägt von einer bedingten Offenheit und, damit verbunden, einer Ungewissheit im Sinne eines »unperfekten Verstehens«. 69 Dies ist in der Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten, welche sich in der Sinnsuche anbieten, begründet. Falls hier von Autonomie gesprochen werden kann, besteht sie aus der immer nur teilweise erfüllbaren Aufgabe der ›besseren‹ Interpretation zum Zwecke der Selbsterkenntnis. Taylor hebt hervor, dass im Gegensatz zu dieser Sinnperspektive die Repräsentationsperspektive eine absolute Perspektive darstellt. Verstehen geschieht gemäß Letzterer per Definition immer in Abstraktion von persönlicher Bedeutung. »To understand things in the absolute perspective is to understand them in abstraction from their significance for you.« 70 Die beiden Sichtweisen sind schließlich durch ein unterschiedliches Verständnis des Subjektes charakterisiert. Während die Repräsentationssichtweise von einem freien, »self-defining subject« spricht, geht es bei der Sinnsichtweise um ein »self-interpreting subject«. Taylor will im Rahmen einer Sinnsichtweise, statt der Fähigkeit zu planen, 68 69 70

Taylor, 1985a, 112–114 Taylor, 1985a, 113 Taylor, 1985a, 112

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die Fähigkeit zur Offenheit gegenüber der Bedeutung respektive des Sinnes gewisser Dinge oder Umstände ins Zentrum von Autonomie stellen. 71 Als Fähigkeit zu Selbstbestimmung beschränkt sich in der Sinnsichtweise Autonomie auf eine ungewisse, deutende Tätigkeit. In dieser ist das Subjekt nicht nur durch die Offenheit der Deutungsmöglichkeiten eingeschränkt. Dass Offenheit einschränkend ist, mag paradox erscheinen. Es geht bei Taylor aber darum, die ›Allmacht‹ des Subjektes der Repräsentationssichtweise zu mildern. Außerdem ist das Subjekt in der Sinnsichtweise durch den Rahmen, welchen die im sozialen und kulturellen Kontext etablierten Deutungsmuster formen, begrenzt. 72 Taylors Standpunkt bezüglich Erkenntnis und Autonomie in einer Sinnsichtweise lässt sich wie folgt zusammenfassen: »To understand things in the absolute perspective is to understand them in abstraction from their significance for you. Moreover, the good life for a human being, in this nonanthropocentric perspective, requires acknowledgement on the moral agent’s part, however tacitly, of the authority and desirability of goods that we regard ourselves as discovering more than inventing.« 73

Diese Charakterisierung von Taylors Sichtweise ist ein Hinweis auf jene Sinndimension, die oben bereits mehrfach als zentral für Taylors Sichtweise hervorgehoben worden ist. Es ist ebenfalls bereits erwähnt worden, dass diese Sinndimension hier im Rahmen einer in Relationalität artikulierten, wertenden Dependenz gedeutet wird. Anhand Taylors Idee von »stark qualifizierten Horizonten«, auf welche nun näher eingegangen wird, soll die Bedeutung einer solchen wertenden Dependenz nun weiter beleuchtet werden.

5.3.2 Relationalität innerhalb von »strongly qualified horizons« Taylor unterscheidet (in Anlehnung an Frankfurts »second order desires«) 74 bezüglich der Selbstbestimmung einer Person zwischen Taylor, 1985a, 112, 45, 105 Es ist wichtig hervorzuheben, dass es bei dieser hermeneutisch offenen Selbstinterpretation bei Taylor primär um Sinnsuche und nicht so sehr um Sinnkonstruktion geht. Die ›Offenheit‹ ist darum in Taylors Sichtweise nicht unbeschränkt. 73 Kerr, 2004, 90 74 Dies wird näher besprochen in Kapitel 6. 71 72

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schwachen Wertungen (»weak evaluations«) und starken Wertungen (»strong evaluations«). Während erstere primär resultatorientiert sind, orientieren sich letztere an dem »qualitativen Wert verschiedener Begehren«. Es sind gemäß seiner Ansicht die starken Wertungen, welche die Kernkompetenz eines moralischen Subjektes konstituieren. Taylor beurteilt diese starken Wertungen als ›tief‹ oder profund und meint damit, dass sie sich auf Konzepte zu Lebensqualität sowie Vorstellungen und Ideale bezüglich der eigenen Identität beziehen. 75 Interessant ist hierbei die Bedeutung der Gefühle, die Taylor als mit der Funktion der starken Wertungen verbunden versteht. Eine Darstellung der Bedeutung der Gefühle bei Taylor findet sich bei Grimen. Dieser meint, bei Taylor seien moralische Wertungen im Sinne starker Wertungen von der – typisch menschlichen – Fähigkeit, »affektiv aufmerksam« zu sein, abhängig. Diese affektive Aufmerksamkeit bezeichne den Umstand, dass wir Dinge nicht unabhängig von, sondern immer in Abhängigkeit von Gefühlen und damit verbundenen Wertungen wahrnehmen. 76 Taylors Sichtweise resultiert in einem Verständnis, welches Gefühlen eine große Bedeutung für die Funktion des Menschen als wertendes, moralisches Subjekt zumisst. Es ist wichtig zu betonen, dass Taylors Sichtweise nicht impliziert, dass affektive Gleichgültigkeit im Zusammenhang mit Wahrnehmung nicht möglich wäre. In Verbindung mit starken Wertungen hingegen ist eine Ausklammerung von gefühlsmäßigem Engagement undenkbar. Moralische Wertungen geschehen somit gemäß Taylor immer in Verbindung mit gefühlsmäßigen Wertungen. Gefühle sind so tragende Elemente starker Wertungen. Gefühle sind aber ihrerseits Wertungen unterworfen. Taylor, der sich gegenüber einer kantisch beeinflussten Sichtweise der Moral als losgelöst von Emotionen durchgehend kritisch ausdrückt, bestimmt dennoch moralische Entwicklung anhand der Fähigkeit, Gefühle nach ihrer Würde und Angemessenheit zu unterscheiden. Mulhall und Swift beschreiben bei Taylor starke Wertungen als gekennzeichnet dadurch, dass sie nicht wie andere gefühlsmäßige Reaktionen unmittelbar von den entsprechenden Gefühlen abhängig sind. Vielmehr sind starke Wertungen mit Maßstäben und Gründen, die unabhängig von den gefühlsmäßigen Reaktionen des Subjektes sind, behaftet. Diese 75 76

Taylor, 1985a, 16–26 Grimen, 1995, 29

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Unabhängigkeit macht eine Evaluation der gefühlsmäßigen Reaktionen möglich. 77 Selbst wenn also Gefühle Träger starker Wertungen und somit auf konstitutive Weise integriert in die Moral sind, sind sie dies nicht unbedingt auf eine unmittelbare Art. Einen gewissen Vorbehalt, eine gewisse Distanz gegenüber Gefühlen ist auch bei Taylor kennzeichnend für die Bestimmung von Moral. Taylor spricht von »neutralisierten« gefühlsmäßigen Reaktionen: »There is such a thing as moral objectivity, of course. Growth in moral insight often requires that we neutralize some of our reactions. But this is in order that the others might be identified, unmixed and unscreened by petty jealousy, egoism or other unworthy feelings. It is never a question of prescinding from our reactions altogether.« 78

Es geht demgemäß bei moralischer Reife um eine Fähigkeit, Unterscheidungen vorzunehmen und eigene Gefühle diesen Unterscheidungen entsprechend zu behandeln. Es ist ein kultivierter Umgang mit Gefühlen, was einer teilweisen Distanzierung gleichkommen kann. Dies resultiert jedoch nicht in der Vorstellung eines frei, rational reflektierenden Individuums, sondern zeigt sich als Resultat eines Prozesses, im Laufe dessen das Individuum gradweise in grundlegende Wertungen des jeweiligen sozialen Kontextes eingeführt wird. ›Neutralisierend‹ bezeichnet also keine vorgestellte Objektivität oder Rationalität, sondern muss vor dem Hintergrund, oder eben vor dem Horizont, der aktuellen, sozial etablierten Wertungen verstanden werden. Taylor kritisiert am modernen Verständnis des Individuums, dass das Individuum unabhängig von seinem sozialen Kontext verstanden wird. Für Taylor ist die Identität des Individuums in seiner Abhängigkeit vom sozialen Kontext konstituiert. 79 Er beschreibt das moderne Verständnis des Individuums als verbunden mit einer »Internalisierung moralischer Quellen«. Moralische Quellen versteht er als artikulierte moralische Wertungen (»goods«). Indem das Selbst sich unabhängig vom sozialen Kontext konstituiert und seine moralischen Maßstäbe aus dem ›Inneren‹ bezieht, geht eine konstitutive, identitätsgründende Verbundenheit mit einer sozialen Abhängigkeit verloren. 80 Taylor bezichtigt moderne Theorien zu Subjektivität und Autonomie 77 78 79 80

Mulhall & Swift, 1992, 103 Taylor, 1989, 8 (meine Kursivierung) Taylor, 1985a, 8 Taylor, 1989, 93, 454–456

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einer Vereinfachung, da sie den komplexen – weil potentiell immer auch widersprüchlichen – Aspekten menschlichen Handelns nicht gerecht werden. Gerade diese Widersprüchlichkeit bezüglich der eigenen Freiheit kann, so Taylor, durch einfache Kausalität nicht auf befriedigende Weise erklärt werden. »The notion of a freedom rooted in our nature, and yet which can be frustrated by our own desires or our limited aspirations, requires a more articulated, many-levelled theory of human motivation. It is very doubtful whether any theory which recognizes only efficient causation can do justice to it. We need the notion of a bent in our situation which we can either endorse or reject, reinterpret or distort. This is something very different from desire as it is conceived by psychologists, and it is hard to see how a bent of this kind could be explained mechanistically, even if the psychologists’ ›desire‹ could be.« 81

Im Anschluss an Wittgenstein und Mead beschreibt Taylor das Individuum in seinem Werdegang und seiner Existenz als abhängig von Relationalität. »One is a self only among other selves. A self can never be described without reference to those who surround it.« 82 Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine selbständige und in gewissem Sinne selbstbestimmende Positionierung des Individuums gegenüber seinem Kontext nicht möglich wäre. Taylor drückt diese Möglichkeit aus wie folgt: »So I can only learn what anger, love, anxiety, the aspiration to wholeness, etc., are through my and others’ experience of these being objects for us, in some common space. (…) Later, I may innovate. I may develop an original way of understanding myself and human life, at least one which is in sharp disagreement with my family and background. But the innovation can only take place from the base in our common language. Even as the most independent adult, there are moments when I cannot clarify what I feel until I talk about it with certain special partner(s), who know me, or have wisdom, or with whom I have an affinity. This incapacity is a mere shadow of the one the child experiences. For him, everything would be confusion, there would be no language of discernment at all, without the conversations which fix this language for him.« 83

Autonomie ist gemäß dieser Sichtweise nur durch oder in Kommunikation möglich. Verstanden als Innovation und Originalität, formt sich Autonomie so in einem »common space«. Dieser ist von der spezifischen sprachlichen Gestaltung durch jene, die sich in diesem Raum 81 82 83

Taylor, 1979, 160 Taylor, 1989, 35 Taylor, 1989, 35–36

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begegnen und darin als Individuen konstituiert sind, geprägt. Das Kollektive und das Individuelle kann so nur in gegenseitiger Verschränkung verstanden werden. Dies ist insofern bedeutend für Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung, als die Erziehungssituation als kommunikative Situation mit gegenseitigen Abhängigkeiten somit nicht als hindernd für Autonomie betrachtet werden muss. Der Umstand, dass die Erziehungssituation von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt ist, muss darum unter Berücksichtigung einer solchen Sichtweise nicht als Widerspruch zur Zielvorstellung Autonomie betrachtet werden. Hinsichtlich des Autonomieverständnisses von Taylor, wie es sich abzeichnet in seinem Verständnis des Individuums und seiner sozialen Abhängigkeit, erscheint die Problematik des pädagogischen Paradoxes belanglos zu sein. Es wird darauf zurückzukommen sein. Dependenz bei Taylor kann mit Smith als auf drei Ebenen angesiedelt beschrieben werden. Dependenz ist zusammengesetzt aus einer biologischen Abhängigkeit, einer existentiellen Abhängigkeit und einer sozialen Abhängigkeit. Die existentielle Abhängigkeit ist in der dialogischen Struktur der individuellen Identität begründet und wird in Beziehungen zu konkreten oder signifikanten Anderen ersichtlich. Die soziale Abhängigkeit wird als Abhängigkeit von einer weiteren Gemeinschaft, durch welche prägende sprachliche und konzeptuelle Vorlagen vermittelt werden, ausdrückt. 84 Smith diskutiert auch den Vorwurf, welcher Taylor aus liberaler Richtung oft gemacht wird, Taylor begrenze die Möglichkeit des Individuums zu Selbstbestimmung zu weitgehend. Das Individuum sei seinem sozialen Kontext untergeordnet. Gemäß Smith beruht dieser Vorwurf aber auf einer falschen Lesart von Taylors Texten. »His point is that for critique and affirmation of conceptions of the good to make sense at all, some background must be given to the individual. And if this is true, individuals are dependent on something ›social‹ in their capacity for selfdetermination. At the same time, the background does not come from heaven. It does not live off its own means, as if it could flourish and reproduce itself without the input of individuals. On the contrary, it can only function properly as background in so far as individuals contribute to it and express themselves through it. There must be some intertwining of the self-defining purposes of the individual and the community.« 85

84 85

Smith, 2002, 139–140 Smith, 2002, 147

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Smiths Interpretation von Taylor bedeutet, dass in Taylors Sichtweise Autonomie innerhalb von Dependenz angesiedelt ist. Das Individuum ist von Relationalität geprägt. Die Dependenz des Individuums wird als Ausdruck von Relationalität zu einem integrierten Teil individueller Kapazität zur Selbstbestimmung. Smiths Interpretation setzt eine Vorstellung der Relationalität voraus, die sich in einer immanenten, als menschliche Konstruktion gefassten Situierung erschöpft. In Bezug auf eine solche, ist Smiths Analyse plausibel. Die Kapazität des Individuums zur Selbstbestimmung ist bei Taylor abhängig von und damit integriert in jene gemeinschaftlich konstruierten Konzepte, welche vom Individuum vorgefundene und gebrauchte, kulturelle und sprachliche Werkzeuge darstellen. Taylors Konzept von Relationalität scheint sich jedoch darin nicht zu erschöpfen. Relationalität ist bei Taylor über die immanente Bedeutung hinaus auch in Verbindung mit aristotelisch geprägten, teleologischen Vorstellungen menschlicher Bestimmung zu sehen. Der Mensch ist gemäß einer solchen Sichtweise nicht nur im Sinne einer Situiertheit bezüglich kultureller und konzeptueller Konstruktionen relational, sondern auch bezüglich einer teleologisch und metaphysisch begründeten Bestimmung des Menschen. Mit einem solchen teleologischen Rahmen versucht Taylor außerdem, eine jüdisch-christliche Theologie zu vereinen, welche er als zentriert um ein »Versprechen göttlicher Affirmation des Menschlichen« betrachtet. Taylor ist nicht besonders deutlich bei diesen theologisch definierten Grundlagen der menschlichen Relationalität oder Dependenz. Dies zeigt sich in der Tatsache, dass er diese theologischen Annahmen nur andeutungsweise und ganz am Schluss seines umfangreichen Werkes Sources of the Self formuliert. 86 Es ist jedoch für die Interpretation seiner Sichtweise menschlicher Dependenz nicht unwichtig. Wenn starke, substantielle Wertungen theologisch artikuliert werden und in metaphysischen Annahmen begründet sind, dann sind sie als Horizonte für den Menschen nicht als sozial bestimmbare Konstrukte verfügbar. Denn mit ihnen sind dann auch universelle Ansprüche verbunden. Es geht Taylor vor allem um einen Bezug auf substantielle, normative Vorstellungen. Diese stellen als »starke qualitative Unterscheidungen« (»strong qualitative discriminations«) den Horizont dar, wel-

86

Taylor, 1989, 521

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cher als unabdingbare Orientierung für das Individuum respektive sein Selbstverständnis konstitutiv ist. 87 »(…) the claim is that living within such strongly qualified horizons is constitutive of human agency, that stepping outside these limit would be tantamount to stepping outside to what we would recognize as integral, that is, undamaged human personhood. (…) My identity is defined by the commitments and identifications which provide the frame or horizon within which I can try to determine from case to case what is good, or valuable, or what ought to be done, or what I endorse or oppose. In other words, it is the horizon within which I am capable of taking stand.« 88

Wichtig ist für Taylor, dass Identität und moralische Orientierung eng miteinander verbunden sind. Auch Mulhall und Swift weisen auf diese Verbindung bei Taylor hin: »(…) the identity of the human self is bound up with and partially constituted by that self’s sense of the meaning or significance of the objects and situations he encounters in life.« 89 Hier soll aber auch gefragt werden, inwiefern Taylors Thesen dazu auch als Aussagen zur Selbstbestimmung des Individuums gegenüber den in diesen Horizonten gegebenen Wertungen verstanden werden können. Gemäß seiner Darstellung ist das Individuum bezüglich seiner Identität und seiner moralischen Orientierung von dem wertenden Horizont abhängig. Individuelle Freiheit besteht nur innerhalb jener Begrenzungen, die sich im Horizont abzeichnen. Bezeichnenderweise ist in Taylors Darstellung eine Übertretung des Horizontes für das Individuum jedoch nicht unmöglich oder unrealistisch. Sie ist auch nicht unmoralisch, sondern, aufgrund der konstitutiven Funktion des Horizontes für das Individuum, vor allem destruktiv. Taylor diskutiert den Fall eines Identitätsverlusts. Mit einem solchen zusammenhängend sind auch ein Sinnverlust und eine Krise. Taylor beschreibt diese Situation als »Identitätskrise«, als »akute Form der Desorientierung«. Die87 Bonnett und Cuypers erklären diesen komplexen, konstitutiven Zusammenhang bei Taylor auf folgende Weise: »Horizons of significance not only transcend the self but also the other; they are constituted by the inherited traditions and customs of valuing to which both the person who asks for recognition and the other people who give of deny it are subordinated. Knowledge of the self is therefore constituted against an inherited background of intelligibility by an ›ongoing conversation‹ between self and the other.« (Bonnett & Cuypers, 2003, 334–335) 88 Taylor, 1989, 27 (meine Kursivierung) 89 Mulhall & Swift, 1992, 107

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ser Zustand, so Taylor, sei sowohl schmerzhaft wie erschreckend und sei gekennzeichnet von einer radikalen Verunsicherung. 90

5.3.3 Autonomie als Sinnkrise? Taylors Sichtweise ist geprägt von der Auffassung, dass das Individuum durch seinen sozialen Kontext und den darin abgesteckten Horizonten existiert. Eine Durchschreitung des wertenden Horizontes kommt einer existentiellen Bedrohung des Individuums oder einer Sinnkrise gleich. Da der Horizont aus qualitativen Unterscheidungen, d. h. aus substantiellen normativen Wertungen besteht, stellt er eine moralisch definierte, wertende Dependenz dar. Mit seinem Postulat zur konstitutiven Identitätsabhängigkeit des Individuums vom Kontext in Form wertender Unterscheidungen bricht Taylor in kommunitaristischer Weise das Primat des Individuums im Verhältnis zum sozialen Kontext. Das Individuum ist als ethisches Subjekt in Relationalität konstituiert. »The community is not simply an aggregation of individuals; nor is there simply a causal interaction between the two. The community is also constitutive of the individual, in the sense that the self-interpretations which define him are drawn from the interchange which the community carries on.« 91

Durch die Integration des Individuums in die Gemeinschaft und vor allem durch die Abhängigkeit von deren Wertungen als Horizont ist seine Selbstbestimmung nur anhand der in der Gemeinschaft vorgefundenen Wertungen verständlich. Wenn der Sichtweise Taylors ein Konzept von Autonomie entnommen werden soll, lassen sich zwei Anmerkungen machen. Einerseits muss Autonomie als an den vorgefunden Horizonten orientiert betrachtet werden. Eine Orientierung an Horizonten schließt aber nicht aus, dass das Individuum Horizonte Taylor, 1989, 27–28. Die Assoziation von Autonomie mit pathologischer, affektiver Orientierungssuche, als starkes emotionales Bedürfnis, ist auch im Anschluss an psychoanalytische Sichtweisen zu finden. Meyer-Drawe beschreibt jene Sichtweise (im Anschluss an Lacan) als gegründet auf der »Erfahrung der Zerstreuung des Menschen, der sich weder in der Einheit einer christlichen Seele noch in der Einheit einer alles begreifenden Vernunft erfuhr, sondern als orientierungsarmes Ich ohne stabiles Zentrum und verlässliche Grenzen«. Es geht um eine »Angst vor der Zerstreuung des Ich«. (MeyerDrawe, 1990, 32) 91 Taylor, 1985a, 8. Siehe auch Taylor, 1989, 35–36. 90

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durchschreitet. Insofern als das Individuum im Rahmen gemeinschaftlich vorgegebener oder etablierter Wertungen moralische Entscheidungen trifft, ist seine Autonomie von vorgefundenen Wertungen abhängig. Andererseits kann Autonomie deutlicher an Taylors Beschreibung der Sinn- oder Identitätskrise geknüpft werden. Selbstbestimmung kann so als Bruch mit dem Konventionellen als einem vorgefundenen Horizont verstanden werden. Autonomie ist dementsprechend auf unvermeidliche Weise verknüpft mit jener Sinn- und Identitätskrise, welche sich für das Individuum ergibt, wenn es sich von dem für seine Identität konstitutiven Kontext starker Wertungen loslöst. Was dabei auf dem Spiel steht, ist das Wohlbefinden. Das Individuum ist gemäß Taylors Sichtweise für sein mentales Wohlbefinden von den starken Wertungen, wie sie in Beziehungen zu Anderen zum Ausdruck kommt, abhängig. 92 Autonomes Verhalten ist damit verbunden mit einem Sinnverlust, da sich die Möglichkeit zu jener kontextuellen Orientierung, die gemäß Taylor für existentielles Wohlbefinden vorausgesetzt sein muss, verloren geht. Als Krise weicht Autonomie vom Normalen ab und ist als vorübergehender Zustand zu deuten. Wenn Krisen langfristig werden, sind sie gewöhnlicherweise sehr belastende Zustände. Das Verhältnis zwischen Normalität und Krise reflektiert dabei den sekundären Status, den Autonomie gegenüber Dependenz in Taylors Sichtweise annimmt. Zugleich grenzt ein Verständnis von Autonomie als Krise wiederum an ein Verständnis, welches Autonomie als Gegenüber zur Dependenz fasst. Denn die Krise wird als Ausnahme von der Normalität bestimmt als ihr Gegenüber. Es handelt sich dabei um eine Gegenüber vom Abnormen und von Normalität als Ideal.

5.3.4 Autonomie in Sinnsuche und Sinnkrise als moralpädagogische Zielvorstellung Es fragt sich, inwiefern Autonomie als Horizontverlust und als Sinnkrise moralpädagogisch erstrebenswert sein kann. Bonnett und Cuypers schließen aus Taylors Sichtweise, Erziehung zu Autonomie müsse insofern ›moderat‹ sein, als sie, seinem Verständnis von Authentizität (als Ersatz von Autonomie) gerecht werdend, sowohl aktive wie auch passive Aspekte der Selbstbestimmung zu ihrer Zielvorstellung mache. 92

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Dabei interpretieren Bonnett und Cuypers Taylors Verständnis des selbstbestimmten Individuums als einen passiven Aspekt (als Orientierung an vorgefundenen Horizonten) und einen aktiven Aspekt (als Überschreitung oder Abgrenzung im Verhältnis zu Horizonten) umfassend. 93 Eine Distinktion in ›aktiv‹ und ›passiv‹ erscheint aber zu vereinfachend, denn die Funktion der Relationalität für die Autonomie des Individuums wird dabei weitgehend ausgeblendet. Wenn das Individuum, insofern als es autonom ist, dies durch seine Relationalität ist, wie oben als kennzeichnend für Taylors Sichtweise beschrieben, dann erscheinen die Kategorien ›aktiv‹ respektive ›passiv‹ unzulänglich. Erziehung als eine Art moderater Balanceakt zwischen ›aktiver‹ und ›passiver‹ Selbstbestimmung würde eine Vorstellung von Autonomie als Gegenüber zu Dependenz eher verstärken. Ein interessanterer Blickwinkel findet sich ausgehend von Taylors Sichtweise vielmehr in seiner Charakterisierung individueller Selbstbestimmung als Sinn- oder Identitätskrise. Sie ist, wie oben dargelegt, im fortlaufenden Dialog mit Anderen um die Bedeutung signifikanter Horizonte situiert. Insofern als Lernen mit Erfahrung von Negativität verbunden ist, 94 müssten auch bei Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie schmerzhafte Erfahrungen in Kauf genommen werden. Benner beschreibt die Funktion negativer Erfahrungen im Zusammenhang mit Bildung und Erziehung wie folgt: »Der transformatorische Prozess ist vielmehr dadurch bestimmt, dass an einem Bekannten etwas Unbekanntes erfahren wird und Unbekanntes sich in bestimmten Aspekten als zum Teil schon bekannt erweist. Beide Formen der Transformation sind im Lernen jeweils über Irritationen vermittelt. Diese werden in negativen Erfahrungen angezeigt, in denen an bekannten Weltinhalten neue aufbrechen oder neue Welterfahrungen Bekanntheitsmomente freisetzen.« 95

Autonomie als Sinnkrise würde demgemäß mit Erfahrung von Negativität, wie diese für Lernprozesse kennzeichnend ist, einhergehen müssen. Die Notwendigkeit negativer Erfahrung ist gemäß Benners Beschreibung in der Bewegung in beiden Richtungen – zwischen Bekanntem und Unbekanntem – begründet. Wenn Autonomie als Sinnsuche und Sinnkrise innerhalb von Relationalität als wertender Dependenz moralpädagogische Zielvorstellung sein soll, ist sie als solche – im 93 94 95

Bonnett & Cuypers, 2003, 335 Benner, 2005b, 9 Benner, 2005b, 9

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Rahmen eines kohärenzorientierten Begründungsmusters – im Anschluss an die Erziehungssituation zu verstehen. Eine moralpädagogische Bemühung um individuelle Freiheit setzt demgemäß eine Bejahung der Relationalität, in welcher das Individuum bestimmt ist, voraus. Eine Gegensätzlichkeit zwischen Zielvorstellung (als individueller Autonomie) und Erziehungssituation (als Freiheit oder Autonomie einschränkend) ist ausgehend von Taylors Sichtweise nur sehr begrenzt gegenwärtig. Das pädagogische Paradox erscheint auch aus dieser Perspektive als irrelevant. Autonomie ist als Sinnsuche und Sinnkrise in wertender Dependenz in relationalen Bezügen situiert. So verstanden steht Autonomie nur in sehr begrenzter Weise im Widerspruch zur Erziehungssituation, welche ihrerseits einen relationalen Zusammenhang wertender Dependenz ausdrückt. Erziehung zu Autonomie wird also auch hier zu Erziehung in Autonomie, da Sinnsuche und Sinnkrise des Individuums sich nicht als entferntes Ziel anbietet, sondern bereits die Erziehungssituation prägt. Die Zielvorstellung Autonomie als Sinnkrise lässt ihrerseits eine Normativität, welche sich anhand eines Anspruchs an riskante Richtung und an dialektische Asymmetrie ausdrückt, als adäquat erscheinen. In der Sinnsuche mit potentieller Sinnkrise ist als Erfahrung von Negativität die Erfahrung von Ungewissheit und Risiko, aber auch die Erfahrung einer Dialektik bezüglich der Asymmetrie, enthalten. Denn Negativität kann, wie Benner hervorhebt, gleichermaßen die Erfahrung der erziehenden Person wie der zu erziehenden Person prägen. Selbständig werden, d. h. sich von signifikanten Erwachsenen abzulösen, ist schmerzhaft. In Taylors Darstellung der signifikanten Horizonte scheint ein eventuelles Durchschreiten derselben unumgehbar einem Eintritt in eine gähnende (und schmerzhafte) Leere gleichzukommen. In einer pluralistischen Gesellschaft kann ein Durchschreiten der Horizonte aber gleichbedeutend mit einem Engagement in anderen Zusammenhängen sein. Wie Meyers’ Autonomiekonzept in Bezug auf Intersektionalität deutlich macht, handelt es sich bei Autonomie auch um einen vielfältigen Bezug auf verschiedene, konkurrierende relationale Bezüge. 96 Es wird bei Taylor ebenfalls deutlich, dass Autonomie eine großflächige Zielvorstellung darstellt. Sie ist nicht klar abgrenzbar und es kann nicht eindeutig festgestellt werden, ob oder wann die Zielvorstel96

Siehe die Besprechung von Meyers in diesem Kapitel.

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lung erreicht ist. Anders als in MacIntyres Sichtweise geht es nicht um ein Nacheinander von erster und zweiter Dependenz, sondern um Sinnsuche als relational bedingte Auseinandersetzung mit wertenden Horizonten. Taylor zeichnet dabei kein vorbestimmtes Ziel, welches als normierend zu gelten hat. Gerade darin ist die Großflächigkeit einer Zielvorstellung Autonomie in Relationalität gemäß seinem Verständnis begründet. Dies soll hier kurz im Rückgriff auf die oben beschriebene Unterscheidung einer Repräsentationssichtweise und einer Sinnsichtweise bezüglich des Subjektverständnisses dargelegt werden. Wenn Erziehung als Bemühung und mit Zielvorstellung Autonomie im Zusammenhang mit einer Repräsentationssichtweise betrachtet wird, sind dabei in erster Linie kognitive (oder metakognitive) 97 Fähigkeiten angesprochen. Es geht hauptsächlich um ein Streben nach Kontrolle ›innerhalb‹ des Individuums. Eine Sinnsichtweise wirkt sich auf Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie als Herausforderung zu einer umfangreicheren Aufgabe aus. Wenn Sinn, wie bei Taylor dargelegt, sich nicht nur kognitiv auffassen lässt, sondern auch relational artikuliert ist, bedingt eine Zielvorstellung Autonomie im Rahmen einer Sinnsuche und als Sinnkrise Ungewissheit. Richtung als Anspruch stellt sich auch in Bezug auf eine solche Zielvorstellung für Erziehung sich als riskant dar. Es geht, wie Taylor festhält, in einer Sinnsichtweise um ein »unperfektes Verstehen«. Die pädagogische Bemühung um Autonomie bedingt im Zusammenhang mit einer Sinnsichtweise somit eine fortlaufende und ungewisse oder riskante Auseinandersetzung mit einer Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten. Die vom Individuum vorgefundenen und nur bedingt durchlässigen Horizonte formen, wenn sie pluralistisch als relational artikulierte und kulturell tradierte Wertesysteme verstanden werden, keinen Hintergrund, vor welchem sich das Individuum abzeichnet. Das Individuum wird bei Taylor aufgrund seiner selbstbestimmenden Sinnsuche vielmehr als an den relational konstituierten, signifikanten Horizonten teilhabend dargestellt. Erziehung als Anspruch an Asymmetrie reflektiert diese relationale Bedingtheit insofern auf angemessene oder legitime Weise, als sie sich als dialektisch darstellt. Erziehende und zu erziehende Person begegnen sich als bezüglich der großflächigen Zielvorstellung gleichermaßen in eine – zum Teil schmerzhafte – Auseinandersetzung mit wertenden Horizonten verwickelt. Selbst wenn 97

Siehe Levinsson, 2008 sowie die Ausführungen dazu in Kapitel 6.

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anzunehmen ist, dass eine Inanspruchnahme von Differenz diesbezüglich seitens der erziehenden Person sich auf längere Erfahrung und damit auf eine ›reifere‹ Identität innerhalb signifikanter Horizonte berufen kann, so ist ebenfalls anzunehmen, dass diese Sinnsuche nie beendet ist und somit auch die erziehende Person davon geprägt ist. Im Dialog zwischen Kindern und Erwachsenen werden Horizonte auch für die erziehende Person neu abgesteckt. Insofern als die erziehende Person ebenso von den Horizonten abhängig und durch sie begrenzt ist, ist legitimerweise beanspruchbare Asymmetrie dialektisch. In der zu Anfang des Kapitels erwähnten pädagogischen Praxis in schwedischen Grundschulen, einen Vertrag zu individuellen Studienoder Entwicklungszielen des Schülers zu errichten, gestaltet sich eine Relationalität, in welcher sich Asymmetrie als dialektisch beansprucht darstellt. Die Situation des Schüler-Eltern-Lehrer-Gesprächs, welches von offensichtlichen Differenzen sowohl in Bezug auf Wissen und Fähigkeiten wie auch in Bezug auf Macht respektive Abhängigkeit gekennzeichnet ist, steht im Kontrast zu einem Vertrag, da ein solcher gleichgestellte Parteien voraussetzt. Durch die Intention, Schülern trotz offensichtlicher Differenzen auf diese Weise gewisse Autonomie anzuerkennen oder zuzuschreiben, wird Asymmetrie als Anspruch dialektisch. Die Frage ist, inwiefern dies glaubwürdig artikulierbar ist. Die pädagogische Bedeutung eines solchen Vertrages in Bezug auf eine Zielvorstellung Autonomie in Relationalität ist mehrdeutig. Einerseits erwirkt der Vertag in der Situation des Schüler-Eltern-LehrerGesprächs eine nur scheinbare Symmetrie. Diese kann als kränkende Farce erlebt werden, denn es ist nicht nur die tatsächliche Gleichstellung, sondern auch die Bedingung beidseitiger Freiwilligkeit, welche von einem Vertrag verlangt wäre, zu bezweifeln. Andererseits kann der Vertrag ausgehend von Taylors Autonomieverständnis als kontrafaktische Antizipierung einer angestrebten Relationalität mit Aspekten von Gleichstellung und Autonomie betrachtet werden. Anhand von Taylors Begrifflichkeit erscheint die Problematik der scheinbaren Symmetrie dann in einem anderen Licht. Wenn Autonomie sich als Sinnsuche und Sinnkrise innerhalb orientierender Horizonte ausdrückt, besteht zwischen Vorgefundenem und Selbstbestimmtem nicht unbedingt ein Widerspruch. Selbstbestimmung setzt bei Taylor eine Auseinandersetzung und ein Umgang mit sinnstiftenden Horizonten als wertende Dependenz voraus. Taylor betont sogar, dass diese Orientierung an vorgefundenen Sinnzusammenhängen für das Wohl des 289 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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(selbstbestimmten) Individuums eine notwendige Voraussetzung darstellt. Somit wäre ein Vertrag interpretierbar als Beispiel einer Erziehungssituation, in welcher sich eine Relationalität artikuliert, die Horizonte zur Verfügung stellt und sich zugleich oder dadurch um Autonomie bemüht. Insofern als der Vertrag einen Sinnzusammenhang, in welchem der Wert autonomer und gleichgestellter Interaktion hervorgehoben wird, darstellt, drückt sich darin auf kontrafaktische Weise Autonomie in Relationalität aus. Ein solcher Vertrag kann also unter Beizug von Taylors Autonomieverständnis als Ansatz zu Erziehung in Autonomie gedeutet werden, da er, Autonomie und damit assoziierte Werte antizipierend, einen Sinnzusammenhang bereitstellt, an welchem sich das Individuum orientieren kann. Insofern als Autonomie sich (vorerst kontrafaktisch) darin nicht nur als entfernte Zielvorstellung anbietet, sondern bereits die Erziehungssituation prägt, könnte somit ein Vertrag dieser Art hinsichtlich einer Zielvorstellung Autonomie in Relationalität durchaus als adäquate Erziehungssituation betrachtet werden.

5.4 Relational autonomy 5.4.1 Autonomie als konstituiert in sozialen Beziehungen (Oshana) Wie bereits im Einleitungskapitel in Kürze dargestellt, definiert Oshanas Konzept relationaler Autonomie jene Personen als autonom, die über ihre Entscheidungen, ihre Handlungen und über den eigenen Willen faktische Kontrolle haben. 98 Diese faktische Selbstkontrolle ist Oshana, 2006, 3–4; 2003, 101. Oshana begründet ihr Autonomiekonzept unter anderem damit, dass es einer verbreiteten intuitiven Auffassung davon, was Autonomie darstellt, gleichkomme. Ihre Intention ist es, Autonomie philosophisch in Entsprechung mit einem »commonplace« Verständnis von Autonomie zu konzeptualisieren. Sie beruft sich dabei auch auf intuitiv ansprechende Auffassungen. (Oshana, 2006, 12) Damit erhält die Annahme von Intuition als grundlegendes und verbreitetes Verständnis eines Phänomens in einer philosophischen Bearbeitung eines Begriffs normierende Funktion. Dies ist nicht nur darum problematisch, weil diese normierende Funktion von Intuition nicht ausreichend begründet wird, sondern auch weil der Begriff der Intuition ungeklärt verbleibt. Während also nicht klar ist, warum einer allgemein verbreiteten Auffassung den Vorzug gegeben werden soll, ist auch nicht klar, worin eine solche – oft nur implizit artikulierbare – Auffassung besteht.

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für Oshana daran erkennbar, dass der autonomen Person von jenen Personen, auf welche sie relational bezogen ist, Autonomie zugestanden wird. 99 Autonom ist eine Person insofern, als sie von ihrer sozialen Umgebung als autonome Person betrachtet und als solche behandelt wird. Nur wenn jemandem die faktische Möglichkeit gegeben wird, selbstbestimmt Urteile zu fällen und gemäß diesen zu handeln, ist die Person als autonom zu betrachten. Damit werden in Oshanas Konzept »äußere« Bedingungen zum entscheidenden Kriterium für Autonomie. Dies ist in ihrer Kritik an Autonomiekonzepten, welche Autonomie anhand eines Authentizitätskriteriums als bedingt durch »innere« Qualitäten fassen, begründet. 100 Oshana schreibt: »Autonomy is not decided ›from within‹ (…). External criteria constitute autonomy and external criteria measure autonomy.« 101 Diese sehr weitgehende relationale Bestimmung von Autonomie ist bei Oshana nicht durchgehend ausschließlich formuliert. Ihr Autonomiekonzept erscheint durchaus auch Bedingungen innerer Qualitäten zu umfassen. Allerdings kommt sie immer wieder darauf zurück, dass den relationalen Bedingungen eine entscheidende Funktion für Autonomie zukommt. Sie formuliert ein Autonomiekonzept, welches sie als »sozial-relationales Phänomen« versteht. Oshana definiert die Bedeutung relationaler Bedingungen folgendermaßen: »Autonomy is a condition of persons constituted in large part by the social relations people find themselves in and by the absence of other social relations. Autonomy is not a phenomenon merely enhanced or lessened by the contingencies of a person’s social situation; social relations do not just causally facilitate or impair the exercise of autonomy. Rather, appropriate social relations form an inherent part of what it means to be self-directed.« 102

Es wird hier deutlich, dass Oshana Autonomie als auf entscheidende Weise in Relationalität bestimmt betrachtet. Wenn die Bedingung, dass eine Person von Anderen als autonome Person behandelt wird, nicht erfüllt ist, dann ist diese Person gemäß Oshana nicht autonom. Anderenorts hebt sie aber auch eine Bestimmung von Autonomie anhand ›innerer‹ Voraussetzungen der entsprechenden Person hervor. Sie Oshana, 2006, 95 Wie etwa Ekstroms oder Seels Autonomieverständnisse, welche im nächsten Kapitel besprochen werden. 101 Oshana, 2006, 50 102 Oshana, 2006, 49 (meine Kursivierung) 99

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identifiziert eine Kapazität zur Autonomie als notwendige Bedingung faktischer Selbstbestimmung. Diese Kapazität ist gemäß Oshana abhängig von gewissen psychologischen Eigenschaften und einer Erfahrungsgeschichte. Es geht ihr um ein »Minimum an Qualitäten«, welche sie als kognitive Fähigkeiten und entwickelte Werte (»a developed set of values«) definiert. Oshana betont hier außerdem, dass diese Voraussetzung einer ›inneren‹ Kapazität Autonomie zu einem gradierbaren Phänomen macht. 103 In Oshanas konstruierten Fallbeispielen wird deutlich, dass die externen, relationalen Kriterien für die Beurteilung der Frage, ob eine Person als autonom zu betrachten sei, entscheidend sind. So ist beispielsweise die sich freiwillig und bedingungslos dem Willen ihres Gatten unterordnende »Hausfrau Harriet« gemäß Oshana nicht als autonom zu betrachten, weil sie in dem Beziehungsnetz, in welchem sie lebt, nicht als autonome Person behandelt wird. Daran ändert auch nicht der Umstand, dass Harriet ihre Situation selbst gewünscht und gewählt hat. 104 Während also ›innere‹ Voraussetzungen und ›äußere‹ relationale Bedingungen bei Oshana zugleich notwendige Bedingungen für Autonomie sind, wird anhand ihres Fallbeispieles deutlich, dass hinsichtlich Autonomie keine der beiden Bedingungen alleinig hinreichende Bedingung ist. Oshana betont in ihren Ausführungen besonders, ›innere‹ Bedingungen freier Wahl in Entsprechung des eigenen Willens seien nicht ausreichend, um Autonomie zu konstituieren. Es geht ihr darum, dass eine Person, selbst wenn sie über die ›innere‹ 103 Oshana, 2003, 101–102, 2006, 4. Diesen Aspekt der Gradierbarkeit erwähnt Oshana, ohne auf die Konsequenzen derselben näher einzugehen. Hinsichtlich der Frage, ob Autonomie als gradierbares Phänomen zu verstehen ist, scheint Oshana ausgehend von der Bedingung ›innerer‹ Qualitäten und den relationalen Bedingungen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen zu kommen. Gerade in den Ausführungen zu den Fallbeispielen erweckt Oshana mit ihrer Argumentation den Eindruck, dass sie Autonomie nicht als gradierbar betrachtet. Diese etwas widersprüchlichen Aussagen sind möglicherweise verständlicher, wenn sie vor dem Hintergrund von Oshanas Unterscheidung zwischen »global autonomy« und »local autonomy« betrachtet werden. Während »lokale Autonomie« den Charakter einer einzelnen Handlung in einer partikularen Situation darstellt und Autonomie eher als Grund für Zurechnungsfähigkeit oder für moralische Verantwortlichkeit zu verstehen ist, bezeichnet »globale Autonomie« ein allgemeines Phänomen, anhand dessen die generellen Bedingungen für Autonomie erkenntlich sind. In ihrem Buch Personal Autonomy in Society beschäftigt sich Oshana vor allem mit »globaler Autonomie«. (Oshana, 2003, 100; 2006, 2) 104 Oshana, 2006, 57–60. Siehe auch Oshana, 2003, 102–107.

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Kapazität zu Autonomie verfügt, nur insofern tatsächlich autonom ist, als sie auch die Möglichkeit hat, ihre Autonomie auszuüben. Indem Oshana die faktische Möglichkeit zur Ausübung von Autonomie zu einem bedingenden Kriterium ernennt, macht sie ein relational bedingtes Zugeständnis von Autonomie an die autonome Person zur notwendigen Bedingung von Autonomie. Autonomie einer Person muss sich also anhand einer Wahlfreiheit, die sich als eine reale Möglichkeit darstellt, manifestieren: »(…) choices must be socially, politically, and economically within his or her reach.« 105 Die Frage ob oder inwiefern dies bedeutet, dass soziale Beziehungen für das autonome Subjekt konstitutiv und für Autonomie bedingend sind, ist bei Oshana trotz der Rolle, die in ihrer Konzeptualisierung Autonomie als ›innere‹ Kapazität spielt, als weitgehend bejahend zu beantworten. 106 Ihr Konzept von Autonomie resultiert in einer Sichtweise, die (mit Mackenzies und Stoljars Bezeichnung) als konstitutiv relationales Autonomiekonzept gelten müsste. Relationale Bedingungen haben insofern eine konstitutive Funktion für Autonomie als sie eine notwendige Voraussetzung für Autonomie darstellen. Oshanas Sichtweise liegt eine Intention zugrunde, ein intuitiv ansprechendes Konzept von Autonomie vorzulegen. Damit zusammenhängend ist auch eine Intention, Autonomie als in Realität verankert zu verstehen. Das sind anerkennenswerte Absichten, die angesichts der Trivialisierung von Dependenz, wie es im Zusammenhang mit Kants Autonomieverständnis gezeigt wurde, durchaus Plausibilität aufweiOshana, 2003, 101–102, 104 (meine Kursivierung) Ein möglicher Einwand gegenüber einer solchen Interpretation wäre, dass Kriterien, anhand welcher die Vorkommnis von Autonomie festgestellt wird, nicht mit definitorischen Aspekten zur Bestimmung von Autonomie zu verwechseln sind. Demgemäß wären ›äußere‹, relationale Bedingungen Kriterien zur Beurteilung von Autonomie, während ›innere‹ Fähigkeiten definitorische Bestimmung von Autonomie als Selbstbestimmung darstellen. Die hier vertretene Interpretation, dass eine relationale Bedingung (als Zugeständnis von Autonomie an eine Person) bei Oshana konstitutive und definitorische Funktion hat, beruft sich auf Formulierungen wie die oben zitierten, wo Oshana relationale Bedingungen zu konstitutiven und damit definitorischen Aspekten von Autonomie macht. Möglicherweise ist darin ein Schwachpunkt in ihrem Autonomieverständnis begründet. Sie unterscheidet nämlich im Zusammenhang mit ihrem Konzept zu »personal autonomy« nur undeutlich zwischen Kriterien und definitorischen Aspekten. Allerdings verleiht gerade die Aufwertung der Bedeutung relationaler Bedingungen zu einer definitorischen Funktion ihrem Konzept jenen speziellen Stellenwert, der hier als provozierend aber auch interessant hervorgehoben wird. 105 106

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sen. Allerdings sind in dieser Intention zwei problematische Aspekte von Oshanas Autonomiekonzept begründet. Wenn Relationalität für Autonomie eine notwendige Voraussetzung ist, d. h. wenn eine Person nur insofern autonom ist, als sie über eine Bedingung ›innerer‹ Voraussetzungen oder Fähigkeiten hinaus in ihrem Beziehungsnetz als autonome Person behandelt wird, dann könnte Oshana – anhand ihrer eigenen Begründungsweise – erstens entgegnet werden, ihr Autonomieverständnis sei kontraintuitiv. Dies ist im Umstand begründet, dass sie dem Willen der Person eine entscheidende Bedeutung hinsichtlich derer eigener Autonomie abspricht. Dass »Harriet« ihre Wahl für ein Leben in Abhängigkeit von ihrem Mann wünscht und gewählt hat, spielt keine Rolle. Sie ist gemäß Oshana nicht als autonome Person zu betrachten. Selbst wenn dem konstruierten Beispiel ein Hauch philosophischer Vereinfachung anhaftet und gefragt werden müsste, inwiefern die biographischen und kulturellen Umstände tatsächlich eine ›freie‹ Entscheidung bedingt hätten, müsste ebenso gefragt werden, warum die Wahl eines Lebens in Fremdbestimmung nicht die Entscheidung einer autonomen Person sein könnte. Es ist zweitens schwierig, anhand von Oshanas Autonomiekonzept zu erklären, warum relationale Umstände, die Personen ihrer Freiheit und Autonomie berauben, ›autonome‹ Handlungen 107 nicht immer unbedingt verhindern. Gemäß Oshanas Darstellung bedeutet Autonomie in Relationalität, dass autonom ist, wer – über gewisse ›innere‹ Fähigkeiten hinaus – von Anderen als autonome Person behandelt wird. Insofern als Autonomie auf diese Weise in Relationalität verstanden wird und das relationale Umfeld einer autonomen Person auf konstitutive Art umfasst, ist Autonomie in Verschränkung mit Dependenz (als ausgedrückt in Relationalität) dargestellt. Zugleich scheint aber aufgrund dieser konstitutiven Funktion von Relationalität in Oshanas Autonomiekonzept Autonomie auch als Gegenüber zu Dependenz, d. h. als Kapazität gegenüber sozialer Kontrolle, hervorzutreten. Wenn Autonomie die Abwesenheit von Beziehungen voraussetzt, in welchen eine Person als fremdbestimmt behandelt wird, dann entsteht ein Bild von Autonomie als definiert in einem scharfen Kontrast zu Dependenz. Auf diese Problematik, d. h. die Frage nach der Bedeutung hinderlicher oder unterdrückender relationaler Bezüge für Auto-

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›Autonom‹ sind diese gemäß Oshanas Sichtweise natürlich per Definition nicht.

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nomie in Relationalität, geht Meyers in ihrer Sichtweise zu Autonomie ein.

5.4.2 Autonomie als authentische intersektionale Identität (Meyers) Meyers interessiert sich aus einer feministischen Perspektive dafür, Autonomie von als realistisch erlebten Bedingungen her zu verstehen. Sie geht aus von Kontexten, die von komplexen und teilweise unterdrückenden Strukturen geprägt sind und fragt, inwiefern Autonomie, als relational bedingtes Phänomen darin konstituiert sein kann. »The reality I propose to inject into my discussion of autonomy is the fact that enormous numbers of people are assigned to social groups that are systematically subordinated. The wonder is that despite this subordination, some of these individuals are exemplars of autonomy, and few of them altogether lack autonomy.« 108

Meyers nuanciert und problematisiert dabei die Annahme, Autonomie sei anhand des Begriffes intersektionale Identität als Funktion relationaler Bezüge zu verstehen. 109 Indem sie Autonomie in Bezug auf intersektionale Identität zu bestimmen versucht, identifiziert sie intersektionale Identität als ambivalent. Sie ist für Autonomie sowohl hinderlich (»barriers and obstacles«) wie auch begünstigend. Indem sie intersektionale Identität als für Autonomie hinderlich beschreibt, bestimmt sie Autonomie als Gegenüber zu jener Dependenz, die hier als intersektionale Identität auftritt. Indem sie intersektionale Identität als Autonomie begünstigend bezeichnet, hebt sie aber auch eine Betrachtungsweise hervor, welche Autonomie als integriert in Dependenz (als intersektionale Identität) bestimmt. Als Barrieren oder Hindernisse bezeichnet Meyers vor allem zwei Aspekte intersektionaler Identität. Ein erster, für Autonomie hinderlicher Aspekt intersektionaler Identität besteht im Umstand, dass das Meyers, 2000, 152 Mit dem Begriff intersektionale Identität knüpft Meyers an die Auffassung an, Identität sei von sozialer Erfahrung abhängig. Kategorisierungen anhand von Begriffen wie beispielsweise Genus, sexuelle Orientierung, Klasse und ethnische Zugehörigkeit funktionieren dabei als interagierende und multiple identitätsgründende Zuschreibungen. Assoziiert mit diesen Zuschreibungen sind außerdem unter- und überordnende Systeme, welche das Verhältnis zwischen den Zuschreibungen bestimmen. (Meyers, 2000, 153) 108 109

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Selbst in seiner Selbstbestimmung ›opak‹ erscheint. Wenn das Selbst nicht einheitlich, sondern komplex und eventuell fragmentarisch zusammengesetzt ist, dann wird nicht so leicht ersichtlich, worin Selbstbestimmung bestehen könnte. 110 Daraus resultieren widersprüchliche Verständnisse des Selbst (»conflicting self-understandnings«). Der zweite Umstand liegt darin begründet, dass intersektionale Identität aus Zuschreibung von Gruppenzugehörigkeiten besteht. Diese Zuschreibungen enthalten normative Vorschriften zu Persönlichkeitstypen und Verhaltensregeln. Für das Individuum kann dies zu unbequemen Fremdbestimmungen führen. Meyers schreibt: »codetermination unsettles«. 111 Wenn intersektionale Identität auf diese Weise als Hindernis für Autonomie dargestellt wird, dann entsteht ein Bild von Autonomie als Gegenüber zu Dependenz. Letztere wird in diesem Zusammenhang als Ausdruck intersektionaler Identität verstanden. Insbesondere die identitätsgründende Zuschreibung von Gruppenzugehörigkeiten kann auf diese Weise als der Selbstbestimmung entgegenwirkend verstanden werden. 112 Meyers hebt aber auch Aspekte intersektionaler Identität hervor, welche sie als Autonomie begünstigend oder konstituierend betrachtet. 113 Dabei entsteht ein Autonomiekonzept, welches Autonomie als integriert in Dependenz versteht. Grundlegend ist Meyers’ Verständnis von Authentizität, welches sie als für Autonomie zentral betrachtet. Indem sie Authentizität sowohl als ›innere‹ Qualität eines ›wahren Selbst‹ als auch als Ausdruck sozialer Akzeptanz betrachtet, situiert sie den Begriff der Authentizität (als grundlegende Komponente von Autonomie) in einem Verständnis des Selbst als bestimmt durch psychische und relationale Faktoren. Authentizität, so Meyers, bezeichnet 110 Wie das Selbst als authentisches Selbst in Bezug auf Autonomie zu verstehen ist, wird anhand der Konzepte Ekstroms und Seels im nächsten Kapitel näher besprochen. 111 Meyers, 2000, 156–157 112 Appiah spricht von »kollektiven Identitäten«, die als normierende »Manuskripte« zu Geschichten zu verstehen sind. Diesen Geschichten soll das Individuum entsprechen. »The story – my story – should cohere in the way appropriate by the standards made available in my culture to a person of my identity.« (Appiah, 1994, 160) 113 Dieser weitgehenden Behauptung liegt auch ein Hinweis auf feministische Annahmen eines epistemologischen Vorsprungs unterdrückter Gruppen in der Gesellschaft zugrunde. Unterdrückung (als Ausdruck starker Dependenz) begünstigt demgemäß Autonomie. (Meyers, 2000, 162) Man könnte hinsichtlich der Autonomie von einem Katalysatoreffekt der Unterdrückung sprechen. Dieser radikale Standpunkt wird von Meyers aber weder ausführlich begründet noch näher ausgeführt.

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nicht nur den Umstand, dass gewisse Präferenzen als »wirklich meine eigenen« aufgefasst werden, sondern auch, dass Authentizität »innerhalb der Grenzen des sozial Akzeptierten« fällt. Es muss demgemäß also als sozial erwünscht gelten, in Entsprechung seines »wahren Selbst« zu handeln. Authentizität wird als normativ gut betrachtet, indem »authentische Wünsche als moralisch glaubwürdig« gelten. »One’s authentic self points to a way of living that is both distinctively one’s own and socially decent.« 114 Diese Verankerung des authentischen Selbst in relationalen Gefügen und sozialer Normativität ist auf einer prinzipiellen Ebene nachvollziehbar. Gelungene Interaktion und Kommunikation setzt bei den Teilnehmern in gewissem Ausmaß ›Echtheit‹ voraus und ist darum sozial wünschenswert. Auf einer grundlegenderen Ebene jedoch, ist Meyers’ Aussage nicht unbedingt plausibel. Je nach dem wie ein sozialer Kontext ausgeformt ist, braucht Authentizität des Individuums nicht den Erwartungen des sozialen Kontexts zu entsprechen. Wenn Authentizität stark abweichende Stellungnahmen bedingt, dann ist unklar, ob sie sich als sozial wünschenswert erweist. Gerade wenn eine intersektionale Identität der Authentizität zugrunde liegt müsste mit Friktionen gerechnet werden. Meyers’ Thesen zu Autonomie als intersektionale Identität umfassen auch Annahmen zu Autonomie als Kompetenz, anhand welcher ihr Verständnis von Autonomie als in Relationalität integriert hervortritt. Dabei entsteht ein Verständnis von Autonomie als »authentische intersektionale Identität«. Indem Authentizität und Autonomie von einer brüchigen und vielfältigen Identität, wie es im Bezug auf verschiedene soziale Zugehörigkeiten zum Ausdruck kommt, abhängig sind, entsteht ein heterogenes Selbst. Dieses wird in Bezug auf Selbstbestimmung zur Herausforderung. Meyers’ Autonomiekonzept kann so als Versuch verstanden werden, ›innere‹ und ›äußere‹ Faktoren von Dependenz in Verbindung miteinander zu betrachten. Sie definiert Autonomie als Kompetenz, welche Authentizität an soziale oder relationale Bedingungen knüpft, ohne sie davon in einer vereinfachenden Weise kausal abhängig zu machen. Meyers definiert Autonomie als Authentizität. Dies darf aber nicht wie bei Frankfurt als Ausdruck einer hierarchischen, ›inneren‹

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Ordnung verschiedener Aspekte der Identität verstanden werden. 115 Vielmehr ist Authentizität (als Komponente von Autonomie) bei Meyers’ Ausdruck einer kritisch analysierenden Verknüpfung sozialer und psychischer Faktoren. Meyers will bei der Bestimmung von Authentizität, statt auf ›innere‹ Ordnung auf den »Prozess der Konstitution des authentischen Selbst« fokussieren. Somit muss das authentische Selbst verstanden werden als »the collocation of attributes that emerges as an individual exercises self-discovery and self-definition skills«. Vor dem Hintergrund intersektionaler Identität fällt dieser Prozess, in welchem sich Authentizität und Autonomie konstituieren, als Kompetenz mit folgenden Fähigkeiten auf: eine Fähigkeit zu kritischer Analyse der eigenen Position in sozialen Strukturen; eine Fähigkeit zur Interpretation psychischer Effekte sozialer Erfahrungen; sowie eine Fähigkeit, eigene Identitäten als Mitglied sozialer Gruppen zu gestalten und umzugestalten. 116 Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Autonomie für Meyers nicht nur kognitive, nach ›innen‹ gerichtete Fähigkeiten umfasst. In ein Autonomieverständnis müssen auch kommunikative und interpersonale Fähigkeiten einbezogen werden. Aber auch die nach ›innen‹ gerichteten Fähigkeiten der Selbstbestimmung und der SelbstEntdeckung sind bei Meyers (anhand der intersektionalen Identität) als Entdeckung des Selbst seiner relationalen Konstitution beschrieben. 117 Ein kritisches Selbstbewusstsein der eigenen intersektionalen Identität gegenüber bildet für Meyers darum nicht einfach einen Ausgangspunkt für Autonomie, sondern es formt sich darin ein notwendiger Weg, welchen autonome Personen begehen müssen. 118 Es ist weiter von zentraler Bedeutung für Meyers’ Verständnis von Autonomie, dass Authentizität für Autonomie keine Voraussetzung ist. Vielmehr folgt Authentizität aus Autonomie. 119 Diese Sichtweise illustriert erneut, dass Autonomie nicht (primär) anhand innerer 115 Siehe dazu die Besprechung von Frankfurts Konzept von Authentizität, sowie Ekstroms Weiterentwicklung desselben in Kapitel 6. 116 Meyers, 2000, 154 117 Meyers, 2000, 166, 173. Nach ›innen‹ gerichtete Fähigkeiten sind: introspective skills, imaginative skills, memory skills, analytical and reasoning skills und volitional skills. Relational ausgerichtete Fähigkeiten sind communication skills und interpersonal skills. 118 Meyers, 2000, 159 119 Damit steht Meyers’ Verständnis des Zusammenhanges zwischen Autonomie und Authentizität in Kontrast zu jenen Authentizitätsverständnissen von Autonomie, wie sie im nächsten Kapitel besprochen werden. Insbesondere bei Ekstrom wird deutlich,

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Fähigkeiten oder Eigenschaften, sondern anhand relationaler Faktoren definiert wird. »It is a mistake to conflate authenticity with personal integration as a state the person must achieve as a precondition for autonomy. Instead, we should understand personal integration as the emergent intelligibility of an individual’s autonomous self-discovery and self-definition. (…) By exercising autonomy skills (…) people take charge of their identity and gain authenticity.« 120

Meyers beschreibt die ambivalente Funktion von Relationalität für Autonomie anhand intersektionaler Identität und bezogen auf Strukturen, welche Genus bestimmen. Einerseits verstärken sich darin oft traditionelle, geschlechtsbezogene Erwartungen und Abhängigkeiten. Andererseits entstehen darin Spannungsverhältnisse, welche individuelle Reflexion fördern und damit Autonomie ermöglichen. »What I am suggesting is that intersectional identity both reinforces conventional gender expectations and affords opportunities to reassess these norms. (…) Most important, perhaps, the tensions between the different dimensions of intersectional identity introduce a wedge of optionality that authorizes individualized reflection and choice.« 121

Unterdrückende Strukturen können also gemäß Meyers auch als Autonomie begünstigend gedeutet werden. Zumindest können unterdrückende Strukturen Autonomie nicht unbedingt verhindern. 122 Dies ist ein Hinweis darauf, dass sich Autonomie bei Meyers weder als eindeutig kausal relationales Konzept noch als eindeutig konstitutiv relationales Konzept darstellt. Es geht Meyers nicht um eine rein kausale Beziehung zwischen Relationalität und Person. Es geht ihr auch nicht darum, Autonomie als ausschließlich in Relationalität konstituiert zu definieren. Intersektionale Identität verfeinert die Beziehung zwischen Relationalität und Autonomie. Sie kann nicht auf einfache Kausalität reduziert werden, und sie kann nicht als in einem kausalen Sinne konstitutiv bezeichnet werden. Vielmehr dreht es sich um Bedingungen, die Autonomie von der Komplexität intersektionaler Identität insofern abhängig machen, als diese sich hinderlich oder begünstigend auf Autonomie auswirkt. Indem intersektionale Identität Ausdruck relationadass für sie Authentizität (als Kohärenz des ›wahren Selbst‹ definiert) konstituierende Voraussetzung ist für Autonomie. Siehe Kapitel 6. 120 Meyers, 2000, 172 121 Meyers, 2000, 164 122 Meyers, 2000, 152

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ler Bezüge ist, und indem darin Authentizität als zentrale Komponente von Autonomie bedingt ist, kann bezüglich Meyers’ Ausführungen festgehalten werden, dass Autonomie in Relationalität zu verstehen ist. Autonomie als authentische intersektionale Identität entsteht im relationalen Kontext, wobei sie in diesem sowohl gehindert wie begünstigt wird.

5.4.3 Relational autonomy als moralpädagogische Zielvorstellung Kann zu relationaler Autonomie erzogen werden? Wenn ja, wie gestaltet sich Erziehung und wie kann sie legitimiert werden? Wenn Autonomie nicht oder nur bedingt vom eigenen Willen und von kognitiven Fähigkeiten als der Kapazität zu Autonomie abhängt, wie kann sie als moralpädagogische Zielvorstellung gelten? Wenn die Autonomie einer Person, wie in Oshanas Konzept, abhängig ist von Beziehungen, in welchen die Person lebt, dann müsste Erziehung zu Autonomie nicht nur auf Fähigkeiten der zu erziehenden Person selber ausgerichtet sein. Im Fall von Oshanas konstitutiv relationalem Autonomiekonzept drängt sich Erziehung zu Autonomie auch als indirekte Erziehung auf. Eine solche müsste berücksichtigen, dass autonom nicht nur ist, wer gewisse Fähigkeiten zur Selbstbestimmung hat, sondern auch wer als autonome Person behandelt wird. Erziehung zu Autonomie müsste somit eine Zielvorstellung umfassen, die sich in ihrer Ausrichtung auf eine zweifache Weise ausdrückt. Sie wäre einerseits als ausgerichtet auf ›eigene‹ Kapazitäten, andererseits als ausgerichtet auf ein Zugeständnis an Andere zu verstehen. Wenn Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung angestrebt werden soll, dann müsste sich eine solche Bemühung auch auf andere Personen ausrichten. Es ginge bei Erziehung nicht nur um die erziehende und die zu erziehende Person, sondern auch um ›Drittpersonen‹ auf welche diese in Relationalität bezogen sind. Die Zielvorstellung Autonomie in Relationalität zu umfassen, käme also einer Verpflichtung gleich, Andere (also auch ›Drittpersonen‹) als autonome Personen zu behandeln. Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie wäre demgemäß nicht nur auf eine Bemühung um ›eigene‹ Kapazitäten ausgerichtet, sondern wäre auch Erziehung zu einer generellen Bereitwilligkeit zu einem relational bedingten Zugeständnis gegenüber Anderen. Autonomie ist insofern konstitutiv relational, als sie dadurch 300 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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zum Ausdruck kommt, dass Personen andere als autonome Personen anzuerkennen und zu behandeln bereit sind. Eine Zielvorstellung Autonomie würde sich demgemäß nicht nur auf Fähigkeiten der eigenen Selbstbestimmung ausrichten, sondern auch darauf, die Selbstbestimmung Anderer zu respektieren und den Wert derselben zu erkennen. Ein Vertrag, wie er im Zusammenhang mit individuellen Lernzielen geschrieben wird, hebt diese zweifache Ausrichtung von Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie hervor. Unter der Voraussetzung, dass ein gewisses (notwendigerweise aber auch limitiertes) Maß an Freiwilligkeit und Symmetrie die Beziehung zwischen den sich im Vertrag gemeinsam verpflichtenden Parteien kennzeichnet, impliziert eine Unterschrift sowohl die eigene Selbstbestimmung wie auch ein entsprechendes Zugeständnis an die andere Person. Gerade wenn ein solches Zugeständnis für die faktische Möglichkeit zu Autonomie auch eine konstitutiv bedingende Funktion zukommt, sind die scheinbare Symmetrie und die scheinbare Freiwilligkeit, die einen Vertrag in der Schule kennzeichnen, aber problematisch. Wenn Schüler nicht wirklich die Möglichkeit haben, die Bedingungen eines Vertrags mitzubestimmen, dann wird ihnen ein Zugeständnis von Autonomie unter dem Vorwand eines Scheinvertrags aberkannt. Wenn der Vertrag allerdings, wie oben im Zusammenhang mit Taylor angesprochen, als Mittel zur kontrafaktischen Annahme von Gleichstellung und Freiwilligkeit betrachtet wird und dabei mit einer Bemühung um Autonomie in Relationalität assoziiert ist, dann erscheint dies als pädagogische Praxis, trotz der darin enthaltenen ethischen Problematik, eher als plausibel. In einer Sichtweise zu Autonomie, welche ein Zugeständnis von Autonomie an die andere Person als wesentliches Kriterium für Autonomie betont, finden sich, insbesondere in deren pädagogischen Konsequenzen, Parallelen zu Kants gebotener Autonomie. Diese verlangt ebenfalls Respekt gegenüber autonomen Personen. Habermas’ Autonomieverständnis als gegenseitige kommunikative Gewährleistung greift, wie im vorhergehenden Kapitel dargelegt wurde, diese Bedingung auf. Pädagogisch bedeutet bei Beiden Erziehung zu Autonomie im weitesten Sinne Erziehung unter dem Vorzeichen von Respekt gegenüber dem Anderen. Bei Habermas konstituiert sich aber, im Unterschied zu Oshana, in der gegenseitigen Gewährleistung nicht nur die Autonomie des Anderen, sondern – in erster Linie – die eigene Autonomie. Bei Habermas bedeutet Autonomie (auf kantische Weise an ein grundlegendes Prinzip des Respekts gebunden), Selbstbestimmung 301 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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unter der Prämisse des Respekts gegenüber Anderen auszuüben. Bei Oshana aber ist Autonomie nicht an eine Bedingung von Gegenseitigkeit gebunden. Das ist hier markiert worden durch den Gebrauch des Begriffes Zugeständnis. Indem eine Person einer anderen Person Autonomie zugesteht, ist letztere als autonome Person zu betrachten. Auf den Status ersterer Person hat dies bei Oshana keinen direkten Einfluss. So dargestellt tritt wiederum die etwas absurde Anmutung hervor, dass der eigene Wille der autonomen Person bei Oshana eine geringe Rolle spielt für die Autonomie derselben. 123 Es sollen drei denkbare Folgerungen bezüglich relational konstituierter Autonomie (gemäß Oshana) skizziert werden. Ähnlich wie bei den Autonomiekonzepten, welche im vorhergehenden Kapitel besprochen wurden, würde sich erstens eine so formulierte Zielvorstellung Autonomie eher in der Erziehungssituation zeigen müssen, als anhand eines in Zukunft liegenden Zieles artikuliert zu werden. Es würde darum gehen, Erziehungssituationen insofern an eine normative Forderung zu binden, als sie einer Relationalität gerecht werden sollen. Erziehungssituationen müssten also von einem grundlegenden Zugeständnis von Autonomie an Andere gekennzeichnet sein. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Kindern auf dieselbe Weise wie Erwachsenen Autonomie zugestanden werden soll. Oshana interessiert sich nicht für die Entstehung von Autonomie, sie befasst sich fast ausschließlich mit Erwachsenen. 124 Zentral ist bei ihr aber die für pädagogische Verhältnisse relevante Auffassung, dass die Anerken123 Es ist oben dargelegt worden, dass Oshana ihre Stellungnahme bezüglich der Bedeutung des eigenen Willens für Autonomie nicht durchgehend konsequent charakterisiert. Während ihre Fallbeispiele deutlich gegen jegliche Bedeutung des eigenen Willens der Person sprechen, kommen anderenorts Aussagen zu Autonomie als Kapazität vor, die dem Willen der autonomen Person, d. h. ›inneren‹ Eigenschaften, zumindest die Bedeutung einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung für Autonomie zugestehen. (Oshana, 2003, 101–102) 124 Oshana zählt »kleine« Kinder zu jenen Individuen, denen die Kapazität zu Autonomie fehlt. Dazu zählt sie die Fähigkeit, die Komplexität des eigenen Kontextes zu erkennen, gute von bösen Absichten unterscheiden und normative Erwartungen Anderer verstehen zu können. (Oshana, 2003, 103) Ein weiterer Hinweis dazu findet sich möglicherweise in Oshanas These, Autonomie sei (in den USA) ein überbewertetes Ideal. Sie betont, dass das Zugeständnis von Autonomie an Personen unter gewissen Umständen auch eingeschränkt werden muss. »(…) autonomy qua individuality or individual freedom is not sacrosanct. There are times when we shall be permitted to override a person’s right to noninterference, as when there are other, more exacting prerogatives that we want to protect.« (Oshana, 2003, 126) Eine mögliche Bedingung solcher

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nung von Autonomie als Ideal bedeutet, Anderen Autonomie zuzugestehen. Wenn eine Zielvorstellung relationaler Autonomie umfasst werden soll, müsste sich dies in der Erziehungssituation ausdrücken. Ein Anspruch an Asymmetrie müsste sich dialektisch artikulieren. Inwiefern die Erziehungssituation, wie sie in der Aufzeichnung eines Vertrags ausgedrückt wird, einer solchen Anforderung gerecht werden kann, ist abhängig davon, wie die Aussagekraft desselben gedeutet wird. Wenn durch den Vertrag nur ein scheinbares Zugeständnis an Autonomie gemacht wird, ist darin keine dialektische Asymmetrie, sondern eher eine verdeckte, starke Asymmetrie als Anspruch zu ahnen. Wenn der Vertrag jedoch als kontrafaktische Bemühung um ein Zugeständnis an Autonomie betrachtet wird, dann würde sich darin durchaus ein Anspruch dialektischer Asymmetrie ausdrücken können. Bezüglich des Anspruches an Richtung fragt sich zweitens, wie riskant Richtung beansprucht ist, wenn Erziehung sich auf ein relational bedingtes Zugeständnis von Autonomie als Zielvorstellung ausrichtet. Einerseits könnte argumentiert werden, mit der Zielvorstellung relational konstituierter Autonomie sei ein bedeutendes Risiko verbunden. Wenn nämlich dazu erzogen werden soll, anderen Personen Autonomie zuzugestehen, entsteht darin in Bezug auf eventuelle Optionen derjenigen Person eine Ungewissheit. Ein bisher ungenannter Aspekt eines Vertrags ist dessen Ausrichtung auf Kontrolle. Wenn alle unterschreiben, dann scheint mit einem Vertrag als pädagogischer Praxis eine gewisse Kontrollierbarkeit angestrebt zu werden. Dies ist mit einer Zielvorstellung Autonomie, selbst wenn diese in Relationalität verstanden wird, schlecht vereinbar. Wenn also in einem Vertrag zu einem individuellen Lernziel eine Richtung angegeben und seitens des Lehrers oder der Schule als Verbesserung beansprucht wird, wird dadurch Kontrolle ausgeübt. Richtung wird dabei auf eine Weise kontrolliert, die diese ohne Ungewissheiten und darum nicht besonders riskant beansprucht. Da sich durch den Vertrag alle darauf einigen, sich um eine gewisse Zielvorstellung zu bemühen, scheint das mit dem Anspruch an Richtung verbundene Risiko minimiert zu sein. Insofern als dies im Widerspruch zur Zielvorstellung Autonomie steht, erscheint dieser Aspekt eines pädagogisch angewandten Vertrags als eher problematisch. legitimer Einschränkung der Autonomie wäre anhand einer solchen Sichtweise die ungenügende Selbständigkeit des unmündigen Kindes.

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Drittens könnte ausgehend von Oshanas Autonomiekonzept dafür argumentiert werden, dass Autonomie in Relationalität als Zielvorstellung Erziehung als Konkretisierung des Umgangs mit Wahlfreiheit und Einschränkungen zugleich bedingt. Da nur autonom ist, wer Autonomie auch faktisch ausübt, würde es darum gehen, pädagogisch das anzustreben, was Autonomie realistisch macht oder »within reach« 125 bringt. Auch dieser Gesichtspunkt würde für die zentrale Bedeutung eines Verständnisses von Erziehung zu Autonomie als Erziehung in Autonomie sprechen. Erziehung in Autonomie ist zu verstehen als Bemühung, anhand der Bedingungen der Erziehungssituationen respektive der darin ausgedrückten Ansprüche Autonomie relational zu verstehen und zu gestalten. Die Erziehungssituation, die mit der Aufzeichnung eines Vertrags entsteht, ist als mehrdeutig beschrieben worden und es kommt hier wiederum darauf an, inwiefern eine scheinbare und täuschende Situation entsteht respektive inwiefern ein kontrafaktisches Bemühen um Autonomie in Relationalität ausgedrückt wird. Autonomie als authentische intersektionale Identität, wie sie Meyers konstruiert, knüpft ebenfalls an den Umstand an, dass Erziehung zu Autonomie auch Erziehung in Autonomie ist. Dies ist vor allem darin begründet, dass Erziehung, der Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind und welcher gegenüber sie sich mit zunehmendem Alter kritisch verhalten können, selbst Teil dieser Intersektionalität ist. Wie Meyers darlegt, hat intersektionale Relationalität auf Autonomie sowohl hinderliche wie auch begünstigende Effekte. Als Ausdruck vielfältiger Relationalität, auf die sich das autonome Individuum zu beziehen hat, kann sie verwirrend sein. Sie kann aber auch den kritischen Umgang damit begünstigen oder stimulieren. Dies ist auch von intersektionalen Erziehungssituationen anzunehmen. Darin zeichnet sich dann auch ein adäquater Anspruch von Richtung als riskant ab. Es kann bei Erziehung nie darum gehen, Effekte zu kontrollieren oder Wirkungen kausal zu beanspruchen. Vielmehr ist eine Zielvorstellung Autonomie als authentische intersektionale Identität mit Ungewissheit und damit mit Risiko verbunden. Erziehung zu Autonomie müsste gemäß einer Sichtweise wie jener von Meyers als auf zweifache Weise von Intersektionalität geprägt betrachtet werden. Einerseits werden Kinder von verschiedenen, teilweise konkurrierenden Personen und Institutionen erzogen. Erziehungs125

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absichten sind so kaum einheitlich, sondern artikulieren sich als Ansprüche verschiedener Art. Andererseits sind erziehende Personen oder Institutionen selbst von Intersektionalität geprägt. Sie sind daher in ihrer Absicht oder ihrem Erziehungsanspruch kaum einheitlich. Vielmehr ist anzunehmen, dass je nach Erziehungssituation, Stimmung oder momentan verfolgtem Interesse Erziehungsansprüche sich auf wechselnde, veränderliche und zum Teil sicherlich auch widersprüchliche Weise ausdrücken. Das kann sich, wie Meyers festhält, auf Autonomie hinderlich oder begünstigend auswirken. Insofern als Intersektionalität eine Bedingung ist, welche erziehende und zu erziehende Person prägt, ist in Bezug auf eine Zielvorstellung Autonomie ein Anspruch dialektischer Asymmetrie adäquat. Hinsichtlich Autonomie als kompetentem Umgang mit Intersektionalität ist anzunehmen, dass eine altersbedingte Differenz plausibel beansprucht werden kann. Allerdings wird diese Differenz dadurch relativiert, dass erziehende und zu erziehende Person von der Intersektionalität betroffen sind und dass beide an der individuellen Bemühung um Autonomie als authentische intersektionale Identität beteiligt sind. Hinsichtlich der Frage nach der Plausibilität der pädagogischen Methode, zu individuellen Lernzielen zwischen Schülern, Eltern und Lehrern einen Vertrag zu erstellen, wäre ausgehend von diesen Feststellungen zu folgern, dass die oben bereits angesprochene, ambivalente ethische Bedeutung eines solchen Vertrages sich hier bestätigt. Ein solcher Vertrag kann als Autonomie hindernd und begünstigend zugleich betrachtet werden. Einerseits werden Schüler dadurch bemündigt. Die ›bemündigende‹ Funktion des Vertrags kann je nach Situation als nur scheinbar oder als kontrafaktisch wirksam gedeutet werden. Andererseits werden die beteiligten Parteien durch ihre Unterschriften aneinander gebunden und durch eine gegenseitige Verpflichtung zu einer gewissen pädagogischen Bemühung begrenzt. Es ist schwierig, sich dem Eindruck zu erwehren, ein Vertrag sei insbesondere aus der Sicht der Schüler letztlich dennoch Ausdruck einer starken und begrenzenden Kontrollausübung. Das Potential eines manipulierenden Missbrauchs eines Vertrages ist in der Methode durchaus enthalten. Wenn ein Vertrag aber in Kombination mit einem Anspruch an Richtung als riskant angewandt wird, dann ist die intendierte Kontrollausübung begrenzt. Die für den Vertrag juristisch grundlegende Voraussetzung gleichgestellter und freiwilliger Parteien wäre dann aber auch pädagogisch auf eine deutliche Weise anzustreben. 305 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Meyers betont, Autonomie als authentische intersektionale Identität bedinge eine gradierbare Autonomie. Es gehe um einen lebenslangen Prozess, der aber Autonomie nicht als unerreichbar definiere: »As one gains proficiency, one’s authentic self develops, one’s self-portrait becomes more nuanced and rich. On this competency view of autonomy, authenticity is a lifelong project, yet it is attainable, as well as desirable, for intersectional subjects – that is, for us.« 126

Autonomie ist hier deutlich als Kompetenz innerhalb von Dependenz (als Relationalität) bestimmt. Autonomie kann so als kritischer Umgang mit intersektionaler Relationalität verstanden werden. Insofern als der kritische Umgang mit Intersektionalität zu Authentizität führt, ist Autonomie in Relationalität konstituiert. Gemäß Meyers ist Autonomie aber auch von ›inneren‹ Fähigkeiten abhängig. Ein solches Autonomiekonzept bedingt Autonomie als großflächige moralpädagogische Zielvorstellung. Die Großflächigkeit tritt hier hervor sowohl im Umstand, dass Meyers’ Autonomie als lebenslangen Prozess beschreibt, als auch in der Charakterisierung von Autonomie als nicht erreichbar. Als moralpädagogische Zielvorstellung müsste diese Beschreibung von Autonomie ebenfalls mit einem Anspruch in Erziehung als dialektischer Asymmetrie verbunden sein, denn das Ringen um Autonomie stellt sich als gemeinsame Erfahrung der erziehenden und der zu erziehenden Person dar. Die Bedingung eines relationalen Zugeständnisses als entscheidendes Kriterium für Autonomie (wie bei Oshanas Konzept) ist zwar eine pädagogisch relevante Herausforderung, gewinnt aber an Plausibilität, wenn sie in Kombination mit einer Vorstellung kompetenten Umganges mit relationalen Bedingungen verstanden wird. Eine solche Kombination findet sich bei Meyers. Eine Kombination individueller und relationaler Funktionen in Interaktion findet sich auch bei Taylor sowie in jenen Teilen von MacIntyres Texten, die das Individuum als beteiligt an Praxis betrachten. Aus moralpädagogischer Perspektive sind diese Versuche, Autonomie in Relationalität zu betrachten, schließlich darum relevant, weil sie in der Relationalität nicht (ausschließlich oder vorwiegend) ein Hindernis oder ein Gegensatz, sondern eine signifikante Funktion für die Autonomie des Individuums erkennen. Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung 126

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Relational autonomy

wird so nicht zu einer Zielvorstellung, welche in einem gegensätzlichen Verhältnis zur Erziehungssituation als intentionale und begrenzende Relationalität verstanden werden muss. Zielvorstellung und Erziehungssituation sind vielmehr beide von einer Relationalität, welche Autonomie begünstigen und hindern kann, geprägt. Somit stellt sich vor dem Hintergrund einer Zielvorstellung Autonomie in Relationalität die Legitimität von Erziehung nicht als Aufgabe einer Kompensation zwischen gegensätzlich aufeinander bezogenen Normativitäten dar. Vielmehr ergibt sich Legitimität in Übereinstimmung mit einem kohärenten Begründungsmuster insofern, als die Zielvorstellung Autonomie im gegenseitigen Bezug von individueller und relationaler Identität bestimmt und begründet werden kann.

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6 Autonomie in Zeit

6.1 Autonomie, Authentizitt und Zeit Die in den vorhergehenden Kapiteln besprochenen Autonomiekonzepte haben das selbstbestimmende Selbst in Interaktion und Relationalität mit Anderen betrachtet. In diesem Kapitel sollen zwei Konzepte besprochen und aufeinander bezogen werden, welche den Fokus auf Eigenschaften des Selbst als konstituierend für Autonomie legen. Dabei wird durch den primären Fokus auf die Funktion des Selbst für Autonomie der Begriff der Authentizität aktualisiert. Die Auffassung, Autonomie sei anhand von Authentizität, d. h. als grundlegende Vorstellung von »being true to oneself«, 1 zu definieren, hat in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen, ohne dass dabei ein einheitliches Verständnis von Authentizität als etabliert gelten kann. 2 Ansätze, welche im weitesten Sinne Autonomie als wesentlich oder entscheidend bedingt durch Authentizität verstehen, werden hier unter der Bezeichnung Authentizitätskonzepte von Autonomie besprochen. Zentral bei Authentizitätskonzepten von Autonomie ist die Vorstellung, dem Willen als Ausdruck für das Selbst falle für die Funktion von Autonomie eine entscheidende Rolle zu. Mit Juth können Authentizitätskonzepte von Autonomie zusammenfassend beschrieben werden wie folgt: »(…) autonomy is about living in accordance with one’s own will and authenticity is about the extent to which one’s will really is one’s Bonnett & Cuypers, 2003, 336 Cuypers & Haji, 2007, 78. Als vereinender Kern verschiedener Definitionen schlagen Cuypers & Haji folgende Definition vor: »Authenticity is a property of a person’s motivational elements or states, those salient in the generation of her actions.« Der Fokus auf Motivation als zentral für Authentizität ist allerdings nicht eindeutig in verschiedenen Verständnissen von Authentizität. Cuypers und Haji erwähnen, dass bei Verständnissen von Authentizität etwa »authenticity of the will« und »authenticity of rational thought« unterschieden werden müssen. (Cuypers & Haji, 2007, 81, 93)

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own.« 3 Juth weist mit seiner Definition auf jene Kategorie von Autonomieverständnissen hin, innerhalb welcher die beiden Begriffe Autonomie und Authentizität in eine Verbindung miteinander gesetzt werden. Da sich diese Arbeit mit Autonomie beschäftigt, ist diese Verbindung zwischen den Begriffen Authentizität und Autonomie hier insofern interessant, als Authentizität als bedingend für die Bestimmung und Begründung von Autonomie zum Ausdruck kommt. 4 Authentizität als Ausdruck dafür, dass Urteile und Handlungen in Entsprechung mit dem als eigen aufgefassten Willen oder dem als eigen aufgefassten Selbst vollzogen werden, ist dabei das qualitative Merkmal von Autonomie. Diese Identifizierung von Authentizität als qualitatives Merkmal markiert also den gemeinsamen Ausgangspunkt jener Autonomiekonzepte, die hier als Authentizitätskonzepte von Autonomie bezeichnet werden und zu denen die beiden in diesem Kapitel besprochenen Autonomiekonzepte gezählt werden. Genau so wenig wie von einer einheitlich etablierten Definition Juth, 2005, 129 Ein umgekehrtes Verhältnis zwischen den beiden Begriffen, d. h. eine Bestimmung von Authentizität anhand von Autonomie, ist ebenso denkbar, wird aber hier nicht näher behandelt. Die Besprechung des Autonomiekonzeptes von Meyers im vorhergehenden Kapitel ist ein Beispiel eines umgekehrten Zusammenhanges zwischen Authentizität und Autonomie. Meyers Autonomieverständnis gründet auf der Annahme, Autonomie führe als authentische intersektionale Identität zu Authentizität. Somit ist gemäß ihrer Sichtweise Autonomie Voraussetzung für und Bestandteil von Authentizität. Hier ist jedoch der Fokus, ausgehend von dem Verständnis von Autonomie, umgekehrt auf der eventuellen Bedeutung von Authentizität für Autonomie. Bonnett und Cuypers beleuchten nicht nur den Umstand, dass die beiden Begriffe auf komplexe Art miteinander in Verbindung stehen, sondern diskutieren im Zusammenhang mit Authentizität ähnliche Fragen der Bedeutung emotionaler Bindungen oder sozialer Zugehörigkeiten, wie sie in dieser Arbeit im Zusammenhang mit Autonomie als innerhalb von Dependenz diskutiert werden. (Bonnett & Cuypers, 2003) Die relationalen und sozialen Aspekte von Authentizität sind im vorhergehenden Kapitel im Zusammenhang mit der Besprechung von Meyers’ Autonomiekonzept als authentische intersektionale Identität besprochen worden. Dass das Verhältnis zwischen den Begriffen Authentizität und Autonomie undurchsichtig ist, ist auch ersichtlich in dem Umstand, dass bisweilen ähnliche Fragen zur Legitimität von Erziehung sowohl anhand des Begriffes Autonomie wie auch anhand des Begriffes Authentizität behandelt werden (vor allem in englischsprachiger Forschung). Insbesondere, wenn Authentizität statt auf den eigenen Willen, sich auf Fähigkeiten zu rationaler Wahl bezieht, ist eine klare Auseinanderhaltung der Begriffe Autonomie und Authentizität kaum möglich. (Cuypers & Haji, 2007, 81) Die Bedeutung rationaler Fähigkeiten für Authentizität variiert, was gerade die beiden in diesem Kapitel besprochenen Autonomiekonzepte veranschaulichen.

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Autonomie in Zeit

von Authentizität die Rede sein kann, wird bei Ansätzen, die Autonomie in Verbindung mit Authentizität bestimmen und begründen wollen, das Verhältnis zwischen Authentizität und Autonomie einheitlich verstanden. Es lässt sich mit Fokus auf die Bestimmung von Autonomie eine grobe Einteilung in drei verschiedene Verhältnisse zwischen Autonomie und Authentizität vornehmen. 5 Ein erster Ansatz besteht in der normativ ethischen Sichtweise, Autonomie sollte als Ideal durch Authentizität als Ideal ersetzt werden. Dabei können, je nach Standpunkt, gewisse Merkmale von Autonomie auf das ersetzende Ideal Authentizität übertragen werden. Im Zusammenhang mit der Besprechung von Taylors Autonomieverständnis im vorhergehenden Kapitel wurde darauf hingewiesen, dass seine Sichtweise in einem Ersatz von Autonomie durch den Begriff der Authentizität resultiert. Bei Taylor ist dabei eine deutliche Betonung des kontextuellen und relationalen Bezugs von Authentizität (und Autonomie) hervorgetreten. Insofern als Authentizität in Taylors Ethics of Authenticity Autonomie ersetzt, ist Taylors Sichtweise nicht als ein Authentizitätskonzept von Autonomie zu betrachten, wenngleich es um eine Auseinandersetzung mit dem liberalen Ideal der Autonomie geht. 6 Der Gebrauch des Begriffes Authentizität ist allerdings vielfach in Diskursen zu orten, welche Authentizität näher an einem liberalen Ideal verstehen und Authentizität, genau wie Autonomie, als Gegenüber zu Dependenz definieren. Appiah spricht von einer »Authentizitätsrhetorik«, welche Authentizität als »a way of being that is all my own« darstellt und dabei voraussetzt, dass Authentizität durch einen »Kampf« gegen »alle Kräfte der Konvention« anzustreben sei. 7 Hier wird die Vorstellung deutlich, Authentizität sei für seine Definition von einer Abgrenzung ›äußerer‹ Einflüsse auf das Selbst abhängig. Ihr liegt eine Unterscheidung von ›Innen‹ und ›Außen‹ zugrunde, die auch in der Diskussion um Autonomie eine wiederkehrende und zentrale Bedeutung hat. Wie In der Identifikation verschiedener Funktionen der Authentizität für die Bestimmung und Begründung von Autonomie werden in dieser Einteilung auch Konzepte berührt, die aufgrund ihres Fokus’ nicht in diesem Kapitel, sondern anderenorts in der Arbeit besprochen werden, da sie nicht als Authentizitätskonzepte von Autonomie (die Autonomie als wesentlich oder entscheidend bedingt durch Authentizität verstehen) gelten können. 6 Taylor, 1991, 15–16. Sein Autonomieverständnis wurde als in erster Linie in Relationalität bestimmt und begründet gedeutet. 7 Appiah, 1994, 154 5

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die folgende Besprechung der Autonomiekonzepte in diesem Kapitel zeigen wird, ist mit der Unterscheidung ›Innen‹ und ›Außen‹ kein befriedigender Grund zur Bestimmung und Begründung von Autonomie gelegt, was auch Appiahs Kritik zur Anwendung des Begriffes der Authentizität zum Vorschein bringt. In seiner Deutung des Begriffes Authentizität wird ebenfalls deutlich, dass Authentizität und Autonomie als Begriffe ineinander verflochten sind und auf undurchsichtige Weise auf philosophisches Traditionsgut gleicher oder ähnlicher Art bauen. Ein zweiter Ansatz besteht aus einer Annahme von Authentizität als grundlegend notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Autonomie. In einem weiten Sinne ist eine solche Sichtweise zu Autonomie als bedingt durch Authentizität verbreitet. In den im vorhergehenden Kapitel besprochenen relationalen Autonomiekonzepten etwa ist Meyers’ Konzept ein Beispiel einer Sichtweise, in welcher Authentizität eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Autonomie darstellt. Ebenso illustriert Oshanas Autonomiekonzept eine Sichtweise, gemäß welcher Authentizität eine grundlegende, aber nicht hinreichende Bedingung für Autonomie darstellt. Bei beiden ist ohne die relationale Anerkennung von Autonomie, in welcher sich die faktische Möglichkeit zur Ausübung derselben konstituiert, die Bedingung von Autonomie nicht erfüllt. Kantische Ansätze fallen ebenfalls in diese Kategorie, solange Authentizität als grundlegende Bedingung von Selbstbewusstsein und ein Mindestmaß an persönlicher Konsistenz als Ausdruck eigenen Willens verstanden wird. Die kantische Verbindung von Autonomie mit dem Moralgesetz und mit moralischer Verantwortung macht Authentizität im weitesten Sinne zu einer notwendigen Bedingung von Autonomie. Kants Definition von Autonomie durch deren Abgrenzung von Heteronomie veranschaulicht aber zugleich den Umstand, dass Authentizität in seiner Sichtweise als qualitatives Merkmal von Autonomie und als Bezug auf das Selbst nicht erschöpfendes Kriterium von Autonomie ist. Ein dritter Ansatz intensiviert das Verhältnis zwischen Authentizität und Autonomie – allerdings nicht so weitgehend wie bei einem Ersatz – und identifiziert Authentizität als notwendige und hinreichende oder erschöpfende Bedingung von Autonomie. Kennzeichnend für Konzepte dieses Ansatzes ist – im Unterschied zu Kant – eine erschöpfende oder zumindest ausschlaggebende Bestimmung von Autonomie anhand dessen, was als authentisches Selbst definiert wird. Das Konzept Ekstroms illustriert diesen dritten Ansatz am konsequentes311 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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ten. Darin entsteht (im Anschluss an die oben bereits angesprochene Verflechtung der beiden Begriffe) stellenweise eine Unklarheit, denn Ekstrom identifiziert ›nahezu‹ Autonomie als Authentizität. Durch Authentizität wird gemäß ihrer Sichtweise Autonomie erlangt. Umgekehrt kann bei Ekstrom ohne Authentizität von Autonomie nicht die Rede sein. Zugleich scheint sie aber diesen Schritt der Identifikation nicht ganz zu vollziehen. Der Gebrauch beider Begriffe bei Ekstrom deutet nämlich darauf hin, dass es sich nicht um eine vollständige Identifikation handelt. Was Autonomie von Authentizität unterscheidet, ist dabei eine Handlungsdimension, die Autonomie anhaftet. Autonomie bezieht sich auf Handlungen, während Authentizität sich auf das Selbst bezieht. In Seels Sichtweise ist das Verhältnis zwischen Authentizität und Autonomie nicht wie bei Ekstrom explizit dargestellt. Bei ihm ist keiner der Begriffe zentral. Wie die Besprechung seines Konzepts zeigen soll, ist aber sein Verständnis von Selbstbestimmung zumindest in der intrasubjektiven Bestimmung derselben von Aspekten von Authentizität nachhaltig geprägt, d. h. qualitativ bestimmt. Authentizität wird aufgrund der a-rationalen Funktion des Selbst in Seels Verständnis als fehlende Kontinuität definiert, was zu einem andersartigen Konzept von Authentizität führt. Die Zuordnung von Seels Konzept der Selbstbestimmung zu Authentizitätskonzepten von Autonomie kann angesichts seiner Argumentation seltsam erscheinen. Ein dahingehender Einwand ist berechtigt, denn Seels Sichtweise kann durchaus als Kritik an einer Bedingung von Selbstbestimmung durch Authentizität gedeutet werden. Es soll in der folgenden Besprechung aber geltend gemacht werden, dass Seel durch seine Sichtweise zwar Authentizität inhaltlich ändert und auf eine abweichende Art verstehen will. Seine Sichtweise, so mein Argument, führt aber nicht zu einer Ausgrenzung von Authentizität als qualitatives Merkmal von Autonomie, sondern zu einer Neuorientierung von Selbstbestimmung oder Autonomie an einer anders konzeptualisierten Authentizität. Letztere ist als Ausdruck nicht konsistenter und a-rationaler Tendenzen zu verstehen. Somit wird auch sein Verständnis von Selbstbestimmung als Authentizitätskonzept von Autonomie behandelt. Aus pädagogischer Sicht müssten sich hiermit Perspektiven öffnen, die bezüglich der als adäquat vorgeschlagenen Ansprüche dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung von Interesse sind. Dies ist begründet in dem Umstand, dass sich Autonomie, wenn anhand von 312 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Authentizität bestimmt, gradierbar darstellt. Sie erscheint somit flexibler als in einer kantischen Sichtweise etwa. Was jedoch auf einen ersten Blick als sinnvolle Definition erscheint, wird bei näherem Betrachten schnell auch problematisch. Wie ist das Selbst zu fassen und wie kann das ›authentische‹ Selbst von einem nicht-authentischen Selbst unterschieden werden? Wie ist der Begriff des ›eigenen‹ Willens zu verstehen? Welche Bedeutung kommt diesem für Autonomie im Verhältnis zu Rationalität zu? Wie kann festgestellt werden, dass eine Präferenz oder eine Handlung tatsächlich dem ›eigenen‹ Willen entspricht? Diese Frage, d. h. wie zu bestimmen sei, was den ›eigenen‹ Willen ausmache, ist ethisch besonders wichtig, insbesondere darum, weil sich im Anschluss an sie eine weitere Frage aufdrängt: Was macht den (besonderen) Wert einer authentischen Präferenz aus, wenn sie als dem eigenen Willen entsprechend zu betrachten ist? Die beiden im Folgenden besprochenen Autonomiekonzepte geben je verschiedene Antworten auf diese Fragen. Seels Begriff der Selbstbestimmung ist nicht explizit an Authentizität geknüpft. Den Begriff Authentizität verwendet er kaum. Insofern dieser implizit in seinen Darlegungen zur Selbstbestimmung dennoch präsent ist, stellt sein Verständnis von Authentizität eine abweichende Auffassung dar. Indem Seel aber die Konstitution des Selbst als Kriterium für Selbstbestimmung verwendet, handelt sein Verständnis von Selbstbestimmung von einem authentischen Selbst. Ekstrom knüpft an ein hierarchisches Verständnis von Person (als moralisch verantwortliches, autonomes Subjekt) und Autonomie an und meint, Autonomie als Authentizität sei als Ausdruck rational etablierter Kohärenz zu verstehen. Damit baut sie ein Kriterium rationaler Zugänglichkeit und Kontrollierbarkeit in ihr Autonomieverständnis ein, welches aus der Sichtweise Seels als zweifelhaft erscheinen müsste. Seel weist auf die A-Rationalität menschlichen Willens und Handelns hin und macht die darin begründete Unstetigkeit zum konstituierenden Kern von Selbstbestimmung. Insofern als A-Rationalität für Handlungen und Urteile des Menschen charakteristisch erscheint, ist bei Seel Selbstbestimmung als Authentizität gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht an eine Bedingung von Kohärenz zu knüpfen ist. Diese beiden verschiedenen Standpunkte sollen hier im Hinblick auf ihre jeweilige Relevanz für eine Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung beleuchtet werden. Es geht dabei aber nicht um eine komparative Vorgehensweise. Ein 313 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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vergleichender Bezug ihrer verschiedenen Begrifflichkeiten, begründet auch in je verschiedenen sprachlichen und philosophischen Bezügen, könnte sich leicht als irreführend erweisen. Es lassen sich aus den verschiedenen Argumentationen der beiden Autoren aber Folgerungen in Bezug auf die Bedeutung einer zeitlichen Dimension für Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung machen. Ins Zentrum gerückt wird also bei der Besprechung der beiden Autonomiekonzepte eine zeitliche Dimension, wie sie bei den Sichtweisen beider Autoren auf je verschiedene Weise aktualisiert wird. Während Ekstrom im Zusammenhang mit Autonomie von einer sich über Zeit herausbildenden Kohärenz spricht, zeichnet sich bei Seel ein Bild der Unstetigkeit als kennzeichnend für Selbstbestimmung ab. Es stehen sich langsame Autonomie und punktuelle Autonomie gegenüber, wobei für Authentizität einmal Langsamkeit, das andere mal Unstetigkeit kennzeichnend ist. Eine zeitliche Dimension als bedingend für menschliche Existenz und von Bedeutung für Urteile und Handlungen wird hier somit als ein dritter Aspekt von Dependenz hervorgehoben. Der Umstand, dass der Mensch einer Zeitdimension unterworfen und abhängig von Zeit ist, soll hier also bezüglich seiner Bedeutung für die moralpädagogische Zielvorstellung Autonomie thematisiert werden. Eine Abhängigkeit von Zeit ist auf verschiedenste Weisen zu verstehen. Sie zeigt sich als Möglichkeit, Kontinuität respektive Diskontinuität zu erkennen, zu beanspruchen oder zu verneinen und als Unmöglichkeit, Aspekte von Kontinuität respektive Diskontinuität zu umgehen oder zu vermeiden. Es geht um eine generelle Kontingenz, deren Bedeutung für ein Autonomieverständnis innerhalb von Dependenz (anhand von Ekstroms und Seels Konzepten) untersucht werden soll. Diese Sichtweise, welche Zeit als einen Ausdruck von Dependenz betrachtet, ist auch als Reaktion auf eine subjektphilosophische Tradition zu verstehen, innerhalb welcher das autonome Subjekt nicht nur als losgelöst von sozialen und kulturellen Kontexten, sondern auch als zeitloses Wesen, unabhängig oder unbeeinflusst von zeitlichen Abläufen, konstruiert worden ist. Die menschliche Existenz als in eine zeitliche Dimension unwiderruflicher Fortsetzungen eingebunden zu betrachten, bedeutet keine Wertung, insbesondere keine negative. 8 Wie im Einleitungskapitel festgehalten In der deutschen Sprache beleuchten die verschiedenen Bedeutungen des Verbs ›warten‹ den Umstand, dass einer zeitlichen Dimension ambivalente Assoziationen anhän-

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wurde, soll der Begriff der Dependenz demgemäß nicht mit Negativität behaftet konstruiert werden, sondern soll Kontingenzen menschlichen Lebens ansprechen. Inwiefern ist Autonomie von menschlicher Eingebundenheit in ein ›Vorher‹ und ein ›Nachher‹ abhängig? Wie soll eine moralpädagogische Zielvorstellung Autonomie Veränderungen über Zeit und zeitliche Abläufe berücksichtigen? Was implizieren für das Verständnis von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung verschiedene Auffassungen der Bedeutung einer zeitlichen Dimension? Die Besprechung der beiden Autonomiekonzepte in diesem Kapitel soll, Fragestellungen dieser Art beleuchtend, am Schluss des Kapitels auf die moralpädagogisch relevante Frage des Kopftuchverbots an Schulen bezogen werden. In Deutschland ist, wie in anderen europäischen Ländern, in den letzten Jahren mehrfach die Frage nach der Zulässigkeit des Kopftuchs – als religiöses oder kulturelles Symbol – an staatlichen Schulen aufgetaucht. Dabei sind sowohl das Kopftuch von Lehrkräften wie auch jenes von Schülerinnen zur Diskussion gestanden. Wenn Gerichte über die Regulierung des Kopftuchs von Lehrkräften an staatlichen Schulen nachdenken, respektive wenn Rektoren sich versucht sehen, ihren Schülerinnen das Tragen von Kopftüchern in der Schule zu untersagen, wird dies mehr oder weniger explizit anhand ethischer Werte wie Freiheit oder Gleichberechtigung der Geschlechter begründet. Die Glaubensfreiheit der muslimischen Lehrerin etwa wird dabei als konträr zur so genannten negativen Glaubensfreiheit ihrer Schüler dargestellt. Dass die Schüler einseitig und nachhaltig durch religiöse und kulturelle Werte, von welchen vermutet wird, sie würden durch das Tragen des Kopftuchs ausgedrückt, beeinflusst werden könnten, wird als widerstreitig mit dem Erziehungsauftrag der Schule be-

gen. Auf je eigene Weise kann ›warten‹ in der Bedeutung ›hinhalten‹, ›abwarten‹ oder ›ausdauern‹ und ›warten‹ als ›pflegen‹ als Hinweis auf eine ambivalente Nachhaltigkeit von Zeit als prägende Dimension menschlicher Existenz gedeutet werden. (Den Hinweis auf diesen sprachlichen Ausdruck einer ambivalenten Nachhaltigkeit hinsichtlich einer zeitlichen Dimension habe ich Meyer-Drawes Anmerkung in Zusammenhang mit einem Seminar vom 18. Dezember 2008 an der Universität in Lund zu verdanken.)

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trachtet. 9 Ebenso wird das Tragen von Kopftüchern von Schülerinnen als problematisch aufgefasst. 10 Die pädagogische Bedeutung eines Kopftuchs wird dabei wenig diskutiert. Dass sowohl der Ausdruck wie auch die eventuelle Wirkung eines getragenen, respektive verbotenen Kopftuchs pädagogisch komplex ausfallen müsste, findet ebenso wenig Beachtung wie der Umstand, dass jede Lehrkraft durch Kleidung und Verhalten bewusst und unbewusst Werte repräsentiert, die von einzelnen Schülern auf verschiedene Weisen wahrgenommen werden. Die Frage um das Kopftuch in der Schule umfasst natürlich, insofern als sie eine pädagogische Problematik aufwirft, gesellschaftliche, religiöse, kulturelle, ethische und politische Aspekte. Mit dieser »außerpädagogischen Form gesellschaftlichen Handelns« ist aber der »innerpädagogische Horizont« verbunden. 11 So reflektiert die Vielseitigkeit der pädagogischen Frage um das Kopftuch in der Schule den Umstand, dass Fragen zu Erziehung mit Vorteil eine Betrachtungsweise, welche sich um ein Bewusstsein komplexer Zusammenhänge verschiedener Bereiche menschlichen Handelns bemüht, annehmen. Insofern als Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung in der Schule Gültigkeit hat, lässt sich fragen, was ein getragenes oder verbotenes Kopftuch in dieser Hinsicht bedeuten könnte. Ein Verbot von Kopftüchern repräsentiert eine moralpädagogische Einschränkung oder Begrenzung der Freiheit (entweder ein Kopftuch zu tragen oder mit der in der Gesellschaft präsenten Vielfalt kultureller und religiöser Ausdrücke in Kontakt zu sein). Was im Anschluss an die hier besprochenen beiden Autonomiekonzepte zur Frage steht, ist, inwiefern die Konzepte langsamer Autonomie und punktueller Autonomie den Sachverhalt zu beleuchten vermögen und dabei relevante Verständnisse von Autonomie darstellen könnten.

Bundesverfassungsgericht Pressemitteilung Nr. 71/2003 vom 24. September 2003 http://www.bundesverfassungsgericht.de (Zugriff am 21. Oktober 2008); http://www. spiegel.de/schulspiegel/wissen (Zugriff am 22. Oktober 2008) 10 http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen (Zugriff am 22. Oktober 2008); Pressemitteilung 132 2008 vom 13. Oktober 2008 http://www.bezreg-duesseldorf.nrw.de (Zugriff am 22. Oktober 2008) 11 Benner, 2005a, 148, 178 9

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Autonomie als Kohrenz (Ekstrom)

6.2 Autonomie als Kohrenz (Ekstrom) 6.2.1 Hierarchie, Metakognition und Kohärenz Ekstroms Kohärenztheorie 12 der Autonomie ist als kritische Weiterentwicklung hierarchischer Theorien zu Autonomie und Person zu verstehen. Ekstrom bezieht sich in diesem Zusammenhang auf diverse Autoren, die sie einsortiert in was sie »the Frankfurtian tradition« nennt. 13 Dworkins Artikel Acting Freely aus dem Jahr 1970 und Frankfurts Artikel Freedom of the Will and the Concept of a Person aus dem Jahr 1971 präsentieren beide hierarchische Theorien zu Autonomie respektive Person. Dworkin und Frankfurt haben beide (auf Kritik reagierend) ihre frühen Theorien in den darauf folgenden Diskussionen weiterentwickelt und teilweise modifiziert. Während Frankfurts hierarchische Theorie auf ein Verständnis von Person zielt und ein Konzept von Autonomie mehr indirekt enthält, ist Dworkins hierarchische Theorie ausdrücklicher auf Autonomie ausgerichtet. Der Umstand, dass Frankfurt eine einflussreiche Rolle im Diskurs zu Autonomie zukommt, sowie Ekstroms mehrfacher Bezug auf Frankfurt, veranlasst hier jedoch auch eine Bezugnahme auf seine hierarchische Theorie zum Zweck der Besprechung von Ekstroms Autonomiekonzept. 14 12 Der Begriff Kohärenz wird im Zusammenhang mit der Besprechung von Ekstrom in ihrem Sinne verwendet. Es geht, wie unten dargelegt wird, um eine intrasubjektive Kohärenz des autonomen Selbst. Ekstroms Bestimmung von Autonomie als Kohärenz muss also unterschieden werden von jener Kohärenz zwischen Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung und Erziehung als Anspruch in der Erziehungssituation, welche in dieser Arbeit innerhalb eines kohärenzorientierten Begründungsmusters vorgeschlagen wird. 13 Ekstrom, 2005b, 53 14 Dworkin, 1970; 1988; Levinsson, 2008, 19–23. Frankfurts und Dworkins Theorien sind einander in ihren grundlegenden Annahmen sehr ähnlich. Weder Frankfurt noch Dworkin sollen hier im Detail analysiert werden. Es geht lediglich darum, die für Ekstroms Theorie relevanten Strukturen eines hierarchischen Verständnisses von Autonomie zu beleuchten. Da ihr Bezug auf eine hierarchische Theorie in den hier verwendeten Texten vorwiegend auf Frankfurt ausgerichtet ist, wird dieser hier auch als Repräsentant einer hierarchischen Theorie von Autonomie behandelt. Selbst wenn, wie Levinsson bemerkt, seine hierarchische Theorie sich primär auf Person bezieht, ist die Relevanz für eine Diskussion von Autonomie offensichtlich. Eine striktere Auswahl von Theorien zu Autonomie, wie sie Levinsson bevorzugt, wird für den Ansatz, welcher dieser Arbeit aufgrund ihres interdisziplinären Charakters zugrunde liegt, nicht als maßgebend betrachtet. Es lässt sich nämlich fragen, inwiefern hinsichtlich der Frage

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Autonomie in Zeit

Der Versuch Dworkins und Frankfurts mittels einer hierarchischen Theorie eine Bedingung von Selbstbewusstsein oder einen reflektierenden Selbstbezug für das autonom handelnde Subjekt zu erfassen, ist nach wie vor Gegenstand eines lebhaften philosophischen Diskurses. Wenn in einem weiteren Sinne von hierarchischen Theorien als »structural theories« gesprochen 15 und der reflektierende Selbstbezug nicht unbedingt als hierarchisch übergeordnet betrachtet wird, dann ist auch Ekstroms Theorie darin anzusiedeln. Es geht bei »structural theories« generell darum, Autonomie durch die Identifikation struktureller Bedingungen im Selbst an einen ›inneren‹ Kern oder an ein ›Genuines‹ im Selbst zu knüpfen. Dies bedingt die Definition qualitativer Merkmale des Selbst als auf entscheidende Weise bestimmend für Autonomie. Levinssons jüngst erschienene Arbeit Autonomy and Metacognition. A Healthcare Perspective illustriert die Aktualität des Grundgedankens von »structural theories«. Die in diesem Kapitel erfolgende Besprechung hat auf die Frage einzugehen, inwiefern diese Grundidee im Hinblick auf die Frage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung in funktionalen Autonomiekonzepten resultiert. Oben ist bereits angedeutet worden, dass die Bestimmung von Autonomie anhand von Authentizität eine gewisse Flexibilität (oft, aber nicht immer als Gradierbarkeit ausgedrückt) in das Verständnis von Autonomie einbaut, was aus pädagogischer Sicht in meiner Argumentation als Vorteil beurteilt wird. Zugleich ist mit dem einseitigen Fokus auf Qualitäten des Selbst, wie im Folgenden argumentiert wird, teilweise eine Reproduktion einer Definition von Autonomie durch eine rigide Abgrenzung von Dependenz verbunden. Dies kommt am deutlichsten zum Ausdruck in der zentralen Bedeutung, welche in Ekstroms Theorie der Unterscheidung zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ zukommt. Angesichts der im Einleitungskapitel dargelegten These, dass für den moralpädagogischen Zusammenhang nach Autonomie eine strikte Abtrennung zwischen Theorien zu angrenzenden Begriffen oder Phänomenen konsequent eingehalten werden kann oder angestrebt werden soll. Vielmehr drängen sich in der Frage nach Autonomie immer wieder angrenzende Begriffe auf, deren Bedeutsamkeit für Autonomie auch in überlappenden Bezügen besteht. Autonomie anhand einer mehr integrativen Perspektive als Aspekt eines teilweise unübersichtlichen Netzwerkes einer Begrifflichkeit zu durchleuchten, erscheint realistischer und attraktiver als ein Streben nach minutiös definierten Abgrenzungen zwischen Begriffen und Theorien. 15 Siehe James Stacey Taylor, 2005, 5; Levinsson, 2008, 19.

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Autonomie als Kohrenz (Ekstrom)

Autonomie in Dependenz plausibler erscheint als Autonomie gegenüber Dependenz, bedeutet dieser letztere Aspekt für die Zwecke hier einen Hinweis auf eine Schwäche von Authentizitätskonzepten von Autonomie. Eine Schwäche diesbezüglich erhält aber unterschiedliche Ausdrucksweisen bei Ekstrom und Seel und ist unterschiedlich zu gewichten, was im Anschluss an die beiden Autonomiekonzepte näher zu erläutern und zu begründen sein wird. Der näheren Besprechung von Ekstroms Autonomiekonzept werden nun einige weitere, orientierende Bemerkungen zu Frankfurts und Dworkins Theorie sowie zu Levinssons Verständnis von Autonomie als Metakognition vorangestellt. Dworkin formuliert die Bedeutung einer hierarchischen Struktur für Autonomie wie folgt: »I suggest it is the attitude a man takes toward the reasons for which he acts, whether or not he identifies himself with these reasons, assimilates them to himself, which is crucial for determining whether or not he acts freely. Men resent acting for certain reasons; they would not choose to be motivated in certain ways.« 16

Autonomie ist für Dworkin also bedingt durch Einstellungen, welche jemand gegenüber Beweggründen für Handlungen hat. Mit diesem Fokus auf Einstellung gegenüber Beweggründen baut Dworkin ein über das primäre Bewusstsein hinausgehendes, hierarchisch unterscheidbares Niveau ein, an welchem sich seiner Sichtweise gemäß die Frage nach freier Handlung oder Autonomie entscheidet. 17 Frankfurt präsentiert eine Definition von Person als bedingt durch die Fähigkeit, Verlangen zweiter Ordnung (»second-order desires«) zu formen. Frankfurt definiert diese als Fähigkeit, über Verlangen (erster Ordnung) reflektieren zu können. »Besides wanting and choosing and being moved to do this or that, men may also want to have (or not to have) certain desires and motives.« 18 Dabei entsteht also ein hierarchisches Verständnis von Person als autonomes Subjekt. Inwiefern die Annahme eines hierarchisch strukturierten Bewusstseins an sich notwendige und/oder hinreichende Bedingung zur Bestimmung von Autonomie ist respektive ob darüber hinaus oder an ihrer Stelle andere, qualifizierende Bedingungen zur Bestimmung von Autonomie notwendig sind, stellt einen zentralen Punkt in der Diskussion um die 16 17 18

Dworkin, 1970, 377 (meine Kursivierung) Dworkin, 1988, 18–20 Frankfurt, 1971, 7

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Plausibilität von Frankfurts Theorie dar. Frankfurt betont, es gehe hinsichtlich eines Kriteriums für eine Person nicht nur darum »zu begehren zu begehren«, d. h. um ein Verlangen zweiter Ordnung in engerem Sinne, sondern um einen »Willen« zweiter Ordnung. Frankfurt beruft sich also auf einen Unterschied zwischen »desire« und »volition«. 19 Diese Unterscheidung führt Frankfurt in eine weitere, eher skurrile Distinktion, die für Ekstroms kritischen und weiterentwickelnden Bezug auf Frankfurt von Bedeutung ist. Frankfurt, der die Definition von Person in der Abgrenzung zwischen Menschen und Tieren (»human and non-human animals«) ansiedelt, meint, die Vorkommnis eines Verlangens zweiter Ordnung, welches keinem Willen, sondern nur einem Verlangen entspricht (also zu begehren zu begehren), konstituiere statt einer Person nur ein »wanton«. Ein solches »wanton« ist dadurch gekennzeichnet, dass es »sich über seinen Willen nicht kümmert«. Zu solchen »wantons« können Tiere und »sehr kleine Kinder« gezählt werden. 20 Die Relevanz dieser im philosophischen Reagenzglas erschaffenen Kreatur liegt hier für den Zweck der Einführung in Ekstroms Autonomiekonzept darin, dass Frankfurts Erschaffung von »wantons« als Zugeständnis daran betrachtet werden kann, dass eine hierarchische Ordnung zwar eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für die Definition einer Person respektive zur Bestimmung von Autonomie ist. Frankfurts Unterscheidung von Verlangen zweiter Ordnung in zwei Arten deutet darauf hin, dass er sich neben der Hierarchie auch auf andere Kriterien beruft. Frankfurt unterscheidet nämlich bei Verlangen zweiter Ordnung zwischen jenen, die lediglich in einem unqualifizierten ›Verlangen zu verlangen‹ bestehen und jenen, die einen Moment der Reflexion entlang moralischer Standards umfassen. 21 Damit ist das größte Problem hierarchischer Theorien angeschnitten, nämlich eine lückenhafte Begründung der bevorzugenden Wertung von Verlangen höherer Ordnung. Es lässt sich also fragen, warum sich die Frage nach freier Handlung oder Autonomie an der Präferenz höherer Ordnung entscheiden soll. Es haften hierarchischen Theorien aber weitere, viel diskutierte Schwächen an, auf die ebenfalls kurz eingegangen werden soll. Watson hat in seinem Artikel Free Agency aus dem Jahr 1975 auf 19 20 21

Frankfurt, 1971, 10 Er nennt das Phänomen aber dennoch »second-order desire«. Frankfurt, 1971, 11 Frankfurt, 1971, 11

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diese Begründungsproblematik im Zusammenhang mit Präferenzen höherer Ordnung aufmerksam gemacht. Er bezichtigt sie eines Problems der Beliebigkeit. 22 Es ist, wie Watson festhält, nicht klar, warum einem Verlangen zweiter oder höherer Ordnung eine entscheidende Rolle zukommen soll. Die hierarchische Ordnung ist dabei nicht nur ungenügend als Begründung der Wertung höherer Präferenzen als normierend. Sie ist mit einem weiteren Problem, nämlich jenem des unendlichen Regresses, verbunden. Wenn ein Verlangen oder eine Präferenz erster Ordnung aufgrund eines entsprechenden Verlangens zweiter Ordnung legitimiert wird, müsste Letzteres wiederum mit einem Verlangen dritter Ordnung legitimiert werden und so weiter. Es ist damit auch unklar, wann die Legitimität eines Verlangens oder einer Handlung als ausreichend begründet und abgeschlossen betrachtet werden kann. Der Legitimationsprozess wächst zu einer unendlichen Kette von Verlangen höherer Ordnung als »interminable ascent to higher orders«. 23 Dworkin weist diesen Einwand mit dem Hinweis auf die praktische Unmöglichkeit längerer Sequenzen von Verlangen höherer Ordnung zurück. »As a matter of contingent fact human beings either do not, or perhaps cannot, carry on such iteration at great length.« 24 Selbst wenn aber die Vorkommnis von Verlangen höherer (d. h. dritter, vierter, fünfter usw.) Ordnung unwahrscheinlich erscheint und somit das Problem des unendlichen Regresses zumindest aus einer praktischen Perspektive als entschärft betrachtet werden kann, besteht die damit zusammenhängende Lücke in der Begründung der Wertung höherer Präferenzen als normierend. Ekstroms Kohärenztheorie ist ein Versuch, dieser Begründungsproblematik, welche mit dem unendlichen Regress verbunden ist, beizukommen. Inwiefern ein Kohärenzkriterium das Problem der Begründung beheben kann, ist allerdings fraglich. 22 Watsons Begriff ist »arbitrariness«, was eigentlich mit Zufälligkeit übersetzt werden müsste. Der Begriff Beliebigkeit passt im Deutschen aber besser als Bezeichnung der von Watson angeschnittenen ethischen Problematik. 23 Watson, 1975, 218–219; Siehe auch Juth, 2005, 136, James Stacey Taylor, 2005, 6. 24 Dworkin, 1988, 19. Levinsson argumentiert im Anschluss daran, ab einem gewissen Niveau höherer Ordnung werde es mental schlicht absurd und es ergebe sich normalerweise von alleine ein »End-Punk« bei Verlangen zweiter (oder eventuell dritter) Ordnung. In der Darstellung Watsons kann das Problem des unendlichen Regresses somit zwar nicht als theoretisch gelöst, aber zumindest als praktisch nicht besonders problematisch und als übertrieben gezeichnet gedeutet werden. (Levinsson, 2008, 28–30, 38, 41)

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Angesichts der Einführung eines Kriteriums (bezüglich Reflexion und moralischen Bewusstseins) zur Unterscheidung zwischen Personen und »wantons« fragt sich, inwiefern die Kritik, Frankfurts Theorie sei von einem problematischen infiniten Regress betroffen, angemessen ist. Watsons Einwand lautete, dass das Kriterium, welches Frankfurt anhand seiner Konstruktion von »wantons« zur Qualifikation der hierarchischen Struktur einführen wollte, das Problem der hierarchischen Ordnung nicht löse. »Can’t one be a wanton, so to speak, with respect to one’s second order desires and volitions?« 25 Mit der Einführung des Begriffes »wholeheartedness« versuchte Frankfurt später, das Problem des unendlichen Regresses zu beheben. 26 Juth greift die Begründungsproblematik auf, indem er bemerkt, es könne innerhalb Frankfurts Theorie nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei Verlangen oder Präferenzen, die nicht von entsprechenden Verlangen höherer Ordnung begleitet sind, nicht um authentische Präferenzen im Sinne ›eigener‹ Präferenzen handeln kann. Außerdem erkläre Frankfurts Theorie nicht, warum ein Verlangen höherer Ordnung hinsichtlich einer normierenden Funktion in Bezug auf Authentizität und Autonomie einem Verlangen niedriger oder erster Ordnung übergeordnet sei. Es könnte, so Juth, umgekehrt ebenso argumentiert werden, dass ein Verlangen erster Ordnung eher dem ›Kern‹ des eigenen Willens entspricht als es ein Verlangen höherer Ordnung tut. 27 Dieser Einwand bezüglich der Begründungsproblematik hierarchischer Theorien ist insbesondere im Hinblick auf Ekstroms Theorie wichtig, da Ekstrom die normative Rangordnung von Verlangen zu überwinden sucht. In Juths Kritik kommen andeutungsweise Annahmen vor, die sich ihrerseits auf unzureichend geklärte und somit problematische Unterscheidungen stützen. So deutet er an, Verlangen höherer Ordnung seien eher sozialisierten Wertungen zuzuschreiben und stammten deshalb eher oder in höherem Ausmaße von den »Forderungen der umgebenden Gesellschaft«. 28 Selbst wenn er damit berechtigterweise die oben genannte, problematische Wertung anspricht, fällt Watson, 1975, 217 James Stacey Taylor, 2005, 7. Ekstrom meint aber, Frankfurt halte auch in späteren Texten und trotz der Einführung der Begriffe der »wholeheartedness« und »satisfaction« grundsätzlich an einer hierarchischen Theorie der Autonomie fest. (Ekstrom, 2005b, 50) 27 Juth, 2005, 136–138 Siehe auch Oshana, 2006, 26–31. 28 Juth, 2005, 137 25 26

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Juth zugleich in eine allzu rigide Unterscheidung zwischen ›eigenen‹ und ›fremden‹ Präferenzen respektive zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ als für Autonomie bestimmend. Ohne dass dabei geklärt ist, inwiefern das Selbst und sein sozialer Kontext gegenseitig abhängig und konstituierend sind, übersieht Juth den Umstand, dass damit eine gültige Aussage zum ›wahren Kern‹ des Selbst nur gemacht werden kann, wenn das autonome Individuum in einem gegensätzlichen Verhältnis zu seinem sozialen Kontext betrachtet wird. Wird die Gegensätzlichkeit oder die plausible Unterscheidbarkeit dieser Kategorien zu normativen Zwecken in Frage gestellt, dann ist Juths Sichtweise ihrerseits problematisch. Im Schlusskapitel dieser Arbeit wird auf die Bedeutung der Distinktion ›Innen‹ und ›Außen‹ für Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung nochmals zurückgekommen. Levinsson, welcher in seiner Diskussion hierarchischer Theorien auf dieselben, oben dargestellten, Schwierigkeiten eingeht und dabei Ekstroms Kohärenztheorie als besser gerüstet wertet, definiert Autonomie als Fähigkeit zu Metakognition. Seine Sichtweise setzt eine hierarchische Struktur der Person voraus, stellt aber zugleich einen Versuch dar, den Problemen bei Dworkin und Frankfurt beizukommen. Levinsson meint unter anderem, Dworkins Forderung nach »expliziter Reflexion« sei für eine generelle Definition von Autonomie zu anspruchsvoll. 29 Levinsson baut in die Definition von Autonomie eine gewisse Kontextabhängigkeit ein. Er meint in diesem Zusammenhang, spontane Entscheidungen müssen von mehr überlegten Entscheidungen unterschieden werden. Schnelle, reflexartige Entscheidungen betrachtet er als Phänomen, welches eine bewusste Metakognition ausschließt. Anstelle von bewussten Reflexionen als Verlangen zweiter Ordnung plädiert Levinsson (u. a. mit Ekstrom) für eine Forderung nach Reflexivität oder Metakognition. Es dreht sich dabei um Evaluation, die nicht unbedingt bewusst sein muss und die sich als »Kapazität, das eigene Charaktersystem zu kontrollieren«, manifestiert. 30 Metakognition definiert Levinsson demgemäß als »Fähigkeit, mentale Zustände erster Ordnung zu evaluieren und diesen gegenüber Haltungen zweiter Ordnung zu entwickeln«. Es geht um Überwachung und Kontrolle mentaler Zustände erster Ordnung, wobei dies bewusst oder unbewusst geschehen kann. Levinsson formuliert damit auch eine 29 30

Levinsson, 2008, 39 Levinsson, 2008, 40–41

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Kritik gegenüber Theorien, die er als auf übertriebene Weise an bewusster Evaluation orientiert bezeichnet. 31 Levinsson beruft sich hier auf die These, dass unbewusste Kognition in Bezug auf Entscheidungen und Handlungen eine bisher unterschätzte Rolle spielt. Er sucht nach einem Autonomiebegriff, welcher neuere Erkenntnisse zur Bedeutung unbewusster kognitiver Prozesse berücksichtigt und unbewusste Kognition als vitale Funktion von Autonomie umfassen kann. Levinsson definiert dabei ein Mindestmaß an »Selbstkenntnis« und »Verständnis relevanter Information« als Bedingungen, die das Ausmaß unbewusster Kognition begrenzen und ein Mindestmaß an bewusster Kontrolle dennoch zur Bedingung von Autonomie machen. 32 Indem Levinsson einerseits Kontrolle zu einem zentralen Kriterium von Autonomie macht, andererseits aber einen Autonomiebegriff sucht, der auch unbewusste Kognition umfasst, öffnet er für die Frage nach der Vereinbarkeit dieser beiden Grundgedanken. Er will sie beantworten, indem er, sich auf Autonomie als Kapazität konzentrierend, deren verschiedene Komponenten identifiziert. Er nennt »procedural reflexivity« und »metarepresentation«. Diese umfassen auch die Fähigkeit, sich in andere Personen hineinversetzen zu können. 33 Hier wird somit eine relationale Komponente einbezogen, die die Tradition von »structural theories« auf interessante Weise für relationale Perspektiven auf Autonomie zugänglich macht. Allerdings ist fraglich, wie diese auf unbewusste Prozesse zweiter Ordnung zu beziehen wären, respektive ob durch die Identifizierung verschiedener Komponenten von Autonomie als Kapazität das Spannungsverhältnis zwischen unbewusster Kognition als Aspekt von Autonomie und einer Bedingung von Kontrolle und Selbstverständnis als überwunden zu betrachten wäre. Während die von Levinsson herbeigezogenen Erkenntnisse aus der Kognitionsforschung sicherlich Anlass geben, eine subjektphilosophisch idealisierte Vorstellung des autonomen, d. h. bewusst und überlegt handelnden Subjekts zu hinterfragen, muss seine damit einhergehende Begrenzung der Autonomiefrage auf eine definitorische Bestimmung der Kapazität der Autonomie bezüglich der Frage der vorliegenden Arbeit als unbefriedigend betrachtet werden. Der für Autonomie zweifelsohne zentrale Aspekt kognitiver Kontrolle ist, gerade 31 32 33

Levinsson, 2008, 49–51, 54 Levinson, 2008, 57, 60, 65 Levinsson, 2008, 68

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auch in relational bedingter Fassung, Ausdruck eines immer auch mit normativen Ansprüchen verbundenen Begriffes. Versuche, die diese normativen Ansprüche ausgrenzen wollen, resultieren oft in einem mechanistisch anmutenden, verkürzten Verständnis von Autonomie. Levinsson will außerdem sein Konzept von Autonomie in einem Begriff »schwacher Unabhängigkeit« (»weak independence«) situieren. Er weist mit diesem Begriff auf emotionale Funktionen als integriert in Kognition, aber auch auf externe oder soziale Faktoren hin, von welchen Autonomie abhängig ist. 34 Er schreibt weiter: »If autonomy is to be understood as independence at all, a weak interpretation of it is more plausible. Autonomy as a metacognitive capacity must be understood relationally. It is necessary to take into account the role of external factors, and to acknowledge that these factors can undermine, but also maintain, or facilitate the exercise of autonomy. (…) Autonomy is the metacognitive capacity to exercise control. This capacity is influenced by both internal and external factors. Without the metacognitive capacity to control internal and external inputs, autonomy can be undermined.« 35

Selbst wenn Levinssons Versuch, anhand des Begriffes Metakognition Autonomie konkret zugänglich zu machen und dies im Zusammenhang mit »schwacher Unabhängigkeit« zu vollziehen, aus der Perspektive der Aufgabe der vorliegenden Arbeit wertvoll ist, wird bei seinem Ansatz auch hier das grundlegende Problem der Ausgrenzung normativer Aspekte im Autonomiebegriff sichtbar. Während er sich auf ansprechende Weise die Grundideen von »structural theories« zu Nutzen macht und diese für neuere Kenntnisse zu Kognition sowie einer nuancierten Auffassung von Dependenz erschließt, versucht er dabei die normativen Aspekte jener Tradition abzutrennen. Die entstehende Problematik gründet auf dem Umstand, dass Dworkins und Frankfurts Theorien ausdrücklich eine normative Dimension umfassen, d. h. dass es ihnen nicht nur darum geht, Funktionen von Autonomie nur deskriptiv zu beschreiben. Vielmehr beabsichtigen sie mit ihren Theorien auch »value conditions«, d. h. den Wert von Autonomie anzusprechen und in die Theorie einzubeziehen. 36 Levinssons eigene Definition resultiert aufgrund dieses selektiven Bezugs sowohl auf eine ältere Generation hierarchischer Theorien wie auf eine jüngere Generation von 34 35 36

Levinsson, 2008, 72–75, 82–83 Levinsson, 2008, 84 Dworkin, 1988, 8–11

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»structural theories« (insbesondere jener Ekstroms) in einem mechanistisch anmutenden Verständnis von Autonomie. Gegenüber den normativen Aspekten dieser Theorien verhält sich Levinssons Definition selektiv, was dazu führt, dass viele ethische Fragen (außerhalb jener in Zusammenhang mit den von ihm diskutierten psychiatrischen Fällen) ungeklärt bleiben. Dieser selektive Bezug mit dem Resultat einer schmalen und deskriptiv orientierten Bestimmung von Autonomie lässt sich auch anhand eines weiteren Aspekts, welcher in Authentizitätskonzepten von Autonomie aktualisiert wird, illustrieren. Es geht um die Frage nach der Gradierbarkeit von Autonomie als durch Authentizität bedingt. Während Juth den Umstand, dass Authentizitätskonzepte eine Gradierbarkeit von Autonomie erlauben, als Vorteil hervorhebt, 37 betrachtet Levinsson dies als problematisch. Levinsson begründet seine Kritik gegenüber einem Autonomiekonzept, welches Autonomie als gradierbar versteht, dadurch, dass Autonomie durch gradierbare Autonomieverständnisse nicht bestimmt sei, sondern nur hinsichtlich ihrer individuellen Entstehung erklärt sei. 38 Levinsson führt auch das Argument an, die Bestimmung eines Mindestmaßes an Selbstbestimmung für Autonomie sei bei angenommener Gradierbarkeit erschwert. 39 Da die Forderung nach einem Mindestmaß bereits eine »all-or-nothing«-Vorstellung von Autonomie voraussetzt, ist dieser Einwand für ein gradierbares Konzept von Autonomie aber nicht unbedingt relevant. Denn der Grund für die Annahme von Gradierbarkeit als Kennzeichen von Autonomie ist gerade die Annahme, dass eine Fixierung eines bestimmbaren Anfangspunktes von Autonomie unrealistisch und verfehlt ist und dass eine grundlegende Unbestimmbarkeit der Vorkommnis von Autonomie akzeptiert und problematisiert werden muss. Statt der Frage, ob eine Handlung oder eine Person autonom sei, kann unter Annahme eines gradierbaren Autonomiebegriffes gefragt werden, inwiefern, d. h. in welchem Ausmaß oder in welchen Hinsichten darin Autonomie zum Ausdruck kommt. Letztere Fragestellung ist zumindest für den Ansatz und die Aufgabe dieser Arbeit von primärer ReleJuth, 2005, 142 Levinsson, 2008, 34. Er will somit einen Unterschied zwischen Theorien, welche definieren, was Autonomie ist, und Theorien, welche erklären, wie Autonomie im Individuum entsteht, machen und meint, gradierbare Konzepte von Autonomie seien nur innerhalb Theorien letzterer Art plausibel. 39 Levinsson, 2008, 33 37 38

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vanz. Gradierbarkeit kann so etwa in Eigenschaften der Person begründet sein oder an Bedingungen einer Handlung gebunden werden. Inwiefern diese beiden Perspektiven auseinanderzuhalten sind, kann diskutiert werden. Die Gradierbarkeit kann dabei als von Zeit abhängig oder auf verschiedene Art an quantitativ bestimmbare Kriterien gebunden verstanden werden. 40 Es soll im Vorfeld der folgenden Diskussion von Autonomie in Zeit nochmals verdeutlicht werden, dass die Aufgabe dieser Arbeit die Frage nach der Entstehung von Autonomie höchstens indirekt berührt. Es geht nicht darum, zu erklären, ob und wie Autonomie entsteht. Vielmehr geht es um die Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung. Der in dieser Aufgabe bedingte Ansatz umfasst bewusst normative Aspekte und kombiniert die Frage nach der Bestimmung mit jener nach der Begründung.

6.2.2 Kohärenz als Autonomiekriterium Mit ihrer Kohärenztheorie der Autonomie will Ekstrom dem Problem des unendlichen Regresses in der frühen von Version von Frankfurts Theorie und dem Begründungsproblem (als Problem der der Beliebig40 Juth macht ausgehend von einer Kritik verschiedener Verständnisse von Authentizität als grundlegend für Autonomie einen Vorschlag zu einem Authentizitätskonzept, welches insbesondere die Gradierbarkeit derselben hervorhebt. Der Grad an Wissen, respektive der Grad an Zustimmung sind für Juth entscheidend. Er definiert Authentizität folgendermaßen: »(…) authenticity of desires is determined by the (hypothetical) attitude the person has towards the desire: given a certain level of (hypothetical) knowledge about why one has the desire, the more positive the person is to the fact that she has it (and therefore the more enthusiastic she is about keeping it), the more authentic it is. To this could be added (as I am inclined to do) that a person is even more authentic if she actually engages in critical self-evaluation: finding out why she has the values and attitudes she has and questioning them in the light of other values and attitudes.« Juth nennt sein Verständnis von Authentizität »the informed approval idea of authenticity«. (Juth, 2005, 142, 146, 149) In der Forderung nach Selbst-Kritik macht sich ein Rationalitätskriterium bemerkbar. Dabei wird wiederum die Komplexität hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den Begriffen Authentizität und Autonomie deutlich. Wie die Besprechung unten von Seels Sichtweise zeigt, braucht, was authentisch ist, nicht rational zu sein. Es scheint ein Problem der Authentizitätskonzepte von Autonomie zu sein, dass Authentizität, wenn konkretisiert, oft an andere Kriterien (wie jenes der Rationalität) anknüpfen muss. Der qualifizierende Wert von Authentizität für Autonomie ist damit zumindest als alleiniges Kriterium geschwächt.

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keit) begegnen. 41 Gleichzeitig will sie an der zentralen Funktion (aus)wertender Reflexion (»evaluative reasoning«) gemäß Frankfurts Theorie festhalten. 42 Eine Person ist gemäß Ekstroms Kohärenztheorie autonom, wenn sie aus einem Verlangen erster Ordnung, zu welchem die Person eine entsprechende autorisierte Präferenz hat, handelt. Diese autorisierte Präferenz entspricht dem Wunsch, das aktuelle Verlangen erster Ordnung sei ein wirksames Verlangen. Die Autorisation einer Präferenz bedeutet dabei, dass ihr gegenüber konkurrierenden Präferenzen der Vorzug gegeben wird und eine Präferenz ist für jemanden autorisiert, wenn sie zu dem gegebenen Zeitpunkt mit dem Charaktersystem der Person kohärent ist. 43 Ekstrom formuliert ihren Kohärenzansatz zu Autonomie auch folgendermaßen: »The preference on which a person acts must cohere with other of his attitudes, in order for the act to be autonomously performed.« 44 Kohärenz definiert Ekstrom nicht als abwesende Widersprüchlichkeit oder als Fehlen von Konflikten, sondern als gegenseitige Unterstützung verschiedener Elemente des Charakters. »On the coherence account, a preference P is personally authorized for a person at a time (or counts as ›truly her own‹ or is representative of her ›real self‹) if and only if the preference coheres with her character system at that time. A preference P coheres with the character system of a person at a time if and only if, for any competing preference, it is either more valuable for the person to have P than the competing preference on the basis of her character system at the time, or it is valuable for her to have the competing preference and a neutralizing attitude, as it is for her to have the competing preference alone, on the basis of her character system at the time.« 45

Ekstrom integriert mit dem Begriff der Präferenz prozedurale Aspekte in das Autonomieverständnis. Sie schreibt zur Definition von Präferenz: Ekstrom, 2005b, 51 Ekstrom, 2005b, 53 43 Ekstrom, 1993, 604, 614; 2005a, 151. Ekstrom diskutiert in diesem Zusammenhang, inwiefern ihr Präferenzbegriff Frankfurts Verlangen zweiter Ordnung entspricht. Sie meint, eine Präferenz gleiche insofern Frankfurts Verlangen zweiter Ordnung, als sich beide auf ein Verlangen erster Ordnung beziehen. Ekstrom betont aber auch, dass sich eine Präferenz von einem Verlangen zweiter Ordnung insofern unterscheidet, als letzteres mit einem beliebigen Grund motiviert werden kann, während eine (autorisierte) Präferenz sich ausschließlich auf die ganzheitlich betrachtete Kohärenz beziehen kann. 44 Ekstrom 2005a, 144 45 Ekstrom, 2005a, 150–151 41 42

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»Preference understood (…) stipulatively, as a desire that has survived a process of critical evaluation – in particular, with respect to an individual’s conceptions of the good. (…) A preference is identified as such not by its type of intentional object, but rather by the process through which it was generated.« 46

Mit dieser Bedingung eines Prozesses kritischer Bewertung führt Ekstrom, wie oben auch bei Juth vorkommend, ein Rationalitätskriterium in das Verständnis von Kohärenz und damit Authentizität ein. Ekstrom bezeichnet Autonomie zusammenfassend als »liberated self-expression«. 47 Dabei wird deutlich, dass Ekstrom die Definition der Autonomie in das Subjekt hinein verlegt. Ekstroms Theorie unterscheidet sich dadurch von den Autonomiekonzepten, die in den vorhergehenden Kapiteln besprochen worden sind. Das authentische Selbst ist bei Ekstrom nicht durch Interaktion oder Relationalität bestimmt, sondern für seine Selbstbestimmung ausschließlich an seiner eigenen Person orientiert. Autonomie wird bei Ekstrom als Ausdruck des Selbst definiert und ist primär als ›innere‹ Funktion zu verstehen. Dabei handelt es sich aber, wie das Zitat oben zeigt, um eine »prozedurale Authentizität«. 48 Nur indirekt spielen Relationen zu Anderen als Kriterien für die Autonomie eine Rolle. Durch die Verlagerung des Autonomiekriteriums in das Individuum wird dieses in seiner Autonomie auf eine radikale Weise von seiner Umgebung abgeschirmt. Autonomie ist dann garantiert, wenn die Ausschließung ›äußerer‹ oder externer Einflüsse gesichert ist. »An act is autonomous just in case it is nondeviantly caused by an uncoercively formed, personally authorized preference.« 49 Externe Einflüsse sind bei Ekstrom zwar auch als ›falsche interne‹ Einflüsse, d. h. Einflüsse, die nicht Ausdruck des wahren Selbst sind, zu verstehen. Aber auch diese Differenzierung durch eine Abgrenzung eines wahren Selbst reflektiert ein rigides Schema ›Innen – Außen‹, welches nicht nur psychologisch und epistemologisch, sondern auch ethisch problematisch ist. Darauf wird im folgenden Abschnitt näher eingegangen. Inwiefern lassen sich Aspekte von Authentizität und damit Autonomie in ›inneren‹ oder psychischen Voraussetzungen bestimmen und Ekstrom, 2005a, 148, 152 (meine Kursivierung) Siehe auch Ekstrom 2005b, 54. Ekstrom, 2005a, 158 48 Oshana, 2006, 21 Oshana bezieht sich nicht auf Ekstrom, sondern auf andere Autonomiekonzepte mit Anlehnung an Frankfurt. 49 Ekstrom, 2005a, 151 46 47

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begründen? Arpaly zeigt anhand mehrerer Beispiele psychischer Komplexität in alltäglichen moralischen Entscheidungen, dass Rationalität nicht unbedingt mit bewusster Überlegung einhergeht und von Irrationalität nicht immer klar unterscheidbar ist. 50 Ein ähnliches Argument führt auch Juth gegen ein Verständnis von Authentizität als Konsistenz oder Rationalität an. Da Authentizität gemäß seiner Auffassung darin bestimmt ist, dass Präferenzen ›eigene‹ Präferenzen sind, macht die Konsistenz der Präferenzen keinen Unterschied. Juth argumentiert, die interne Beziehung zwischen Präferenzen stelle zur Bestimmung von Authentizität (und damit Autonomie insofern diese als Authentizität verstanden wird) keinen gültigen Parameter dar. Mit anderen Worten sind auch die widersprüchlichen Präferenzen oder die ambivalenten Gefühle (als »mixed emotions«) einer unentschlossenen Person ihre eigenen Präferenzen und damit Ausdruck ihrer Authentizität. 51 Dass die Erfahrung von Konsistenz oder Kohärenz, welche über Zeit als Kontinuität der eigenen Person erlebt wird, nicht mit dem Rationalen korrelieren muss, sondern sich ebenso in kontinuierlicher Frustration über Inkonsistenz oder Diskontinuität ausdrücken kann, hält auch Meyers fest. Aspekte eines kontinuierlichen Selbst können somit ebenso belastende und frustrierende Gewohnheiten oder ›Schwächen‹, die als unüberwindbar erlebt werden, sein. 52 Kohärenz in Bezug auf das Selbst müsste also auch – in individuell sicherlich variierendem Ausmaße – erfahrene Negativität umfassen. Die Kritik, dass Kohärenz nicht immer mit Rationalität korreliert, 53 rückt die oben gestellte Frage nach der Bestimmung von Authentizität ins Zentrum. Damit zusammenhängend ist auch die Frage, was den (besonderen) Wert von Kohärenz ausmacht. Arpaly schlägt ein Verständnis von Authentizität vor, welches die Probleme bei Ekstrom überwinden soll. Sie will moralischen Wert ihrerseits an der »Qualität des Willens« bestimmen. Anstatt eines Kohärenzkriteriums schlägt Arpaly ein Kriterium der »Tiefe« vor. 54 Dieses ist zwar weniger substantiell und offener als Ekstroms Kohärenzkriterium. Allerdings stellt auch das Konzept der Tiefe einen Bezug auf einen speziellen, qualifiArpaly, 2003, 28. Ihr Argument kann in Verbindung mit jenem Levinssons bezüglich unbewusster Kognition betrachtet werden. 51 Juth, 2005, 134 52 Meyers, 2000, 163 53 Auf dieses Argument wird im Zusammenhang mit Seel zurückgekommen. 54 Arpaly, 2003, 59, 95–96 50

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zierten Teil des Selbst dar. Ein wichtiger Unterschied ist dabei, dass Arpaly keinen Zeitfaktor einbaut. Allerdings führt diese offenere Bestimmung eines Kriteriums für Authentizität auch zu mehr Unklarheit. Wie sollen ›tiefe‹ von ›oberflächlichen‹ Präferenzen unterschieden werden und was macht die Überlegenheit ›tiefer‹ Präferenzen gegenüber ›oberflächlichen‹ aus? Ekstrom verteidigt ihre Kohärenztheorie gegenüber Arpaly mit dem Hinweis, die Kohärenztheorie sei ein gehaltvolleres Verständnis von Autonomie. 55 Arpalys eigene Theorie, die sie eine »quality-of willbased theory of moral worth« nennt, stellt einen Versuch zu einer substantiell nicht-gehaltvollen Theorie dar. Arpaly bekennt dabei, ihre »quality-of will-based theory of moral worth« lasse eine Lücke offen. Ihr Ausgangspunkt unterscheidet sich von jenem Ekstroms bezüglich des Ausmaßes substantieller Annahmen, welche sie bezüglich einer Bestimmung von Autonomie oder Authentizität als möglich und berechtigt betrachtet Moralischer Wert kann als Ausdruck ›guten‹ Willens nicht erschöpfend erklärt werden. Ein solcher müsste definiert sein als Wille, welcher Handlungen um deren Eigenschaften willen ausführen will. Wie ›erstrebenswerte‹ Eigenschaften von Handlungen zu bestimmen sind, d. h. wie ihre substantielle Bestimmung zu verstehen sei, muss gemäß Arpalys Auffassung offen bleiben. 56 Ekstroms Theorie ist diesbezüglich umfassender und ihr Autonomieverständnis gehaltvoller. Es ist Ekstroms Absicht, durch die Bestimmung prozeduraler Richtlinien die Identifizierung inhaltlicher Anhaltspunkte für individuelle Autonomie festzulegen. Für ein bestimmtes Individuum ist aufgrund der Identifizierung des wahren Selbst als Summe kohärenter Charakterelemente ein inhaltlicher Rahmen autonomer Handlungen feststellbar.

6.2.3 Das wahre Selbst Ekstrom präsentiert ein intuitiv ansprechendes Autonomiekonzept. Autonom handeln ist dadurch bedingt, dass die Handlung jene Person ausdrückt, mir der jemand sich mit einem guten Gefühl identifizieren kann. Mit der Berücksichtigung dieser rational bedingten und zugleich 55 56

Ekstrom, 2005b, 65–67 Arpaly, 2003, 115

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gefühlsmäßigen Übereinstimmung eines autonomen Urteils oder einer autonomen Handlung formuliert Ekstrom ein Autonomiekonzept, welches einen wesentlichen Aspekt von Autonomie als Kompetenz anspricht. Nicht nur aus psychologischer, sondern auch aus ethischer Perspektive muss aber die Verlagerung des Autonomiekriteriums ins ›Innere‹ des Individuums, wie oben bereits angesprochen, auch als problematisch betrachtet werden. Entscheidend ist bei Ekstrom das so genannte wahre Selbst, welches gemäß ihrer Theorie in Abgrenzung vom Selbst als Ganzes bestimmt werden kann. Die Präferenzen des wahren Selbst werden in Ekstroms Konstruktion sozusagen zur Teilmenge der gesamten Menge von Präferenzen des Selbst. Ekstrom meint, gewisse Handlungen oder Verhaltensweisen würden auch ohne externen Zwang als frustrierend erlebt, da sie nicht dem wahren Selbst entsprächen. Der Begriff des wahren Selbst ist nicht metaphysisch, sondern psychologisch gemeint und auf gewisse Eigenschaften bezogen, die für eine gewisse Person als ›typischer‹ als andere Eigenschaften erlebt werden, da sie als ›konstanter‹ mit der entsprechenden Person aufgefasst werden. Ekstrom schreibt: »Certain acts we do frustrate rather than express the self«. 57 Sie führt zur Beurteilung der Echtheit von Elementen des Charakters – in Anlehnung an Frankfurt – auch einen Aktivitäts- oder Reflexionsaspekt ein. So unterscheidet sie zwischen Verlangen, die bloß »entstehen« (»arise«) und Verlangen, die aufgrund kritischer Reflexion aktiv umfasst (»endorsed«) werden. 58 Arpaly erhebt gegenüber Ekstroms und Frankfurts Theorien den berechtigten Einwand, sie resultierten in sehr engen Autonomieverständnissen. Arpaly bemerkt, Handlungen würden nur selten auf Grund einer Reflexion höherer Ordnung wirklich bewusst ausgeführt. Sie unterstreicht dabei auch, dass eine aktive, bewusste und nachhaltige Gestaltung und Umgestaltung des eigenen Charakters, wie von Ekstrom diskutiert, als sehr selten vorkommendes Geschehen betrachtet werden müsse. 59 Eine autorisierte Präferenz reflektiert für Ekstrom das, was »truly mine« oder »really mine« ist. 60 Die Kriterien für die Autorisation oder für die Kohärenz werden bei Ekstrom absichtlich ganz ins ›Innere‹ des ethischen Subjektes verlagert. Damit entsteht eine zweifache Proble57 58 59 60

Ekstrom, 2005a, 153. Siehe auch 2005b, 45. Ekstrom, 1993, 607 Arpaly, 2005, 169–171 Ekstrom, 1993, 615

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matik. Erstens werden die Kriterien für autonomes Handeln undurchsichtig. 61 Sie sind schlecht prüfbar für Außenstehende. Gerade die Prüfbarkeit ist aber auch das Problem des Individuums selbst. Das Kohärenzkriterium verlangt Übereinstimmung mit psychischen Dispositionen, die für das Individuum selbst nicht unbedingt eindeutig sind. Levinsson spricht von einem »stabilen System« bei Ekstrom. Er betrachtet diese Stabilität als Vorteil gegenüber der hierarchischen Theorie Frankfurts. »CTA (coherence theory of autonomy, meine Anmerkung) suggests a plausible solution to the infinite regress problem by assuming the capacity to authorize, control and maintain internal consistency in the (evaluation) system.« 62 Die Plausibilität dieser durch ein Kohärenzkriterium gesicherten Stabilität des wahren Selbst ist angesichts der Einwände, wie sie Arpaly anbringt, allerdings fraglich. Wie kann angesichts menschlicher Widersprüchlichkeit, wie sie auch Ekstrom wiederholt diskutiert, und zusammengesetzter Identitäten entschieden werden, was den Kern des eigenen wahren Selbst ausmacht? Ekstroms Darstellung der Kohärenz wirkt in dieser Hinsicht allzu vereinfachend. Allerdings ist diese Stabilität interessant in einer Zeitdimension, d. h. verstanden als eine Trägheit oder Langsamkeit über Zeit. Problematisch ist zweitens die der Abgrenzung eines wahren Selbst zugrunde liegende Wertung. Indem sie die kohärenten Elemente des Selbst als das wahre Selbst definiert, wertet Ekstrom das wahre Selbst zugleich als wertvolleren Teil des Selbst. Warum aber soll der wahre Teil des Selbst auch den wertvolleren oder erstrebenswerteren Aspekt des Charakters einer Person konstituieren? 63 Bei Ekstrom lässt sich für diese Wertung höchstens eine Art implizites, hedonistisch gefärbtes Argument feststellen. Das wahre Selbst wäre demgemäß zugleich das wertvolle Selbst, weil es jenen Teil der Präferenzen konstituiert, deren Befolgung nicht als frustrierend empfunden werden. Aber 61 Diese Kritik muss auch Arpalys »quality-of will-based theory of moral worth« treffen. Es gilt allerdings zu bedenken, dass Arpalys Interesse nicht Autonomie an sich betrifft, sondern moralische Verantwortung. Indem sie Autonomie auf moralische Verantwortung bezieht, argumentiert sie dafür, dass die Bedeutung der Autonomie oft übertrieben werde und dass das Verhältnis zwischen den beiden nicht unkompliziert sei. Während Autonomie eine Art Vorbedingung für sowohl moralische Verantwortung wie moralische Empfindlichkeit oder Feinfühligkeit (»responsiveness«) ist, darf Autonomie gemäß Arpaly nicht als Grund oder notwendige Voraussetzung moralischer Verantwortung gedacht werden. (Arpaly, 2003, 147) 62 Levinsson, 2008, 47 63 Mackenzie & Stoljar, 2000, 14–15

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warum soll ein kohärenter Teil des Selbst zugleich das wahre Selbst ausmachen? Ekstrom nennt drei Gründe für ihre Identifizierung kohärenter Charakterzüge mit dem wahren Selbst. Sie sagt, kohärente Charakterelemente seien aufgrund dreier Eigenschaften überlegen: Sie währten lange, seien gegenüber äußeren Einflüssen vertretbar (»fully defensible against external challenges«) und über sie zu verfügen würde als bequem empfunden. Damit sind kohärente Charakterelemente auch »relativ stabil über Zeit«. 64 Diese Gründe erklären zwar die Kohärenz an sich, reichen aber, wie Ekstrom geltend machen will, als Grund für eine positive Wertung im Sinne von Ekstroms Begriff des wahren Selbst nicht aus. Autonomie könnte – beispielsweise mittels soziokultureller oder psychoanalytischer Sichtweisen – statt als Ausdruck der Übereinstimmung ebenso als Ausdruck der Abweichung von kohärenten Charakterelementen dargestellt werden.

6.2.4 Langsame Autonomie Ekstroms Kohärenztheorie der Autonomie hat einen interessanten zeitlichen Aspekt. Autonomie als Kohärenz oder als Authentizität, welche bei Ekstrom also identisch sind, hat den Effekt einer Einführung eines Zeitfaktors in das Autonomieverständnis. Autonomie kann bei Ekstrom nicht plötzlich entstehen. Sie ist geprägt von einer zeitlich bedingten Trägheit oder Langsamkeit. Ich bezeichne diesen Aspekt von Ekstroms Autonomiekonzept als langsame Autonomie. »Whatever the deliverances of our backgrounds, we have an ability to evaluate desires with respect to worth and to critically evaluate propositions, granting some our acceptance. As we make such decisions from the perspective of our existing characters, we reform ourselves, becoming to a greater extent selfmade.« 65

Das wahre Selbst konstituiert sich gemäß dieser Beschreibung immer an dem vorgefundenen, d. h. dem bereits bestehenden Selbst. Indem Neues an Bisherigem gemessen wird, kommt Letzterem eine normierende Funktion zu, wie es Autonomiekonzepte kantischer Art oder relationaler Art nicht kennen. Durch die Forderung einer Prüfung auf

64 65

Ekstrom, 1993, 607–609; 2005a, 154–155; 2005b, 59 Ekstrom, 2005b, 55 (meine Kursivierung)

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einer Ebene höherer Ordnung in Form autorisierter Präferenzen führt Ekstrom eine zeitlich bedingte Trägheit in das Verständnis von Autonomie ein. 66 Bei Ekstrom hat diese psychisch bedingte Trägheit eine normierende Funktion. 67 Nur was sich bei der Abstimmung mit vorhandenen Charaktersystemen, welche selber eine Tendenz zu Stabilität über Zeit haben, als kohärent mit denselben erweist, kann Ausdruck von Autonomie sein. Es ist oben anhand von Arpalys Einwänden darauf hingewiesen worden, dass dabei einer psychischen oder ›inneren‹ Widersprüchlichkeit des Selbst schlecht Rechnung getragen wird. Dass Handlungen, die als Ausdruck – auch zwiespältiger – Spontaneität entstehen, Autonomie aberkannt wird, ist problematisch. Diese Sichtweise öffnet aber dennoch – insbesondere aus moralpädagogischer Sicht – eine interessante Perspektive. Einem Konzept langsamer Autonomie zufolge ist Autonomie von einer ständigen Rückbindung an vorhergehende Stellungnahmen abhängig. Damit verbindet ein Konzept langsamer Autonomie ein formalistisches Verfahren mit inhaltlichen Erfahrungen und einer zeitlichen oder geschichtlichen Dimension. Hinsichtlich dieses zeitlichen Aspekts ist Autonomie in Ekstroms Kohärenztheorie als der Dichotomie Autonomie – Dependenz enthoben dargelegt. Wenn Autonomie in Abstimmung oder Kohärenz mit zeitlich früheren Urteilen und Handlungen bestimmt ist, dann ist sie in eine zeitliche Bestimmung integriert. Eine Zeitdimension ist konstitutiver Aspekt von Autonomie, was diese als langsame Autonomie erscheinen lässt. Insofern als eine Person Zeit unterworfen ist, ist sie von einem Vorher und Nachher abhängig. Sie ist somit nicht zeitlos oder innerhalb einer von Zeit abstrahierten Gegenwart zu verstehen. Die autonome Person respektive deren Autonomie sind gemäß einer solchen Sichtweise als integriert in Zeit zu verstehen. Insofern als sich die autonome Person, Zur zeitlichen Bedeutung der inneren Kohärenz siehe auch Levinsson, 2008, 49. Ähnliche Vorstellungen eines ›gefestigten moralischen Selbst‹ finden sich auch in jüngerer entwicklungspsychologischer Forschung. Die Kritik an den lange dominierenden Theoriebildungen zu Moralentwicklung mit Schwergewicht auf Moralentwicklung als Kognitionsentwicklung (siehe Kapitel 1) wird zum Anlass genommen, Moralität und deren Entwicklung breiter zu konzeptualisieren und zu erforschen. Insbesondere die Bedeutung von Motivations- und Handlungsdimensionen wird hervorgehoben. Dabei fließt ein Konsistenzkriterium in die Diskussion ein und Entwicklung wird anhand zunehmender Konsistenz zwischen moralischen Urteilen, Handlungen und Ansichten beschrieben. (Oerter & Montada, 2002, 645; Lapsley & Narvaez, 2004) 66 67

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welche gemäß Ekstrom in den Urteilen und Handlungen des wahren Selbst zum Ausdruck kommt, auf zeitlich vorhergehende Urteile und Handlungen beziehen muss, ist sie in dieser Bezogenheit auf eine zeitliche Dimension in Zeit integriert. Das autonome Subjekt ist somit in seiner Autonomie von einer zeitlichen Dimension, die für seine Existenz kennzeichnend ist, abhängig. Dies ist als Aussage zu einer Abhängigkeit von Autonomie von Zeit zu verstehen, was mit einer Aussage, Autonomie sei anhand eines zeitlich definierten Entstehungsprozesses zu erklären und darzustellen, nicht gleichbedeutend ist. Der Ausdruck langsame Autonomie bezeichnet ein Verständnis von Autonomie, welches diese als über Zeit veränderlich betrachtet, ohne dass damit ein zeitlich bedingter Entwicklungsprozess angesprochen oder ein zeitlich bestimmbarer Anfangspunkt beansprucht würde. Langsame Autonomie ist über Zeit veränderlich und für verschiedene Ausdrucksweisen in Zusammenhang mit einer zeitlichen Dimension zu bringen. Diese zeitliche Abhängigkeit wird als Aspekt von Dependenz gedeutet. Autonome Urteile oder Handlungen sind nicht nur in der Gegenwart, sondern in ihrer Bezogenheit auf Vergangenheit und Zukunft zu verstehen. Dies bildet einen Kontrast zur subjektphilosophischen Darstellung des autonomen Subjektes, welche dieses als seinem Kontext auch als zeitlicher Bestimmung enthoben betrachtet. Pädagogisch bedingt aber die Vorstellung einer langsamen Autonomie keinen direkt ableitbaren, legitimierbaren Anspruch, der sich auf einen zeitlich bedingten Vorsprung seitens Erwachsener berufen könnte. Vielmehr drängt ein Konzept langsamer Autonomie zur Anerkennung einer komplexen Situation, die eine sorgfältige Problematisierung der moralpädagogischen Ansprüche Richtung und Asymmetrie verlangt. Die Veränderlichkeit und die Abhängigkeit von Zeit werden in der folgenden Argumentation als einem Anspruch starker Asymmetrie widersprechend gedeutet.

6.2.5 Langsame Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung Langsame Autonomie muss als moralpädagogische Zielvorstellung nicht an eine Idee eines wahren Selbst gebunden sein. Auch aus pädagogischer Sicht erscheint die oben bereits als philosophisch und ethisch problematisch dargestellte Vorstellung eines wahren Selbst als kohä336 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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rente Teilmenge des Selbst als zweifelhaft. Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie hätte dann zugleich zur Absicht, die Formung eines wahren Selbst zu fördern. Kinder würden sich von Erwachsenen darin unterscheiden, ein weniger wahres oder weniger deutliches wahres Selbst zu haben. Das führt beinahe zurück zu Assoziationen, wie sie bei Kant zu finden sind, dass Kinder erst durch Erziehung zu Menschen würden. Der Anspruch an Asymmetrie würde sich in der Folge kaum als dialektisch, sondern als starke Asymmetrie artikulieren müssen. Langsame Autonomie ist von einem Kohärenz erzeugenden, zeitlich bedingten Rückbezug auf vorhergehende Urteile und Handlungen oder Präferenzen abhängig. Es fragt sich im Anschluss daran, inwiefern Kinder gemäß einer solchen Auffassung überhaupt autonom sein können. Hier erhält der oben angesprochene Umstand, dass Authentizitätskonzepte von Autonomie diese als gradierbares Phänomen betrachten, Bedeutung. Da ein zeitlich bedingter Rückblick bei Kindern kürzer als bei Erwachsenen ausfallen muss, sind Erstere, sofern eine Kohärenztheorie von Autonomie gelten soll, in der Folge weniger autonom. Ihre Autonomie kann sich bezüglich autorisierter Präferenzen nicht auf die gleiche Menge vorhergehender Erfahrungen stützen. Dies ist strukturell mit dialektischer Asymmetrie als adäquatem Anspruch in der Erziehungssituation übereinstimmend. Es stehen sich in der Erziehungssituation nicht abhängige Kinder und autonome Erwachsene gegenüber. Vielmehr prägt Dependenz und Autonomie Beide, aber vermutlich in unterschiedlichem Ausmaß. Ein Anspruch an Asymmetrie wäre demgemäß mit langsamer Autonomie als Zielvorstellung insofern übereinstimmend als er sich auf eine zeitlich bedingte Differenz berufen würde. Insofern als die Idee einer langsamen Autonomie aber keinen linearen und stetigen, zeitlichen Prozess umfasst, sondern als Hinweis auf kontinuierliche und unstete Veränderlichkeit gedeutet wird, ist Asymmetrie nicht als starke, sondern lediglich als dialektische Asymmetrie beanspruchbar. Es wird mit einer Situierung von Autonomie in Zeit (wie im Konzept langsamer Autonomie) kein linearer und somit eindeutiger zeitlicher Prozess vorausgesetzt, der in einer Weise verstanden werden müsste, dass mit zunehmendem Alter Personen automatisch zunehmend autonomer würden. Dies wäre eine Vereinfachung, welche Ekstroms Ausführungen zu Authentizität als Kohärenz nicht gerecht werden könnte. Vielmehr ist in ihrer Theorie die Richtung der Veränderlichkeit über Zeit offen. Wenn langsame Autonomie ohne die Vorstellung eines wahren 337 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Autonomie in Zeit

Selbst als zeitlich bedingte Rückbindung an vorhergehende Erfahrungen, Urteile und Handlungen verstanden wird, zeichnen sich interessante Implikationen hinsichtlich des Anspruchs riskanter Richtung ab. Autonomie wird als langsame Autonomie zum fortlaufenden und nie ganz abgeschlossenen Projekt. Auch Erwachsensein beinhaltet somit eine Herausforderung, autonome Urteile und Handlungen in Abstimmung mit vorhergehender Erfahrung zu evaluieren und sich so ständig von Neuem der Frage zu widmen, inwiefern autonome Urteile und Handlungen tatsächlich in Entsprechung mit der eigenen Person ausgeformt sind. In dieser Langsamkeit eines trägen und unabschließbaren Prozesses spiegelt sich die Großflächigkeit von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung wider. Eine moralpädagogische Zielvorstellung langsamer Autonomie ließe sich mit einem Anspruch riskanter Richtung in Verbindung bringen. Wenn aus Sicht der erziehenden Person mit einer pädagogischen Bemühung um Autonomie als Kohärenz nicht die Hervorbringung des ›wahren‹ Selbst der zu erziehenden Person beabsichtigt und beansprucht wird, kann Richtung im Rahmen einer solchen Bemühung um Kohärenz nur als riskant beansprucht werden. Dies ist darin begründet, dass Autonomie als Kohärenz an ›inneren‹ Aspekten des Selbst orientiert ist. Autonom ist eine Handlung, wenn sie bei der handelnden Person langfristig Wohlgefühl hervorruft. Ein solches langfristiges Wohlgefühl ist von einem Gefühl, die Handlung entspreche der Person, die jemand wirklich sein will, abhängig. Wenn Kohärenz auf diese Weise normierend ist, ist ein Anspruch an Richtung darum riskant, weil ihm außer Kriterien ›innerer‹ Aspekte der Person keine ›äußeren‹ Maßstäbe zugrunde gelegt werden können. Das Problem der Beliebigkeit, welches Kohärenz als Kriterium anhaftet, ist zwar nicht behoben, aber dennoch eingeschränkt durch das prozedurale Rationalitätskriterium, welches Ekstrom von Frankfurt übernimmt. Was in Erziehung mit einer Zielvorstellung langsamer Autonomie durch den Anspruch der Richtung als ›Verbesserung‹ beansprucht werden kann, ist in der Folge nicht einfach beliebig. Umgekehrt muss Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie immer ein Element von Unsicherheit umfassen. Dies ist darin begründet, dass es um die Ermutigung der zu erziehenden Person zu eigenen Stellungnahmen geht, selbst wenn dies von erziehenden Personen gelegentlich als »Kosten von Autonomie« erlebt wird. 68 68

MacMullen, 2007, 124

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Wenn die Kohärenz autorisierter Präferenzen als Ausdruck von Autonomie darin bestimmt ist, dass, wie es Ekstrom ausdrückt, sich im Zusammenhang mit einem Urteil oder einer Handlung eine Art ›innerer‹ Zufriedenheit einfindet, dann ist Autonomie inhaltlich nicht festgelegt. Sie ist lediglich an die zeitlich situierte Person geknüpft. Richtung als Anspruch in Erziehung, Verbesserung anzustreben, wäre demgemäß insofern als riskant zu artikulieren, als Erziehung zu langsamer Autonomie für die autorisierten Präferenzen der zu erziehenden Person offen sein muss. Langsame Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung umfasst dabei eine utopische Vorstellung, die Richtung angibt und eine pädagogische Bemühung fordert. Sie stellt aber das anzustrebende Ideal auch als einer Forderung nach Veränderlichkeit und Plastizität unterworfen dar.

6.3 Autonomie als Verschrnkung von Selbstbestimmung und »sich bestimmen lassen« (Seel) Seel widmet sich dem Thema der Selbstbestimmung 69 von der Perspektive des Individuums her und entwickelt sein Verständnis der Autonomie aus philosophischen Überlegungen zur menschlichen Psyche. Ein Rückgriff auf die Sichtweise Ekstroms soll hier zeigen, dass die Beiden einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Die Schlussfolgerungen, die sie für das Verständnis von Autonomie machen, sind aber diametral verschieden. Beide stellen an den Anfang ihrer Überlegungen eine Erfahrung der Inkonsistenz oder der Divergenz des handelnden Subjektes. Ekstrom formuliert dies als Erfahrung von Frustration im Zusammenhang mit gewissen Handlungen, d. h. als ein Gefühl, die Handlungsweise entspreche nicht jenem Selbst, welches man eigent69 Seel spricht fast ausschließlich von Selbstbestimmung, verwendet sporadisch aber auch die Begriffe autonom und Autonomie. Ich referiere Seels Texte mithilfe seines Begriffes der Selbstbestimmung, übertrage seine Theorie der Selbstbestimmung dann aber auf die im Rahmen dieser Arbeit geführte Diskussion des Begriffes Autonomie. Der Autonomiebegriff, wie er für diese Arbeit definiert worden ist, umfasst sowohl Konzept wie auch Ideal und wird im Vergleich zu Selbstbestimmung somit als substantiell gehaltvollerer (›dickerer‹) Begriff gebraucht. (Siehe Einleitungskapitel.) Seel versteht seinen Begriff der Selbstbestimmung als »elementar«, der philosophischen Anthropologie zugehörig und damit moralphilosophischen Überlegungen zugrunde liegend. (Seel, 2002, 285)

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lich sein möchte. 70 Seel spricht von einer »Arbitrarität gewählter Wünsche« und lehnt zugleich »die Ambition einer durchgehenden Rationalisierung« als unrealistisch und damit auch destruktiv ab. 71 Ekstrom beschreibt diese Inkonsistenz als Gegensatz zu Autonomie, welche bei ihr als langsam etablierte Kohärenz zu verstehen ist. Seel erhebt Inkonsistenz zu einem wichtigen und konstitutiven Bestandteil von Selbstbestimmung oder Autonomie. Der Erfahrung der Inkonsistenz stellt Ekstrom ein Autonomiekonzept gegenüber, welches an die Bedingung der Kohärenz (verstanden als Authentizität) gebunden ist. Seel hingegen macht die Erfahrung von Inkonsistenz im Zusammenhang mit menschlichem Urteilen und Handeln zu einem integrierten Aspekt seines Verständnisses von Selbstbestimmung. Dies soll hier als Erfahrung der Unstetigkeit bezeichnet werden. Selbstbestimmung oder Autonomie ist bei Seel der Umgang mit Unstetigkeit. Insofern als Autonomie sich in Bezug auf Unstetigkeit konstituiert, ist sie innerhalb von Dependenz als zeitlich bedingter Veränderlichkeit situiert. Diese Veränderlichkeit hat aber bei Seel nicht dieselbe Bedeutung wie Ekstroms Langsamkeit, sondern äußert sich in einer Spontaneität als kennzeichnend für Autonomie. Ein Hauptmerkmal von Seels Autonomieverständnis ist der Miteinbezug nicht kontrollierbarer Erfahrungen und Ereignisse in die Selbstbestimmung des Individuums. Dies illustriert auf prägnante Weise Seels Ernennung der Eigenschaft Gelassenheit zur Tugend: Siehe Fußnote 57, S. 332. Seel, 2002, 223. Während es hier bezüglich einer »Ambition einer durchgehenden Rationalisierung« um intrasubjektive Rationalisierung, Konsistenz oder Kohärenz geht, ist mit den Divergenzen, welche Seel diesbezüglich hervorhebt, auch eine ethische Diskussion hinsichtlich intersubjektiver Prozesse angesprochen. Insbesondere aus einer kontraktsethischen Perspektive sind Divergenzen bezüglich verschiedener persönlicher Interessen und gesellschaftlicher Normen diskutiert worden. Es geht in dieser Diskussion um die Frage, wie Konfliktsituationen bezüglich divergierender Interessen auf ethisch legitime Weise zu lösen sind. Für den Zusammenhang hier besonders interessant ist der Umstand, dass die kontraktsethische Sichtweise ihre Glaubwürdigkeit aus der wenig beachteten Annahme einer für die Problematik der Uneinigkeit wesentlichen Zeitdimension bezieht. Unter der Voraussetzung, dass divergierende Interessen sowie sozial etablierte Normen (als ›Kontrakte‹) über Zeit nicht statisch, sondern veränderlich sind, erscheint das ethische Ringen um das normativ gemeinsam Akzeptable seine Legitimität aus dieser zeitlich bedingten Veränderlichkeit zu beziehen. (Görman, 2002, 23, 30–31) Damit scheinen sich bezüglich intersubjektiver und intrasubjektiver Divergenzen als normativ wesentlicher Faktor für zu etablierende Legitimität analoge Abhängigkeiten von Zeit abzuzeichnen.

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»(…) der Abstand, der sich in der Gelassenheit herstellt, betrifft lediglich den Glauben und die Beherrschbarkeit der Situationen, zu denen wir uns mit der uns eigenen Bestimmtheit verhalten. Wer Gelassenheit hat, verzichtet, soweit er sie hat, auf eine Verfügung über das, worüber nicht zu verfügen ist – aber damit, wenn er konsequent ist, auch auf eine zeitlose Beantwortung der Frage, was denn in seiner Verfügung steht.« 72

Gelassenheit wird also bei Seel zur Tugend. Er versteht sie als Bewusstsein vom Ungewissen und als Kompetenz, insofern damit umgehen zu können, als von Versuchen, Ungewisses zu beherrschen, abgesehen wird. Eine entscheidende Funktion von Selbstbestimmung oder Autonomie ist somit bei Seel die Erkenntnis von und der Umgang mit verschiedenen Formen des Ungewissen oder Unbestimmbaren. Insofern als Autonomie das Unbestimmbare umfasst, ist sie in Dependenz integriert. Autonomie ist bei Seel nicht als Ausschluss anderer Einflüsse zu denken. Sie ist nicht totale Kontrolle und auch kein Streben nach totaler Kontrolle, sondern besteht aus einem bewussten sich Verhalten gegenüber ›inneren‹ und ›äußeren‹ Abhängigkeiten. Dependenz ist bei Seel als Abhängigkeit sowohl intersubjektiv wie auch intrasubjektiv zu verstehen. In Bezug auf Intersubjektivität spricht Seel von Selbstbestimmung als »weltoffener Orientierung«. 73 Es geht bei Selbstbestimmung um das Verhältnis zwischen Offenheit und Kontrast. Intrasubjektive Abhängigkeiten und deren Handhabung in Selbstbestimmung diskutiert Seel unter anderem anhand des Begriffpaares Willensschwäche und Willensstärke sowie anhand des Verhältnisses zwischen Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung. Ich deute seine anhand dieser beiden Aspekte geführten Überlegungen als Autonomie in Unstetigkeit oder, deutlicher auf die hier thematisierte Zeitdimension bezogen, als punktuelle Autonomie. Den Rahmen von Seels Theorie der Selbstbestimmung bildet der Gedanke, der Begriff der Selbstbestimmung müsse auf einer Verschränkung von aktiver Handlung und passivem Geschehnis gründen. Seel spricht von einer »Einheit von Tun und Lassen« und wendet sich gegen ein Verständnis von Selbstbestimmung, welches seiner Ansicht nach übersieht, dass »innen und außen überall unbeherrschte und vielleicht unbeherrschbare Kräfte am Werk sind«. Nur wenn diese »unbeherrschte(n) und vielleicht unbeherrschbare(n) Kräfte« in ein Verständnis von 72 73

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Selbstbestimmung integriert werden, kann, so Seel, Selbstbestimmung als »mögliche Wirklichkeit unseres Lebens« artikuliert werden. Seel will Selbstbestimmung dabei als »das Vermögen, sich bestimmen zu lassen« erschließen und spricht von »entwickelten Fähigkeiten der Rezeptivität« als »konstitutives Verfahren von Selbstbestimmung«. 74 Wenn bestimmen auch bestimmen lassen ist, geschieht dies gemäß Seel in drei Hinsichten: in Hinsicht auf die Materie, d. h. die Eigenschaften des Gegenstandes, der wahrgenommen und beurteilt wird; in Hinsicht auf intersubjektive Medien, wie sie z. B. Sprache liefert; und im Hinblick auf Motive, die für die Selektion als relevant empfundener Wahrnehmung und Erkenntnis bestimmend sind. Seel formuliert die Funktion dieser Dimensionen wie folgt: »In jeder dieser Dimensionen müssen wir uns auch und gerade dann leiten lassen, wenn wir uns aus eigener Kraft leiten wollen. Indem wir bestimmen, lassen wir uns bestimmen.« 75 Es geht Seel um eine Verschränkung von aktiver und passiver Bestimmung. Es gilt allerdings zu berücksichtigen, dass Seel nicht geltend macht, diese drei Dimensionen seien außer Reichweite unserer Intention zu finden oder sie seien notwendigerweise determinierend. Es geht ihm in diesem Sinne also nicht darum, den Umfang der Selbstbestimmung einzuschränken. Vielmehr will er Selbstbestimmung funktional bestimmen und hebt dabei hervor, wir seien für unsere Selbstbestimmung auf den Gebrauch von uns bestimmenden Elementen angewiesen. Unsere Selbstbestimmung erfolgt also immer auf der Grundlage von Gegebenem und als Reaktion auf Vorgefundenes. Insofern ist alle Selbstbestimmung immer auch Abhängigkeit. Dies macht uns oder unsere Selbstbestimmung gemäß Seel aber nicht weniger selbstbestimmt. Es geht ihm nicht um eine quantitative Einschränkung, sondern um eine qualitative Bestimmung des Begriffes Selbstbestimmung. Damit ist auch der Einwand, es müsse doch möglich sein, sich dieser Fremdbestimmung – im Sinne einer Distanzierung oder Loslösung – zu entSeel, 2002, 279, 285, 289. Den Begriff des Bestimmens definiert Seel wie folgt: (Bestimmen ist) »die Fähigkeit der erkennenden Festlegung darauf, wie etwas ist oder wie etwas sein soll. Der Ausdruck ›Festlegung‹ meint dabei eine Handlung, in der eine Position gewonnen wird, die ihre Kontur gegenüber möglichen anderen Positionen erhält: gegenüber anderen inhaltlichen Festlegungen wie gegenüber den zustimmenden oder abweichenden Meinungen der anderen. Nur in diesem doppelten Spielraum ist eine eigene Festlegung und damit überhaupt eine Festlegung möglich.« (Seel, 2002, 287) 75 Seel, 2002, 288 74

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ziehen, ungültig. Seel würde diese Möglichkeit kaum bestreiten. Er würde vermutlich nur festhalten, dass diese Loslösung eben in Abhängigkeit des »Sich bestimmen Lassens« geschehen muss. Bei der Identifikation dieser drei Dimensionen von »sich bestimmen lassen« stellt Seel intersubjektive und intrasubjektive Aspekte in Verbundenheit zueinander dar. Dennoch wird im Folgenden je ein Abschnitt der Besprechung intersubjektiver und intrasubjektiver Aspekte von Selbstbestimmung gewidmet. Dies hat seinen Grund weder darin, dass eine deutliche Trennung der beiden von Seel vorgeschlagen würde, noch in einer Ambition, hier für eine solche zu plädieren, sondern in der Absicht, der Frage nach einer moralpädagogischen Bestimmung legitimierbarer Autonomie entlang der Linien zwischen ›inneren‹ und ›äußeren‹ Aspekten des Selbst nachzugehen. Die dabei vorgenommene Unterscheidung zwischen intersubjektiven und intrasubjektiven Abhängigkeiten wird nicht als kategorische, sondern als vorläufige, zum Zweck der Aufgabe vorgenommene Unterscheidung betrachtet.

6.3.1 Autonomie in Intersubjektivität – Offenheit und Kontrast Selbstbestimmung ist gemäß Seel an Individualität oder Subjektivität gebunden. Diese ist jedoch in einen sozialen Kontext eingebettet. Seel beschreibt Selbstbestimmung als individuelle Bewahrung oder Veränderung vorgefundener und geteilter Lebenspraxis. Wichtig ist ein wertendes Element gegenüber Vorgefundenem. »Zur Idee von Selbstbestimmung gehört vielmehr lediglich, dass man wichtige Handlungs- und Lebensalternativen, die sich unter den gegebenen Bedingungen ergeben oder ergeben könnten, bis zu einem gewissen Grad selbst entdecken und entwickeln, auf jeden Fall aber selbst bewerten und für das eigene Handeln entscheiden kann. Dies geschieht zudem notwendigerweise in Kontexten einer mit anderen geteilten Praxis und Kultur, die überhaupt erst die Perspektiven bereitstellen, die von selbstbestimmter Lebenspraxis übernommen und modifiziert werden können. (…) Alle Selbstbestimmung hat insofern eine kontrastive Bedeutung; sie vollzieht sich im Verhältnis zu und in Antwort auf die Bestimmungen, die man von der sozialen Umgebung mitbekommen hat.« 76

Es wird hier deutlich, dass bei Seel Autonomie die beiden Aspekte des Bestimmens und des Bestimmtwerdens umfasst. Autonomie wird aus76

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gehend vom oder innerhalb vom sozialen Kontext (als Aspekt von Dependenz) betrachtet und lässt sich somit nicht als eigenes oder abgesondertes Phänomen verstehen. Autonomie ist in Verknüpfung mit Dependenz zu verstehen. Dies kommt auch in Seels Formulierung zum Ausdruck, bei Selbstbestimmung handle es sich »bis zu einem gewissen Grad« um die Entdeckung und Entwicklung dessen, was als bereits von Anderen entdeckt und entwickelt vorgefunden wird. An dieser Stelle bleibt aber Selbstbestimmung vage und diese Vagheit ist auch in Seels Versuch, das Verhältnis von Selbstbestimmung und Kontextualität näher einzukreisen, bestehend. Einerseits, so Seel, sei Selbstbestimmung auf die Perspektiven, die durch Kultur und Praxis mit anderen geteilt werden, hingewiesen. Diese verlange Selbstbestimmung als Offenheit gegenüber Kontextualität. Andererseits etikettiert Seel Selbstbestimmung als kontrastiv und markiert damit, dass Selbstbestimmung dennoch von einer Distanzierung hinsichtlich dieser Kontextualität geprägt sei. Es geht um eine Distanzierung im Sinne einer Fähigkeit zum Kontrast oder zur Unterscheidung vom ›Anderen‹. 77 Selbstbestimmung umfasst gemäß Seels Verständnis also beide diese Verhältnisse, d. h. Offenheit und Kontrast, zur Kontextualität. So verlangt Selbstbestimmung zugleich eine Offenheit gegenüber vorgefundenen, nicht bestimmbaren »äußeren und inneren Möglichkeiten« und die Fähigkeit, »eine eigene Antwort auf die ihnen begegnenden Verhältnisse zu finden«. 78 Worin aber diese Kombination von Offenheit und Kontrast genau besteht und wie aus dem Verhältnis der beiden Selbstbestimmung verstanden werden kann, zeigt erst, ob sich darin ein aus moralpädagogischer und ethischer Perspektive interessantes Autonomieverständnis zeigen lässt. Wie die nachfolgende Besprechung von Seels Ausführungen dazu zeigen soll, sind die Probleme in Seels Ansatz dort sichtbar, wo sein Verständnis von Selbstbestimmung sich an ein Verständnis von Autonomie anlehnt, welches als Distanzierung des autonomen Subjektes zu seinem Kontext, d. h. als gegenüber zu Dependenz, artikuliert ist. Seel knüpft Selbstbestimmung an ein Subjektivitätskriterium. Er verwendet dazu den Begriff eines eigenen »Raum(es) für eine bewahrende und erneuernde Erschließung entgegenkommender Lebensbereiche und Lebenssituationen«. Für Seel, der Selbstbestimmung 77 78

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auch auf die Bestimmung des guten Lebens bezieht, handelt es sich dabei um einen »existentiellen Einklang«, der als »subjektive Offenheit für relevante Möglichkeiten der gegebenen Welt« verstanden werden soll. Seel betont dabei, ein selbstbestimmtes Leben könne in diesem Sinne als Einigkeit oder als Widerstand gegenüber Gegebenem zum Ausdruck kommen. Wichtig ist die Fähigkeit, ein »an günstigen Aussichten reiches Leben« führen zu können. 79 Damit legt Seel zwar fest, dass Selbstbestimmung nicht einfach an der Art und Weise, wie ein Subjekt sich zu seinem Kontext verhält, ablesbar ist. Offenheit und Kontrast können sich in verschiedenen Verhaltensweisen dem Kontext gegenüber ausdrücken. Wie aber ist dieser »eigene Raum« zu verstehen? In Seels Beschreibung erscheint er als eine Art Deutungsfreiheit. Zu Selbstbestimmung gehört dabei gemäß Seel auch eine »doppelte Korrekturmöglichkeit«. Er bezeichnet damit die Fähigkeit, sich durch Andere und durch Gegenstände »korrigieren« oder beeinflussen zu lassen. Für Seel bildet diese doppelte Korrekturmöglichkeit die Voraussetzung für die Möglichkeit, eigene Antworten formulieren zu können. Sie ist somit Bestandteil der Selbstbestimmung. 80 In dieser Fähigkeit der Korrekturmöglichkeit findet sich auch Seels Verknüpfung der beiden Aspekte Offenheit und Kontrast: Offenheit als Orientierung an Anderen oder Anderem, Kontrast als Formulierung einer eigenen Antwort als Erwiderung zu dieser Orientierung. Diesen Aspekt des »Sich bestimmen Lassens« durch Vorgefundenes beschreibt Seel andernorts detaillierter als eine von drei Dimensionen des Bestimmtwerdens. Eine erste Dimension nennt er »Bestimmtsein ex ante« und bezeichnet damit den Umstand, dass Individuen beispielsweise historisch, kulturell und politisch bedingte Situationen vorfinden. »Bestimmtsein ex ante« sei, so Seel, als Voraussetzung für die Möglichkeit des Bestimmens zugleich trivial und notwendig. Letzteres geschehe immer »gegenüber« von Bestimmtwerden. Eine zweite Dimension, von Seel als »Bestimmtwerden ex post« bezeichnet, betrifft die Konsequenzen und den Gehalt eigener Entscheidungen. Wer etwas bestimmt, bestimmt sich dafür, sich in einer gewissen Hinsicht von diesem Entscheid bestimmen zu lassen. Seel nennt als Beispiel Entscheide verschiedener Tragweite: eine gewisse Zeitung zu abonnieren, einen Beruf zu wählen oder den Entscheid, ein Kind in die Welt zu 79 80

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setzen. Mit solchen Entscheidungen, so Seel, »nehmen wir Einfluss darauf, wie wir uns weiterhin bestimmen lassen wollen«. Als dritte Dimension identifiziert Seel schließlich ein »Bestimmtwerden in actu« und bezieht sich hiermit auf Selbstbestimmung als Handlung. Zum Vollzug von Selbstbestimmung gehören gemäß Seel »passive Leistungen« und dies verlangt »Fähigkeiten der Rezeptivität«. 81 Diese Ausführungen veranschaulichen, dass auch Seels Konzept von Selbstbestimmung von einem Gegenüber zum Bestimmtwerden abhängig ist. Darauf ist auch die oben erwähnte Bezeichnung »kontrastiv« ein Hinweis. Dennoch unterscheidet sich sein Ansatz in zwei Hinsichten wesentlich von Autonomie als Gegenüber zu Dependenz. Seels Verständnis von Selbstbestimmung bringt erstens ein komplexeres Verständnis von Dependenz zum Ausdruck. Selbstbestimmung lässt sich nicht einfach anhand einer Loslösung vom Kontext definieren, sondern wird von Seel in Verschränkung mit Kontextabhängigkeit beschrieben. Da Selbstbestimmung sich in verschiedenen Verhältnissen zum Kontext manifestieren kann, ist der Kern der Selbstbestimmung vielmehr in subjektiven Perspektiven des Individuums zu suchen. Dabei spielt die Wahrnehmung eigener Möglichkeiten eine wichtigere Rolle als die Art und Weise, wie das Individuum auf seine Umwelt bezogen ist. Auch verpflichtendes Engagement kann Ausdruck autonomen Verhaltens sein. Zweitens ist Seels Verständnis von Selbstbestimmung ein Ausdruck von »passiven Leistungen« oder Bestimmtwerden. Im selbstbestimmten Handeln finden sich jeweils Elemente des Bestimmtseins. Wir bestimmen ausgehend vom und mithilfe vom bereits Bestimmten. Wir sind also dazu genötigt, uns bestimmen zu lassen, wenn wir selber bestimmen wollen. Das Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität oder zwischen Initiative und Reaktion manifestiert sich jeweils als gegenseitige Abhängigkeit der Beiden. In Seels Autonomieverständnis wird ein Element der Passivität und der Abhängigkeit in das Verständnis von Autonomie integriert. Ein Konzept der Autonomie im Anschluss an Seels Verständnis von Selbstbestimmung hebt also die Spannung zwischen abhängig sein oder »Bestimmtwerden« und bestimmen nicht auf, aber es verschränkt die Beiden in Form einer Unzertrennlichkeit und gegenseitigen Bedingtheit miteinander. Vage ist diese Bestimmung von Selbstbestimmung als Offenheit und Kontrast darum, weil Seel keine 81

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eindeutigen Anhaltspunkte oder Kriterien zur Identifikation von Selbstbestimmung angibt. Selbstbestimmung ist – als Offenheit – nicht Selbständigkeit im Sinne einer von Kontextualität gelösten, ungebundenen oder originellen eigenen Perspektive. Sie ist – als Kontrast – auch nicht totale oder unkritische Perspektivenübernahme. Damit ist aber Selbstbestimmung nicht substantiell bestimmt. Seels Beitrag beschränkt sich als Hinweis auf die Äußerlichkeiten darauf, zu zeigen, entlang welcher Linien ein nach außen hin abgrenzendes Rahmenwerk von Selbstbestimmung sich abzeichnen könnte. Es stellt sich aber die Frage, wie beurteilt werden kann, ob eine Stellungnahme oder Handlung Ausdruck von Selbstbestimmung sei. Ohne dass Seel konkrete Kriterien dazu anführt, wird die Bedeutung von Offenheit und Kontrast in seinem Versuch zu einer normativen Abgrenzung von Selbstbestimmung dennoch deutlicher. Seel spricht von einer »konstitutiven Intersubjektivität von Selbstbestimmung« und konkretisiert dies als »die Möglichkeit, sich so oder so von Anderen bestimmen zu lassen und folglich: sich ihnen gegenüber so oder so zu geben«. Selbstbestimmung ist für ihn »grundsätzlich ein Sichverhalten unter und gegenüber Anderen«. 82 Im Rahmen dieser unausweichlichen Bezogenheit auf Andere hebt Seel Anerkennung als grundlegenden Ausdruck »gelingender Selbstbestimmung« hervor. Als normativ zentral identifiziert Seel dabei die Art, »wie wir uns in unserem Verhalten durch den Anspruch Anderer bestimmen lassen«. 83 Er schreibt weiter: »Moralische Anerkennung (…) ist ein Sichbestimmenlassen, das zu einer rücksichtsvollen Bestimmtheit im Umgang mit den Anderen führt.« Seel versteht dies als ein »Sichabstimmen«, welches »allen Gelegenheit gibt, den Anderen gegenüber das Bestimmen zu lassen.« 84 Seel will sich hier von einer kantischen Assoziation von Autonomie mit Pflicht abgrenzen. Er unterstreicht, Moral sei als »Offenheit für Andere« zu verstehen. Diese Offenheit erfolge nicht aus der Pflicht, sondern bedinge sie umgekehrt. »Die Quelle der Moral ist ein freiwilliges und wechselseitiges Sicheinlassen auf die Situation eines jeweils Anderen.« 85 Die Frage der Moral als Einschränkung oder als Gegensatz 82 83 84 85

Seel, 2002, 296–297 Seel, 2002, 298 Seel, 2002, 298 Seel, 2002, 297

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zu Autonomie ist jedoch mit der Frage der Ursprünglichkeit nicht zu beantworten. Selbst wenn Seel Recht hat mit der Behauptung, Anerkennung Anderer entspringe nicht moralischer Pflicht, sondern das Verhältnis sei umgekehrt, ist damit nicht gesagt, dass diese Anerkennung keine Einbuße an Selbstbestimmung mit sich führt. Seel fällt bei dieser moralischen oder normativen Bestimmung von Selbstbestimmung in eine idealisierende und utopische Bestimmung von Selbstbestimmung, wie er sie selber eigentlich ablehnt. Seine Beschreibung eines harmonischen, nicht-einschränkenden »Sichabstimmens« ist weder realistisch, noch wird sie dem Umstand, dass Moral vor allem von Konflikt handelt, gerecht.

6.3.2 Autonomie in Unstetigkeit Es wird in Seels Ausführungen immer wieder deutlich, dass er nicht von einem einheitlichen oder kohärenten Selbst, wie es Ekstrom mit ihrem Begriff des wahren Selbst macht, ausgeht. Vielmehr legt er dem Begriff der Selbstbestimmung nachhaltig widerstreitige Elemente innerhalb des Selbst zugrunde. Selbstbestimmung besteht darin »mein Handeln selbst zu wählen, auch und gerade dann, wenn manches nicht nach Wunsch und Wille geht«. 86 Der Umstand, dass selbstbestimmtes Handeln nicht unbedingt in Übereinstimmung mit eigenen Präferenzen geschieht, ist für Seel kein Hinweis darauf, dass diese Präferenzen (etwa im Sinne von Kants Begriff Neigungen) moralisch schlecht und darum als zu überwindende Aspekte eigener Identität betrachtet werden müssen. Es geht Seel auch nicht darum (im Sinne von an Frankfurt anschließenden Authentizitätskonzepten von Autonomie) den eigenen Willen einer Person zum alleinig entscheidenden Kriterium der Selbstbestimmung zu machen. Vielmehr will Seel festhalten, dass das Selbst nicht als homogene Einheit betrachtet werden kann, sondern in sich, d. h. in seinem Wunsch und seinem Willen, Eindrücke und Verbindlichkeiten divergierender Art vereint. Dies soll jedoch – und das ist Seels Hauptanliegen – nicht als einschränkende Bedingung für die Möglichkeit der Selbstbestimmung betrachtet werden. Vielmehr umfasst Selbstbestimmung ein, wie ich es nenne, Element der Unstetigkeit. Demgemäß kann aus Seels Verständnis der Selbstbestimmung für 86

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Autonomie gefolgert werden, dass wir autonom nur durch diese uns prägende Unstetigkeit sein können. Autonomie ist gekennzeichnet von Unstetigkeit. Was ich hier als Unstetigkeit bezeichne, kommt in Seels Bestimmung und Wertung von Willensschwäche deutlich zum Ausdruck. Als willensschwaches Handeln bezeichnet Seel jede Handlung, die »vor und nach der Handlung anders beurteilt wird, als während ihrer Ausführung der Handlung. Es handelt sich um einen »Konflikt innerhalb der subjektiven Orientierung«. 87 Den Umstand, dass unsere Handlungen oder die Unterlassungen von Handlungen nicht immer unserem Willen entsprechen, betrachtet Seel als einen Bestandteil von Selbstbestimmung. Er schreibt: »Denn in der Möglichkeit der Willensschwäche liegt ein wichtiges Stück Freiheit gegenüber uns selbst.« Seel will die Willensschwäche zwar als Schwäche sehen (»je nach Lage als ärgerlich, bedenklich oder schändlich empfunden«), meint aber, sie solle zugleich als eine Fähigkeit betrachtet werden. Er schreibt weiter: »Aber die Fähigkeit, das eine oder andere Mal schwach zu werden, ist mit der Fähigkeit zu einem ungezwungenen Handeln von Geburt an verschwistert.« 88 Für Seel gehören zur »Freiheit des Willens« sowohl Willensstärke wie auch Willensschwäche. Die beiden können nur in Verbindung miteinander verstanden werden. Seel spricht von einer »Polarität« des freien Willens: »Es ist kennzeichnend für das menschliche Wollen, seinen Vorsätzen treu oder untreu, in seinen Absichten fest oder schwankend sein zu können. Daher wird die Verfassung des inkonsistenten wie des instabilen Wollens nur im Kontrast zu der eines konsistenten und stabilen Wollens deutlich.« 89

Die Beschaffenheit des freien Willens, der als Bestandteil von Autonomie oder Selbstbestimmung gilt, ist wichtig. Die von Seel beschriebene Polarität des freien Willens prägt auch das Verständnis von Selbstbestimmung oder Autonomie. Die Möglichkeit von Inkonsistenz als kennzeichnend für den freien Willen ist nicht Aufsehen erregend an sich. Was Seels Sichtweise hervorhebt, ist vielmehr der Umstand, dass er zur Bestimmung von Selbstbestimmung keine rationale Instanz einschiebt, die diese Polarität des freien Willens in einer konsistenten oder 87 88 89

Seel, 2002, 234–235 Seel, 2002, 228 Seel, 2002, 241, 239

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stabilen Weise regulieren würde – mit dem Resultat als autonom titulierter Handlungen. Vielmehr bezeichnet die Polarität des freien Willens bei Seel gerade das, was Selbstbestimmung auszeichnet. Unstetigkeit ist somit ein integrierter Aspekt von Selbstbestimmung oder Autonomie. Seel verbindet dabei prozessuale Willensschwäche (als Resultat zweier oder mehrerer umfassender Bewertungen die miteinander konkurrieren) mit »Offenheit im Umgang mit sich selbst«. Letztere identifiziert er als zentral für Autonomie: »Denn diese Offenheit (im Umgang mit sich selbst, meine Anmerkung) ist für die Möglichkeit autonomen Handelns zentral. Autonom ist nur, wer es auch gegenüber seinen eigenen bisherigen Festlegungen sein kann. Diese Autonomie zeigt sich in den Episoden der Willensschwäche in einem oftmals bedauerlichen oder desaströsen Gewand, aber sie zeigt sich auch hier.« 90

Auch an dieser Stelle wird der Kontrast zwischen Seels Verständnis von Autonomie und jenem von Ekstrom deutlich. Ekstroms Verständnis von Autonomie habe ich als langsame Autonomie bezeichnet. Da sie Kohärenz und damit zeitlich bedingte Kontinuität zur Bedingung autonomen Handelns macht, baut Ekstrom eine Trägheit oder eine Langsamkeit in ihr Konzept von Autonomie ein. Seels Verständnis von Autonomie hingegen umfasst Inkonsistenz und Unstetigkeit und kann damit auch rasche Richtungsänderungen und Flüchtigkeit als Ausdruck von Autonomie betrachten. Seel beschreibt intrasubjektive Aspekte von Selbstbestimmung mit einem Hinweis auf Affinitäten sowie einer Möglichkeit zur Reflexion über dieselben. Es lässt sich also auch in seiner Theorie eine Art ›Metaebene‹ unterscheiden. Selbstbestimmung geschieht gemäß Seel aber ausgehend von und in Bezug auf Affinitäten. Sie formen – als Präferenzen erster Ordnung – den Rahmen für die Selbstbestimmung. Präferenzen erster Ordnung verunmöglichen nicht Handlungsfreiheit, aber sie begrenzen sie. »Nicht selten zu unserer Überraschung erfahren wir uns als Personen, denen vor allen Dingen an diesen Dingen liegt. Eine solche Erfahrung alleine aber macht noch keine bindende Orientierung aus. Sie ergibt sich vielmehr erst aus der Affirmation der Affinität, die wir für eine Person oder Situation, Tätigkeit oder Zielsetzung empfinden. So steht es um die zentralen Direktiven eines

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selbstbestimmten Lebens. Wir verfügen nicht über sie, auch wenn wir ihnen aus freien Stücken folgen. (…) Keine Selbstbestimmung kann sich über die faktische Antriebe und Affinitäten des eigenen Gestimmtseins erheben. Nur wenn sie sich von Motiven tragen lässt, die sie tatsächlich hat, kann eine Person festlegen, welches Leben sie wollen kann und – sehr viel beschränkter – welches sie tatsächlich will. Dies aber vermag nur, wer auf seine eigenen Antriebe und Affinitäten zu hören und zu achten, wer sie zu moderieren und zu modifizieren vermag.« 91

Selbstbestimmung besteht gemäß diesem Verständnis in der Affirmation, d. h. der Bejahung gewisser Affinitäten (im Sinne von Präferenzen erster Ordnung). In Seels Verständnis der Selbstbestimmung finden sich somit Elemente von structural theories. Es geht auch bei Seel um die Vorkommnis einer ›Metaebene‹. Allerdings wertet er die Bedeutung der Metaebene im Verhältnis zu Präferenzen erster Ordnung in einer abweichenden Weise, indem er die Bedeutung der Präferenzen ersterer Ordnung viel stärker hervorhebt. Es geht bei Seel nicht um eine Metaebene als eine normierende ›Kontrollinstanz‹, welche Präferenzen erster Ordnung ›kontrollieren‹ oder gemäß moralischer Kriterien modifizieren muss. Primär für die selbstbestimmte Handlung ist die Bejahung eigener Affinitäten, da eine Modifikation derselben nur aufgrund ihrer Bejahung, d. h. aufgrund einer Entscheidung, sich bestimmen zu lassen, möglich ist. Demgemäß wären wahrscheinlich – aufgrund ihres Begehrens zu begehren – auch Frankfurts »wantons« selbstbestimmt. Interessant ist, dass Seel keine normativen Bedingungen an die Wahl der zu bejahenden Affinitäten knüpft. Er begnügt sich damit, in existentialistisch klingendem Sinne, den Akt der Wahl als Kern von Selbstbestimmung zu beschreiben und dessen Bestimmung durch Vorgefundenes zu enthüllen. Für Seel ist damit zwar die Wahl oder Freiheit als Voraussetzung der Selbstbestimmung begrenzt. Dadurch ist aber Selbstbestimmung nicht beeinträchtigt. Daraus erfolgt die Integration eines Elementes von Unstetigkeit in das Verständnis von Selbstbestimmung. Allerdings gibt es Unklarheiten bezüglich der Bestimmung dieser Unstetigkeit, weil Seel diese verschiedenen Tendenzen nicht näher bestimmt. Dies kann ihm einerseits natürlich zum Vorwurf gemacht werden. Es ist nämlich unklar, ›wer‹ denn da in diesem inneren Moderations- und Modifikationsprozess ›wem‹ gegenüber steht. Andererseits kann diese 91

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nicht näher bestimmte Unstetigkeit auch als möglichen Zugang zu einem Verständnis der Autonomie, welches komplexeren intrasubjektiven Strukturen besser gerecht wird, betrachtet werden. Es fragt sich dann, wie diese ›Metaebene‹ im Selbst zu verstehen wäre? In Seels Darstellung erscheint sie als eine Art Moderatorin, die über Affinitäten nicht verfügt und sie nicht kontrolliert, ihnen aber dennoch übergeordnet zu sein scheint. Obwohl Seels Modell eine Fähigkeit zu innerer Reflexion, die gegenüber eigenen Affinitäten eine gewisse Distanz schaffen und wahren kann, voraussetzt, ist seine Sichtweise von den Theorien mit Humes oder Kants zu unterscheiden. Kognition und Emotion stehen sich bei diesen in je umgekehrtem Verhältnis und umgekehrter Funktion gegenüber. Diese Gegenüberstellung ist in Seels Sichtweise zu Selbstbestimmung nicht zu finden. Er legt sich nicht auf Kategorien wie Emotion und Kognition fest und die Modifikation von Affinitäten lässt sich in Seels Ansatz auch nicht auf eine Gegenüberstellung von Rationalität und Irrationalität reduzieren. 92 Seel versucht, einer komplexeren, inneren Divergenz gerecht zu werden, indem er verschiedene, divergierende Tendenzen aufeinander bezieht. Sie erscheinen dabei als unter gegenseitigem Einfluss stehend, einander gegenseitig begrenzend und bestimmend und sie tragen somit in ihrem Bezug aufeinander zur Selbstbestimmung bei. Daraus ergibt sich ein Bild von Unstetigkeit. Diese komplexere oder eben unstete intrasubjektive Struktur kommt bei Seel in seinem Versuch, die Verschränkung von bestimmen und bestimmen lassen aufzuzeigen, zum Ausdruck. Er hebt zu diesem Zweck eigene Entscheidungen als beiden Aspekten von Selbstbestimmung zugehörend hervor. »Denn ein selbstbestimmtes Leben lebt nur, wer in der Lage ist, sich durch die eigenen Entscheidungen tatsächlich binden zu lassen, wer also Verstand und Phantasie hat, sich aus ihrer Perspektive durch wahrscheinliche und unwahrscheinliche Situationen seines Lebens hindurch zu bewegen.« 93

Hier sind »Verstand und Phantasie« die Instanzen höherer Ordnung, welche den Wert eigener Entscheidungen als wegleitend und damit Selbstbestimmung konstituierend erkennen und als solche bejahen. Dies ist aber insofern wiederum Ausdruck von »sich bestimmen lassen«, als die eigenen Entscheidungen nicht anhand rationaler Stan92 93

Siehe Abschnitt 6.3.3. Seel, 2002, 295

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dards bewertet oder sortiert würden. Vielmehr haben sie eine Berechtigung in eigener Sache. Die Verschränkung von bestimmen und »sich bestimmen lassen« kommt einer Interaktion gleich, in welcher Beide in einer ständigen Wechselwirkung miteinander verschränkt erscheinen. Es ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass für Seel nicht die Negation eigener Antriebe, sondern deren Affirmation primärer Ausdruck von Selbstbestimmung ist. Er betont, dass die Negation oder Modifikation eigener Antriebe »auf der Basis« von Affirmation derselben vorgenommen werde. 94 Das macht die Affirmation zum primären Ausdruck von Selbstbestimmung, während Negation dazu sekundär ist. Damit ist ein wesentlicher Aspekt von Seels Theorie angesprochen. Selbstbestimmung ist nur als Affirmation von vorgefundenen Affinitäten gleichzeitig »sich bestimmen lassen«. Nur wenn diese Bejahung von Vorgefundenem als erster Schritt akzeptiert wird, handelt es sich um eine tatsächliche Verschränkung von bestimmen und bestimmen lassen. Wäre die Affirmation der Negation untergeordnet (wie bei Kant) oder ihr gleichgestellt (wie bei Ekstroms Kriterium der Kohärenz), würde diese Bedingung der Verschränkung sogleich wieder verloren gehen.

6.3.3 Unstetigkeit als A-Rationalität Unstetigkeit wurde oben bei Seel als integriertes Element von Autonomie dargestellt. Seel nimmt seinen Ausgangspunkt in der berühmten Episode der Odyssee, in welcher Odysseus sich an den Mast seines Fahrzeuges fesseln lässt, um dem Gesang der Sirenen zugleich zuhören und widerstehen zu können. Seel meint, diese Episode respektive ihre spätere Deutung illustriere die klassische Vorstellung der Zusammengehörigkeit von Selbstbestimmung (als freies Sichzusichverhalten), Selbstbindung (als Medium der Freiheit, dessen Ausdruck die Negation ist) und Selbstbegrenzung (als grundlegendes Element aller Selbstbestimmung durch eine Begrenzung von Begehren). Zusammengenommen seien diese drei Elemente als rationale Einheit gedeutet worden. Ihr Verhältnis untereinander sei je verschieden, als Integration, als Unterdrückung, als Kontrast oder als Kompensation beschrie-

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ben worden. Im Zentrum aber sei immer die Ambition gestanden, eine rationale Einheit zu gestalten. 95 Seel wendet dieser Sicht der Einheitlichkeit gegenüber ein, rationale Selbstbegrenzung müsse problematisiert werden. Dies bedinge keinen Verlust der Möglichkeit rationaler Selbstbestimmung oder autonomer Lebensführung, sondern nur eine Umdeutung derselben sowie ein abweichendes Verständnis des Verhältnisses zwischen Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung. Seel argumentiert also gegen die Vorstellung rationaler Selbstbegrenzung und lanciert zugleich ein Konzept der Selbstbestimmung, welches auf Rationalität nicht angewiesen ist. Für Seel ist Selbstbegrenzung weder irrational noch rational, sondern a-rational. Rationalität als »Herstellung von Kohärenzen« ist gemäß Seel abhängig von arbiträren Stellungnahmen gegenüber Wünschen und Begehren. Seel plädiert somit für eine Suspendierung der »Ambition einer durchgehenden Rationalisierung« von Selbstbegrenzung und somit Selbstbestimmung. 96 Er beschreibt den Prozess der Selbstbegrenzung als »Fixierungen unseres Wünschens«, im Sinne einer Handhabung »basaler« oder »elementarer« Begehren oder Bestrebungen, 97 folgendermaßen: »Ohne Ende aber stellt sich die Frage, welchen Begehren wir nachgeben, für welche wir empfänglich sind. Dass sie sich ›ohne Ende‹ stellt, heißt nicht so sehr, dass sie sich andauernd stellen müsste, als vielmehr, dass sie sich einem jeden ohne einen denkbaren sachlichen Abschluss stellt. Dieser Abschluss, so scheint es, kann allein durch volitive Bejahung und Verneinung geschehen, also durch Akte, mit denen wir unserem vielstimmigen Verlangen eine bestimmte Richtung geben, von der wir wollen, dass unser Leben ihr bis auf weiteres folge. Worauf aber gründen diese Akte, wenn sie auf etwas gründen? Warum ist es dieser Mann, diese Frau, dieses Buch, diese Wohnlage, die mich anziehen (…)? Warum ist es diese und nicht jene Zuneigung oder auch Abneigung, der ich das Mandat verleihe, mein weiteres Verhalten und vielleicht – im Fall von zu gewinnenden Frauen oder zu schreibenden Büchern – mein weiteres Leben zu bestimmen?« 98 Seel, 2002, 214–215 Seel, 2002, 221–224 97 Seel erwähnt hier auch, dass im Zusammenhang mit Präferenzen nicht immer von einer bewussten Wahl die Rede sein könne. Oft sei dieser Vorgang passiv und unbewusst und es handelt sich dabei für Seel nicht um Selbstbegrenzung. Seine Diskussion von Selbstbegrenzung beschränkt sich auf die aktive und bewusste Wahl gewisser Wünsche oder Begehren. (Seel, 2002, 217–218) 98 Seel, 2002, 216 95 96

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Was Seels Verständnis der Selbstbestimmung oder Autonomie als besonders auszeichnet, ist der Umstand, dass die Preisgabe der Möglichkeit anfänglicher oder durchgehender, rationaler Selbstbegrenzung für ihn nicht zugleich die Preisgabe der Möglichkeit rationaler Selbstbestimmung bedingt. Vielmehr muss Selbstbestimmung – anders als im klassischen Einheitsmodell mit der Forderung durchgehender rationaler Einheit – als ein Maß an Zufälligkeit oder Beliebigkeit umfassend verstanden werden. »Die Aporien rationaler Selbstbegrenzung haben keine Aporie rationaler Selbstbestimmung zur Folge. (…) Rationale Selbstbestimmung, richtig verstanden, bedeutet dagegen die Anerkennung der Unmöglichkeit einer Rationalisierung der anfänglichen Selbstbegrenzung.« 99

Diese Sichtweise mündet in ein ›breiteres‹ oder ›reicheres‹ Verständnis von Selbstbestimmung und Autonomie. Rationale Selbstbestimmung ist demgemäß in Autonomie enthalten, aber Autonomie ist darin nicht erschöpft. »Der Sinn eines selbstbestimmten Lebens liegt also nicht darin, das eigene Begehren zu kanalisieren, sondern – viel schwieriger – darin, die eigenen Leidenschaften am Leben zu erhalten, (…). So gesehen ist Selbst-Bestimmung nichts weiter, als der Versuch, mit der Fixierung unserer Leidenschaften – mit unseren primären Selbst-Begrenzungen also – in einer Weise Schritt zu halten, die sie vor dem Vergehen bewahrt. (…) Die Autonomie aber, die so gewonnen und erhalten werden soll, ist reicher als jene rationale Autonomie, die es, als Dimension dieser reicheren, zu ihrer Sicherung, Entfaltung und Intensivierung braucht. Sie schließt jene unvermeidlich kontingenten Akte der Selbstbegrenzung, des Sich-selbst-auf-etwas-Festlegens ein, ohne die alles lebenspraktische Überlegen vollkommen witzlos wäre.« 100

Wichtig für das Interesse dieser Arbeit erscheint an dieser Stelle die Art und Weise, wie Seel Autonomie als zum Sinn menschlichen Lebens gehörend begründet. Es geht es ihm um die Erhaltung von Autonomie durch Autonomie. Seine Sichtweise zu Selbstbestimmung wurde oben beschrieben als eine Bestimmung von Autonomie, die nicht als Ausdruck unbedingter Freiheit, sondern als Reaktion auf Vorgefundenes betrachtet wird. Autonomie wird somit zum Umgang mit AbhängigSeel, 2002, 223 Seel, 2002, 224–225. An anderer Stelle formuliert Seel diesen selbsterhaltenden Zweck von Selbstbestimmung auch als die Fähigkeit, sich durch getroffene Wahlen »den Spielraum eines freien Wählenkönnens« erhalten zu können. (Seel, 1999, 128) 99

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keiten. Autonomie würde ausgehend von Seels Ausführungen zu Selbstbestimmung darin bestehen, sich jene Freiheit zu erhalten, die durch den a-rationalen Umgang mit Vorgefundenem und Bestimmendem bedingt ist. Es wird dabei deutlich, dass bei Seel trotz einer Bedingtheit von Autonomie durch Dependenz, Autonomie um der Autonomie willen begründet wird. Eine Bestimmung von Autonomie müsste somit die Bejahung eigener Affinitäten und sogar ein Festhalten an denselben umfassen. Darin entsteht ein Bild von Autonomie, welches diese als durch Unkontrollierbares bedingt, zugleich aber auch der Erhaltung seiner Selbst verpflichtet, schildert. Diese ›breitere‹ Autonomie wäre demgemäß insofern als ›reicher‹ zu verstehen, als sie Unstetigkeiten von Affinitäten oder Leidenschaften umfasst.

6.3.4 Punktuelle Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung Rückblendend können für eine Bestimmung von Autonomie mit Ausgangspunkt in Seels Ausführungen zu Selbstbestimmung folgende zwei Kennzeichen von Autonomie festgehalten werden. Autonomie ist erstens nicht ausschließlich als Distanzierung des Selbst vom Kontext, sondern in der Verschränkung von Offenheit und Kontrast gegenüber kontextuell Vorgefundenem zu verstehen. Darin zeigt sich Autonomie als kritische Interaktion mit dem Kontext und als bewusster Umgang mit kontextuellen Abhängigkeiten. Autonomie ist zweitens Selbstbestimmung als Unstetigkeit und äußert sich als potentielle Untreue oder Inkonsequenz dem eigenen Selbst gegenüber. Dies kommt einer radikalen Preisgabe der Kohärenzforderung Ekstroms gleich und fordert eine Fähigkeit, divergierende psychische und mentale Tendenzen als Ausdruck von Autonomie zu bejahen, selbst wenn diese als frustrierend erlebt werden. Man könnte dies auch als eine Toleranz der eigenen Unschlüssigkeit gegenüber beschreiben. Es geht dabei bei Autonomie um den bewussten Umgang mit a-rationalen Wahlen und Präferenzen als Bewusstsein davon, dass Selbstbestimmung »sich bestimmen lassen« vom Unkontrollierbaren ist. Damit zeichnet sich Autonomie als über Zeit unstetig und als nur punktuell bestimmbar dar. Zusammengenommen führt dies zu einem Autonomiekonzept, welches einen Anspruch auf Kontinuität (anhand einer Kohärenzforderung) sowohl intersubjektiv wie auch intrasubjektiv als essentielle 356 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Eigenschaft von Autonomie aufgibt. Damit ist Autonomie in Bezug auf eine zeitliche Dimension als punktuell zu beschreiben. An die Stelle einer Kohärenzforderung im Sinne einer durchgehenden und zurückblickenden Rationalität rückt eine Punktualität, die Autonomie als Ausdruck a-rationaler Selbstbestimmung in Unstetigkeit erscheinen lässt. Die für diese Arbeit relevante Frage ist, inwiefern punktuelle Autonomie, an welche keine Forderung von Kontinuität oder Kohärenz gestellt wird, eine funktionale moralpädagogische Zielvorstellung sein kann. Es scheint Seel darum zu gehen, ein vorhandenes Ideal in einer Weise zu rekonstruieren, die den Umständen der Realität besser gerecht wird. Aber kann erzogen werden mit einer Zielvorstellung punktueller Autonomie? Ich habe die Normativität von Erziehung als in den Ansprüchen Asymmetrie und Richtung enthalten beschrieben. Es geht bei Erziehung aus ethischer Sicht also darum, Vorsprung zu beanspruchen und verbessern zu wollen. Erfahrene Differenzen zwischen erziehender und zu erziehender Person sind zentral. In Bezug auf die Ausführungen Seels zu Selbstbestimmung lässt sich fragen, inwiefern sich die Fähigkeit bereits kleiner Kinder, sich durch ihren Willen bestimmen zu lassen, von punktuell gefasster Autonomie eines Erwachsenen unterscheidet? Wie stellt sich ein Konzept punktueller Autonomie, welches Autonomie als von Unstetigkeit geprägt beschreibt, als moralpädagogische Zielvorstellung dar? Eine Antwort auf diese Frage kann mit Bezug auf Seel nicht anhand eines Rationalitätskriteriums begründet ausfallen. Punktuelle Autonomie kann als moralpädagogische Zielvorstellung nicht wie bei Ekstrom mit einer Bemühung um zunehmend rationale Urteile und Handlungen als Ausdruck eines mehr und mehr kohärenten (oder wahren) Selbst gleichbedeutend sein. Es kann sich aber um eine Frage von Bewusstsein handeln. Wenn Kinder sich durch ihren Willen bestimmen lassen, geschieht dies ebenso auf a-rationale Weise wie wenn Erwachsene sich selbstbestimmt verhalten. Da Rationalität nicht kennzeichnend ist für Selbstbestimmung, kann Rationalität nicht der Grund einer entsprechenden Zielvorstellung sein. Auf den Anspruch von Asymmetrie bezogen kann höchstens angenommen werden, dass Asymmetrie hinsichtlich eines Bewusstseins der Bedeutung der Verschränkung von Selbstbestimmen und »sich bestimmen lassen« beansprucht werden kann. Allerdings ist diese Schlussfolgerung etwas spekulativer Art, da Seel sich in seinen Ausführungen zu Selbstbestimmung weder Kindern noch einem eventuellen Unterschied zwischen 357 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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kindlicher und erwachsener Selbstbestimmung widmet. Mit dem Aspekt der Punktualität verbunden ist aber ein weiterer, für die Frage der Erziehung relevanter Aspekt von Seels Konzept der Selbstbestimmung. Er hat mit einer Integration von Gelingen und Scheitern zu tun. Seels Verständnis von Selbstbestimmung in Verschränkung mit »sich bestimmen lassen« zielt, wie oben bereits erwähnt, darauf ab, ein Konzept von Selbstbestimmung zu formen, welches diese realistisch erfasst. Seel betont aber gleichzeitig, dass Selbstbestimmung nicht als immer erreichbar betrachtet werden darf. Dieses auch idealisierende Verständnis von Selbstbestimmung nimmt bei Seel die Form eines Paradoxes an, welches auf einer Integration von Gelingen und Scheitern gründet. Dies hat weitgehende Konsequenzen für eine moralpädagogische Diskussion zu Selbstbestimmung und Autonomie. »Denn sie (die Selbstbestimmung, meine Anmerkung) gehört zu den Lebensvollzügen, die stets von Neuem gelingen müssen und daher stets von neuem scheitern können, mehr noch: die auch dann, wenn sie zeitweilig gelingen, stets in der Gefahr des Scheiterns stehen, und außerdem: die nur aus der Erfahrung, man möchte sagen: nur aus der Übung des Scheiterns die Kraft eines möglichen Gelingens beziehen. Auf diese so sehr gefährdete Möglichkeit aber muss die Philosophie setzen, wenn sie dem Anspruch einer praktischen Philosophie gerecht werden will.« 101

Seel integriert hier in sein Verständnis von Selbstbestimmung eine Dynamik der Ungewissheit oder des Risikos. Ich spreche von einer Dynamik des Risikos, obwohl es sich eigentlich nur um ein vermeintliches Risiko handelt. In der Darstellung von Scheitern und Gelingen als ineinander integriert werden die Beiden zu austauschbaren Größen. In Seels Beschreibung wird nämlich das Gelingen erreicht durch die Übung des Scheiterns, sodass sie einander gegenseitig vorauszusetzen scheinen. In der Folge erscheinen Risiko und Gewähr als auf eine radikale Weise ineinander integriert. Seel vollzieht diese Integration in zwei Akten. Der erste Akt besteht aus einem Hinweis auf die Unstetigkeit menschlicher Selbstbestimmung. Sie ist als ständiger Versuch als eine »so sehr gefährdete Möglichkeit« zu verstehen, dass Selbstbestimmung zugleich möglich und riskant erscheint. In der Möglichkeit und dem Risiko ist gemäß Seel Selbstbestimmung dennoch erstrebenswert. Der zweite Akt bringt eine pädagogische Dimension in das Verständnis

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von Selbstbestimmung ein. Diese pädagogische Dimension kommt in der Formulierung oben der Bedeutung der »Erfahrung (… ) und Übung des Scheiterns« zum Ausdruck. Man könnte dies in trivialer Weise als einen pädagogischen Hinweis auf eine trial and error Methodik deuten. Es ist möglich, dass Seel einen derartigen methodischen Hinweis im Kopf hat. Interessanter ist jedoch eine weitergehende, moralpädagogische Deutung seiner Formulierung. Dabei könnte im Rückgriff auf Seels Verständnis von Selbstbestimmung diese als mit Abhängigkeiten (als »sich bestimmen lassen«) verschränkt gedeutet und als Plädoyer für Autonomie innerhalb von Dependenz verstanden werden. Wenn Selbstbestimmung zugleich möglich und riskant ist und wenn sie, in einen ungewissen und unsteten Lernprozess inbegriffen, immer auch von der Erfahrung ihres Scheiterns abhängt, dann ist sie nur im Zusammenhang damit zu verstehen. Die pädagogische Feststellung des Erlernens von Selbstbestimmung durch die Erfahrung ihres Scheiterns hat ihre Entsprechung dann in einem moralphilosophischen Verständnis von Autonomie innerhalb von Dependenz. In der Verlängerung, und eine solche ist in der oben zitierten Formulierung Seels durchaus impliziert, kommt dieser zweite Akt der Integration von Risiko und Gewähr aber einer radikalen Umkehrbarkeit der Begriffe Gelingen und Scheitern gleich. Die Integration des Scheiterns als notwendiger Bestandteil zur pädagogischen Bemühung um Selbstbestimmung macht den Lernprozess darum nicht wirklich riskant, sondern eigentlich risikofrei. Nichts kann wirklich schief gehen, denn wenn etwas schief geht, verkörpert dieses Scheitern ja schon wieder einen Schritt auf dem Weg zum Gelingen. Wem Selbstbestimmung misslingt, ist sie zugleich gelungen. Dies hat eine folgenreiche Entwertung oder Aufhebung der angewandten Begriffe zur Folge. Denn von Scheitern kann eigentlich nicht die Rede sein, wenn das Scheitern an sich als Aspekt des Gelingens verstanden wird. Und umgekehrt ist das Gelingen, welches als Scheitern dargestellt wird, als Gelingen dabei eigentlich unkenntlich geworden. Was philosophisch als radikale Umkehrung oder zumindest als Umkehrbarkeit der Begriffe Scheitern und Gelingen ausfällt, stellt sich aber in pädagogischer Sicht möglicherweise etwas milderer dar, insbesondere wenn die in diesem Kapitel thematisierte Zeitdimension berücksichtigt wird. Wenn die Erfahrung gescheiterter Selbstbestimmung Voraussetzung ihres späteren Gelingens ist, besteht damit zwar ein in Kauf zu nehmendes Risiko, eine Richtung ist aber dennoch auszumachen. Pädagogisch müssten 359 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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die Begriffe also trotz ihrer Umkehrbarkeit und dank einer zeitlichen Dimension nicht als aufgehoben betrachtet werden. Pädagogisch können sie in Integration miteinander betrachtet werden. Selbst wenn Seel seine Ausführungen zu Selbstbestimmung nicht pädagogisch diskutiert, impliziert seine Formulierung, dass aus der »Übung des Scheiterns die Kraft eines möglichen Gelingens« entsteht, dennoch eine mögliche Bestimmung von Richtung. Die Richtung ist darin bestimmt, dass Gelingen dennoch Scheitern vorzuziehen ist, und anhand von Selbstbestimmung (als Gelingen) feststellbar sein muss. Allerdings kompliziert Seels Verständnis von Selbstbestimmung die Möglichkeit, einen pädagogischen Erfolgsparameter zu identifizieren und Richtung wäre demgemäß – auf Selbstbestimmung als »sich bestimmen lassen« bezogen – mit Notwendigkeit riskant. Erneut stellt sich Selbstbestimmung oder Autonomie als großflächige Zielvorstellung dar, ohne Gewähr und ohne sich auf einen linearen Entwicklungsverlauf mit eindeutigen Parametern berufen zu können. Auf das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern in der Erziehungssituation bezogen bietet Seels Verständnis von Selbstbestimmung eine Möglichkeit, Autonomie im Zusammenhang mit den Ansprüchen dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung als moralpädagogische Zielvorstellung zu betrachten. Autonomie als Zielvorstellung generiert als punktuelle und unstete Selbstbestimmung, wie sie Seel beschreibt, als adäquaten Anspruch dialektische Asymmetrie. Dialektisch ist diese vor dem Hintergrund eines von Seel inspirierten Autonomiekonzepts aufgrund der beschriebenen Integration von Scheitern und Gelingen sowie der punktuellen Ausdrucksweise von Autonomie. Als unstetes Phänomen kann diese einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund bilden. Anstelle der Funktion, welche gewöhnlicherweise Autonomie als Unterscheidungskriterium zwischen Erwachsenen und Kindern zukommt, kann punktueller Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung eine Funktion des Ausdrucks gemeinsamer Erfahrung zugeschrieben werden. Wenn Unstetigkeit und Richtungsänderungen als Ausdruck von Autonomie verstanden werden, kann dies zum Anlass genommen werden, auch Selbstbestimmung oder Autonomie von Kindern ernst zu nehmen. Ebenso bietet sich im Zusammenhang mit punktueller Autonomie ein Verständnis der Erziehungssituation als orientiert an einem bewussten Umgang mit Unstetigkeit an. Damit korrespondierend ist ein Anspruch riskanter Richtung, welcher in der Kombination der beiden 360 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Autonomie als »sich bestimmen lassen« (Seel)

Aspekte punktueller Autonomie, nämlich Selbstbestimmung als »Sich bestimmen Lassen« und als »Sichabstimmen«, begründet ist. In der Darstellung Seels sind sowohl die intrasubjektiven wie die intersubjektiven Aspekte von Selbstbestimmung gekennzeichnet von Ungewissheit. Eine pädagogische Bemühung im Sinne eines Versuchs, diese Ungewissheit hervorzuheben und den bewussten Umgang damit anzustreben, stellt insofern einen Anspruch an riskante Richtung dar, als Verbesserung wirklich beansprucht wird, ohne sich dabei aber auf Gewissheiten berufen zu können. Was in der Frage um die Bedeutung von Scheitern und Gelingen angeschnitten wurde, ist eine Problematik rationaler Zugänglichkeit in Bezug auf Erziehung. Es stellt sich im Zusammenhang mit Seels Verständnis von Selbstbestimmung im Anschluss daran die Frage, inwiefern eine Forderung nach rationaler Zugänglichkeit zu Erziehung mit einer Zielvorstellung punktueller Autonomie, die als Ausdruck des A-Rationalen durchaus Faktoren der Arbitrarität umfasst, 102 realistisch erscheint. Es wären, um ein solches Autonomiekonzept rational zugänglich zu machen, gewisse Parameter gefordert. Bei Seel finden sich im Zusammenhang mit seinem Konzept von Selbstbestimmung hauptsächlich zwei Aspekte von Normativität. Der eine Aspekt besteht aus dem oben besprochenen Selbsterhaltungsprinzip. Selbstbestimmung ist wertvoll, insofern als sie sich selbst erhält. Die Norm der Selbsterhaltung ist jedoch nicht ausreichend aus einer moralpädagogischen Perspektive, da sie Selbstbestimmung in ihrer Unbestimmbarkeit nur sich selber zum Parameter macht und damit weder die Beliebigkeit ausgeübter Autonomie normiert, noch Anhaltspunkte zu Richtung oder Asymmetrie gibt. Der andere normative Aspekt bei Seel knüpft an das an, was er als »konstitutive Intersubjektivität von Selbstbestimmung« bezeichnet. Er ernennt dabei verschiedene Aspekte von Anerkennung zum normativen Kriterium moralisch legitimer Selbstbestimmung. Seel spricht von einer »entwickelten Fähigkeit der Rezeptivität«. Er definiert gelungene Selbstbestimmung auch als »ein Sichbestimmenlassen, das zu einer rücksichtsvollen Bestimmtheit im Umgang mit Anderen führt«. Seel knüpft daran Ideale der Gegenseitigkeit, der Gleichheit als ein »Sichabstimmen«. 103 Diese Normativität

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überragt in Seels Theorie den zirkulären Rückverweis auf die als konstitutiv definierten Eigenschaften von Selbstbestimmung – nämlich als Verschränkung von bestimmen und »sich bestimmen lassen« – nur in der vagen Andeutung der normierenden Bedeutung, welche »rücksichtsvoller Bestimmtheit« zukommt. 104 Insbesondere Seels Art, die Unumgänglichkeit der Integration von bestimmen und »sich bestimmen lassen« zu beschreiben, ist wertvoll für die in dieser Arbeit vorgezogene Sichtweise von Autonomie innerhalb von Dependenz. Wenn diese Verschränkung von bestimmen und »sich bestimmen lassen« mit einer Forderung nach einer bestimmbaren Normativität von Autonomie – im Sinne eines intersubjektiv ausgedrückten, rücksichtsvollen »Sichabstimmens« – kombiniert wird, erhalten die von Seel beschriebenen Aspekte von Selbstbestimmung Offenheit und Kontrast größere Bedeutung. Punktuelle Autonomie ist damit als in Unstetigkeit begründet nicht jeglicher normativen Bestimmung enthoben, sondern ist durchaus anhand rational zugänglicher Kriterien zu beurteilen. Ein Anspruch riskanter Richtung ist damit zusammenhängend in plausibler Weise, d. h. an strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Erziehungssituation und Zielvorstellung knüpfend, artikulierbar.

6.4 Autonomie in Zeit als moralpdagogische Zielvorstellung Im dritten Kapitel dieser Arbeit wurde ein Verständnis von Erziehung als Prozess problematisiert, indem kausale Kontrolle oder lineare Entwicklung über Zeit als inadäquate Beschreibungen von Erziehung dargestellt wurden. Eine Zeitdimension ist demgemäß in Bezug auf Erziehung nur insofern als relevant zu betrachten, als sie in ihrer komplexen Funktion als für Erziehung bedingend verstanden wird. Ausgehend von dem in Kapitel 2 vorgeschlagenen kohärenzorientierten Begründungsmuster ist zur adäquaten Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung ein Bezug auf eine zeitliche Dimension, so wie sich diese als für Erziehung bedingend darstellt, relevant. Dabei soll Autonomie im Anschluss an die im Einleitungskapitel dargestellte Verpflichtung zu einer Perspektive, die sich funktionalen Werten verschreibt, begründet werden. Zur Bestimmung 104

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von Funktion wurde die Berücksichtigung praktischer und theoretischer Aspekte anhand einer Kohärenzorientierung als relevant identifiziert. Es geht hier demgemäß darum, anhand der oben diskutierten Zeitdimension von Autonomie, eventuelle strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der Zielvorstellung und einem adäquaten Anspruch in der Erziehungssituation sowie deren Bedeutung für die moralpädagogische Legitimitätsfrage hervorzuheben. In den beiden vorhergehenden Kapiteln wurde ausgehend von Autonomie in Interaktion und Autonomie in Relationalität dafür argumentiert, dass Erziehung zu Autonomie eher als Erziehung in Autonomie gedacht werden soll. Der Vorschlag bedeutet, dass die Bedingungen, die mit den in diesen Kapiteln besprochenen Autonomiekonzepten verbunden sind, als relevant und normierend für die Erziehungssituation zu deuten sind, sodass ein Streben auf die Zielvorstellung hin einer Bemühung gleichkommt, die Erziehungssituation respektive die darin artikulierten Ansprüche, der Normativität der Zielvorstellung entsprechend zu gestalten. Autonomie – verstanden in Anlehnung an ein Verständnis wie repräsentiert durch die in den Kapiteln 4 und 5 besprochenen Konzepte – ist dann als moralpädagogische Zielvorstellung pädagogisch bereits in der Erziehungssituation als normierend zu berücksichtigen. Damit entsteht ein Bild, welches ein Verständnis von Erziehung als einen auf ein zukünftiges Ziel ausgerichteten Prozess als wenig relevant wertet und die Bedeutung der Erziehungssituation als gegenwärtigen Ausdruck von Erziehung hervorhebt. Papastephanous Argumentation für die Bedeutung von Utopie und Dystopie für Erziehung (siehe Kapitel 3) ist aber ein Hinweis darauf, dass die Bedeutung eines vorgestellten und ›noch nicht‹ erreichten Zustandes für Erziehung nicht unwichtig ist. Aufgrund dieser normierenden Vorstellung dessen, was ›noch nicht‹ ist, haftet Erziehung somit auch eine zeitliche Dimension an, die es zu berücksichtigen gilt. Es geht bei Erziehung um die Vorstellung dessen, was noch nicht ist. Das noch ist dabei zentral und macht auch den Anspruch von Erziehung aus, der Pädagogik von Philosophie unterscheidet. Dass es bei moralpädagogischen Zielvorstellungen um ein Noch Nicht geht, ist aber nicht als Inanspruchnahme von Erziehung als linearem Prozess zu deuten. Wie die Ausführungen in Kapitel 2 und 3 veranschaulichten, entspricht dies nicht der Sichtweise von Erziehung, wie sie in dieser Arbeit vertreten wird. Vielmehr sollte die fälschliche Vorstellung eines solchen linearen Prozesses problematisiert werden. Es soll also hier nicht bestritten werden, dass es 363 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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bei Erziehung um ein komplexes zeitliches Verhältnis geht, im Sinne einer »Gleichzeitigkeit von Wissen und Nicht-Wissen, Können und Nicht-Können«. 105 Aber der Umstand, dass Erziehung nicht als linearer Ablauf beanspruchbar ist, behebt nicht den Umstand, dass Zielvorstellungen mit Inanspruchnahme von Zeit an eine zeitliche Dimension geknüpft sind. Philosophische Ideale können utopisch gefasst sein oder als erstrebenswert dargestellt werden, aber sie pädagogisch zu artikulieren bedeutet, sie mit einer Absicht der Verwirklichung unter Inanspruchnahme von Zeit in Verbindung zu bringen. Die beiden hier besprochenen Autonomiekonzepte sollen nun abschließend auf die Frage der pädagogischen Bedeutung des Kopftuchverbots in deutschen Schulen bezogen werden. Es geht darum, einige Aspekte möglicher Sichtweisen, welche von langsamer respektive punktueller Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung ausgehen, anhand einer konkreten Frage mit pädagogischer Relevanz sichtbar zu machen. Im Vordergrund der Debatte um Kopftuchverbote für Lehrkräfte stand in Deutschland lange der Fall der Lehrerin Ferestha Ludin. Im September 2003 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, es liege für ein Verbot für Lehrkräfte, in der Schule ein Kopftuch zu tragen, »keine hinreichend bestimmte Gesetzesgrundlage« (im aktuellen Bundesland Baden-Württemberg) vor. 106 Zugleich enthält die entsprechende Pressemitteilung des Urteils bereits den Hinweis auf einen möglichen Anlass zu einer Gesetzesänderung. 107 Kaum ein Jahr später, im Juni 2004, trat eine entsprechende Gesetzesänderung in Baden-Württemberg in Form eines neuen Schulgesetzes, welches Lehrkräften das Tragen eines Kopftuchs im Unterricht untersagt, in Kraft. Andere Bundesländer folgten in den folgenden Jahren mit ähnlichen Benner, 2005b, 8 Bundesverfassungsgericht 2 BvR1436/02 vom 24. September 2003, http://www. bverfg.de/entscheidungen/rs20030924 (Zugriff am 21. Oktober 2008); Bundesverfassungsgericht. Pressemitteilung Nr. 71/2003 vom 24. September 2003 http://www.bun desverfassungsgericht.de (Zugriff am 21. Oktober 2008) Mit dem Gerichtsentscheid ging ein Sondervotum dreier Richter einher, die, sich auf die Pflicht eines Beamten berufend, sich gegen den Gerichtsentscheid, d. h. für ein Verbot des Kopftuchs gemäß existierender Gesetzeslage wenden. 107 »Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein.« (Bundesverfassungsgericht. Pressemitteilung Nr. 71/2003 vom 24. September 2003 http://www.bundesverfassungsgericht.de (Zugriff am 21. Oktober 2008) 105 106

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Gesetzen nach. 108 Die Überlegungen im Anschluss an den Gerichtsentscheid des Bundesverfassungsgerichtes, welche zur später durchgeführten Gesetzesänderung Anlass gaben, berufen sich auf einen »Widerstreit« zwischen der Glaubensfreiheit der Lehrerin einerseits und dem Erziehungsauftrag des Staates, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der negativen Glaubensfreiheit der Schulkinder andererseits. 109 Assoziiert mit dieser Konfliktsituation verschiedener rechtlicher und ethischer Werte ist bezüglich der Praktiken in Schulen auch die Frage zur pädagogischen Bedeutung eines Kopftuchverbots für Lehrkräfte respektive zur pädagogischen Bedeutung eines im Unterricht getragenen Kopftuchs. Werden dadurch Werte vermittelt und wenn ja, welche Werte werden wie vermittelt? 110 Und wie müsste im Hinblick auf Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung ein verbotenes oder ein getragenes Kopftuch der Lehrerin betrachtet werden? In der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts wird auf den http://www.welt.de/politik (Zugriff am 21. Oktober 2008) Es ist bemerkenswert, dass die Verfasser in ihre Argumentation ausschließlich Schulkinder nicht-muslimischer Herkunft einzubeziehen scheinen. Sie schreiben: »Indem die Bf (Beschwerdeführerin, meine Anmerkung) durch das Tragen des Kopftuchs in Schule und Unterricht die Freiheit in Anspruch nimmt, ihre Glaubensüberzeugung zu zeigen, wird die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler, nämlich kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben, berührt.« (Pressemitteilung Nr. 71/2003 vom 24. September 2003 http://www.bundesverfassungsgericht.de (Zugriff am 21. Oktober 2008) Ganz abgesehen davon, inwiefern das Tragen eines Kopftuchs als »kultische Handlung« einzustufen wäre, lässt sich fragen, warum nicht bedacht wird, dass auch SchülerInnen mit kulturellem oder religiösem Hintergrund in einer Tradition, wo Kopftücher der Normalfall sind, hinsichtlich dieser negativen Glaubensfreiheit betroffen sind. 110 In der besagten Pressemitteilung des Bundesgerichtes wird erstaunlich wenig auf diese pädagogische Frage eingegangen. Was zur Sprache kommt, ist die Wirkung des Kopftuchs in entwicklungspsychologischer Perspektive. Da wird einerseits darauf hingewiesen, dass »ein von der Lehrerin aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch (…) besonders intensiv wirken (kann), weil die Schüler für die gesamte Dauer des Schulbesuchs mit der im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stehenden Lehrerin ohne Ausweichmöglichkeit konfrontiert sind«. Dass aber die Schule auch als weiteres soziales Umfeld von Bedeutung ist, dass peer groups und das Geschehen im Pausenhof wichtig sind, scheinen die Verfasser nicht zu bedenken. Andererseits wird davon gesprochen, dass die Annahme, »dass vom Tragen des Kopftuchs bestimmende Einflüsse auf die religiöse Orientierung der Schulkinder ausgehen« als »bloß abstrakte Gefährdungen« zu betrachten seien, weil »keine gesicherten Erkenntnisse über eine solche Beeinflussung von Kindern aus entwicklungspsychologischer Sicht« vorlägen. (Bundesverfassungsgericht. Pressemitteilung Nr. 71/2003 vom 24. September 2003 http://www.bun desverfassungsgericht.de) (Zugriff am 21. Oktober 2008) 108 109

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»mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene(n) gesellschaftlichen Wandel« hingewiesen als »Anlass (…), das zulässige Ausmaß religiöser Bezüge in der Schule neu zu bestimmen«. Eine Neubestimmung kann zum Zeitpunkt der Pressemitteilung nur als eine Einschränkung des Rechts von Lehrkräften, Kopftücher zu tragen, gedeutet werden. Es wird in der weiteren Argumentation zwar auf eine mögliche Aufgabe der Schule, durch Umgang mit Vielfalt, »die Einübung gegenseitiger Toleranz« zu fördern, eingegangen. Zugleich wird aber vor einem »größeren Potential möglicher Konflikte in der Schule« gewarnt und es ist im Text ersichtlich, dass die Verfasser für eine rigorosere Deutung der staatlichen Neutralitätspflicht in der Schule optieren. Somit wären auch »durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte, religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten«. 111 Mit Erziehung verbunden ist in Schulen eines demokratischen und liberalen Staates gewöhnlicherweise auch die Zielvorstellung Autonomie. Damit in Konflikt geratend sind aber andere Werte, wie sie in demokratischen und liberalen Gesellschaften präsent sind. Im Falle der Kopftuchfrage gerät der Wert der Gleichberechtigung (insofern als das Kopftuch als im Widerstreit zu Gleichberechtigung stehend gedeutet wird) in Konflikt mit jenem individueller Autonomie. Schüler sollen zu autonomen Urteilen und Handlungen befähigt werden, aber, wie der Argumentation verschiedener Akteure zu entnehmen ist, offenbar nicht, wenn dies eine Begrenzung eines Wertes wie Gleichberechtigung impliziert. Die Wertung verschiedener, kollidierender Werte ist für die Kopftuchfrage bedeutend. Es soll aber hier hauptsächlich auf die Zielvorstellung Autonomie fokussiert werden. Ist die Forderung nach einer Schule als religions-neutrale Zone angesichts einer moralpädagogischen Zielvorstellung Autonomie legitim? Dass das muslimische Kopftuch nicht nur Kleidungsstück ist, sondern auch als Symbol religiöser und kultureller Werte zu betrachten ist, soll nicht bezweifelt werden. Ebenso wenig soll die pädagogische Bedeutung von Kleidung bestritten werden. 112 Allerdings sind die Ausdruckskraft des Kopftuchs, 111 Bundesverfassungsgericht Pressemitteilung Nr. 71/2003 vom 24. September 2003 http://www.bundesverfassungsgericht.de (Zugriff am 21. Oktober 2008) 112 Siehe Oelkers, 2008. Wie war Erziehung früher? Vortrag an der Tagung ›Ist gute Erziehung lernbar?‹ 7. Juni 2008, Universität Zürich www.paed.uzh.ch/ap/home/vor traege. (Zugriff am 14. Oktober 2008)

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sowie die Erfahrung desselben von vielen Faktoren abhängig und deshalb kaum einheitlich festzustellen. Was das Kopftuch für die einzelne Trägerin bedeutet, wie sich damit assoziierte Werte in ihrem konkreten Leben ausdrücken und welche Konsequenzen dies für ihre Interaktion in ihrem sozialen Umfeld auswirkt, ist nicht einheitlich festzuhalten. Die Aussagekraft eines Kopftuchs ist also nur sehr schlecht generell zu bewerten. Ein weiterer, komplizierender Aspekt betrifft die tatsächlichen Effekte eines getragenen Kopftuchs auf die Schüler. Es ist anzunehmen, dass vom Kopftuch keine einheitliche Wirkung ausgeht. Inwiefern ein von der Lehrkraft getragenes Kopftuch mit einer Zielvorstellung Autonomie vereinbar ist, müsste das Verhalten der entsprechenden Person sowie ihre in der Erziehungssituation zum Ausdruck kommende Art, mit Schülern zu interagieren, auf breiterer Basis berücksichtigen. Hinsichtlich eines Verständnisses von Autonomie als langsamer Autonomie sind hierzu zwei Bemerkungen denkbar. Erstens konstituiert sich langsame Autonomie im ständigen – und daher etwas trägen – Rückbezug von Präferenzen auf vorhergehende und als ›eigen‹ erlebte Präferenzen. Autonomie entsteht demgemäß nicht als unmittelbare Reaktion auf den Einfluss durch jemanden. Vielmehr entsteht Autonomie langsam und primär am Selbst, d. h. in der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit eigenen Präferenzen. Da autonom ist, wer in Übereinstimmung mit jenen Präferenzen handelt, die die eigene Person auf befriedigende Weise zum Ausdruck bringen, kann das Urteil der Umgebung nur mittelbar oder indirekt relevant sein. Diese primäre Orientierung langsamer Autonomie nach ›Innen‹, d. h. am eigenen Selbst, wirkt sich auch auf die pädagogische Bedeutung des Kopftuchs der Lehrerin aus. Insofern als Schüler vom Kopftuch ihrer Lehrerin beeinflusst werden, ist es eher die Entscheidung der Lehrerin, die im Vordergrund steht. Inwiefern würde die Lehrerin ihr Kopftuch als Ausdruck ihrer autonomen, d. h. kohärenten Wahl bezeichnen? Welche Beweggründe hat sie und wie betrachtet sie ihre eigene Person im Verhältnis zu umgebenden kulturellen Werten? Von pädagogischer Bedeutung ist also nicht so sehr das Kopftuch an sich, sondern eher die durch die Lehrerin ausgedrückte Einstellung dazu und Erfahrung davon. Die Konfrontation in der Schule mit religiöser und kultureller Vielfalt, wie sie die entsprechende Gesellschaft prägt, scheint unter den Bedingungen langsamer Autonomie zweitens eher wünschenswert zu sein. Denn in der Schule wird das Kopftuch zur persönlichen Präfe367 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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renz (oder zur aufgezwungenen Wahl) einer Person, zu der die Schüler eine Beziehung haben. Durch deren Beweggründe haben sie die Möglichkeit, sie innerhalb eines ihnen bekannten Kontexts kennen und eventuell verstehen zu lernen. Eine Schule, wo jene Symbole religiöser und kultureller Vielfalt abwesend sind, welche auf der Strasse und im Lebensmittelgeschäft – auf viel anonymere Weise – gegenwärtig sind, erscheint dagegen eher hinderlich in Bezug auf eine Bemühung um Autonomie als langsam zu erstrebende Kohärenz eigener Präferenzen. Wenn als moralpädagogische Zielvorstellung punktuelle Autonomie angenommen wird, rückt damit Selbstbestimmung als »sich bestimmen lassen« in den Vordergrund. Autonomie ist demgemäß eine Kombination kontrollierter und unkontrollierbarer Faktoren. Anhand kultureller oder religiöser Zugehörigkeiten, aber auch in der Distanzierung von denselben, wird diese Kombination sichtbar. Zugehörigkeit oder Distanzierung können dabei gleichermaßen Autonomie als »sich bestimmen lassen« ausdrücken. Außerdem wird eine Bestimmung für oder wider Zugehörigkeit zu kulturellen oder religiösen Kontexten respektive deren Ausdrucksweisen (wie das muslimische Kopftuch) selten an rationalen Überlegungen entschieden. Biographische, relational oder beliebig bedingte Ereignisse spielen mit und beeinflussen bewusst gefasste oder unbewusste getroffene Entscheidungen. Lehrkräfte, die ein Kopftuch tragen, repräsentieren (insofern als sie durch ihre Person einen pädagogischen Einfluss ausüben) diese Art von Autonomie als »sich bestimmen lassen« nicht unbedingt in einer anderen Weise als Lehrkräfte anderer kultureller oder religiöser Zugehörigkeit. Punktuelle Autonomie kann sich zu verschiedenen Zeitpunkten im Leben einer Person als »sich bestimmen lassen« auch unterschiedlich ausdrücken. Die Veränderlichkeit, die auch langsame Autonomie kennzeichnet, ist bei punktueller Autonomie unbedingter Art. Als Unstetigkeit ist sie für Autonomie konstituierend. Erziehung ist daher als Anspruch an riskante Richtung kohärent mit punktueller Autonomie als einer Zielvorstellung, welche in Abhängigkeit kontextueller Faktoren zu verschiedenen Ausdrucksweisen führen kann. Insofern als punktuelle Autonomie sich intersubjektiv anhand von Kontrast und Offenheit abzeichnet und durch ein respektvolles »Sichabstimmen« mit Anderen bedingt ist, ist auch hier eine von der Schule verwiesene gesellschaftliche Vielfalt fragwürdig. Auch die Frage eines Verbots von Kopftüchern unter Schülerinnen ist mehrfach aktualisiert worden. Eltern einer Schule in Düsseldorf 368 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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reagierten auf einen Elternbrief, in welchem das Schulrektorat Schülerinnen das Tragen von Kopftüchern im Unterricht untersagte oder dies zumindest als an der Schule ›unerwünscht‹, weil mit den Werten der Schule in Widerspruch stehend, bezeichnete. In der Folge wurde der Schulrektor zum Gespräch bei der Bezirksregierung vorgeladen. In einer Pressemitteilung derselben wird im Anschluss daran betont, dass ein entsprechendes Verbot weder legal sei noch beabsichtigt war. 113 Interessant ist die Argumentation im Elternbrief zur pädagogischen Begründung eines Kopftuchverbots für Schülerinnen: »Wir leben in einem Land, das an christlichen und demokratischen Werten orientiert ist. Das Kopftuch wird von uns als Symbol der Unterdrückung der Frau und fehlender Gleichberechtigung betrachtet. Es widerspricht somit nicht nur den entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes, sondern auch den Werten, die wir unseren Schülerinnen und Schülern vermitteln wollen. Das Tragen von Kopftüchern ist deshalb an unserer Schule unerwünscht. Wer unbedingt möchte, dass seine Tochter in der Schule ein Kopftuch trägt, sollte sich gut überlegen, ob die Anne-Frank-Realschule die richtige Schule für seine Weltanschauung und seine Tochter ist.« 114

Was bedeutet es pädagogisch, wenn Schulen ihren Schülerinnen verbieten, in der Schule Kopftücher zu tragen? Ist im Sinne des pädagogischen Paradoxes eine Begrenzung der Freiheit durch ein Verbot von Kopftüchern in der Schule berechtigt durch den Zweck, damit Autonomie zu fördern? Ausgehend von einem Verständnis von Autonomie als langsam, wäre hier wiederum darauf zu verweisen, dass Autonomie zwar als träge, aber auch als über Zeit veränderlich zu betrachten ist. Indem Ekstrom eine Trägheit in ihr Autonomiekonzept einbaut, ist Autonomie gemäß ihrer Sichtweise immer in einer längeren Perspektive zu betrachten. Erziehung mit einer Zielvorstellung langsamer Autonomie müsste dementsprechend vor veränderlichen Stellungnahmen Respekt aufweisen. Als moralpädagogische Zielvorstellung müsste langsame Autonomie nicht nur mit Veränderungen über Zeit rechnen, sondern sich vor allem zum Ziel setzen, Bedingungen zu fördern, die eine zunehmend befriedigende Orientierung an den eigenen Präferen113 http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen (Zugriff am 22. Oktober 2008); Pressemitteilung 132 2008 vom 13. Oktober 2008 http://www.bezreg-duesseldorf.nrw.de (Zugriff am 22. Oktober 2008) 114 Elternbrief wie zitiert in http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen (Zugriff am 22. Oktober 2008)

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zen erleichtern oder begünstigen. Dies müsste Überlegungen zu den Bedingungen von Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen in Kontexten, welche von religiöser und kultureller Vielfalt geprägt sind, einbeziehen. Schülerinnen, die in der Schule ein Kopftuch tragen, haben diesbezüglich aufgrund von Traditionen in ihrer Familie selten eine freie Entscheidung zu treffen. 115 Wenn die Schule ihnen ein Kopftuch verbietet, kann dies eine schwierige Konfliktsituation auslösen. Ein Verbot von Kopftüchern in der Schule könnte aber umgekehrt ebenso eine schwierige Situation erleichtern. Wenn Autonomie sich darin konstituiert, mit sich selbst vertraut zu werden, dann würde die Schule, insofern als sie sich einer solchen Zielvorstellung verschreiben würde, mit Offenheit gegenüber verschiedener Stellungnahmen wahrscheinlich eher Autonomie begünstigen, als sie dies mit einem Verbot von Kopftüchern für Schülerinnen erreichen würde. Punktuelle Autonomie als Zielvorstellung würde eine tolerante Haltung der Schule religiösen oder kulturellen Ausdrucksweisen ihrer Schüler gegenüber noch deutlicher fordern. Hier ist nämlich der spontane Entscheid, »sich bestimmen zu lassen«, schlecht durch die erziehende Person oder Institution zu bewerten. Wie oben erwähnt, ist ein Anspruch an Richtung hier tatsächlich riskant und muss es sein. Was als Gelingen und was als Scheitern zu betrachten ist, ist aus der Perspektive der erziehenden Person nicht unbedingt klar ersichtlich. Auch die Entscheidung für das Kopftuch kann in Bezug auf Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie somit als Ausdruck geglückter Erziehung betrachtet werden. Dies ist kohärent mit einer Zielvorstellung von Selbstbestimmung als »sich bestimmen lassen«, insbesondere wenn sich die Selbstbestimmung in intersubjektiver Begründung auch als rücksichtsvolles »Sichabstimmen« darstellen soll. Das Element des Unbestimmten oder Unkontrollierbaren ist wichtig für den Lernprozess und die Erziehungssituation. Ein Verbot von Kopftüchern als eingeschränkte Vielfalt scheint auch damit schlecht vereinbar zu sein.

115 Auch in christlichen Traditionen, wie etwa der Konfirmation, sind Jugendliche nicht unbedingt ›frei‹, sondern fällen autonome Entscheide immer in einem ihre Entscheidung mehr oder weniger deutlich prägenden Umfeld. Selbst wenn etwa im kirchlichen Konfirmandenunterricht die Konfirmanden zur selbständigen Wahl für oder wider Konfirmation aufgefordert werden, haben diese ihre Entscheidung auf familiäre Traditionen zu beziehen. Oft stehen sie dabei unter einem erheblichen Erwartungsdruck. (Nordström, 2004)

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7 Erziehung in Autonomie – Autonomie in Erziehung

Dieses Kapitel ist abschließenden Überlegungen zu Autonomie und Erziehung gewidmet und besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist als Rückblick zu verstehen. Hier sollen kurz die wichtigsten Schlussfolgerungen der vorhergehenden Kapitel rekonstruiert und entfaltet werden. Der zweite Teil stellt einen Ausblick dar. Hier wird eine Anzahl Problembereiche aufgegriffen, die sozusagen in der Peripherie der Aufgabe dieser Arbeit auftauchen. Es geht einerseits darum, einige Implikationen anzusprechen und vertiefend zu diskutieren, welche aus dem Ansatz und der Argumentation der Arbeit hervorgehen und für eine weitere philosophische und pädagogische Diskussion von Bedeutung sind. Es geht andererseits darum, mögliche Verlängerungen der Fragestellungen und Schlussfolgerungen aufzuzeichnen. Dieser Ausblick umreißt somit als Abschluss der Arbeit Anhaltspunkte, welche die Perspektive der Arbeit weiten und für weitere, angrenzende Fragen öffnen. Dies ist veranlasst dadurch, dass, wie eingangs festgehalten wurde, sich diese Arbeit als Beitrag in einer fortzusetzenden Diskussion zur Normativität von Autonomie und Erziehung versteht.

7.1 Rckblick 7.1.1 Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie in Interaktion, Relationalität und Zeit Die vorliegende Arbeit ist als ethische Studie der legitimierenden Funktion von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung für Erziehung gewidmet. Ausgehend vom pädagogischen Paradox wurde die Legitimitätsfrage von Erziehung unter Berücksichtigung verschiedener Verständnisse von Autonomie, welche Autonomie nicht als Gegenüber zu Dependenz, sondern innerhalb von Dependenz konzeptua371 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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lisieren, beleuchtet und problematisiert. Somit beschäftigt sich die Arbeit mit der Frage, inwiefern Erziehung durch Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung legitimiert werden kann. Damit zusammenhängend ist aufgrund des in Kapitel 2 beschriebenen und begründeten kohärenzorientierten Begründungsmusters auch die Frage, wie Autonomie als legitime moralpädagogische Zielvorstellung bestimmt und begründet werden kann. Die Legitimitätsfrage von Erziehung wurde in Kapitel 2 aufgegriffen und unter dem Aspekt des Argumentationsmusters diskutiert. Es wurde gezeigt, dass Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung im Rahmen eines modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas insofern als für Erziehung legitimierend betrachtet wird, als die pädagogische Bemühung um Autonomie die vorübergehende Einschränkung von Autonomie aufwiegt. Diesem Gedankengang zugrunde liegend ist eine Idee kompensierender Gegensätzlichkeit. Zwei Einwände wurden gegen ein solches Begründungsmuster angeführt. Erstens wurde anhand einer Darstellung moralpädagogischer Zielvorstellungen als bezogen auf Vision, Reaktion und erfahrene Realität der Erziehungspraxis die Plausibilität einer Gegensätzlichkeit und normativen Trennbarkeit zwischen Zielvorstellung und Praxis hinterfragt. Zweitens wurde die Vorstellung, Erziehung sei die Förderung einer linearen Entwicklung von Heteronomie zu Autonomie, kritisiert. An ihrer Stelle wurde ein Verständnis von Erziehung als nur lose zusammenhängende, intersubjektive Situationen, wie sie in Alanens Begriff generationing oder in Lees Begriff separability dargestellt werden, vorgeschlagen. Erziehung ist von gegenseitigen Abhängigkeiten, welche erziehende und zu erziehende Person kennzeichnen, geprägt. Im Anschluss daran wurde ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster vorgeschlagen. Dieses umfasst eine Betrachtungsweise, welche Erziehungssituationen und Zielvorstellungen nicht in Abgrenzung und Gegenüberstellung zueinander, sondern im gegenseitigen Bezug aufeinander bestimmt und begründet. Ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster wurde in der Folge anhand dreier Schritte, wie sie in den Kapiteln 3–6 durchgeführt wurden, angewandt. Ein erster Schritt bestand aus einer Interpretation der Normativität, wie sie Erziehung als erfahrene Realität der Erziehungspraxis prägt. Dies wurde in Kapitel 3 anhand einer Charakterisierung von Erziehung als Anspruch aus ethischer Perspektive durchgeführt. Asymmetrie und Richtung wurden als zentrale konstitutive Ausdrücke von 372 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Rckblick

Erziehung als Anspruch hervorgehoben. Als zweiter Schritt wurden im Anschluss daran, ebenfalls in Kapitel 3, diese Ansprüche in Bezug auf Erziehung als Erfahrung kritisch analysiert. Dies mündete in eine Bestimmung dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung als adäquate Ansprüche für Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie. Als dritter Schritt innerhalb eines kohärenzorientierten Begründungsmusters wurden in den Kapiteln 4–6 verschiedene Autonomiekonzepte auf eventuelle Kohärenz mit den als adäquat bestimmten normativen Ansprüchen von Erziehung hin untersucht. In jedem der Kapitel wurde anhand einer Anzahl verschiedener Autonomiekonzepte ein jeweils anderer Aspekt von Dependenz als bedingend für Autonomie hervorgehoben. Die Absicht war dabei nicht, eine systematische Bestimmung und Begründung eines einheitlichen und erschöpfenden Autonomiebegriffes anzustreben. Ebenso wenig sind die drei Aspekte von Dependenz, welche in den Kapiteln 4–6 hervorgehoben werden, als erschöpfend oder in striktem Sinne systematisierend zu verstehen. Sie sollen vielmehr der Beleuchtung verschiedener denkbarer Aspekte von Dependenz als relevant für eine integrierte Sichtweise von Autonomie und Dependenz dienen. Aus der Besprechung der Autonomiekonzepte resultierte ein vielseitiges Bild, welches verschiedene Aspekte von Autonomie in Dependenz beleuchtet, die sich in Abstimmung mit adäquaten Ansprüchen in der Erziehungssituation als bedeutungsreich erweisen. In Kapitel 4 wurden Autonomiekonzepte besprochen, welche Autonomie in Interaktion behandeln. Kants Autonomiekonzept wurde als gebotene Autonomie charakterisiert und diskutiert. In meiner Darstellung wurde der Umstand hervorgehoben, dass Kants Verständnis von Heteronomie Dependenz trivialisiert. Zugleich wurden jene Aspekte von Kants Konzept hervorgehoben, welche Autonomie als vernünftiges Urteilen und Handeln an Bedingungen einer respektvollen Interaktion knüpfen. Rawls, der diesen Aspekt von Kants Autonomieverständnis aufgreift, knüpft Autonomie an eine Bedingung von Bereitschaft zu Kooperation, während Habermas die Autonomie des Individuums als konstitutiv abhängig von gegenseitiger kommunikativer Gewährleistung versteht. Alle drei besprochenen Autonomiekonzepte wurden insofern als mit dialektischer Asymmetrie kohärent befunden, als sie durch die normativen Auflagen, die anhand der Bestimmungen zu legitimer Interaktion an Autonomie gemacht werden, eine Bedingung respektvoller Gegenseitigkeit in Interaktion auf373 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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greifen. Riskante Richtung ist insofern kohärent mit Autonomie in Interaktion, als die konstitutive Bedeutung intersubjektiver Aspekte Erziehung immer als mit Ungewissheiten verbunden erscheinen lässt. Ein Anspruch riskanter Richtung reflektiert eine Begrenzung der pädagogischen Intention durch eine Zielvorstellung Autonomie in Interaktion. Erziehung zu Autonomie in Interaktion müsste demgemäß zusammenfassend als pädagogische Bemühung um Autonomie eine Orientierung an einer Verpflichtung zu gewissen Bedingungen von Interaktion umfassen. Eine solche Orientierung aktualisiert Aspekte wie Respekt, Bereitschaft zu Kooperation und gegenseitige Gewährleistung als kennzeichnend für die Interaktion autonomer Individuen. Kapitel 5 hat Autonomie in Relationalität behandelt. Hier wurden kausal und konstitutiv relationale Konzepte von Autonomie besprochen. Die beiden Kategorien wurden als Unterscheidung gradueller Art gedeutet, sodass konstitutiv relationale Konzepte Autonomie als unmittelbarer durch Relationalität bedingt verstehen als dies kausal relationale Konzepte tun. Als moralpädagogische Zielvorstellung ist Autonomie in Relationalität insofern interessant, als dabei Relationalität nicht nur als Autonomie begrenzend betrachtet wird (und damit auf triviale Weise im Sinne Kants Heteronomie als Gegenüber zu Autonomie konstruiert wird), sondern durch Relationalität bedingt beschrieben wird. Bei MacIntyre kommt dies zum Ausdruck einerseits in Autonomie als Bezeichnung für jene Fähigkeiten, welche für die Entwicklung von erster, unreflektierter zu zweiter, reflektierter Dependenz notwendig sind. Diese Vorstellung wurde unter anderem darum als problematisch bezeichnet, weil Autonomie als sekundär zur verpflichtenden zweiten Dependenz einen Anspruch an Richtung aufgrund der entstehenden Voraussagbarkeit als riskanten Anspruch von Erziehung nicht zulässt. Autonomie kommt gemäß MacIntyres Sichtweise im Verhältnis zur zweiten Dependenz, welche sich als normative Verpflichtung zu Reziprozität ausdrückt, eine untergeordnete Funktion zu. Andererseits ist bei MacIntyre auch eine Sichtweise beleuchtet worden, die Autonomie insofern in Relationalität fasst, als sie anhand von phronesis als bedingt durch interne Werte einer Praxis bestimmt wird. Das selbstbestimmende Individuum ist dabei durch seine Beteiligung an einer Praxis selbstbestimmt, sodass die Wertungen der Praxis für seine Autonomie bedingend sind, aber nicht außer Reichweite des Individuums, d. h. unverfügbar bestimmt sind. Praxis als Ausdruck einer wertenden und Autonomie bedingenden Dependenz kommt auch 374 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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in Taylors Texten eine zentrale Bedeutung zu. Bei Taylor sind signifikante Horizonte als wertende Dependenz insofern bedingend für Autonomie, als sie individuelle Sinnsuche und Sinnkrise bedingen. Dialektische Asymmetrie ist damit kohärent, insofern als diese individuelle Sinnsuche sowohl erziehende und zu erziehende Person betreffen und eine Differenz nur als kontextuell bedingter Unterschied zu beschreiben ist. Die gemeinsame kontextuelle Abhängigkeit in Bezug auf individuelle Sinnsuche als Ausdruck von Autonomie ist demgemäß für erziehende und zu erziehende Person prägend. Außerdem kann in einem weiteren Sinne ein Anspruch riskanter Richtung im Zusammenhang mit dieser Sichtweise als übereinstimmend mit dem Umstand, Autonomie sei als Sinnsuche und Sinnkrise mit erlebter Negativität oder schmerzhaften Erfahrungen einhergehend zu verstehen, betrachtet werden. Das Schmerzhafte der Sinnsuche ist im drohenden Sinnverlust begründet und bedingt Ungewissheiten, die sich also im Anspruch riskanter Richtung ausdrücken. Es wurde weiter argumentiert, dass im Fall von Oshanas sehr weitgehendem, konstitutiv relationalem Autonomiekonzept Erziehung zu Autonomie sich auch auf eine indirekte Weise, d. h. nicht nur gerichtet auf die an der Erziehungssituation beteiligten Personen, sondern auch an andere Personen, welche in Beziehungen mit den beteiligten Personen leben, ausdrücken müsste. Dies ist im Umstand, dass Oshanas Autonomiekonzept als Zielvorstellung von einem relationalen Kriterium in Form eines Zugeständnisses von Autonomie an Andere abhängig gemacht werden müsste, begründet. Autonom ist, wer als autonome Person behandelt wird. Im Gegensatz zu Habermas’ gegenseitiger Gewährleistung als konstitutiv für die eigene Autonomie und die Autonomie anderer, kann bei Oshana jemand durch ein Zugeständnis von Autonomie an eine andere Person diese autonom machen. Die eigene Autonomie ist aber davon nicht berührt, denn sie ist wiederum von der Behandlung durch Andere bedingt. Meyers’ authentische intersektionale Identität greift ebenfalls den Umstand auf, dass Autonomie in Relationalität bedeutet, dass die Autonomie einer Person von den relationalen Bedingungen, in welchen sie lebt, abhängig ist. Indem Meyers aber betont, dass Intersektionalität als relationale Voraussetzung Autonomie sowohl hindert wie auch begünstigt, gesteht sie dem Individuum eine Möglichkeit zur Formung eigener Autonomie zu, wie sie bei Oshana nicht deutlich vorkommt. Darum ist Meyers’ Verständnis von Autonomie als authentische intersektionale Identität nuancier375 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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ter. Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie müsste sowohl direkte wie indirekte Erziehung zu Autonomie umfassen. Strukturelle Ähnlichkeiten lassen sich sowohl bezüglich riskanter Richtung wie auch bezüglich dialektischer Asymmetrie hervorheben. Erziehung unter Voraussetzung von Intersektionalität kann nur begrenzt Richtung beanspruchen, weil mit konkurrierenden Einflussnahmen zu rechnen ist, sodass Ungewissheiten auf Richtung als riskant hinweisen. Außerdem ist Autonomie als kompetenter Umgang mit Abhängigkeit als bedingt durch Intersektionalität gemäß Meyers ein lebenslanges Streben, was eine alters- und erfahrungsbedingte Differenz zwar plausibel erscheinen lässt, sie aber auch relativiert durch den Umstand, dass erziehende und zu erziehende Personen damit gleichermaßen fortlaufend befasst sind. Asymmetrie stellt sich auch hier als dialektisch dar, vor allem auch weil Erziehung mit Zielvorstellung relationaler Autonomie durch die Forderung der Anerkennung Anderer als autonome Personen von einem gegenseitigen Respekt in der Erziehungssituation geprägt sein müsste. Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie in Relationalität müsste sich demgemäß bezüglich ihrer Ansprüche an der pädagogischen Bemühung, relationale Bedingungen von Autonomie in der Erziehungssituation zu berücksichtigen, orientieren. Es geht ausgehend von den präsentierten Theorien um Relationalität, welche sich als verpflichtende oder wertende Dependenz, als Sinnsuche innerhalb von Sinnhorizonten oder als Anerkennung intersektionaler Identität ausdrückt. Zu, oder besser, in Autonomie zu erziehen heißt demgemäß, den Umgang mit diesen Ausdrücken von Relationalität in die Gestaltung der Erziehungssituation und die darin artikulierten Ansprüche einzubeziehen. Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie in Relationalität heißt weiter, sich zugleich um die eigene Autonomie und die Autonomie Anderer zu bemühen. Kapitel 6 hat Autonomie in Zeit behandelt. Es wurden zwei kontrastierende Auffassungen der Bedeutung, welche eine zeitliche Dimension für Autonomie haben kann, besprochen. Die Berücksichtigung einer Zeitdimension als relevant für ein Autonomieverständnis wurde dabei als Ausdruck dafür gedeutet, dass Autonomie insofern in Dependenz konzipiert wird, als sie das autonome Individuum als abhängig von zeitlichen Bedingungen betrachtet. Die beiden besprochenen Autonomiekonzepte aktualisieren Authentizitätskonzepte von Autonomie, weil sie Autonomie als Ausdruck des Selbst anhand ›inne376 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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rer‹, d. h. intrasubjektiver Kriterien diskutieren und dabei Kriterien eines authentischen Selbst zu Kriterien für dessen Autonomie machen. 1 Dabei wird bei diesen beiden besprochenen Autonomiekonzepten eine Zeitdimension aktualisiert, die im Falle Ekstroms anhand des Begriffes langsamer Autonomie und im Falle Seels als punktuelle Autonomie beschrieben wurde. Ekstroms Autonomiekonzept ist fokussiert auf ein Kohärenzkriterium, welches als autonom jenes Urteil oder jene Handlung einer Person versteht, die dem ›wahren Selbst‹ der Person entsprechen. Als ›wahres Selbst‹ identifiziert Ekstrom jene Teilmenge des Selbst, welche aus kohärenten, d. h. rational autorisierten Präferenzen besteht. Es wurde festgestellt, dass Ekstrom damit ein intuitiv ansprechendes Autonomiekonzept präsentiert. Autonom handeln ist dadurch bedingt, dass die Handlung Ausdruck jener Person ist, mit welcher sich die entsprechende Person mit einem guten Gefühl identifizieren kann. Es wurde bei Ekstrom insbesondere jene Eigenheit ihres Autonomiekonzeptes hervorgehoben, welche dabei entsteht, dass die dem kohärenten Selbst entsprechenden, autorisierten Präferenzen, im Rückbezug auf frühere Erfahrung zu verstehen sind. Dabei baut Ekstrom eine zeitliche Trägheit in Autonomie ein. Es entsteht durch die Bedingung rationaler Kohärenz eine langsame Autonomie, die sich über Zeit langsam herausbildet. Es wurde argumentiert, dass langsame Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung, wenn sie ohne die problematische Verbindung mit einer Vorstellung eines wahren Selbst, als zeitlich bedingte Rückbindung an vorhergehende Erfahrungen, Urteile und Handlungen verstanden wird, als mit den Ansprüchen dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung kohärent erscheint. Autonomie wird als langsame Autonomie zum fortlaufenden und nie ganz abschließbaren Projekt, an welchem sowohl erziehende Person wie zu erziehende Person beteiligt sind. Die Sichtweise Ekstroms wurde dann kontrastiert mit Seels Konzept von Selbstbestimmung als »sich bestimmen lassen«. Bei Seel wurde hervorgehoben, dass Autonomie von ihm als Ausdruck a-rationaler Wie aus der Besprechung von Seels Begriff der Selbstbestimmung hervorgegangen ist, behandelt er sowohl intrasubjektive wie intersubjektive Aspekte von Selbstbestimmung. Für die Zwecke dieser Arbeit sind vor allem seine Ausführungen zu intrasubjektiven Aspekten von Selbstbestimmung als interessant beurteilt worden. Im Gegensatz zu Ekstroms Theorie zu Autonomie ist Seels Theorie also nicht ausschließlich als Authentizitätskonzept von Autonomie zu verstehen.

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Urteile und Handlungen dargestellt wird, was zeitlich betrachtet zu punktueller Autonomie führt. Da Selbstbestimmung bei ihm »sich bestimmen lassen« ist, handelt es sich bei Autonomie um den Umgang mit dem Unkontrollierbaren, sowohl intersubjektiv wie auch intrasubjektiv. In der Folge entsteht Autonomie als Unstetigkeit, als Ausdruck sowohl von Willenstärke wie auch von Willensschwäche. Es wurde festgestellt, dass philosophisch eine Schwierigkeit darin besteht, dass bei Seel die Größenordnungen Gelingen und Scheitern im Zusammenhang mit einer pädagogischen Bemühung um Autonomie praktisch umkehrbar werden. Dieser Umstand bedingt, dass Richtung nur als riskante Richtung beanspruchbar ist, was weiter darin begründet ist, dass Selbstbestimmung im Sinne Seels und übertragen auf die Frage nach Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung als von einer offensichtlichen Großflächigkeit geprägt hervortritt. Ebenfalls wurde argumentiert, dass Seels punktuelle Autonomie mit einem Anspruch dialektischer Asymmetrie einhergehen müsste. Kinder und Erwachsene stehen sich in der Erziehungssituation vor einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund gegenüber. Da sich Selbstbestimmung punktuell äußert und somit nicht abhängig ist von einer Verknüpfung mit vorhergehenden Erfahrungen, muss sie immer wieder neu erworben werden. Es wurde festgehalten, dass Seels Sichtweise von Unstetigkeit als Ausdruck punktueller Autonomie impliziert, dass seitens der erziehenden Person ein Anspruch an Asymmetrie durch den Umstand beeinträchtigt werden müsste, dass sich Kinder und Erwachsene diesbezüglich nicht grundlegend unterscheiden. Die Autonomie konstituierende Bedingung von A-Rationalität ebnet altersbedingte Differenzen in der Selbstbestimmung aus. Zugleich ist hingewiesen worden auf Seels Bezug von Selbstbestimmung auf eine intersubjektive Bedingung von »Sichabstimmen«, wo wiederum Bedingungen für Interaktion in Respekt als assoziiert mit der Zielvorstellung Autonomie aktualisiert werden und wo sich dennoch gewisse Differenzen als Grundlage für einen gemäßigten Anspruch an Richtung und Asymmetrie abzeichnen. Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie in Zeit müsste demgemäß als pädagogische Bemühung um Autonomie zwei kontrastierende Aspekte zeitlicher Bedingtheit berücksichtigen. Einerseits spielt, wie es Ekstroms langsame Autonomie veranschaulicht, ein rückblickender Bezug auf zeitlich vorhergehende Erfahrungen eine Rolle, sodass sich Autonomie als Kohärenz und als kontinuierliche Abstimmung von als eigen erlebten Präferenzen darstellt. Andererseits ist Autonomie als 378 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Ausdruck punktueller und a-rationaler Handlung unstetig, weil sie immer neu errungen werden muss, ohne sich in normierender Hinsicht auf das Verstreichen von Zeit berufen zu können. Zusammengenommen ergibt sich aus diesen kontrastierenden Schlussfolgerungen zu Autonomie in Zeit, dass Langsamkeit von Autonomie (als fortlaufende Herausforderung zu persönlicher Kohärenz) und Punktualität (als unbestimmbarer und immer neu zu erringender Ausdruck von Autonomie) Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie nur anhand vorsichtiger Ansprüche glaubwürdig erscheinen lassen. Dialektische Asymmetrie und riskante Richtung bieten sich auch hier als adäquate Ansprüche an.

7.1.2 Erziehung zu Autonomie – Erziehung in Autonomie Im Zusammenhang mit Autonomie in Interaktion, Autonomie in Relationalität und Autonomie in Zeit wurde demzufolge festgehalten, dass Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung normative Implikationen hat, die in erster Linie als in den Bedingungen der Erziehungssituation respektive den darin artikulierten Ansprüchen reflektiert zu berücksichtigen sind. Dies führt zu einer Betrachtungsweise von Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie als Erziehung in Autonomie. Damit ist gemeint, dass eine moralpädagogische Zielvorstellung Autonomie sich nicht primär als zeitlich entfernt vorgestelltes Ziel, sondern vor allem anhand gegenwärtiger Kriterien für die Gestaltung der Erziehungssituation respektive den darin zum Ausdruck kommenden Ansprüchen, artikulieren sollte. Es geht hier um eine weitgehende Absage an die Vorstellung, Autonomie werde durch einen linear oder kontrollierbar beanspruchbaren Prozess erzieherisch erarbeitet oder gefördert. Erziehung macht nicht abhängige Kinder zu autonomen Erwachsenen und kann nicht glaubwürdig mit einem solchen Anspruch verbunden werden. Erziehung in Autonomie zielt als pädagogische Bemühung um Autonomie auf die Bedingungen pädagogischer Situationen, die von einem Ringen um jene Normativität, wie sie anhand der besprochenen Autonomiekonzepte zu Autonomie in Dependenz aufgezeichnet worden sind, gekennzeichnet sein sollen. Der Begriff Erziehung in Autonomie kann somit, im Rückverweis auf das kohärenzorientierte Begründungsmuster, verstanden werden als Konsequenz des Umstandes, dass moralpädagogische Zielvorstellung 379 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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und Erziehung als Anspruch im gegenseitigen Bezug aufeinander und Kohärenz anstrebend bestimmt und begründet werden sollen. Eine Zielvorstellung Autonomie in Dependenz müsste sich somit auf die Betrachtungsweise, Wertung und Gestaltung der Erziehungssituation auswirken. Dass dabei Erziehungssituationen wie jene, die aus der Kameraüberwachung von Schulen oder der Anwendung von SMS zur Bewältigung der Schwänzproblematik entstehen, als problematisch erscheinen, ist also eine Folge der Forderung, dass die moralpädagogische Zielvorstellung Autonomie in Dependenz die Gestaltung der Erziehungssituation bedingen soll. Im Falle der Kameraüberwachung und der Anwendung von ›Schwänz-SMS‹ entstehen Erziehungssituationen, welche mit Ansprüchen verbunden sind, die mit einer Zielvorstellung Autonomie in Dependenz schlecht harmonieren. Die erziehende Person, welche sich Kontrollmethoden dieser Art bedient, drückt einen Anspruch an starke Asymmetrie aus. Einseitige Kontrolle ersetzt Vertrauen und gegenseitigen Respekt oder Anerkennung mit Misstrauen und kommt einer Aberkennung von Respekt gleich. Inwiefern zu erziehende Personen durch Vertrauensmissbrauch diese Methoden einseitiger Kontrolle provoziert haben, müsste natürlich genauer überlegt und mitberücksichtigt werden. Aber aus Sicht der erziehenden Person, welche die Erziehungssituation durch Methoden einseitiger Kontrolle in ihre Hände nimmt, ist die daraus resultierende Situation sowie der Anspruch, der damit verbunden ist, so mein Argument, schlecht zu rechtfertigen innerhalb einer Bemühung um Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie in Dependenz. Ebenso wird durch Methoden der genannten Art ein Anspruch an Richtung nicht als riskante Richtung ausgedrückt. Vielmehr ist einseitige Kontrolle verbunden mit einer Intention, Risiken zu eliminieren. Auch hier muss ein gewisses Verständnis angesichts schwieriger Situationen und vermutlich gut gemeinter Absichten aufgebracht werden. Was eventuell verständlich ist, ist aber damit nicht unbedingt gerechtfertigt. Auf Methoden einseitiger Kontrolle dieser Art zurückzugreifen, drückt hinsichtlich einer Zielvorstellung Autonomie in Dependenz vor allem Resignation aus. Denn wenn Richtung durch Kontrolle einseitig definiert und beansprucht wird, ist das, ganz abgesehen von der zu bezweifelnden Effektivität der Methoden in die gewünschte Richtung, mit einer Zielvorstellung Autonomie in Dependenz, welche Richtung als riskant beanspruchen müsste, schlecht vereinbar. Es geht in einer Argumentationsweise, wie sie hier und in der 380 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Arbeit insgesamt mit Verweis auf ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster angewandt wird, nicht um die Frage, ob oder inwiefern gewisse Situationen zu Autonomie führen oder ›Autonomie fördern‹, sondern inwiefern die Ansprüche, welche in der entsprechenden Situation artikuliert sind, einer Zielvorstellung Autonomie in Dependenz entsprechen. Die Legitimität einer moralpädagogischen Zielvorstellung und einer erzieherischen Handlung ist somit anhand der Erziehungssituation, die sie gestaltet, zu beurteilen. Wenn die entstehende Erziehungssituation hinsichtlich der darin artikulierten Ansprüche mit der angestrebten Zielvorstellung nicht übereinstimmt, dann ist darin ein Grund gegeben, ihrer Legitimität gegenüber skeptisch zu sein. In allen besprochenen Autonomiekonzepten, insbesondere jenen beiden, welche unter der Bezeichnung Autonomie in Zeit besprochenen worden sind, sind aber auch Aspekte des utopisch vorgestellten und kontrafaktisch angestrebten Ideales Autonomie als philosophisch wesentlich und pädagogisch bedeutungsvoll beleuchtet worden. Erziehung in Autonomie, gekennzeichnet von einer Forderung nach Kohärenz zwischen in der Erziehungssituation ausgedrückten Ansprüchen und Zielvorstellung, steht in gewissem Sinne in einem Spannungsverhältnis zu Erziehung zu Autonomie als Bemühung um eine utopisch gefasste, entfernt vorgestellte Zielvorstellung. Es muss an dieser Stelle aber betont werden, dass es hier nicht um Erziehung zu Autonomie als zeitlich definiertem Prozess geht. Auch die Rede von lebenslänglichem Lernen stellt keine Überwindung des Problems dar, dass Erziehung sich nicht als zeitlich bestimmbarer Prozess ausfindig machen lässt. Eine radikalere Folgerung bietet sich mit dem Hinweis auf Utopie als für eine Zielvorstellung Autonomie (wie auch andere Zielvorstellungen) kennzeichnend an. Utopie macht als das unerreichbar Entfernte aus der Vorstellung Erziehung zu ein Streben oder eine Bemühung, die mit einem Anspruch an Asymmetrie und einem Anspruch an Richtung verbunden ist, ohne aber damit Garantien bezüglich Effekt oder Stetigkeit zu verbinden. Autonomie ist als Zielvorstellung in der Darstellung der besprochenen Konzepte durchgehend als mehr oder weniger utopisches Ideal hervorgetreten. Dieser Aspekt ist innerhalb eines kohärenzorientierten Begründungsmusters für die Bestimmung von Erziehung als Anspruch von zentraler Bedeutung. Eine utopisch gefasste Zielvorstellung legt einen gemäßigten Anspruch von Erziehung nahe, nicht nur, weil die Zielvorstellung als unrealistisch, d. h. nicht oder kaum erreichbar zu gelten hat, sondern 381 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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auch, weil dies bedeuten müsste, dass sich die erziehende Person selbst als inbegriffen in einem Streben nach oder einer Bemühung um Autonomie erkennt und sich somit nicht auf eine einseitige Expertise als Grund einer klaren Differenz berufen kann. Nichtsdestoweniger ist das Streben an sich, da es in der Utopie begründet ist, als angebracht oder berechtigt zu betrachten. Erziehung kann sich also, trotz der im kohärenzorientierten Begründungsmuster motivierten, normativen Orientierung an den Bedingungen der Erziehungssituation, in denselben nie erschöpfen. Vielmehr ist Erziehung durch einen sie konstituierenden Bezug auf das, was ›noch nicht ist‹, und auf das, was als Ausdruck des Unwahrscheinlichen oder Utopischen zu verstehen ist, gekennzeichnet. Es besteht also ein Spannungsverhältnis zwischen Erziehung zu Autonomie und Erziehung in Autonomie. Dieses zeigt sich in der Frage, ob eine moralpädagogische Zielvorstellung Autonomie realistisch, d. h. in der Gestaltung der Erziehungssituation präsent, sein muss oder ob sie – legitimerweise – auch utopisch orientiert sein darf. Anhand eines kohärenzorientiertes Begründungsmuster kann diese Fragestellung nicht als Dilemma behoben, aber als Spannungsverhältnis sichtbar gemacht und unter dem Verweis auf eine Bemühung um Kohärenz als Abstimmung zwischen in Erziehungssituationen artikulierten Ansprüchen und Zielvorstellungen angesprochen werden. Eine Beleuchtung der Spannung zwischen realistischen und utopischen Zielvorstellungen durch ein kohärenzorientiertes Begründungsmuster bedeutet, dass der adäquate Anspruch als bedingend für die Zielvorstellung gilt und umgekehrt. Utopie wird so durch Realismus rückgebunden, während die Forderung nach Realismus zugleich durch utopische Entwürfe eines anzustrebenden Ideals herausgefordert ist. Dies ist insofern ansprechend, als, wie (anhand von Papastephanous Thesen zur Funktion utopischer pädagogischer Zielvorstellungen) auf die Bedeutung von Utopie und Dystopie für Pädagogik in einer gesellschaftskritischen Funktion hingewiesen worden ist. Selbst wenn eine solche Funktion nicht realistisch ist, weil Erziehung als Praxis sich kaum von der umgebenden Gesellschaft abheben kann und eher zur Reproduktion etablierter Normen als zu deren innovativen Neugestaltung beiträgt, so ist in einem Festhalten an utopischen Vorstellungen als Aspekt gesellschaftskritischer Funktionen dennoch etwas Wertvolles enthalten. Der Vorschlag, Erziehung zu Autonomie als Erziehung in Autonomie zu betrachten, muss demgemäß nicht einem Ersatz gleichkommen. 382 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Vielmehr ist darin ein Plädoyer für ein zu bewahrendes Spannungsverhältnis zwischen beiden Sichtweisen enthalten.

7.1.3 Pädagogisches Paradox ohne Belang Die Hervorhebung eines Spannungsverhältnisses zwischen Erziehung in Autonomie und Erziehung zu Autonomie impliziert eine Verschiebung der moralpädagogischen Legitimitätsfrage. Während innerhalb eines modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas die Legitimität von Erziehung in Verbindung mit dem pädagogischen Paradox hervortritt, wird Letzteres für die Legitimitätsfrage, wenn die Prämissen des modernen Legitimitätsparadigmas in Frage gestellt werden, so wie es in dieser Arbeit gemacht worden ist, belanglos. Diese Verschiebung der Legitimitätsfrage weg vom pädagogischen Paradox ist in einem Verständnis von Autonomie innerhalb von Dependenz begründet und wird in einem kohärenzorientierten Begründungsmuster realisiert. Das Spannungsverhältnis des pädagogischen Paradoxes ist definiert worden als bestehend aus der Annahme eines pädagogischen Prinzips, dass Autonomie durch Erziehung als vorübergehend Freiheit oder Autonomie begrenzendes Handeln gefördert werde und zu fördern sei. Paradox ist dies insofern, als ein Spannungsverhältnis zwischen Zielvorstellung und Erziehungssituation angenommen und gerechtfertigt wird. Die Legitimität von Erziehung ist dabei abhängig von einer Zielvorstellung Autonomie. 2 Während sich im Spannungsverhältnis zwischen einer Orientierung an Realität (wie ausgedrückt durch Erziehung in Autonomie) und einer Erkenntnis der Bedeutung utopischer Zielvorstellungen (wie ausgedrückt in Erziehung zu Autonomie) ein beizubehaltendes und für die Legitimität relevantes Spannungsverhältnis abzeichnet, wird das pädagogische Paradox belanglos. Im Fokus der Legitimitätsfrage steht nämlich nicht mehr die scheinbar paradoxe Gegensätzlichkeit zwischen Erziehungssituation und Zielvorstellung. Die Art und Weise, wie die Legitimitätsfrage in dieser Arbeit innerhalb eines kohärenzorientierten Begründungsmusters gehandhabt wird, enthebt die Legitimitätsfrage von Erziehung und die Frage um Autonomie als legitime moralpädagogische Zielvorstellung der sich als irrelevant entpuppenden 2

Siehe Kapitel 2.

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Erziehung in Autonomie – Autonomie in Erziehung

Problematik des pädagogischen Paradoxes. Wenn Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie sich als Erziehung in und zu Autonomie um Autonomie innerhalb von Dependenz, d. h. als Umgang mit Abhängigkeiten, bemüht, dann erscheint die pädagogische Situation in Bezug auf die Zielvorstellung Autonomie in Dependenz nicht als widersprüchlich. Damit ist das pädagogische Paradox im Zusammenhang mit einer Zielvorstellung Autonomie in Dependenz aufgehoben. Selbst wenn der Handlungsspielraum durch Gebote oder Verbote in der Erziehungssituation begrenzt wird, entsteht dabei hinsichtlich der Zielvorstellung Autonomie nicht unbedingt eine Widersprüchlichkeit. Vielmehr ist Autonomie als Umgang mit Abhängigkeiten sowohl als Zielvorstellung normierend wie auch für die Situation kennzeichnend. Die Erziehungssituation verliert in der Folge teilweise ihre Besonderheit. Die einseitig durch die erziehende Person artikulierten Ansprüche von Asymmetrie und Richtung gegenüber der zu erziehenden Person ist, was die Erziehungssituation als besonders auszeichnet. Anderweitig aber reflektiert die Erziehungssituation als relationale Situation in allgemeiner Weise Abhängigkeiten oder Begrenzungen, wie sie Ausdruck von Dependenz als bedingend für Autonomie sind. Bezüglich dieser sind die Bedingungen der Erziehungssituation also auch nicht vorübergehend. Das pädagogische Paradox wird anhand der Argumentation dieser Arbeit somit weder durch einen Hinweis auf eine anthropologische oder entwicklungspsychologische Notwendigkeit von Erziehung aufgelöst, noch durch ein dogmatisches Festhalten am Ideal der Autonomie als ethischem ›Grundwert‹ aufgehoben. Im Zentrum meiner Argumentation steht die Sichtweise, dass Autonomie nicht als Distanzierung von Abhängigkeiten, sondern als kompetenter Umgang damit zu verstehen ist. In Verbindung mit einem kohärenzorientierten Begründungsmuster führt ein entsprechendes Verständnis von Autonomie zur Folgerung, dass das pädagogische Paradox als maßgeblich bestimmend für die Legitimitätsfrage an Belang verliert. Im nun folgenden zweiten Teil dieses Kapitels sollen, wie zu Beginn des Kapitels bereits angekündigt, einige Implikationen, welche aus dem Ansatz und der Argumentation der Arbeit hervorgehen, vertiefend aufgegriffen werden. Ebenso sollen einige mögliche Verlängerungen der Fragestellungen und Schlussfolgerungen aufgezeichnet werden.

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Ausblick

7.2 Ausblick 7.2.1 Autonomie in Dependenz in der Berührungsfläche zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ Die Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte basiert in dieser Arbeit auf einer Auswahl solcher Konzepte, die hinsichtlich der Frage nach Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung relevante Beiträge darstellen. Die Relevanz wurde dabei anhand der Prämisse beurteilt, dass, ausgehend von einem kohärenzorientierten Begründungsmuster als Zugriff auf die Legitimitätsfrage, Autonomie in Abstimmung mit den als adäquat befundenen Ansprüchen dialektischer Asymmetrie und riskanter Richtung bestimmt und begründet sein soll. Die Auswahl der Autonomiekonzepte ist also begründet in jener Forderung, welche im kohärenzorientierten Begründungsmuster enthalten ist, dass sich eine moralpädagogische Zielvorstellung an Aspekten von Erziehung als adäquatem Anspruch bewähren können soll. Dabei wird Autonomie eine Sonderstellung als ›grundlegendem‹ ethischen Wert abgesprochen und sie wird mit einer Normativität konfrontiert, welche Autonomie als Wert in Funktion zu fassen sucht. Es wurde in der Arbeit mehrfach darauf hingewiesen, dass Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung als komplexes Ideal mit philosophischen und pädagogischen Bezügen artikuliert wird und dass Autonomie schlecht anhand eines einzigen Konzepts einheitlich bestimmt und begründet werden kann. Die Ausführungen dazu in dieser Arbeit sollen also als Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Komplexität der Legitimitätsfrage besser gerecht werden kann, wenn eine Offenheit für verschiedene, parallel existierende Konzepte gewahrt wird. 3 In jedem der Kapitel 4–6 sind auf diese Weise verschiedene Autonomiekonzepte besprochen worden ohne die Absicht, anhand einer normativen Wertung der jeweiligen Konzepte ein einziges Konzept als ›ideal‹ anzuführen. Vielmehr sind die verschiedenen Konzepte ›nebeneinander‹ belassen worden, wobei verschiedene Stärken und Schwächen innerhalb der Konzepte hervorgehoben worden sind. Am deutlichsten ist dies in Kapitel 6 zum Vorschein gekommen, wo trotz der Gegensätzlichkeit der beiden besprochenen Konzepte, nicht Eines als dem Anderen vorzuziehen bewertet wurde. Hier, wie generell in der Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte, ist ein facettenreiches, vielfältiges Verständnis von Autonomie darum vorzuziehen, weil es der Vielfalt erzieherischer Situationen und Ansprüche besser gerecht wird.

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Allen besprochenen Autonomiekonzepten gemeinsam ist aber der Bezug auf Aspekte, welche Autonomie als in Dependenz integriert betrachten. Als moralpädagogische Zielvorstellung wird Autonomie aufgrund des vorgeschlagenen und angewandten kohärenzorientierten Begründungsmusters als für ihre Bestimmung und Begründung an den als adäquat identifizierten Ansprüchen orientiert betrachtet. Dialektische Asymmetrie und riskante Richtung sind innerhalb dieser Kohärenzorientierung als für ein Verständnis von Autonomie innerhalb von Dependenz bedingend gedeutet worden. Die Situierung von Autonomie innerhalb von Dependenz ist anhand von Abhängigkeiten in Bezug auf Interaktion, Relationalität und Zeit illustriert worden. An dieser Stelle soll auf einen Aspekt nochmals zurückgekommen werden, welcher im Zusammenhang verschiedener besprochener Autonomiekonzepte aktualisiert, aber nur im Vorübergehen und andeutungsweise als problematisch dargestellt wurde. Es geht um die argumentative Berufung auf eine Unterscheidung zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ in Bezug auf Autonomie als anzustrebendes Ideal für das Individuum. Wenn Dependenz als Autonomie bedingend verstanden wird und außerdem Autonomie in einer integrativen Sichtweise als Kompetenz, Wert und Recht betrachtet wird, drängt sich, so meine These, eine weitgehende Überwindung der Unterscheidung zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ in Bezug auf das selbstbestimmte Individuum auf. 4 Autonomie als moralIn Kapitel 6 ist die Arbeit Levinssons besprochen worden. Sein Ansatz unterscheidet sich von der Betrachtungsweise dieser Arbeit dadurch, dass er Autonomie in erster Linie als Kapazität bestimmen will, ohne dabei normative Aspekte in die Bestimmung von Autonomie einzubeziehen. Er nennt sein Modell dabei eine »zwei-Dimensionen-Theorie« von Autonomie und macht geltend, Autonomie müsse aus einer zweidimensionalen Perspektive betrachtet werden. Eine solche berücksichtige sowohl ›innere‹ Aspekte (in seinem Fall metakognitive Fähigkeiten, konkretisiert als »prozedurale Reflexivität« und »Metarepräsentation«) wie auch relationale Aspekte von Autonomie. Levinsson fügt durch die Beachtung relationaler Aspekte (ähnlich wie Oshana) ein praktisches Kriterium zur Unterscheidung zwischen »autonom sein« und »Autonomie ausüben« ein. (Levinsson, 2008, 106–108, 34–35) Levinssons Theorie einer zweidimensionalen Autonomie stellt keine integrierende, sondern eher eine additive Sichtweise zur Bedeutung ›innerer‹ und ›äußerer‹ Aspekte dar. Beide ›Dimensionen‹ sind (weitgehend unabhängig voneinander) notwendig. Dies ist begründet in dem Umstand, dass er Autonomie zum Zweck einer klärenden philosophischen Definition behandeln will unter Ausschluss jener Aspekte, die Autonomie als normativen Wert bestimmen. Damit, d. h. mit der Identifikation metakognitiver Komponenten als für Autonomie als Kapazität grundlegend und bestimmend, macht er einen wichtigen Beitrag zu einer aktuellen Debatte innerhalb medizinischer Ethik. Aber auch dort wäre eine Diskussion um die

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Ausblick

pädagogische Zielvorstellung aktualisiert sowohl Aspekte faktischer Autonomieausübung wie auch Aspekte wertender Art. Wenn Autonomie als erstrebenswerte Kompetenz betrachtet wird, um die sich Erziehung zu bemühen hat, dann sind in dieser Zielvorstellung Aspekte konkreter Kapazitäten und Ideale enthalten. Diese praktischen Aspekte von den wertenden Aspekten zu trennen, erscheint in diesem Zusammenhang als schwierig und eine solche Trennung ist in der Arbeit nicht angestrebt worden. Mit einer integrativen Sichtweise bezüglich normativer und praktischer Aspekte von Autonomie ist eine weitgehende Integrierung von ›inneren‹ und ›äußeren‹ Bedingungen verbunden. Wenn Autonomie in ihrer faktischen Ausübung bestimmt werden soll, d. h. als Kapazität erfasst werden soll, wie Levinsson es tut, dann ist die Unterscheidung zwischen ›inneren‹ und ›äußeren‹ Aspekten in Bezug auf das autonom handelnde Subjekt zwar feststellbar. Eine strikte Unterscheidung in ›innere‹ und ›äußere‹ Aspekte führt aber zu einem mechanistischen und vereinfachenden Verständnis von Autonomie. Wenn das Selbst nicht als von seiner Kontextualität abgetrennt, sondern als in Intersubjektivität integriert betrachtet wird, entsteht ein komplexeres Bild. Aus einer normativen Perspektive, welche in dieser ethischen Studie aktualisiert wird und welche Autonomie als Ideal oder als Kompetenz betrachtet, erscheint die Unterscheidung in ›innere‹ und ›äußere‹ Aspekte unzulänglich. Es geht also hier nicht nur hinsichtlich deskriptiver Fragen der Bestimmung und normativer Fragen der Begründung von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung um eine integrative Sichtweise, sondern auch in Bezug auf so genannte ›innere‹ und ›äußere‹ Aspekte individueller Autonomie. Meyer-Drawe will anhand einer intersubjektiven Konzeptualisierung des Selbst weder das autonome Subjekt verabsolutiert sehen, noch es gänzlich sozialen Strukturen unterwerfen und sucht so nach einem Mittelweg für das Verständnis von Autonormativen Aspekte, die mit einer zwei-dimensionalen Theorie verbunden sind, angelegen. Insbesondere darum, weil die relationale Dimension von Autonomie dann zur Geltung kommt, wenn ethisch problematische Fälle stellvertretender Entscheidungen aktualisiert werden. In solchen Situationen wird Autonomie als Wert oft in Konflikt mit anderen Werten aktualisiert. Für die Zwecke hier gilt es hervorzuheben, dass eine integrative Sichtweise, wie sie in der vorliegenden Arbeit angestrebt worden ist und wie sie in der Frage nach der Bestimmung und Begründung von Autonomie enthalten ist, auch bezüglich ›innerer‹ und ›äußerer‹ Aspekte von Autonomie eine weitergehendere Integration verlangt.

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nomie. Sie beschreibt Autonomie ausgehend von einem intersubjektiven Selbst, welches entstehungsgeschichtlich, epistemologisch und moralisch die Kategorien ›Innen‹ und ›Außen‹ durchbricht. »Es geht um den Versuch, Sozialisation zu begreifen als einen Verwicklungsprozess von Akteur und sozialen Lebensformen, der krisenhaft verläuft als Organisationsvollzug von Erfahrung, als Formation von Subjektivität in Maskeraden des Ich und im Spiegelbild von Anderen.« 5

Subjektivität, respektive die Entwicklung des Subjekts, wird so vom Sozialisationsprozess nicht bedroht oder aufgehoben, sondern geschieht in diesem oder durch ihn. Das Subjekt ist in seiner Konstitution abhängig davon, wie es von anderen wahrgenommen und behandelt wird. Es zeichnet sich in der Erfahrung der Spiegelbilder ab. MeyerDrawe beschreibt Subjektivität als integrierten Mittelweg auch hinsichtlich einer moralischen Funktion, wenn es um persönliche Stellungnahmen geht: »Die Instanz der Subjektivität ist unverzichtbar für eine Theorie der Intersubjektivität und Identitätsbildung, weil sie eine verantwortliche Stellungnahme in konkreten Situationen ermöglicht dadurch, dass das Selbst, sogar in extrem fremdbestimmten Lagen, als antwortend und mitwirkend fungiert.« 6

Somit stellt Meyer-Drawe klar, dass ihr an einem Verständnis des Selbst gelegen ist, welches in aktiver und responsiver, d. h. in selbstund fremdbestimmter Funktion, zum Ausdruck kommt. Sie beschreibt Subjekte als darin konstituiert, dass sie, epistemologisch betrachtet, zugleich wahrnehmend und wahrgenommen sind. So sucht MeyerDrawe nach einem »Konzept antwortender Subjektivität« in welcher Autonomie zum Ausdruck kommt »als Resonanz auf eine Welt, die es (das Subjekt, meine Anmerkung) inspiriert, die es aber auch festlegt«. 7 Somit ist das Subjekt in seinen Abhängigkeiten nicht als selbständige Einheit in seiner Existenz bedroht oder aufgehoben, sondern ist in seiner Dependenz bestimmt, nicht aber fremdbestimmt, denn was als ›fremd‹ erlebt wird, ist seinerseits konstituierender Teil des Subjekts. Die Gegensätzlichkeit von Autonomie und Dependenz ist damit weitgehend aufgehoben und durch ein Verhältnis gegenseitiger VerschränMeyer-Drawe, 1990, 45. Sie entwickelt diese Modelle von Subjektivität im Rückgriff von u. a. Lacan, Bourdieu, Merleau-Ponty und Foucault. 6 Meyer-Drawe, 1990, 61–62 7 Meyer-Drawe, 1990, 24 5

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kung ersetzt. Oder zumindest lässt sich anhand einer solchen Gegensätzlichkeit die Autonomie des Subjekts nicht mehr bestimmen. »Dass wir uns wahrnehmend, handelnd, aber auch erkennend und redend unserer Welt und uns selbst zuwenden können, bedeutet, dass wir in unterschiedlicher Weise Verhältnisse gestalten. (…) Gleichzeitig sind wir sichtbar, Ziel von Handlungen oder verwickelt in diese, sind wir Gegenstand von Erkenntnis und Partner im Dialog. Die Doppelbödigkeit unserer Existenz, Subjekt und Objekt im Geflecht intentionaler Bezüge zugleich, wenn auch nicht jeweils in gleichem Maße zu sein, zieht uns in ein Geschehen, das wir nur unzulänglich verstehen, wenn wir uns als bloß schöpferische Subjekte aufführen, aber auch wenn wir uns als bloße Marionetten objektiver Strukturen betrachten.« 8

Eine solche intersubjektive Sichtweise verlangt nach einem Selbst, welches also Subjekt und Objekt zugleich ist. Die Kategorien ›innerer‹ und ›äußerer‹ Faktoren erweisen sich dann als problematisch, weil sie ein Bild getrennter Einheiten zu vereinfachend vorgeben und somit ein grundlegend gegensätzliches Verhältnis zwischen Autonomie und Dependenz implizieren. Wenn jedoch das Selbst intersubjektiv konstituiert ist und als sich im »Geflecht intentionaler Bezüge« abzeichnend verstanden wird, dann ergibt sich daraus eine Forderung, Autonomiekonzepte zu formulieren, die Autonomie in Dependenz zu verstehen suchen. Meyer-Drawe bezieht sich auf zwei Aspekte von Heteronomie als integriert in Autonomie: Einerseits nennt sie (sich auf Foucault beziehend) »Fremdbestimmungen außerhalb des Subjekts« und spricht damit »Herrschaftsgefüge(n)« als Ausdruck von »Konfigurationen gesellschaftlicher Existenz, innerhalb derer das Subjekt die Bestimmungen seiner selbst findet« an. Andererseits spricht sie von einem »Riss in der Subjektivität«, womit sie die epistemologische Schwierigkeit der Selbsterkenntnis anspricht. 9 Meyer-Drawe, 1990, 63–64. Ein ähnlicher Standpunkt findet sich bei MacMullen, der Autonomie als vereinbar mit religiöser oder kultureller Zugehörigkeit und Identität beschreibt: »(…) Unchosen and contingent features of an agent’s history and circumstances may, and indeed must, contribute, although often in complex and unpredictable ways, to her ethical identity, and that this does not disqualify her from being considered autonomous.« (MacMullen, 2007, 79) 9 Meyer-Drawe, 1990, 12. Meyer-Drawe will »einen Weg finden, eine Rationalität zu begreifen (…), die die Spuren subjektiver Aktivität wahrt, ohne in ihnen aufzugehen«. Dies hat eine erweiterte Rationalität und ein erweitertes Bewusstsein zur Folge, was einen Respekt vor dem Unzugänglichen oder dem Undurchsichtigen verlangt. »Jede Kritik an bewusstseinsphilosophischen Traditionen beansprucht zu zeigen, dass die Existenz des Menschen weiter reicht als sein Bewusstsein davon. Es gibt Dimensionen, die 8

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Oshanas Kritik gegenüber der Ernennung ›innerer psychischer‹ Faktoren als für Autonomie entscheidende Kriterien ist als berechtigt dargestellt worden. Die radikale Verschiebung auf ›äußere‹ relationale Faktoren als entscheidend für Autonomie, welche sie in ihrem Konzept relationaler Autonomie durchführt, reproduziert allerdings dieses vereinfachende Schema von ›Innen‹ und ›Außen‹, ohne deren Berührungsflächen als für Autonomie relevant zu berücksichtigen. Ein auf Intersubjektivität gründendes Verständnis von Autonomie und Authentizität müsste diese Berührungsfläche, respektive deren konstitutive Bedeutung für das (authentische) Selbst ernst nehmen. Unter den in dieser Arbeit besprochenen Autonomiekonzepten zeichnen sich insbesondere jene von Habermas, Seel und Meyers als Konzepte ab, die eine Berührungsfläche zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ schaffen und Autonomie in Bezug darauf verstehen. Bei Habermas’ gegenseitiger kommunikativer Gewährleistung bildet ›gelungene‹ Kommunikation die für Autonomie konstitutive Berührungsfläche zwischen ›inneren‹ rationalen Fähigkeiten und einem ›Außen‹ als konstituiert in den Bedingungen der idealen Sprechsituation. Somit ist bei Habermas der kommunikative Ausdruck konstitutiv für die Autonomie des Individuums, sodass ein sehr enges Abhängigkeitsverhältnis zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ entsteht. In Seels Konzeptualisierung von Selbstbestimmung als »sich bestimmen lassen« und »Sichabstimmen« entsteht eine für Autonomie konstitutive Berührungsfläche zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ am Umstand, dass der a-rationale Umgang mit Unbestimmbarem im Zusammenhang mit Selbstbestimmung als intersubjektiv bestimmtes »Sichabstimmen« verstanden wird. Die Berührungsfläche zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ entsteht im Unkontrollierbaren menschlicher Existenz. Durch den Bezug ›innerer‹ Unschlüssigkeit oder Inkonsistenz auf intersubjektive und relationale Bedingungen entsteht eine Fläche, an welcher sich Selbstbestimmung unabhängig von strikt abgetrennten Sphären von ›Innen‹ und ›Außen‹ abzeichnet. Meyers’ Definition authentischer intersektionaler Identität illustriert schließlich die Bedeutung solcher Berührungsflächen als bestimmt im Umstand, dass das Individuum Autonomie ausübt, indem es sich fragmentarische Elemente eines intersektionalen Kontextes als zusammengesetzte und identitätsgründende Authentizität zu eigen macht. Auch dem Bewusstsein als Fremdes einwohnen, die es bestimmen, ohne dass es sie vollständig erfassen könnte.« (Meyer-Drawe, 1990, 41, 94, 102)

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hier öffnen sich Berührungsflächen, welche ›Innen‹ und ›Außen‹ als unzulängliche Kategorien für Autonomie erscheinen lassen. Diese Konzepte illustrieren den Bedarf an weiteren Bestimmungen einer Berührungsfläche zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ und verdeutlichen auf je eigene Weise, dass in diesen Bezügen zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ wichtige Funktionen von Autonomie zu erkennen sind. In der Verlängerung wäre eine Begrifflichkeit gefragt, welche einen Fokus auf solche Berührungsflächen in konsequenterer Weise erlaubt.

7.2.2 Die doppelte Unzugänglichkeit von Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung In den Ansprüchen riskanter Richtung und dialektischer Asymmetrie begründet ist nicht nur der Umstand, dass Erziehung zu Autonomie insofern mit ›Kosten‹ verbunden ist, als sie sich einem Kontrollverzicht gegenüber der zu erziehenden Person verschreibt. Es steht mehr auf dem Spiel als das, was mit dem Risiko, dass Erziehung zu Autonomie zu gegenläufigen Präferenzen führen kann, angesprochen ist. Die Besprechung der Autonomiekonzepte hat gezeigt, dass Autonomie, wenn verstanden in Dependenz, nicht nur an formalistisch definierte Bedingungen, sondern in mehr oder weniger weitgehendem Ausmaß auch an substantielle Bedingungen geknüpft ist. Autonomie in Interaktion hat dabei Werte wie Respekt, Bereitwilligkeit zu Kooperation und kommunikative Gewährleistung als solche substantielle Bedingungen für Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellungen hervorgehoben. Autonomie in Relationalität hat Bedingungen wie wertende Relationalität, ein relationales Zugeständnis von Autonomie an Andere sowie eine an Authentizität orientierte Identität als wesentliche Aspekte von Autonomie als Zielvorstellung hervorgehoben. Autonomie in Zeit hat Langsamkeit als Streben nach einem kohärenten Selbst sowie einen punktuell gefärbten Umgang mit dem Unbestimmbaren als Aspekte von Autonomie beleuchtet. Auf verschiedene Weisen wurden diese Bestimmungen von Autonomie zum Anlass dazu genommen, Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung auch anhand substantieller Aspekte zu begründen. Demgemäß ist nicht die Problematik der ›Kosten‹ von Autonomie im Vordergrund der moralpädagogischen Legitimitätsfrage gestanden, 391 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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denn Autonomie als unbegrenzte Selbstbestimmung eines vollkommen losgelösten Individuums wurde bewusst ausgeblendet. Die Gründe, die gegen ein solches Ideal sprechen, sind sowohl anhand philosophischer, wie auch pädagogischer Argumente dargelegt worden. Ins Zentrum gerückt ist vielmehr eine Perspektive, welche Autonomie als funktionalen Wert betrachtet, der anhand der Ansprüche, die in Erziehungssituationen artikuliert werden, bestimmt und begründet wird. In einer solchen Perspektive erscheint Autonomie als moralpädagogische Zielvorstellung als von einer doppelten Unzugänglichkeit betroffen. Unzugänglich ist Autonomie einerseits, weil über sie pädagogisch als Zielvorstellung nicht verfügt werden kann und andererseits, weil Autonomie als philosophisches Ideal von einem Verzicht auf Kontrolle Anderer handelt. Im Zusammenhang mit dem Anspruch riskanter Richtung und dialektischer Asymmetrie ist darauf hingewiesen worden, dass Erziehung allgemein mit einer weitgehenden Unverfügbarkeit ihrer Wirkung verbunden ist. Hinsichtlich Autonomie, die als philosophisches Ideal ihrerseits von einem Verzicht auf Kontrolle Anderer handelt, entspricht die pädagogische Unverfügbarkeit dem philosophischem Ideal des Kontrollverzichts. Selbst wenn dies, wie oben anhand der verschiedenen besprochenen Autonomiekonzepte zusammenfassend rekonstruiert wurde, nicht als unbegrenzte individuelle Selbstbestimmung zu verstehen ist, enthält Autonomie als Wert immer eine grundlegende Vorstellung von Kontrollverzicht. Die Unverfügbarkeit von Erziehung und der Kontrollverzicht als statuiert im Ideal der Autonomie etablieren zusammen eine doppelte Unzugänglichkeit von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung. Dies soll in Kürze auf die Bedeutung für Autonomie als Wert in Funktion bezogen werden. Die doppelte Unzugänglichkeit von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung ist ein Indiz dafür, dass die Vorstellung kompensierender Gegensätzlichkeit, wie in Kapitel 2 anlässlich des modernen moralpädagogischen Legitimitätsparadigmas dargelegt, im Zusammenhang mit der Legitimitätsfrage hinfällig ist. Innerhalb eines kohärenzorientierten Begründungsmusters wird stattdessen eine Orientierung an Kohärenz hervorgehoben. Kohärenz zwischen pädagogischen Bedingungen und Ansprüchen (hier beschrieben als Unverfügbarkeit) und dem philosophischem Ideal (hier beschrieben als Kontrollverzicht) ist insofern interessant, als Begrenzungen dieser Unzugänglichkeit sich auf beiden Seiten als realistisch und begründbar erweisen. Die pädago392 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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gische Unverfügbarkeit ist offensichtlich, aber nicht hundertprozentig. Es ist anzunehmen, dass durch moralpädagogische Zielvorstellungen respektive durch pädagogische Bemühung in der Gestaltung verschiedener Erziehungssituationen faktischer Einfluss ausgeübt wird, wenn auch bedingt durch erhebliche Ungewissheiten. Das philosophische Ideal Autonomie als Kontrollverzicht ist seinerseits nicht als absolut zu konzipieren, da sich Autonomie als uneingeschränkte und losgelöste Willens- und Handlungsfreiheit des Individuums weder als realistisch noch ethisch erstrebenswert anbietet. In den moralpädagogisch adäquaten Ansprüchen riskanter Richtung und dialektischer Asymmetrie respektive ihren qualifizierenden Kriterien Risiko und Dialektik enthalten sind also Bedingungen moralpädagogischer Praxis, die philosophisch und ethisch durchaus ihre Entsprechungen haben in einer Vorstellung von Autonomie in Dependenz. Es sind dementsprechend in der doppelten Unzugänglichkeit von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung Bestimmungs- und Begründungspotentiale von Autonomie als Wert zu finden. Wenn ein Kohärenzkriterium in Entsprechung mit einem kohärenzorientierten Begründungsmuster als Ausdruck von Funktionalität akzeptiert wird, dann bedingt das Bestimmungs- und Begründungspotential, welches sich an der doppelten Unzugänglichkeit als Kohärenz von pädagogischer Unverfügbarkeit und philosophischem Kontrollverzicht abzeichnet, einen Zugang zu Autonomie als funktionalen Wert. Funktional ist dieser insofern, als er, anhand eines Kohärenzkriteriums bestimmt und begründet, sich als moralpädagogische Zielvorstellung und als philosophischer Begriff in partikularen Umständen von Erziehungssituationen respektive den darin adäquaten Ansprüchen bewähren kann.

7.2.3 Legitimität als Funktion Der Rückblick auf die Argumentation und die Schlussfolgerungen in den verschiedenen Kapiteln sowie die vertiefenden Kommentare zur Unzugänglichkeit von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung sind ein Hinweis auf die Komplexität, die an der Legitimitätsfrage von Erziehung mit Zielvorstellung Autonomie entsteht, wenn eine kohärenzorientiertes Begründungsmuster angewandt wird. Wie die Ausführungen der vorhergehenden Kapitel veranschaulichen sollen, geht es bei der Legitimitätsfrage im Zusammenhang mit Erziehung nicht 393 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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um die Frage, ob erzogen werden soll oder nicht. Die Legitimitätsfrage ist also nicht gedeutet worden als Frage nach einer generellen Existenzberechtigung moralpädagogischer Intention oder Bemühung respektive daraus erfolgender Handlung. Vielmehr ist die Legitimitätsfrage als Frage nach Begründung im Zusammenhang mit der Frage nach der Bestimmung moralpädagogischer Zielvorstellung behandelt worden, was einen Fokus auf die inhaltliche Bestimmung verschiedener Autonomiekonzepte bedingt hat. Begründung und Bestimmung sind so in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander behandelt worden. Somit ist die Legitimitätsfrage bezüglich der Zielvorstellung Autonomie anhand von Inhalt und Ausdruck der moralpädagogischen Intention behandelt worden. Es ist aber hier wichtig zu betonen, dass Kohärenz nicht in einem strikten Sinne als realistisch betrachtet werden soll. 10 Die Forderung der Kohärenzorientierung hinsichtlich Ansprüchen und Zielvorstellungen ist als orientierende Forderung, nicht als absolute Forderung zu verstehen. Es werden damit für die Normativität der Erziehung richtungweisende Angaben gemacht, die keiner strikt zu erfüllenden Forderung gleichkommen. Zu den im vorhergehenden Abschnitt dargestellten Aspekten einer doppelten Unzugänglichkeit (pädagogisch als Unverfügbarkeit und philosophisch als Kontrollverzicht beschrieben) hinzu kommt also eine Begrenzung hinsichtlich an moralpädagogische Zielvorstellungen zu stellende Anforderungen. Der Anspruch dieser Arbeit wird dadurch, wie bereits im ersten Kapitel erwähnt, beeinträchtigt. Sie versteht sich als – hoffentlich – konstruktiven Beitrag zu einer fortzusetzenden Diskussion. Für das kohärenzorientierte Begründungsmuster wird in dieser Arbeit mit Blick auf Autonomie als funktionalen Wert argumentiert. Insofern als Autonomie anhand der moralpädagogischen Legitimitätsfrage behandelt wird, geht es um eine Auseinandersetzung mit einem philosophischen Begriff anhand einer partikularen Problematik. Dieser Ansatz wurde im Einleitungskapitel unter anderem mit Hinweis auf Putnams Argumentation für eine Begründung ethischer Werte durch integrierte Prämissen rationaler Zugänglichkeit im Rahmen einer »deNykänen macht den wichtigen Hinweis, dass moralpädagogische Zielvorstellungen (wie sie sie im Rahmen ihrer Studie zum so genannten Wertegrund der schwedischen Grundschule diskutiert) aufgrund ihrer Praxisorientierung nicht denselben Forderungen logischer Konsistenz unterworfen werden können, wie philosophische Theorien. (Nykänen, 2008, 195–196)

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mocratization of inquiry« dargelegt. 11 Aus einer ethischen Perspektive versteht sich diese Arbeit deshalb auch als einen Beitrag zur Frage, wie ethische Werte begründet werden können unter der Bedingung eines bewussten Verzichts auf Letztbegründungsversuche. Insbesondere soll mit der vorliegenden Arbeit aufgrund ihres Ansatzes ein Beitrag zu einer Kritik an Grundwerten oder fundamentalen Werten innerhalb einer hierarchisch begründeten Ethik geleistet werden. Putnam betont anderenorts, Philosophie habe jene Gedanken und Probleme, die sich im Alltag aufdrängen, ernst zu nehmen. Er misst Reflexionen in Bezug auf alltägliche Fragen unabdingbare philosophische Bedeutung bei. 12 Putnam beschreibt seinen Ansatz in Bezug auf Ethik als »a conception of ethics as concerned with the solution of practical problems, guided by many mutually supporting but not fully reconcilable concerns«. 13 Herausfordernd in Putnams Feststellung ist nicht so sehr die Berücksichtigung partikularer Umstände an sich und auch nicht die Absicht, diese philosophisch inkludierend zu behandeln und sie als theoretisch artikulierbare Probleme zu würdigen, sondern vielmehr der Verzicht auf den Anspruch, diese trotz ersichtlicher Übereinstimmungen unter einer einheitlichen theoretischen Perspektive sammeln oder vereinen zu können. Berücksichtigung partikularer Problembereiche darf somit nicht zum Vorwand genommen werden, theoretisch desto weiter greifende Schlüsse präsentieren zu können und so eine ›Versöhnung‹ divergierender und konvergierender Phänomene anzustreben. Die Herausforderung in Putnams Feststellung besteht also primär darin, einerseits partikularen Verhältnissen theoretische Implikationen zuzutrauen, d. h. sie philosophisch umzusetzen, andererseits der Versuchung zu widerstehen, ausgehend von sich in partikularen Problematiken anbietenden, strukturellen oder argumentativen Übereinstimungen, diese ungenügend begründet in eine einheitliche Begrifflichkeit oder Theorie einzusortieren. In der Sichtweise, die für den Ansatz der vorliegenden Arbeit wegweisend ist, geht es im Anschluss an die bei Putnam identifizierte Herausforderung um einen Balanceakt zwischen Partikularität und Kohärenz, der sich anhand von Funktion als normatives Kriterium zu bewähren hat. Im Rahmen dieser Arbeit ist mehrfach auf strukturelle 11 12 13

Putnam, 2002, 110. Siehe Kapitel 1. Putnam, 2004, 16 Putnam, 2004, 32 (meine Kursivierung)

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Ähnlichkeiten als Kohärenz konstituierend hingewiesen worden. Diese strukturellen Ähnlichkeiten sind in einer konstruktiven Besprechung zur Bestimmung und Begründung von Autonomie als moralpädagogischer Zielvorstellung verwendet worden. Es wurden ausgehend davon Aspekte von Autonomie in Dependenz hervorgehoben, die sich als wertvoll anbieten, weil sie aufgrund dieser kohärenten Strukturen mögliche Konturen einer Autonomie als funktionalen Wert umreißen. Selbst wenn dabei auf normativ konstruktive Weise legitime Aspekte von Autonomie hervorgehoben wurden, wurde bewusst auf die Konstruktion einer einheitlichen Präsentation von Autonomie verzichtet. Dies nicht nur, um der Komplexität der moralpädagogischen Legitimitätsfrage gerecht zu werden, sondern auch aufgrund eines Vorzugs ethischer Mehrdeutigkeit vor versöhnender Einheit.

7.2.4 Autonomie in Plastizität und Pluralität Eine grundlegende Problematik, die mit dem Ansatz dieser Arbeit verbunden ist, besteht in der Frage, inwiefern ein Begriff um- oder neu definiert werden kann, ohne dass er in der Folge aufgegeben werden muss. Der Einwand, dass die Art und Weise, wie Autonomie hier als ethisches Ideal und als moralpädagogische Zielvorstellung behandelt wird, den Begriff zur Unkenntlichkeit umgestaltet, erscheint berechtigt. Wenn Autonomie als kompetenter Umgang mit Dependenz bestimmt und begründet wird, dann entspricht dies einer sehr weitgehenden Umgestaltung des Begriffes. 14 Wenn etwa in Anlehnung an Habermas’ Diskursethik Autonomie anhand gegenseitiger kommunikativer Gewährleistung bestimmt oder im Sinne Meyers’ als authentische intersektionale Identität bestimmt wird, ist damit eine weitgehenWenn von Umgestaltung die Rede ist, impliziert dies eigentlich die Annahme einer Art ›Originalbedeutung‹ des Begriffes Autonomie. Dies ist insofern problematisch, als der Gebrauch des Begriffes Autonomie, wie bereits im Einleitungskapitel erwähnt, nicht einheitlich ist und es kaum je gewesen ist. Es wurde aber ebenfalls festgehalten, dass ein Verständnis von Autonomie als Gegenüber zu Heteronomie oder Dependenz (im Fahrwasser von Kants Ethik) das Verständnis von Autonomie nachhaltig geprägt hat. Insofern als eine auf diese Weise bewusst allgemein gehaltene Andeutung eine Originalbedeutung von Autonomie einkreisen kann, sind also unter der Bezeichnung Umgestaltung des Autonomiebegriffes jene vielseitig ausgeformten, modifizierenden Ansätze zu Autonomie gemeint, welche sich in Abgrenzung von einem Verständnis von Autonomie als Gegenüber zu Heteronomie abzeichnen.

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de Umgestaltung des Begriffes der Autonomie verbunden. Angesichts des Ausmaßes dieser Umgestaltung, wie sie anhand mehrerer der besprochenen Autonomiekonzepte vorgenommen wurde, wäre die Wahl, Autonomie als Begriff fallen zu lassen, durchaus verständlich. Eine Argumentation gegen die normative Anwendung des Begriffes Autonomie wäre demgemäß ebenso möglich gewesen. Drei Gründe können aber für eine Beibehaltung des Begriffes Autonomie, wie es in dieser Arbeit gewählt worden ist, aufgeführt werden. Sie berühren Aspekte der Normativität und der Kontinuität des Begriffes der Autonomie sowie einen Aspekt im Zusammenhang mit der Aufgabe der Arbeit. Bezüglich der Aufgabe der Arbeit ist erstens daran zu erinnern, dass diese sich um die Legitimitätsproblematik von Erziehung, wie sie sich anhand der Zielvorstellung Autonomie darstellt, dreht. Wenn anhand dieser Aufgabe kritisch reflektiert wird, scheint ein Zugang zu Material, welches Autonomie auf verschiedene Weisen und mit Relevanz für die Aufgabe der Arbeit thematisiert erschwert, wenn die Aufgabe interpretiert wird als das Ziel umfassend, die kritisch bearbeitete Terminologie zugleich zu verwerfen. 15 An der Reichweite der Kritik, welche an einem Begriff ausgeübt wird, ändert mit anderen Worten der Umstand einer beibehaltenen oder ausgetauschten Terminologie wenig. In dieser Arbeit wurden in diesem Sinne unter Beibehaltung des Begriffes Autonomie mehrere Möglichkeiten zu einer weitgehenden Umgestaltung oder Neuinterpretation von Autonomie aufgezeichnet. Zweitens ist, wie bereits mehrfach tangiert, Autonomie in Bereichen mit philosophischer, ethischer und gesellschaftstheoretischer Relevanz als normativer Begriff von zentraler Bedeutung. Mit Autonomie verbunden sind bedeutende Ideale und wichtige Funktionen, die schwerlich anhand alternativer Begriffe darzustellen wären. Illus15 Ähnlich argumentiert Rieger-Ladich in seiner Arbeit zu Mündigkeit. Er stellt die Frage, ob der Begriff Mündigkeit zu stark mit subjektphilosophischen Annahmen verbunden sei, als dass er für eine Umgestaltung, welche diesem Abhängigkeitsverhältnis entrinnen könnte, tauge. Er macht den Hinweis, dass die kritische Reflexion gerade um der Radikalität der Kritik willen vom Gebrauch der kritisierten Begrifflichkeit profitieren kann. »Ist der radikale Bruch mit dem alteuropäischen Begriffsrahmen notwendig, weil die etablierten Lesarten von Mündigkeit eine neue und veränderte Rede von Zielperspektiven in den prekären und gefährdeten Kämpfen um Selbstbestimmung und Emanzipation unmöglich machen? (…) Dass sich dabei womöglich mehr Fragen ergeben als Antworten, dass zahlreiche Annahmen über Erziehung und Bildung frag-würdig werden und tradierte Ansichten ihre Überzeugungskraft einzubüßen beginnen, ist dabei nicht nur unvermeidlich – es ist durchaus zu begrüßen.« (Rieger-Ladich, 2002, 20–21)

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trierend ist etwa der Ansatz Taylors zu einer »Ethics of Authenticity«. 16 Taylors Versuch, den modernen Begriff der Autonomie mit jenem der Authentizität zu ersetzen, ist unter anderem darum schwierig, weil die mit dem Begriff Autonomie verbundene Problematik damit nicht unbedingt behoben ist. 17 Vielmehr scheint eine Problematik, wie sie mit dem Begriff der Autonomie verbunden ist, sich in der Verwendung des Begriffes Authentizität zu vererben. Eine solche Problematik ist die Frage nach dem normativen Formalismus als kennzeichnend für Autonomie. Wie Cuypers und Hajis Argumentation für eine »responsibility-relative authenticity« zeigt, 18 erweist sich der Begriff der Authentizität als behaftet mit derselben Problematik, die mit Autonomie verbunden ist, nämlich, dass die Begriffe als normative Werte substantieller Bestimmungen und Begründungen bedürfen, die an veränderliche Faktoren anknüpfen. Unter Beibehaltung des Begriffes Autonomie ist der Fokus in dieser Arbeit darum eher auf das Verhältnis von Autonomie zu Authentizität als angrenzendem Begriff gelegt worden. Die genauere Klärung der Funktion, welche Autonomie in Dependenz als moralpädagogische Zielvorstellung im Verhältnis zu angrenzenden Begriffen zukommt und zukommen soll, wäre in der Verlängerung als angelegene Forschungsaufgabe zu identifizieren. Drittens ist die ethische und moralpädagogische Reflexion zur Bestimmung und Begründung eines Begriffes wie jenes der Autonomie keine Aufgabe, die ein für allemal abschließend gelöst werden kann. Wenn diese Aufgabe aber als Aspekt einer kontinuierlichen Reflexion in den Bereichen der Ethik und der Pädagogik betrachtet wird, bedarf sie einer Kontinuität, die ein beibehaltener, aber plastischer Begriff der Autonomie besser gewährleistet, als es ein ›neuer Ersatzbegriff‹, der dieselbe Problematik – neu etikettiert – weitervererbt, tun könnte. Die normativen Aspekte des philosophischen Ideales Autonomie oder der moralpädagogischen Zielvorstellung Autonomie erscheinen trotz gewählter Beibehaltung des Begriffes Autonomie – aufgrund des kohärenzorientierten Begründungsmusters – in neuem Licht und stellen teilweise abweichende Anforderungen an die Bestimmung und Begründung des Begriffes Autonomie. Ein Aspekt, der in der Besprechung verschiedener Autonomiekonzepte mehrfach angesprochen 16 17 18

Taylor, 1991 Siehe Kapitel 5. Cuypers & Haji, 2007, 85

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wurde, ist beispielsweise die Gradierbarkeit von Autonomie. Es geht darum, einen normativen Begriff Autonomie ausgehend von und im Dialog mit den Bedürfnissen einer partikularen Problematik, wie sie die Legitimitätsfrage von Erziehung darstellt, immer wieder neu zu erarbeiten. Dies bedingt eine Begrenzung des Anspruchs, welchen ein Konzept von Autonomie machen kann. Die Begrenzung besteht in der Anerkennung der Bedeutung partikularer Voraussetzungen als relevant für ihre Bestimmung und Begründung. Die Berücksichtigung partikularer Voraussetzungen für die Bestimmung und Begründung von Autonomie als funktionalen Wert zeigt sich, wie die Ausführungen dieser Arbeit hoffentlich illustriert haben, nicht als relativistische Beliebigkeit, wohl aber als Forderung nach Plastizität und Pluralität.

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Vad innebär det att fostra till självständighet eller autonomi? 1 Vad menar vi med det, hur motiverar vi det och på vilka sätt ska autonomi som moralpedagogisk målsättning förstås? Avhandlingen tar sin utgångspunkt i vad som kallas det moderna moralpedagogiska legitimitetsparadigmet. Det omfattar tesen att fostran (som frihetsbegränsande handling gentemot personen som ska fostras) är legitim om den har som övergripande målsättning att leda till självständighet eller autonomi. Autonomi som målsättning har då en legitimerande funktion i relation till fostran. Relationen mellan fostran och autonomi kännetecknas inom det moderna legitimitetsparadigmet av den pedagogiska paradoxen. Denna består i ett pedagogiskt och ett normativt etiskt antagande. Pedagogiskt innebär den pedagogiska paradoxen ett antagande om att begränsning av frihet eller autonomi leder till autonomi. Normativt etiskt innebär den pedagogiska paradoxen ett antagande om autonomi som det som legitimerar fostran. Med andra ord rättfärdigar autonomi som fostrans målsättning den frihetsbegränsning som fostran innebär. I avhandlingen framställs sambandet mellan autonomi och fostran som mera komplext än vad den pedagogiska paradoxens antagande visar. Därmed blir det normativa antagandet problematiskt. Avhandlingens syfte är att diskutera autonomi som moralpedagogisk I äldre svenska har ofta orden fostran och fostra auktoritära konnotationer. På senare tid har begreppen fått en delvis vidare innebörd (exempelvis i svensk skoldebatt), men likväl leder det till språkliga problem att tala om fostran. Begreppet fostran används i avhandlingen på ett problematiserande sätt och skulle på svenska kanske behövt ersättas med ett begrepp som värdepedagogik eller liknande. (Se Thornberg, 2006; Fjellström, 2004; Colnerud & Thornberg, 2003.) I denna sammanfattning håller jag mig till begreppet fostran och fostra, som översätter det tyska Erziehung och erziehen. Den pedagogiska paradoxen (se nedan) framträder kanske extra tydligt i den svenska formuleringen ›fostran till självständighet‹.

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Sammanfattning p svenska (Zusammenfassung auf Schwedisch)

målsättning, i synnerhet den legitimerande funktion som vanligtvis tillskrivs autonomi i förhållande till fostran. Argumentationen i avhandlingen fokuserar på frågan hur legitimiteten i fostran kan motiveras. Detta föranleds i synnerhet av den omfattande filosofiska diskursen om autonomibegreppets innehållsliga definition och normativa motivering. Som modernt ideal har autonomi kritiserats från olika håll, främst för att på ett orealistiskt sätt vara inriktad på individen som distanserat och kritiskt reflekterande etiskt subjekt. I avhandlingen ställs frågorna, huruvida fostran kan legitimeras med hjälp av autonomi som målsättning och hur autonomi kan definieras och motiveras som moralpedagogisk målsättning. Min argumentation bygger på två centrala teser som kräver en kritisk diskussion av autonomins legitimerande funktion för fostran. För det första ska autonomi förstås, inte som motsats till heteronomi eller dependens utan inom dependens. 2 Autonomi blir då i vid mening ett kompetent sätt att förhålla sig till olika beroenden. För det andra kan fostran inte betraktas som en linjär och kausalt kontrollerbar process, utan bör beskrivas som en mängd situationer, som kännetecknas av en påtaglig ovisshet och ömsesidigt beroende mellan den fostrande personen och personen som ska fostras. Den pedagogiska paradoxen framstår till följd av avhandlingens argumentation som irrelevant för förståelsen av legitimitetsfrågan i samband med fostran och autonomi som moralpedagogisk målsättning. I kapitel 2 diskuterar jag argumentationsstrukturen inom det moderna moralpedagogiska legitimitetsparadigmet och visar att den pedagogiska paradoxen omfattar ett antagande om ett kompenserande motsatsförhållande (kompensierende Gegensätzlichkeit). Detta bygger på föreställningen att fostran som frihetsbegränsande handling står i kontrast till, men kompenseras av autonomi som fostrans målsättning. Med hjälp av två argument ifrågasätter jag föreställningen om ett motsatsförhållande mellan fostrans praktik och målsättning. För det första pekar jag på att autonomi, i likhet med andra moralpedagogiska målsättningar, kännetecknas av konturlöshet (Großflächigkeit). Att fostBegreppet heteronomi används i avhandlingen enbart i samband med Kants autonomibegrepp. Kant definierar heteronomi på ett snävt och trivialiserande sätt. Dessutom är hans heteronomibegrepp förknippat med en mycket negativ värdering. Om man ska kunna vidga betydelsen av heteronomi, problematisera den negativa värderingen samt fokusera på sambanden till autonomi, krävs ett annat begrepp. I avhandlingen används begreppet dependens.

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rans målsättning som autonomi saknar tydliga konturer beror på att de delvis utgör orealistiska och komplexa ideal. Dessutom kan inte fostran betraktas som en linjär och kontrollerbar process som kan beskrivas utifrån begrepp som medel och mål. 3 Fostran är snarare strävan efter konturlösa målsättningar utan att det klart kan avgöras om eller när en sådan målsättning är uppnådd. För det andra visar jag att relationen mellan den fostrande personen (den vuxne) och personen som skall fostras (barnet) kännetecknas av ömsesidiga beroenden. Föreställningen att den ›autonome vuxne‹ i den situation som fostran utgör möter det ›beroende barnet‹ innebär en orimlig trivialisering. Snarare präglas situationen av ömsesidig dependens och en intersubjektivt utformad relation. Den kan beskrivas med hjälp av Alanens begrepp generationing och Lees begrepp separability. Konturlösheten i fostrans målsättning och den komplexa relationen mellan barn och vuxna med hänseende till autonomi och dependens upphäver det motsatsförhållande som ligger till grund för den pedagogiska paradoxen och det moderna moralpedagogiska legitimitetsparadigmet. Istället för det kompenserande motsatsförhållandet föreslås ett koherensorienterat argumentationsmönster. Fostran respektive fostrans målsättning betraktas som legitima i den mån som koherens eftersträvas mellan fostran som praxis och fostrans målsättning. I fostran som praxis utrycks fostrans normativitet som anspråk. Ett koherensorienterat argumentationsmönster kräver att fostrans praxis och normativiteten i fostrans målsättning betraktas i relation till varandra. De anspråk som artikuleras i fostranssituationen ska vara samstämda med fostrans målsättning. Ett koherensorienterat argumentationsmönster realiseras i tre steg. För det första analyseras de normativa anspråken som görs i fostran och som uttrycker dess normativitet. I ett andra steg följer en kritisk diskussion av dessa anspråk i syfte att komma fram till adekvata anspråk. I ett tredje steg diskuteras de adekvata anspråken i förhållande till fostrans målsättning i form av olika autonomikoncept. De tre stegen behöver inte följa en viss ordning och ska inte i strikt bemärkelse skiljas åt från varandra, eftersom orienteringen vid koherens tillåter en argumentation i fler än en riktning. Steg ett och två genomförs i avhandlingens kapitel 3, medan det tredje steget behandlas i kapitel 4–6.

Detta föranleder också användningen av begreppet målsättning istället för begreppet mål.

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I kapitel 3 beskrivs fostran utifrån ett etiskt perspektiv med fokus på dess normativitet. Fostran diskuteras i form av de anspråk som görs av den fostrande personen i fostranssituationen gentemot personen som ska fostras. De två centrala anspråken som kännetecknar fostran är asymmetri och riktning. Anspråket på asymmetri handlar om en upplevd differens, där ett försprång hävdas av den fostrande personen gentemot personen som ska fostras. Asymmetri är uttryck för fostrans normativitet, eftersom differensen är associerad med en värdering. Det artikuleras i meningen: »Jag kan något du inte kan och som du borde kunna.« Riktning uttrycker ett anspråk i förhållande till en viss målsättning. Det uttrycks i en intention att förändra och utveckla och är normativt genom att förändringen påstås vara en förändring till det bättre. En diskussion av förhållandet mellan barn och vuxna i fostranssituationen leder till en argumentation för dialektisk asymmetri och riskfylld riktning som adekvata anspråk i en fostranssituation med målsättningen autonomi. Dialektisk asymmetri bygger som anspråk på en faktiskt upplevd differens, men i det anspråket finns samtidigt ett erkännande att det finns motstridiga differenser i fostranssituationen. Med avseende på autonomi är relationen mellan barn och vuxna kännetecknad av ömsesidiga beroenden. Riskfylld riktning innebär ett anspråk som har en tydlig intention att förändra, men som samtidigt räknar med den ostadighet som kännetecknar fostrans möjlighet att påverka i den avsedda riktningen. Mot bakgrund av de identifierade adekvata anspråken i fostran diskuteras i kapitel 4–6 olika autonomikoncept. Urvalet av autonomikoncept syftar till att belysa olika sätt att förstå autonomi inom dependens, dvs. som ett kompetent sätt att förhålla sig till olika former av beroenden. Diskussionen är ett konstruktivt normativt bidrag till en fortgående diskurs om autonomi som funktionellt värde. Som sådant ska autonomi inom ramen för avhandlingens frågeställning vara ›funktionell‹ som moralpedagogisk målsättning. Funktionalitetskriteriet utgörs med anledning av det koherensorienterade argumentationsmönstret av koherens eller strukturella likheter mellan autonomi som moralpedagogisk målsättning och adekvata anspråk i fostran. Legitimitetsfrågan tolkas med andra ord som orienterad mot strävan efter en koherent normativitet som kännetecknande för fostran. Med utgångspunkt i Kants autonomibegrepp behandlas i kapitel 4 autonomi i interaktion. Hos Kant lyfter jag särskilt fram begreppet påbjuden autonomi (gebotene Autonomie) för att peka på att autonomi 403 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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i Kants mening handlar om människans plikt (enbart) gentemot sig själv. Men denna plikt är betingad av respekt till människor. Det gör att autonomi åtminstone ansatsvis, hos Kant handlar om subjektets delaktighet i interaktion. Habermas och Rawls utvecklar båda denna aspekt i en kantiansk etik genom att betona autonomi inom ömsesidigt kommunikativt erkännande eller tillstående (gegenseitige kommunikative Gewährleistung) respektive beredskap till kooperation. Dessa normerande aspekter av interaktion lyfts fram som möjliga sätt att förstå autonomi inom dependens. Autonomi i interaktion diskuteras i samband med frågan om användningen av övervakningskameror och så kallade ›skolk-sms‹ i skolan. Båda metoder innebär en ganska genomgripande kontroll av barn och unga. Utifrån legitimitetsfrågan bedöms en omfattande användning av dessa metoder som problematiska i samband med en moralpedagogisk målsättning autonomi i interaktion. De anspråk som artikuleras i en fostranssituation med övervakningskameror eller ›skolk-sms‹ är mycket starkare än dialektisk asymmetri och riskfylld riktning. I kapitel 5 behandlas autonomi i relationalitet. Här diskuteras MacIntyres relationella förståelse av autonomi som ett synsätt som resulterar i autonomi inom en förpliktigande dependens. 4 Taylors synsätt tas upp och karakteriseras som autonomi inom en värderande dependens. Dessutom diskuteras olika relationella autonomibegrepp inom en feministisk diskurs. Dessa betraktar relationella villkor som avgörande för autonomi hos en person. Oshanas relationella autonomibegrepp betraktar autonomi som betingad av relationer som erkänner den autonoma personen som autonom. Meyers lyfter in autonomi i intersektional identitet som en avgörande aspekt i relationaliteten. Intersektionaliteten har enligt Meyers en ambivalent funktion eftersom den både försvårar och främjar autonomi. Dessa olika koncept, som förstår autonomi i relationalitet, diskuteras i anslutning till den pedagogiska praxisen att upprätta så kallade ›utvecklingskontrakt‹ i samband med individuella utvecklingssamtal i den svenska grundskolan. Jag argumenterar för att ett utvecklingskontrakt är dubbeltydigt: autonomi i relationalitet skapas genom erkännande relationer och hämmas

Varken MacIntyre eller Taylor använder begreppet autonomi i större omfattning, men båda tematiserar den ›autonoma‹ personen i förhållande till sin kontext. Därmed går det att urskilja uttryck för en förståelse av autonomi i deras texter.

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genom att asymmetrin samtidigt befästs i en påtvingad situation. Med avseende på den senare aspekten och pga. det ojämnställda förhållandet upprättas i ett sådant kontrakt bara en skenbar symmetrisk relation. Detta förstärker i själva verket anspråket på asymmetri och riktning. Samtidigt har utvecklingskontrakt en contrafaktisk funktion. Genom att upprätta en skenbar jämställdhet bildas det en relationalitet utifrån en överenskommelse mellan lärare, elev och förälder. Därför innebär utvecklingskontrakt som moralpedagogisk praxis trots de starka anspråken också möjligheter i förhållande till en målsättning beträffande relationell autonomi. Kapitel 6 tar upp autonomi i tid. Här belyser jag autonomi som integrerad i en tidsdimension som ett uttryck för autonomi inom dependens. Jag diskuterar två koncept som på olika sätt fokuserar på de ›inre‹ förutsättningarna för autonomi. Det aktualiserar autencitet som ett nära angränsande och delvis konstitutivt begrepp i förhållande till autonomi. Min presentation och diskussion av de två koncepten lyfter fram de aspekter som är relaterade till en tidsdimension. Ekstroms autonomikoncept innebär en förståelse av autonomi som uttryck för koherenta preferenser och leder till det jag kallar för långsam autonomi. Det är enligt Ekstrom bara de handlingar som ger uttryck för det ›sanna jaget‹ som är autonoma. Genom att nya preferenser och handlingar måste verifieras i förhållande till föregående bygger Ekstrom in ett villkor av tidsbunden kontinuitet – eller långsamhet – i sitt autonomikoncept. Seel som ser självbestämmande eller autonomi som ett uttryck för autencitet i form av det a-rationella och okontrollerbara (både intrasubjektivt och intersubjektivt) lyfter fram en förståelse av autonomi som punktuell. För honom är viljesvaghet och ostadighet en väsentlig del av självbestämmande. Det är det spontana beslutet, som inte kan bindas till villkor av kontinuitet, som blir centralt. Autonomi i tid belyses med hjälp av den diskussion om bärande av huvudduk i statlig skola (för lärare och elever) som har förts i Tyskland och andra västeuropeiska länder. Ett förbud mot huvudduk är pedagogiskt sett ett uttryck för anspråk som harmonierar dåligt med målsättningen autonomi. Både långsamheten och det punktuella som villkor för autonomi talar emot förbud av det slag som har diskuterats, både beträffande lärare och elever. Förändring över tid av det som upplevs som det ›egna‹ eller autentiska, vare sig den sker långsamt eller spontant, kräver kontinuerlig avstämning med den omgivande kontexten. Skolmiljön utgör en del av den mångkulturella kontext som idag kännetecknar våra sam405 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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hällen och borde som sådan inte hindra föränderliga uttryck av långsam eller punktuell autonomi. Avhandlingen summeras i kapitel 7. I en första del rekonstrueras och utvecklas arbetets slutsatser. Fostran med autonomi som målsättning framstår utifrån ett koherensorienterat argumentationsmönster som fostran i autonomi. Det innebär att målsättningen autonomi som pedagogisk strävan eller intention främst ska prägla de anspråk som artikuleras i fostranssituationen. Målsättningen är alltså uttryck för en normativitet som eftersträvas i den praktiska situationen och den aktuella relationen. Samtidigt är målsättningen autonomi också den utopiskt orienterade föreställningen om det som inte är eller inte kan vara. På det viset är fostran till autonomi också uttryck för den pedagogiska strävan eller intentionen. Därmed lyfts legitimitetsfrågan i samband med fostran ur den problematik som formuleras i den pedagogiska paradoxen. Det sker en förskjutning från den pedagogiska paradoxens spänningsförhållande mellan fostran som praxis och fostrans målsättning till ett spänningsförhållande mellan realitet och ideal. Som en följd därav mister den pedagogiska paradoxen sin relevans för legitimitetsfrågan i samband med fostran. Den pedagogiska paradoxens irrelevans föranleds av ett synsätt som betraktar autonomi inom dependens och realiseras i ett koherensorienterat argumentationsmönster. Fostrans normativitet kännetecknas därför av ett spänningsförhållande mellan tanken att vara orienterad vid den erfarna realiteten i fostranssituationen och den utopiskt orienterade målsättningen av det som inte är. Inom ett koherensorienterat argumentationsmönster upphävs inte detta spänningsförhållande, men det synliggörs och blir hanterbart i och med orienteringen vid en koherent normativitet. Det handlar om en harmonisering mellan adekvata anspråk och målsättning. Därmed modifieras och dämpas målsättningens utopiska orientering av den erfarna realiteten, medan den realistiska orienteringen utmanas av det utopiska idealet i fostrans målsättning. Som moralpedagogisk målsättning står autonomi (som kompetent sätt att förhålla sig till dependens) inte i ett motsatsförhållande till fostranssituationen. Den begränsning av frihet som kännetecknar fostranssituationen omgärdas av ömsesidiga beroenden hos den fostrande personen och personen som ska fostras. Men målsättningen autonomi inom dependens står inte i kontrast till fostranssituationens begränsade frihet och fostranssituationen blir därmed med avseende på autonomi inte tillfällig eller övergående. 406 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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I periferin till avhandlingens frågeställning avtecknar sig fyra problemställningar eller teman som behandlas avslutningsvis i kapitel 7. De ska förstås som ett sätt att placera avhandlingen i en fortgående normativ diskurs om autonomi som etiskt ideal och moralpedagogisk målsättning. För det första kräver autonomi inom dependens en begreppslighet som på ett mer långtgående sätt övervinner distinktionen mellan ›inre‹ och ›yttre‹ aspekter av dependens. Om autonomi ska förstås som ett förhållningssätt till olika beroenden framstår den autonoma personen som invävd i en komplex intersubjektivitet. Ett perspektiv där ›inre‹ och ›yttre‹ faktorer är åtskilda kan inte göra rättvisa åt den komplexiteten som ett integrerat synsätt mellan autonomi och dependens manar fram. Snarare är det i beröringen mellan det ›inre‹ och det ›yttre‹ som autonomi i dependens uppstår. För det andra kännetecknas den moralpedagogiska målsättningen autonomi av en dubbel otillgänglighet. Som etiskt ideal handlar autonomi på ett grundläggande sätt om att avstå kontroll över andra. Som moralpedagogisk målsättning är autonomi utom kontroll, eftersom fostran är oviss i sin effekt. Men otillgängligheten är inte fullständig. Utifrån ett etiskt perspektiv visar avhandlingen att det är rimligt att autonomi som ideal begränsas av exempelvis aspekter som respekt eller ömsesidigt erkännande. Pedagogiskt sett är fostran om än oviss, knappast helt utan effekt. Sammantaget måste en diskussion av autonomi som moralpedagogisk målsättning kännetecknas av en medvetenhet att autonomi inte kan fastslås med ett slutgiltigt normativt anspråk. Snarare krävs en öppenhet för att autonomi som etiskt ideal och moralpedagogisk målsättning behöver vara ett föränderligt koncept. Detta hänger ihop med det tredje temat som tar upp funktionalitetskriteriet på ett fördjupande sätt. Avhandlingens ansats präglas av att jag närmar mig autonomi som ett etiskt värde i funktion. I förlängningen blir legitimitetsfrågan i samband med fostran en fråga om värden i funktion. Det innebär ett avståndstagande från en hierarkisk metaetik där det bland etiska värden finns så kallade grundvärden. Med hänvisning till Putnam lyfter jag fram vikten av att autonomi konstrueras som ett funktionellt värde, där funktionalitetskriteriet i min argumentation utgörs av koherensorienteringen i det koherensorienterade argumentationsmönstret. Autonomi blir en legitim moralpedagogisk målsättning inte därför att den är ett grundläggande värde utan för att den visar sig vara koherent med normativiteten i ett visst sammanhang och på det viset kan sägas ›fungera‹ som ideal eller målsättning. Detta leder fram till det fjärde temat: 407 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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ett ställningstagande för en normativ etik som är förankrad i det partikulära. Det leder inte till relativism utan till ett krav på plasticitet och pluralitet i samband med utformningen av autonomi som moralpedagogisk målsättning.

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 16 f., 85, 90 f., 96, 106 Alanen, Leena 115 ff., 126, 140 f., 372, 402 Andresen, Sabine 123 Appiah, K. Anthony 197, 296, 310 f. Arendt, Hannah 132 f. Aristoteles 135, 246, 248, 250 ff., 263, 266 f. Arpaly, Nomy 330 ff. Backett-Milburn, Kathryn 146 Baynes, Kenneth 220 Beauchamp, Tom L. 50 Benhabib, Seyla 15, 25 ff. Benjamin, Jessica 238 Benner, Dietrich 55, 57, 59, 64, 66 f., 68, 75, 79 f., 160 f., 286 f., 316, 364 Bergling, Kurt 102 Beutler, Kurt 64 f., 156 Billmann-Mahecha, Elfriede 100 Binder, Ulrich 20, 207 f., 213, 215 Blake, Nigel 59 Blasi, Augusto 54, 100 Bohman, James 220 Bonnett, Michael 18, 283, 285 f., 308 f. Bordum, Anders 194 Bremberg, Helene 115, 142 ff. Brezinka, Wolfgang 63 Brüggen, Friedhelm 55 Buchwalter, Andrew 217 Burtt, Shelley 135 Callan, Eamonn 48 Carr, David 135 f., 252 Childress, James F. 50 Colnerud, Gunnel 400 Curren, Randall 251

Cuypers, Stefaan 18, 77 f., 283, 285 f., 308 f., 398 Dewey, John 30 f., 157, 163 Dews, Peter 220 Dunne, Joseph 251 f., 260 Dworkin, Gerald 317 ff., 321, 323, 325 Ekstrom, Laura Wadell 71, 212, 291, 296, 298, 311 ff., 317 ff., 339 f., 348, 350, 353 f., 356, 369, 377 f., 405 English, Andrea 30 Feinberg, Joel 22, 85 f. Fjellström, Roger 226, 400 Frankfurt, Harry 38, 277, 297 f., 317 ff., 322 f., 325, 327 ff., 332 f., 338, 348, 351 Frohock, Fred M 208, 216, 239 Fuhr, Thomas 59 Gärdenfors, Peter 275 Gilligan, Carol 102 Görman, Ulf 5, 340 Grimen, Harald 278 Habermas, Jürgen 70, 180 f., 206 f., 210, 215, 220 ff., 254, 262, 269, 301, 373, 375, 390, 396, 404 Haji, Ishtiyaque 77 f., 308 f., 398 Halldén, Gunilla 139, 141 f. Harden, Jeni 146 Horster, Detlef 100 Hutchby, Ian 115 f. James, Adrian L. 126, 133, 136, 152 f. James, Allison 114 f., 126, 133, 136, 152 f.

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Personenregister James, William 30 Johansson, Barbro 115, 142 ff. Johansson, Eva 103, 115, 131, 142 ff. Johler, Johannes 17, 135, Johnston, James Scott 189, 253 f. Juth, Niklas 23, 38 ff., 43 f., 46 ff., 50, 184, 308 f., 321 ff., 326 f., 329 f. Kampmann, Jan 115, 142 ff. Kant, Immanuel 12, 17, 21, 23, 28, 41 f., 50 f., 70, 79 f., 85, 180 ff., 221 ff., 227, 229, 253 f., 260, 269, 293, 301, 311, 337, 348, 352 f., 373 f., 396, 401, 403 f. Keller, Monika 14, 101 f. Kerr, Fergus 277 Kohlberg, Lawrence 13, 100 ff., 204, 228 f., 252, 262 Lapsley, Daniel K. 102, 335 Lee, Nick 82 ff., 102, 107 ff., 114 f., 372, 402 Levinsson, Henrik 24, 43, 46, 185, 288, 317 ff., 321, 323 ff., 330, 333, 335, 386 Liebau, Eckart 16, 61 , 94 f. Louden, Robert B. 195 f., 203 Luhmann, Niklas 127, 168 MacIntyre, Alasdair 70, 181 f., 187, 242, 244, 246 ff., 272, 274, 288, 306, 374, 404 Mackenzie, Catriona 41, 73, 243, 245 f., 293, 333 MacMullen, Ian 38 f., 41 f., 46 ff., 73, 77, 92, 182 ff., 242, 338, 389 Maxwell, Bruce 250 Mayall, Berry 12 ff., 126 Meehan, M Johanna 103 f., 229, 232 Meijboom, Franck L. B. 189, 191, 201 f. Meyer-Drawe, Käte 5, 16, 21, 29, 34 f., 39, 46, 52 f., 56, 62, 67, 81 f., 88, 104 ff., 116, 125, 137 f., 140, 169, 171 ff., 184, 195, 284, 315, 387 ff. Meyers, Diana Tietjens 70, 243, 246, 274, 287, 295 ff., 309, 311, 330, 375 f., 390, 396, 404 Mill, John Stuart 23,185, 210 Moller Okin, Susan 27 Montada, Leo 52, 101, 170, 335 Montandon, Cléopâtre 99, 148 f., 171 Moran-Ellis, Jo 115 f. Mulhall, Stephen 278 f., 283 Narvaez, Darcia 102, 335

Nipkow, Karl-Ernst 16, 194 Nordström, Karin 370 Nunner-Winkler, Gertrud 13 Nykänen, Pia 226, 394 Oelkers, Jürgen 5, 21, 59 ff., 74, 88, 122, 126, 130 f., 137, 142, 156 f., 159 f., 165 ff., 171, 366 Oerter, Rolf 52, 101, 170, 335 Ofstad, Harald 21, 75 Oksenburg Rorty, Amélie 122 Olssen, Mark (2006) 185 O’Neill, Onora 23, 48, 101, 185 f., 189 f., 205, 269 Oshana, Marina 39, 45, 48 f., 70, 73, 184, 243 ff., 290 ff., 300 ff., 304, 306, 311, 322, 329, 375, 386, 390, 404 Papastephanou, Marianna 54, 92 ff., 223 f., 231, 363, 382 Piaget, Jean 100 ff., 138, 140, 172 Prout, Alan 108 f., 114 ff., 133 f., 141 Punch, Samantha 145 ff., 151 Putnam, Hilary 30 ff., 394 f., 407 Rawls, John 70, 73, 180 f., 206 ff., 227, 237 ff., 373, 404 Rehg, William 220 Reichenbach, Roland 250 Rieger-Ladich, Markus 21, 52, 55, 93, 123, 126 f., 138 f., 162, 197 f., 203, 397 Sandin, Bengt 142 f. Schaare, Jochen 16 f., 186 Schneewind, Jerome B 180 f., 192 f. Seel, Martin 12, 41, 71, 197 f., 202 f., 284, 291, 296, 312 ff., 327, 330, 339 ff., 377 f., 390 Shaffer, H Rudolph 102 Sigurdson, Ola 242 Singer, Peter 68 Smeyers, Paul 59, 68, 102, 136 f., 200 Smith, Nicholas H. 271 f., 281 f. Smith, Richard 59 Sprod, Tim 226, 236 Stables, Andrew 197 Standish, Paul 59 Steutel, Jan 135 f., 252 Stoljar, Natalie 41, 73, 243, 245 f., 293, 333 Swift, Adam 278 f., 283 Tauber, Alfred I. 190 f. Taylor, Charles 14 f., 34, 70, 189, 191,

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Personenregister 242, 246, 267, 268 ff., 301, 306, 310, 375, 398, 404 Taylor, James Stacey 318, 321f Tenorth, Heinz-Elmar 63 Thornberg, Robert 400 Tscheetzsch, Werner 15 von Oettingen, Alexander 21, 76, 78 ff. Walzer, Michael 40, 76 Warnke, Georgia 234

Watson, Gary 320 ff. Wiberg, Merete 66, 162 ff. Winkler, Michael 16, 18 ff., 64 ff., 84, 124, 129 ff., 136, 140, 154, 159, 161, 167 f., 170, 172 Wringe, Colin 68, 102, 136 f. Zeiher, Helga 149 ff. Zirfas, Jörg 14 f., 35, 62, 126, 152, 166 f., 188, 193

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Sachregister

Adäquater Anspruch 49, 70 f., 120 ff., 128, 134 f., 138, 141, 149, 152, 154, 156 ff., 165, 169 f., 173 f., 176 ff., 205, 239, 252, 287, 304 f., 312, 337, 360, 363, 373, 379, 382, 385 f., 393 A-Rational 312, 354, 356 f., 377, 379, 390, -ität 121, 313, 353, 378 Asymmetrie 13, 57, 59 ff., 69 ff., 122 ff., 168, 176 f., 180, 199, 204 ff., 218 f., 236, 241 f., 252, 260, 267, 287 ff., 303, 305 f., 312, 336 f., 357, 360 f., 372 f., 375 ff., 384 ff., 391 ff. Authentizität 38, 42, 44, 46 f., 71, 77 f., 211 f., 243, 270, 285, 291, 296 ff., 306, 308 ff., 318 f., 322, 326 f., 329 ff., 334, 337, 340, 348, 376 f., 390 f., 398 Differenz 62, 127 ff., 131 f., 134, 137 f., 141 f., 144, 146 ff., 151 f., 154 f., 157, 167 f., 236, 289, 305, 337, 357, 375 f., 378, 382 Diskursethik 220 ff., 396 Dystopie 93 ff., 363, 382 Eltern 11 ff., 99, 101, 110, 113, 136 f., 141, 146, 148 ff., 179 f., 201, 205 f., 219, 236 f., 240 f., 246 f., 266, 289, 305, 365, 368 f. Erziehungswissenschaft 63 ff. Erziehende Person 51, 58, 67 ff., 116 f., 125, 131 f., 136, 145, 147, 149, 152 ff., 162, 165, 169 f., 173 f., 204 ff., 219, 252, 267, 288 f., 300, 305, 370, 372, 375 ff., 380, 382, 384 Gebotene Autonomie 188 ff., 199 ff., 204 ff., 254, 301, 373, 403

Generationing 87, 114, 117 ff., 140, 147, 205, 372, 402 Hierarchische Theorien 28, 212, 317 ff., 325, 333 Intersubjektiv 39, 42, 46, 67, 100, 103 f., 107, 116, 118, 125, 131, 139 f., 169 ff., 193, 205 ff., 214, 218, 222 ff., 340 ff., 356, 361 f., 368, 372, 374, 377 f., 387 ff., 402, 405, 407 –, -ität 99, 103, 105, 107, 110, 114, 116, 140, 169, 171 ff., 221, 226, 232 ff., 237, 341, 343, 347, 361, 387, 388, 390 Kindheit 21, 59, 83, 108 f., 111 ff., 114 ff., 132 f., 135, 139, 141 ff., 261 Kindheitsforschung 67, 108 f., 12, 114 f., 120, 141 Kategorischer Imperativ 181, 187 f., 193 f., 198, 204, 206, 213 f., 223, 230 f., 253, 260 Kohärenz 32, 51, 71, 119 f., 212, 218, 299, 313 f., 317, 327 ff., 337 ff., 350, 353 f., 356 f., 368, 373, 377 ff., 394 ff. Kohärenzorientiertes Begründungsmuster 24, 29, 32 f., 69 ff., 75, 88, 119 f., 139, 174 ff., 202, 205, 235, 239, 241 f., 287, 317, 362, 372 ff., 379, 381 ff., 392 ff., 398 Kopftuch 315 f., 364 ff. Langsame Autonomie 71, 121, 314, 316, 334 ff., 350, 364, 367 ff., 377 ff., 405 f. Legitimitätsparadigma 21 f., 51, 69, 75, 82, 84, 87, 98, 118 f., 372, 383, 392

423 https://doi.org/10.5771/9783495860366 © Verl

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Sachregister Metakognition 43, 317, 319, 323, 325 Moralpädagogik 16, 36, 63, 135, 254, Mündigkeit 21, 52, 55 f., 74, 85, 93, 123, 127, 138, 162, 166, 198, 397 Pädagogisches Paradox 22 f., 35, 69, 72, 76 ff., 85 f., 112, 156, 199 f., 281, 287, 369, 371, 383 f., 400 ff., 406 Präferenz 12, 38, 71, 183, 212, 215, 247, 297, 313, 320 ff., 328, 330 ff., 335, 337, 339, 348, 350 f., 354, 356, 367 f., 377 f., 391 Punktuelle Autonomie 314, 316, 341, 356 f., 360 ff., 364, 368, 370, 377 ff., 405 Reflexives Equilibrium 26, 209 f. Relational 13 f., 24, 39, 44 ff., 59, 62, 68 ff., 77 f., 99, 114 ff., 125 f., 140, 147 f., 190 ff., 208, 243 ff., 324 f., 334, 368, 374 ff., 384, 390 f. –, -ität 20, 70, 104, 140, 178, 231, 241 ff., 310, 329, 363, 371, 374 ff., 379, 386, 391 Richtung 13, 57, 59 ff., 70 f., 74, 122, 125, 140, 147, 149, 146 ff.

Schule 38, 49, 57, 77, 103, 108, 113, 143, 145, 178 ff., 200 f., 205 f., 219 f., 226, 236, 246, 266, 289, 301, 303, 315 f., 364 ff., 380, 394 Schwänz-SMS 179, 200 ff., 205 f., 219, 236 f., 380 Separability 107 ff., 114, 119, 372, 402 Separateness 102, 109 ff., 114 Structural theories 318, 324 ff., 351 Überwachug 178 ff., 205 f., 219 f., 323, 380 Überwachungskamera 179 f., 219, 380 Unstetig 156, 161, 166, 168, 170, 356, 379 –, -keit 158 f., 162, 165 f., 168 ff., 174, 313 f., 340 f., 348 ff., 356 ff., 360, 362, 368, 378 Utopie 19, 54, 92 ff., 363, 381 f. Zu erziehende Person 51, 67 ff., 69, 116 f., 125, 132, 139, 147, 149, 153 ff., 162, 165, 204 ff., 219, 252, 267, 288, 300, 305, 372, 375 ff., 380

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