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German Pages [217] Year 2011
Republikanismus und Kosmopolitismus
Campus Forschung Band 953
Philipp Hölzing, Dr. phil., promovierte an der Universität Frankfurt am Main.
Philipp Hölzing
Republikanismus und Kosmopolitismus Eine ideengeschichtliche Studie
Campus Verlag Frankfurt/New York
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Meinen Eltern
Inhalt
Einleitung.................................................................................................................9 Politische Ideengeschichte, Politisches Denken, Ideenpolitik......................25 I. Antiker Republikanismus..............................................................................37 I.1
Von Athen nach Rom: Unterwegs zur politischen Philosophie der Res Publica.............37
I.2
Die Apotheose der römischen Republik: Ciceros politische Philosophie.........................................................46
II. Res Publica Christiana ...................................................................................67 II.1
Der Untergang der römischen Republik und das Heraufziehen des christlichen Imperiums..............................67
II.2
Augustins eschatologische, kosmopolitische, »republikanische« Friedensordnung................................................70
II.3
Die Republik als Körper: Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua ..............................78
II.4
Die Notwendigkeit einer Universalmonarchie, oder: das römische Imperium als Reich des Friedens, der Freiheit und der Herrschaft des Gesetzes bei Dante..................................83
II.5
Die Res Publica Christiana als ideengeschichtliche Hintergrundkonstellation des klassischen Republikanismus......87
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REPUBLIKANISMUS UND KOSMOPOLITISMUS
III. Klassischer Republikanismus ......................................................................89 III.1 Für eine republikanische Kultur der Freiheit: Machiavellis klassischer Republikanismus............................................................89 III.2 Exit tyrannis, regium ultimus: John Milton, James Harrington und der englische Republikanismus............ 109 III.3 »Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.« Die niederländische Republik und Spinozas föderale Stadtstaatenrepublik ....................................................................... 128 IV. Moderner Republikanismus...................................................................... 145 IV.1 Zwei Gesichter des modernen Republikanismus? Rousseau und Madison.................................................................. 145 IV.2 Kants Theorie des republikanischen Friedens und die republikanische Tradition ............................................... 168 Epilog: Vom kosmopolitischen Republikanismus zum liberalen Nationalismus und wieder zurück?................................................................. 189
Literatur............................................................................................................... 199
Einleitung
Der Republikanismus hat sowohl in der politischen Philosophie als auch in der praktischen politischen Auseinandersetzung wieder Konjunktur.1 Was aber heißt »Republikanismus« heute? Wie so häufig in der Philosophie ist momentan alles andere als klar, was mit »Republikanismus« gemeint ist. Der Begriff »Republik« wird gegenwärtig in der Regel mit Freistaat übersetzt und der Monarchie gegenübergestellt. »Republik« bedeutet also zunächst einfach nur Nicht-Monarchie. Man kann daher von einer Entleerung des Begriffs sprechen.2 Die folgende Studie setzt bei dieser Feststellung der Entleerung des Republikbegriffs an und versucht, ihn mit Inhalt zu füllen. Sie unterscheidet zunächst drei aktuelle Spielformen der spezifischen inhaltlichen Füllung des Begriffs, um dann über den Weg einer ideengeschichtlichen Studie eine historisch tragfähige Begriffsbestimmung herauszuarbeiten und ideenpolitisch für die Gegenwart aufzubereiten. Aus der weiten Begriffsbestimmung als Nicht-Monarchie ergibt sich nämlich allenfalls in gröbsten Umrissen eine spezifische politische Theorie, die ein eigenes Label verdient. In dieser breiten Bedeutung des Begriffs gehören eigentlich alle gegenwärtig geläufigen politischen Theorien, vom Libertarianismus über den Liberalismus und den Kommunitarismus bis zum Marxismus, zur großen Familie der Republikanismen. Außen vor bleiben nur die Monarchisten, die zwar immer noch in Europa – etwa in Großbritannien, den Niederlanden oder Spanien – nicht unbedingt eine Minderheit im öffentlichen Diskurs und im politischen Alltag bilden; in der aktuellen politischen Philosophie spielt der Monarchismus aber so gut wie überhaupt keine Rolle mehr. Für die politische Philosophie und die hier durchgeführte Untersuchung stellt sich vielmehr die Frage: Gibt es eine
—————— 1 Vgl. Laborde, Cecile/Maynor, John (Hg.) 2008: Republicanism and Political Theory, Oxford und White, Stuart 2007: »Is Republicanism the Left's ›Big Idea‹?«, in: Renewal 15. 2 Vgl. Mager, Wolfgang 1984: »Republik«, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.) 1984: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart.
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spezifisch republikanische Tradition und Theorie, die sich von den anderen erwähnten politischen Traditionen und Theorien unterscheidet? Einen entscheidenden Anstoß erhielt die Debatte über den Republikanismus durch die Studien zweier politischer Ideengeschichtler: John Pocock und Quentin Skinner.3 Beide haben in ihren Untersuchungen versucht zu zeigen, dass es in der transatlantischen, politischen Ideengeschichte ein spezifisch republikanisches Paradigma gibt, das nicht unwesentlich an den großen politisch-sozialen Revolutionen in England im 17. und Nordamerika im 18. Jahrhundert beteiligt war.4 Pocock und Skinner unterscheiden sich jedoch in einem wichtigen Punkt: Während Pocock eine athenisch-aristotelische Tradition ausmacht, sieht Skinner eine römische Tradition am Werk. Im Kern geht diese Meinungsverschiedenheit auf ein divergierendes Verständnis des republikanischen Freiheitsbegriffs zurück. Im Rahmen von Isaiah Berlins5 berühmter Unterscheidung favorisiert Pocock eher einen positiven Freiheitsbegriff, Skinner dagegen einen negativen. In Pococks Fall bedeutet dies, dass die republikanische Tradition für ihn darin besteht, bürgerliche Tugend, Partizipation und Gemeinwohlorientierung als intrinsisches Gut, als substanziellen Teil eines guten Lebens aufzufassen. Im Anschluss an Hans Barons Studien zur italienischen Renaissance und Hannah Arendts politische Philosophie spricht man hier dann auch von einem civic humanism beziehungsweise Bürgerhumanismus.6 Daniel Höchli hat dies zuletzt in seiner aufschlussreichen Studie zum Florentiner Republikanismus einen bürgerorientierten Republikanismus genannt und mit einem institutionenorientierten Republikanismus kontrastiert.7
—————— 3 Vgl. Pocock, John 1975: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton und ders. 1967: »Der bürgerliche Humanismus und seine Rolle im anglo-amerikanischen Denken«, in: ders. 1993: Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption, Frankfurt/M. Von Skinner sind etwa zu nennen Skinner, Quentin 1978: The Foundations of Modern Political Thought, 2 Bde., Cambridge und ders. 1998: Liberty before Liberalism, Cambridge. 4 Die Französische Revolution und Rousseau werden bei beiden eher vernachlässigt. Vgl. zur Rekonstruktion einer französischen republikanischen Tradition Audier, Serge 2005: Machiavel, conflit et liberté, Paris. 5 Berlin, Isaiah 1969: »Zwei Freiheitsbegriffe«, in: ders. 2006: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/M. 6 Vgl. Baron, Hans 1966: The Crisis of the early Italian Renaissance, 2 Bde., Princeton und Arendt, Hannah 1967: Vita Activa oder vom tätigen Leben, München. 7 Höchli, Daniel 2005: Der Florentiner Republikanismus. Verfassungswirklichkeit und Verfassungsdenken zur Zeit der Renaissance, Bern.
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Skinner betont dagegen, dass bürgerliche Tugend, Partizipation und Gemeinwohlorientierung nur Mittel zum Zweck der Sicherung der negativen Freiheit der Bürger in der republikanischen Tradition waren. Den Republikanern in der römischen Tradition ging es in erster Linie um die Erhaltung der freien Republik und das heißt für Skinner, um die Mittel zur Erhaltung der negativen Freiheit der Bürger im Inneren und der Freiheit der Republik nach außen.8 Skinners Republikanismus wurde daher auch einleuchtend ein »instrumental republicanism« genannt.9 Im Gegensatz zu Pocock haben Tugend, Partizipation und Gemeinwohl bei Skinner somit keinen intrinsischen Wert. Darüber hinaus betont Skinner stärker als Pocock die Ideen der Herrschaft des Gesetzes und der Macht- und Gewaltenteilung in der republikanischen Tradition, was ihn in die Nähe dessen rückt, was Höchli institutionenorientierten Republikanismus nennt. Es liegt nahe, in diesen zwei ideengeschichtlichen Erzählungen eine eher kommunitaristische, bürgerorientierte und eine eher liberale, institutionenorientierte Spielform des Republikanismus zu sehen. In der Tat haben in den letzten Jahren sowohl Kommunitaristen wie Michael Sandel und Charles Taylor als auch Liberale wie Richard Dagger den Republikanismus für sich in Anspruch genommen.10 Im Falle von Taylor und Dagger zeigen sich einige Parallelen. So schreibt Taylor, die »einzige solide Basis« eines Gemeinwesens »besteht darin, dass es von seinen Mitgliedern als eine Einrichtung wahrgenommen und verteidigt wird, die allen gleichermaßen Bürgerwürde garantiert«.11 Als Bedingungen hierfür nennt er Patriotismus im Sinne von Loyalität gegenüber den Institutionen, Partizipation an einem als gemeinsam empfundenen Vorhaben und gegenseitigen Respekt als Voraussetzung zur Verhinderung von Diskriminierung. Dagger meint, dem nahe kommend, sein »republican liberalism« würde ein Ideal anbieten »of a political order as a cooperative practice that engages the affections and educes the abilities of autonomous individuals. […] Republican liberalism shows […] that a concern for individual rights, properly under-
—————— 8 Vgl. Skinner 1998. 9 Vgl. Patten, Alan 1996: »The Republican Critique of Liberalism«, in: British Journal of Political Science 26. 10 Vgl. Sandel, Michael 1995: Liberalismus oder Republikanismus. Von der Notwendigkeit der Bürgertugend, Wien, Taylor, Charles 2002: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, Frankfurt/M. und Dagger, Richard 1997: Civic Virtues. Rights, Citizenship, and Republican Liberalism, Oxford. 11 Taylor 2002, S. 21.
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stood, is indeed compatible with community, duty and virtue«.12 Beide scheinen sich einig darin, dass sowohl die Bürger als auch die institutionelle Ordnung nicht absolut neutral sein können, dass die Bürger affektiv an einem Gemeinwesen partizipieren sollten, dessen Ziel deren Würde und Freiheit ist. Die Neutralitätsthese ist jedoch Liberalen von Kommunitaristen immer wieder vorgehalten worden. Liberale hängen aus Sicht der Kommunitaristen einer einseitigen Fokussierung auf negative Freiheitsrechte an, die letztlich zur inneren Zersetzung des Gemeinwesens führen würde. Insofern wäre damit innerhalb einer spezifischen, aristotelisch-kommunitaristischen Deutung des Republikbegriffs vielleicht ein Ausschlusskriterium genannt, um einige Liberale aus der Familie der Republikaner zu verweisen. Allerdings sollte man hier zwei Modelle der Neutralität unterscheiden: Ein weites Modell der Neutralität würde so aussehen, dass wir uns die staatlichen Institutionen als leere Hüllen vorstellen, die mit jeder Art von normativem Inhalt zu füllen wären und dies den Bürgern völlig gleichgültig wäre. Ein solches Modell der Neutralität kann ernstlich keinem Liberalen unterstellt werden, schon gar nicht dem heute prominentesten Vertreter des Liberalismus, Rawls. Im Gegenteil sind für Rawls nur solche Institutionen legitim, die sich nach Maßgabe der Theorie der Gerechtigkeit als gerecht erweisen, und hierüber sollte ein Konsens bei den Bürgern vorherrschen.13 Ein enges Modell der Neutralität würde hingegen den Staat als neutral betrachten, insofern er keine durch gemeinsame Abstammung oder Kultur ausgezeichnete Gruppe bevorzugt, sei sie auch in der Mehrheit. Liberale haben aber in diesem Fall gute Gründe, für eine enge Neutralität zu votieren und nur die weite Version zurückzuweisen. Es ist nämlich mehr als fraglich, ob ein moderner Republikanismus auf eine solche, von den Kommunitaristen propagierte, starke Gemeinschaftlichkeit zurückgreifen sollte, die recht schnell in Diskriminierung von Minderheiten umschlagen könnte. In der aktuellen Debatte um den Republikanismus lassen sich somit zwei Spielformen, eine aristotelische, bürgerorientierte, kommunitaristische und eine römische, institutionenorientierte, liberale ausmachen, die sich im Kern im Hinblick auf den Vorrang eines spezifischen Freiheitsbegriffs
—————— 12 Dagger 1997, S. 201. 13 Vgl. dazu etwa die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze in Rawls, John 1979: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. und das Konzept des »übergreifenden Konsenses« in ders. 1998: Politischer Liberalismus, Frankfurt/M.
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(negativ oder positiv) und im Hinblick auf die Neutralitätsthese (weit oder eng) unterscheiden. Neben diesen zwei Spielformen des Republikanismus lässt sich aber möglicherweise noch eine dritte ausmachen: Philip Pettit hat mit seinem republikanischen Ideal der Non-Domination in der Community der politischen Philosophen für Aufsehen gesorgt.14 Pettits Version des Freiheitsbegriffs sperrt sich gegen die eindeutige Einordnung auf der positiven oder negativen Seite. Nach Pettit besteht die republikanische Freiheit in einer horizontalen und einer vertikalen Dimension. Horizontal verliert ein Mensch seinen Bürgerstatus als Freier und Gleicher, wenn er der willkürlichen Einmischung seiner Mitbürger auf seine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit unterworfen ist (dominium). Vertikal verliert er seinen Bürgerstatus, wenn er der willkürlichen Einmischung staatlicher Institutionen auf seine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit unterworfen ist (imperium). Für Pettit bedeutet diese horizontale und vertikale Beherrschung nicht nur, dass ein Mensch dadurch vom Bürger zum bloßen Untertanen wird; in drastischer Vergegenwärtigung einer antiken Vorstellung bedeutet dies den Wechsel vom Bürger zum Sklaven. Der Sklave zeichnet sich genau dadurch aus, dass er der Willkür seines Herrn ohne die mindeste Vetooption ausgeliefert ist. Er ist ein Gegenstand, wie andere zum Haushalt gehörende Sachen. Selbst wenn es sich um einen wohlgesinnten Herren handelt, der gar nicht in die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit seines Sklaven eingreift, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass er es jederzeit könnte. Für Beherrschung braucht es also keine Einmischung und Nicht-Einmischung im Sinne negativer Freiheit bürgt noch nicht für Nicht-Beherrschung, das heißt republikanische Freiheit. Nun könnte man aber einwenden, Pettit liege doch letztlich mit seiner Non-Domination ganz auf der Linie liberaler, negativer Freiheitsrechte, die in der Regel als vertraglich ausgehandelte und eben garantierte Rechte auf Nicht-Einmischung von Seiten der Mitbürger und des Staates verstanden werden. Der Herr könnte unter liberalen Vorzeichen gar nicht willkürlich eingreifen, ohne die garantierten Rechte seines Sklaven zu verletzen. Das mag tatsächlich zunächst so erscheinen. Pettits republikanische Nicht-Beherrschung hat aber eine etwas anders gelagerte Pointe, die häufig übersehen wird. Im Gegensatz zur statischen, liberalen Konzeption der negativen Freiheit, die in der »original position«15 konstituiert wird und in der Folge die Institutionen programmiert, dynamisiert Pettit
—————— 14 Pettit, Philip 1997: Republicanism. A Theory of Freedom and Government, Oxford. 15 Vgl. Rawls 1979.
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den Freiheitsbegriff.16 Während es für Pettit, wie gesehen, Beherrschung ohne Einmischung geben kann, so kann es für ihn umgekehrt nun Einmischung ohne Beherrschung geben. Insbesondere die Einmischung von Gesetzen in die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit eines Bürgers erscheint Pettit als durchaus zulässig und als kein Freiheitsverlust, wenn dieser dem zugestimmt oder kein Veto eingelegt hat. Ja, über gesetzliche Regelungen kann sogar die Freiheit der Bürger gesteigert werden. Hierin unterscheidet sich Pettit von Skinners »instrumental republicanism« mit seinem Vorrang der negativen Freiheit als Nicht-Einmischung.17 Negative und positive Freiheit stehen daher im Modell der Non-Domination für zwei Seiten ein und derselben Medaille, der bürgerlichen Freiheit in der Republik. Entscheidend sind daher für Pettit sowohl demokratische und juristische kontestatorische Möglichkeiten der Bürger, gegen von ihnen erlittene Beherrschung anzugehen, als auch die balancierte, nicht durch Korruption und Vermachtung lädierte institutionelle Ordnung, die auf der Herrschaft des Gesetzes beruht. Neutral sind der republikanische Bürger und die republikanische Ordnung also im weiten Sinne bei Pettit ebenfalls nicht, sie bilden aber auch keine kommunitaristische Gemeinschaft. Die möglichst umfassende Herstellung und Bewahrung der Freiheit aller Bürger im Sinne von Non-Domination ist das Ziel der Republik und ihrer Bürger. Allein hierin besteht das gemeinsame Gut und nicht in der konservativen Bewahrung einer kulturellen Identität. Pettits Non-Domination weist Familienähnlichkeiten mit Habermas’ Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie auf. Habermas hat mit dieser Gleichursprünglichkeit die immer wieder ansetzende, dynamische Ausgestaltung der negativen Freiheitsrechte durch die positiven politischen Freiheitsrechte zu fassen versucht.18 Ein Gedanke, der Pettits dynamischem republikanischen Ideal der Non-Domination sehr nahe steht. In einem einflussreichen Aufsatz hat Habermas jedoch den Republikanismus mit dem Kommunitarismus gleichgesetzt und ihn mit dem Liberalismus kontrastiert, während er seine Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates als Mittelweg zwischen der Scylla des Liberalismus und der
—————— 16 Vgl. Pettit 1997, S. 146ff. 17 Vgl. dazu Pettit, Philip 2002: »Keeping Republican Freedom Simple. On a Difference with Quentin Skinner«, in: Political Theory 30. 18 Vgl. Habermas, Jürgen 1992: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M.
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Charybdis des Republikanismus versteht.19 An anderer Stelle deutet er aber die Möglichkeit eines »kantianischen Republikanismus« an.20 Dahrendorf hat ihn daher auch, in meinen Augen treffend, als »Diskursrepublikaner« charakterisiert.21 Peter Niesen hat diesen Vorschlag von Habermas in einem Aufsatz aufgegriffen und versucht, bei Kant einen »Volk-von-Teufeln-Republikanismus« in Umrissen zu skizzieren, der sich mit Habermas' und Pettits prozeduralistischer Version des Republikanismus in der Verschränkung von positiver und negativer Freiheit trifft.22 Eine dritte Spielform neben liberalem und kommunitaristischem Republikanismus könnte daher ein kantianischer Republikanismus sein. Diesen könnte man, da er zwischen der liberalen und der kommunitaristischen Form in der Verschränkung negativer und positiver Freiheit vermittelt, auch etwas gekünstelt »republikanischen Republikanismus« nennen. Der kantianische Republikanismus wird allerdings in der aktuellen Debatte über republikanische Theorieentwürfe eher vernachlässigt und ideengeschichtlich nicht zur Ahnentafel des Republikanismus gezählt.23 Auch Pettit sieht diesen Zusammenhang nicht. Kants Rechts- und Staatsphilosophie hat überhaupt lange Zeit keine große Beachtung gefunden.24 Dies hat sich erst in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten langsam gewandelt.25 Eine systema-
—————— 19 Habermas, Jürgen 1996: »Drei normative Modelle der Demokratie«, in: ders. 1996: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 20 Habermas, Jürgen 1996: »Vernünftig vs. Wahr oder die Moral der Weltbilder«, in: ders. 1996. 21 Dahrendorf, Ralf 1996: »Der Diskursrepublikaner. Jürgen Habermas über die ›Einbeziehung des Anderen‹«, in: Frankfurter Rundschau vom 2. Oktober 1996, Literaturbeilage. 22 Niesen, Peter 2001: »Volk-von-Teufeln-Republikanismus. Zur Frage nach den moralischen Ressourcen der liberalen Demokratie«, in: Wingert, Lutz/Günther, Klaus (Hg.) 2001: Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 23 Vgl. zum Beispiel den Überblick bei Honohan, Iseult 2002: Civic Republicanism, New York. 24 Hannah Arendt kann zum Beispiel noch behaupten, es gebe bei Kant eigentlich keine politische Philosophie: Arendt, Hannah 1985: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München, S. 17. 25 Vgl. etwa Riley, Patrick 1982: Kant's Political Philosophy, Lanham, Williams, Howard L. 1983: Kant's Political Philosophy, Basingstoke, Kersting, Wolfgang 1984: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Stuttgart, Langer, Claudia 1986: Reformen nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants, Stuttgart, Maus, Ingeborg 1992: Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt/M., Gerhardt, Volker 1999: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt, LutzBachman, Matthias/Bohmann, James (Hg.) 1996: Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt/M., dies. (Hg.) 2002: Weltstaat oder Staaten-
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tische Untersuchung, die den Begriff der »Republik« bei Kant in den Mittelpunkt seiner politischen Philosophie rückt, liegt aber bisher nicht vor. Das ist überraschend, denn die Republik spielt sowohl in Kants Rechts- und Staatsphilosophie als auch in seiner politischen Philosophie internationaler Beziehungen eine überaus wichtige Rolle. Kants politische Philosophie erscheint aus dieser Perspektive nicht nur als eine immer noch überzeugende Spielform des Republikanismus, sondern als eine Theorie des republikanischen Friedens, die auf die Konstitution einer Weltrepublik zuläuft. Sie stellt mit dieser Transformation des Republikanismus in einen kosmopolitischen Republikanismus eine historische Vollendungsform der republikanischen Tradition dar. Dies ist zumindest meine zentrale These. Diese These, dass Kants kosmopolitischer Republikanismus eine historische Vollendungsform der republikanischen Tradition darstellt, impliziert zugleich eine Historisierung des kantianischen Republikanismus und damit der kantianischen Transzendentalphilosophie. Dieser Schritt ist zum einen nötig, weil die aktuelle theoretische Auseinandersetzung um den Republikanismus ihre Argumente aus ideengeschichtlichen Analysen schöpft. Will man daher eine dritte Spielform des Republikanismus in diese Debatte einführen, so muss man diese auch historisch begründen. Eine bestimmte Entwicklungsstufe einer Idee – der Idee der Republik – als historische Vollendungsform zu begreifen, ist darüber hinaus aber nicht nur eine Historisierung, sondern eine geschichtsphilosophische These. Mit ihr kommt zweifellos ein idealistischer Zug in diese Studie hinein. Man könnte die folgende Studie zur republikanischen Ideengeschichte auch eine Phänomenologie des Republikanismus nennen, die untersucht, wie sich verschiedene Gestalten des republikanischen Bewusstseins in der abendländischen Geschichte auseinander heraus entwickelt haben. Dies scheint mir aus heutiger Perspektive eine notwendige Korrektur der kantianischen Transzendentalphilosophie und des kantianischen Republikanismus zu sein, da Kant selbst, wie bereits Friedrich Schlegel bemerkte, diese Selbstreflexion auf die historische Genese seiner Vernunftprinzipien nur angedeutet hat. Für Schlegel sind »die Gesetze der politischen Geschichte und die Prinzipien der politischen Bildung […] die einzigen Data aus denen sich erweisen läßt,
—————— welt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik, Frankfurt/M. und Höffe, Otfried 2001: Königliche Völker. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt/M.
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daß der ewige Friede keine leere Idee sei«.26 Das kantianische Faktum der Vernunft, von dem letztlich auch der kantianische Republikanismus abhängt, kann unter heutigen nachmetaphysischen Bedingungen nicht mehr als ewiges, a priori gegebenes Faktum plausibilisiert werden, sondern nur noch als historisches Faktum, als Ergebnis eines Lernprozesses, eben als Ergebnis der politischen Geschichte und der politischen Bildung. Ein solcher Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit über historische Lernprozesse ist in Hegels Geschichtsphilosophie anvisiert.27 Insofern in dieser Studie aber von einer »historischen« Vollendungsform und nicht von einer »absoluten« Vollendungsform die Rede ist, vermeidet diese Studie Hegels finalen objektiven Idealismus und seinen dialektischen Determinismus. Sie bleibt in diesem Sinne der kantianischen praktischen Philosophie und ihrem Aufruf zum praktischen Tätigwerden in einer unvollkommenen, nicht durchgängig vernünftigen Wirklichkeit verpflichtet. Die hier zugrundegelegte Geschichtsphilosophie könnte man auch als eine zwischen Kant und Hegel situierte bezeichnen. Während bei Kant im »natürlichen Antagonism« eine Geschichtsphilosophie angedeutet ist, in der Geschichte sich hinter dem Rücken der handelnden Individuen vollzieht, zeigt sich bei Hegel in seiner Berufung auf den »Weltgeist« und die »List der Vernunft« eine Geschichtsphilosophie, in der Geschichte gewissermaßen über den Köpfen der Individuen abläuft. Dagegen soll in dieser Studie eine politische Geschichtsphilosophie am konkreten Fall der Idee der Republik entwickelt werden, die Geschichte als einen Prozess begreift, der durch die handelnden Individuen, ihre Ideen und ihre Konflikte bestimmt ist. Sie versucht, in einem durch unsere gegenwärtige postnationale Konstellation motivierten Akt des Erinnerns an vergangene politische Ideen, Kämpfe und Möglichkeiten, eine Rekonstruktion der republikanischen Ideengeschichte zu liefern, aus deren Entwicklung heraus sich Kants kosmopolitischer Republikanismus als eine mögliche historische Vollendungsform dieser nicht abgeschlossenen Geschichte erweist. Diese historische Vollendungsform wird mit ihrer Begründung des Republikanismus aus der vernünftigen Freiheit des Menschen, der Autonomie, und seiner politischinstitutionellen Ausdehnung auf alle Menschen als grundlegend für den
—————— 26 Schlegel, Friedrich: »Versuch über den Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden«, in: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, Bd. 7, herausgegeben von Ernst Behler, München 1966, S. 23. 27 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, Frankfurt/M. 1986.
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modernen Republikanismus präsentiert. An den kantianischen kosmopolitischen Republikanismus können wir Modernen als moderne Möglichkeit immer noch in zeitgemäßer Weiterentwicklung und pragmatischer institutioneller Konkretion anschließen, so die vollständige Version der zentralen These. Mit dieser Studie soll erstens der bereits erwähnte blinde Fleck der Republikanismusforschung behoben werden, die den kantianischen kosmopolitischen Republikanismus zumeist übergeht.28 Ferner übergeht sie damit das spannungsreiche Verhältnis von Republikanismus und Kosmopolitismus, das bereits in der römischen Republik bei Cicero zu finden ist. In dieser Studie soll es daher zweitens immer auch darum gehen, wie sich Republikanismus und Kosmopolitismus zueinander verhalten, wann und wie sie sich verbinden, und wann und wie sie sich in der republikanischen Ideengeschichte ausschließen. Drittens versucht diese Studie, den in der Republikanismusforschung weitestgehend im Dunkeln belassenen Zeitraum der mittelalterlichen Res Publica Christiana zwischen dem Ende der römischen Republik und dem Florentiner Republikanismus zu erhellen. Die hier durchgeführte Untersuchung setzt sich schließlich viertens von der bisherigen Forschung ab, insofern sie sich von der oben beschriebenen Erzählung einer entweder aristotelischen, bürgerorientierten, kommunitaristischen oder einer römischen, institutionenorientierten, liberalen republikanischen Tradition distanziert. Ich werde zeigen, dass diese einseitigen Erzählungen, die versuchen, mathematisch exakte Schneisen durch die Geschichte zu schlagen, in der einen wie der anderen Form, so nicht haltbar sind. Beide Momente, das bürgerorientierte wie das institutionenorientierte, sind von Beginn an Bestandteil der republikanischen Tradition und laufen in unterschiedlichen Vermittlungen immer mit. Allenfalls kann von einer Abschwächung des aristotelischen, bürgerorientierten Moments zugunsten der Institutionenorientierung auf dem Weg zur Moderne hin gesprochen werden; bei Rousseau erlebt die bürgerliche Tugend dann aber nochmals ein einflussreiches Wiedererstarken, ja bis in unsere Gegenwart erleben der Aristotelismus und die Tugendethik immer wieder Renaissancen.29 Das wird zu zeigen sein.
—————— 28 Eine Art Summe der bisherigen Forschung bieten die beiden von der EU geförderten Bände von van Gelderen, Martin/Skinner, Quentin (Hg.) 2002: Republicanism. A Shared European Heritage, 2 Bde., Cambridge. 29 Vgl. zum Beispiel MacIntyre, Alasdair 1993: Der Verlust der Tugend, Frankfurt/M.
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Mit der Historisierung des kantianischen Republikanismus und dieser Abschwächungsthese ist auch schon angedeutet, dass die folgende Studie eine diachrone Untersuchung von der Entstehung des Republikanismus in der römischen Republik bis in die Moderne zu Kant anstrebt. Ich arbeite dabei anhand exemplarischer Autoren vier Epochen beziehungsweise Entwicklungsstadien des Republikanismus und ihre zentralen Merkmale, mit denen sie den Republikbegriff füllen, unter folgenden Überschriften heraus: (I.) antiker Republikanismus, (II.) Res Publica Christiana, (III.) klassischer Republikanismus, (IV.) moderner Republikanismus. Ich möchte im Folgenden kurz die zentralen Merkmale dieser von mir so gekennzeichneten Epochen beziehungsweise Entwicklungsstadien der republikanischen Ideengeschichte umreißen: (I) Mit »antiker Republikanismus« bezeichne ich die Entstehungsphase des Republikanismus in der römischen Republik, das erste Auftauchen des Begriffs. Ich werde versuchen, die Konstellation zu skizzieren, aus der heraus die erste Philosophie der Res Publica entsteht, und zeigen, dass wir in Ciceros politischer Philosophie diese erste politische Philosophie der Res Publica finden. Er formuliert die wirkmächtige Definition der Res Publica als Sache des Volkes, wobei das Volk wiederum über die Gemeinsamkeit des Rechts und des Nutzens definiert wird. Gerade Ciceros politische Philosophie erhellt, wie sich das bürger- und tugendorientierte Moment mit dem institutionenorientierten Moment am Entstehungsherd des Republikanismus verbindet. Zudem finden wir bei Cicero, über die Aufnahme des stoischen Kosmopolitismus, bereits zu Beginn eine Verbindung des Republikanismus mit dem Kosmopolitismus. Sie bleiben aber hier noch politisch-institutionell unverbunden beziehungsweise stehen in einer Art Ableitungsverhältnis, das zu einem Deckungsverhältnis wird, insofern Cicero in einer Apotheose der römischen Republik das Naturrecht in der Verfassung der Republik realisiert sieht. Die Res Publica als politisch-institutionelle Ordnung bleibt jedoch bei ihm im Kontext des antiken Stadtstaates eine räumlich begrenzte Bürgervereinigung. Cicero begreift die römische Republik unter Rückgriff auf Polybios als Mischverfassung, die allen Bürgern Freiheit gewährt und die Tugendhaften mit der aktiven politischen Gestaltung des Gemeinwesens betraut. (II) Aus diesem sowohl räumlich wie politisch-institutionell begrenzten Zusammenhang der Res Publica bricht zum ersten Mal in der republikanischen Ideengeschichte die christliche Politik des Augustinus mit seiner
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Civitas Dei aus. Augustinus greift Ciceros Res Publica-Definition auf, überträgt sie aber nun auf die Civitas Dei, die Bürgerschaft aller Christen, die damit eine politisch-institutionelle Konnotation und zugleich eine kosmopolitische Dimension erhält. Allerdings verortet Augustinus diese Res Publica Christiana als kosmopolitische Friedensordnung im Jenseits. Erst nach der Erlösung vom irdischen Babylon kann das himmlische Jerusalem sich voll realisieren. Mit Augustinus, seiner eschatologischen Perspektive und seinem einflussreichen anthropologischen Pessimismus tritt daher ein Verfall der verfassungstheoretischen Erörterung der Res Publica ein, aus dem sich das Abendland erst über lange Zeit wieder auf das antike Niveau zurückarbeiten muss. Ich werde in drei kurzen Skizzen andeuten, wie bei Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua über die Körperanalogie langsam wieder eine verfassungsmäßig differenzierte, diesseitige politische Philosophie der Res Publica entsteht. An sie wird dann der klassische Republikanismus der Florentiner anknüpfen. Bevor wir uns diesem zuwenden, möchte ich aber noch mit Dante den – in meinen Augen – ersten Florentiner Bürgerhumanisten und dessen Konzept einer Universalmonarchie vorstellen. Dante greift Augustins Res Publica Christiana als kosmopolitische Friedensordnung auf, denkt aber bereits eine radikal diesseitige und autonome Politik und greift auf die Romidee und die Pax Romana als vorbildliche kosmopolitische Friedensordnung zurück. Damit wirkt er auf den Kosmopolitismus der Aufklärung ein. (III) Der klassische Republikanismus, wie er sich dann von Florenz aus in der frühen Neuzeit verbreitet, schließt nun an die bereits von Johannes von Salisbury, Thomas, Dante und Marsilius erarbeitete Autonomie der Politik und das verfassungstheoretische Niveau an. Die Florentiner Republikaner greifen aber noch in viel stärkerem Maße als ihre Vorgänger wieder auf heidnische Autoren zurück. Mit Machiavelli haben wir dann den zentralen Autor des Florentiner klassischen Republikanismus vor uns, der im Rahmen eines anthropologischen Pessimismus eine realistische republikanische Politiktheorie am Vorbild der Mischverfassung der römischen Republik entwickelt. Diese zeichnet sich für Machiavelli durch Stabilität, bürgerliche Freiheit und imperialistische Fähigkeit aus. Mit Machiavellis Aufnahme der bereits von Polybius und Cicero bevorzugten Mischverfassung als institutionell eingebundenem Dauerkonflikt, der durch Macht-
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teilung die bürgerliche Freiheit gewährleistet, kommt eines der zentralen Themen des neuzeitlichen Republikanismus auf. Aus dieser Konzeption der Mischverfassung entwickelt sich dann bei Milton, Harrington und Spinoza zum einen die Idee der Repräsentation. Man erkennt im Zusammenhang damit zum anderen bei diesen Autoren bereits rudimentäre Formen der Macht- und Gewaltenteilung. Die Repräsentationsidee ermöglicht es Milton und Harrington, die Republik aus dem Konzept des Stadtstaates zu lösen und auf den englischen Flächenstaat zu übertragen. Spinoza entwickelt dagegen im niederländischen Kontext einen Verfassungsentwurf für eine föderale Stadtstaatenrepublik. Mit dieser Aufnahme der Mischverfassung und der Macht- und Gewaltenteilung taucht die zuvor erwähnte Abschwächung des an der bürgerlichen Tugend orientierten Motivs in der republikanischen Ideengeschichte auf. Indem zunehmend auf verfassungsförmige Machtteilungs- und Kontrollmechanismen vertraut wird, diese gleichsam als Ausfallbürgschaft für die ungewisse Tugendhaftigkeit der Bürger dienen, verliert das bürgerhumanistische Motiv der bürgerlichen Tugend an Bedeutung. Während Machiavelli noch scharf die Notwendigkeit einer Zivilreligion betont, büßt diese bei seinen Nachfolgern zusehends an Bedeutung ein. Schließlich zeigt sich im klassischen Republikanismus bei Machiavelli, Milton und Harrington durch ihr realistisches Politikverständnis ein Verlust des kosmopolitischen Moments von Cicero, Augustinus und Dante. Die Entstehung der neuzeitlichen Republik ist begleitet von einer Konzeption des internationalen Systems als Naturzustand, in dem das Recht des Stärkeren gilt und die Mittel Waffengewalt, Abschreckung oder Imperialismus sind. Einzig Spinoza versucht mit seiner föderalen Stadtstaatenrepublik zumindest im niederländischen Rahmen den zwischenstaatlichen Naturzustand zu überwinden. Damit antizipiert er den Kosmopolitismus der Aufklärung. (IV) Mit Rousseau wenden wir uns dann der Figur zu, die die grundlegende Idee des modernen Republikanismus in einmaliger Radikalität ausbuchstabiert: die Idee der Volkssouveränität. Indem Rousseau diese aus der natürlichen menschlichen Freiheit abgeleitete moderne Herrschaftslegitimation jedoch an eine direktdemokratische Legislative bindet und als unteilbar und unrepräsentierbar auszeichnet, fällt er in das Konzept der kleinen Stadtrepublik zurück, das Milton, Harrington und Spinoza bereits hinter sich gelassen hatten. Die französischen Revolutionäre werden ihm darin – trotz aller Anleihen – nicht folgen.
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Bereits einige Jahre vor der französischen Revolution hatte sich in der amerikanischen Revolution die Bildung einer einen ganzen Kontinent umfassenden föderalen Republik ereignet. Mit Madison wenden wir uns nun einem der Protagonisten dieser Verfassungsrevolution zu und rekonstruieren, wie er diese kontinentale, föderale, repräsentative und macht- und gewaltenteilige Republik konzipiert. Bei Madison findet die Abschwächung, ja Tilgung des tugend- und bürgerorientierten Motivs ihren verfassungstheoretischen Höhepunkt. Madisons komplexe Institutionentheorie hat als Voraussetzung ihres Funktionierens gerade die korrupte, egoistische menschliche Natur des anthropologischen Pessimismus. Durch diesen anthropologischen Pessimismus verstrickt sich Madisons Republikanismus jedoch in ein Begründungsdefizit, denn es ist nach diesem Bild der menschlichen Natur nicht mehr zu sehen, warum eine auf dem Prinzip der Volkssouveränität fußende Republik und nicht ein Despotismus das einzig legitime Herrschaftssystem sein soll. Mit diesen zwei Gesichtern des modernen Republikanismus, kleine, bürgerorientierte Republik bei Rousseau und kontinentale, institutionenorientierte Republik bei Madison, haben wir uns die ideengeschichtliche Konstellation erarbeitet, in welcher Kant seinen kosmopolitischen Republikanismus entwickelt. Indem Kant in einer Triangulation notwendiger Bedingungen: (1) Republikanisierung der Einzelstaaten (das heißt Reform zum demokratischen, repräsentativen, gewaltenteiligen Rechtsstaat), (2) Republikanisierung des internationalen Staatensystems (das heißt Konstitution einer Welt- beziehungsweise Republikenrepublik) und (3) Institutionalisierung eines Weltbürgerrechts, diese als hinreichend für einen dauerhaften republikanischen Frieden auszeichnet, vollendet er die republikanische Ideengeschichte. Er überwindet einerseits mit dieser kosmopolitischen Ausrichtung Rousseaus Rückfall in das Konzept der Stadtrepublik. Andererseits schließt er aber an Rousseaus Begründung der Volkssouveränität aus der natürlichen Freiheit des Menschen an und behebt damit das Begründungsdefizit von Madisons kontinentaler Republik. Mit historischer Vollendungsform ist dann hier inhaltlich gemeint, dass man von Kants kosmopolitischem Republikanismus aus nur noch wieder zurück gehen konnte zu bereits überwundenen Stadien des Republikanismus: einerseits zu sowohl räumlich wie politisch-institutionell begrenzteren Republikanismen; andererseits zu Begründungen der Republik nicht aus der natürlichen Freiheit des Menschen, sondern etwa aus einer vorgegebenen moralisch-rechtlichen Naturordnung, die die richtige Vernunft (recta
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ratio) erkennen muss, wie wir das bei Cicero finden, oder zu einer theologischen Begründung der Republik aus dem Willen Gottes und seiner Gebote, wie bei Augustinus. Bei Kant ist eine Idee – die Idee der Republik – mit aller modernen Konsequenz in ihrer Begründung und in ihrem Skopus zu einem Ende gedacht worden. Das ist die zentrale These dieser Studie. Unglücklicherweise hat der nach Kant im 19. Jahrhundert einsetzende Nationalismus genau diesen Weg zurück eingeschlagen und es hat zwei Weltkriege gebraucht, bis wir uns wieder des kosmopolitischen Republikanismus erinnert haben. Zwar war bereits nach dem ersten Weltkrieg in der Diskussion des Genfer Völkerbundes kurz Kants kosmopolitischer Republikanismus aufgeflackert30 und nach dem zweiten Weltkrieg mit der Gründung der UNO und der Erklärung der Menschenrechte bereits ein erster Schritt hin zu seiner praktischen Umsetzung getan worden. Der Kalte Krieg und die Blockkonfrontation hatten jedoch jeden weiteren Schritt und jede weitere Diskussion lange Zeit als illusorisch erscheinen lassen. In der Philosophie fand eine breitere Rezeption und damit Erinnerung erst wieder im Anschluss an Charles Beitz’ wegweisende Arbeit Ende der 1970er Jahre statt.31 Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Beginn der großen Globalisierungsdebatte fand der Kosmopolitismus dann wieder breitere Aufmerksamkeit.32 In den Worten von Präsident Bush sen. war damals die Zeit für eine »neue Weltordnung«33 gekommen; und zahlreiche Philosophen versuchten nun, diese neue Weltordnung zu entwerfen. David Helds34 Entwurf einer kosmopolitischen Demokratie und Otfried Höffes35 Entwurf eines Weltstaates seien hier exemplarisch genannt.36 Zu-
—————— 30 Vgl. zum Beispiel Vorländer, Karl 1919: Kant und der Gedanke des Völkerbundes. Mit Anhang: Kant und Wilson, Leipzig. 31 Vgl. Beitz, Charles 1979: Political Theory and International Relations, Princeton. 32 Vgl. zur Globalisierungsdebatte Held, David/McGrew, Anthony 2002: »The Great Globalisation Debate: An Introduction«, in: dies. (Hg.) 2002: The Global Transformations Reader, Cambridge. 33 Pikanterweise hielt Bush sen. seine New World Order-Rede am 11. 9. 1990 vor dem Kongress. Für Verschwörungstheoretiker war dies nach 9/11 natürlich ein gefundenes Fressen. 34 Vgl. Held, David 1995: Democracy and the Global Order. From the Modern State to Cosmopolitan Governance, Oxford. 35 Vgl. Höffe, Otfried 1999: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München. 36 Vgl. zur Debatte etwa Horn, Christoph 1996: »Philosophische Argumente für einen Weltstaat«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21 und Caney, Simon 2006: Justice Beyond Borders. A Global Political Theory, Oxford sowie Brown, Chris 2006: »From International to Global Justice?«, in: John S. Dryzek/Bonnie Honig/Anne Philipps (Hg.) 2006: The Oxford Handbook of Political Theory, Oxford.
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gleich kamen aber auch wieder bereits bei Rousseau anzutreffende Kritiken des Kosmopolitismus auf: der Kosmopolit37 als vaterlandsloser Geselle, der die Legitimität und den sozialen Zusammenhalt des liberalen Nationalstaates übersehe oder gar unterminiere. Prominente Kritiker des Kosmopolitismus und Vertreter eines liberalen, kommunitaristischen oder auch republikanischen Nationalismus sind etwa John Rawls, Thomas Nagel, Michael Walzer oder David Miller.38 Ich werde auf diese aktuelle Debatte und ihr Verhältnis zu Kants kosmopolitischem Republikanismus am Ende dieser Untersuchung in einer Art Epilog zurückkommen. Bevor wir nun jedoch in die detaillierte Untersuchung der einzelnen Entwicklungsstadien unserer republikanischen Ideengeschichte einsteigen, möchte ich, in guter kantianischer Manier, einen kleinen erkenntniskritischen Exkurs zum bereits angedeuteten geschichtsphilosophischen Status der hier durchgeführten Ideengeschichte einschieben. Ziel dieser Studie ist nämlich nicht, eine – wenn diese etwas tautologische Formulierung erlaubt ist – rein historische Ideengeschichte zu schreiben, sondern eine philosophische Ideengeschichte. Was das genauer meint, soll nun kurz erörtert werden.
—————— 37 Vgl. zur Figur des Kosmopoliten Appiah, Kwame Anthony 2007: Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums, München. 38 Vgl. Walzer, Michael 1996: Thick and Thin. Moral Arguments at Home and Abroad, Notre Dame, Rawls, John 1999: The Law of Peoples, Harvard, Miller, David 2004: On Nationality, Oxford und Nagel, Thomas 2005: »The Problem of Global Justice«, in: Philosophy & Public Affairs 33.
Politische Ideengeschichte, Politisches Denken, Ideenpolitik
Die folgende Untersuchung gehört gattungsmäßig zur Disziplin der Politischen Ideengeschichte. Es ist allerdings bis heute äußerst umstritten, was die Disziplin »Politische Ideengeschichte« genau umfasst.46 Dabei scheinen mir drei Streitfragen zentral zu sein. Erstens: Was ist der Gegenstand der Politischen Ideengeschichte? Sind es nur die großen politischen Philosophen, die »Höhenkammliteratur«, politische Theorien in einem weiteren Sinne oder das politische Denken generell? Zweitens: Mit welcher Methode soll dieser Gegenstand, sofern man sich auf einen einigen kann, untersucht werden? Soll man Ideen, als zeitlos, allein im logischen Raum der Gründe untersuchen oder sollte der jeweilige politisch-soziale Kontext herangezogen werden? Drittens ist unklar, warum man Politische Ideengeschichte betreibt. Untersucht man politische Ideen und ihre Geschichte aus einem rein »antiquarischen«47 Interesse? Oder um bestimmte Ideen zu aktualisieren und als bedenkenswerte Vorschläge für aktuelle Problemlagen wieder ins öffentliche Bewusstsein zu heben? Letzteres könnte man Ideenpolitik nennen.48 Diese drei Fragen nach Gegenstand, Methode und Ziel der Politischen Ideengeschichte möchte ich im Folgenden im Hinblick auf die anschließende Untersuchung diskutieren. Die Ideengeschichte scheint ein Kind der älteren, deutschen Philosophie- und Geistesgeschichte zu sein, die seit Hegels Tagen in der Geschichte der Menschheit einen Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit zu entdecken vermeinte und ein Gespräch der großen Geister über die Jahr-
—————— 46 Vgl. Kelley, Donald R. 2002: The Descent of Ideas: A History of Intellectual History, Aldershot, und Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hg.) 2006: Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden, sowie Schorn-Schütte, Luise 2006: Historische Politikforschung. Eine Einführung, München. 47 Vgl. Nietzsche, Friedrich: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München, S. 265ff. 48 Vgl. Llanque, Marcus 2006: »Geschichte politischen Denkens oder Ideenpolitik: Ideengeschichte als normative Traditionsstiftung«, in: Bluhm/Gebhardt 2006.
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tausende. »Die Geschichte der Philosophie«, so Hegel, »stellt uns die Galerie der edlen Geister dar, welche durch die Kühnheit ihrer Vernunft in die Natur der Dinge, des Menschen und in die Natur Gottes gedrungen [sind], uns ihre Tiefe enthüllt und uns den Schatz der höchsten Erkenntnis erarbeitet haben.«49 Diese Konzentration auf den Geist beziehungsweise die Ideen wurde schon früh von Marx und der marxistischen Tradition als Ideologie desavouiert. Der Geistesgeschichte wurde die Sozialgeschichte entgegengesetzt; Ideen wurden als bloßer Überbau der Produktionsverhältnisse aufgefasst. Wer eine Idee, ihr Entstehen und ihre Geschichte verstehen will, der muss nach dieser Auffassung den sozialen Kontext untersuchen. Auch die von Karl Mannheim entwickelte Wissenssoziologie formulierte ihre zentrale Aufgabe im Sinne einer solchen Kontextualisierung: »Wo es für das erlebende Subjekt den Anschein hat, als kämen seine ›Einsichten‹, ›Intentionen‹ ›einfallsmäßig‹, sprunghaft und nur aus ihm, so stammen sie dennoch aus einer in ihm lebendigen (aber ihm reflexiv nicht bewußten) kollektiven Grundintention. Eine der wichtigsten Aufgaben der Denksoziologie ist aber die, eben in diese – gleichsam hinter dem Rücken des Einzelnen sich abspielende (d. h. in die reflexive Bewußtheit nicht hineinragende) – Ebene der Kollektivintentionen vorzudringen und den tieferen Zusammenhang der in einem Zeitalter oder einer Strömung zustandekommenden isolierten Einzelbeobachtungen herauszuarbeiten– zu rekonstruieren.«50 Der Streit zwischen Vertretern einer reinen Ideengeschichte und Vertretern einer um psychologische und/oder soziale Kontextualisierung bemühten Ideengeschichte, zwischen Intellektualismus und Kontextualismus oder auch Internalismus und Externalismus hält bis heute in den Debatten über die Ideengeschichte an.51 Wie so häufig bei derartigen Extrempositionen können beide jeweils für sich alleine, so will mir scheinen, keine besondere Plausibilität reklamieren. Unbestreitbar hat der Kontextualismus ja damit Recht, dass man gerade bestimmte Prämissen von politischen Theorien, wie etwa die des Aristoteles, dass manche Menschen von Natur Sklaven seien, nur unter
—————— 49 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke, Bd. 18, Frankfurt/M., 1979, S. 14. 50 Mannheim, Karl 1925: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, herausgegeben von David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr 1984, Frankfurt/M., S. 68. 51 Vgl. die Diskussion im Journal of the History of Ideas 2005 zum Schwerpunkt »Intellectual History in a Global Age«, insbesondere Kelley, Donald R. 2005: »Intellectual History in a Global Age«, in: Journal of the History of Ideas 65 und Levine, Joseph M. 2005: »Intellectual History as History«, in: ebd.
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Rückgriff auf den sozialen Kontext, die Athener Sklavenökonomie, versteht. Aber andererseits gilt doch auch, dass bestimmte Ideen, wie die hier behandelte Idee der Republik, ein geistiges Eigenleben über die Jahrhunderte gewinnen, in ganz unterschiedlichen Kontexten wieder aufgegriffen werden und sich immer wieder in neuer Form politisch-institutionell objektivieren, weil sie ein Set von Prämissen und Folgerungen, kurz: von Argumenten enthalten, die zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Menschen zu überzeugen vermögen. Die Autoren, die eine solche Idee aufgreifen, müssen sich daher immer auch auf dieser formalen, logischen Ebene mit der Idee, mit ihrem Set von Prämissen und Folgerungen auseinandersetzen. Das ist die in meinen Augen immer noch gültige These von Arthur O. Lovejoy gegenüber einem radikalen Kontextualismus: »It must still be admitted, that philosophers do reason, that the temporal sequence of their reasonings, as one thinker follows another, is usually in some considerable degree a logically motived and logically instructive sequence.«52 Mit diesem Festhalten an der internen, argumentativen Dimension der Ideengeschichte muss jedoch nicht ein Weg zurück zu einer orthodoxen hegelschen Geschichtsphilosophie verbunden sein, in der ein Denker und seine Argumente notwendig auf den anderen folgen, weil im Hintergrund die List der Vernunft oder der Weltgeist einen geschichtlichen Plan verwirklichen, der irgendwann sein absolutes Ende findet. Es soll damit schlicht festgestellt werden, dass diese immanente, argumentative Dimension ebenso zur Empirie einer Ideengeschichte gehört wie der politischsoziale Kontext. So wird man wohl zunächst festhalten dürfen, dass die Politische Ideengeschichte sich immer zugleich mit der synchronen und diachronen Analyse der argumentativen Auseinandersetzung über eine Idee und der Analyse des sich wandelnden politisch-sozialen Kontextes zu befassen hat, in welchem diese Auseinandersetzung stattfindet. Je nach Interesse des Forschers kann es dabei eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung geben, abhängig davon, ob er mehr an der argumentativen Auseinandersetzung oder dem Kontext interessiert ist, so dass es nicht eine richtige Art und Weise der Politischen Ideengeschichte gibt.53
—————— 52 Lovejoy, Arthur O. 1940: »Reflections on the History of Ideas«, in: Journal of the History of Ideas 1, S. 21. 53 Diesen Punkt betont vor allem Frede, Michael 1987: »The Study of Ancient Philosophy«, in: ders. 1987: Essays in Ancient Philosophy, Oxford.
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Insbesondere die Begriffsgeschichte Kosellecks und die so genannte Cambridge School um Quentin Skinner haben der Politischen Ideengeschichte in den letzten drei Jahrzehnten fruchtbare neue Impulse gegeben und ihr zu einem enormen Aufschwung verholfen.54 Der Ansatz der Cambridge School geht dabei davon aus, dass politische Ideen als Sprechakte verstanden werden müssen, die in bestimmte politische Kontexte eingebettet sind. Die rhetorische und praktische Dimension politischer Ideen und Theorien tritt damit in den Fokus der Analyse. Für die Cambridge School ist die Aufgabe der Ideengeschichte daher: »Reconstructing political thought as discourse: that is, as a sequence of speech acts performed by agents within a context furnished ultimately by social structures and historical situations.«55 Zugleich reagieren diese Sprechakte und ihre Sprecher aber häufig auf diese politischen Kontexte, in dem sie auf bestimmte politische Ideentraditionen und Vokabulare zurückgreifen. Während das Konzept der Cambridge School der Ideas in Context56 vor allem die synchrone Kontextualisierung eines Sprechers und seiner Sprechakte fokussiert, möchte diese Studie auch eine diachrone Forschung durchführen. Nur so scheint ein politischer Text als Sprechakt adäquat verstehbar zu sein. Es stellt sich immer die Frage, was der Autor wollte, aus welchem und auf welchen Kontext er reagierte; und es stellt sich ebenso immer die Frage, was er tut, um sein Ziel zu erreichen: welche Form und welchen Stil verwendet er, welche Argumente, welche Autoritäten, Beispiele und Verbündeten führt er ins Feld? Neben der synchronen Analyse der Cambridge School hält daher für diese Studie Reinhart Koselleck mit seiner Begriffsgeschichte für eine ideengeschichtliche Untersuchung wichtige methodologische Anregungen bereit. Die Begriffsgeschichte analysiert die diachronen semantischen Wandlungen politischer Begriffe.57 In ihrer methodischen Ausarbeitung bei
—————— 54 Vgl. Bluhm, Harald 2006: »Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Einleitung«, in: ders. /Gebhardt 2006. 55 Zitiert nach Asbach, Olaf 2002: »Von der Geschichte politischer Ideen zur »History of Political Discourse«? Skinner, Pocock und die Cambridge School«, in: Zeitschrift für Politik 12, S. 641f. Vgl. auch Skinner, Quentin 1969: »Meaning and Understanding in the History of Ideas«, in: History and Theory 8. 56 So der Name einer von Skinner edierten Reihe. 57 Vgl. zu einer Skinner und Koselleck vergleichenden Untersuchung Ifversen, Jan 2003: »Text, Discourse, Concept: Approaches to Textual Analysis«, in: Kontur 7 und Palonen, Kari 2004: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster.
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Koselleck verbindet sich die Begriffsgeschichte mit der Sozialgeschichte– dem Kontext, wie wir sagen können–, ohne dass beide aufeinander reduzierbar wären, sondern in einem Ergänzungsverhältnis stehen. »Daß eine historische Klärung der jeweils verwendeten Begriffe nicht nur auf die Sprachgeschichte, sondern ebenso auf sozialgeschichtliche Daten zurückgreifen muß«, so Koselleck, »ist selbstverständlich, denn jede Semantik hat es mit außersprachlichen Inhalten zu tun.«58 Die Begriffsgeschichte versucht dadurch, semantische Wandlungen politisch-sozialer Begriffe über die Zeit zu erforschen. Koselleck grenzt seinen Forschungsgegenstand nochmals auf politisch-soziale Grundbegriffe ein, die dadurch gekennzeichnet seien, dass in sie die »Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungsund Erfahrungszusammenhangs« eingeht. Dabei zeige sich häufig die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, also Rückstände älterer Bedeutungsund Erfahrungszusammenhänge, die im jeweils gegenwärtigen Sprachgebrauch noch fortwirken. Die Begriffsgeschichte klärt »die Differenz, die zwischen vergangener und heutiger Begrifflichkeit herrscht, sei es daß sie den alten, quellengebundenen Sprachgebrauch übersetzt und definitorisch für die gegenwärtige Forschung aufbereitet, sei es, daß sie die modernen Definitionen wissenschaftlicher Begriffe auf ihre geschichtliche Tragfähigkeit hin überprüft.«59 Kosellecks Begriffgeschichte entfernt sich dabei in stärkerem Maße von der Untersuchung einzelner Sprecher und ihrer Sprechakte als die Methode der Cambridge School. Für unseren Zusammenhang scheint mir die diachrone Erforschung semantischer Wandlungen politisch-sozialer Grundbegriffe der begriffsgeschichtlichen Methode äußerst hilfreich zu sein: Kosellecks Konzentration auf Grundbegriffe, in die die »Fülle eines Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhangs« eingeht, weist zudem Ähnlichkeiten mit Lovejoys Konzentration auf »Unit-Ideas« beziehungsweise, wie man übersetzen könnte, Elementarideen oder Paradigmen auf.60 Ein solcher Grundbegriff beziehungsweise eine Elementaridee umfasst eine Reihe von Prämissen und Folgerungen und weiteren Ideen, die um sie herum gruppiert sind.61 So umfasst zum Beispiel unser Grundbegriff beziehungsweise unsere Idee der Repu-
—————— 58 Koselleck, Reinhart 1989: »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«, in: ders. 1989: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M., S. 114. 59 Ebd., S. 127. 60 Vgl. zum Begriff des Paradigmas auch Kuhn, Thomas 1996: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 61 Vgl. Lovejoy, Arthur O. 1993: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt/M., S. 15ff.
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blik weitere Ideen wie etwa die der Freiheit und Gleichheit, der bürgerlichen Tugend, der Herrschaft des Gesetzes, der Mischverfassung, der Macht- und Gewaltenteilung und die Idee des Kosmopolitismus, die in bestimmter und sich wandelnder Weise um die Elementaridee gruppiert sind und sie definieren. Manche von ihnen können sich auch von der Elementaridee lösen oder in Vergessenheit geraten– wie natürlich manche Elementarideen selbst in Vergessenheit geraten können. Das heißt, wer eine solche Elementaridee beziehungsweise einen Grundbegriff untersucht, muss zugleich dafür sensibel sein, dass sich ihre Bedeutung durch diese Veränderung der um sie gruppierten Prämissen, Folgerungen und Ideen selbst verändert– möglicherweise bis zu dem Punkt, dass man es nicht mehr mit derselben Elementaridee zu tun hat. Die bis hier entwickelte Methode lässt sich schematisch wie folgt abbilden.
Die folgende Untersuchung legt ihrer Methodik Politischer Ideengeschichte genau diese Konzentration auf die semantischen Wandlungen eines Grundbegriffs beziehungsweise einer Elementaridee zugrunde, den Begriff der Republik (Diachronisierung). Im Gegensatz zum Koselleckschen Forschungsansatz möchte sie aber im Sinne der Cambridge School stärker auf einzelne Sprecher und deren Sprechakte als Reaktion auf bestimmte Kontexte fokussieren (Synchronisierung). Sie muss sich daher bei jedem Sprecher/Autor den Fragen zuwenden, was möglicherweise seine Intention bei der Verwendung des Grundbegriffs war, aus welchem und auf welchen politischen Kontext er reagierte und auf welche Texte, Autoren und Argumente er sich für seine Sprechakte bezog. Dies schließt die Behandlung einer Vielzahl von Autoren schon rein aus forschungspragmatischen Gründen aus. Diese Studie bescheidet sich
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daher mit der Untersuchung exemplarischer Autoren, anhand derer sich ihre zentralen Thesen erweisen müssen. Dass die dabei getroffene Auswahl der behandelten Autoren sicher nicht einer gewissen subjektiven Willkür entbehrt, lässt sich auf den ersten Blick nicht bestreiten. Ein Forscher kann in solchen Fällen nur erklären, dass sie ihm nach eingehender Forschung zum einen als besonders exemplarisch, signifikant, »ihre Zeit in Gedanken fassend« und zum anderen als besonders wegweisend oder wirkmächtig erschienen sind und hoffen, dass das Ergebnis beziehungsweise Protokoll seiner Forschung diesen Eindruck bestätigt. Im Sinne einer qualitativen Geistes- und Sozialforschung, die ihre Thesen, Methoden und Ergebnisse erst im Feld gewinnt, wurde hier eine gegenstandsverankerte republikanische Ideengeschichte geschrieben, die in der nun vorliegenden Form ein Ergebnis der empirischen Forschung ist.62 Die grundlegenden Vorarbeiten zu einer umfassenderen Sammlung der Begriffsgeschichte des Begriffs »Republik« sind zudem bereits geleistet, unter anderem eben in Kosellecks Geschichtlichen Grundbegriffen von Wolfgang Mager.63 Es kann daher heute nur noch darum gehen, diese hervorragenden Vorarbeiten zu reflektieren, wo nötig zu synthetisieren und neue Perspektiven auf die republikanische Ideengeschichte zu gewinnen. Es stellt sich vor allem die zentrale Frage, ob es überhaupt so etwas wie eine republikanische Ideengeschichte und damit eine republikanische Tradition (aristotelisch oder neo-römisch) gibt, oder ob dies nicht eine Konstruktion der bisherigen Forschung ist, die allein das Vorkommen des Begriffs zu unterschiedlichen Zeiten bereits als Beweis für eine solche Tradition nimmt, ohne dessen semantische Wandlungen zu beachten. Möglicherweise findet man ganz im Gegenteil unterschiedliche Republikanismen oder es müssen verschiedene Epochen beziehungsweise Entwicklungsstadien des Republikanismus unterschieden werden. Dies kann letztlich alleine durch eine empirische, ideengeschichtliche Untersuchung geklärt werden. In dieser Studie sollen daher in pointierter Weise für die republikanische Ideengeschichte eine Reihe von Thesen herausgearbeitet und plausibilisiert werden, wie sie in der Einleitung kurz umrissen wurden. Es sollen vier Epochen des Republikanismus und ihre Entwicklung auseinander nachgezeichnet werden.
—————— 62 Vgl. Glaser, Barney B./Strauss, Anselm 1967: The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, Chicago. 63 Vgl. Mager 1984.
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Gegenstand dieser Untersuchung ist also, so können wir bis hier resümieren, eine Idee, die Idee der Republik, im Sinne eines Grundbegriffs beziehungsweise einer Elementaridee oder eines Paradigmas im oben explizierten Sinne. Deren semantische Wandlungen sollen anhand exemplarischer Autoren über die Zeit verfolgt werden und die Verbindungslinien zwischen diesen Autoren unter Berücksichtigung der unterschiedlichen politisch-sozialen Kontexte nachgezeichnet werden, in denen diese die Idee aufgreifen und sie in als Sprechakte verstandenen Texten verwenden. Nachdem der Gegenstand und die Methode der hier praktizierten Politischen Ideengeschichte so in einem ersten Zugriff etwas genauer umrissen worden sind, möchte ich kurz zwei weitere, notorisch umstrittene Fragen aufgreifen, die uns den Gegenstand unserer Untersuchung noch ein wenig mehr erhellen. Erstens: Worauf referiert das »Politische« der Disziplinbezeichnung »Politische Ideengeschichte«? Was sind »Politische« Ideen beziehungsweise Elementarideen oder Grundbegriffe? Was ist überhaupt »Politik«? Zweitens: Wenn die Politische Ideengeschichte politische Ideen anhand von Texten von Autoren untersucht, was sind das für Autoren? Sind es politische Philosophen, Theoretiker oder Denker? Was ist »Politische Philosophie«? Wodurch unterscheidet sich diese von »Politischer Theorie« oder von »Politischem Denken«? Nun sind die Antworten auf beide Fragen derart umstritten, dass ich es hier gar nicht darauf anlege, mehr als zwei forschungspragmatische Definitionen vorzuschlagen, die dieser Untersuchung zur Orientierung dienen und auch nicht mehr beanspruchen.64 Diese Untersuchung behilft sich erstens damit, unter »Politik« die sozialen Praktiken zu verstehen, die auf die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen zielen. Politische Ideen beziehungsweise Grundbegriffe sind dann Begriffe, die auf solche Praktiken der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen referieren. Zum zweiten fasst sie die Unterscheidung von Politischer Philosophie, Politischer Theorie und Politischem Denken als eine historisch kontin-
—————— 64 Vgl. zur letzten größeren Debatte zu diesen zwei Fragen die Special Issue »What is Political Theory?« von Political Theory 2002, sowie aus der neueren Literatur Dunn, John 1995: »The History of Political Theory«, in: ders. 1995: The History of Political Theory and other Essays, Cambridge, Farr, James 2006: »The History of Political Thought as a Disciplinary Genre«, in: Dryzek/Honig/Philipps 2006, Buchstein, Hubertus/Jörke, Dirk 2007: »Die Umstrittenheit der Politischen Theorie. Stationen im Verhältnis von Politischer Theorie und Politikwissenschaft in der Bundesrepublik«, in: Buchstein, Hubertus/Göhler, Gerhard (Hg.) 2007: Politische Theorie und Politikwissenschaft, Wiesbaden.
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gente Unterscheidung auf, wobei heute Politische Philosophie und Politische Theorie als akademische Tätigkeiten aufgefasst werden und in der Regel unterschiedlichen Fakultäten an Universitäten zugeordnet werden. Die Politische Philosophie wird meist den philosophischen oder geisteswissenschaftlichen Fakultäten (Humanities) und die Politische Theorie den sozialwissenschaftlichen Fakultäten (Social Science) zugeordnet. Dagegen scheint Politisches Denken nicht alleine in der Universität stattzufinden und umfasst wohl auch den politischen Kommentar in der Zeitung (worunter die hier untersuchten Federalist Papers fallen) oder die Meinung der Frau auf der Straße. Man könnte daher auch eine graduelle Unterscheidung aufmachen, die man vielleicht anhand der Parameter Normativität, Abstraktion oder Extension festmachen mag. Dies überzeugt jedoch nicht in allen Fällen. Aufgrund dieser Abgrenzungsschwierigkeiten werde ich im Folgenden einfach mit der Oberkategorie »Politisches Denken« arbeiten, die sowohl politische Philosophen (wie etwa Kant, der ein klassischer Vertreter der in der Moderne üblichen Universitätsphilosophie ist) als auch politische Theoretiker oder Denker (wie etwa Cicero, Machiavelli oder Madison, die zunächst politische Praktiker sind, die zugleich aber theoretisch anspruchsvolle und einflussreiche Werke hervorgebracht haben) umfassen soll. Die folgende Untersuchung verfolgt somit die Idee der Republik als politischen Grundbegriff– wobei hier unter »Politik« Praktiken der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen verstanden werden– anhand exemplarischer politischer Denker. Wenden wir uns schließlich der letzten zu Beginn aufgeworfenen Frage zu: Welches Ziel hat nun diese hier praktizierte Politische Ideengeschichte zur Idee der Republik? Hat sie eher ein antiquarisches, rein historisches Interesse oder zielt sie darauf, die Idee der Republik ideenpolitisch in der Gegenwart zu positionieren? Wohl verstanden, motiviert sich jede historische Forschung aus der gegenwärtigen Lage des Forschers. Sein Erkenntnisinteresse führt ihn dazu, aus der unendlichen Menge der möglichen Fragen genau eine auszuwählen. Dieses Interesse könnte aber positivistisch ausschließlich darin bestehen, einen historischen Sachverhalt besser zu beschreiben. Das wäre dann eine rein antiquarische Ideengeschichte. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese antiquarische, positivistische Geschichte ihren Forschungsprozess voll-
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ständig durchschaut.65 In einem philosophisch reflektierten Sinne verstehen kann man einen historischen Sachverhalt nur, indem man sich selbst als Forscher zu ihm in Beziehung setzt, sich selbst als historisch situiertes Subjekt begreift, das in einer geschichtlichen Relation zu diesem Sachverhalt steht. Dabei kann diese historische Relation zu einem vergangenen Geschehen oder zu vergangenen Ideen entweder so beschaffen sein, dass man selbst dies als eine abgeschlossene, überwundene Epoche, als überwundene, widerlegte oder nicht mehr plausible Ideen erkennt. Man verhält sich dann dieser historischen Zeit gegenüber gewissermaßen neutral oder teilnahmslos, wie ein Naturforscher, der eine andere Spezies erforscht; oder man erkennt sich als selbst immer noch innerhalb dieser Epoche stehendes, als immer noch von diesen Ideen angesprochenes Subjekt. Der Forscher trifft dann in sich selbst auf Spuren dieses Geschehens oder dieser Ideen und erkennt in der ihn umgebenden politisch-sozialen Wirklichkeit Objektivationen dieser Ideen; er steht noch mitten drin in den vergangenen Konflikten, ist Partei, weil diese Parteiungen und Konflikte immer noch in seiner Gegenwart fortbestehen. In der einen wie der anderen Form enthält die Politische Ideengeschichte eine ideenpolitische Konsequenz, insofern sie entweder ein historisches Geschehen als abgeschlossen, bestimmte politische Ideen als überholt oder als immer noch fortwirkend und damit aktuell auszeichnet. Die folgende Ideengeschichte legt deshalb hier zu Beginn ihren in diesem Sinne geschichtsphilosophischen Grundcharakter offen, durch den sie von einer ideengeschichtlichen Frage – wie ist die republikanische Ideengeschichte zu verstehen? – zu einer ideenpolitischen Frage – was folgt aus ihr für unsere postnationale, globalisierte politische Konstellation? Warum sollten wir uns dieser Idee und ihrer Geschichte erinnern? – geführt wird. Auch wenn diese geschichtsphilosophische Konzeption hier zugrundegelegt wird, dass Ideengeschichte als Lernprozess begriffen werden muss, in dem wir uns als historisch am Ende dieses Prozesses situierte Forscher zu früheren Stadien in Relation setzen, und auch wenn nur aus dieser Perspektive dieser Prozess voll verstanden werden kann, so bleibt die hier durchgeführte republikanische Ideengeschichte doch geschichtsphilosophisch agnostisch, insofern sie kein Ende der Geschichte kennt, keinen absoluten Punkt des Wissens à la Hegel. Vielmehr geht sie gerade umgekehrt davon aus, dass es da, wo es Lernprozesse geben kann, auch Pro-
—————— 65 Vgl. Habermas, Jürgen 1968: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M.
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zesse des Verlernens oder Vergessens geben kann. Eine so verstandene Politische Ideengeschichte versucht, in der historischen Erinnerung ein Erbe freizulegen, das Möglichkeiten enthält, die bisher nicht wahrgenommen oder vergessen wurden oder in den politischen Kämpfen der letzten Jahrhunderte – aus noch darzulegenden Gründen – unterlegen waren, die uns aber immer noch informieren können, weil sie in die Konstitution unserer Gegenwart mit eingegangen sind.66 Sie hofft, indem sie hinter die liberal-nationalistische Moderne zurückgeht, in der republikanischen Tradition Konstitutionsmomente der Moderne herauszuarbeiten, die in sich selbst Möglichkeiten enthalten, die über das liberal-nationalistische Paradigma hinausweisen. Eine solche als Konstitutionsgeschichte verstandene Politische Ideengeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Gegenwart im Gegensatz zu einer Geschichte der Vergangenheit, wie Foucault das konzipiert.67 Eine solche Konstitutionsgeschichte ist eine Geschichte einer möglichen Zukunft, insofern sie Momente auslotet, die in die Konstitution der Gegenwart eingegangen sind, aber in ihren Möglichkeiten bisher nicht voll entfaltet wurden und daher über die Gegenwart hinausweisen. Im Folgenden wird daher eine solche Politische Ideengeschichte als Konstitutionsgeschichte einer möglichen Zukunft in praktischer, weltbürgerlicher Absicht geschrieben.
—————— 66 Vgl. dazu Benjamin, Walter 1940: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Opitz, Michael (Hg.) 1996: Walter Benjamin. Ein Lesebuch, Frankfurt/M., und Ernst Bloch 1959: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 67 Vgl. Foucault, Michel 1994: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. »Ich habe nicht vor, die Geschichte der Vergangenheit in die Begriffe der Gegenwart zu fassen. Wohl aber ist es meine Absicht, die Geschichte der Gegenwart zu schreiben« (S. 43).
I. Antiker Republikanismus
I.1 Von Athen nach Rom: Unterwegs zur politischen Philosophie der Res Publica Wie kam die politische Philosophie nach Rom? Wie entstand die politische Philosophie der Res Publica? So einfach sich dies zunächst anhört, so schwer fällt die Antwort. Nicht nur, dass das Überlieferungsproblem im Hinblick auf die hellenistische Philosophie die Beantwortung generell schwer macht– obwohl das schon schwer genug wiegt–, auch ist gar nicht eindeutig ersichtlich, welche griechische politische Philosophie in Rom ankommt. Ist es die von Platon ausgehende akademische Schule, die von Aristoteles ausgehende peripatetische, die von Zenon begründete Stoa oder die epikureische Schule? Oder gar eine Mischung aus diesen? Aber welche Art von Mischung? Und was ist der originär römische Beitrag, wenn es ihn denn gibt? Die Überlieferung legt zumindest nahe, dass wir in Ciceros Schriften den ersten Ausdruck einer römischen politischen Philosophie finden. Eine Frühere kennen wir schlicht nicht. Wir müssen also von Ciceros staatstheoretischen Schriften unseren Ausgang nehmen und werden von dessen Apotheose der römischen Republik aus rückwärts zu gehen haben, um die ideengeschichtliche Konstellation zu rekonstruieren, aus der heraus sich die Ciceronische Philosophie und damit die erste politische Philosophie der Res Publica konstituiert hat. Cicero ist sozusagen das Nadelöhr, durch das die griechische politische Philosophie gehen muss, um in der römischen politischen Philosophie der Res Publica zum Ausdruck zu kommen. Man könnte diesen Startpunkt unserer republikanischen Ideengeschichte als eine Art Konstellationsforschung beschreiben, die versucht, eine Theorieentwicklung – in unserem Fall die der republikanischen politischen Theorie – aus der ideengeschichtlichen Konstellation
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heraus, in der sie entsteht, nachzuvollziehen.68 Dabei verdankt sich vieles, was im Folgenden resümiert wird, den Forschungen der klassischen Philologen und der Spezialisten der Philosophiegeschichte. Ich möchte mich hier also zu Beginn mit dem befassen, was Richard Harder die »Einbürgerung der Philosophie in Rom«69 genannt hat, aber zugespitzt auf die Frage nach der politischen Philosophie, die in Ciceros politische Philosophie der Res Publica einfließt. Bereits Harder hat hierfür auf den Scipionenkreis verwiesen, den Cicero in De re publica über den besten Staat (optimum statum civitatis) und den besten Bürger (optimo cive) diskutieren lässt. So erklärt Laelius in De re publica zur Person Scipios: »Nicht allein deshalb wollte ich, daß es geschehe, weil es billig war, daß über das Gemeinwesen am besten der erste Mann des Gemeinwesens [das heißt Scipio, P.H.] spräche, sondern auch, weil ich mich erinnerte, daß du sehr oft mit Panaitios vor Polybios, den beiden wohl staatskundigsten Griechen, zu diskutieren pflegtest« (Rep. I/34 127).70 Hiermit haben wir einen von Cicero gegebenen Hinweis auf eine Schnittstelle zwischen Athen und Rom, die Freundschaft Scipios zu dem griechischen Historiker Polybios und dem stoischen Philosophen Panaitios. Hermann Strasburger hat jedoch dargelegt, dass die Beschreibung des Scipionenkreises bei Cicero eher eine literarische Fiktion war, zwar nicht was die Bekanntschaft Scipios mit den beiden Griechen angeht, die ist gut belegt, aber was die geistige Haltung Scipios angeht, den Cicero neben Laelius zum Hauptredner in De re publica macht.71 Für unser Unternehmen macht das aber keinen Unterschied, denn entscheidend ist, dass Cicero für seine Staatsphilosophie auf diese Griechen verweist. Er stellt damit für seine eigene Philosophie diese Verbindungslinie her. Ob Scipio tatsächlich so gedacht hat, wie Cicero das in De re publica nahe legt, mag dahingestellt bleiben. Cicero versucht mit dieser historischen Abstammungslinie und dem damit einhergehenden, bewusst gewählten historischen Rahmen seines Staatsdialogs, seiner republikanischen politischen Theorie eine Kontinuität, ja eine altrömische Dignität vermittels der hervorragenden Vertreter der Nobilität der alten
—————— 68 Vgl. den Sammelband zur Methodik Henrichs bei seinen Untersuchungen zur Entstehung des deutschen Idealismus von Mulsow, Martin/Stamm, Marcelo 2005: Konstellationsforschung, Frankfurt/M. 69 Vgl. Harder, Richard 1960: »Die Einbürgerung der Philosophie in Rom«, in: Büchner, Karl (Hg.) 1971: Das Neue Cicerobild, Darmstadt. 70 Ich zitiere im Folgenden im laufenden Text als (Rep.) nach der Übersetzung Cicero: De re publica/Vom Gemeinwesen, herausgegeben von Karl Büchner 1979, Stuttgart. 71 Vgl. Strasburger, Hermann 1966: »Der Scipionenkreis«, in: Hermes 94.
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Republik zu geben. Das scheint mir eine einleuchtende Erklärung für die Zuschreibung seiner Staatsphilosophie zu Scipio zu sein. Sie wird dadurch gewissermaßen in die römische Geschichte und Kultur eingebettet und verliert das verstörend Neue, das sie als erste ihrer Art für viele Zeitgenossen Ciceros vielleicht gehabt haben wird. Wenden wir uns also zunächst diesen beiden Griechen und hier zunächst Polybios und der Mischverfassungstheorie zu. Polybios Einfluss auf Ciceros Staatsphilosophie scheint mir nämlich zentral in der Übertragung dieser Mischverfassungstheorie auf die römische Republik zu liegen. Das sechste Buch seiner Historien zielt darauf ab, seinen Lesern zu verdeutlichen, »wie und mit welcher Art von Verfassung fast die ganze Welt bezwungen wurde und im Verlauf von nicht ganz 53 Jahren unter die alleinige Herrschaft der Römer fiel« (Hist. VI/2/1 8).72 Er erklärt dies mit der Mischverfassung der römischen Republik, der Mischung von Demokratie, Aristokratie und Monarchie durch Volksversammlung, Senat und Konsuln, ihrer besonderen Stabilität und Vorzugswürdigkeit. Damit eng verbunden ist Polybios' Theorie der anakyklosis, des Aufstiegs- und Verfallskreislaufs aller ungemischten Verfassungen. Nur die Mischverfassung, wie sie Polybios bereits in Sparta und Karthago realisiert sah und nun in der römischen Republik perfektioniert, kann diesem natürlichen Verfassungskreislauf der ungemischten Verfassungen (zumindest zeitweise) entgehen. In der Polybios-Forschung herrscht große Uneinigkeit darüber, wie das Verhältnis zwischen Mischverfassung und dem naturnotwendigen Zyklus von Aufstieg, Blüte und Verfall aller Verfassungen gedacht werden soll, und ob es sich überhaupt um eine einheitlich konzipierte73 und konsistente Theorie handelt.74 Wichtig für unseren Zusammenhang ist aber letztlich nur, dass Cicero die Übertragung der Mischverfassungstheorie auf die römische Republik übernimmt, wenn er Scipio im ersten Buch von De re publica die Mischverfassung als die beste Verfassung auszeichnen lässt und diese in der römischen Republik realisiert sieht. Interessant ist nun, dass Cicero Polybios' Argumente für die Mischverfassung nicht vollständig übernimmt. Zwar findet sich auch die anakyklosis in De re publica und der Gedanke, dass
—————— 72 Zitiert als (Hist.) im Folgenden nach der Ausgabe Polybios: Historien, übersetzt von Karl Friedrich Eisen 1973, Stuttgart. 73 Vgl. Brink, C. O./Walbank, F.W. 1982: »Der Aufbau des Sechsten Buches des Polybios«, in: Stiewe, Klaus/Holzberg, Niklas 1982: Polybios, Darmstadt. 74 Vgl. Hahm, David E. 1995: »Polybios' applied political theory«, in: Laks, André/ Schofield, Malcolm (Hg.) 1995: Justice and Generosity. Studies in Hellenistic Social and Political Philosophy, Cambridge.
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die Mischverfassung als System der checks and balances zwischen den sozialen Faktionen und Schichten einen dauerhaften Ausgleich bietet. So verweist etwa die Verteidigung der Volkstribunen im dritten Buch von De legibus als Kompromiss zwischen Nobilität und Plebs auf ein solches Balancierungs- und Stabilitätsargument (Vgl. Leg. III/24 313).75 Aber die römische Mischverfassung hat doch – wie ich im nächsten Kapitel noch genauer herausarbeiten werde – für Cicero noch einen höheren Adel und erschöpft sich nicht in diesem profan-pragmatischen Interessenausgleich des Polybios. Die römische Republik und ihre Mischverfassung sind der historisch gewachsene und in Institutionen geronnene Ausdruck des Naturrechts. Das ist die Ciceronische Apotheose der römischen Republik. Hierfür wird man wohl zunächst die stoische Philosophie in Anschlag bringen dürfen und damit Panaitios. Leider sind uns dessen Schriften nur in einigen Fragmenten erhalten geblieben und wir müssen durch Ciceros Schriften, insbesondere durch De officiis,76 auf das Werk des Panaitios zurückschließen. Bevor wir uns Panaitios zuwenden, möchte ich kurz den Charakter der hellenistischen Philosophie etwas beleuchten. Die hellenistische Philosophie ist generell geprägt durch die Schulbildung, wobei hier vor allem Akademie, Peripatos, Stoa und Epikureer zu nennen sind. Das Zentrum der hellenistischen Philosophie ist weiterhin Athen, auch wenn sich nach dem Tod Alexanders des Großen und des Aristoteles in den nun entstehenden Diadochenreichen im 3. Jh. v. Chr. weitere wissenschaftliche Zentren, zum Beispiel in Alexandria, bilden. Die Schulbildung führt dazu, dass insbesondere in der Stoa und noch mehr bei den Epikureern ein ausgesprochener Dogmatismus um sich greift. Dagegen behält der Peripatos den lockeren und pragmatisch-empirischen Systembegriff des Aristoteles bei, der jeder Einzeldisziplin ihr Eigenrecht und ihre individuelle Entwicklung zugesteht. Die platonische Akademie schließlich verbindet sich spätestens mit Übernahme des Scholarchats durch Arkesilaos mit der Skepsis. Die hellenistische politische Philosophie scheint durchaus vielfältig gewesen zu sein. Neben der uns interessierenden Mischverfassungstheorie hat es eine Reihe von platonisch imprägnierten Schriften über das Königtum gegeben, ähnlich den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fürsten-
—————— 75 Im Folgenden zitiert als (Leg.) nach der Ausgabe Cicero: De legibus/Über das Gesetz, in: Cicero. Staatstheoretische Schriften, herausgegeben von Konrat Ziegler 1988, Berlin. 76 Im Folgenden zitiert als (Off.) nach der Ausgabe Cicero: De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln, herausgegeben von Heinz Gunermann 1976, Stuttgart.
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spiegeln, und Schriften einer durch Epikur inspirierten Vertragstheorie. Die Quellenlage ist hier, wie überhaupt im Hellenismus, dürftig, wenn nicht noch schlechter als üblich.77 Die berühmte Philosophengesandtschaft 155 v. Chr. in Rom und die in diesem Zusammenhang gehaltene Rede des Akademikers Karneades, der zunächst für und dann gegen die Gerechtigkeit argumentiert, hat ihren Niederschlag im dritten Buch von De re publica gefunden, in dem der sich sträubende Philus die Argumente des Karneades vertreten muss (Vgl. Rep. III). Hier haben wir mit der Philosophengesandtschaft eine zweite Schnittstelle zwischen Athen und Rom; und es zeigt den tiefen Eindruck, den dieses Ereignis auf die Römer gehabt hat, dass Cicero noch rund einhundert Jahre später sich veranlasst sieht, dieses Ereignis in seiner politischen Philosophie zu verarbeiten. Der alte Cato sah damals in der durch diese Philosophengesandtschaft ausgelösten Begeisterung für griechische Philosophie, insbesondere bei der römischen Jugend, die Unterwanderung der römischen Werte und Sitten und prophezeite den Niedergang der Republik.78 Nichts war mehr selbstverständlich, alles konnte hinterfragt und als falsch erwiesen werden, wenn es erst einmal im Lichte griechischer Philosophie und Aufklärung betrachtet wurde. Strasburger übertreibt sicher nicht, wenn er erklärt, dass diese »Annahme griechischer Bildung durch die römische Oberschicht im 2. und 1. Jh. v. Chr.« ein Vorgang von »größter weltgeschichtlicher Wirkung« war.79 Auch Cicero hat sich durch die akademische Skepsis prägen lassen. Formal hat er Karneades Methode der Argumentation in utramque partem übernommen. Allerdings ist sein Skeptizismus moderater Natur, worin er vermutlich dem moderaten Skeptizismus des Akademikers Philon von Larissa folgt, mit dem er persönlich in Rom um das Jahr 88 v. Chr. zusammentraf. Inhaltlich wird die Indifferenz des Karneades für oder gegen die Gerechtigkeit in De re publica eindeutig zurückgewiesen und damit die radikale akademische Skepsis, wie sie wohl dann der Schüler des Karneades, Kleitomachos vertrat. Hier scheint vielmehr die stoische Philosophie Cicero einen festen Halt zu liefern, mit ihrem aus der Vernunft des Men-
—————— 77 Ich kann hier auf die Vielfalt der hellenistischen politischen Philosophie nicht weiter eingehen. Vgl. den Überblick von Schofield, Malcolm 1999: »Social and Political Thought«, in: Algra, Keimpe/Barnes, Jonathan/Mansfeld, Jaap/Schofield, Malcolm (Hg.) 1999: The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Cambridge. 78 Vgl. Klingner, Friedrich 1941: »Cato Censorius und die Krisis Roms«, in: ders. 1941: Römische Geisteswelt, München. 79 Strasburger 1966, S. 61.
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schen, die diesen mit den Göttern vereint, abgeleiteten Naturrecht. Bereits in Zenons Schrift über den Staat – die im Übrigen recht eigenwillige und äußerst freigeistige Ausführungen über Inzest, Päderastie und Kannibalismus enthalten haben muss – finden wir diesen zentralen Gedanken der Stoa angedeutet. So berichtet uns Plutarch, dass Zenon gelehrt habe, dass »wir alle Menschen als Mitglieder unserer Gemeinde« ansehen sollten, »und es sollte eine Art zu leben und eine Ordnung geben« (L/S 67/A 513).80 Hier ist der häufig Zenon zugeschriebene Kosmopolitismus zu erahnen, wobei unklar bleibt, wie dieses Fragment bei Plutarch zu interpretieren ist. Jedenfalls finden wir nach der Überlieferung des Marcianus dann bei der zweiten Gründungsfigur der Stoa, Chrysipp, bereits den Gedanken voll entfaltet, den Cicero im ersten Buch von De legibus zur Herleitung des Rechts anführt (Vgl. Leg. I/7 225). »Chrysipp beginnt in dem Buch, was er Über das Gesetz verfasste, so: ›Das Gesetz ist der König aller Dinge, der göttlichen wie der menschlichen. Es muß allem Rechtschaffenen und Schändlichen vorstehen, als Herrscher und als Führer, und muß demgemäß die Richtschnur des Gerechten und Ungerechten sowie dasjenige sein, was den von Natur aus politischen Lebewesen gebietet, was zu tun, und verbietet, was zu lassen ist‹« (L/S 67/R 517). Das ist sicherlich der zentrale stoische Gedanke, den Cicero dann von dem Stoiker Panaitios übernimmt und mit der politischen Theorie der Mischverfassung des Polybios und deren Übertragung auf die römische Republik verbindet: Die römische Republik als Mischverfassung, die nicht nur äußerst stabil und erfolgreich ist, sondern auch Ausdruck des ewigen Naturrechts, das die Menschen Kraft ihrer Fähigkeit zu ratio et oratio mit den Göttern verbindet. Die Philosophie des Panaitios wird vermutlich über dessen Schüler Poseidonios, der neben zahlreichen philosophischen Schriften auch die Historien des Polybios weiterführte, auf Cicero gewirkt haben. Cicero hat ihn 77 v. Chr. auf Rhodos besucht und sich als seinen Schüler bezeichnet.81 Daneben kommt in dem angeführten Chrysipp-Fragment ein weiterer Zug der hellenistischen Philosophie zum Vorschein, ihr Hang zum Eklektizismus. War sie auch zunächst streng nach Schulen getrennt, so fällt doch auf, dass sich ähnliche Argumente und Begriffe in allen Schulen finden,
—————— 80 Fragmente der hellenistischen Philosophen werden im Folgenden zitiert als (L/S) nach der Edition von Long, A. A./Sedley, D. N. (Hg.) 2000: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, Stuttgart. 81 Vgl. zu Poseidonios die grundlegende Arbeit von Reinhardt, Karl 1921: Poseidonios, München und Malitz, Jürgen 1983: Die Historien des Poseidonios, München.
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und dass hier wohl ein reger Austausch zwischen den Schulen in Athen geherrscht haben muss. Chrysipp verweist auf die politische Natur des Menschen und Panaitios mag in ähnlicher Weise argumentiert haben. Es liegt nahe, hierin den Einfluss des Peripatos und damit des aristotelischen zoon politikon zu sehen (Vgl. Pol. I 1235a). Peter Steinmetz vermutet jedoch, dass Panaitios womöglich stärker auf den Trieb nach Selbst- und Arterhaltung als Ursache des Staates verwiesen habe und auf den Schutz des Eigentums als Staatszweck.82 Diese These lässt sich nicht von der Hand weisen, wenn man an das primäre Staatsziel des Eigentumsschutzes denkt, auf das Cicero im zweiten Buch von De officiis im Anschluss an Panaitios abhebt (Vgl. Off. II/73 209). Hierin wurde eine Kontamination der aristotelischen Naturrechtslehre durch die Stoa und Cicero gesehen.83 Nach meinem Dafürhalten lässt sich aber Ciceros beziehungsweise Scipios Berufung auf den »natürlichen Gesellschaftsgeist« und die »zur Gerechtigkeit bestimmten Samen« im Menschen in De re publica nur hinreichend erklären, wenn man hier einen peripatetischen Einfluss heranzieht (Vgl. Rep. I/41 133). Dieser Einfluss wurde an dem Peripatetiker Theophrast fest gemacht.84 Ich glaube, dass man hier widersprechen muss. Eher scheint mir Dikaiarch der relevante peripatetische Autor zu sein, der in seinem Tripoliticus die spartanische Mischverfassung als vollkommene Verfassung feiert.85 Auch Polybios hatte ja neben Rom in Sparta ein weiteres Modell der Mischverfassung erblickt, was auf gewisse Verbindungslinien verweist. Daneben aber hatte Dikaiarch vor allem gegen Theophrast in den inneren Streitigkeiten des Peripatos den Vorrang des bios politikos über den bios theoretikos vertreten. Wenn man dann daran denkt, dass Cicero im Proömium zum ersten Buch von De re publica ebenfalls den Vorrang der vita activa vor der vita contemplativa vertritt und die römische Mischverfassung als
—————— 82 Vgl. Steinmetz, Peter 1994: »Panaitios aus Rhodos«, in: Flashar, Helmut (Hg.) 1994: Grundriß der Geschichte der Philosophie Bd. 4: Die Philosophie der Antike: Die Hellenistische Philosophie, Basel, S. 660. 83 Vgl. Villey, Michel 1955: »Rückkehr zur Rechtsphilosophie«, in: Büchner 1971. 84 Vgl. Frede, Dorothea 1989: »Constitution and Citizenship: Peripatetical Influence on Ciceros Conceptions in the De re publica«, in: Fortenbaugh, William W./Steinmetz, Peter (Hg.) 1989: Ciceros Knowledge of the Peripatos, New Brunswick. 85 Vgl. die Studie von Aalders, G. J. D. 1968: Die Theorie der Mischverfassung im Altertum, Amsterdam, S. 72ff.
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Idealstaat auszeichnet, so wird man nicht fehlgehen, Dikaiarch als peripatetische Quelle anzunehmen.86 Somit haben wir bisher die Übernahme der Übertragung der Mischverfassungstheorie auf die römische Republik bei Polybios, den stoischen Kosmopolitismus, die stoische Naturrechtslehre und den Eigentumsschutz bei Panaitios sowie die peripatetische Konzeption des Menschen als politisches Lebewesen und den Vorrang der Praxis vor der Theorie bei Dikaiarch als philosophische Quellen Ciceros herausgearbeitet. Wenden wir uns nun der schwierigen Frage zu, welche Rolle Platon für Ciceros politische Philosophie der Res Publica spielt? Cicero preist Platon allerorten als den größten und weisesten der Philosophen, als seinen Lehrmeister. Viktor Pöschl hat in seiner Studie zur Verbindung von griechischer Staatsphilosophie und dem Staatsdenken Ciceros Platon aus diesem Grund die Hauptrolle zugewiesen.87 Zweifellos hat die Mischverfassungstheorie, die Platon in seinem Spätwerk über die Gesetze vertritt, auf Aristoteles, Dikaiarch, Polybios und wohl auch Panaitios, der ebenfalls die Mischverfassung als beste Verfassung pries,88 eingewirkt.89 In dieser Hinsicht findet sich in Ciceros politischer Philosophie also sicher ein platonischer Einfluss. Auch Ciceros moderater Skeptizismus trägt einen platonisch-akademischen Zug, der durch den aporetischen Charakter der frühen platonischen Dialoge bedingt sein mag. Besonders schwer wiegt zudem die Parallele, die Cicero zwischen Platons Politeia und Nomoi und seinen Schriften De re publica und De legibus im ersten Buch von De legibus zieht. Dort lässt er seinen Freund Atticus – der übrigens Epikureer war, was Cicero philosophisch überhaupt nicht behagte, mit dem er aber dennoch lebenslang befreundet war – unwidersprochen feststellen: »Nachdem du also über die beste Form des Staates geschrieben hast, scheint es folgerichtig, daß du auch über die Gesetze schreibst. Denn so, sehe ich, hat es dein Platon gemacht, den du bewunderst, allen anderen vorziehst und am meisten liebst« (Leg. I/5 121). War Cicero also tatsächlich Platoniker? Ich denke, dass man Cicero einen »formaler Platoniker« nennen könnte. Platon dient ihm formal als literarisches Modell, in der Dialogform, im Stil und in
—————— 86 Ich stimme hierin mit Reimar Müller überein. Vgl. Müller, Reimar 1989: »Das Problem Theorie-Praxis in der Peripatos Rezeption von Ciceros Staatsschrift«, in: Fortenbaugh/ Steinmetz 1989. 87 Vgl. Pöschl, Viktor 1962: Römischer Staat und griechisches Staatsdenken bei Cicero, Darmstadt. 88 Vgl. Steinmetz 1994, S. 660. 89 Vgl. Aalders 1968.
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der Verbindung von Staatsschrift und Gesetzesschrift. Inhaltlich dagegen scheinen mir die Abweichungen von Platons politischer Philosophie bei Cicero größer zu sein als die Übereinstimmungen. Schon im Dialog über den Redner beklagt er die platonisch-sokratische Trennung »zwischen Zunge und Gehirn, die dazu führte, dass uns die einen denken und die anderen reden lehrten« (De O. III/61 485).90 Schließlich zeigt sich die bewusste inhaltliche Abweichung Ciceros in aller Deutlichkeit in De re publica. Dort lässt Cicero Laelius zu Scipio über Platon sagen: »Jener Geistesfürst, den niemand im Schreiben übertraf, nahm sich einen Platz, um auf ihm einen Staat nach seinem Gutdünken aufzurichten, der vielleicht von seinem Standpunkt aus vorzüglich ist, aber dem Leben der Menschen und ihren Sitten entrückt, die übrigen haben ohne jede feste Idee und Gestalt eines Gemeinwesens über die Arten und die Grundbegriffe der Staaten Erörterungen geführt; du [Scipio, P.H.] bist dabei, scheint mir, beides zu tun: du hast es nämlich so angelegt, dass du lieber anderen zuschreiben willst, was du selber findest, als es selbst auszudenken, wie es Sokrates bei Platon macht, und jenes über die Lage der Stadt, was von Romulus durch Zufall oder Notwendigkeit getan worden ist, auf die Vernunft zurückführst und dass du nicht in einer im leeren Raum schweifenden Rede die Gedanken vorträgst, sondern in einer, die fest an ein bestimmtes Gemeinwesen verhaftet ist« (Rep. II/22 191). Hier klingt doch recht offensichtlich die Kritik des Aristoteles an Platons politischer Philosophie an (Vgl. Pol. II.). Inhaltlich scheint mir Ciceros politische Philosophie der Res Publica sicher nicht platonisch geprägt. Vielmehr scheint Platon für Cicero lediglich das formale Modell für das Philosophieren schlechthin und damit auch für die politische Philosophie zu sein. Inhaltlich dagegen dürfen wir abschließend für die geistesgeschichtliche Konstellation, aus der heraus die erste politische Philosophie des Republikanismus hervorgeht, Folgendes festhalten: In ihr verbindet sich die Mischverfassungstheorie des Polybios, der stoische Kosmopolitismus und die stoische Naturrechtslehre des Panaitios sowie die wohl über Dikaiarch vermittelte peripatetische Auffassung des Menschen als eines zoon politikon und des Primats der Praxis. Diese inhaltliche Konstellation greift Cicero in der Krise der späten Republik auf, die von den Auseinandersetzungen zwischen Optimaten und Popularen um eine Reform der Landverteilung geprägt ist und in der immer wieder Einzelne, wie Cäsar, aus der Nobilität
—————— 90 Zitiert als (De O.) nach der Ausgabe Cicero: De oratore/Über den Redner, herausgegeben von Harald Merklin 1976, Stuttgart.
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versuchen, die Macht über das römische Imperium an sich zu reißen. Er verbindet diese philosophischen Stränge zu einer ganz eigenen politischen Philosophie und überträgt diese auf die römische Republik, die ihm – mit der Absicht, sie zu verteidigen – zum realexistierenden Idealstaat wird: Das ist die Ciceronische Apotheose der römischen Republik.
I.2 Die Apotheose der römischen Republik: Ciceros politische Philosophie Selten ist eine historische Figur, die nicht einmal zu den großen Schlächtern der Geschichte zählt, ganz im Gegenteil sogar bewusst Zivilist war, durch die Nachgeborenen vernichtender abgeurteilt worden, als es Cicero durch Mommsen geschehen ist. Ihre Schärfe und dauerhafte Wirkung gewann Mommsens Polemik wahrscheinlich nicht zuletzt durch ihre literarische Qualität, die ihm schließlich den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Ganz gewiss aber lässt sie sich aus Mommsens politischer Situation als frustrierter 48er erklären, der in Cäsar seine Sehnsucht nach einer nationalen Einigungsfigur hinein projizierte und dem Cicero folglich als reaktionärer Verhinderer dieser Einigung erscheinen musste.91 Mommsen schimpft Cicero daher auch »einen Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht«, »einen kurzsichtigen Egoist«, der »als Schriftsteller […] vollkommen ebensotief wie als Staatsmann« stehe, »so durchaus Pfuscher« sei, »eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes«, »an Gedanken über alle Begriffe arm«, »matt und leer, wie nur je die Seele eines aus seinen Kreisen verschlagenen Feuilletonisten«, von »schwach überfirnisster Oberflächlichkeit« und dergleichen mehr.92 Davon hat sich Cicero nicht mehr erholt.93 Auch wenn von philologischer Seite versucht wurde, ein neues Cicerobild94 zu etablieren, so hat doch Mommsens Polemik, verbunden mit dem allmählichen Absterben des Humanismus, bis heute Wirkung gezeigt und in der politischen Philosophie zu einem weitgehenden Desinteresse an Cicero
—————— 91 Vgl. Gundolf, Friedrich 1926: Cäsar im neunzehnten Jahrhundert, Berlin, S. 57ff. 92 Vgl. Mommsen, Theodor 1904: Römische Geschichte, Bd. 3, Berlin, S. 617-621. 93 Vgl. Boyance, Pierre 1973: »Das Ciceroproblem«, in: Kytzler, Bernhard (Hg.) 1973: Ciceros Literarische Leistung, Darmstadt. 94 Vgl. den Sammelband Büchner 1971.
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geführt.95 Angesichts dieser modernen Rezeptionsgeschichte soll im Folgenden ein Kontrapunkt gesetzt werden, ohne damit im Umkehrschluss in eine unkritische Hagiographie Ciceros zu verfallen. Bis mindestens ins 18. Jh. kann Cicero als einer der einflussreichsten, wenn nicht gar als der einflussreichste antike Autor – noch vor Platon und Aristoteles – gelten. Sein Einfluss auf die lateinisch-mittelalterliche Welt, auf die italienische Renaissance und den Humanismus ist kaum zu überschätzen;96 und noch in der Zeit der Aufklärung ist nicht nur Herders Menschenbild entscheidend durch Cicero geprägt.97 Auch in der Geschichte der politischen Philosophie ist Ciceros Einfluss auf die Naturrechtslehre, auf den Neostoizismus und die moderne Vertragstheorie unübersehbar.98 Radford geht gar soweit, zu behaupten: »We should think of Cicero as the start of modern political thought.«99 Neal Wood ist etwas vorsichtiger und zieht die Formulierung »transition to modern political thought« vor.100 Dennoch ist auch für ihn klar: »There can be no question of the importance of his transmission to the early modern era of the Stoic conceptions of natural law and justice and universal moral equality.«101 Für Wood war Cicero der erste große politische Denker, der eine formale Definition des Staates lieferte, der bereits rudimentär Staat und Gesellschaft trennte und für den der Staat in erster Linie eine Institution zum Schutz des Privateigentums war. Er nennt ihn daher auch den ersten »systematic constitutionalist«.102 Nun sind dies alles sehr weitgehende Probleme und Thesen, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht erschöpfend behandelt werden sollen. Wir wollen uns hier vielmehr auf den Republikaner Cicero konzentrieren
—————— 95 Ausnahmen bilden Wood, Neal 1988: Cicero's Social and Political Thought, Berkley und Radford, Robert T. 2002: Cicero. A Study in the Origins of Republican Philosophy, New York, sowie die Sammelbände Powell, J.G.F. (Hg.) 1995: Cicero the Philosopher. Twelve Papers, Oxford, Laks/Schofield 1995 und Richter, Emanuel/Voigt, Rüdiger/König, Helmut 2007: Res Publica und Demokratie. Die Bedeutung Ciceros für das heutige Staatsverständnis, Baden-Baden. 96 Vgl. Zielinski, Tadeusz 1912: Cicero im Wandel der Jahrhunderte, Leipzig. 97 Vgl. Klingner, Friedrich 1941: »Humanität und Humanitas«, in: ders. 1941: Römische Geisteswelt, München. 98 Vgl. Llanque, Marcus 2007: »Die politische Rezeptionsgeschichte von Cicero«, in: Richter/Voigt/König 2007. 99 Radford 2002, S. 71. 100 Wood 1988, S. 10. 101 Ebd., S. 11. 102 Ebd., S. 12.
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und fragen, was seinen Republikanismus ausmacht. Dies scheint ein lohnendes Unternehmen zu sein, da in jüngster Zeit, wie in der Einleitung dargelegt wurde, von einem »neoroman republicanism«103 die Rede ist, der dann von einem griechischen, auf Aristoteles zurückgeführten und von Hans Baron und Hannah Arendt vertretenen »civic humanism« abgegrenzt zu werden pflegt.104 Ich möchte hier kurz noch einmal an die von mir vorgenommene Unterscheidung erinnern: Der neorömische Republikanismus lässt sich zusammenfassend als institutionenorientierter Republikanismus charakterisieren. Die institutionelle Ordnung der Republik, das heißt eine balancierte Mischverfassung, und die bürgerliche Partizipation und Tugend, dient ihm zufolge als Instrument zum Schutz der Freiheit der Republik nach außen und der negativen Freiheit der Bürger im Innern. Dagegen kann der Bürgerhumanismus als bürgerorientierter Republikanismus charakterisiert werden, dem die bürgerliche Partizipation in der Republik und die bürgerliche Tugend als intrinsisches Gut gelten, als substanzieller Teil eines guten Lebens. Ich möchte im Folgenden mit dieser Unterscheidung an Cicero herantreten. Auf der einen Seite ein institutionenorientierter Republikanismus, der die negative Freiheit seiner Bürger durch eine balancierte juridisch-institutionelle Ordnung gewährleistet sieht; auf der anderen Seite ein bürgerorientierter Republikanismus, der die positive Freiheit seiner Bürger erst durch deren tugendhafte Partizipation realisiert sieht. In der Diskussion um den neorömischen Republikanismus und sein Verhältnis zum Bürgerhumanismus wird nämlich eher sporadisch oder gar nicht auf dessen römische Wurzeln eingegangen. Der Republikanismus findet aber buchstäblich seinen ersten philosophischen Ausdruck eben in den politischen Schriften Ciceros, weshalb eine Auseinandersetzung mit der Unterscheidung zwischen neorömischem Republikanismus und Bürgerhumanismus hier ansetzen muss. Nur durch diesen Rückgang auf Cicero kann geklärt werden, ob die Bezeichnung »neorömischer Republikanismus« in Abgrenzung zum Bürgerhumanismus sinnvoll und historisch tragfähig ist oder ob nicht der römische Republikanismus in seinem Ursprung selbst zugleich ein Bürgerhumanismus ist.
—————— 103 Vgl. zum neorömischen Republikanismus Skinner 1998, Pettit 1997, Laborde/Maynor 2008. 104 Vgl. zum Bürgerhumanismus Arendt 1967, Baron 1966, ders. 1992: Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance, Berlin und Hankins, James (Hg.) 2000: Renaissance Civic Humanism. Reappraisals and Reflections, Cambridge.
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Wir haben daher hier zu fragen, wie sich der römische Republikanismus im Falle Ciceros darstellt. Lässt sich dieser überhaupt vom griechischen politischen Denken trennen, dem der Bürgerhumanismus zugerechnet wird? Ist es nicht vielmehr so, dass insbesondere peripatetische und stoische Elemente in Ciceros Republikanismus eine Verbindung eingehen? Dass dem so ist, hatten wir bereits im vorherigen Kapitel gesehen. So verweist auch Rudolf Stark darauf, dass »es keinem Zweifel unterliegen« könne, »dass sich Cicero von jener bei Panaitios vorliegenden Verbindung von akademisch-peripatetischer und stoischer Philosophie […] zur Fortführung dieses Amalgamierungsprozesses in seiner Staatsphilosophie bestimmen ließ«.105 Es ist jedoch meines Erachtens überaus wichtig zu sehen, dass Cicero dieses Amalgam, also die abstrakte griechische Staatstheorie, auf die römische Republik überträgt. Diese wird ihm dadurch – so meine zentrale These – zum realexistierenden Idealstaat: eine Apotheose der römischen Republik. Diese Projektion des griechischen Idealstaats auf die römische Republik erzeugt das Originäre in Ciceros politischer Philosophie, denn es liegt auf der Hand, dass diese Projektion auf die von Cicero aufgegriffenen griechischen Konzeptionen zurückwirkte und sie inhaltlich modifizierte. Malcolm Schofield vertritt daher die These, dass Ciceros Definition der Res Publica die spezifische Funktion eines »criterion for legitimacy« habe, um zwischen legitimen und illegitimen »constitutions/politeiai/set-ups/regimes« zu unterscheiden. Dies sei »a distinctivly Roman and Ciceronian input into the theory of Republicanism, not one inherited from whatever Greek models Cicero was using«.106 Wie immer man zu dieser These Schofields stehen mag – und wir werden im Folgenden auf sie zurückkommen –, so scheint mir zumindest richtig zu sein, dass Ciceros politische Philosophie nicht einfach das von Stark vertretene Amalgam griechischer Philosophie ist, sondern durch die Übertragung auf die römische Republik eine gewisse Eigenständigkeit gewinnt. Ob diese Eigenständigkeit allerdings mit der Unterscheidung von neorömischem Republikanismus und Bürgerhumanismus, also der Unterscheidung zwischen römischer Herrschaft des Gesetzes und Institutionenorientierung und der griechischen bürgerlichen Partizipation und Tugend zusammenfällt, bleibt fraglich. Klarheit kann nur die Rekonstruktion von Ciceros Republikanismus bringen, die hier angestrebt wird.
—————— 105 Stark, Rudolf 1954: »Ciceros Staatsdefinition«, in: Klein, Richard (Hg.) 1980: Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt, S. 333. 106 Schofield, Malcolm 1995: »Ciceros Definition of Res Publica«, in: Powell 1995, S. 64.
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Dazu möchte ich zunächst die nach meiner Auffassung grundlegenden Prämissen von Ciceros politischer Philosophie kurz darstellen, die bei allem Folgenden immer im Hintergrund mitgedacht werden sollten: der Primat einer theoretisch informierten Praxis und der moderate Skeptizismus (I.2.1). Im Anschluss werde ich dann die Figur des wahren Redners herausarbeiten und seine Verbindung zum vollkommenen Bürger und Staatsmann andeuten. Es handelt sich um die zentrale Figur in Ciceros politischer Philosophie, die später in Ciceros Republikanismus immer wieder, zum Beispiel als »tutor et procurator rei publicae«, auftauchen wird (I.2.2). Schließlich wenden wir uns der von Cicero Scipio in den Mund gelegten Definition der Res Publica zu und rekonstruieren von ihr ausgehend Ciceros Republikanismus, der, so die These, in einer Apotheose der römischen Republik mündet (I.2.3).
I.2.1 Grundprämissen: Primat der theoretisch informierten Praxis und moderater Skeptizismus Cicero ist ein ausgesprochener Homo Politicus, ein Mensch, der für die Politik lebt und in Gedanken immer bei der römischen Politik weilt. Philosophie – die vita contemplativa – betreibt er gewissermaßen nur als Kompensation, wenn ihm die Mitwirkung – die vita activa – an der römischen Politik durch die politischen Verhältnisse versagt ist. Seine philosophischen Schriften, gerade die der politischen Philosophie, haben somit immer eine Ausrichtung auf die politische Praxis, und noch wenn ihm die direkte Beteiligung an der Politik versagt ist, versucht er, indirekt über seine philosophischen Schriften auf sie einzuwirken. Wir können hier eine allmähliche Umkehrung der aristotelischen Rangfolge von bios politikos und bios theoretikos beobachten. Ich wage die These, dass in dieser Umkehrung bereits die ganze, besondere römische Eigenständigkeit von Ciceros politischer Philosophie beschlossen liegt, die dann auf alles weitere ausstrahlt. Zwar steht für Cicero der bios politikos nicht einfach über dem bios theoretikos. Das philosophische Wissen wird aber – wie wir noch genauer im Zusammenhang mit der Figur des wahren Redners sehen werden – in den Dienst der politischen Praxis genommen. So schreibt er im Proömium von De Re Publica: »Also ist jener Bürger, der alle durch Befehl und Buße der Gesetze dazu zwingt, wovon die Philosophen mit ihrem Wort nur wenige mit Mühe zu überzeugen vermögen, denen noch vorzuziehen, die diese Dinge erörtern, den Lehrern selber. Denn welche Rede dieser Leute ist so erlesen,
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dass sie einem durch das öffentliche Recht und die moralische Ordnung wohl gefügten Staate vorzuziehen wäre?« (Rep. I/3 91). Für Cicero gilt der Primat einer theoretisch informierten Praxis, was hier nicht nur meint, der Primat der praktischen Philosophie, sondern der Primat der tatsächlichen politischen Praxis, das Leben als aktiver Bürger in der Wirklichkeit einer gerechten Republik. Es deutet sich hier bereits an, dass die Unterscheidung von neorömischem Republikanismus und Bürgerhumanismus im Hinblick auf den römischen Republikaner Cicero zumindest fragwürdig ist. Mit diesem Primat einer theoretisch informierten Praxis scheint mir nun Ciceros moderater Skeptizismus verbunden, da in ihm eine, den Unwägbarkeiten der politischen Praxis gegenüber, offene Haltung zum Ausdruck kommt. »Wie die übrigen sagen, es sei das eine bestimmt, das andere unbestimmt, so sagen wir, anderer Meinung als diese, es sei das eine wahrscheinlich, das andere dagegen nicht« (Off. I/7 147). Das ist der durch Philon von Larissa geprägte akademische Zug in Ciceros Denken, die Orientierung an dem, was wahrscheinlich (probabile) ist und die Ablehnung sowohl des Dogmatismus, zu dem sich der Schüler Philons, Antiochos von Askalon, mit seiner »Alten Akademie« zurückwandte, als auch des radikalen Skeptizismus eines Karneades und Kleitomachos. Politisch äußert sich dies in einer urbanen, liberal-konservativen und dem Kompromiss geöffneten, zur Revision der eigenen Überzeugungen bereiten Einstellung, die sich in der öffentlichen Auseinandersetzung auch eines Besseren belehren lässt, »weil ebendiese Wahrscheinlichkeit nicht ans Licht treten könnte, wenn nicht von beiden Seiten ein Wettbewerb der Argumente durchgefochten würde« (Off. I/8 149). Sie wird aber nicht durch einen radikalen Zweifel handlungsunfähig und prinzipienlos. »Wir sind ja keine Leute, deren Geist irrend umherschweift und nie eine Richtschnur kennt, der er folgen könnte. Denn was wäre das für eine geistige Haltung oder vielmehr für eine Lebenseinstellung, wenn nicht nur die Methode der Erörterung, sondern auch die der Lebensgestaltung beseitigt wäre« (Off. I/7 147). Was wahrscheinlich ist beziehungsweise sich bewährt hat – hier lässt sich wohl Ciceros Konservatismus verorten, die Orientierung am mos maiorum – kann und sollte unter Aufwendung aller Mittel der öffentlichen Redekunst verteidigt werden.107 Dies sind die Grundprämissen von Ciceros politischer
—————— 107 Vgl. zum Skeptizismus Gawlick, Günter/Görler, Woldemar 1994: »Cicero«, in: Flashar, Helmut (Hg.) 1994: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike Bd. 4: Die hellenistische Philosophie, Basel, bei denen allerdings eine Erörterung der politischen Philosophie fehlt.
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Philosophie, der Primat einer theoretisch informierten Praxis vor der Theorie und der moderate Skeptizismus, die Orientierung am Wahrscheinlichen.
I.2.2 Der wahre Redner als Optimo Cive Bei der hier durchzuführenden Rekonstruktion von Ciceros Republikanismus möchte ich mich auf die nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich eng zusammenhängenden Dialoge De oratore, De re publica und De legibus konzentrieren, wobei gelegentlich die spätere Schrift De officiis ergänzend hinzugezogen wird. Wenden wir uns aber zunächst Ciceros Ideal des wahren Redners zu. Da das Leben als aktiver Bürger und Politiker für Cicero, wie wir gesehen haben, die höchste Lebensform ist, ist für ihn der wahre Redner zugleich der vollkommene Bürger und Politiker.108 Um aber diese vollkommene Redekunst zu erreichen, muss der Redner für Cicero universal gebildet sein. Das ist Ciceros hohes, humanistisches Ideal, und das ist auch die zentrale These von De oratore, die Cicero im Proömium gegen seinen Bruder Quintus vertritt. »Zuweilen pflegst du auch in unseren Gesprächen über dieses Thema anderer Auffassung als ich zu sein; denn während ich behaupte, die Kunst der Rede setzt höchste Bildung auf wissenschaftlichem Gebiet voraus, meinst du, sie sei von den Feinheiten der Theorie zu trennen und gewissermaßen auf Begabung und praktische Übung zu gründen« (De O. I/5 45). Ciceros Position im Dialog, das darf man mit einiger Sicherheit annehmen, vertreten die von ihm bewunderten Crassus und Antonius. Crassus beginnt sein Lob des universal gebildeten Redners mit einer in Ciceros gesamtem Werk grundlegenden Bestimmung des Menschen, den wesentlich ratio et oratio auszeichne. »Dies eine ist doch unser wesentlicher Vorzug vor den Tieren, daß wir miteinander reden und unseren Gedanken durch die Sprache Ausdruck geben können« (De O. I/32 59). Cicero versucht, durch die Verbindung dieser Wesensbestimmung des Menschen mit der Notwendigkeit des Wissens für den Redner, die Rhetorik gegen Platons Verurteilung derselben als sophistischem Trug wieder zu rehabilitieren. Er beklagt die von Platon Sokrates zugeschriebene Trennung »zwischen
—————— 108 Vgl. Ferrary, Jean-Louis 1995: »The statesman and the law in the political philosophy of Cicero«, in: Laks/Schofield 1995, der zu Recht darauf hinweist, dass das Thema von De re publica nicht nur das vollkommene Gemeinwesen (optimus status), sondern auch der vollkommene Bürger (optimo cive) sei.
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Zunge und Gehirn, die dazu führte, daß uns die einen denken und die anderen reden lehrten« (De O. III/61 485). Der vollkommene Redner, da er über das nötige Wissen verfügt, ist für Cicero der sachkundige und ethische Redner, womit er Platons Sophismusvorwurf unterläuft. Er ist für ihn damit zugleich der vollkommene Bürger und Staatsmann (optimo cive), sogar ein Staatsgründer, wozu er sowohl das Wissen als auch die Kunst der Rede benötigt, beide verschmelzen geradezu. Das ist die theoretisch informierte Praxis, von der zuvor die Rede war. »Wer sollte darum nicht mit Recht bewundernd daran denken und es der höchsten Mühe Wert erachten«, lässt Cicero Crassus fragen, »in dem einen Punkt, in dem die Menschen einen wesentlichen Vorzug vor den Tieren haben, die Menschen selbst zu übertreffen? Ja, welche Macht sonst, um zum Allerwichtigsten zu kommen, vermochte die zerstreuten Menschen an einem Ort zu versammeln, sie von einem wilden und rohen Leben zu unserer menschlichen und politischen Gesittung hinzuführen oder schon bestehenden Staatswesen die Gesetze, Gerichte und Rechtsnormen vorzuschreiben?« (De O. I/33 61). Crassus΄ Antwort kann uns nun nicht überraschen, denn er behauptet, »daß sich auf das Walten und die Klugheit des wahren Redners nicht nur sein eigener Rang, sondern auch das Wohl der meisten Privatpersonen und des gesamten Staats entscheidend gründet« (De O. I/34 61). Das ist sicher das Bild, das Cicero gerne seinen Lesern von sich selbst einprägen möchte. Seine Crassus in den Mund gelegte formale Definition, mit der er auch sich selbst beziehungsweise sein Ideal beschreibt, lautet, dass der Titel des Redners nur dem zukommt, »der über jedes Thema, das in Worten zu entwickeln ist, sachkundig, wohlgegliedert, wirkungsvoll, aus dem Gedächtnis und mit angemessener Würde des Vortrags reden kann« (De O. I/64 79). Was umfasst aber nun die nötige Sachkunde des Redners? Idealiter ist wohl für Cicero das gesamte philosophische Wissen, alles, was wahrscheinlich ist, vom vollkommenen Redner anzustreben, und er selbst ist ja das beste Beispiel für diesen titanischen Versuch. Es gibt aber doch pragmatische Gewichtungen. Crassus unterscheidet im ersten Buch prinzipiell drei Teile der Philosophie, »die Erforschung des geheimen Wesens der Natur, die feine Kunst der Dialektik und die Lehre von der Lebensführung und den Sitten« (De O. I/68 81). Man erkennt hier die stoische Gliederung der Philosophie in Physik, Logik und Ethik. Im Hinblick auf Ciceros Praxisorientierung liegt auf der Hand, welchem Wissensgebiet die größte Wichtigkeit zukommt. »Der Redner muß sich«, so Crassus, »über den gesamten Bereich, der von der Lebensführung und den Sitten handelt, gründ-
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lich unterrichten; die übrigen Bereiche kann er, wenn er sie auch nicht studiert hat, trotzdem wirkungsvoll darstellen, falls es einmal nötig ist, wenn man ihm nur entsprechende Angaben und Hinweise gibt« (De O. I/69 81). Der Gedanke scheint zu sein, dass der Redner ein aktiver Bürger, ein Mann des Forums ist. Um hier zu bestehen, ist es für Cicero essenziell, das Recht und die Sitten zu kennen, auch die inneren Beweggründe der Menschen, denn Fragen des richtigen Handelns, des Rechts und der Gerechtigkeit bestimmen die politische Öffentlichkeit. Naturwissenschaftliche Fragen oder gar abstrakte Diskussionen über Gesetze der Logik werden hier wohl eher selten auftreten, und wenn doch einmal, dann kann sich der Redner zur Not bei einem Experten informieren. Dies sind die Verbindungsfäden, die vom Dialog über den Redner zu den Dialogen über das Gemeinwesen und die Gesetze, sowie dem Brief an seinen Sohn über die Pflichten führen: der wahre Redner als vollkommener Bürger, Staatsmann, gar Staatsgründer, der zumindest um Recht und Sitten weiß, sich aber prinzipiell universell bilden sollte.
I.2.3 Die Apotheose der römischen Republik Ciceros Schrift De re publica, der wir uns nun zuwenden wollen, hat eine äußerst komplizierte Rezeptionsgeschichte hinter sich. Irgendwann in der Spätantike muss sie verloren gegangen sein. Einzelne Teile wurden uns aber etwa durch Laktanz und Augustinus überliefert. Über lange Zeit war jedoch nur der »somnium scipionis« vollständig bekannt. Erst 1820 wurde der Text als Palimpsest in der Vatikanischen Bibliothek wieder entdeckt und ist bis heute nicht vollständig rekonstruiert. Die Schwierigkeiten, die sich daraus für eine Interpretation ergeben, sind offensichtlich und brauchen nicht im Einzelnen erörtert zu werden. Ich möchte mich auf die, soweit in der jetzigen Form erkennbar, zentralen Gedanken und Definitionen beschränken. Das Proömium, das wohl den Bruder Quintus adressierte, begann wahrscheinlich mit einem Lob der virtus und dem Leben für das Gemeinwesen im Gegensatz zum am Genuss orientierten Privatleben, womit Cicero seine philosophischen Hauptfeinde, die Epikureer angreift. Im nächsten Schritt folgt der bereits referierte Vorrang der Praxis vor der Theorie. An einen aristotelischen Gedanken gemahnend, erklärt Cicero, dass das Ziel der virtus »ganz in der Betätigung ihrer selbst« liege. »Ihre größte Betätigung aber ist die Lenkung des Staates« (Rep. I/2 89), denn »es
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gibt nichts, wobei menschliche Vollkommenheit näher an der Götter Walten heranreicht, als neue Staaten zu gründen oder bereits gegründete zu bewahren« (Rep. I/12 101). In der Krisensituation der späten Republik schreibt sich Cicero selbst diese virtus und die Bewahrung der Republik gegen Catilina zu. Im Dialog lässt er aber den berühmten jüngeren Scipio, der selbst noch zu den von Cicero bewunderten Politikern der für ihn guten Tage der Republik zählt, kurz vor seinem Tod – man beachte diesen Kontext des Dialogs – über die Res Publica sprechen. Nachdem Laelius zu Beginn des Dialogs den jüngeren Zuhörern nochmals eindringlich ins Gewissen geredet hat, sich nicht durch theoretische Fragen von der politischen Praxis ablenken zu lassen, bittet er Scipio darzulegen, »welches nach seiner Ansicht der beste Zustand des Staates (optimum statum civitatis) ist« (Rep. I/33 125). Damit ist das zentrale Thema des Dialogs benannt, und Scipio lässt sich nach einigem Bitten dazu überreden, seine Meinung darüber darzulegen. Er beginnt seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass er »nicht […] zufrieden« sei mit dem, »was uns die größten und weisesten Männer aus Griechenland geschrieben hinterlassen haben« (Rep. I/36 129). Scipio möchte wie einer der »Männer in der Toga« (ebd.) über diese Fragen sprechen, also wie ein Angehöriger der römischen Nobilität, der aber über die griechischen Lehren unterrichtet ist. Hier zeigt sich Ciceros Anspruch, nicht einfach griechische Lehren zu amalgamieren und zu wiederholen, sondern durchaus eigenständig aus römischer Perspektive weiterzuentwickeln. Scipio beginnt mit einer Definition der Res Publica, da sonst »niemals nämlich wird eingesehen werden könne, wie jenes beschaffen ist, worüber gesprochen wird« (Rep. I/38 131). Seine berühmte Definition lautet: »Es ist also […] das Gemeinwesen die Sache des Volkes (res publica res populi), ein Volk aber nicht jede zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge (coetus multitudinis), die in der Anerkennung des Rechts (iuris consensu) und der Gemeinsamkeit des Nutzens (utilitatis communione) vereinigt ist (sociatus)« (Rep. I/39 131). Wir wollen nun, ausgehend von dieser Definition, Ciceros Republikanismus herausarbeiten. Man könnte die Definition zunächst so umschreiben, dass sich die Res Publica über das Volk definiert, dieses aber wiederum über rechtlichen Konsens und gemeinsamen Nutzen. Es fällt dann auf, dass bei der Bestimmung des Volkes eine rechtliche und eine utilitaristische Komponente miteinander verbunden wer-
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den.109 Daher lässt sich in einer ersten Annäherung Folgendes festhalten: Die Res Publica ist etwas, das durch einen rechtlich geregelten Kooperationszusammenhang und damit durch das daran beteiligte und zugleich dadurch konstituierte Volk hervorgebracht wird. Wo kein rechtlich geregelter Kooperationszusammenhang, so der Umkehrschluss, da ist kein Volk und somit keine Res Publica. Schließlich wird diese Res Publica und ihre Bürgerschaft nicht durch eine ethnische Volkszugehörigkeit oder ein Territorium hervorgebracht, sondern einzig durch iuris consensu und utilitatis communione. Die Römer pflegten, ähnlich der griechischen koinonia ton politon, ein personales Staatsverständnis, das in der berühmten Formel senatus populusque Romanus (SPQR) zum Ausdruck kommt. Suerbaum nennt den römischen Staat deshalb auch einen »Personenverbandsstaat« und Cicero schließt sich zweifellos diesem Staats- und Bürgerverständnis an.110 Das heißt auch, dass nicht jeder, der zum Ethnos gehört oder sich auf römischem Territorium befindet, Bürger ist und zum Volk gehört (zum Beispiel Frauen, Sklaven). Der Status des Bürgers ist ein politisch-legaler Status, mit dem bestimmte (Freiheits-)Rechte und Pflichten verknüpft sind. Im Rahmen unserer Unterscheidung von institutionen- und bürgerorientiertem Republikanismus bedeutet das zunächst, dass Cicero die Res Publica vom Volk, das heißt von den Bürgern, her denkt. Diese verbinden sich zu einem Volk durch ein gemeinsames Rechtsbewusstsein und ein gemeinsames Interesse. Scipio verknüpft nun in einem nächsten Schritt seine Definition mit einem an Aristoteles' zoon politikon erinnernden Argument. Dieser rechtlich geregelte Kooperationszusammenhang entsteht »nicht so sehr« – aber doch ein wenig, als zweite Ursache – aus »Schwäche«, sondern hat seinen primären Grund in der »natürlichen Geselligkeit der Menschen« (Rep. I/39 131). Wie bei Aristoteles wird diese natürliche Geselligkeit des Menschen als eines staatenbildenden Wesens im Anschluss mit dem Vermögen zu tugendhaftem Handeln und zur Unterscheidung von gerecht und ungerecht verbunden. »Denn gäbe es im Menschen nicht zur Gerechtigkeit bestimmte Samen sozusagen, würde man weder irgendeine Entwicklung der übrigen Tugenden noch des Gemeinwesens selbst finden« (Rep. I/41 133). Was aber meint hier der »zur Gerechtigkeit bestimmte Samen«? Und welchen Sinn hat die utilitaristische Komponente der Definition, wenn doch
—————— 109 Vgl. Christes, Johannes 2007: »Populus und res publica in Ciceros Schrift über den Staat«, in: Richter/Voigt/König 2007. 110 Suerbaum, Werner 1961: Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, Münster, S. 4.
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scheinbar der Mensch gleichsam durch seine Natur zur rechtlich verregelten Kooperation gezwungen wird? Warum noch die Gemeinsamkeit des Nutzens? Dafür müssen wir nun auf die Schrift De officiis zurückgreifen.111 Dort versucht Cicero, an den Stoiker Panaitios anknüpfend, zu zeigen, dass Gerechtigkeit und Nützlichkeit letztlich identisch sind. Wer meine, Nützlichkeit und Gerechtigkeit liefen auseinander, der sehe »die Vorteile […] in falscher Wertung« (Off. III/36 251). Ungerechtigkeit könne nur dem Unwissenden und geistig Verwirrten »nützlich scheinen« (Off. III/34 249), wie Cicero erklärt. In Anbetracht dieser Identität von Nützlichkeit und Gerechtigkeit scheint die utilitaristische Komponente in Scipios Definition auf den ersten Blick fast überflüssig. Sie fügt der iuris consensu nichts hinzu. Doch dieser Eindruck täuscht, denn sie hat für Cicero, neben der Absicherung gegen philosophische Gegner, wie die Skeptiker Karneades und Kleitomachos, eine explanatorische Dimension. In der Anerkennung des Rechts, der Rechtsidee, findet das Gemeinwohl, die Gemeinsamkeit des Nutzens ihren zentralen Ausdruck. Dies führt uns zur stoischen Naturrechtslehre, die Cicero mit der Unterscheidung von natürlichem Gesetz (lex) und positivem Recht (jus) aufgreift. Ciceros klassisch-naturrechtliches Argument lautet: »Es besteht also, da es doch nichts Höheres gibt als die Denkkraft und sie dem Menschen sowohl wie dem Gott innewohnt, zunächst einmal zwischen Menschen und Gott die Gemeinschaft des Denkens. Denen aber, die das Denken gemeinsam haben, ist auch das richtige Denken, die absolute Vernunft, gemein; da dies das Gesetz ist, müssen wir Menschen auch durch das Gesetz als mit den Göttern verbunden gelten. Unter denen sodann, unter welchen Gemeinschaft des Gesetzes besteht, besteht auch Gemeinschaft des Rechts. Diejenigen aber, die dies gemein haben, müssen als Bürger desselben Staates gelten. Wenn sie aber denselben Befehlen und Gewalten gehorchen, dann noch viel mehr. Sie gehorchen aber dieser himmlischen Ordnung, dem göttlichen Geist und dem allgewaltigen Gott, so dass denn dieses gesamte Weltall als ein einziger, Götter und Menschen gemeinsamer Staat anzusehen ist« (Leg. I/7 225).112 Der Mensch verfügt über Vernunft
—————— 111 Vgl. zu dieser Schrift den Überblick bei Long, A. A. 1995: »Cicero's Politics in De officiis«, in: Laks/Schofield 1995. 112 Vgl. dazu Horn, Christoph 2007: »Gerechtigkeit bei Cicero: kontextualistisch oder naturrechtlich«, in: Richter/Voigt/König 2007 und Grimal, Pierre 1988: Cicero. Philosoph, Politiker, Rhetor, München, S. 343ff.
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und damit über die Fähigkeit der Einsicht in die vernünftige, ewige, göttliche Struktur der Natur. Diese wiederum hat ihm, der sich wesentlich durch die Komponenten natürliche Geselligkeit und ratio et oratio definiert, Gesetze für allen menschlichen Verkehr implementiert, die er Kraft seines perfektionierten Vernunftvermögens (perfecta ratio) erkennen kann und erkennen soll, will er seiner Natur gemäß leben. Eine Verfassung, die mit ihrem positiven Recht (jus) und ihren Sitten nicht im Einklang mit dem Naturrecht (lex) steht, hat für Cicero im eigentlichen Sinn gar kein Recht und ist keine Res Publica. Es »ist klar ersichtlich, dass diejenigen«, so Cicero in De legibus, »welche für die Völker verderbliche und ungerechte Verordnungen aufgezeichnet haben, […] eher alles andere gegeben haben als Gesetze, woraus deutlich zu erkennen ist, dass schon, wenn man das Wort ›Gesetz‹ erklärt, in ihm der Sinn und die Bedeutung liegt, das Gerechtes und Wahres gesetzt wird […] bei dessen Fehlen ein Staat eben deswegen, weil es fehlt, für keinen Staat (res publica) gelten kann« (Leg. I/12 261). Es handelt sich dann eben nur um eine Ansammlung von Menschen, die von einem Tyrannen (was bei Cicero sowohl ein Einzelner als auch das Volk sein kann113) unterdrückt und zusammengehalten wird. Hier hat Schofields criterion for legitimacy seinen Ort. Er hat insofern mit seiner These Recht, als das Naturrecht in letzter Instanz und als Quelle, sowie davon abgeleitet Scipios Definition der Res Publica, tatsächlich ein Legitimationskriterium liefern. Nur wo sich die Bürger in Anerkennung eines Rechts (jus) verbinden, das mit dem Naturgesetz (lex) übereinstimmt, kann überhaupt von Recht und Res Publica die Rede sein. Und nur dann besteht auch die Gemeinsamkeit des Nutzens, nur dann kann es ein Gemeinwohl geben. Allerdings ist dies kein originärer Gedanke Ciceros, sondern schon in Aristoteles' politischer Philosophie angelegt, auf dessen zoon politikon Cicero auch rekurriert, und dann in der stoischen Naturrechtslehre bereits voll entfaltet, die Cicero über Panaitios aufgreift. Der originäre Zug Ciceros ist vielmehr, nun dieses Naturrecht in der römischen Republik positiv verwirklicht zu sehen und ihm damit eine institutionelle Konkretion zu geben.114 Das Legitimationskriterium, ja das Naturrecht selbst ist letztlich das
—————— 113 Das heißt das Volk unterdrückt sich selbst beziehungsweise eine Mehrheit des Volkes unterdrückt eine Minderheit, ohne jede rechtliche Beschränkung, was Mill später die Tyrannei der Mehrheit nennen wird. 114 Vgl. Knoche, Ulrich 1968: »Ciceros Verbindung der Lehre vom Naturrecht mit dem römischen Recht und Gesetz«, in: Radke, Gerhard (Hg.) 1968: Cicero. Ein Mensch seiner Zeit. Acht Vorträge zu einem geistesgeschichtlichen Phänomen, Berlin, S. 38-60.
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römische Staatsrecht der alten Republik. Lex und Jus sind in der Verfassung der römischen Republik zur Deckung gelangt. Das ist die Apotheose der römischen Republik, von der zuvor die Rede war; mit ihr wird Cicero Epoche machen. Bevor wir genauer auf diese Apotheose eingehen, möchte ich einen kleinen Exkurs zum Verhältnis von stoischem Naturrecht und Kosmopolitismus und Ciceros Republikanismus einschieben. Weit ausholend beschreibt er die »Stufen menschlicher Gesellschaft« (Off. I/53 51). Die »erste« ist für ihn die »Gesellschaft der gesamten Menschheit (universi generis humani societati)«, die durch den Anteil aller Menschen an ratio et oratio, die den Menschen von den Tieren unterscheiden, hervorgebracht wird. Sie verbindet die Menschheit durch »Lehren und Lernen«, durch »das Gespräch miteinander und gegeneinander«, durch »einen ganz natürlichen Gesellschaftsgeist« (Off. I/50 49). An diese der Stoa entlehnte kosmopolitische Gesellschaft knüpft Cicero sofort gewisse Rechte und Pflichten. Einerseits Individual- beziehungsweise Menschenrechte, nämlich dass »alles, was ohne Schaden gewährt werden kann, sogar einem Unbekannten geleistet werden soll« (Off. I/51 49). Andererseits völkerrechtliche Bestimmungen über den gerechten Krieg. »Jene Kriege sind ungerecht, die ohne Grund unternommen werden: denn ohne Grund, sich zu rächen oder die Feinde zurückzuschlagen, kann kein gerechter Krieg geführt werden«. Weiter kann kein Krieg als gerecht gelten, »außer dem angesagten, erklärten« (Rep. III/35 283). Der Krieg selbst allerdings und der militärische Kampf um Hegemonie wird von Cicero nicht als Problematik empfunden. Dazu war er wohl zu sehr Römer. Vielmehr wird er das römische Recht sogar als vollkommenen Ausdruck des Naturrechts begreifen und seine Expansion über alle Völker als vernünftig, gerecht und im Interesse der eroberten Völker rechtfertigen. Eine nächste Stufe der menschlichen Vergesellschaftung, die intensiver ist als die durch die gesellige Vernunftnatur geknüpfte kosmopolitische, ist für Cicero nun die ethnische Vergesellschaftung, die durch Zugehörigkeit zum selben Stamm und derselben Sprachgemeinschaft geknüpft wird. Noch enger und die wichtigste ist für ihn aber die, »derselben Bürgerschaft anzugehören: Denn vieles ist den Bürgern gemeinsam: der Marktplatz, Heiligtümer, Säulenhallen, Straßen, Gesetze, Rechte, Gerichte, Abstimmungen, außerdem Bekanntschaften und Freundschaften sowie Geschäfts- und Handelsbeziehungen« (Off. I/53 53). Etwas später wird er seinem Sohn nahe legen, dass, wenn er alles mit Vernunft überlege, von allen Gesellschaftsbindungen »keine teurer« sei,
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als »diejenige, die ein jeder von uns zum Gemeinwesen hat« (Off. I/57 53). Auf der nächsten Stufe folgt »die Gemeinschaft der Verwandten« und schließlich endet diese Stufenfolge in der Ehe, die die »erste Gesellschaftsbildung« darstellt, dank des menschlichen »Zeugungstriebs« (Vgl. Off. I/53-54 51). Das heißt, auch wenn sich jedes politische Gemeinwesen, insofern es eine Res Publica sein will, mit seinem positiven Recht (jus) am natürlichen Gesetz (lex) orientieren muss, das die Menschen zu einer kosmopolitischen Gesellschaft verbindet, bleibt doch die Republik als politisch-institutionelle Bürgervereinigung streng von der kosmopolitischen Gesellschaft getrennt. Ciceros Kosmopolitismus ist ein moralischer Kosmopolitismus, der von der politisch-institutionellen Ebene der Republik getrennt bleibt, ihr nur als Maßstab dient. Bei Cicero verbinden sich somit ein moralischer Kosmopolitismus und ein politisch-institutioneller, auf kleine politische Einheiten begrenzter Republikanismus. Kommen wir zur Apotheose der römischen Republik zurück: Diese Apotheose der römischen Republik vollzieht nun Scipio im Anschluss an seine Definition unter Bezug auf Polybios. »Jedes Gemeinwesen, das, wie ich sagte, die Sache des Volkes ist, muß durch vernünftiges Planen (consilium) gelenkt werden, damit es dauernd ist« (Rep. I/41 135). Hier kommt also die Frage nach der Organisation der Staatsführung auf, nach der institutionellen Struktur, verbunden mit der Stabilitätsfrage. Scipio erinnert zunächst noch einmal daran, dass eine vernünftige Lenkung sich immer der »Ursachen« (ebd.) der Hervorbringung des Staats erinnern müsse. Dies können wir so verstehen, dass einerseits eine gewisse Vertrautheit mit der (römischen) Geschichte, dem Recht und den Sitten nötig ist, andererseits der Sinn der Res Publica als Sache des Volkes, welches sich durch rechtlichen Konsens und Gemeinsamkeit des Nutzens definiert, stets erinnert wird. Scipio geht dann über zu der Frage, wie denn nun die Lenkung des Staates organisiert sein solle. Sollte ein Einzelner, eine begrenzte Gruppe oder das Volk regieren? Hier greift er auf die anakyklosis des Polybios zurück, der, wie wir bereits angedeutet hatten, in seinen Historien zeigt, das Monarchie, Aristokratie und Demokratie instabile Verfassungen sind, die einander unaufhörlich im Übergang zu ihrer entarteten Form ablösen, weil die jeweils Regierenden degenerieren und ihre Macht zum eigenen Nutzen und nicht im Sinne des Gemeinwohls einsetzen. Die Größe und der Erfolg Roms beruht nach Polybios darauf, eine Mischung der drei Einzelverfassungen vorgenommen zu haben und so dem Verfassungskreislauf durch ein System der checks and balances entgangen zu sein. Scipio – und mit ihm
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Cicero – schließt sich dieser Bewertung der römischen Mischverfassung als bester Verfassung durch Polybios an: »Und so meine ich, ist eine vierte Art des Gemeinwesens (genus rei publicae) sozusagen besonders gut zu heißen, die aus diesen drei, die ich erste nannte, ausgewogen und gemischt (moderatum et permixtum) ist« (Rep. I/45 139). Aber das bei Polybios im Vordergrund stehende Kriterium für die Vorzugswürdigkeit der Mischverfassung, die wechselseitige Kontrolle der sozialen Fraktionen und Interessen, tritt bei Cicero eher in den Hintergrund. Die römische Mischverfassung ist für ihn vielmehr, was uns nicht mehr überraschen kann, Ausdruck des Naturrechts, ja der Gerechtigkeit schlechthin, insofern sie einerseits allen Bürgern rechtliche Gleichheit und Freiheit und eine gewisse Beteiligung an den politischen Entscheidungen gibt, andererseits aber die besonders Hervorragenden, ihrer Würdigkeit gemäß, mit der Lenkung des Staates betraut. Schließlich wahrt sie in den monarchieartigen Ämtern der Konsuln die Einheit und Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens und bringt damit die Eintracht aller Stände (concordia ordinum) in der Anerkennung des Rechts zum Ausdruck.115 Von Laelius gedrängt, welche von den drei einfachen Verfassungen er nächst der Mischverfassung für die beste hält, votiert Scipio nach einigem Ausweichen für das Königtum. Dieses Changieren zwischen Mischverfassung und Königtum hat bei Interpreten für große Verwirrung gesorgt. Wollte Cicero am Ende doch den Untergang der Republik und den Prinzipat? Ich denke, dass diese Frage eindeutig zu verneinen ist. Das Königtum wird zum einen als zweitbeste Form genannt, weil Rom von Königen hervorgebracht wurde und diese damit als Ursprung – trotz der Verfehlungen des Tarquinius und seines Sohnes Sextus gegenüber Lucretia – durchaus etwas Verehrungswürdiges für Cicero besitzen. Zweitens wird auf die Regierung des Kosmos durch einen Gott, Jupiter, als Analogie verwiesen, und, wiederum in Analogie dazu, auf die Regierung der Seele durch die Vernunft. Drittens kannte die Republik zum einen in den Konsuln monarchieartige Ämter und in Ausnahmesituationen gar die Diktatur auf Zeit, die jeweils die Entscheidungsfähigkeit des Gemeinwesens zentral bündelten und erhielten. Viertens schließlich zielt Cicero auf die Bedeutung des wahren Redners, Bürgers und Staatsmannes ab, der, aus der Nobilität stammend, in den ihm zugewiesenen Ämtern die Einheit und das Wohl der Res Publica bewahren soll. Dies alles verweist auf die Wichtigkeit einer tugend-
—————— 115 Vgl. dazu Gugg, Karl H. 1968: »Cicero«, in: Maier, Hans (Hg.) 1968: Klassiker des politischen Denkens, Bd. 1, München.
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haften politischen Klasse, aber nicht auf die Ablösung der Republik durch den Prinzipat. Grundsätzlich kann daher kein Zweifel an Ciceros Votum für die republikanische Mischverfassung bestehen. So beschließt Scipio das erste Buch von De re publica dann auch noch einmal, unter Verweis auf die libertas des römischen Bürgers und auf die Stabilität, mit einer Apologie der republikanischen Mischverfassung: »Es scheint nämlich richtig, daß es im Gemeinwesen etwas an der Spitze Stehendes und Königliches gibt, daß anderes dem Einfluß der fürstlichen Männer zugeteilt und zugewiesen ist und daß bestimmte Dinge dem Urteil und dem Willen der Menge vorbehalten sind. Diese Verfassung hat erstens eine gewisse Gleichheit aufzuweisen, die freie Männer kaum länger entbehren können, dann Festigkeit, weil jene ersten leicht in die entgegengesetzten Fehler umschlagen […]; dies aber kommt in dieser verbundenen und maßvoll gemischten Verfassung des Gemeinwesens fast nicht ohne große Mängel der führenden Männer vor« (Rep. I/69 171). Hier also der Verweis auf die führenden Männer, die aktiven Bürger und Staatsmänner der Nobilität, denen wir bereits in der Figur des wahren Redners begegnet sind. Scipio wird ihn im zweiten Buch den »tutor et procurator rei publicae« nennen und Cicero hat sich sicher selbst für einen solchen gehalten. »Sorgt, daß ihr diesen Mann erkennt, der ist's nämlich, der durch Rat und tätige Bemühung die Bürgerschaft zu schützen vermag« (Rep. II/51 219). Cicero versteht überhaupt die Entstehung und Entwicklung der römischen Republik als eine Abfolge von solch hervorragenden und tugendhaften Männern aus der Nobilität. So lässt er Scipio erklären, dass »unser Gemeinwesen nicht durch eines Mannes Geist, sondern vieler, nicht in einem Menschenleben, sondern in vielen Generationen und Zeitaltern aufgebaut worden sei« (Rep. II/2 175). Diese in den republikanischen Sitten und Institutionen geronnene Erfahrung macht die Vollkommenheit der römischen Republik aus, denn »kein Genie sei so groß je entstanden, […] dem keine Sache entgangen wäre und alle Begabungen zusammengehäuft vermöchten nicht so viel zu einem Zeitpunkt vorauszusehen« (ebd.). Hier kommt Ciceros Konservatismus zum Tragen, das Festhalten am Bewährten. Ähnlich wie später Machiavelli in seiner Nachfolge, verweist Cicero in diesem Zusammenhang darauf, »daß das Schicksal (fortuna) einen großen Einfluß hat, nach beiden Seiten– für Glück und Unglück– wer wüßte das nicht?« (Off. II/19 157). Während man gegen »Stürme, Unwetter« und dergleichen nichts tun könne, könne der »tutor et procurator rei publicae« das menschengemachte Schicksal durchaus beeinflussen. Dies kann ihm gelingen – hier
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nun contra Machiavelli – wenn er von der Bürgerschaft geschätzt wird und gerecht ist. Aus dem allem erhellt sich, dass Ciceros Republik eine Mischverfassung ist, die durch diese Verfassung allen »eine gewisse Gleichheit« garantiert, »die freie Männer kaum länger entbehren können«, die aber von einer Klasse von besonders hervorragenden und tugendhaften Männern geleitet werden muss. Für Cicero ist die römische Republik mit ihrer Mischverfassung deswegen »der beste Zustand des Staates (optimum statum civitatis)«, weil sie – das ist ihr demokratischer Zug – allen Bürgern einen Anteil an der Freiheit und eine grundlegende rechtliche Gleichheit gewährt. Cicero verteidigt daher gegen seinen Bruder Quintus die Volkstribunen, mit deren Institutionalisierung im Ständekampf »ein Kompromiß gefunden« wurde, durch den »die Geringeren sich den Vornehmen gleichgestellt fühlten, und dies allein bedeutete die Rettung des Staates«. Durch sie führt das Volk »keine gefährlichen Kämpfe für sein Recht. Daher durfte man entweder die Könige nicht vertreiben, oder man musste dem Volk der Sache nach, nicht nur dem Namen nach, die Freiheit (libertas) geben« (Leg. III/24 313). Die Republik wird aber dennoch zu Recht von der Nobilität geführt, weil die reine Volksherrschaft »keine Stufen der Würde kennt« und diese »Gleichmäßigkeit unbillig« sei (Rep. I/43 135). Sie sei wider das natürliche Recht. »Die Bedeutung der Obrigkeit (magistratus) besteht darin, vorzustehen und das Rechte, das Nützliche, das mit den Gesetzen im Einklang Stehende vorzuschreiben. Wie nämlich über den Obrigkeiten die Gesetze, so stehen über dem Volk die Obrigkeiten, und man kann wahrheitsgemäß sagen, dass die Obrigkeit das redende Gesetz, das Gesetz aber die stumme Obrigkeit ist. Nichts sodann ist dem Recht und der Ordnung der Natur so angemessen […] wie Herrschgewalt (imperium). […] Obrigkeiten also sind nötig, ohne deren Klugheit und Sorgsamkeit eine Bürgergemeinschaft nicht bestehen kann« (Leg. III/2 299). Die über Generationen organisch durch die tugendhafte Führung der Optimaten und den Kompromiss mit der Plebs entstandene römische Republik ist mit ihrer Mischung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie, von Konsuln, Senat und Volksversammlung und Volkstribunen, der vollkommene positiv-rechtliche Ausdruck des ewigen Naturrechts. Das ist es, was hier letztlich mit der Apotheose der römischen Republik bei Cicero gemeint ist. Cicero hat damit dem Naturrecht in der Verfassung der römischen Republik eine institutionelle Konkretion gegeben, die Epoche machen wird in der politischen Philosophie, und dort vor allem in der
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republikanischen Tradition. Sie wird schließlich, wie ich zeigen möchte, den Republikanern der italienischen Renaissance, den englischen Republikanern im 17. Jahrhundert und den Republikanern der transatlantischen Revolutionen im 18. Jahrhundert immer wieder als vorbildliches, besonders stabiles, allen Bürgern Freiheit und Gleichheit gewährendes und damit einzig legitimes Ordnungsmodell dienen.
I.2.4 Institutionenorientierter Republikaner oder Bürgerhumanist? Auf unsere eingangs aufgeworfene Frage nach der Unterscheidung von neo-römischem Republikanismus und Bürgerhumanismus kann es endlich nach dem bisher Dargelegten nur eine Antwort geben: In Ciceros politischer Philosophie, die wir als Apotheose der römischen Republik begriffen hatten, weil für ihn das Naturrecht (lex) im positiven Recht (jus) der römischen Republik verwirklicht ist, finden sich zweifellos Anklänge beider Motive. Er war ein Republikaner im Sinne des neo-römischen, institutionenorientierten Republikanismus, insofern ihm die Herrschaft des (Natur)Rechts – das gleichbedeutend mit der alten republikanischen Verfassung ist – letztes Legitimationskriterium war und die klug ausbalancierte institutionelle Struktur der Mischverfassung ein Höchstmaß an Stabilität, vor allem jedoch den Schutz der Freiheits- und Eigentumsrechte der Bürger und deren je nach Würdigkeit bemessenen Anteil an der Regierung zu gewähren schien. Er war aber auch ein Bürgerhumanist im Sinne des bürgerorientierten Republikanismus, insofern ihm die Orientierung am Recht und Gemeinwohl als Pflicht aller Bürger galt, als Konstitutionsgrundlage der Res Publica. Darüber hinaus galt ihm für den Teil der Bürgerschaft, der zur politischen Führungsklasse gehörte, die aktive und tugendhafte Teilnahme an der politischen Praxis als Pflicht, als größte Ehre und höchste Entwicklungsstufe der menschlichen Vernunftnatur. Wie Scipios Traum am Ende von De re publica deutlich macht, wird sie, wenn nicht bereits im Leben, dann zumindest im Jenseits durch einen Platz an der Seite der Götter belohnt. Vielmehr noch konnten für Cicero nur beide Motive zusammen, das juridisch-institutionelle und das bürgerhumanistische, den Idealstaat der römischen Republik hervorbringen und bewahren. Selbst die beste juridisch-institutionelle Ordnung verfällt nämlich, wenn Korruption unter den
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mit der Lenkung des Gemeinwesens Beauftragten um sich greift. Dann geht auch die an sich stabile republikanische Mischverfassung zugrunde, denn der Staatsverfall des Verfassungszyklus »kommt in dieser verbundenen und maßvoll gemischten Verfassung des Gemeinwesens fast nicht ohne große Mängel der führenden Männer vor« (Rep. I/69 171). Darum dann auch die äußerst scharfe Ermahnung an seinen Sohn in De officiis: »Es ist also kein Fehler abstoßender […] als die Habsucht, zumal bei den hochgestellten Persönlichkeiten und Lenkern des Gemeinwesens. Denn das Gemeinwesen zu einer Quelle des Profits zu machen ist nicht nur schändlich, sondern auch verbrecherisch und gottlos« (Off. II/77 213). Das Originäre an Ciceros politischer Philosophie besteht in der Amalgamierung und Projektion beider Motive, des juridisch-institutionellen und des bürgerhumanistischen – für die es selbst jeweils griechische Vorläufer gibt –, auf die römische Republik und ihre Lebenswirklichkeit. Diese Apotheose der römischen Republik verschaffte der Romidee ungeheure Wirkungsmacht in der Geschichte des politischen Denkens als immer wieder aufgegriffenem, vorbildlichem Institutionenmodell bis hin zum repräsentativen, demokratischen Rechtsstaat heutiger Zeit.116 Im Hinterkopf sollten wir dabei für unsere weitere republikanische Ideengeschichte behalten, dass Cicero trotz aller Betonung verfassungsmäßiger Verfahren und Kontrollen auf ein gewisses Residuum an Bürgerhumanismus verweist. Auf die Gemeinwohlorientierung und damit auf die moralische Integrität der mit einem Amt betrauten Bürger kann auch das ausgeklügelte System der römischen Mischverfassung von checks and balances nicht verzichten. Der von Skinner ins Spiel gebrachte Idealtypus »neorömischer Republikanismus« in Abgrenzung zum Bürgerhumanismus ist daher zumindest in Hinblick auf Cicero irreführend. Ein Ciceronischer, neorömischer Republikanismus, der seinen Namen verdient, müsste sich daher vielmehr dadurch auszeichnen, dass er institutionelle und bürgerhumanistische Elemente in sich vereint. Wir werden ein Auge darauf haben, wie die republikanische Ideengeschichte in ihrem weiteren Verlauf mit dieser Ciceronischen Verbindung von Mischverfassung und Bürgerhumanismus umgeht. Daneben hatten wir gesehen, wie bei Cicero ein moralischer Kosmopolitismus mit einem politisch-institutionellen Republikanismus verbunden
—————— 116 Hier sei nur kurz auf die Einteilung der Legislativen in Senat und Volksversammlung verwiesen, wie sie uns dann in der amerikanischen Verfassung mit Senat und Repräsentantenhaus wieder begegnen wird.
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wurde. Wir finden daher bereits zu Beginn der republikanischen Ideengeschichte eine Verbindung von Republikanismus und Kosmopolitismus, was nicht überrascht, wenn man an die zuvor herausgearbeitete ideengeschichtliche Konstellation denkt, in der ja unter anderem die Stoa Zenons und Chrysipps vermittelt über Panaitios und Poseidonios auf Cicero gewirkt hat. Wir hatten jedoch auch gesehen, dass die politisch-institutionelle Ordnung der Republik von Cicero auf eine räumlich und personal kleine Bürgervereinigung begrenzt wird und von der moralisch-rechtlichen kosmopolitischen Gesellschaft der Menschheit getrennt bleibt. Aus diesem Konzept der antiken Stadtrepublik bricht nun die christliche Politik aus.
II. Res Publica Christiana
II.1 Der Untergang der römischen Republik und das Heraufziehen des christlichen Imperiums Mit dem Untergang der römischen Republik endet der antike Republikanismus. Die Etablierung des Kaisertums seit Augustus und die allmähliche Transformation dieses Kaisertums in ein christliches Kaisertum durch Konstantin und Theodosius über die Anerkennung des Christentums als römische Staatsreligion leitet eine neue Epoche ein.117 In diesem fast vierhundert Jahre währenden Transformationsprozess, der schließlich in der Völkerwanderung und dem Untergang des römischen Reichs seinen Abschluss findet, versinkt die antike, griechisch-römische politische Kultur samt ihrem Ideal des tugendhaften Bürgers und gerechten Stadtstaates als Raum des guten Lebens. Was nunmehr heraufzieht, könnte man das Zeitalter des christlichen Imperiums nennen. Bereits im römischen Imperium mit seinem zunehmend sakralisierten Kaiser angelegt, wird diese politische Ordo-Konzeption über die Figuren der translatio imperii und der renovatio imperii Romanorum von da an für das Abendland das nächste Jahrtausend bestimmend. Die Kaiserkrönung Karls des Großen zum princeps populi christiani und die damit verbundene Überführung des römischen Reichs in das heilige, römische Reich markieren hier den entscheidenden realgeschichtlichen Punkt. Der Faden zur Antike durfte zwar gemäß der biblischen Lehre der vier Weltreiche nicht abreißen, und doch war dieses neue
—————— 117 Vgl. Veyne, Paul 2008: Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht, München, und Leppin, Hartmut 2007: »Theodosius der Große und das christliche Kaisertum. Die Teilungen des römischen Reiches«, in: Meier, Mischa (Hg.) 2007: Sie schufen Europa, München.
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römische Reich von ganz anderem als antikem, eben christlichem Geist durchtränkt.118 Wenn wir nach einem spezifisch ideengeschichtlichen Punkt fragen, an dem wir diesen Übergang von der Antike zum so genannten Mittelalter festmachen können, dann dürfte gerade aus der Perspektive einer republikanischen Ideengeschichte Augustinus den ersten Platz einnehmen. Ist er doch ein Wanderer zwischen den Welten,119 insofern er heute neben Laktanz als wichtigste spätantike Quelle für Ciceros Schrift De re publica gilt, ausgiebig aus ihr zitiert, aber zugleich sich kritisch von ihr distanziert, wie von aller antiken politischen Philosophie. Augustins christliche Perspektive, seine jenseitige Utopie der Bürgerschaft Gottes, lässt ihn jede diesseitig auf Gerechtigkeit und Glückseligkeit zielende politische Philosophie – und was sonst beabsichtigt alle antike politische Philosophie im Kern – als vergeblich verwerfen. Damit kommt ein ganz neuer, christlicher Ton in die politische Philosophie und somit auch in die republikanische Ideengeschichte, den ich hier für Augustinus in seiner Verbindung von Ciceros Res Publica-Definition mit der Idee des ewigen Friedens herausarbeiten möchte. Ich sehe hierin die große ideengeschichtliche Innovation des Augustinus. Indem er den auf eine politisch-institutionelle Dimension verweisenden Gedanken der Res Publica aufgreift und auf einen alle Christen und potenziell alle Menschen umfassenden Raum überträgt, öffnet er – trotz aller zugestandenen Mängel, die ich im Weiteren diskutieren werde – einen Denkmöglichkeitsraum für einen kosmopolitischen Republikanismus. Der stoische Kosmopolitismus Ciceros war ja, wie wir gesehen haben, noch getrennt von der politischen Idee der Res Publica, insofern es für Cicero zwar eine moralisch-rechtliche Gemeinschaft aller Menschen als vernunftund sprachfähige Wesen gibt, davon aber die enger gefasste politisch-institutionelle Gemeinschaft der Res Publica unterschieden wurde. Augustinus zieht nun beides in seiner kosmopolitischen Friedensordnung zusammen. Mit Augustins Innovation der Res Publica Christiana als jenseitiger, kosmopolitischer Friedensordnung geht aber zugleich eine Entpolitisierung oder Theologisierung einher. Man sucht bei Augustinus vergeblich nach verfassungstheoretischen Überlegungen, wie ein gerechter Staat denn nun
—————— 118 Vgl. Brown, Peter 1996: Die Entstehung des christlichen Europa, München und Fried, Johannes 1994: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024, Berlin. 119 Vgl. Reitzenstein, Richard 1922: »Augustinus als antiker und mittelalterlicher Mensch«, in: ders. 1963: Antike und Christentum, Darmstadt.
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en detail zu konzipieren sei. Ernst Troeltsch spricht daher vom »absolut unpolitischen Charakter dieser christlichen Politik«.120 Die politische Philosophie wie die Philosophie überhaupt wird zur Magd der Theologie, das Regnum wird dem Sacerdotium untergeordnet. Mit Augustinus kommt der für das lateinisch-christliche Mittelalter zentrale politische Dualismus von Herrscher und Kirche auf. Erst in der Folge des Investiturstreits und durch die Wiederentdeckung Ciceros und Aristoteles' bildet sich langsam wieder eine autonome Politik und politische Philosophie heraus. Insbesondere Johannes von Salisbury, gelegentlich als der erste Humanist bezeichnet, referiert in seiner Schrift Policraticus wieder auf die Institutionen der römischen Republik und auf Ciceros politische Philosophie und entwickelt eine relativ autonome, organologische, politische Theorie der Res Publica.121 Schließlich finden wir bei Thomas und Dante weitere Ansätze, eine weitgehend autonome, nunmehr aristotelisch imprägnierte politische Theorie der Res Publica zu entwickeln, wobei Dante Augustinus’ kosmopolitische Friedensordnung in seinem Konzept der Universalmonarchie nun aus dem Jenseits ins Diesseits zurückführt. Am Ende dieser Entwicklung steht der große Solitär Marsilius von Padua, der in seinem Defensor Pacis, über den Bürgerhumanismus und klassischen Republikanismus der Renaissance hinausweisend, Rousseaus Volkssouveränität als Grundlage der Res Publica antizipiert. Insgesamt versuchen die folgenden Ausführungen unter der Überschrift der Res Publica Christiana diese Epoche zwischen antikem und klassischem Republikanismus, wie er dann von Florenz ausgehend sich verbreitet, zu fassen. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem katholisch-scholastischen Beitrag für die republikanische Ideengeschichte, der hier zentral, so die These, in der Idee einer kosmopolitischen, republikanischen Friedensordnung, einem der Antike fremden anthropologischen Pessimismus und einem körperschaftlichen Verständnis der Res Publica gesehen wird.122 Zweitens finden wir hier – nach Ciceros Übertragung der griechischen Staatsphilosophie auf die römische Republik – die zweite große Synthese
—————— 120 Troeltsch, Ernst 1963: Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter, Aalen, S. 137. 121 Vgl. zu dieser Rezeptionsgeschichte Heck, Eberhard 1966: Die Bezeugung von Ciceros Schrift De re publica, Hildesheim, S. 242ff. 122 Vgl. zum Begriff der Res Publica Christiana Köhler, Oskar 1981: »Corpus Christianum«, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. VIII, herausgegeben von Gerhard Krause und Gerhard Müller 1981, Berlin/New York, S. 212.
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von griechischen und römischen Motiven in der republikanischen Ideengeschichte. Ich möchte zunächst etwas genauer auf Augustins Auseinandersetzung mit Ciceros Res Publica-Definition eingehen und ihre Verbindung mit der Friedenslehre herausarbeiten. Mit diesem Schritt versuche ich zu umreißen, wie die römische Idee der Res Publica durch das frühe Mittelalter tradiert wird. Dabei soll, trotz aller berechtigter Kritik an Augustins christlicher Politik, deren innovativer Charakter hervorgehoben werden. Daneben möchte ich kurz auf Augustins einflussreichen anthropologischen Pessimismus hinweisen, der uns bei Machiavelli und in der atlantischen republikanischen Tradition wieder begegnen wird. In einem zweiten Schritt wenden wir uns dann der Frage zu, wie sich die politische Philosophie in der Folge des Investiturstreits aus der Umklammerung der Theologie löst und sich ihre Autonomie zurückerobert. Dabei möchte ich in drei Skizzen zu Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua andeuten, wie der Begriff der »Republik« in diesem Prozess der Trennung von Regnum und Sacerdotium wieder aufgegriffen wird und über den Organismusvergleich mit Inhalt gefüllt wird. Schließlich möchte ich abschließend Dante als den ersten Florentiner Bürgerhumanisten charakterisieren, der bereits vor Marsilius eine völlig autonome Politik denkt und, unter Bezug auf Augustinus, aber zugleich gegen diesen, die Idee einer kosmopolitischen Friedensordnung aufgreift und diese in der Pax Romana vorbildlich verwirklicht sieht. Damit erarbeiten wir uns die Ausgangskonstellation für die anschließende Auseinandersetzung mit Machiavelli und dem klassischen Florentiner Republikanismus, der sich vor diesem historischen Hintergrund entfaltet.
II.2 Augustins eschatologische, kosmopolitische, »republikanische« Friedensordnung Am 24. 8. 410 wurde Rom von den Westgoten unter Führung Alarichs eingenommen und verwüstet. Dieses Ereignis war ein außerordentlicher Schock für das ganze römische Reich. Es gab nicht wenige aus der römischen Adelsschicht, die weiterhin den alten Göttern anhingen und dieses Ereignis nun der allmählichen Ausbreitung des Christentums und seiner Anerkennung als Staatsreligion anlasteten. Gegen diese Kritiker des Chris-
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tentums wendet sich Augustins Werk De civitate dei,123 in dem er zunächst in den Büchern I-X zu beweisen sucht, dass das Christentum nicht an diesem Ereignis schuld sei, sondern sogar noch einigen Bürgern Roms durch Zuflucht in Kirchen das Leben gerettet hätte. Vielmehr seien der römische Götzendienst und der Verfall der Sitten in Rom an diesem Ereignis schuld, das sich schon vor der Geburt Christi mit den Bürgerkriegen und dem Niedergang der Republik angekündigt habe. Dies alles zeige, dass die römischen Götter keine Macht besäßen und nicht existieren. Es gebe nur einen Gott, den Gott der Christen. In den Büchern XI-XXII erläutert Augustinus dann seine für die christlich-mittelalterliche Welt unendlich einflussreiche These, dass die ganze Geschichte der Menschheit von der Existenz zweier Bürgerschaften bestimmt sei, der irdischen Bürgerschaft (civitas terrena), die sich durch Ruhmsucht und Selbstliebe auszeichne, und der Bürgerschaft Gottes (civitas dei), die sich durch Liebe zu Gott und Nächstenliebe auszeichne. Diese beiden Bürgerschaften seien mit der Schöpfung der Welt durch Gott und der auf sie folgenden Vertreibung der Menschen aus dem Paradies aufgrund des Sündenfalls entstanden. Der Brudermörder Kain ist der Gründer der ersten Civitas terrena (Civ. XV/5). Seit dieser Zeit seien diese beiden Bürgerschaften ineinander verwoben, bis sie durch das Jüngste Gericht wieder getrennt würden. Nun ist die ganze theologische Dimension des Werkes für uns hier nur von nachgeordnetem Interesse und soll nicht weiter bis in alle Verästelungen verfolgt werden. Zukunftsweisend ist jedoch an ihr, dass Augustinus mit dieser christlichen, eschatologischen Geschichtsphilosophie aus dem zyklischen Geschichtsdenken der Antike, der ewigen Wiederkehr des Gleichen, ausbricht, zugunsten eines linearen Geschichtsdenkens von einem historischen Anfang hin zu einem Endpunkt. Damit bringt er eine Fortschrittsdimension in das Geschichtsdenken hinein, die später säkularisiert aufgegriffen wird.124 Interessant für unsere Untersuchung ist jedoch vornehmlich Augustins Bezug auf Ciceros Schrift De re publica, auf die er häufig in seinem Werk zurückgreift und damit Ciceros Republikanismus ins christliche Mittelalter überliefert. Bereits im zweiten Buch zitiert Augustin Ciceros Definition der Res Publica (Vgl. Civ. II/21), um dann im für uns hier entscheidenden
—————— 123 Ich zitiere im Folgenden als (Civ.) nach der Ausgabe Augustinus: Vom Gottesstaat, 2 Bde., aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen 1977, München. 124 Vgl. Löwith, Karl 1983: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, Stuttgart.
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XIX. Buch auf sie zurück zu kommen. Er möchte dort zeigen, »daß es nach den Begriffsbestimmungen, die Scipio in Ciceros Büchern über den Staat verwendet, einen römischen Staat niemals gegeben hat. Denn er definiert den Staat kurz als Volkssache. […] Volk nennt Scipio nämlich eine Gemeinschaft vieler Menschen, die durch Rechtsgleichheit und Interessengemeinschaft verbunden ist. Was er aber unter Rechtsgleichheit und Interessengemeinschaft versteht, führt er im Verlauf seiner Untersuchung näher aus, indem er zeigt, daß ohne Gerechtigkeit kein Staat geleitet werden kann« (Civ. XIX/21). Warum aber war die römische Republik keine wirkliche Res Publica? Augustins Antwort lautet: Nur wenn »der Menschengeist Gott dient, herrscht er in rechter Weise über die Begierde und die übrigen Leidenschaften. Dient darum ein Mensch Gott nicht, was kann es dann in ihm noch für Gerechtigkeit geben? Denn wenn er Gott nicht dienstbar ist, kann der Geist unmöglich in rechter Weise über den Leib oder die menschliche Vernunft über die Leidenschaften gebieten. Und wenn in einem solchen Menschen keinerlei Gerechtigkeit ist, dann auch zweifellos nicht in einem Kreise, der aus lauter solchen Menschen besteht. Hier gibt es also jene Rechtsgleichheit nicht, die aus einer Menschenmenge ein Volk macht, dessen Sache, wie es heißt, der Staat ist« (ebd.). Augustinus erkennt also Ciceros Definition der Res Publica als zutreffend an. Nur bestreitet er, dass diese Definition auf die römische Republik zutrifft. Das ist der entscheidende Punkt bei Augustinus für unsere Untersuchung zur republikanischen Ideengeschichte, denn dadurch füllt Augustinus nun den Republikbegriff mit einem ganz neuen Inhalt. Diesen gilt es heraus zu arbeiten. Sein Argument operiert dabei auf der Ebene der Theologie: Weil die Römer den falschen Göttern gehuldigt haben, kann es bei ihnen keine Gerechtigkeit, damit kein Recht, kein Volk und keine Res Publica geben. Dieses Argument gilt dann pars pro toto für alle irdischen Staaten. Gerechtigkeit gibt es nach Augustinus nur in der Bürgerschaft der Christen, da diese den Geboten des Herren folgen, die Ausdruck vollkommener Gerechtigkeit sind, und somit ein Volk und die wahre Res Publica bilden, eben die Res Publica Christiana. Die wahre Gerechtigkeit der Res Publica Christiana entfalte sich allerdings erst im Jenseits, im himmlischen Jerusalem. Solange die Bürgerschaft Gottes unter der irdischen Bürgerschaft Babylons wandle, könne sie nur einen matten Abglanz des zukünftigen Reichs geben. Man sieht sehr deutlich, wie hier eine Unterordnung der politischen Philosophie unter die Theologie bei Augustin vollzogen wird.
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Denn sein Argument beruht ja nicht auf einer Kritik an den politischen Institutionen der römischen Republik, sondern einzig auf einer Kritik an der römischen Religion. Das scheint für Augustinus auszureichen, kann aber heute nicht mehr überzeugen. Dennoch ist Augustinus Schrift nicht unpolitisch. Das ganze Werk ist durchzogen von äußerst nüchternen und bis heute lesenswerten Beobachtungen zur antiken politischen Geschichte, die zweifellos zu einem nicht geringen Teil durch Ruhmsucht, blutige Machtkämpfe und Kriege bestimmt war. Im XIX. Buch kommt daher bei Augustinus ein durchaus nachvollziehbarer anthropologischer Pessimismus zum tragen und ein politischer Realismus, wie wir ihn dann später bei Machiavelli wieder antreffen werden.125 Gegen die antiken Tugendethiken und Staatsphilosophien erklärt Augustinus dort, dass es für den Menschen auf Erden keine wirkliche Gerechtigkeit und Glückseligkeit geben kann, dass alle Tugend und alles Streben nach Gütern vergeblich ist, nicht vor Unglück, Leiden und Tod feit. Die Menschen sind seit dem Sündenfall Kreaturen, die immer wieder ihren Leidenschaften unterliegen und sündigen. Das gilt selbst für die gottesfürchtigen Christen. Beweise dafür seien, dass es sowohl in jeder Haus- und Familiengemeinschaft immer wieder zu Ungerechtigkeit, Verrat, Gewalt und Leiden kommt (Civ. XIX/5), als auch in jedem politischen Gemeinwesen (Civ. XIX/6), und dass vor allem zwischen den Gemeinwesen ein Dauerkrieg tobt (Civ. XIX/7). Daher auch Augustins berühmte Behauptung, dass Staaten ohne Gerechtigkeit nichts anderes als große Räuberbanden sind (Civ. IV/4). Vollkommene Gerechtigkeit ist aber für den Menschen nur in der jenseitigen Civitas dei zu erreichen. »Wer also diese großen, schauerlichen, verheerenden Übel leidvoll betrachtet«, so Augustins pessimistisches Fazit, »der gestehe, daß sie ein Übel sind. Wer dagegen ohne Seelenschmerz sie über sich ergehen läßt oder auch nur an sie denkt, mag sich immerhin für glückselig halten, aber er ist um so elender, weil er sein menschliches Empfinden verloren hat« (Civ. XIX/7).
—————— 125 Dies brachte Reinhold Niebuhr dazu, Augustinus in die Familie der politischen Realisten einzureihen. Vgl. Niebuhr, Reinhold 1986: »Augustine's Political Realism«, in: Robert McAffe Brown (Hg.) 1987: The Essential Reinhold Niebuhr. Selected Essays and Adresses, New Haven, S. 123-141. Das trifft aber meiner Meinung nach nur partiell zu und ist im Blick auf das ganze Werk sicher nicht richtig. Hier müsste man eher von einem neuplatonischen Idealismus sprechen. Vgl. zu den diversen Augustindeutungen Breyfogle, Todd 2005: »Toward a Contemporary Augustinian Understanding of Politics«, in: Doody, John/Huges, Kevin L./Paffenroth, Kim (eds.) 2005: Augustine and Politics, Lanham/ Boulder/New York/Toronto/Oxford.
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Auch wenn Augustinus der Vita activa in der Civitas terrena nicht allen Wert abspricht, so hat sie für ihn doch nur noch instrumentellen Wert. »Die aus dem Glauben Gottes leben, erwartet die ewigen Güter, die für die Zukunft verheißen sind«. Sie gebrauchen »die irdischen und zeitlichen Dinge nur wie ein Gast«, lassen »sich von ihnen nicht fangen und vom Weg zu Gott abbringen«, sondern stärken »sich durch sie, die Last des vergänglichen Leibes, der die Seele beschwert, leichter zu ertragen und so wenig wie möglich zu vermehren« (Civ. XIX/17). Augustin ordnet die Vita activa von Ciceros römisch-republikanischem Bürgerhumanismus einer nunmehr christlichen Vita contemplativa unter. Er bleibt jedoch dem antiken Republikanismus insofern verbunden, als er erklärt, dass Gott den Menschen schuf, »nicht um ihn allein und ohne menschliche Gesellschaft zu lassen. Sondern um ihm desto nachdrücklicher die Gemeinschaft und das Band der Eintracht ans Herz zu legen, verknüpfte er die Menschen nicht nur durch Gleichheit der Natur, sondern auch durch Zuneigung der Verwandtschaft« (Civ. XII/22). Das aristotelische Zoon politikon ist hier also bei Augustinus ebenso noch anzutreffen, wie die von Cicero der Stoa entlehnte kosmopolitische Gesellschaft der Menschen. Mit der antiken Prämisse der politisch-sozialen Natur des Menschen wird erst Machiavelli in Radikalisierung von Augustins anthropologischem Pessimismus brechen.126 Gerade in dieser Ambivalenz, der Zurückweisung der antiken Tugendethik und Staatsphilosophie bei gleichzeitiger Beibehaltung der anthropologischen Grundprämisse, zeigt sich Augustinus als Mensch zwischen Antike und Mittelalter. Im Anschluss an die Zurückweisung der antiken Tugendethiken und Staatsphilosophien mit ihrem Glauben an irdische Gerechtigkeit und Glückseligkeit führt Augustinus nun seine eigene Konzeption des höchsten Gutes ein, den Frieden. Das ist zunächst tatsächlich eine sehr realistische Konzeption in Reaktion auf die zuvor beschriebene Allgegenwart von Ungerechtigkeit und Leid. Augustinus scheint sie in Hinsicht auf die Civitas terrena auch in dieser politisch realistischen Funktion zu verwenden: wenn schon keine Gerechtigkeit und Glückseligkeit auf Erden, dann wenigstens Frieden. Als höchstes Gut hat der Frieden jedoch für ihn eine viel umfassendere, idealistischere Bedeutung als die rein polizeiliche Befriedung des zwischenmenschlichen Verkehrs. Das Streben nach Frieden ist für
—————— 126 Vgl. zu diesem in der Forschung häufig vernachlässigten Zusammenhang zwischen Augustinus und Machiavelli: Wright, Paul R. 2005: »Machiavelli's City of God: Civic Humanism and Augustinian Terror«, in: Doody/Hughes/Paffenroth 2005.
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Augustinus ein »allgemeines Naturgesetz« (Civ. XIX/12); alles in der von Gott geschaffenen Natur strebt nach Frieden. »So besteht denn der Friede eines Körpers in dem geordneten Verhältnis seiner Teile, der Friede einer vernunftlosen Seele in der geordneten Ruhelage der Triebe, der Friede einer vernünftigen Seele in der geordneten Übereinstimmung von Denken und Handeln, der Friede zwischen Leib und Seele in dem geordneten Leben und Wohlbefinden des beseelten Wesens, der Friede zwischen den sterblichen Menschen und Gott in dem geordneten gläubigen Gehorsam gegen das ewige Gesetz, der Friede unter den Menschen in der geordneten Eintracht, der Friede des Hauses in der geordneten Eintracht der Hausbewohner im Befehlen und Gehorchen, der Friede des Staates in der geordneten Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen, der Friede des himmlischen Staates in der bestgeordneten, einträchtigsten Gemeinschaft des Gottesgenusses und gegenseitigen Genusses in Gott, der Friede aller Dinge in der Ruhe der Ordnung. Ordnung aber ist die Verteilung gleicher und ungleicher Dinge, die jedem den gebührenden Platz anweist« (Civ. XIX/13). Der Frieden ist somit eine allumfassende Kategorie, die letztlich in Gott, dem Schöpfer aller Dinge wurzelt, und, über die angegebenen sieben Stufen der Überwindung der Entzweiung, schließlich wieder in der achten, eschatologischen Stufe der tranquillitas in ihm mündet. Zugleich kommt im angeführten Zitat die Augustinische Ordo-Konzeption zum Zuge, die Verteilung gleicher und ungleicher Dinge an ihren gebührenden Platz. Indem nun Augustinus diese Konzeption des Friedens als höchstem Gut mit seiner Civitas dei, der einzig wahren Res Publica, verbindet, bekommt diese eine, in einem allumfassenden Sinne, kosmopolitische Dimension. Sie wird zu einer – freilich im Jenseits verorteten – kosmopolitischen, republikanischen Friedensordnung. Denn zur Bürgerschaft Gottes gehört potenziell jeder Mensch, da alle Menschen von Gott abstammen. Andererseits gilt das aber nur, soweit sie den wahren Glauben annehmen, ansonsten gehören sie der Civitas terrena an und werden am Tag des Jüngsten Gerichts in die Hölle verdammt. Hier kommt der, aus heutiger Sicht, eher unerfreuliche Zug der eschatologischen Politik des Augustinus zum Tragen, sein missionarischer Eifer und die Verurteilung aller Andersgläubigen. Darüber hinaus sind seine Ausführungen zur politischen Ordnung des irdischen Staates äußerst dürftig und undifferenziert. Dass Staaten ohne Gerechtigkeit Räuberbanden sind, mag man Augustinus gerne zugestehen. Man hätte aber doch nach der Kritik an der römischen Republik Ciceros zumindest Hinweise auf ein Gegenbild eines gerechten Staates
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erwartet. Augustins Antwort, dass Gerechtigkeit in der Befolgung der Gebote Gottes liege, mag als christliche Individualethik durchgehen. Für eine politische Philosophie ist das zu wenig. Diese Tendenz zur Entpolitisierung, zum Moralismus und zur Vertröstung auf das Jenseits kommt besonders eklatant zum Zuge, wenn Augustinus die Knechtschaft von Menschen als ihnen von Gott aufgrund der Erbsünde auferlegt rechtfertigt, als den ihnen gebührenden Platz in der irdischen Ordnung. Im Anschluss an Paulus und dessen Modell einer theokratischen Herrschaft (vgl. etwa Römer 13:1) plädiert er dafür, dass die Knechte ihr Schicksal in Gottesfurcht zu dulden haben und die Herren sie fürsorglich beherrschen. Immerhin aber ist für ihn kein Mensch mehr von Natur aus Sklave, wie wir das noch bei Aristoteles finden. Allein, politisch macht das am Ende keinen Unterschied, denn, ob aufgrund der Natur oder der Erbsünde, letztlich wird die Knechtschaft politisch legitimiert. Schließlich finden sich bei Augustinus im Vergleich zu Aristoteles oder Cicero keine auch nur annähernd auf einem ähnlichen Niveau operierenden Überlegungen über eine gerechte, irdische Verfassung, die zumindest für den nichtversklavten Teil der Menschen, die zur Bürgerschaft gehören, Gerechtigkeit und Glückseligkeit, Freiheit und Gleichheit gewährt. In dieser Hinsicht haben wir hier tatsächlich einen historischen Rückschritt der politischen Philosophie zu beklagen, von dem aus sich das christliche Abendland erst über lange Zeit wieder auf das antike Niveau zurück arbeiten mußte.127 Selbst Augustinus' Innovation des Friedens als höchstes Gut wird, durch seine alles überlagernde theologische Perspektive, als politische Idee letztlich desavouiert und damit in ihrem Potenzial gar nicht voll zur Entfaltung gebracht. Im irdischen Staat hat der Friede für ihn, wie bereits die Vita activa, nur einen instrumentellen Wert. Der irdische Friede hat einzig den Zweck, der Bürgerschaft Gottes, das heißt der christlichen Gemeinde und ihrer Kirche, die durch das irdische Jammertal pilgert, in Richtung auf die jenseitige, wahre Res Publica Christiana, den ungestörten Gottesdienst zu gewährleisten. Mit welcher politischen Verfassung dies geschieht, scheint Augustinus relativ wenig interessiert zu haben, wenn er nicht sogar äußerst autoritäre Formen der Regierung eines christlichen Alleinherrschers bevorzugt hat, wie einige, aus heutiger Sicht eher abstoßende Stellen in De civitate dei
—————— 127 So auch das Resümee bei Höffe, Otfried 1997: »Positivismus plus Moralismus: zu Augustinus' eschatologischer Staatstheorie«, in: Horn, Christoph (Hg.) 1997: Augustinus. De civitate dei, Berlin.
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nahelegen.128 Eine solche theoretische Vernachlässigung der politischen Verfassung wird man aber sowohl nach antikem Maßstab als auch aus heutiger Perspektive nicht politische Philosophie nennen können. Dennoch gilt es hier, trotz aller berechtigter Kritik, im Rahmen unserer republikanischen Ideengeschichte Folgendes festzuhalten: Die Transformation von Ciceros Res Publica hin zu einer potenziell alle Menschen umfassenden, kosmopolitischen Friedensordnung, der Res Publica Christiana, beinhaltet eine Innovation in der politischen Philosophie, die sowohl das antike Konzept des Stadtstaates sprengt, als auch – was den heutigen Leser vielleicht irritieren mag – das moderne des Nationalstaates. Das ist der innovative Zug der in anderen Hinsichten zweifellos defizitären christlichen Politik Augustins. In der weiteren auf Augustinus folgenden republikanischen Ideengeschichte war diese Denkmöglichkeit zumindest präsent und musste, wenn affirmiert, nun vom Jenseits ins Diesseits zurückgeholt und politisch-institutionell konkretisiert werden. Dante ist mit seiner Universalmonarchie sicher die eindrucksvollste Figur, die diesen Schritt vollzieht, während bereits vor ihm Johannes von Salisbury unter Bezug auf die Romidee und Cicero versucht, eine auf die bald beginnende Aristotelesrezeption vorausweisende, autonome politische Philosophie der Res Publica in Ansätzen zu entfalten. Diese durch die Aristotelesrezeption bewirkte politische Philosophie findet ihren Ausdruck im Fürstenspiegel des Thomas von Aquin und dessen Continuatio durch Tolomeo von Lucca, die zum klassischen Republikanismus der italienischen Renaissance und damit zu Machiavelli überleitet. Über die italienische Renaissance hinaus weist dann Marsilius' Konzept der »valencior pars«. Insofern Augustinus, trotz all seiner Weltentwertung, diese Idee einer kosmopolitischen, republikanischen Friedensordnung im Anschluss an Ciceros Definition der Res Publica ins Spiel gebracht hat, verdient er einen Platz in der republikanischen Ideengeschichte.
—————— 128 Geerlings schließt seine Ausführungen zu Augustins Friedenslehre dann auch mit den Bemerkungen: »Der Zustand, den der Bischof von Hippo beim gefallenen Menschen als politischen Frieden bezeichnet, ist hingegen- was ihn bereits als Resultat einer Verfallsordnung kennzeichnet- nur in der Unter- und Überordnung, einer Herrschafts- und Zwangsordnung möglich. […] Tatsächlich ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, daß Augustin dem irdischen Frieden ein zu geringes Gewicht beimißt.« Vgl. Geerlings, Wilhelm 1997: »De civitate dei XIX als Buch der Augustinischen Friedenslehre«, in: Horn 1997, S. 234.
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II.3 Die Republik als Körper: Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua Mit dem Investiturstreit, der durch Papst Gregor VII. Dictatus Papae ausgelöst wurde und zunächst in Heinrich IV. berühmtem Gang nach Canossa gipfelte, begann die allmähliche Lösung der weltlichen Gewalt von der Kirche beziehungsweise die Loslösung der Kirche von der weltlichen Gewalt. Im Rahmen des von Augustinus vorgegebenen Dualismus von Regnum und Sacerdotium kam es nun parallel zu diesem politischen Geschehen zu heftigen publizistischen Auseinandersetzungen über das Verhältnis der beiden »Schwerter«, aus dem auch auf theoretischer Ebene zunehmend eine autonome politische Philosophie hervorging. Meines Erachtens können dabei vier Hauptstränge hervorgehoben werden, die zu dieser zunehmenden Autonomisierung der Politik führten. Diese möchte ich kurz vorab umreißen, bevor wir ihr Vorkommen dann unter besonderem Augenmerk auf der Analogie von Körper und Republik an den Beispielen Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua nachvollziehen. Im Zuge der wissenschaftlichen Revolution, die im 11. Jahrhundert einsetzt,129 begann eine Wiederentdeckung der heidnischen, antiken Autoren, wie wir sie dann etwa bei Johannes von Salisbury beobachten können, der gelegentlich als der erste Humanist beziehungsweise als erster Vertreter eines mittelalterlichen Humanismus bezeichnet wird.130 Bereits rund zwei Jahrhunderte vor der Renaissance und der großen Wiederentdeckung Ciceros durch Petrarca finden wir bei Johannes diese Rückbesinnung auf die römischen Klassiker und damit eine Rückbesinnung auf den hohen lateinischen Stil und die römische Idee der Res Publica. Zweitens können wir ebenfalls bei Johannes von Salisbury das Aufkommen des Organismusvergleichs für die Res Publica beobachten. Diese Analogie von Körper und Staat, die Johannes wohl dem Studium des Platonismus der Schule von Cathres verdankt, verband sich mit der Augustinischen Ordo-Konzeption und ermöglichte die Herausbildung einer transpersonalen Staatsvorstel-
—————— 129 Vgl. Flasch, Kurt 2000: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart, S. 191ff. und Schulthess, Peter/Imbach, Ruedi 2000: Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, Düsseldorf, S. 90 ff. 130 Vgl. Misch, Georg 1960: Johann von Salisburg und das Problem des mittelalterlichen Humanismus, Göttingen.
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lung.131 Drittens können wir vom späten 11. Jahrhundert an, ausgehend von Inerius und der Universität Bologna, eine Rückbesinnung auf das römische Recht, das corpus iuris civilis, beobachten, die sich mit der Systematisierung des kanonischen Rechts, dem corpus iuris canonici, um die Mitte des 12. Jahrhunderts verbindet und zur Herausbildung eines körperschaftlichen Staatsbegriffs, der Res Publica als öffentlicher Person, führte.132 Viertens führten schließlich die im 13. Jahrhundert einsetzende große Aristotelesrezeption und die Übersetzung der Politik durch Wilhelm von Mörbecke zu einer Wiederentdeckung der griechischen politischen Philosophie. Die Auswirkung dieser Aristotelesrezeption auf die politische Philosophie können wir dann bei Thomas, Dante und Marsilius von Padua beobachten.133 Johannes von Salisbury definiert die Republik in seiner um 1159 erschienenen Schrift Policraticus134 unter Verwendung des Organismusvergleichs wie folgt: »For a Republic is […] a sort of body which is animated by the grant of divine reward and which is driven by the command of the highest equity and ruled by a sort of rational management« (P V/2). Im Rahmen des Bildes der Republik als Körper werden nun von Johannes den einzelnen Körperteilen und ihren Funktionen verschiedene Stände sowie deren Pflichten und Tugenden zugeteilt. Die Seele der Republik sind die Geistlichen, während der Fürst das Haupt derselben ist und der Geistlichkeit untergeordnet wird. Der Fürst als durch die Geistlichkeit und damit das göttliche Gesetz beseeltes Haupt muss sich jedoch wiederum alle weiteren Glieder des republikanischen Körpers unterordnen und deren harmonisches Zusammenwirken lenken (Vgl. P V/6-8). Als weitere Glieder nennt hier Johannes zunächst einen den Fürst beratenden Senat als Herz der Republik, wobei ihm hier augenscheinlich die römische Republik als Vorbild dient; daneben nennt er auch den Athener Areopag (Vgl. P V/9).
—————— 131 Vgl. Struve, Tilman 1979: »Bedeutung und Funktion des Organismusvergleichs in den mittelalterlichen Theorien von Staat und Gesellschaft«, in: Zimmermann, Albert (Hg.) 1979: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, Bd. 1, Berlin/New York. 132 Vgl. Berman, Harold J. 1991: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt/M., S. 144ff. zum kanonischen Recht und S. 199ff. zum corpus iuris und der Universität Bologna. 133 Vgl. zur Aristotelesrezeption im 13. Jahrhundert insbesondere Schulthess/Imbach 2000, S. 145ff. 134 Ich zitiere im Folgenden als (P) nach der Ausgabe John of Salisbury: Policraticus. Of the Frivolities of Courtiers and the Footprints of Philosophers, herausgegeben und übersetzt von Cary J. Nederman 1990, Cambridge.
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Zur Regierung der Republik gehören weiterhin Richter, Beamte und Soldaten, während die Untertanen die große Masse der Bauern und Handwerker bilden, die Johannes auch als Füße der Republik bezeichnet, die den ganzen republikanischen Körper tragen (Vgl. P VI/20). Es zeigt sich, dass Johannes die Republik als eine eigenständige juristische Entität, als »public persona« (P IV/2) betrachtet, die aus verschiedenen Elementen und Funktionen besteht, Regierung, Rechtsprechung, Militär usw., und somit in Ansätzen bereits einen Staatsbegriff entwickelt. Das macht die historische Bedeutung seiner Schrift in jenem langwierigen Prozess aus, in dem sich der neuzeitliche Staat als juristische Person von der konkreten Person des Herrschers löste. Dieser ganze Körper der Republik ist bei Johannes noch äußerst statisch und hierarchisch gedacht, als Abbild der göttlichen Ordnung des Kosmos, in dem alles und jeder seinen ihm zugewiesenen Platz hat. Darin zeigt sich das Fortwirken des Augustinischen Ordo-Denkens.135 Aber auch wenn die Geistlichkeit den höchsten Rang einnimmt und das höchste Gut auch für Johannes immer noch die Bürgerschaft im Reich Gottes ist, so emanzipiert sich bei ihm die Republik und das irdische Glück von der strengen Unterordnung unter die Civitas dei bei Augustinus. Das kontemplative Leben in Hinwendung zu Gott ist auch für Johannes das höchste Gut und die beste Lebensform, die freilich erst im Jenseits ihre vollkommene Erfüllung findet. Daneben gibt es jedoch bei Johannes eine zweite Form des guten Lebens in der irdischen Res Publica, das in der Erfüllung der jedem Bürger zugewiesenen Pflichten (officium) und der damit verbundenen Tugenden (virtutes) besteht, zu irdischem, individuellem Glück führen kann und zugleich das Gemeinwohl der Res Publica befördert (Vgl. P VIII/8). Das heißt, wir finden bereits bei Johannes von Salisbury eine Wiederentdeckung beziehungsweise Aufwertung der antiken Vita activa, des vivere civile, wie die italienischen Humanisten es dann nennen werden. Mir scheint, dass man Johannes im Hinblick auf diese Aufwertung des bürgerlichen Lebens tatsächlich als einen mittelalterlichen Humanisten bezeichnen kann. Gegen das statisch-hierarchische platonische Organismusmodell des Johannes bringt nun die Aristotelesrezeption ein dynamisches Modell ins Spiel, das auf der von Aristoteles eingeführten Teleologie und Verfassungstypologie fußt. Eine aristotelische organologische Konzeption der
—————— 135 Vgl. Kerner, Max 1979: »Natur und Gesellschaft bei Johannes von Salisbury«, in: Zimmermann 1979.
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Res Publica findet sich in Thomas von Aquins unvollendeter, um 1265 entstandener Schrift De regimine principium.136 Thomas beginnt dort in Anlehnung an Aristoteles zunächst mit der politisch-sozialen Natur des Menschen. »Es ist aber die natürliche Bestimmung des Menschen, das für gemeinschaftliches und staatliches Leben erschaffene Geschöpf zu sein, das gesellig lebt, weit mehr als alle anderen Lebewesen« (Reg. I/1). Die Notwendigkeit einer Regierung der menschlichen Gesellschaft wird nun von Thomas ebenfalls über den Organismusvergleich begründet. »Wenn es also der natürlichen Bestimmung des Menschen entspricht, in Gesellschaft mit vielen zu leben, so muß unter den Menschen etwas sein, wodurch die vielen gelenkt werden. Wären nämlich viele Menschen beisammen und jeder nur auf das bedacht, was ihm selbst angemessen erscheint, so würde die Gesellschaft nach entgegengesetzten Richtungen auseinandergeraten, falls nicht eben jemand da wäre, der für das Sorge trägt, was das Wohl der Gesellschaft betrifft. So würde sich ja auch der Leib des Menschen und jedweden Geschöpfs auflösen, wenn es nicht eine gemeinsame leitende Kraft im Körper gäbe, die auf das gemeinsame Wohl aller Glieder bedacht ist« (ebd.). Thomas unterscheidet hier zwischen einem Individualinteresse (bonum proprium) und einem Gemeinwohl (bonum commune), wobei das Gemeinwohl im Rahmen der Körperanalogie dem Individualinteresse übergeordnet wird und die Notwendigkeit einer Regierung begründet. In seiner Güterhierarchie ordnet Thomas jedoch das bonum commune nochmals den bona coelestia, den himmlischen Gütern, unter. Der Mensch als »animal sociale et politicum« strebt danach, glücklich zu werden, was ihm nach Thomas aber aufgrund seiner Natur nicht alleine gelingen kann. Auch in der irdischen Res Publica kann der Mensch nur bis zu einem gewissen Grad glücklich werden, vollkommene Glückseligkeit findet er erst in der ewigen Anschauung Gottes, in den himmlischen Gütern. Wie bei Johannes von Salisbury finden wir auch bei Thomas – möglicherweise sogar wieder in einem stärkeren Sinne – eine Unterordnung der Res Publica unter das Sacerdotium. Aber zugleich macht auch Thomas durch seine Unterscheidung verschiedener Güter distinkte Lebensbereiche auf, die jeweils ihr Eigenrecht und ihren Wert haben und nicht im Sinne der augustinischen Weltentwertung höchstens instrumentellen Sinn für die Pilgerschaft ins Reich Gottes. Darüber hinaus führt Thomas wieder die aristotelische Verfassungstypologie zur Bestimmung der Form der Regierung des politischen Köpers
—————— 136 Ich zitiere im Folgenden als (Reg.) nach der Ausgabe Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, übersetzt von Friedrich Schreyvogel 1971, Stuttgart.
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der Res Publica ein. So schreibt er, dass man »die Arten einer gerechten Regierung auseinanderhalten« müsse. »Wird sie nämlich durch eine Mehrheit ausgeübt, so heißt sie mit einem allgemeinen Ausdruck Politie, wenn etwa eine Vielzahl von Kriegern in einer Stadt oder einer Landschaft die Führung hat. Ruht sie in der Hand von wenigen Männern, die aber durch ihre Begabung hervorragen, so nennt man eine derartige Regierungsform Aristokratie, das bedeutet beste Herrschaft oder Herrschaft der Besten (die man auch Optimaten nennt). Wenn aber die gerechte Herrschaft einem einzigen zusteht, wird dieser im eigentlichen Sinne des Wortes König genannt« (ebd.). Die etwas umständlichen Erläuterungen der jeweiligen Regierungsformen zeigen, wie neu dieses Wissen damals noch war, und wie Thomas darauf bedacht ist, sie seinem Leser begreiflich zu machen. Obwohl Thomas schließlich für die Monarchie optiert, zeigt diese Verfassungstypologie, dass er sich bereits eine Herrschaft einer Mehrheit im Sinne der aristotelischen Politie vorstellen kann. Das ist zwar, so wie sie hier eingeführt wird, noch keine demokratische Republik im modernen Sinne, aber an die Politie als gerechte Regierungsform der Res Publica konnten die Florentiner Republikaner bald nach Thomas anknüpfen. Die demokratische Republik und die Idee der Volkssouveränität blitzt schließlich in Marsilius von Paduas Schrift Defensor Pacis137 (um 1324) auf. So wie Johannes und Thomas verwendet auch Marsilius den Organismusvergleich für die Res Publica. Die bewegende Ursache von Marsilius’ republikanischem Körper ist aber nun die Gesamtheit der Bürger, die die Regierung einsetzt und ihr die Gesetze vorgibt, nach der diese zu handeln hat. Marsilius geht dabei bereits von einer radikal autonomen Politik aus, die vollkommen von der geistlichen Gewalt getrennt ist. Er möchte von »der Gesetzgebung und der Einsetzung der Regierung« eine Darstellung geben, »die unmittelbar aus der Entscheidung des menschlichen Geistes hervorgehen« (DP I/12). Seine unter Bezug auf Aristoteles’ Politik geäußerte These lautet: »Gesetzgeber oder erste und spezifische bewirkende Ursache des Gesetzes ist das Volk oder die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit (valenciorem partem) durch ihre Abstimmung oder Willensäußerung, die in der Vollversammlung der Bürger in einer Debatte zum Ausdruck gekommen ist« (ebd.). Damit antizipiert Marsilius bereits Rous-
—————— 137 Ich zitiere im Folgenden als (DP) nach der Ausgabe Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Aufgrund der Übersetzung von Walter Kunzmann bearbeitet und eingeleitet von Horst Kusch 1958, Darmstadt.
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seaus Volkssouveränität und weist über den klassischen Republikanismus hinaus, der sich nun vor allem von Florenz ausgehend entfaltet.138
II.4 Die Notwendigkeit einer Universalmonarchie, oder: das römische Imperium als Reich des Friedens, der Freiheit und der Herrschaft des Gesetzes bei Dante Bereits einige Jahre vor Marsilius, etwa um 1317, hatte Dante, ebenfalls mit Bezug auf Aristoteles und unter Verwendung des Organismusvergleichs, in seinem Werk Monarchia139 eine vollkommen autonome Politik konzipiert. Indem Dante damit dem irdischen bürgerlichen Leben wieder einen von der ewigen Glückseligkeit unabhängigen Wert zumisst, wird er in meinen Augen zum ersten Florentiner Bürgerhumanisten. In expliziter Auseinandersetzung mit Augustins De civitate dei und gegen dessen Abwertung und Unterordnung der Civitas terrena (Vgl. M III/4) versucht Dante im – der Frage des Verhältnisses von Regnum und Sacerdotium gewidmeten – dritten Buch seiner Schrift, die von ihm vertretene Aufwertung und Unabhängigkeit der Politik zu beweisen. Nach Dante hat »die unaussprechliche Vorsehung also für den Menschen zwei anzustrebende Ziele vorgesehen, nämlich die Glückseligkeit dieses Lebens, die in der Verwirklichung der eigenen Fähigkeiten besteht und durch das irdische Paradies versinnbildlicht wird; und die Glückseligkeit des ewigen Lebens, die im Genuß des göttlichen Anblicks besteht. […] Zu diesen beiden Glückseligkeiten muß der Mensch durch verschiedene Mittel wie zu verschiedenen Schlußfolgerungen gelangen. Die erste erreichen wir durch die philosophische Unterweisung, sofern wir diese durch die Verwirklichung der moralischen und intellektuellen Tugenden befolgen. Zur zweiten gelangen wir durch die geistliche Unterweisung, die den menschlichen Verstand übersteigt, sofern wir diese durch die Verwirklichung der theologischen Tugenden befolgen,
—————— 138 Vgl. zu diesen Skizzen zur Herausbildung eines organologischen Republikbegriffs den Aufsatz von Stürner, Wolfgang 1979: »Die Gesellschaftsstruktur und ihre Begründung bei Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua«, in: Zimmermann 1979. 139 Ich zitiere im Folgenden als (M) nach der Ausgabe Dante Alighieri: Monarchia. Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Ruedi Imbach und Christoph Flüeler, 1989, Stuttgart.
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nämlich Glaube, Hoffnung und Liebe« (M III/15). Dantes Autonomisierung der Politik ist somit zugleich eine Autonomisierung der Vernunft, die wieder in ihr altes antikes Recht eingesetzt wird, für das irdische Leben das Wahre und Gerechte aufzufinden und zu verwirklichen. Die Bücher I und II seiner Monarchia versuchen daher, unabhängig von jeder religiösen Offenbarung, rein aus Vernunftgründen, eine gerechte, irdische politische Ordnung zu entwickeln. Dabei argumentiert das erste Buch für die Notwendigkeit einer Universalmonarchie, die alle Menschen und Staaten umfasst, während das zweite Buch, gegen Augustins realistisches, aber auch pessimistisches Bild des römischen Reichs, dieses als großes Vorbild einer gerechten, irdischen Friedensordnung rehabilitiert. Wie begründet Dante nun die Notwendigkeit einer Universalmonarchie? Dantes bis heute bedenkenswertes Argument lautet, dass die Entfaltung der Vernunft, als höchstes menschliches Vermögen, das Ziel der menschlichen Natur im Diesseits ist. Diese Entfaltung der Vernunft ist für Dante ein kollektives menschliches Unternehmen, eine kollektive Wahrheitssuche, die alle Menschen und Generationen umfassen muss, will sie sich ihrer vollkommenen Verwirklichung immer mehr annähern. Hier zeigt sich Dante als großer Humanist. »Und weil dieses Vermögen weder durch einen einzigen Menschen noch durch eine […] besondere Gemeinschaft auf einmal gänzlich verwirklicht werden kann, ist es notwendig, daß es in der menschlichen Gattung eine Vielheit gibt, durch welche dieses ganze Vermögen verwirklicht wird« (M I/3). Für Dante ist nun evident, dass sich diese kollektive Entfaltung der Vernunft nur vollziehen kann, wenn zwischen den Menschen und Staaten Frieden herrscht. Er folgert: »Daher ist es offenkundig, daß der allgemeine Friede unter allen Dingen, die auf unsere Glückseligkeit hingeordnet sind, das Beste ist« (M I/4). Mit diesem Argument greift Dante Augustins kosmopolitische Lehre vom Frieden als höchstem Gut auf, die bei ihm allerdings nun radikal diesseitig begründet wird. Eine alle Menschen und Staaten umfassende politische Ordnung ist notwendig, weil nur im Frieden sich die Vernunft der Menschen voll entfalten kann. Dante sieht diese politische Friedensordnung am besten in einer Universalmonarchie realisiert. Dieser Vorrang der Monarchie und die Abwesenheit einer Diskussion anderer Regierungsformen lässt sich vielleicht daraus erklären, dass Dante scheinbar nur das erste Buch der aristotelischen Politik kannte und Aristoteles für einen Befürworter der Monarchie hielt. Auch die Darstellung des römischen Reichs als hervorragendes Bei-
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spiel einer gerechten Friedensordnung zeigt diesen Mangel an verfassungstheoretischer Differenzierung bei Dante. Denn einmal gilt ihm das römische Reich der Kaiserzeit, insbesondere unter Augustus, als vorbildliche universale Friedensordnung (M I/16). An anderen Stellen zitiert er dagegen ausgiebig aus Cicero, verweist auf dessen Res Publica-Definition und spricht von der gerechten Herrschaft des römischen Volkes. So schreibt er im zweiten Buch, »Jeder, der das Gute (bonum) des Staates (rei publice) anstrebt, der strebt das Ziel des Rechts an (iuris intendit). Daß diese Folgerung richtig ist, wird folgendermaßen gezeigt: Das Recht ist ein wirkliches und persönliches Verhältnis von Mensch zu Mensch, dessen Beachtung die Gesellschaft erhält und dessen Mißachtung die Gesellschaft zerstört. […] Wenn also diese Definition das Was und Warum des Rechts angemessen einschließt und das Ziel jeder Gesellschaft im Gemeinwohl der Mitglieder liegt, ist es notwendig, dass das Ziel jeglichen Rechts im Gemeinwohl liegt (iuris bonum commune esse). Und es ist unmöglich, daß es ein Recht gibt, welches das Gemeinwohl nicht anstrebt. Cicero sagt deshalb […] mit Recht, daß die Gesetze (leges) im Sinne des Nutzens für den Staat (rei publice) zu interpretieren sind« (M II/5). Dass es sich bei der römischen Republik und der römischen Kaiserzeit um verschiedene Verfassungen handelt, dass Cicero die Alleinherrschaft gerade nicht als Res Publica und als gegen das Naturrecht begriffen hat, scheint Dante nicht bemerkt zu haben. Die eindeutige Bevorzugung der römischen Republik und die Rehabilitierung des Cäsarmörders Brutus, samt seinem Mitwisser Cicero, vollziehen erst die Florentiner Republikaner nach Dante, insbesondere Machiavelli. Aber auch wenn Dante auf verfassungstheoretischer Ebene noch äußerst undifferenziert ist und sich eine politische Ordnung letztlich nur personalisiert in der Figur des Monarchen beziehungsweise Kaisers vorstellen kann, so sieht er doch die Funktion dieses Monarchen bereits äußerst fortschrittlich und rational. Die Universalmonarchie zur Friedenssicherung ist für Dante aus folgendem Grund nötig: »Zwischen zwei Herrschern, von denen der eine dem anderen in keiner Weise unterworfen ist, kann Streit entstehen entweder durch ihre eigene Schuld oder durch die Schuld der Untertanen, was von selbst klar ist. Also ist ein Gericht erforderlich, das entscheidet. Und da keiner über den anderen richten kann, weil der eine dem anderen nicht unterworfen ist – denn ein Gleichberechtigter besitzt gegenüber einem Gleichberechtigten keine Befehlsgewalt –, bedarf es eines Dritten mit umfassenderer Rechtsprechung, der im Umkreis seines
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Rechts beiden übergeordnet ist« (M I/10). Dante sieht bereits äußerst klar das Problem des Naturzustandes zwischen den Staaten. Die Universalmonarchie ist nötig, weil nur eine über den Einzelstaaten stehende Rechtsprechungsinstanz samt Durchsetzungsmacht den Frieden sichern kann, der zur Entfaltung der menschlichen Vernunft nötig ist. Der Universalmonarch ist in seiner Regierung an dieses Ziel der friedlichen Vernunftentfaltung als sozusagen naturrechtlichem Maßstab gebunden. Eine weitere Pointe besteht nun bei Dante darin, dass er die Entfaltung der Vernunft nicht nur an den äußeren Frieden, sondern auch an die Freiheit bindet, denn nur wenn sie sich ohne Zwang ein Urteil bilden darf, kann sich die menschliche Vernunft entfalten. Dantes Universalmonarch hat sich daher in seiner Rechtsprechung nicht nur am Ziel des Friedens, sondern auch an dem der individuellen Freiheit zu orientieren. So schreibt er: »Die gerechten Staatsverfassungen haben die Freiheit zum Ziel, nämlich daß die Menschen um ihrer selbst willen existieren« (M I/12). Zusammenfassend können wir also festhalten: Eine Universalmonarchie ist deshalb notwendig, weil das Ziel der menschlichen Natur, die kollektive Entfaltung der Vernunft, nur in Frieden und Freiheit sich vollziehen kann und es deshalb eine alle Menschen und Staaten bindende Rechtsordnung geben muss. Der Universalmonarch, will er gerecht sein (ist er ungerecht, ist er kein Monarch sondern ein Tyrann), ist daher in seiner Rechtsprechung mit der Wahrung dieser beiden Bedingungen beauftragt und zugleich in seiner Urteilsfindung an sie gebunden. Dantes Universalmonarch, so könnte man sagen, ist die personifizierte Herrschaft des Naturrechts, während das römische Reich für ihn eine kosmopolitische Rechtsordnung war, die in vorbildlicher Weise Frieden und Freiheit und damit dieses Naturrecht garantierte. Darüber hinaus – darauf sei abschließend noch hingewiesen – hatte Dante scheinbar bereits eine Vorstellung von einer Art Subsidiaritätsprinzip für seine kosmopolitische Friedensordnung. Zwar muss die Menschheit nach ihm, wie gesehen, von einem Universalmonarchen regiert werden. Aber er sieht auch, dass es regionale kulturelle Unterschiede gibt, und gerade diese Vielheit der Menschen und Völkerschaften ist ja für ihn Voraussetzung des Gelingens der kollektiven Vernunftentfaltung. Daher erklärt er: »Die einzelnen Nationen, Königreiche und Städte besitzen in ihrem Hoheitsgebiet gewisse Besonderheiten, welche es durch verschiedene Gesetze zu regeln gilt. Das Gesetz ist nämlich eine richtungsweisende Vorschrift für das Leben.« Diese Vielheit wird nur »hinsichtlich des Gemein-
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samen, das alle betrifft«, vom Universalmonarchen »beherrscht und mittels einer gemeinsamen Vorschrift auf den Frieden hingelenkt« (M I/14). Dantes Monarchia ist ein bereits äußerst modern anmutendes Werk, das uns auf den Kosmopolitismus der Aufklärung verweist. Die von Dante vernunfttheoretisch transformierte augustinische, kosmopolitische Friedensordnung wirkt fort in Leibniz' Res Publica Universalis, Christian Wolffs Civitas Maxima und schließlich in Kants Theorie des republikanischen Friedens.
II.5 Die Res Publica Christiana als ideengeschichtliche Hintergrundkonstellation des klassischen Republikanismus Ich habe in diesem Abschnitt versucht zu zeigen, wie sich bei Augustinus unter Bezug auf Ciceros Definition der Res Publica eine spezifisch christliche Idee der Res Publica entwickelt, die ich als im Jenseits verortete, kosmopolitische Res Publica Christiana gekennzeichnet hatte. In dieser kosmopolitischen Friedensordnung hatte ich die Innovation der christlichen Politik des Augustinus gesehen. Sie wird von Dante wieder aufgegriffen und in seinem Modell einer Universalmonarchie ins Diesseits überführt, womit Dante auf den Kosmopolitismus der Aufklärung vorgreift und einwirkt. Zugleich gingen jedoch mit Augustinus eine Unterordnung des Regnum unter das Sacerdotium einher, eine Entwertung der Vita activa und eine Vernachlässigung der in der antiken politischen Philosophie so prominenten Frage nach einer gerechten Verfassung. In einem zweiten Schritt hatte ich daher versucht, in einer Reihe von Skizzen nachzuzeichnen, wie sich die politische Philosophie und mit ihr die Idee der Republik seit dem 11. Jahrhundert langsam wieder aus der Umklammerung der Theologie löst. Es zeigte sich, wie über den Organismusvergleich wieder konkrete verfassungstheoretische Fragen auftreten und ein körperschaftlicher Begriff der Republik als öffentliche Person entwickelt wird. Dabei konnten wir nachvollziehen, wie bei Johannes von Salisbury noch vor dem Einsetzen der Aristotelesrezeption bereits wieder eine Besinnung auf heidnische, antike Autoren einsetzt und etwa in der Einbeziehung eines Senats in seine Republik ein klarer Bezug auf die römische Republik und auf Cicero nachzuweisen ist.
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Die Aristotelesrezeption konnten wir schließlich bei Thomas und Marsilius beobachten. Bei Thomas ist vor allem die Wiedereinführung der aristotelischen Verfassungstypologie hervorzuheben und dort das Mischverfassungsmodell der Politie, während wir bei Marsilius bereits die Volkssouveränität angedacht finden. Die aristotelische politische Philosophie und die Mischverfassung der Politie verbinden sich in der Folge im Florentiner Republikanismus mit der von Cicero und Rom ausgehenden Idee der Mischverfassung der römischen Republik – und zwar so, dass häufig »Politie« dann auch mit »Res Publica« ins Lateinische übersetzt wird. Überhaupt ist nicht zu übersehen, wie sich in der soeben skizzierten ideengeschichtlichen Entwicklung zum zweiten Mal nach Cicero in der republikanischen Ideengeschichte in hohem Maße griechische und römische Motive miteinander verbinden, die dann schon als ein Ganzes von den Humanisten und Florentiner Republikanern als klassisches Erbe aufgegriffen werden können. Dagegen findet die von Augustinus eingeführte und von Dante aufgegriffene Idee einer kosmopolitischen Friedensordnung zunächst keinen Niederschlag im klassischen, von Florenz ausgehenden Republikanismus. Der klassische Republikanismus befördert vor allem über Machiavelli, dem wir uns gleich zuwenden wollen, das nun heraufziehende »Westfälische Staatensystems« und dessen absolutistische Souveränitätstheorie. Erst im Zeitalter der Aufklärung, bei Leibniz in seiner Res Publica Universalis, in Christian Wolffs Civitas Maxima, in den Schriften des Abbe St. Pierre und schließlich bei Kant werden, wie ich zeigen möchte, der Republikanismus und der Kosmopolitismus wieder politisch-institutionell zusammengedacht, wird das stoisch-kosmopolitische Erbe Ciceros und das christlichkosmopolitische Erbe Augustins und Dantes wieder aufgegriffen.
III. Klassischer Republikanismus
III.1 Für eine republikanische Kultur der Freiheit: Machiavellis klassischer Republikanismus Eine Untersuchung zu Machiavelli sieht sich einem besonderen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Über kaum einen politischen Denker – oder sollten wir ihn nicht gleich politischen Philosophen nennen, denn zum Kanon der politischen Philosophie gehört Machiavelli ohne Zweifel – wurde mehr geschrieben und heftiger gestritten.140 Darüber hinaus gilt Machiavelli noch immer als »teacher of evil«,141 als mit einem »moralischen Problem«142 behafteter Denker, auch wenn sich die Dämonisierung143 in den letzten Jahrzehnten erheblich abgemildert haben mag.144 Demgegenüber berufen sich die folgenden Ausführungen – im Sinne des zu Beginn dargelegten generellen Programms dieser Studie – auf ein Wort Benjamins, wonach in jeder Epoche versucht werden muss, »die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen«.145 Ihre grundlegende These lautet, dass man dem Werk Machiavellis am ehesten gerecht wird, wenn man ihn als Republikaner begreift, ohne damit zugleich andere Zugänge zum Werk des Florentiners zu übersehen. Der Verzicht auf die Sichtung der bisherigen Forschung
—————— 140 Vgl. zur Vielfalt der Machiavelli-Rezeption Isaiah Berlin, Isaiah 1982: »Die Originalität Machiavellis«, in: ders. 1982: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, Frankfurt/M. und Buck, August 1985: Machiavelli, Darmstadt, S. 129-155, sowie pointiert Münkler, Herfried/Voigt, Rüdiger/Walkenhaus, Ralf (Hg.) 2004: Demaskierung der Macht. Niccolo Machiavellis Staats- und Politikverständnis, Baden-Baden, S. 22-26. 141 Strauss, Leo 1958: Thoughts on Machiavelli, Glencoe, S. 9. 142 Cassirer, Ernst 2002: Vom Mythus des Staates, Hamburg, S. 186ff. 143 Vgl. Ritter, Gerhard 1948: Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit, Stuttgart. 144 So zumindest Kersting, Wolfgang 1988: Niccolo Machiavelli, München, S. 9. 145 Benjamin 1940, S. 667.
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wäre ja auch weniger Ausdruck des Nonkonformismus, sondern käme der Ignoranz gleich. Vielmehr gilt es hier, in Auseinandersetzung mit dem reichen Forschungsstand, eine zeitgemäße Interpretation zu wagen. Diese setzt, um die zentrale These noch etwas genauer zu fassen, bei der Feststellung an, dass Machiavelli als »Sattelzeitdenker« in der republikanischen Ideengeschichte zu begreifen ist. Als »Sattelzeit« möchte ich hier das Übergangsstadium vom antiken Republikanismus, wie wir ihn bei Cicero gefunden haben, hin zum modernen Republikanismus, wie er sich in den Werken Rousseaus, Madisons oder Kants findet, verstehen. Dieses Übergangsstadium nenne ich »klassischen Republikanismus«. In ihm wirken Motive des antiken Republikanismus nach, während sich bereits Motive des modernen Republikanismus anmelden, ohne jedoch voll durchzuschlagen. Genau dieses Amalgam aus antiken und modernen Motiven macht seine Klassizität aus. Im Rahmen unserer bis hier durchgeführten republikanischen Ideengeschichte entsteht dieser klassische Republikanismus aus der ideengeschichtlichen Konstellation heraus, die wir zuvor bei Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin, Dante und Marsilius von Padua in der Autonomisierung der Vernunft und Politik und der Aufwertung der vita activa, des vivere civile, nachvollzogen hatten. An diese Konstellation schließt der klassische Florentiner Republikanismus eines Colucio Salutati, Leonardo Bruni, Francesco Guicciardini, Machiavelli und Donato Gianotti an, den wir nun exemplarisch bei Machiavelli untersuchen wollen.146 Der klassische Republikanismus strahlt dann von Florenz auf die englischen Revolutionäre Milton und Harrington und den niederländischen Republikaner Spinoza aus. Diese ideengeschichtliche Linie wird im Folgenden zu zeichnen versucht. Im klassischen Republikanismus lebt noch das alte Ideal des freien Stadtstaates fort, mit seiner Betonung der heroischen politischen Tugenden der Bürger, während sich bereits der moderne Flächenstaat und sein Interesse für die institutionelle Konfliktregulierung marktwirtschaftlich agierender Bürger bemerkbar machen. An diese Ambivalenz von bürgerlicher Tugend und institutioneller Konfliktregulierung im Florentiner Republikanismus schließt dann auch die Abschwächung des tugendethischen Motivs zugunsten der institutionellen Konfliktregulierung bei den Nachfolgern Machiavellis, bei Harrington und Spinoza, an.
—————— 146 Vgl. allgemein Kessler, Eckhard 2008: Die Philosophie der Renaissance. Das 15. Jahrhundert, München.
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Nur wenn man Machiavelli innerhalb dieser ideengeschichtlichen Bewegung verortet, ergibt sich ein adäquater Zugang zu seinem Œuvre. Darüber hinaus eröffnet dieser Zugang eine interessante Perspektive auf die republikanische Tradition und damit für die republikanische, politische Theoriebildung der Gegenwart, in der Machiavelli augenscheinlich eine wichtige Rolle einnimmt. Machiavelli – so die endgültige Version der zentralen These – entpuppt sich dann als Republikaner, der avant la lettre Probleme des modernen Liberalismus antizipiert, insofern er die wechselseitige Verwiesenheit von republikanischer Ordnung und einer republikanischen Kultur der Freiheit thematisiert. Genau diese Verbindung von antiker bürgerlicher Tugendethik und moderner institutioneller Konfliktregulierung macht seinen Status als republikanischer Sattelzeitdenker aus. Im Folgenden werde ich zunächst allgemein über den Versuch einer historischen Einordnung die These zu plausibilisieren suchen, dass Machiavelli als klassisch-republikanischer Sattelzeitdenker aufzufassen ist. Das kann aus Platzgründen nur sehr skizzenhaft geschehen. Da es sich hierbei um den hermeneutischen Sinnhorizont der gesamten Untersuchung zu Machiavelli und dem auf ihn folgenden klassischen Republikanismus handelt, scheint es mir aber angebracht, diesen Versuch vorzuschalten (III.1.1). In einem zweiten Schritt wende ich mich dann der häufig unterstellten »Schizophrenie« Machiavellis zu, die im Widerspruch von Principe und Discorsi gesehen wird. Gerade die Deutung Machiavellis als Republikaner lässt aber diesen Widerspruch verschwinden. Der Principe147 und die Discorsi148 scheinen dann vielmehr in einem Ergänzungsverhältnis zu stehen, wobei der Principe als Anleitung zur Überwindung der Krise und Ordnungsbildung aufzufassen ist, die dann durch die Discorsi in der Republik ihre Vervollkommnung findet (III.1.2). Haben wir so einen ersten Zugang zu Machiavelli als Sattelzeitrepublikaner gewonnen, können wir schließlich Machiavellis Begriff der »Republik« herausarbeiten, und so den Begriff »klassischer Republikanismus« mit Inhalt füllen. Dabei werde ich versuchen, die zentrale These zu belegen, dass Machiavelli als Theoretiker einer republikanischen Kultur der Freiheit zu verstehen ist, die institutionelle und
—————— 147 Im Folgenden im Text in Klammern zitiert als (P) unter Hinzufügung von Kapitel und Seitenzahl nach der Ausgabe Niccolo Machiavelli: Der Fürst, übersetzt von Friedrich von Oppeln-Bronikowski 2001, Frankfurt/M. 148 Im Folgenden im Text in Klammern zitiert als (D) unter Hinzufügung von Buch, Kapitel und Seitenzahl nach der Ausgabe Niccolo, Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt von Rudolf Zorn 1977, Stuttgart.
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lebensweltliche Komponenten als notwendig und wechselseitig aufeinander verwiesen auffasst (III.1.3).
III.1.1 Machiavelli als Sattelzeitdenker. Versuch einer historischen Einordnung »Wer sich mit der Geschichte des politischen Denkens am Ende des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt«, so Maurizio Viroli, »wird ein neu erwachtes Interesse der Wissenschaft für den Republikanismus feststellen, das heißt für jene weit zurückreichende und vielgestaltige Tradition des politischen Denkens, die sich auf das Ideal der Republik bezieht«.149 Die ideengeschichtliche Debatte über den Republikanismus– die ich hier noch einmal kurz mit Fokus auf Machiavelli und den »Machiavellian Moment« wiedergeben möchte– kam zunächst im Zusammenhang mit der Debatte über die ideengeschichtlichen Wurzeln der amerikanischen Verfassung auf. Bernard Baylin und Gordon Wood versuchten mit ihrer Betonung republikanischer Elemente, die durch Louis Hartz etablierte liberale, auf Locke fußende Deutung der amerikanischen Verfassung zu durchbrechen.150 John Pocock hat dann in seinem Meisterwerk The Machiavellian Moment diese Deutung erweitert, in dem er eine athenisch-aristotelische republikanische Tradition nachzeichnet, die im Florenz der Renaissance wieder aufgegriffen wird und über Machiavelli dann auf die englische Revolution im 17. Jahrhundert und die amerikanische im 18. Jahrhundert ausstrahlt.151 Auch in Quentin Skinners Rekonstruktion der republikanischen Tradition erhält Machiavelli eine zentrale Stellung, allerdings sieht Skinner nun eine neo-römische Tradition des Republikanismus am Werk.152 Vor dem Hintergrund dieser breiten Rezeption des »Machiavellian Moment« erscheint es angebracht, sich nochmals Machiavellis Republikanismus innerhalb der republikanischen Ideengeschichte zuzuwenden.
—————— 149 Viroli, Maurizio 2002: Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Machiavelli bis heute, Zürich, S. 19. 150 Vgl. Baylin, Bernard 1967: The Ideological Origins of the American Revolution, Harvard, und Wood, Gordon 1969: The Creation of the American Republic 1776-1787, North Carolina, sowie Hartz, Louis 1955: The Liberal Tradition in America. An Interpretation of American Political Thought since the Revolution, Harcourt. 151 Vgl. Pocock 1975. 152 Vgl. Skinner 1998.
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Diese Untersuchung schließt sich der Deutung Machiavellis als Republikaner an, die sie im Folgenden zu begründen sucht. Zuvor möchte ich aber erneut die Unterscheidung zwischen einer griechischen und einer römischen republikanischen Tradition aufgreifen und als nicht haltbar kritisieren. Vielmehr hatte ich gezeigt, wie sich bereits in der Apotheose der römischen Republik bei Cicero griechische und römische Motive verbinden. Eine zweite Synthese griechischer und römischer Motive hatten wir bei Johannes von Salisbury, Thomas, Dante und Marsilius gesehen. Wenn aber das griechische und römische politische Denken in der republikanischen Ideengeschichte derart ineinander verwoben sind, erscheint es mehr als künstlich, hier eine Trennung vorzunehmen. Auch im Werk Machiavellis findet eine breite Rezeption der Antike statt, die sich nicht auf das römische politische Denken beschränkt, auch wenn Livius natürlich eine zentrale Stellung einnimmt. Entschiede man sich daher für eine entweder nur auf griechische oder nur römische Quellen abzielende Interpretation Machiavellis, würde das den Blick auf sein Werk eher verstellen und das Verständnis von vornherein beschränken. Geistesgeschichtlich scheint mir daher eine andere Unterscheidung viel nahe liegender zu sein: die Unterscheidung zwischen einem antiken, klassischen und modernen Republikanismus, wie sie hier vorgenommen wird. Machiavelli erscheint dann als klassischer Republikaner, der sich Motive des antiken Republikanismus aneignet, sie zugleich aber transformiert und damit den modernen Republikanismus vorbereitet. Weiterhin erscheint er dabei als Teil einer Gruppe klassischer Republikaner, was ihm seinen häufig zugeschriebenen Nimbus als revolutionärer Solitär für das politische Denken der Neuzeit nimmt.153 Tatsächlich kann Machiavelli bereits auf eine breite republikanische Debatte in Florenz zurückgreifen.154 In Anlehnung an Reinhart Kosellecks Konzept der »Sattelzeit« – das ich freilich aus dem ihm von
—————— 153 Vgl. dazu Ottmann, Henning 2004: »Was ist neu im Denken Machiavellis«, in: Münkler/Voigt/Walkenhaus 2004 und Münkler, Herfried 1982: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M., 395ff. 154 Vgl. zum Florentiner Republikanismus Gilbert, Felix 1965: Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence, Princeton, Baron 1966, Thumfart, Alexander/Waschkuhn, Arno 2005: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus, Baden-Baden, und Höchli 2005.
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Koselleck zugedachten Säkulum (1750–1850) herausreiße – möchte ich ihn daher einen »Sattelzeitdenker« nennen.155 Will man nun einige Beispiele für den Status Machiavellis als Sattelzeitdenker heranziehen, so fällt zunächst Folgendes ins Auge: Der antike Republikanismus, etwa in der Gestalt von Aristoteles und Cicero, ist gekennzeichnet durch seine Vorstellung vom Menschen als politischem Lebewesen, die berühmte aristotelische Teleologie des Menschen als zoon politikon.156 Diese vereint Aristoteles und Cicero und trennt sie von Machiavelli, der kein Telos des Menschen mehr kennt. Daneben ist der antike Republikanismus durch seine Befangenheit im Konzept des Stadtstaates gekennzeichnet, der sich über die Gemeinschaft der Bürger (koinonia ton politon) und nicht über Territorium und Bevölkerung, wie der neuzeitliche Flächenstaat, definiert. Machiavelli scheint hier in großen Teilen noch dem antiken Republikanismus zu folgen. Im letzten Kapitel des Principe antizipiert er aber bereits den italienischen Nationalstaat (Vgl. P XXVI).157 Seine Betonung der antiken Bürgertugenden und die Zurückweisung der christlichen Moral erweist Machiavelli als stark vom antiken Republikanismus beeinflussten Denker.158 Machiavelli teilt aber nicht mehr durchgehend das einer aristokratischen Führungsschicht zuneigende Republikkonzept eines Cicero. Vielmehr sieht er die politische Partizipation des Volkes positiv und tendiert – wie ich zeigen werde – dazu, demokratischen Deliberationsmomenten einen prominenten Platz in seiner Republik einzuräumen. Damit zusammenhängend trennt ihn vom antiken Republikanismus sein harter Instrumentalismus und Funktionalismus, der dem antiken, eudämonistischen Denken des politischen Lebens als Möglichkeitsraum des guten Lebens fremd ist.159 Diese verweisen auf einen modernen Republikanismus, wie wir ihn dann bei Madison in den Federalist Papers entwickelt fin-
—————— 155 Vgl. zum Begriff der »Sattelzeit« Koselleck, Reinhart 1972: »Einleitung«, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.) 1972: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart, S. XVff. 156 Vgl. Aristoteles, Politik, herausgegeben von Olof Gigon 1998, München und Cicero, De re publica/Vom Gemeinwesen, herausgegeben von Karl Büchner 1979, Stuttgart. 157 Vgl. hierzu Ritter, Gerhard 1961: »Machiavelli und der Ursprung des modernen Nationalismus«, in: ders. 1961: Vom sittlichen Problem der Macht, München und Althusser, Louis 1987: »Die Einsamkeit Machiavellis«, in: ders. 1987: Machiavelli, Montesquieu, Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit, Berlin. 158 Dies betont besonders Berlin 1982. 159 Vgl. zum antiken Eudämonismus Annas, Julia 1993: The Morality of Happiness, Oxford.
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den.160 Machiavellis Konzeption der republikanischen Mischverfassung als institutionell eingebundener Dauerkonflikt, der selbst als produktiv und nicht als schädlich angesehen wird (Vgl. D I/2), stand wohl Pate für Madisons Republikanismus mit seinem System der checks and balances. Madison sieht die Lösung des Problems der sozialen Faktionen, wie ich noch zeigen werde, gerade darin, sie institutionell gegeneinander auszuspielen und die anzunehmenden eigensüchtigen Interessen der Menschen zum Schutz der Freiheit aller und des Gemeinwohls produktiv zu machen. Diese kurze Komparatistik muss hier genügen, um die These, dass Machiavelli als Sattelzeitdenker zwischen antikem und modernem Republikanismus aufzufassen ist, zu verdeutlichen.
III.1.2. Machiavellis »Schizophrenie«? Überlegungen zur Einheit seines Werks Der Republikaner Machiavelli kommt in der kurz nach der Veröffentlichung der Discorsi (1531) und des Principe (1532) einsetzenden MachiavelliRezeption zunächst nicht in den Blick.161 Vielmehr setzt zunächst die Auseinandersetzung mit dem vermeintlich amoralischen und atheistischen Machttechniker162 des Principe ein. Eine erste Welle der Empörung führt schließlich dazu, dass Machiavelli 1559 auf den »Index librorum prohibitorum« gesetzt wird. Diese Empörung setzt auch die AntimachiavellismusIndustrie in Gang, zu deren ersten Vertretern der englische Kardinal Reginald Pole gehört, für den der Principe vom Satan höchstpersönlich verfasst wurde. Weite Verbreitung findet Innocenz Gentillets als Antimachiavellus (1576) bekannte Schrift. Der Antimachiavellismus setzt sich dann fort bis ins 18. Jahrhundert, etwa mit Friedrichs II. berühmtem Antimachiavel, und noch im 20. Jahrhundert findet er zum Beispiel in Leo Strauss seine Vertreter, für den Machiavelli ein Lehrer des Bösen ist.163 Ein zweiter, in der Wertung eher neutral bis positiver Strang der Machiavelli-Rezeption, der relativ kurz nach seinem Tod einsetzt, sieht in ihm
—————— 160 Vgl. Hamilton/Jay/Madison, Die Federalist-Artikel, herausgegeben von Angela und Willi Paul Adams 1994, Stuttgart. 161 Vgl. zur im Folgenden wiedergegebenen Machiavelli-Rezeption besonders Berlin 1982 und Buck 1985, die ich möglicherweise systematisierend etwas zu stark vereinfache. Ich denke aber, dass die drei folgenden Rezeptionserzählungen zentral sind. 162 Diese technische Seite betont Freyer, Hans 1938: Machiavelli, Leipzig. 163 Strauss 1958.
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den Erfinder der Staatsräson und der Autonomie der Politik. Dies hat Friedrich Meinecke glänzend herausgearbeitet.164 Er setzt ein mit Bacons rühmendem Urteil, dass Machiavelli die Menschen beschreibe, wie sie sind und nicht, wie sie sein sollten. Später rezipieren Fichte und Hegel Machiavelli als Theoretiker eines starken (National-)Staates und dessen intrinsischen Wertes. Der italienische Nationalismus und Mussolinis Faschismus liegen auf dieser Linie der Machiavelli-Rezeption. Auch die heute weit verbreitete Interpretation Machiavellis als Begründer der modernen Politikwissenschaft, wie sie sich in den Arbeiten von Buck und Münkler angedeutet findet, liegt auf der Linie dieser Machiavelli-Rezeption.165 Schließlich setzt bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts durch Alberico Gentile die Deutung Machiavellis als Republikaner und Tyrannenfeind ein, die dann insbesondere in England im 17. Jahrhundert prominent wird, etwa in James Harringtons Entwurf eines Idealstaates in seinem Werk Oceana. Harrington bezieht sich dabei vorrangig auf die Discorsi. Auch im Frankreich der Aufklärung setzt sich langsam eine andere Deutung Machiavellis durch. So heben z. B. Bayle und Diderot die republikanische Gesinnung Machiavellis hervor. Für Diderot wird der Principe am Ende gar zur Schrift eines Aufklärers, der das Volk über die Machenschaften der Tyrannen unterrichtet. Diese Deutung Machiavellis als Republikaner findet heute ihren Ausdruck in den Arbeiten von Pocock, Skinner, Viroli und Pettit.166 Betrachtet man diese drei Stränge der Machiavelli-Rezeption, so fällt auf, dass sich die Deutung Machiavellis als Theoretiker der Staatsräson sowohl mit der Deutung des amoralischen und atheistischen Machttechnikers als auch mit der Deutung des Republikaners verträgt, denn auch ein Republikaner kann schließlich der Republik einen eigenen Wert zuschreiben. Der amoralische Machttechniker Machiavelli und der Republikaner Machiavelli scheinen dagegen in krassem Widerspruch zueinander zu stehen. Wie lässt sich diese Schizophrenie Machiavellis erklären? Findet sie sich tatsächlich im Werk Machiavellis oder beruht sie auf einer Fehldeutung?
—————— 164 Vgl. Meinecke, Friedrich 1924: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München/Berlin. 165 Vgl. Buck 1985, S. 156ff. und Münkler 1982, S. 395ff. 166 Vgl. Pocock 1975, Skinner, Quentin 1990: Machiavelli, Hamburg, Skinner 1997, Pettit 1997, Viroli, Maurizio 1998: Machiavelli, Oxford, Viroli 2002 sowie den Sammelband Bock, Gisela/Skinner, Quentin/Viroli, Maurizio (eds.) 1991: Machiavelli and Republicanism, Cambridge.
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Die Lösung des Problems verweist meines Erachtens auf eine zentrale Hypothese Machiavellis, den Kreislauf der Verfassungen. Machiavelli entnimmt diese Idee der anakyklosis den Historien des Polybios, wonach jede Verfassung unausweichlich ihre eigene Entartung hervortreibt und so in die nächste übergeht, von der Monarchie über die Tyrannis zur Aristokratie, von dort zur Oligarchie und schließlich zur Demokratie, die wiederum im Übergang zur Anarchie eine Alleinherrschaft notwendig macht und so weiter, ad infinitum. Machiavelli gibt ihr aber eine eigene Pointe. Die Beschreibung des Verfassungszyklus in den Discorsi beginnt zunächst mit einer Genealogie des Staates, wonach die Menschen »am Anfang der Welt, als es noch wenige Menschen gab«, zerstreut lebten, »ähnlich den wilden Tieren«. Die quantitative Zunahme der Population zwingt dann zur Bildung von größeren Gemeinschaften, die »um sich besser verteidigen zu können, den stärksten und beherztesten […] zu ihrem Führer« machen und sich ihm freiwillig unterwerfen. Diese erste politische Vergemeinschaftung führt nun nach Machiavelli zur Entstehung der Unterscheidung von »ehrenvoll und gut im Gegensatz zu verderblich und böse«, die die Schaffung von Gesetzen und Strafen nach sich zieht (D I/2, S. 13). Man sieht hier noch Partikel der aristotelischen Genese der Polis, die verbunden wird mit dem menschlichen Vermögen zum Logos, der die Unterscheidung von gerecht und ungerecht hervorbringt. Aber für Machiavelli ist die politische Gemeinschaft nicht mehr das Telos des Menschen, vielmehr sind alle Regierungsformen »durch Zufall« entstanden (ebd.). Hätte es keine Zunahme der Population gegeben, wäre der Staat nicht notwendig gewesen. Erst diese Zunahme der Population in Verbindung mit der Natur des Menschen, die bei großer Population und ohne jede staatliche Ordnung zum Schlechten und Bösen tendiert, macht den Staat als Verteidigungsgemeinschaft notwendig. Gleichzeitig wird dadurch die Schaffung von Gesetzen notwendig, um diese Verteidigungsgemeinschaft nach innen zu befrieden. Wie später Hobbes, denkt sich auch Machiavelli die Entstehung des durch Gesetze regulierten politischen Gemeinwesens als durch das Eigeninteresse der Menschen motiviert. So schreibt er, »überdies sagte sich jeder, es könnte ihm dasselbe Unrecht zugefügt werden. Um ähnliche Übel zu vermeiden, entschloß man sich, Gesetze zu schaffen und Strafen gegen Zuwiderhandeln einzuführen. Hieraus entstand der Begriff der Gerechtigkeit« (ebd.). Die durch die natürliche Notwendigkeit entstandene politische Gemeinschaft und ihr Gesetz, dass die Gerechtigkeit hervorbringt – die Gerechtigkeit entsteht wohlgemerkt erst nach der politischen
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Vergemeinschaftung und Gesetzgebung und geht ihr nicht voraus –, transformiert sich nun nach Machiavelli von der Herrschaft des Stärksten hin zur Wahlherrschaft des »Verständigsten und Gerechtesten« (ebd.), womit wir nun beim ersten Glied des Verfassungszyklus angelangt sind, der Monarchie. Durch die Einführung der Erbfolge kommt es jedoch nach Machiavelli dazu, dass die Monarchie degeneriert. Die Erben beginnen »sofort zu entarten« und geben sich der Vorstellung hin, »die Herrscher hätten nichts weiter zu tun, als die anderen an Prunk, Zügellosigkeit und jeder Art von Lüsten zu übertreffen. So wurde der Herrscher verhasst und begann sich wegen dieses Hasses zu fürchten« (ebd.). Die Furcht des Herrschers vor seinen Untertanen führt ihn zu Gewalttaten und damit zur Tyrannis, die ständig von Aufständen und Verschwörungen durchzogen wird. Diese werden nach Machiavelli von denen angeführt, »die durch Großmut, Hochherzigkeit, Reichtum und Vornehmheit die anderen übertrafen; sie konnten den ehrlosen Lebenswandel ihres Herrschers nicht ertragen« (D I/2 14). Die Aristokratie entsteht, wenn sich das Volk diesen besonders Hervorragenden anschließt, den Tyrannen stürzt und sich der Herrschaft der Aristokraten unterwirft. Auch diese regieren zunächst nach Gesetzen und im Hinblick auf das Gemeinwohl, wie der gerechte Monarch. Doch ebenso wie in der Monarchie kommt es auch in der Aristokratie schon in der nächsten Generation zur Degeneration hin zur Oligarchie. Die Nachfahren der Aristokraten werden korrumpiert durch ihre »Habsucht«, ihren »Ehrgeiz« und »dem Gelüst nach Weibern« (ebd.). Erneut wird das Volk dieser Herrschaft überdrüssig und stürzt sie, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Da man sich aber noch an die Tyrannei erinnert und die Oligarchen gerade gestürzt hat, wird die Volksherrschaft, die Demokratie, eingeführt. Jedoch kommt es auch in ihr nach einer Generation zu Degeneration, zur Missachtung des Gesetzes und des Gemeinwohls und zur flächendeckenden Korruption. »So kam man dann notgedrungen entweder unter den Einfluß eines redlichen Mannes oder, um der Anarchie zu entgehen, wieder auf die Herrschaft eines Fürsten zurück und von dieser nach und nach in gleicher Weise und aus gleichen Gründen wieder zur Anarchie« (D I/2 15). Wie Polybios zieht Machiavelli aus diesem Verfassungszyklus den Schluss, dass alle diese Verfassungen, sowohl die herkömmlich als gerecht betrachteten drei als auch die drei entarteten zu verwerfen sind. Dauerhaft kann einzig eine Mischung der drei gerechten Verfassungen, Monarchie, Aristokratie und Demokratie, sein, wie sie bereits Polybios in der römischen Republik erblickte. Machiavelli schließt sich diesem Urteil voll und
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ganz an: »Die Mischung der Regierungsformen führte zu einem vollkommenen Staatswesen« (D I/2 17). Diesem vollkommenen Staatswesen sind die Discorsi gewidmet. Wie verhält sich nun der Principe zu dieser Genealogie des Staates, dem Verfassungszyklus und dem Ideal der Republik? Steht er, wie häufig behauptet, in krassem Widerspruch dazu? Man kann bei Machiavelli, um die Frage zu beantworten, unter Bezug auf die Genealogie des Staates, den Verfassungszyklus und das Ideal der Republik eine dreistufige Entwicklungstheorie ausmachen. Zunächst herrscht ein Zustand der Krise und Anarchie, wie ihn Machiavelli auch in seiner eigenen Zeit in Italien erblickt, das »immer noch wie tot daliegt und auf den harrt, der seine Verletzungen heilt« (P XXVI 121).167 Zur Überwindung bedarf es »des Stärksten und Beherztesten«, des uomo virtuoso, der eine Herrschaft neu errichtet und eine institutionelle Ordnung durch Verfassungs- und Gesetzgebung herstellt. Genau diesen beiden Entwicklungsabschnitten ist nun der Principe gewidmet. Denn in ihm geht es genau um den Fürsten, der in einer Zeit der Krise und Anarchie eine neue Herrschaft errichten will und wie er das bewerkstelligen kann und soll, damit sie von Dauer ist. So heißt es nach der berühmten einleitenden Differenzierung im ersten Kapitel des Principe zunächst zur näheren Einkreisung des Themas: »Ich wende mich zur Alleinherrschaft und werde […] erörtern, wie diese erworben und erhalten werden kann« (P II 19). Kurz darauf wird das Thema nochmals spezifiziert: »In den neuen Herrschaften liegen die Schwierigkeiten« (P III 20). Der Principe ist nun nichts anderes als eine Anleitung zur Überwindung der Krise durch Schaffung und Konsolidierung einer neuen Herrschaft, wozu Machiavelli fast jedes Mittel recht ist, denn jede Ordnung ist besser als Anarchie. Die Deutung Machiavellis als amoralischer Machttechniker hat hier ihren Ort. Sie übersieht aber den Kontext der Ratschläge. Nach Jacob Burckhardt ist Machiavellis »politische Objektivität […] bisweilen entsetzlich in ihrer Aufrichtigkeit, aber sie ist entstanden in einer Zeit der Not und Gefahr, da die Menschen ohnehin nicht mehr leicht an das Recht glauben noch die Billigkeit voraussetzen konnten.«168 Insofern kann bei der Überwindung der Krise für Machiavelli auch keine Rücksicht auf Regeln der Moral genommen werden. Das ist sicher auch und gerade für uns heute noch ein höchst problematischer Schluss. Man sollte aber beachten, dass es für Machiavelli durchaus Grenzen gibt. Dies zeigt die Behandlung des Agathokles im Principe, von dem
—————— 167 Vgl. dazu Wolin, Sheldon 2004: Politics and Vision, Princeton, S. 182ff. 168 Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Hamburg 2004, S. 114.
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Machiavelli sagt, »man kann es nicht Tugend nennen, seine Mitbürger zu ermorden, die Freunde zu verraten, ohne Treu und Glauben, ohne Menschlichkeit und Religion zu sein. Auf diese Art kann man wohl die Herrschaft, doch keinen Ruhm erwerben« (P VIII 50). Ist so der Spielraum der amoralischen Techniken zur Herrschaftserwerbung und -konsolidierung im Hinblick auf den Nachruhm – der ja grundsätzlich irgendein ethisches Richtmaß verlangt – eingegrenzt, so erteilt das Kapitel über die Erlangung des Ruhmes sogar positive Ratschläge: »Ferner soll ein Fürst die Tüchtigkeit lieben und die Trefflichen in jedem Fach ehren. Er soll seine Bürger anfeuern, ihrem Berufe emsig zu obliegen, sowohl im Handel wie im Ackerbau und in allen anderen Gewerbezweigen, damit sie nicht ablassen, ihren Besitz zu mehren, aus Angst, dass er ihnen genommen werde, noch aus Furcht vor Steuern ihren Handel vernachlässigen. Vielmehr soll er jeden dazu ermuntern und alle belohnen, welche den Staat auf irgendeine Weise bereichern wollen« (P XXII 110). Diese Ratschläge zeigen Machiavellis Principe eher als Exemplar der Gattung des Fürstenspiegels, in denen der Fürst zur Wahrung und Mehrung des bonum commune aufgerufen wird. Wir haben jedoch bei der Behandlung des Verfassungszyklus gesehen, dass Machiavelli die Alleinherrschaft, sei sie gerecht oder entartet, für verfehlt hält. Nur die Mischverfassung der Republik ist eine vollkommene Verfassung und Machiavellis Ideal. Die These erscheint daher nahe zu liegen, dass der Principe einzig ein Übergangsstadium von der Krise zur institutionellen Ordnung beschreibt, dass aber in einem nächsten Schritt der Fürst von der Republik abgelöst werden muss, damit eine dauerhafte Ordnung entstehen kann. Ab hier übernehmen dann die Discorsi. Principe und Discorsi stehen somit in einem Ergänzungsverhältnis und die Deutung Machiavellis als amoralischer Machttechniker übersieht genau dieses Ergänzungsverhältnis, das ihn ganz im Gegenteil als Republikaner ausweist.
III.1.3 Für eine republikanische Kultur der Freiheit. Machiavellis Republik Haben wir so die Deutung Machiavellis als Republikaner begründet, stellt sich nun in einem weiteren Schritt die Frage, ob Machiavelli Republikaner aus Gründen der Staatsräson ist. Das heißt, ist er nur deswegen Republikaner, weil die Mischverfassung der Republik die einzig halbwegs stabile und dauerhafte Ordnung ist? Meine Lesart, die ich hier zunächst erläutern will, ist, dass es nicht nur zwei weitere Gründe für die Vollkommenheit der Republik gibt, nämlich Freiheit und Ruhm, sondern auch zwei Modelle der
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Republik, nämlich das Modell Sparta/Venedig und das Modell Rom. Sowohl das Modell Sparta/Venedig als auch das Modell Rom zeichnen sich durch die Werte relative Stabilität und Freiheit aus, aber einzig das Modell Rom führt zu Ruhm. Kehren wir aber zunächst zur Stabilitätsfrage zurück, die wir bereits bei der Auseinandersetzung mit der Genealogie des Staates und dem Verfassungszyklus gestreift haben. Warum genau ist die Mischverfassung der Republik die stabilste, was zeichnet sie aus? Dazu müssen wir uns der berühmten Stelle des ersten Buches der Discorsi zuwenden, in dem Machiavellis anthropologischer Pessimismus zum Ausdruck kommt: »Alle, die über Politik schrieben, beweisen es, und die Geschichte belegt es durch viele Beispiele, daß der, welcher einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muß, dass alle Menschen schlecht sind und daß sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben« (D I/3 17).169 Bevor wir uns den Folgerungen zuwenden, die Machiavelli hieraus zieht, möchte ich einen kleinen Exkurs zur Methode Machiavellis einschieben, der uns den epistemischen Hintergrund seines Republikanismus erhellt. In seinem Brief an Francesco Vettori beschreibt Machiavelli, wie er, vor sich hintreibend im ländlichen Exil, am Abend seine schmutzige Alltagskluft gegen eine »königliche Hoftracht« tauscht, um so »passend bekleidet die Hallen der Männer des Altertums« zu betreten.170 »Alle, die über Politik schrieben«, im oben angeführten Zitat aus den Discorsi, meint nun genau diese »Männer des Altertums«, die Philosophen, Staatsmänner und Historiker der Antike. Insbesondere Aristoteles, Polybios, Cicero und Livius tauchen fortwährend als Gewährsmänner in den Discorsi auf. Machiavellis Weg der Erkenntnisgewinnung, seine Methode, besteht nach meiner Lesart aus vier Komponenten: Erstens aus Überlieferungen der antiken Geschichte – »die Geschichte belegt es durch viele Beispiele« –, zweitens aus der Kommentierung dieser Geschichte bei den antiken Philosophen, Historikern und Staatsmännern – »Alle, die über Politik schrieben« –, drittens seiner eigenen Erfahrung der Zeitgeschichte – »die Geschichte belegt es durch viele Beispiele« (»Geschichte« hat bei Machiavelli immer diese Doppelbe-
—————— 169 Vgl. dazu die Position von Rene König, der Machiavelli für einen Dramatiker hält und Guicciardini vorzieht, der undramatisch und weise urteile, dass Menschen eben nie ganz gut oder schlecht seien, sondern meistens mittelmäßig. König, Rene 1979: Niccolo Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, München. 170 Zitiert nach dem Abdruck des Briefes in Machiavelli 2001, S. 12.
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deutung) –, und viertens aus einem gewissermaßen induktiv-deduktiven Verfahren, dass ihn seine eigene geschichtliche Situation unter Zuhilfenahme antiker geschichtlicher Erfahrungen und Kategorien verstehen lässt. Er übernimmt dabei nicht einfach die Urteile der »Männer des Altertums«, sondern erwirbt an ihnen seine grundsätzlichen Urteilskategorien, die er durchaus kritisch modifiziert aufgrund eigener geschichtlicher Erfahrung. Sein Ziel ist, dadurch allgemeine Regeln der Politik zu formulieren, da es für Machiavelli ein Irrtum ist, anzunehmen, dass sich »der Himmel, die Sonne, die Elemente, die Menschen in Bewegung, in Gestalt und Wirksamkeit, von dem, was sie seit altersher waren, unterscheiden würden« (D I/Vorwort 5). Dieses Zitat belegt die ungeheuerliche Modernität Machiavellis, weswegen ihm gelegentlich der Titel des Begründers der Politikwissenschaft, des Galilei der Politik, zugeschrieben wurde. Allerdings muss man diese Interpretation dahingehend einschränken, dass Machiavelli keine experimentell gewonnenen oder gar mathematisierten Gesetze der Politik formuliert, seine allgemeinen Regeln gleichen eher an ein oder zwei Beispielen gewonnenen Faustregeln. Auch seine Methode erweist Machiavelli daher als einen Sattelzeitdenker.171 Kommen wir aber nach diesem Exkurs auf die Folgerungen aus dem anthropologischen Pessimismus zurück. Warum ist die Mischverfassung der Republik die stabilste und vollkommenste? Sie ist es genau wegen diesem anthropologischen Pessimismus. Unabhängig von jeder institutionellen Einbindung und Kontrolle tendiert der Mensch zum Schlechten und Bösen. Das gilt aber ebenso für den Alleinherrscher, für die Aristokratie und die Herrschaft des Volkes, von der Anarchie ganz zu schweigen. Mischt man institutionell dagegen die nach Machiavelli natürlich vorkommenden sozialen Faktionen und Triebe (ambizione), so erhält man gerade durch den Konflikt zwischen ihnen eine vollkommene Ordnung, die Republik.172 Machiavelli versteht die Entstehung der Stabilität und Freiheit der römischen Republik, ihre für ihn einzigartige Qualität, gerade als Ergebnis eines auf Dauer gestellten Konfliktes.173 So schreibt er, »daß in
—————— 171 Vgl. zu diesem Themenkomplex die interessanten Überlegungen bei Lefort, Claude 2000: »Machiavelli and the Verita Effetuale«, in: ders. 2000: Writing. The Political Test, Duke University Press. 172 Madison wird dieser Einsicht später die Form »ambition should be made to counteract ambition« geben. 173 Auch in seiner Geschichte von Florenz kommt diese positive Wertung des politischen Konflikts zum Zuge. Vgl. Machiavelli, Niccolo: Geschichte von Florenz, herausgegeben von Hanns Floerke 1925, München, S. 6. Diese Konfliktdimension in Machiavellis politi-
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jedem Gemeinwesen das Sinnen und Trachten des Volkes und der Großen verschieden ist und daß alle zu Gunsten der Freiheit entstandenen Gesetze nur diesen Auseinandersetzungen zu danken sind« (D I/4 19). Einen weiteren Baustein zum Verständnis dieses Gedankengangs liefert Machiavellis berüchtigte These, »Hunger und Armut machen die Menschen arbeitsam. Gesetze machen sie gut« (D I/3 18). Die republikanische Mischverfassung ist genau deshalb vollkommen, weil sie die natürlicherweise zum Bösen tendierende, aber formbare menschliche Natur und die Ungleichheiten in einen institutionellen Dauerkonflikt einbindet, der als Ergebnis Gesetze der Freiheit für alle erzwingt, damit zugleich das Gemeinwohl befördert und die Menschen gut macht. Das ist Machiavellis äußerst realistische Utopie. Dieser institutionell eingebundene Dauerkonflikt befördert das, was ich in einer ersten Annäherung eine »republikanische Kultur der Freiheit« nennen möchte. Man kann sagen, Stabilität und Freiheit sind im Modell der Mischverfassung wechselseitig aufeinander verwiesen. So heißt es auch bei Machiavelli, »Vorsorge für den Schutz der Freiheit zu treffen. Dies ist eine der notwendigsten Einrichtungen; von dieser hängt es ab, ob die bürgerliche Freiheit [und damit die Republik, P.H.] von längerer oder kürzerer Dauer ist« (D I/5 21). Diese Einrichtungen zum Schutz der Freiheit und damit Stabilität zeichnen nun nach Machiavelli ebenso das Modell Sparta/Venedig wie das Modell Rom aus. Was unterscheidet sie dann? Eine Antwort darauf gibt Machiavelli im fünften Kapitel des ersten Buches der Discorsi: »Es kommt darauf an, ob man einen Staat im Auge hat, der ein mächtiges Reich werden will wie Rom, oder einen Staat, dem es genügt, Bestehendes zu erhalten. Im ersten Fall muß man in allem wie Rom handeln, im zweiten kann man Venedig und Sparta nachahmen« (D I/5 22). Der Unterschied zwischen dem Modell Sparta/Venedig und dem Modell Rom besteht für Machiavelli also in ihrer Fähigkeit zum Imperialismus.174 Er erklärt sich diesen Unterschied so, dass in Sparta und Venedig die Regierung eher repräsenta-
—————— scher Theorie betont besonders Audier (2005) in seiner Rekonstruktion eines französischen Republikanismus. 174 Vgl. hierzu die berechtigte Irritation von Schmitt, Eberhard 1968: »Machiavelli«, in: Maier 1968: »Angesichts einer solchen Konsequenz mag man sich fragen, ob die imperiale Leistung endlich in sich selbst genug sei und aus welchen Gründen, wobei man sich ein wenig fühlen mag wie Peer Gynt, der die Zwiebel solange entblätterte, bis er feststellen mußte, daß sie keinen Kern hatte« (S. 221). Ausführlich dazu Münkler, Herfried 2004: »Der Imperativ expansiver Selbsterhaltung. Machiavellis komparative Begründung für die Vorbildlichkeit der Römischen Republik«, in: ders./Voigt/Walkenhaus 2004.
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tiv war. In Sparta lag die Verwaltung in den Händen »eines Königs zusammen mit einem kleinen Senat« und in Venedig in den Händen der »Genttiluomini« (D I/6 24). Das Schwergewicht der Mischverfassung lag also stärker auf Seiten der Monarchie und des Adels. Für Machiavelli waren diese Republiken genau aus diesem Grund im Hinblick auf die Vergrößerung ihres Herrschaftsgebietes schwach, da sie auf Söldnerheere zurückgreifen mussten, deren Loyalität er durchweg skeptisch beurteilt. Diese Skepsis gegenüber Söldnern und die Notwendigkeit einer Bürgerarmee ist ein immer wiederkehrender Topos in Machiavellis Werk.175 Rom dagegen konnte auf eine Bürgerarmee zurückgreifen und war deshalb höchst erfolgreich in seinen Eroberungszügen. Es hat sich aber dabei ein höchst fragiles Gleichgewicht zwischen Nobilität und Volk, wenn nicht sogar ein Übergewicht des Volkes beziehungsweise der Volkstribunen eingehandelt, denn die kämpfenden Bürger fordern nun mal irgendwann politische Partizipationsrechte. »So muß man denn die Zwistigkeiten zwischen Volk und Senat ertragen und sie hinnehmen als ein notwendiges Übel, ohne das Rom seine Größe nicht erreicht hätte« (D I/7 28). Nun ist es nicht so eindeutig, wie es zunächst erscheint, welchem Modell Machiavelli den Vorzug gibt. Handeln die Discorsi auch im Großen und Ganzen von der römischen Republik, so fällt doch dem aufmerksamen Leser folgende Stelle im sechsten Kapitel des ersten Buches ins Auge: »Um ein Staatswesen von langer Dauer zu gründen, dürfte es wohl am besten sein, ihm eine Verfassung wie Sparta oder Venedig zu geben, es stark zu befestigen und es so mächtig zu machen, dass es niemand in den Sinn kommt, es schnell erobern zu können; andererseits darf man es auch nicht so groß machen, dass es den Nachbarn bedrohlich erscheint« (D I/6 27). Hier scheint sich ein Ausweg aus dem berühmten Sicherheitsdilemma anzudeuten und eine friedliche Koexistenz von Republiken, wie sie später Kant, wenn auch aus anderen Gründen, entwickeln wird. Der angeblich amoralische Machttechniker Machiavelli geht sogar noch einen Schritt weiter. Er schreibt: »Ich bin überzeugt, daß dies das wahre politische Leben und die wahre Ruhe für ein Gemeinwesen wäre, wenn man die Dinge auf diese Weise im Gleichgewicht halten könnte« (D I/6 28). Allein »alle menschlichen Dinge« sind »in Bewegung«, »sie steigen und fallen«, und so bleibt für Machiavelli am Ende doch nur ein melancholisches Votum für Rom. Das Zusammenspiel von
—————— 175 Vgl. dazu auch die Darstellung von Machiavellis Rolle bei der Bildung einer Florentiner Miliz 1512 und die Kommentierung der Arte della guerra in Viroli, Maurizio 2000: Das Lächeln Niccolos. Machiavelli und seine Zeit, Zürich, 275ff.
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necessita, fortuna und virtu macht eine Einrichtung des Staates notwendig, die darauf achtet, »was größeren Ruhm bringt, […] die ihn in den Stand setzt, sich zu vergrößern, wenn es die Notwendigkeit fordert, und zu erhalten, was er erobert hat« (D I/6 28).176 Wie stellt sich nun die institutionelle Struktur der Republik bei Machiavelli dar, die er ein vollkommenes Staatswesen nennt? Wir hatten bereits gesehen, dass sie sich aus einer Mischung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie zusammensetzt, wobei Machiavelli hier die Institutionen der römischen Republik vorschweben, die Mischung aus Konsuln, Senat und Volksversammlung. Besonderes Gewicht legt er auf die Volkstribune, die es dem Volk ermöglichen, gegen Beschlüsse der Nobilität ein Veto einzulegen. »Untersucht man das Streben des Adels und des Volkes, so zeigt sich ohne Zweifel beim Adel ein starkes Verlangen zu herrschen, beim Volk aber nur das Verlangen, nicht beherrscht zu werden, und folglich ein stärkerer Wille, in Freiheit zu leben […]. Werden daher Männer aus dem Volk zu Hütern der Freiheit bestellt, so werden diese vernünftigerweise stärker um deren Schutz besorgt sein« (D I/5 21). Machiavelli schließt sich dem Urteil des Aristoteles an, dass viele besser urteilen als ein Einzelner, »denn die öffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig« (D I/58 151). Machiavellis republikanische Mischverfassung erhält dadurch einen stark zur demokratischen Komponente hinneigenden Zug, dem man durchaus den Charakter einer deliberativen Demokratie zuschreiben kann. Allerdings besteht diese Deliberation eher auf der Outputseite des politischen Prozesses, in der Diskussion der Beschlüsse der Nobilität, verbunden mit einer Vetooption. Machiavelli schließt hieran sogar eine Apologie der Meinungsfreiheit an: »Die ungünstige Meinung über das Volk entsteht daraus, daß jeder dem Volk, auch dann, wenn es regiert, frei und ohne Scheu Übles nachreden kann, während man über einen Gewalthaber immer nur unter tausend Ängsten […] sprechen darf« (D I/58 153). Es gibt wohl kein besseres Zeugnis für Machiavellis der deliberativen Demokratie zugeneigten Republikanismus als diese Passagen der Discorsi. So heißt es dann auch, »zu einem zügellosen, aufrührerischen Volk kann ein Mann von rechter Gesinnung sprechen und es leicht wieder auf den rechten Weg
—————— 176 Ich unterlasse es hier, das in der Machiavelli-Forschung reichlich erforschte Feld des Zusammenhanges von necessita, fortuna und virtu wiederzugeben. Die beste Untersuchung zu diesem Thema hat meines Erachtens Hanna Pitkin vorgelegt. Vgl. Pitkin, Hanna 1992: Fortune is a Woman. Gender and Politics in the Thought of Niccolo Machiavelli, University of California Press.
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zurückführen, mit einem schlechten Alleinherrscher aber kann niemand reden, gegen ihn gibt es kein anderes Mittel als den Dolch« (ebd.). Was immer man von diesem Vertrauen Machiavellis auf die Rationalität der Deliberation des Volkes halten mag, es belegt eindeutig seine demokratische Gesinnung. Neben diesem institutionell eingebundenen Dauerkonflikt zwischen Nobilität und Volk, mit seinem stark zur demokratischen Deliberation neigenden Zug, hat nun die Herrschaft des Gesetzes für Machiavelli eine exzeptionelle Bedeutung. Ja, die Herrschaft des Gesetzes ist überhaupt der Kern von Machiavellis Republikanismus, denn Gesetze machen die Menschen gut. Man kann nach Machiavelli einen Staat dann nicht als schlecht beurteilen, wenn er »viele Beispiele hervorragender Tüchtigkeit« aufweisen kann, gute Beispiele entstehen aber »durch gute Erziehung, gute Erziehung durch gute Gesetze und gute Gesetze durch Parteikämpfe« (D I/4 19). Wir sehen nun schon etwas genauer, was mit der Formel einer republikanischen Kultur der Freiheit bei Machiavelli gemeint ist. Der institutionell eingebundene republikanische Dauerkonflikt zwischen den Bürgern schafft die Gesetze, die die Bürger zu diesem Dauerkonflikt erziehen und damit genau diese guten Gesetze und guten Bürger weiterhin ermöglicht. Machiavelli ist dabei weit entfernt von einer harmonistischen Vorstellung von Politik. Dennoch gelingt es ihm, über diesen Gedanken der Verwiesenheit von institutioneller Struktur, Herrschaft des Gesetzes und bürgerlicher Tugend eine grundsätzlich gemeinwohlorientierte Politikkonzeption zu entwickeln. Das ist im Übrigen das eigentlich brillante Moment in Machiavellis Denken, das uns heute mehr interessieren sollte als der angebliche Lehrer des Bösen oder der Theoretiker der Staatsräson. Die Herrschaft des Gesetzes in einer solchen Republik zeichnet sich für Machiavelli dadurch aus – und dies ist es, was ihn zu einem von uns Modernen macht –, dass die Vollstreckung »nicht durch die Gewalttat eines einzelnen noch mit Hilfe einer fremden Macht« geschieht, »was beides die Freiheit vernichtet, sondern durch die öffentliche Gewalt und durch Staatseinrichtungen, die ihre bestimmten Grenzen haben« (D I/7 30). Insbesondere die Möglichkeit der Klageeinreichung macht für Machiavelli die Herrschaft des Gesetzes attraktiv. Einerseits hat sie eine disziplinierende Wirkung, insofern »die Bürger aus Furcht vor Verfolgung nichts gegen den Staat unternehmen« (D I/7 29). Andererseits hat sie eine zivilisierende Wirkung, da den »Mißstimmungen, die auf mancherlei Art in einem Staat gegen einen Bürger entstehen, Luft geschaffen« wird (ebd.). Finden solche Missstimmungen keinen »gesetzlichen Ausweg«, tendieren
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sie nämlich nach Machiavelli dazu, zu »außerordentlichen Mitteln ihre Zuflucht« zu nehmen, und diese richten eine Republik »völlig zugrunde« (ebd.). Dies ist in Grundzügen die institutionelle Struktur von Machiavellis Republik. Eine republikanische Kultur der Freiheit kann aber für Machiavelli allein durch institutionell eingebundenen Dauerkonflikt und gute Gesetze nicht vollständig gewährleistet werden. Sie sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Hier kommt nun Machiavellis instrumentelles und funktionalistisches Verständnis der Religion ins Spiel (Vgl. D I/11). Er hebt lobend hervor, wie in Rom die Religion instrumentalisiert wurde, um »die Heere in Gehorsam, das Volk in Eintracht zu halten, die guten Menschen zu stärken und die schlechten zu beschämen« (D I/11 44). Die »Häupter eines Freistaates« müssen daher »alles, was für die Religion spricht, unterstützen und fördern, auch wenn sie es für falsch halten« (D I/12 47), da sich, »wo Religion lebendig ist, alles Gute voraussetzen lässt« (D I/12 49). Man muss dies aber nicht grundsätzlich als Ideologie und manipulative Herrschaftstechnik verstehen, obwohl eine solche Interpretation nicht ganz von der Hand zu weisen ist, sondern kann in Machiavelli auch einen Vertreter einer Zivilreligion im Sinne eines aufgeklärten Verfassungspatriotismus sehen. Funktional reagiert die Religion nämlich nach Machiavelli auf folgendes Problem: »Überdies wird der allgemeine Vorteil, den man von einer freien Verfassung hat, nämlich daß man frei und ohne Sorgen sein Eigentum genießen kann, daß man nicht für die Ehre seiner Frau und seiner Kinder zu bangen und nicht für seine eigene Person zu fürchten braucht, von niemandem anerkannt, solange man ihn genießt; denn nie wird sich jemand einem anderen verpflichtet fühlen, nur weil er ihm nichts zu Leide tut« (D I/16 58). Machiavelli antizipiert damit avant la lettre das Problem des modernen Liberalismus, das, nach Böckenfördes berühmtem Diktum, bekanntlich darin besteht, dass der »freiheitliche, säkularisierte Staat« von Voraussetzungen lebt, »die er selbst nicht garantieren kann«.177 Er ist auf ein »Entgegenkommen der Lebenswelt« (Habermas) angewiesen. In Verbindung mit der rituell im Alltag der Bürger zu verankernden Zivilreligion und dem Dienst in der Bürgerwehr wird für Machiavelli die Republik daher dadurch getragen, dass sie sich immer wieder ihres Ursprungs erinnert. »Zusammenfassend ist zu sagen, daß es für
—————— 177 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 1961: »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung«, in: ders. 1991: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M., S. 112.
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Gemeinschaften […] absolut notwendig ist, ihnen das Ansehen wiederzugeben, das sie in ihrem Anfang hatten. Hierbei muß man danach trachten, daß entweder gute Einrichtungen oder treffliche Männer diese Wirkung hervorbringen« (D III/2 278). Das heißt, die Republik muss neben ihren Institutionen so beschaffen sein, dass sie von Bürgern getragen wird, die sich des ursprünglichen Zwecks und Werts ihrer politischen Vergemeinschaftung erinnern; die diesen Ursprungszustand immer wieder vor der sich zwangsläufig mit der Zeit einstellenden allgemeinen Korruption bewahren und wieder herzustellen suchen, wenn nötig – da ist Machiavelli wie üblich nicht zimperlich – mit Gewalt. Auf den Punkt gebracht, heißt das für Machiavelli auch: »Wie nämlich zur Erhaltung guter Sitten Gesetze nötig sind, so sind auch zur Beachtung der Gesetze gute Sitten erforderlich« (D I/18 64).
III.1.4 Republik als Lebensform Eine Republik ist für Machiavelli also auf eine intakte republikanische Kultur der Freiheit angewiesen und vice versa. Der institutionell eingebundene Dauerkonflikt der Mischverfassung und die Herrschaft des Gesetzes mit ihrer Möglichkeit der Vetooption und der Klageeinreichung auf der institutionellen Seite und der Dienst in der Bürgerarmee, die Zivilreligion und die Erinnerung und Bewahrung des republikanischen Ursprungs auf der lebensweltlichen Seite sind für Machiavelli notwendige Komponenten einer republikanischen Kultur der Freiheit. Nur im Zusammenspiel sind sie für ihn hinreichend für eine stabile, freiheitliche politische Ordnung, die Ruhm erwerben kann. Andersherum formuliert: Diese institutionellen und lebensweltlichen Komponenten konstituieren eine republikanische Kultur der Freiheit, die nicht nur eine institutionelle Ordnung ist. In all ihren Komponenten ist sie Ausdruck einer zumindest nach innen zivilen, nach außen aber letztlich reichlich martialischen Lebensform, die sich der natürlichen Notwendigkeit und der Fortuna, samt den damit verbundenen Unverfügbarkeiten des menschlichen Daseins, entgegenzustemmen sucht. Das ist die prägende Konstellation des klassischen Republikanismus: Nach innen Republik, bürgerliche Tugend, Zivilreligion, Mischverfassung und Herrschaft des Gesetzes, nach außen Ruhm und Imperialismus. Mit dieser außenpolitischen Orientierung kann man Machiavelli als einen der Gründerväter des absolut souveränen Nationalstaates und des »Westfälischen Staatensystems« bezeichnen. Ich möchte daher im Folgenden vor
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allem der Frage nachgehen, wie sich seine republikanischen Nachfolger im Bezug auf diese Republikkonzeption und diese Theorie des Staatensystems Machiavellis in ihren je eigenen politisch-sozialen Kontexten verhalten, die geprägt sind durch die Anfänge der industriellen Revolution, die Entstehung der kapitalistischen Gesellschaftsformation und die ersten neuzeitlichen Aufstände und Revolutionen in den Niederlanden und in England.
III.2 Exit tyrannis, regium ultimus:178 John Milton, James Harrington und der englische Republikanismus »Ich gedenke weder geringfügige noch gewöhnliche Dinge zu erzählen: wie ein sehr mächtiger König, der, nach Unterdrückung der Gesetze, nach Niederbeugung der Religion, mit Willkür und Laune herrschte, zuletzt von seinem eigenen Volk, welches eine lange Knechtschaft erduldet hatte, im Kriege besiegt, wie er dann ins Gefängnis geworfen und, da er weder durch Worte noch durch Taten durchaus keinen Grund gab, besseres von ihm zu erwarten, erst von dem höchsten Rat des Reiches zum Tode verurteilt und vor den Pforten des Palastes selbst mit dem Beile enthauptet worden ist.«179 Mit diesen Worten beginnt John Milton seine große Verteidigung des englischen Volkes. Die gewaltige Erschütterung, die die erste große Revolution der Neuzeit und die öffentliche Verurteilung und Hinrichtung des Königs weit über die Grenzen Englands hinaus bewirkt hat, werden in dieser Schrift ebenso deutlich, wie das Pathos der republikanischen Revolutionäre. Die Existenz der Schrift Miltons selbst ist ja Ausdruck der Ungeheuerlichkeit der öffentlichen Verurteilung und Hinrichtung eines Königs durch das Volk. So etwas ward bis dato noch nicht gesehen. Gewiss, auch zuvor schon gab es Aufstände gegen Fürsten, gab es Giftmorde und Usurpatoren. Insbesondere der niederländische Aufstand gegen die spanische Monarchie, dem wir uns im nächsten Kapitel zuwenden werden, ver-
—————— 178 Angeblich wurden diese Worte 1649 in den Sockel eingraviert, auf dem die von den Revolutionären entfernte Reiterstatue Karls I. in London stand. Die Statue wurde allerdings nach der Restauration 1660 wieder aufgestellt und die Gravur entfernt. 179 Milton, John 1651: John Miltons, eines Engländers, Verteidigung des Volkes von England, in: Tielsch, Elfriede Walesca (Hg.) 1980: John Milton und der Ursprung des neuzeitlichen Liberalismus. Studienausgabe der politischen Hauptschriften, Hildesheim, S. 165.
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dient hier Erwähnung, der 1579 zur Abspaltung der niederländischen Republik führte und seinen Ausdruck in der republikanischen politischen Theorie der Brüder de la Court und vor allem Spinozas findet.180 Aber dass ein König aufgrund der Rechte des Volkes abgesetzt, verurteilt und hingerichtet wurde, war ein Novum. Damit haben die Engländer das Zeitalter der Revolutionen eingeläutet.181 Ab jetzt war die Volkssouveränität, die Herrschaft des Volkes eine reale politische Option, und nichts konnte das Volk mehr daran hindern – ein Gottesgericht in Form einer Sintflut oder ähnlichem für die Tat war ja ausgeblieben –, wenn es nur wollte. Genau wegen dieses Novums, dieser sowohl politisch-sozialen als auch geistigen Revolution, sahen sich die englischen »Königs- beziehungsweise Vatermörder« aber heftigster publizistischer Attacken im eigenen Land und auf dem Kontinent ausgesetzt, und Milton sieht sich daher genötigt, die Revolution gegen diese zu verteidigen.182 Nun sollte man meinen, dass die politischen Schriften der englischen Republikaner, aufgrund der Bedeutung der englischen Revolution als Initialzündung für die politisch-sozialen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, eine breite philosophische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten. Davon kann aber keine Rede sein. Im Gegenteil hat sogar eher deren Gegner, der Theoretiker des absoluten Herrschers, Hobbes, die größte Aufmerksamkeit bis heute auf sich gezogen, während Republikaner wie Sidney, Nedham, Milton oder Harrington eher der Vergessenheit anheimgefallen sind. Sicher, als Philosoph ist ihnen Hobbes im Hinblick auf argumentative Schärfe und Systematik weit überlegen, das muss man sehen. Aber ideen-
—————— 180 Es gibt, wie wir sehen werden, starke Parallelen zwischen dem Republikanismus Spinozas und dem hier untersuchten englischen Republikanismus, etwa das Problem der Glaubensspaltung und die Betonung der Gewissens- und Meinungsfreiheit, der Bezug auf Machiavelli und die Idee einer durch eine natürliche Aristokratie regierten Republik. 181 Dies gilt zumindest, wenn man Hannah Arendts Definition der modernen Revolution als Maßstab heranzieht. Vgl. Arendt, Hannah 1963: Über die Revolution, München. »Nur wo durch Wechsel ein Neuanfang sichtbar wird, nur wo Gewalt gebraucht wird, um eine Staatsform zu konstituieren, einen neuen politischen Körper zu gründen, nur wo der Befreiungskampf gegen den Unterdrücker die Begründung der Freiheit wenigstens mitintendiert, können wir von einer Revolution im eigentlichen Sinne sprechen« (S. 42). Ansonsten handelt es sich lediglich um Aufstände oder Rebellionen. Nun trifft aber diese Definition genau auf die englische, republikanische Revolution der 1640er zu, auch wenn es ihr schließlich nicht gelang, eine dauerhafte republikanische Ordnung zu bilden. Es irritiert daher etwas, dass Arendt ihr in ihrem großartigen Buch keine so große Aufmerksamkeit widmet, wie der amerikanischen und französischen Revolution. 182 Vgl. insgesamt zur englischen Revolution Schröder, Hans-Christoph 1986: Die Revolution Englands im 17. Jahrhundert, Frankfurt/M.
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geschichtlich sind doch rückblickend, wenn man so sagen darf, die Argumente der Republikaner die besseren gewesen. Daneben hat ein Werk wie Harringtons Oceana durchaus philosophischen Rang und lohnt die Auseinandersetzung. Was wir hier angedacht finden, ist eine der zentralen Ideen der Moderne, die Idee der revolutionären Verfassungsgebung, die Abkopplung des Rechts und der Politik vom Herkommen, die Schaffung eines freiheitlich-rechtlichen Rahmens nach vernünftigen, staatsrechtlichen und politikwissenschaftlichen Prinzipien. Pikanterweise hat sich diese Idee der Republikaner mit dem Scheitern der Revolution und der Wiedereinsetzung der Monarchie in England bis auf den heutigen Tag nicht durchgesetzt. England ist bekanntlich noch heute ein Land des common law, ein Land ohne Verfassung.183 Es blieb den Amerikanern und Franzosen vorbehalten, diese Idee der englischen Republikaner mehr als einhundert Jahre später in die Tat umzusetzen.184 In den letzten Jahren hat insbesondere Quentin Skinner das politische Denken der englischen Republikaner wieder in den Fokus der philosophischen Aufmerksamkeit gerückt. Skinner spricht von einer »neorömischen republikanischen Theorie der Freiheit«, einer »Liberty before Liberalism«.185 Daran ist richtig, dass der englische Republikanismus und der bürgerliche Liberalismus, der sich in der zweiten englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, der so genannten Glorious Revolution 1688/89, durchsetzt, nicht
—————— 183 Vgl. Jennings, Ivor W. 1970: »Leitfaden«, in: ders./ Ritter, Gerhard A. 1970: Das britische Regierungssystem. Leitfaden und Quellenbuch, Köln, insbesondere S. 25-40. Diese Feststellung, dass England bis heute ein Land ohne Verfassung ist, gilt allerdings nur, wenn man den späteren Verfassungsbegriff der schriftlich fixierten Verfassung des 18. Jahrhunderts anlegt, die gewissermaßen über allen Organen des Staates steht beziehungsweise ihnen vorausgeht. Ulrich K. Preuß spricht daher im Hinblick auf England von einer »politischen Verfassung«. Vgl. Preuß, Ulrich K. 1994: »Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik«, in: ders. (Hg.) 1994: Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, Frankfurt/M.. »Die politische Macht [in England P.H.] ruht gewissermaßen, eingefasst in ehrwürdige Institutionen und überkommene Konventionen, im Schoße der Gesellschaft« (S. 12). 184 Vgl. für diese ideengeschichtliche Verbindungslinie zwischen englischer, amerikanischer und französischer Revolution, die für die angelsächsische Linie wesentlich besser untersucht ist, für den Einfluss auf die amerikanische Revolution Baylin 1967, Wood, Gordon 1969, Pocock 1975 und Zuckert, Michael P. 1998: Natural Rights and the New Republicanism, Princeton. Für den Einfluss der Commonwealthmen auf das kontinentaleuropäische und französische Denken des 18. Jahrhunderts grundlegend ist Venturi, Franco 1971: Utopia and Reform in the Enlightenment, Cambridge sowie Fontana, Biancamaria (Hg.) 1994: The Invention of the Modern Republic, Cambridge. 185 Vgl. Skinner 1998.
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deckungsgleich sind. In Skinners Version ist der bürgerliche Liberalismus rein privatrechtsbasiert und favorisiert ein unpolitisches Konzept der Freiheit, während der Republikanismus eine dezidiert politische Theorie ist, die dadurch auch ihren negativen Freiheitsbegriff politisch konzipiert. Es stellt sich allerdings erneut hier die Frage, ob der Begriff »neorömischer Republikanismus« für den englischen Republikanismus eine glückliche Wahl ist. Das von Cicero ausgehende und über Livius tradierte Institutionenmodell der römischen Republik und das römische Rechtsverständnis spielen zweifellos eine wichtige Rolle bei den englischen Republikanern. Aber darauf beschränkt sich die Rezeption der Antike bei ihnen nicht. Die beiden englischen Republikaner Milton und Harrington, denen wir uns hier widmen wollen, referieren auf die gesamte antike Geisteswelt, auf Platon und Aristoteles ebenso, wie auf Cicero und Livius, daneben auf ein Vielzahl weiterer antiker Philosophen, Historiker und Dichter. Zudem spielen bei beiden – es ist das Jahrhundert der Religionskriege186 – die Spaltung des Christentums, die politisch richtige Lesart der Bibel und die Rolle der Religion in der Politik eine zentrale Rolle, so dass man sagen kann, dass die geistesgeschichtlichen Wurzeln neben Rom auch Athen und Jerusalem umfassen und damit die ganze abendländische Geisteswelt. Sinnvoller scheint mir daher auch in diesem Fall eine weitere, epochenspezifische Einteilung, wonach die englischen Republikaner neben den italienischen Republikanern der Renaissance zu einer Gruppe von klassischen Republikanern gehören, die den antiken Republikanismus wieder aufgreifen und in die Moderne hinein transformieren, ohne schon selbst ganz der Moderne anzugehören. Sie legen die Fundamente für die erste neuzeitliche Konzeption der Republik als Territorial- und Nationalstaat und lösen die Republik damit aus dem Konzept des Stadtstaates. Darüber hinaus verbinden die englischen Republikaner – und das unterscheidet sie wiederum vom Republikanismus Machiavellis – die Idee der Republik als einzig freiheitliche Regierungsform nun mit vertragstheoretischen Argumenten und Argumenten für die natürlichen Freiheitsrechte des Menschen, die sich etwa im Falle Miltons einer Verbindung von Epikureismus und radikalprotestantischem Christentum verdanken. Schließlich wird bei den englischen Republikanern zum ersten Mal die Idee der gewählten Repräsentation und der verfassungsgebenden Versammlung für den republikani-
—————— 186 Vgl. Trevor-Roper, Hugh 1967: »Die allgemeine Krisis des 17. Jahrhunderts«, in: ders 1967: Religion, Reformation und sozialer Umbruch. Die Krisis des 17. Jahrhunderts, Berlin.
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schen Territorialstaat vorgeschlagen. Dies sind die Thesen, die ich im Folgenden an den Beispielen Milton und Harrington herausarbeiten möchte. Ich möchte zunächst in einem ersten Schritt etwas näher auf John Miltons politische Schriften eingehen, die sich eher durch literarisch brillante Polemik und Rhetorik als durch philosophische Systematik auszeichnen. Dennoch können sie dazu dienen, gewisse Grundprämissen der englischen Republikaner zu klären. Bei Milton findet sich nämlich ein besonderes Augenmerk auf die von ihm als natürlich konzipierten Freiheitsrechte, die im Einzelnen von ihm diskutiert werden, sowie auf daraus resultierende, vertragstheoretische Herrschaftsbegründungen (III.2.1). In einem zweiten Schritt möchte ich mich dann Harringtons Commonwealth of Oceana zuwenden und dessen republikanische politische Ordnung in ihren Grundzügen herausarbeiten. Harrington konzentriert sich in dieser Schrift weniger auf die Auffächerung und Begründung individueller Freiheitsrechte, als auf die revolutionäre Schaffung einer institutionellen Ordnung, die diese Freiheitsrechte zuverlässig garantiert (III.2.2). Insgesamt geht es mir hier nicht in erster Linie darum, Milton und Harrington miteinander zu vergleichen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen herauszuarbeiten. Dies soll nur insofern geschehen, als es dazu dient, am Beispiel von Milton und Harrington das Spektrum an Ideen herauszuarbeiten, das der klassische englische Republikanismus als ideengeschichtlich besondere Konstellation in meinen Augen vereint.187
III.2.1 John Milton: Die natürlichen Freiheitsrechte des Menschen, die Souveränität des Volkes und die religiöse und staatliche Autorität John Milton tritt zunächst in den 1640er Jahren mit einigen Abhandlungen zu religiösen Fragen in das Licht der politischen Öffentlichkeit.188 In ihnen ist bereits der grundlegende, der Reformation und den Religionskriegen entspringende Gedanke der individuellen Gewissensfreiheit angedacht.
—————— 187 Vgl. für einen umfassenden Überblick über das politische Denken während der englischen Revolution Goldie, Mark 1985: »Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England«, in: Fetscher, Iring/Münkler, Herfried (Hg.) 1985: Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, München. 188 Vgl. zu Milton insbesondere Hill, Christopher 1979: Milton and the English Revolution, Viking Press und Dzelzainis, Martin 2006: »Milton's Classical Republicanism«, in: Armitage, David /Skinner, Quentin/Himy, Armand (Hg.) 2006: Milton and Republicanism, Cambridge.
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Alle Menschen verfügen für Milton über die geistigen Mittel und Fähigkeiten, die Bibel selbständig zu lesen und auszulegen. Daraus folgt für Milton, dass diese individuelle Auslegung den Vorrang vor allen traditionellen Auslegungen und Interpretationen durch die kirchlichen Autoritäten und Kirchenväter hat. Weiter folgt, dass die kirchlichen Gemeinden demokratisch organisiert sein sollten, da niemand mehr einen privilegierten Zugang zur göttlichen Offenbarung für sich beanspruchen kann. Daneben tritt Milton für eine Finanzierung der Gemeinden durch die Gläubigen ein. Eine staatliche Kirchensteuer empfindet er als ungerecht gegenüber Andersgläubigen. Damit ist aber bei Milton bereits eine Trennung von Staat und Kirche grundsätzlich angedeutet. Zuletzt tritt er aufgrund des Vorrangs der individuellen Bibelauslegung und der daraus möglicherweise resultierenden Vielzahl von Sekten – die es ja faktisch zu seiner Zeit bereits gibt – für religiöse Toleranz ein. Man kann bei Milton sehr gut beobachten, wie aus der Erfahrung der Glaubensspaltung und der Religionskriege die Idee der Gewissensfreiheit und der Toleranz erwächst, die wiederum in einem nicht-dogmatischen, prozessualen Wahrheitsbegriff mündet. Davon zeugt Miltons Verteidigung der Pressefreiheit und die Zurückweisung der Zensur in seiner berühmten Schrift Areopagita, die sich dem Namen nach an eine Schrift des großen Athener Redners Isokrates anlehnt, der zur Rückkehr zur solonischen Verfassung aufrief. Milton geht in ihr davon aus, dass an die Wahrheit und an die Tugend sich nur annähern kann, wer mit Irrtümern und Versuchungen konfrontiert wird, dass »alle Irrtümer, die man gekannt, gelesen und verglichen hat, zur Erreichung dessen, was das Wahrste ist, den größten Dienst und Beistand leisten.«189 Die Freiheit von Zensur »rechtfertigt« nach Milton »die hohe Vorsehung Gottes, der obwohl er uns Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit anbefiehlt, dennoch selbst alle wünschenswerten Dinge bis zur Überfülle vor uns ausgießt und uns Neigungen gibt, die über alle Grenzen hinausschweifen können. Warum sollen wir dann eine Strenge anstreben, welche dem Tun Gottes und der Natur entgegen ist, indem wir jene Mittel verkürzen oder einschränken, welche, wenn Bücher frei erlaubt sind, sowohl eine Prüfung der Tugend, als eine Übung der Wahrheit sind?«190 Gott hat es in die innere Gewissensentscheidung der Menschen gelegt, sich für die Tugend und gegen das Laster zu entscheiden und nach der Wahrheit zu suchen. Der Staat und die
—————— 189 Milton, John 1644: Areopagita. Eine Rede für die Freiheit des unzensierten Drucks. An das Parlament von England, in: Tielsch 1980, S. 90. 190 Ebd., S. 99.
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Kirche oder gar eine Staatskirche dürfen hierauf von außen nicht durch Zwang und Verbot einwirken. »Straflosigkeit und Nachlässigkeit sind unstreitig das Verderben eines Staates, aber darin liegt die große Kunst, worin das Gesetz Verbot und Strafe gebieten muß, und in welchen Dingen nur Überzeugung zu bewirken ist«,191 so Milton in Antizipation der später von Kant getroffenen Unterscheidung von Legalität und Moralität. Auf die religiösen und moralischen Überzeugungen der Bürger dürfe der Staat nur durch jene »ungeschriebenen, oder wenigstens nicht zwangvollen Gesetze einer tugendhaften Erziehung, eine religiöse und bürgerliche Erziehung, deren Plato als der Klammern und Bande des Staates, als der Pfeiler und Träger eines jeden geschriebenen Gesetzes erwähnt«,192 einwirken. Der Staat soll durch Gesetze das verbieten, »was unbedingt böse ist«,193 so Milton, alles Weitere aber muss dem freien Streit der Meinungen und dem individuellen Gewissen überlassen werden. Hier werden am Ende – das ist Miltons Überzeugung – die Tugend und die Wahrheit sich von alleine durchsetzen: »Denn wer weiß es nicht, daß, neben dem Allmächtigen, die Wahrheit stark ist. Sie bedarf keiner Staatskünste, Kriegslisten und Bücherzensur, um sich zur Siegerin zu machen; das sind die Pfiffe und Verteidigungsmittel, deren sich der Irrtum gegen ihre Macht bedient.«194 Diese Ausführungen über Gewissens- und Pressefreiheit verweisen auf Miltons grundsätzliche Überlegungen zur natürlichen Freiheit und Gleichheit des Menschen, wie er sie in seiner Schrift Der Herrschaftsanspruch der Könige und Obrigkeiten dargelegt hat. Dort heißt es: »Niemand der etwas weiß, kann so beschränkt sein, dass er leugnen sollte, dass alle Menschen von Natur aus frei geboren wurden, da sie das Ebenbild und Gleichnis Gottes sind.«195 Der Sündenfall Adams führte aber dazu, dass dieser von Natur aus freie Mensch ungerecht und gewalttätig gegenüber seinen Mitmenschen wurde. Daher entstanden nach Milton – hier erfolgt der Rückgriff auf die epikureische Vertragstheorie – Dörfer, Städte und Staaten als Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaften, in denen sich alle wechselseitig versprachen, sich gegen diejenigen beizustehen, die Unrecht begehen. Milton scheint hier davon auszugehen, dass die Menschen auch nach dem
—————— 191 Ebd., S. 98. 192 Ebd., S. 97-98. 193 Ebd., S. 121. 194 Ebd., S. 120. 195 Milton, John 1649: Der Herrschaftsanspruch der Könige und Obrigkeiten, in: Tielsch 1980, S. 131.
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Sündenfall zumindest die Einsicht darin besitzen, dass ein Leben mit institutionalisiertem, gesetzlichem Schutz rational vorzugswürdig ist. Denn es stellte sich heraus, so die Miltonsche Geschichte der Entstehung der Staatsgewalt, »dass das gegebene Wort nicht bei allen genügend bindend war, so hielt man es für nötig, eine Autorität anzuordnen, welche mit Gewalt und Strafe dasjenige verhindern könnte, was gegen den Frieden und das allgemeine Recht verbrochen worden war.«196 Hier erblickt man in Milton einen der ersten Vertreter der neuzeitlichen Vertragstheorie und wird gleichzeitig auf ihre epikureischen Wurzeln aufmerksam. Die Philosophie Epikurs wurde damals insbesondere über Lukrez' De rerum natura breit rezipiert. Miltons Vertragstheorie operiert dabei in zwei Schritten. Erstens verpflichten sich die mit natürlichen Freiheitsrechten ausgestatteten Menschen zu wechselseitigem Beistand gegen Verletzung ihrer Rechte. Dieser Zustand des wechselseitigen Versprechens erscheint jedoch allzu fragil, um die Rechte der einzelnen dauerhaft zu schützen. Die Bindungswirkung des Versprechens bleibt letztlich der Willkür jedes Einzelnen überlassen. Daher ist es in einem zweiten Schritt rational, eine Autorität zu errichten, die, unabhängig von der individuellen Bereitschaft der Einhaltung des Versprechens, die Rechte aller garantiert und Übergriffe bestraft. Aus dieser ganzen Konstruktion folgt, dass jede staatliche Autorität nur dann legitim ist, wenn sie diese Freiheitsrechte auch tatsächlich garantiert und schützt. Verletzt sie dagegen diese Freiheitsrechte, ist der Vertrag gebrochen und Widerstand gegen die staatliche Autorität gerechtfertigt. Das ist natürlich das Beweisziel Miltons, dass das Königtum eine Form der staatlichen Autorität ist, die aber im Falle des englischen Königs die Freiheitsrechte der Bürger mit Füßen getreten hat, weshalb seine Absetzung, Verurteilung und Hinrichtung absolut legitim und legal war. Grundlegende Freiheitsrechte sind nach Milton, neben der bereits behandelten Gewissens-, Presse- und Meinungsfreiheit, die häusliche beziehungsweise private Freiheit, für die er vor allem mit seiner Verteidigung eines Rechts auf Ehescheidung eintritt. »Der andere Teil unserer Freiheit besteht«, laut Milton, »in den alten politisch-ständischen Wahl-, Justiz- und Zustimmungsrechten«.197 Dies führt uns zu seinem Begriff der »Republik«, die eine Mischung aus natürlicher Aristokratie und Demokratie ist. Ihre demokratische Komponente besteht darin, dass alle Souveränität vom Volke ausgeht, das nach
—————— 196 Ebd., S. 132. 197 Milton, John 1660: Der Gerade und leichte Weg zur Konstitution einer freien Republik, in: Tielsch 1980, S. 377.
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der Vertragstheorie die staatliche Autorität hervorbringt und ihre Repräsentanten wählt, um seine Freiheitsrechte gewährleistet zu sehen. Bei Eingriffen der staatlichen Autorität und ihrer Repräsentanten in diese Rechte, kann das Volk diese zur Verantwortung ziehen. »Die Glückseligkeit eines Volkes muß notwendigerweise am festesten und sichersten in einer vollzähligen und freien, von ihm selbst gewählten Ratsversammlung sein, wo nicht eine einzelne Person, sondern die Vernunft allein regiert. Und welcher Wahnsinn ist es von denen, die ihre eigenen Angelegenheiten auf würdige Weise selbst leiten könnten, träge und schwach alles auf eine einzige Person abzuwälzen, und mehr unmündigen Knaben als Männern gleich, alles dem Schutze und der Verfügung dessen anzuvertrauen.«198 Milton votiert hier also eindeutig, was nicht überrascht, gegen die Monarchie und für eine demokratisch gewählte republikanische Regierung. Aber die reine Demokratie ist für Milton immer gefährlich und sei bei der gegenwärtigen »reaktionären Volksstimmung nicht opportun«.199 Das Volk müsse erst zur Demokratie erzogen werden, und eine zu starke Demokratisierung gefährde die Stabilität der Republik. Daher schlägt er vor, dass eine große Ratsversammlung von den Bürgern als Parlament gewählt wird, aus dem die Repräsentanten dann aber nur durch Tod oder durch Verurteilung aufgrund eines nachgewiesenen Verbrechens ausscheiden können. Diese dauerhafte und ständig tagende politische Aristokratie– denn wahre aristoi, Tugendhafte, müssen sie sein, damit die Vernunft regiert– leitet das Schiff der Republik, das »stets unter Segel« ist. »Denn der Grund und die Basis einer jeden freien Regierung (seitdem die Menschen so oft dafür gebüßt haben, dass sie alles einer Person übertrugen) ist eine allgemeine Ratsversammlung der geschicktesten vom Volke gewählten Männer, um die öffentlichen Angelegenheiten von Zeit zu Zeit zum allgemeinen Besten zu beraten. In dieser großen Ratsversammlung muß die nicht abgetretene, sondern nur übertragene, gleichsam niedergelegte Souveränität wohnen.«200 Die Volkssouveränität wird vom Volk auf diese auf Lebenszeit eingesetzten Repräsentanten nur übertragen, aber nicht aufgegeben, und kann jederzeit wieder entzogen werden, falls diese Repräsentanten ihre Macht missbrauchen und die Freiheitsrechte der Bürger verletzen. Miltons Republik ist eine seltsame Mischung aus demokratischer Volkssouveränität und politischer Aristokratie. Eigentlich ist er von den natürlichen Freiheits- und
—————— 198 Ebd., S. 361. 199 Ebd., S. 367. 200 Ebd., S. 364.
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Gleichheitsrechten aller Menschen überzeugt und insofern von der Demokratie. Andererseits traut er aber dann doch, trotz seiner Begründung der Gewissensfreiheit über die allen Menschen eigene Urteilsfähigkeit, nicht der Urteilsfähigkeit des breiten Volkes, weshalb ihm die Einsetzung einer zwar gewählten, aber eben auf Lebenszeit gewählten, tugendhaften politischen Klasse nötig erscheint. Er wendet sich damit auch direkt gegen das von Harrington vorgeschlagene Zweikammersystem, dem wir uns gleich zuwenden wollen. Außerdem wendet er sich gegen das von Harrington so vehement propagierte Bodengesetz, das verhindern soll, dass eine zu große Ungleichheit von Landbesitz zur Herrschaft einer Oligarchie führt. Milton hält dem entgegen, dass ein solches Gesetz ein Eingriff in die Freiheitsrechte sei und in seiner Republik nicht nötig ist, da in ihr eine solche Ungleichverteilung nicht entstehen könne, wenn erst einmal »die weltlichen und geistlichen Lords entfernt sind«.201 Warum das nicht auch dann noch geschehen könnte, darauf gibt Milton keine Antwort. Wenden wir uns aber nun Harringtons Begründung des Bodengesetzes und seiner Konzeption des Commonwealth von Oceana zu.
III.2.2 James Harrington: Die Freiheit eines Commonwealth Ebenso wie für Milton spielt auch für Harrington, neben dem Bezug auf die »antike Klugheit« und auf Machiavelli, die christliche Tradition eine zentrale Rolle.202 Ja, das alttestamentarische Israel wird für ihn zum Prototyp aller Republiken, an dem sich dann die Republiken Sparta, Athen, Rom, Venedig und andere mehr orientiert hätten. Zwar ist diese historische Verbindungslinie aus heutiger Sicht ziemlich abwegig. Sie verdeutlicht aber nochmals eindringlich die besondere geistesgeschichtliche Konstellation, aus der heraus sich der englische Republikanismus eines Milton und Harrington konstituiert. Doch während Milton seine Republikbegründung aus einer epikureisch-radikalprotestantischen Volkssouveränitäts- und Vertragstheorie heraus entwickelt, steht Harrington, so scheint mir, in viel stärkerem systematisch-philosophischen Kontakt mit dem politischen Denken der italienischen Renaissance, wobei hier insbesondere die Republikaner Gianotti und Machiavelli bei ihm genannt werden. Es wurde daher
—————— 201 Ebd., S. 369. 202 Vgl. zu Harrington insbesondere Pocock, John G. 1992: »Introduction«, in: ders. (Hg.) 1992: Harrington. The Commonwealth of Oceana and A System of Politics, Cambridge.
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auch im Zusammenhang mit Harrington und seinem Zirkel von Anhängern, dem Rota Club, von einer »Italienisierung« des englischen politischen Denkens gesprochen.203 Wenden wir uns zunächst Harringtons Geschichts- und Revolutionstheorie zu. Nach Harrington gab es zwei Etappen oder Perioden der Regierung. Erstens die der »antiken Klugheit«, die »Gott den Menschen in der Staatsform des Reiches Israel geoffenbart hatte und die alsdann gemäß dem von ihm gewiesenen Wege durch Griechen und Römer aufgegriffen und einhellig übernommen wurde.«204 Die zweite Periode beginnt mit der »Waffengewalt Cäsars, die das Ende der Freiheit bedeutete und den Übergang von der antiken zur modernen Weisheit bedeutete«. Durch die Völkerwanderung, den Untergang des römischen Reiches und die Entstehung der Feudalgesellschaft wurde nach Harrington »das ganze Gesicht der Erde mit jenen üblen Methoden der Staatsführung verunstaltet«.205 Einzig Venedig sei diese Entwicklung erspart geblieben, wodurch es mit seiner republikanischen Staatsform bis zu Harringtons eigener Zeit das blühende Beispiel der antiken Klugheit sei. Der antiken Klugheit gilt staatliche Regierung »als eine Kunst, mit deren Hilfe eine bürgerliche Gesellschaft von Menschen auf der Grundlage gemeinsamer Rechte und Interessen zustande gebracht und aufrechterhalten wird.«206 Nach antiker Klugheit sollen die Gesetze herrschen, so Harrington, und nicht Menschen. Harrington verweist hier auf Aristoteles und Livius, wobei hinter der Definition der antiken Klugheit – das zeigt der Verweis auf das gemeinsame Recht und Interesse – Ciceros Definition der Res Publica vermutet werden darf. Jedenfalls zeichnet sich die »moderne Klugheit« (beziehungsweise die Feudalgesellschaft) nun umgekehrt dadurch aus, dass nach ihr Menschen und nicht Gesetze regieren, und dass Regieren als eine Kunst der Unterwerfung von Städten und Nationen durch kleine Gruppen verstanden wird. Die moderne oder, wie Harrington auch sagt, »gotische« Kunst des Regierens folgt einzig dem Privatinteresse der Regierenden. Machiavelli ist für Harrington der größte zeitgenössische Vertreter der antiken Klugheit, während für ihn Hobbes deren größter Feind ist, der »ihren Untergang erstrebt«.207
—————— 203 Vgl. Gebhardt, Jürgen 1968: »James Harrington«, in: Voegelin, Eric (Hg.) 1968: Zwischen Revolution und Restauration. Politisches Denken in England im 17. Jahrhundert, München, S. 87 204 Harrington, James 1656: Oceana, herausgegeben von Hermann Klenner und Klaus Udo Szudra 1991, Stuttgart, S. 14. 205 Ebd., S. 14-15. 206 Ebd., S. 15. 207 Ebd., S. 15.
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Wie kam es aber nun zum Übergang von antiker zu moderner Klugheit beziehungsweise wie kommt es überhaupt zu Revolutionen von einer Regierungsart zu einer anderen? Harringtons Revolutionstheorie sieht hier zwei Ursachen vor, eine natürliche und eine gewaltsame. Gewaltsame Revolutionen finden statt, wenn von außen mit Waffengewalt eine politische Ordnung zerstört und eine neue eingeführt wird. Dies geschah im Falle des Übergangs von der antiken zur modernen, gotischen Klugheit, durch Cäsar und die germanischen Völker. Natürliche Revolutionen finden dagegen statt, wenn sich im Innern einer politischen Ordnung durch einen Wandel der Besitzverhältnisse – wobei Harrington hier an marktartige Prozesse des sozialen Wandels zu denken scheint – die Herrschaftsverhältnisse wandeln. Harrington sieht eine solche natürliche Revolution im England seiner Zeit vor sich gehen. Die alte Konzentration des Landbesitzes in der Hand des Königs und des Adels, das »gotische Gleichgewicht«, wie Harrington sagt, hat sich gewandelt zu einer Konzentration des Landes in der Hand des Volkes. Die alte Feudalordnung kann nun nicht länger stabil sein, da ihr jede materielle Basis fehlt. In dieser These einer natürlichen Revolution zeigt sich Harrington als Theoretiker der bürgerlich-kapitalistischen Revolution. Er fordert politische Mitbestimmung für das Bürgertum, das durch diese natürliche Revolution als neue, führende Klasse hervorgetreten ist. Harrington denkt seine Geschichts- und Revolutionstheorie wie überhaupt seine gesamte politische Philosophie im Rahmen der platonischen Analogie von Mensch und Staat. Diese Körperanalogie ist uns bereits zuvor begegnet. Er verbindet diese platonische Analogie aber auf eigentümliche Weise mit dem aristotelischen Hylemorphismus. Die politische Ordnung wird von Harrington in Analogie zum Menschen gedacht. So wie der Mensch über einen Körper, eine Materie verfügt, und über eine Seele, ein Formprinzip, so verfügt der Staat über einen Körper, die materielle Verteilung, und eine Seele, die politische Herrschaftsform. Die Form kann dabei nicht jeder Materie übergestülpt oder eingeschrieben werden, sondern kann nur das entwickeln, was in der Materie bereits angelegt ist. Daher determiniert die Verteilung des Landbesitzes die Stabilität der Herrschaftsform. Nach der natürlichen Revolution der Besitzverhältnisse des gotischen Gleichgewichts kann für Harrington nur noch eine populare, republikanische Regierungsform stabil sein. Die antike Klugheit und die historischen Beispiele von Israel bis Venedig geben dabei nach Harringtons politischer Wissenschaft vor, wie diese politische Ordnung am besten zu gestalten ist. Daran soll sich der von Harrington erdachte Rat der Le-
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gislatoren bei ihrer Verfassungsgebung für Oceana (England) nach der natürlichen Revolution orientieren, wobei das Volk über Petitionen Verbesserungsvorschläge beim Rat einreichen kann, die dieser allerdings nicht annehmen muss. Harrington entwickelt hier die Idee einer revolutionären verfassungsgebenden Versammlung, in der sich ein ungebrochener, rationalistischer Glaube an die Planbarkeit politischer Ordnung auf Basis einer politischen Wissenschaft zeigt, wie er für die Moderne dann zumindest bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmend geblieben ist. Der Rat der Legislatoren – das heißt die Partei der republikanischen Revolutionäre und die New Model Army unter Führung von Cromwell, dem Oceana gewidmet ist – setzt sich als formgebende Avantgarde an die Spitze einer Revolution, die auf natürliche Weise und auf materieller Ebene bereits stattgefunden hat. Die bereits vollzogene Revolution wartet nur noch auf diejenigen, die ihr die schon in ihr angelegte Form geben. Was aber besagt nun die politische Wissenschaft der antiken Klugheit? Gemäß Harringtons Analogie von Körper und Seele sind die »Grundsätze staatlicher Regierung zwiefach, indem sie nämlich zum einen die inneren oder geistigen und zum anderen die äußeren oder leiblichen Güter betreffen«.208 Den geistigen Gütern ordnet Harrington die Tugend zu, den körperlichen den Reichtum. Die Tugend führt zu »Ansehen« beziehungsweise Autorität; Reichtum führt zu »Macht oder Herrschaftsgewalt«.209 Zunächst die körperlichen Güter: Wie bereits deutlich geworden ist, ist für Harrington die Verteilung des Reichtums die materielle Grundlage, nach der sich die Form einer stabilen Regierung richten muss. Harringtons Argument dafür ist, dass sich »in demselben Maße, wie jemand, den es nach Brot verlangt, sich demjenigen zum Diener macht, der ihn speist, so hat auch jemand, der ein ganzes Volk ernährt, dieses in der Hand«.210 Mit diesem Argument eng verbunden ist für ihn, dass jede Herrschaftsgewalt, das »öffentliche Schwert«, wie Harrington auch in Auseinandersetzung mit Hobbes sagt, auf der Miliz fußt, und diese hat einen »großen Magen und will gefüttert sein«.211 Konzentriert sich die Macht, das heißt »Eigentum an Grund und Boden oder privatem Vermögen, […] Ländereien oder Geld und Güter«,212 in der Hand eines Einzelnen, wofür Harrington der türki-
—————— 208 Ebd., S. 17. 209 Ebd., S. 18. 210 Ebd., S. 18. 211 Ebd., S. 22. 212 Ebd., S. 18
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sche Sultan als Beispiel dient, so hat man es mit einer »absoluten Monarchie« zu tun. Teilt sich das Eigentum unter einem Fürsten und einer Gruppe von Adligen, so hat man es mit der »gemischten Monarchie« des gotischen Gleichgewichts zu tun. »Und wenn das Volk in seiner Gesamtheit Grundherr ist oder Ländereien so unter sich aufgeteilt hat, dass kein einzelner oder keine Gruppe von Menschen in ähnlichem Umfang wie die Minderheit oder die Aristokratie vorherrscht, so ist die Gewalt […] ein Gemeinwesen (Commonwealth).«213 Letzteres ist der Zustand, den Harrington für seine eigene Zeit als gegeben annimmt, wobei hier aber keine absolute Gleichverteilung im Sinne der radikalen Leveller von Harrington gemeint ist. Eher im aristotelischen Sinne die Vermeidung zu großer Ungleichverteilung, wofür ein Bodengesetz mit einer Obergrenze für Landbesitz sorgen soll. Dieses gewährleistet das Fortbestehen, ja die ewige Dauer, wie der optimistische Rationalist Harrington hofft, der materiellen Grundlage der Republik beziehungsweise des Commonwealth und damit von diesem selbst. Kommen wir zu den geistigen Gütern, den Tugenden. Harrington möchte zeigen, wie sich die geistigen Güter, aus denen die Autorität einer Regierung erwächst, mit den körperlichen Gütern, dem Besitz, aus dem die Macht einer Regierung erwächst, vereinigen lassen »und gemeinsam nach dem Kranz oder der Krone der Herrschaft greifen!«214 Die Regierung ist für Harrington die »Seele eines Landes oder einer Stadt.«215 Da nur die Seele »Tugend und Seelenfreiheit«216 gewinnen kann, die durch die Vernunft regiert wird und nicht durch die Leidenschaften, so kann auch ein Gemeinwesen nur frei sein, das durch die Vernunft regiert wird, so Harringtons zentrales Argument. Regierung der Vernunft bedeutet aber Herrschaft von Gesetzen und nicht von Menschen, also die antike Klugheit. Harrington verknüpft an dieser Stelle seiner Argumentation die Herrschaft der Gesetze und die Regierung durch die Vernunft mit der Gleichverteilung von Besitz und Macht. So schreibt er: »Denn die Gleichheit der Güter bewirkt Gleichheit der Macht, und Gleichheit der Macht bedeutet nicht nur die Freiheit des Gemeinwesens, sondern jedes Menschen darin«.217 Die Freiheit eines Gemeinwesens und jedes Menschen darin – das wäre mein
—————— 213 Ebd., 19. 214 Ebd., 29. 215 Ebd., 30. 216 Ebd., 29. 217 Ebd., 30.
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Interpretationsvorschlag für diese argumentativ etwas unklare Stelle – beruht auf der Regierung der Vernunft, das heißt des Gesetzes, und der relativen Gleichheit des Besitzes, das heißt der Macht. Harringtons Schrift ist leider gerade an dieser entscheidenden Stelle, an der die körperlichen und geistigen Güter mit der Freiheit verbunden werden, äußerst sprunghaft und unklar. Es ist wohl auch die Stelle der Schrift, an der er sich am weitesten dem Geist der radikalsten Strömungen der englischen Republikaner öffnet. Dass Harrington in eine relativ demokratisch-egalitäre Richtung denkt, beweist die an dieser Stelle der Schrift geführte und in den letzten Jahren zu einiger Berühmtheit gelangte Auseinandersetzung mit Hobbes. Hobbes Aussage, dass ein Bürger der Republik Lucca nicht mehr Freiheit besäße, als ein Untertan des türkischen Sultans, bringt Harrington gewaltig in Rage. Ob ein Gemeinwesen monarchisch oder demokratisch sei, sei für die Freiheit unerheblich, so Hobbes laut Harrington; vielleicht finden wir hier den Ursprung eines vor allem auf privatrechtliche Freiheiten beschränkten Liberalismus, dem politische Freiheitsrechte – wenn überhaupt – höchstens instrumentell nützlich scheinen. Dies hält Harrington für vollkommen absurd. Zwar sei es richtig, dass sowohl der Untertan des Sultans, als auch der Bürger Luccas dem Gesetz unterworfen seien. Aber der Untertan des Sultans sei völlig willkürlich gegebenen Gesetzen unterworfen, während der Bürger Luccas sich seine Gesetze selbst gebe und insofern durch diese Gesetze, so Harrington, frei werde. Der »geringste Landbesitzer von Lucca« ist für Harrington »ein freier Mann, der allein der Herrschaft des Gesetzes unterliegt, das von allen Privatpersonen nur zu dem Zweck abgefasst wurde (sonst könnten sie sich dafür bedanken!), die Freiheit aller Privatpersonen zu schützen, die auf diese Weise zur Freiheit des Gemeinwesens wird«.218 In diesem Punkt stimmen die Republikaner Milton und Harrington sicher vollkommen überein, auch wenn sie sich über Fragen des Bodengesetzes oder eines ein oder zwei Kammersystems gestritten haben. Denn wir erinnern uns, dass Milton von Teilen der Freiheit spricht, zu der er als einen Teil die Gewissens-, Meinungs- und Pressefreiheit und die häusliche Freiheit sowie als anderen Teil die Justiz-, Wahl- und Zustimmungsrechte zählt. Der damalige Streit über die Institutionalisierung des gewählten Repräsentativsystems in einer oder zwei Kammern führt uns
—————— 218 Ebd., 31.
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nun zu der Frage, wie Harrington die institutionelle Ordnung der Republik konzipiert und begründet. Wie kann es geschehen, so fragt er sich, dass in einem Gemeinwesen die Vernunft und damit das Gesetz herrschen, wenn doch alle Bürger – und das heißt für Harrington, auch die »geringsten Landbesitzer«, aber keine Lohnempfänger oder Tagelöhner219 – an der Gesetzgebung beteiligt werden sollen, damit von einem freien Gemeinwesen die Rede sein kann, die Menschen aber durch ihre Leidenschaften und damit ihr Privatinteresse gesteuert werden? Der genial einfache Schachzug Harringtons ist nun die Einführung des Prinzips »Teilen und Wählen« über das Beispiel der zwei Mädchen, das ich etwas ausführlicher zitieren möchte: »Daß sich aber eine derartige Ordnung schaffen lässt, die in allen Fällen [! P.H.] – ungeachtet der in jedem Menschen wirkenden Eigensucht – dem gemeinsamen Recht oder Interesse den Vorrang einräumen kann, ja muß, und zwar auf die gleiche zuverlässige und einfache Weise, wissen sogar kleine Mädchen, da sie nichts anderes darstellt, als was sie bei verschiedenen Gelegenheiten selber zu tun gewöhnt sind. Nehmen wir an, zwei Mädchen hätten einen unzerschnittenen Kuchen in die Hand gedrückt bekommen, den sie so teilen sollen, daß jede ein gleich großes Stück davon erhält. ›Teile du‹, sagt die eine zur anderen, ›und ich wähle, oder ich will teilen, und du sollst wählen‹. Wenn sie sich nur in diesem einen Punkt einig werden, genügt das schon, denn diejenige, die ungleich teilt, zieht den kürzeren, weil die andere sich nun das größere Stück aussuchen wird; deshalb teilt sie gleich, und so kommen beide zu ihrem Recht.«220 Auf diesem Beispiel fußt Harringtons institutionelle Ordnung, sein Zweikammersystem, in dem ein Senat Gesetzesvorlagen debattiert und vorschlägt und eine repräsentative Volksversammlung über diese abstimmt. Der Senat kann keine Gesetze entscheiden und das Repräsentantenhaus keine vorschlagen und so werden sie, so Harrington, wie durch eine »unsichtbare Hand«221 geleitet, gerechte Gesetze geben, die im allgemeinen Interesse sind und die Freiheit des Gemeinwesens und jedes einzelnen Bürgers wahren. Diese institutionelle Ordnung
—————— 219 Vgl. dazu Hill, Christopher 1965: »James Harrington and the People«, in: ders. 1965: Puritanism and Revolution. Studies in Interpretation of the English Revolution of the 17th Century, London. 220 Harrington 1656, S. 33-34. 221 Das steht nicht bei Harrington, aber man könnte dieses Theorem der »unsichtbaren Hand« bereits hier in politischer Form in Entstehung begriffen sehen. Vgl. die Studie von Hirschman, Albert O. 1985: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründung des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M.
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fungiert als Ausfallbürgschaft222 für die ungewisse Tugendhaftigkeit der Bürger und Repräsentanten. Sie ist für Harrington zugleich institutioneller Ausdruck des Naturrechts, der rechten Vernunft (right reason), oder, wie es bei Cicero heißt, der recta et perfecta ratio. »Es gibt ein gemeinsames Recht, Naturgesetz oder Gesamtinteresse, das höhersteht und von den Beteiligten auch so empfunden wird als das Recht oder das Interesse der Einzelteile.«223 Mit Harringtons republikanischer Ordnung und ihrem Bikameralismus nähern wir uns langsam der institutionellen Ordnung, die die Gründerväter der amerikanischen Republik in Verfassungsform gießen werden. Harrington bleibt jedoch insofern noch dem antiken Republikanismus verhaftet, als er– so wie Milton davon ausgeht, dass das Volk erst zur Demokratie erzogen werden müsse, trotz seiner natürlichen Urteilfähigkeit und Freiheit– davon ausgeht, dass es eine »natürliche Aristokratie«224 gibt, die besonders tugendhaft ist und die wichtige Aufgabe des Teilens, das heißt der Gesetzesberatung und -vorlage zu übernehmen habe. Das Volk habe die »ausdrücklich anbefohlene Verpflichtung, sich ihrer Leitung anzuvertrauen«.225 Allerdings hat diese natürliche Aristokratie kein erbliches Recht auf den Sitz im Senat, sondern soll aufgrund ihrer »hervorragenden Fähigkeiten« gewählt werden.226 Neben Senat und Volksversammlung muss es nun für Harrington noch eine dritte Gewalt in einer stabilen Republik geben, die das öffentliche Schwert und damit, soll das Schwert nicht aus Papier sein, die Miliz führt. »Darum muß es neben den beiden gesetzgebenden Körperschaften eines Gemeinwesens, nämlich dem Senat und dem Volk, notwendigerweise noch eine dritte geben, welche die geschaffenen Gesetze vollstreckt, und das ist die Obrigkeit, so dass demzufolge durch kunstvolle Verbindung dieser Körperschaften miteinander das aus dem vorschlagenden Senat, dem beschließenden Volk und der vollstreckenden Obrigkeit bestehende Gemeinwesen, in dem die Aristokratie über den Senat, die Demokratie über das Volk und die Monarchie über die Obrigkeit zur Wirkung gelangen kann, nunmehr komplett ist. Da es nun einmal kein anders geartetes Gemeinwesen als dieses geben kann, und zwar weder
—————— 222 Ich danke Philipp Schink für sein Insistieren auf diesem Punkt. 223 Harrington 1656, S. 32. 224 Ebd., 35 225 Ebd. 226 Ich kann hier aus Platzgründen auf die Details des ausgeklügelten Wahlmechanismus für Senat und Repräsentantenhaus bei Harrington nicht eingehen.
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in der Vorstellungskraft noch in der Wirklichkeit, nimmt es nicht Wunder, wenn Machiavelli uns dartut, daß die Klassiker der Antike dieses für das einzig gute hielten.«227 Diese Republik ist daher Harringtons Ideal und der Verweis auf Machiavelli zeigt an, dass sich letztlich hinter diesem Ideal wohl doch die römische Republik, wie sie Cicero idealisiert – und nicht das alte Israel – verbirgt, mit ihrer Mischverfassung von Konsuln, Senat und Volksversammlung.228 Auf der Linie der Tradition der Idealisierung der römischen Republik, wie sie uns bereits bei Machiavelli begegnet ist, liegt auch Harringtons Konzeption der Außenpolitik seines Commonwealth of Oceana. Wie Machiavelli sieht er eine imperiale Strategie seiner Republik im internationalen System vor, wobei die eroberten Kolonien nun gerade im Gegensatz zum imperialen Zentrum, dem Commonwealth selbst, politisch organisiert sein sollen. In ihnen soll die soziale Schicht, die über das Eigentum verfügt und damit über die Macht, von der Regierung fern gehalten werden, wodurch die politische Einheit und Stärke der Kolonie geschwächt wird, und diese dem imperialen Zentrum unterworfen bleibt. Mit dieser imperialen Strategie verbindet sich aber nun, ganz im Gegensatz zum Realisten Machiavelli, bei Harrington ein heilsgeschichtlicher Auftrag. Die Pax Britannica soll das durch die Vernunft zu erkennende und letztlich durch Gott im alten Israel offenbarte Naturrecht der antiken Klugheit unter allen Völkern der Erde verbreiten.
III.2.3 Die englische Revolution und das Aufkommen eines liberalen Republikanismus Nach diesem Überblick über das Ideenspektrum des klassischen englischen Republikanismus am Beispiel von Milton und Harrington lässt sich erkennen, dass dieser bereits herkömmlich dem Liberalismus zugerechnete Argumentationsfiguren, wie die Idee des Naturrechts, der natürlichen Freiheitsrechte und der Vertragstheorie umfasst. Er enthält aber auch dem antiken Republikanismus, der Res Publica Christiana und Machiavelli entnommene Argumente, wie die platonische Analogie von Körper und Staat, die aristotelische Revolutionstheorie und die durch Cicero idealisierte rö-
—————— 227 Ebd., S. 37. 228 Vgl. zur Geschichte der Mischverfassung und Harrington Riklin, Alois 2006: »Harrington und England«, in: ders. 2006: Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt, S. 225ff.
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misch-republikanische Mischverfassung und Herrschaft des Gesetzes. Nicht zuletzt haben das radikalprotestantische Christentum und die Krise der Religionskriege im 17. Jahrhundert einen entscheidenden Einfluss auf die englischen Republikaner. Es zeigt sich daher, wie der klassische englische Republikanismus als revolutionäre politische Theorie und Rhetorik – denn genau das ist er vor allem auch, eine eminent praktische Philosophie – allen Versuchen modernen Schubladendenkens widerstrebt. Die heute gelegentlich allzu scharf getroffene Abgrenzung zwischen Liberalismus und Republikanismus ließe sich hier nur trennscharf und ideengeschichtlich haltbar ziehen, wenn man den Liberalismus tatsächlich im Sinne der Auseinandersetzung Harringtons mit Hobbes konzipieren würde, als eine rein auf private Freiheitsrechte beschränkte Theorie, der jedwede politische Ordnung als gleich frei und gut gilt, sofern sie diese privaten Rechte leidlich schützt. Das trifft aber auf die wenigsten heute gängigen liberalen Theorien zu.229 Ich tendiere daher dazu, den klassischen englischen Republikanismus als die ideengeschichtliche Phase in der Geschichte des politischen Denkens zu betrachten, in welcher sich liberale Motive mit der republikanischen Tradition verbinden, wodurch diese nun in sich die Möglichkeit ausbildet, einen liberal-demokratischen, weniger aristokratischen Republikanismus zu tradieren. Auch wenn bei Milton und Harrington noch die Idee der Herrschaft einer tugendhaften, »natürlichen« Aristokratie fortwirkt, ist bei ihnen zugleich über die Vertragstheorie, die nur übertragene Souveränität des Volkes an seine Repräsentanten und durch das von Harrington entwickelte System der Macht- und Gewaltenteilung diese natürliche Aristokratie bereits weitgehend in ein grundsätzlich egalitär-demokratisches politisches System integriert. Gerade dieser liberal-demokratische Republikanismus, so meine abschließende These, wird aber im modernen Republikanismus der Revolutionen des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle spielen. Mit ihm wird die bald darauf in der Aufklärung zum Allgemeingut werdende binäre Alternative zwischen Republikanismus und Despotismus angestoßen: jede nichtrepublikanische Herrschaftsform wird den Philosophes bald nach Montesquieu zur Tyrannis werden, die man für immer hinter sich zu lassen gedenkt.230
—————— 229 Das wäre wohl die Art Liberalismus, wie ihn Macpherson, C.B. 1990: Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt/M., beschreibt, wobei er neben Hobbes und Locke seltsamerweise auch Harrington zu dessen Vertretern zählt. 230 Vgl. dazu Arendt 1963 und Venturi 1971.
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III.3 »Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.« Die niederländische Republik und Spinozas föderale Stadtstaatenrepublik Wie zu Beginn des vorherigen Kapitels über den englischen Republikanismus angedeutet wurde, bildet insbesondere der niederländische Aufstand gegen Philipp II. und die Etablierung der Union von Utrecht 1579, in deren Folge die Republik der nördlichen Generalstaaten entsteht,231 ein von den englischen Republikanern mit großem Interesse verfolgtes Ereignis.232 Es ist viel darüber diskutiert worden, ob der niederländische Aufstand als Revolution zu gelten hat, gar als erste Revolution der Neuzeit, und um was für eine Revolution es sich dann handelt,233 sowie, ob in der Folge dieses Aufstandes eine spezifisch niederländische republikanische Theorie sich entwickelt hat und wie diese mit dem englischen Republikanismus und der atlantischen republikanischen Tradition verbunden ist.234 Gegen die These einer Revolution spricht, dass der niederländische Aufstand sich grundsätzlich gegen Neuerungen Philipps II. wendet. Die niederländischen Provinzen und ihre ständischen Vertretungen beharren auf ihren alten ständischen Rechten gegen die absolutistischen und inquisitorischen Bestrebungen der spanischen Krone. Alles sollte so bleiben, wie es ist. Daher legt sich eher eine Interpretation des Aufstandes als konservative Revolte nahe. Im Zusammenhang damit kann von einer niederländischen Theorie des Republikanismus am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch nur mit Einschränkungen gesprochen werden. Die politischen Schriften der frühen niederländischen Republikaner sind in erster Linie Legitimationsschriften, die das eigentümliche Gebilde der Generalstaaten mit ihrer provinziellen Autonomie und ihrem monarchieartigen Statthalter,
—————— 231 Vgl. allgemein zur Geschichte der niederländischen Republik das Opus magnum von Israel, Jonathan 1998: The Dutch Republic. Its Rise, Greatness and Fall 1477-1806, Oxford. 232 Vgl. Scott, Jonathan 2002: »Classical Republicanism in Seventeenth-century England and the Netherlands«, in: van Gelderen/ Skinner 2002. 233 Vgl. Schilling, Heinz 1976: »Der Aufstand der Niederlande. Bürgerliche Revolution oder Elitenkonflikt?«, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.) 1976: 200 Jahre amerikanische Revolution und moderne Revolutionsforschung, Göttingen. 234 Vgl. Kossmann, E. H. 1960: »The Development of Dutch Political Theory in the Seventeenth Century«, in: Bromley, John Selwyn (Hg.) 1960: Britain and the Netherlands, London und van Gelderen, Martin 1992: The Political Thought of the Dutch Revolt 1555-1590, Cambridge.
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der aber niemands Statthalter mehr ist, als althergebrachtes, spezifisch niederländisches politisches Ordnungsmodell rechtfertigen. Erst in den 1650er Jahren, in der statthalterfreien Zeit unter Johann de Witt, entwickelt sich in der niederländischen Republik eine vom rechtlichen Herkommen in ihrer Begründung unabhängige, republikanische Theorie von überregionaler Ausstrahlung, die vor allem mit den Brüdern De La Court und Spinoza verbunden ist. In dieser Phase wird zum ersten Mal in der republikanischen Ideengeschichte eine föderale Republik auf moderner politisch-philosophischer Grundlage gedacht, deren Zweck die Freiheit ist. Das ist die These, die hier im Folgenden am Beispiel Spinozas herausgearbeitet werden soll. Der hier entwickelte föderale Republikanismus – auch wenn er von Spinoza noch kleinteilig als Stadtstaatenföderation gedacht wird – verweist ebenso bereits in die Moderne wie die Übertragung der Republik auf den Flächenstaat des klassischen englischen Republikanismus. Darüber hinaus verbindet Spinozas Republikanismus sich mit dem englischen Republikanismus in der Bezugnahme auf Machiavelli, und er gehört in diesem Sinne zur von Pocock so genannten atlantischen republikanischen Tradition.235 Spinoza setzt sich außerdem wie Harrington eingehend mit Hobbes auseinander, entwickelt aber im Gegensatz zu Harrington im Anschluss an Descartes und Hobbes eine ganz einzigartige Metaphysik. In politischer Hinsicht verwirft er jedoch die hobbessche Figur des absoluten Herrschers zugunsten eines demokratischen beziehungsweise aristokratischen Republikanismus in gleicher Weise, wie Harrington dies tut. Gerade in der Auseinandersetzung mit Hobbes und dem von diesem aufgeworfenen Problem der Souveränität entwickelt Spinoza seinen ungeheuren prozeduralistischen Furor, wie ich es nennen möchte, der ihn zu seiner föderalen Republik führt. Diese verdankt sich in ihrer institutionellen Konkretion in vielen Bereichen dem spezifischen Kontext der niederländischen Republik seiner Zeit unter der Regentschaft Johann de Witts. Sie wird aber durch Spinozas philosophischen Zugriff, der nicht mehr wie zuvor die Legitimation der niederländischen Rebellion auf alten ständischen Rechten beruht, auf ein höheres Niveau der Allgemeingültigkeit gehoben.236
—————— 235 Vgl. Pocock 1975, und Haitsma Mulier, Eco 1980: The Myth of Venice and Dutch Republican Thought in the Seventeenth Century, Assen. 236 Vgl. Prokhovnik, Raia 2004: Spinoza and Republicanism, Basingstoke. Im Gegensatz zu Prokhovnik glaube ich nicht, dass sich Spinozas Republikanismus allein aus der niederländischen Konstellation heraus fassen lässt. Ebenso sind der Einfluss der republikani-
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Ich möchte zunächst noch etwas genauer den politisch-sozialen Kontext des niederländischen Aufstandes und der niederländischen Republik herausarbeiten, bevor wir uns dann Spinoza zuwenden. Dabei soll auch en passent kurz mit Grotius ein Vertreter jener frühen niederländischen Aufstands- und Republiklegitimation herangezogen werden (III.3.1). Im Anschluss wenden wir uns dann den beiden politischen Traktaten Spinozas zu. Ich werde den weiteren metaphysischen Hintergrund von Spinozas politischer Philosophie dabei weitgehend ausklammern, da er uns zu weit vom Thema wegführt. Die metaphysischen Hintergrundprämissen sollen nur insofern Erwähnung finden, als sie direkt für das Verständnis von Spinozas Republikanismus relevant sind. Es soll in diesem Abschnitt vor allem um die institutionelle Struktur von Spinozas föderaler Republik gehen, um jenen prozeduralistischen Furor, den Spinoza hier entfaltet, sowie um die Frage, warum er ihn entfaltet. Dabei soll gezeigt werden, dass dieser föderale Republikanismus und der mit ihm verbundene Prozeduralismus sich der grundlegenden Prämisse Spinozas verdankt, dass der Zweck des Staates die Freiheit ist (III.3.2).
III.3.1 Der niederländische Aufstand und die Entstehung der niederländischen Republik Wie in der englischen Revolution der 1640er Jahre zeigt sich auch im niederländischen Aufstand die enge Verbindung von religiösen und politischen Motiven. Im Gefolge der Reformation hatte sich der Protestantismus in den niederländischen Provinzen ausgebreitet. Diese standen allerdings unter der Herrschaft der katholischen spanisch-habsburgischen Monarchie. Mit der Übernahme der Krone durch Philipp II. wandelte sich nun die Politik der spanischen Krone gegenüber den Provinzen. Der im Zusammenhang mit Bodins Souveränitätslehre237 heraufziehende Absolutismus, die Entwicklung des modernen Einheits- und Machtstaates, traf auch bei der spanischen Krone auf Zustimmung. Gegen diese Zentralisierung standen aber die alten ständischen Selbstverwaltungs- und Mitbe-
—————— schen Tradition (Machiavelli und Cicero) sowie die Auseinandersetzung mit Descartes und Hobbes zu berücksichtigen. Daneben ist darauf zu verweisen, dass ein Denker vom Format Spinozas in seiner Metaphysik tatsächlich etwas sehr Eigentümliches geschaffen hat, auf das man in der Folge als eigene Tradition mit dem Begriff »Spinozismus« referieren wird. 237 Vgl. Bodin, Jean 1576: Sechs Bücher über den Staat, München 1983/86.
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stimmungsrechte, die in den niederländischen Provinzen besonders ausgeprägt waren. Der Absolutismus Philipps II. musste daher diese Stände entmachten. Zugleich versuchte die spanische Krone, die katholische Gegenreformation in den Provinzen durch die Inquisition durchzusetzen. Der Aufstand der Niederlande wird dann in den 1560er Jahren auch angeführt von den um ihre Privilegien fürchtenden ständischen Eliten, die sich mit den um ihre religiöse Freiheit fürchtenden Protestanten verbinden. Als Philipp II. schließlich noch eine Verkaufssteuer ohne Konsultation der Stände einzuführen sucht, eskaliert der Konflikt. Dies führt 1579 zur Gründung der Union von Utrecht, die sich 1581 für unabhängig von Spanien erklärt. Der achtzigjährige Krieg zwischen den nördlichen Provinzen und der spanisch-habsburgischen Monarchie hatte begonnen. Wenn auch faktisch die Unabhängigkeit der Utrechter Union bereits im Friedensvertrag von 1609 von Spanien anerkannt wurde, so fand die vollständige völkerrechtliche Anerkennung erst mit dem westfälischen Frieden 1648 statt. Trotz dieses achtzigjährigen, immer wieder aufflammenden Konflikts mit Spanien erlebten die nördlichen Provinzen in dieser Zeit einen beispiellosen Aufstieg. Die Niederlande traten in ihr »goldenes Zeitalter« ein, wie es noch heute in der niederländischen Geschichtsschreibung genannt wird. Amsterdam stieg zur ökonomischen Hauptstadt der Welt auf. Handel, Kunst und Wissenschaft blühten.238 Max Weber hat diesen Aufstieg bekanntlich auf die protestantische Ethik zurückgeführt.239 Das greift aber zu kurz. Der Aufstieg ist vielmehr – wie der Aufstand – geprägt von der Verbindung eines föderalen, auf provinzieller Selbstverwaltung fußenden und große ökonomische Freiheit gewährenden politischen Systems mit der gegen Spanien erkämpften religiösen Toleranz und Gewissensfreiheit, in der die protestantische Ethik sich erst voll entfalten konnte. Wenden wir uns nun jenen politischen Schriften zu, die während dieser Zeit entstehen. Wie die politischen Schriftsteller (zum Beispiel Althusius, Pufendorf) im deutschen Reich, so sahen sich auch die niederländischen politischen Schriftsteller mit einem eigentümlichen politischen Gebilde konfrontiert.240 Die Föderation der sieben nördlichen Provinzen, die sich 1581 für unabhängig erklärt hatten, war weder eine Stadtrepublik wie Flo-
—————— 238 Vgl. Huizinga, Johan 1977: Holländische Kultur im siebzehnten Jahrhundert, Frankfurt/M. 239 Vgl. Weber, Max 1934: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen. 240 Vgl. Van Gelderen, Martin 2004: »Republikanismus in Europa. Deutsch-Niederländische Perspektiven 1580-1650«, in: Schorn-Schütte, Luise (Hg.) 2004: Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. Und 17. Jahrhunderts. Historische Zeitschrift Beiheft 39.
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renz oder Venedig noch ein Flächenstaat wie Frankreich. Es handelte sich um eine politische Ordnung sui generis. Insbesondere das Amt des Statthalters, das von den Oraniern ausgefüllt wurde, bereitete große Schwierigkeiten. Wessen Statthalter sollte er denn sein, nachdem man sich von Spanien unabhängig erklärt hatte? Oder handelte es sich eigentlich um den neuen Monarchen? Dagegen sprachen aber die provinzielle Autonomie und die Mitbestimmungsrechte der Stände in den Generalstaaten. Es handelte sich also um ein eigentümliches Gebilde, das aus historisch kontingenten Gründen in dieser Form entstanden war und einfach weitergeführt wurde, ohne dass man eine allgemeine theoretische Begründung dafür geben konnte.241 In diesem Sinne lässt sich auch Grotius’ Liber de Antiquitate Reipublicae Batavicae von 1610 verstehen. Grotius erklärt dort, dass Holland seit der Antike eine derartige Republik sei. Die Begründung und Rechtfertigung verläuft daher schlicht über das Herkommen. Die Holländer haben ein Recht auf diese Art Republik und diese hat ihre eigentümliche Form, weil es schon seit fast zwei Jahrtausenden so ist. In dieser Schrift wird natürlich damit auch ein Ursprungs- und Herkunftsmythos der Republik konstruiert, der sie legitimieren und ihr höhere, antike Weihen geben sollte. Daneben referiert Grotius auf die antike Theorie der Mischverfassung, auf die sich auch Machiavelli und die englischen Republikaner berufen, wie wir gesehen haben. Er interpretiert die eigentümliche Struktur der Republik als res publica mixta, als Mischung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Diese Teilung der Souveränität durch die Mischverfassung wird insbesondere gegen Bodins Souveränitätslehre und die zentralistische Bündelung der Souveränität im Absolutismus in Stellung gebracht. Die republikanische Mischverfassung ist besonders stabil und gewährt allen Bürgern Freiheit, während die absolute Monarchie die Knechtschaft der Bürger bedeutet und obendrein instabil ist.242 Wir werden sehen, wie Spinoza ebenfalls die Souveränitäts- und Machtteilung der Mischverfassung gegen Hobbes absoluten Souverän in Stellung bringt.
—————— 241 Vgl. Kossmann 1960 und Mout, Nicolette 1988: »Ideales Muster oder erfundene Eigenart. Republikanische Theorien während des niederländischen Aufstandes«, in: Koenigsberger, Helmut (Hg.) 1988: Republiken und Republikanismus im Europa der frühen Neuzeit, Oldenbourg. 242 Vgl. dazu auch die frühe Schrift (ca. 1600) Grotius, Hugo: De Republica Emendanda, Edition Arthur Eyffinger, in: Grotiana NS. 5, 1980.
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Grotius gilt zudem als der »Vater« des modernen Völkerrechts. Einerseits hielt er an der absoluten Souveränität der Einzelstaaten fest und an ihrem Recht auf Kriegsführung. Damit gehört er noch dem »Machiavellian Moment« des klassischen Republikanismus mit seiner Betonung des zwischenstaatlichen Naturzustandes an. Andererseits sieht Grotius im Anschluss an die Schule von Salamanca, an Vitoria und Suarez, aber dieses internationale Staatensystem von einem Naturrecht bestimmt, weswegen es auch für ihn gerechte und ungerechte Kriege geben kann, sowie ein Recht zum Krieg (ius ad bellum) und ein Recht im Krieg (ius in bello). Kant wird ihn, wie wir sehen werden, deshalb einen »leidigen Tröster« nennen, der »stets treuherzig zur Rechtfertigung eines Krieges« herangezogen würde. Man kann in Grotius Völkerrecht daher eine Übergangserscheinung von Machiavelli zu Kant sehen,243 in unserer Terminologie: vom klassischen zum modernen, kosmopolitischen Republikanismus. Auch Spinoza wird in seiner föderalen Stadtstaatenrepublik bereits über das naturrechtlich eingehegte westfälische Staatensystem seines Landsmanns hinausgehen. Spinoza schreibt im Vergleich zu Grotius im Kontext einer gewandelten niederländischen Republik. Nach dem Tod des oranischen Statthalters trat die nördliche Republik in ihre statthalterfreie Zeit (1650–1672) ein. Es ist diese Republik, die Spinoza vor Augen hat, weswegen bei ihm das monarchische Element der Mischverfassung in den Hintergrund tritt. Vielmehr noch ist er ein ausgesprochener Gegner jeder Monarchie. Die statthalterfreie Zeit unter dem Regenten Johann de Witt ist geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der Regentenpartei, die diesen statthalterfreien Zustand fortführen möchten, und der Oranierpartei, die wieder einen Statthalter aus dem Hause Oranien einsetzen wollen. Mit seinem Antimonarchismus gehört Spinoza wie die Brüder De la Court eindeutig zur Regentenpartei, zu den Anhängern de Witts.244 Eine berühmte Anekdote berichtet dann auch, dass Spinoza zutiefst entsetzt war, als de Witt und sein Bruder 1672 von einem aufgebrachten Mob gelyncht wurden. Er wollte angeblich ein Plakat anbringen, auf dem er diesen
—————— 243 Vgl. Wight, Martin. 1991: International Theory: the Three Traditions, herausgegeben von Gabriele Wight und Brian Porter, Leicester. 244 Vgl. Schilling, Heinz 1984: »Der libertär-radikale Republikanismus der holländischen Regenten. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Radikalismus in der frühen Neuzeit«, in: Geschichte und Gesellschaft 10.
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Mob als »ultimi babarorum« anklagte. Sein Hauswirt konnte ihn aber offenbar gerade noch davon abhalten, sich in Lebensgefahr zu bringen.245
III.3.2 Spinozas föderale Stadtstaatenrepublik Die grundlegende ontologische Prämisse von Spinozas Metaphysik ist bekanntlich, dass es nur eine Substanz gibt: Gott beziehungsweise die Natur – Deus sive natura. Diese Substanz hat nun unendlich viele Attribute. Uns Menschen sind aber vor allem zwei bekannt: Körper und Geist. Hier greift Spinoza die beiden Descartesschen Substanzen auf, die bei ihm allerdings als Attribute der einen Substanz, Natur, definiert werden. Der Mensch ist ein temporäres Kompositum dieser beiden Attribute, die gleichsam zwei Perspektiven darstellen, unter denen der Mensch sich selbst betrachten kann. Einerseits als körperliches Individuum, das in Verhältnissen zu anderen Körpern steht und von diesen affiziert wird. Andererseits als geistiges Individuum, das mehr oder weniger adäquate Ideen darüber bildet, wie es in Verhältnissen zu anderen Körpern steht und von diesen affiziert wird. Das ist der berühmt-berüchtigte spinozistische Parallelismus von Geist und Körper. Eine weitere grundlegende Prämisse der spinozistischen Metaphysik, die hier für uns relevant ist, besagt, dass jedes Individuum danach strebt, sich in seinem Sein zu erhalten. Das ist der conatus esse preservandi. Der conatus des Menschen als temporäres Kompositum aus Körper und Geist ist für Spinoza, adäquate Ideen darüber zu bilden, wie er in jene Welt der Körper eingebunden ist und damit Gott beziehungsweise die Natur zu erkennen. Er erkennt damit gleichzeitig die Notwendigkeit seiner Natur– ja, dieses Erkennen ist auf geistiger Ebene die Notwendigkeit seiner Natur– und wird dadurch frei. Freiheit ist für Spinoza eine »Tugend, eine Vollkommenheit« (TP 2/21), die in der Bildung adäquater Ideen und damit der adäquaten Erkenntnis und Bewertung der Affizierung durch die Welt besteht. Freiheit meint dann, mich als Individuum, das in den zunächst unbewussten Strom von körperlichen Wechselwirkungen und Mischungen geworfen ist, als bewusstseinsfähiges, reflektiertes Individuum zu erkennen und damit zu konstituieren. Mit dieser Erkenntnis geht einher, meine Affizierungen als Individuum durch diese Wechselwirkungen und Mischungen
—————— 245 Vgl. Röd, Wolfgang 2002: Benedictus de Spinoza, Stuttgart, S. 42 und Deleuze, Gilles 1988: Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin, S. 22.
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zu erkennen und damit die Gründe meines Handelns; und ein Handeln aus Gründen ist eben nicht mehr ein unbewusstes, affektgesteuertes, sondern ein freies Handeln. Wir können daher sagen, dass für Spinoza der conatus eines Menschen darin besteht, sich als Individuum in seinem Sein zu erhalten, das sich der Gründe für sein Handeln und ihrer Notwendigkeit bewusst ist und damit frei wird.246 Belassen wir es bei diesen beiden kurzen Erörterungen der grundlegenden Prämissen der spinozistischen Metaphysik. In seiner politischen Philosophie, der Auseinandersetzung mit dem Naturrecht der Scholastik und der Hobbesschen Vertragstheorie werden vor allem dieser conatus und die Freiheit eine zentrale Rolle spielen. Ich möchte dabei zunächst den zeitlich früheren Theologisch-politischen Traktat 247 untersuchen, in dem es Spinoza in erster Linie um die Trennung von Theologie und Philosophie und damit um die Gewissens- und Meinungsfreiheit geht. Zugleich finden sich hier aber auch die spinozistische Vertragstheorie und ein Votum für die Demokratie. Danach wenden wir uns dem späteren Politischen Traktat 248 zu. In ihm finden sich jener prozeduralistische Furor Spinozas, von dem zuvor die Rede war, und eine detaillierte Auseinandersetzung mit verschiedenen Verfassungsformen. Das eindeutige Votum für die Demokratie scheint Spinoza dort aber zurückgenommen zu haben. Allerdings ist der Politische Traktat Fragment geblieben und das letzte Kapitel über die Demokratie bricht nach wenigen Seiten ab. In den ersten fünfzehn Kapiteln des Theologisch-politischen Traktats versucht Spinoza über die Methode einer kritischen Bibelwissenschaft zu zeigen, dass die theologische Erkenntnis einfach im Gehorsam gegenüber den Geboten der Religion bestehe, die da seien Gerechtigkeit und Liebe. Davon sei aber die natürliche Erkenntnis zu unterscheiden, der es um das Erkennen der natürlichen Welt, inklusive der politisch-sozialen Welt, gehe. Im sechszehnten Kapitel versucht er daher dann, die »Grundlagen des Staates« auf Basis dieser natürlichen Erkenntnis darzulegen.
—————— 246 Vgl. Hampshire, Stuart 1962: »Spinozas Idea of Freedom«, in: ders. 2005: Spinoza and Spinozism, Oxford, S. 175-201. 247 Ich zitiere als (TTP) nach der Ausgabe Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Günther Gawlick 1994, Hamburg. 248 Ich zitiere als (TP) nach der Ausgabe Baruch de Spinoza, Politischer Traktat, neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat 1994, Hamburg.
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Dabei geht Spinoza wie Hobbes zunächst von einer Art Naturzustand aus. Dieser Naturzustand sei nun dadurch gekennzeichnet, »daß jedes Individuum das höchste Recht zu allem hat, was es vermag, oder daß sich das Recht eines jeden so weit erstreckt, wie seine bestimmte Macht sich erstreckt. Und weil es das oberste Gesetz der Natur ist, daß jedes Ding in dem Zustand, in dem es sich befindet, soviel an ihm liegt, zu beharren strebt, und zwar nur mit Rücksicht auf sich selbst, nicht mit Rücksicht auf ein anderes, so folgt daraus, daß jedes Individuum das höchste Recht dazu hat, daß es also (wie gesagt) das höchste Recht hat zu existieren und zu wirken, so wie es von Natur bestimmt ist« (TTP 16/233). Wir entdecken hier den bereits erwähnten conatus esse preservandi, der nun mit einer ganz neuen Naturrechtslehre zusammengedacht wird, die Familienähnlichkeiten mit Hobbes Naturzustand aufweist. Recht und Macht werden hier von Spinoza als deckungsgleich gedacht. Wie weit er sich damit von der gängigen scholastischen Naturrechtslehre entfernt, wird von ihm selbst hervorgehoben. Er schreibt: »Das natürliche Recht eines jeden Menschen wird daher nicht durch die gesunde Vernunft, sondern durch die Begierde und die Macht bestimmt«(ebd.). Wie kommt Spinoza aber nun von dieser Bestimmung des Naturrechts und des Naturzustandes zum Vertrag und damit zu den Grundlagen des Staates? Er führt hierzu ein zweites »allgemeingültiges Gesetz der menschlichen Natur« ein. Dieses besagt, »daß niemand etwas, das er für gut hält, vernachlässigt, es sei denn in der Hoffnung auf ein größeres Gut oder aus Furcht vor einem größeren Schaden, ferner daß niemand ein Übel erträgt, es sei denn, um ein größeres Übel zu vermeiden oder in der Hoffnung auf ein größeres Gut« (TTP 16/235). Von diesem utilitaristischen Kalkül aus lässt sich bereits erahnen, wie Spinoza zum Gesellschaftsvertrag kommt. Da jeder Mensch lieber in Sicherheit und ohne Furcht leben möchte, und der Naturzustand dies nicht gewährleisten kann, ist es für jeden nützlich, eine zwangsbefugte öffentliche Ordnung durch Vertrag mit anderen zu bilden. »Auf diese Weise also kann sich ohne irgendwelchen Widerspruch gegen das natürliche Recht eine Gesellschaft bilden, und jeder Vertrag kann immer mit vollkommener Treue gehalten werden; es braucht eben nur jeder die ganze Macht, die er besitzt, auf die Gesellschaft zu übertragen, die damit das höchste Recht der Natur auf alles hat, das heißt die allein die höchste Regierungsgewalt innehat und der jeder aus freiem Willen oder aus Furcht vor der härtesten Bestrafung gehorchen muß. Das Recht einer derartigen Gesellschaft heißt Demokratie; sie ist demnach zu
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definieren, als eine allgemeine Vereinigung von Menschen, die in ihrer Gesamtheit das höchste Recht zu allem hat, was sie vermag« (TTP 16 237238). Es zeigt sich, wie Spinoza, ähnlich wie Hobbes, über die Furcht und einen utilitaristischen Nutzenkalkül zur Begründung der staatlichen Ordnung gelangt. Wie bei Hobbes scheint sich bei Spinoza ein Rechtspositivismus einzustellen, denn die durch Vertrag gebildete Vereinigung der Macht aller Einzelindividuen hat das »Recht zu allem, was sie vermag«. In diesem Sinne erklärt Spinoza auch, dass es Recht und Unrecht nur im bürgerlichen Zustand geben könne und dass was Recht und Unrecht sei durch die höchste Regierungsgewalt festgelegt werde (Vgl. TTP 16/241). Spinoza votiert jedoch im Gegensatz zu Hobbes für eine demokratische Regierung, auch wenn er sich auf ihre institutionelle Struktur im Theologisch-politischen Traktat nicht genauer einlässt. Sein Votum für die Demokratie begründet er wie folgt: »Ich habe diese lieber als alle anderen behandelt, weil sie, wie mir scheint, die natürlichste ist und der Freiheit, welche die Natur jedem einzelnen gewährt, am nächsten kommt. Denn bei ihr überträgt niemand sein Recht derart auf einen anderen, daß er selbst nicht mehr zu Rate gezogen wird, vielmehr überträgt er es auf die Mehrheit der Gesellschaft, von der er selbst ein Teil ist. Auf diese Weise bleiben alle gleich, wie sie es vorher im Naturzustand waren« (TTP 16/240). Man meint in dieser Schrift des niederländischen klassischen Republikaners Spinoza bereits Rousseaus Gesellschaftsvertrag zu erkennen, indem ja auch, wie wir sehen werden, alle ihr Recht an die Gesellschaft als ganze abgeben und dennoch so frei und gleich bleiben wie zuvor. Im Gegensatz zu Hobbes ist für Spinoza der Zweck des Staates nämlich nicht nur Sicherheit und negative Handlungsfreiheit. Wenn Spinoza erklärt, »der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit« (TTP 20/301), dann hat er einen umfassenderen Freiheitsbegriff als den negativen Hobbesschen im Blick. So schreibt er zum Ende des Traktats: »Denn bei der demokratischen Regierung (die dem Naturzustand am nächsten kommt) verpflichten sich, wie ich gezeigt habe, alle, nach gemeinsamem Beschluß zu handeln, nicht aber so zu urteilen und zu denken. Das heißt weil nicht alle Menschen die gleiche Meinung haben können, ist man dahin übereingekommen, daß diejenige Meinung die Kraft eines Beschlusses haben soll, die die meisten Stimmen auf sich vereinigt, vorbehaltlich des Rechts, sie wieder aufzuheben, sobald sich ihnen etwas Besseres zeigt. Je weniger man demnach den Menschen die Freiheit des Urteils zugesteht, um so mehr entfernt man sich von dem natürlichen Zustand und um so gewalttätiger ist infolgedessen die Regierung« (TTP
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20/307). Spinoza ist daher in meinen Augen kein vollkommener Rechtspositivist. Die natürliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen im Naturzustand bilden den Maßstab jeder Regierung. Je weiter sie sich dieser natürlichen Freiheit und Gleichheit nähert in ihren Rechtssetzungsverfahren, desto legitimer und nützlicher, das heißt nützlicher für die Verwirklichung der Freiheit, ist sie. Freiheit heißt daher für Spinoza nicht nur, ohne Furcht in einem rechtlich begrenzten Raum ohne Einwirkung anderer handeln zu können, sondern auch, sich immer wieder mit anderen in Freiheit darüber auszutauschen, was denn die nützlichste rechtliche Koordinierung der Handlungsspielräume ist, mit seiner Meinung gehört zu werden und für diese um Mehrheiten werben zu können. Hier trifft sich Spinoza mit den englischen Republikanern Milton und Harrington. Milton hatte ja von Teilen der Freiheit gesprochen und Harrington hatte ebenfalls gegen Hobbes die positive Freiheit der Teilhabe am Gesetzgebungsverfahren hervorgehoben. Überhaupt ist dieser politische Freiheitsbegriff das zentrale Kennzeichen des klassischen Republikanismus, denn auch Machiavelli hatte die Möglichkeit der Teilhabe am institutionell eingebundenen politischen Dauerkonflikt als zentrale Voraussetzung der Freiheit hervorgehoben. Nachdem wir somit bei Spinoza den Zweck des Staates herausgearbeitet haben, wollen wir uns abschließend dem Politischen Traktat Spinozas zuwenden. Dabei stoßen wir auf eine Reihe von Problemen, die zum Teil auf den fragmentarischen Charakter dieses Spätwerks zurückzuführen sind. Das Werk setzt sich zum Ziel, nacheinander Monarchie, Aristokratie und Demokratie zu behandeln, bricht aber zu Beginn des Kapitels über die Demokratie ab. Wir können schlicht nicht wissen, was Spinoza dort sagen wollte. In den Kapiteln zuvor findet sich allerdings kein so eindeutiges Votum für die Demokratie wie im Theologisch-politischen Traktat. Das mag auch mit Spinozas Ernüchterung nach der Ermordung de Witts und dem Niedergang der statthalterfreien Republik 1672 zusammenhängen. So wie der Politische Traktat jetzt vor uns liegt, scheint Spinoza dort eine aristokratische Regierung der Republik bevorzugt zu haben. Es ist hier nicht meine Absicht, diese Ambivalenz in Spinozas politischer Philosophie durch interpretatorische Spekulationen aufzuheben.249 Ich möchte in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass sich bei allen bisher behandelten Autoren des klassischen Republikanismus, bei Machiavelli, Mil-
—————— 249 Vgl. Smith, Steven B. 2005: »What Kind of Democrat was Spinoza?«, in: Political Theory 33.
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ton und Harrington, gerade auch über die Aufnahme des Konzepts der Mischverfassung, dieses Changieren findet, zwischen bereits äußerst modern anmutenden demokratischen Momenten, die dann aber wieder zugunsten eines aristokratischen Moments, der Führung durch die besonders Tugendhaften, eingeschränkt werden. Spinozas Ambivalenz bildet daher im Rahmen dieser Untersuchung keine Ausnahme. Was mich hier abschließend interessiert, ist unabhängig von allen werkinterpretatorischen Konsistenzproblemen jener prozeduralistische Furor, den Spinoza im Politischen Traktat entwickelt. Das eigentliche Innovationspotenzial des späten Traktats liegt in der in den Kapiteln über die Aristokratie ausgearbeiteten Theorie einer föderativen Stadtstaatenrepublik. Im Gegensatz zu der von der Vertragstheorie angeleiteten und auf der natürlichen Freiheit fußenden politischen Theorie des Theologisch-politischen Traktats scheint Spinoza im Politischen Traktat verstärkt auf eine realistische Institutionentheorie angesichts der Affektgeleitetheit der Menschen abzuzielen. Das zentrale Thema wird dadurch die Konzeption einer institutionellen Struktur, eines Prozeduralismus, der Stabilität, Sicherheit und Freiheit für alle Bürger gewährt, auch wenn diese selbst das partout nicht wollen, sich eher in ihrer ganzen Unvernunft ständig ins Unglück und die Tyrannei stürzen. So schreibt Spinoza zu Beginn (und ich interpretiere das als Ziel des Traktats): »Die Geschäfte des Staates müssen vielmehr, damit er Bestand haben kann, so geordnet sein, daß diejenigen, die sie verwalten, seien sie dabei von der Vernunft oder von einem Affekt geleitet, gar nicht dahin gebracht werden können, sich unredlich zu geben oder schlecht zu handeln. Für die Sicherheit eines Staates ist es ohne Belang, welche Gesinnung Menschen veranlaßt, ihre öffentlichen Angelegenheiten richtig zu verwalten, wenn sie sie nur richtig verwalten«(TP 1/13). Wir finden hier ein Thema, dass uns bereits bei Machiavelli begegnet ist, den Spinoza als »Anhänger der Freiheit« preist (TP 5/67), und das uns dann wieder bei Madison begegnen wird. Es handelt sich um die Einbindung der menschlichen Affektivität in eine institutionelle Prozedur, ein System von checks and balances, das diese Affekte, so gemeinwohlschädlich sie auch zunächst erscheinen mögen, produktiv macht für das Gemeinwohl. Wenn mein Interpretationsvorschlag für den späten Traktat überzeugt, wird auch klar, warum die Monarchie, die Spinoza zuerst behandelt, vollkommen durchfällt. Einen Staat und das Gemeinwohl von einem einzigen Menschen abhängig zu machen, von dessen reichlich ungewisser Vernünftigkeit, erscheint Spinoza als Idiotie. Denn erstens sind die Menschen und
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damit auch der Monarch meistens von unvernünftigen Affekten geleitet; und zweitens führen die Monarchie und die damit verbundene Erbfolge dazu, dass gelegentlich auch Kinder, senile Greise oder vollkommen Debile die Regierungsmacht besitzen. Spinoza beeilt sich daher, dem Monarchen einen Rat an die Seite zu stellen, der in all diesen Fällen sowie bei längerer Krankheit des Monarchen einspringt. Ja, darüber hinaus erklärt er, »daß der König in keiner Sache etwas beschließen darf, ohne vorher die Meinung der Ratsversammlung gehört zu haben« (TP 6/79). Das ist aber bereits keine Monarchie im absoluten Sinne mehr. Der König soll außerdem durch bestimmte Gesetze gebunden sein, die er nicht ändern darf (TP 7/93). Das darf man dann wohl eine Art konstitutionelle Monarchie nennen. Diese scheint für Spinoza gerade noch halbwegs stabil und die Bürger könnten sich in ihr eine »weitgefaßte Freiheit« (TP 7/133) bewahren. Die beste Organisation des Staates scheint aber für Spinoza im Politischen Traktat, so wie er uns vorliegt, eine föderale Stadtstaatenrepublik zu sein. Diese wird in den Kapiteln über die Aristokratie entwickelt. Man kann nun diese Kapitel für ermüdend und fast unlesbar halten, denn der Rationalist Spinoza entwickelt hier einen prozeduralistischen Furor, der die Verfassung dieser Republik bis in die Details auszubuchstabieren sucht. Ich will das im Folgenden auch nicht im Detail wieder geben, sondern nur in den Grundzügen. Für die Verfassung von Spinozas föderaler Stadtstaatenrepublik gilt, dass jeder einzelne Stadtstaat der Föderation durch eine Ratsversammlung geleitet werden soll, deren Zahl 1/50 der Bevölkerung beträgt. Die Größe ist dabei für Spinoza äußerst wichtig, denn die Ratsversammlung muss so groß sein, dass es eine Vielzahl von Meinungen und Interessen gibt, sonst würde die Ratsversammlung schnell in die de facto Monarchie eines Meinungsführers umschlagen oder leicht bestechlich sein. Die Aufgaben dieser Ratsversammlung sollen nun nach Spinoza sein, »Gesetze zu erlassen und aufzuheben, Patrizier zu kooptieren und sämtliche Staatsbeamte zu ernennen«(TP 8/153). Spinozas Ratsversammlung wählt bei Ausscheiden eines alten Mitglieds ihre neuen Mitglieder selbst. Das ist es, was sie zur Aristokratie macht, im Gegensatz zu einer demokratischen Repräsentation, die vom Volk gewählt wird. Da jedoch die große Zahl der Mitglieder der Ratsversammlung nach Spinoza allein davor nicht schützt, dass die Ratsversammlung sich nicht an die verfassungsförmige Art und Weise der Gesetzgebung, Mitgliederwahl und Beamteneinsetzung hält, schlägt Spinoza eine zweite Institution vor.
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In meinen Augen könnte man sie durchaus eine Art »Verfassungsgericht« nennen. Spinoza nennt sie »Syndici«. Die Syndici gehen wiederum im Verhältnis 1:50 aus der Ratsversammlung hervor und werden von dieser auf Lebenszeit gewählt, wobei die Kandidaten mindestens 60 Jahre alt sein müssen. Die Aufgabe der Syndici besteht darin, »darüber zu wachen, daß die staatlichen Rechtsgesetze, die die Versammlungen und die Staatsbeamten betreffen, strikt eingehalten werden, und die deshalb die Gewalt haben müssen, jeden Staatsbeamten, der gegen die für seinen Amtskreis geltenden Rechtsgesetze verstoßen hat, vor ihr Gericht zu laden und nach den bestehenden Rechtsgesetzen zu verurteilen« (TP 8/157). Als dritte Institution neben Ratsversammlung und Syndici führt Spinoza einen Senat ein, der im Verhältnis 1:12 aus der Ratsversammlung hervorgeht und von dieser für 1 Jahr gewählt wird, wobei die Kandidaten älter als 50 Jahre sein sollen. Seine Aufgabe ist, »die Staatsgeschäfte auszuführen«, weswegen wir ihn Exekutive nennen könnten, wobei die Aufgaben noch weiter von Spinoza spezifiziert werden (TP 8/165). Auch der Senat soll von den Syndici überwacht werden, weshalb sie bei seinen Sitzungen beisitzen (Vgl. TP 8/169). Der Senat soll zudem aus seinen Reihen eine von Spinoza nicht weiter bestimmte Menge von »Konsuln« wählen, die den Senat und damit die Exekutive leiten. Ihre Zahl soll nach Spinoza aber so groß sein, »daß man sie nicht leicht bestechen kann« (TP 8/173). Die vierte Institution, die Spinoza schließlich einführt, ist der Gerichtshof, den er auch »Tribunal« nennt. Auch die Richter gehen aus dem Kreis der Patrizier hervor und werden von diesen gewählt. Ihre Zahl spezifiziert Spinoza wiederum nicht. Es gilt aber erneut die Regel, dass ihre Zahl so groß sein muss, dass sie nicht leicht alle bestochen werden können. Die Aufgabe des Gerichtshofs ist, »Streitigkeiten zwischen Privatleuten, Patriziern wie Plebejern, zu schlichten und Vergehen zu bestrafen, selbst solche von Patriziern, Syndici und Senatoren, sofern diese gegen Rechtsgesetze verstoßen haben, die für alle gelten« (TP 8/177). Wiederum überwachen die Syndici den Gerichtshof und achten darauf, dass die Verfahren ihren verfassungsförmigen Gang gehen. Wir sehen, wie in Spinozas Republik alle Souveränität von der aristokratischen Ratsversammlung, der Legislative, ausgeht. Diese wählt sowohl die Exekutive, den Senat, als auch die beiden Institutionen der Judikative, die Syndici und den Gerichtshof. Die von Spinoza entwickelte Verfassung gibt diese Prozedur der Rechtssetzung, Ausführung und Rechtsprechung vor, und die Syndici als eine Art Verfassungsgericht wachen darüber, dass
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alles seinen verfassungsförmigen Gang nimmt. Als größte Gefahr wird dabei von Spinoza immer wieder die Korruption angesehen, mit der sich ein Partikularinteresse die staatliche Souveränität und Macht unterwerfen kann. Genau dagegen soll die ausgefeilte Prozedur schützen, und Spinozas prozeduralistischer Furor erklärt sich genau aus dieser Angst vor der Korruption, vor der menschlichen, unvernünftigen Affektabilität. Für die Herrschaft der Vernunft, die die Herrschaft des Gesetzes ist, braucht es daher eine ausgefeilte Prozedur, die die Affektabilität in die richtigen Bahnen lenkt. Nur so können die Freiheit der Bürger und das Gemeinwohl gesichert werden. Auch bei Spinoza zeigt sich im Vokabular das Fortwirken der Romidee. Er spricht von Patriziern, Senatoren und Konsuln und referiert wiederholt auf die römische Geschichte, auf Cicero und, wie bereits erwähnt, auf Machiavelli. In diesem Sinne gehört Spinoza ganz entschieden zu jener atlantischen republikanischen Tradition. Allerdings ist das nicht die Pococksche atlantische republikanische Tradition mit ihrem aristotelischen Grundtenor. Es ist aber auch nicht einfach die römische Tradition Skinners. Spinoza gehört zur republikanischen Tradition, insofern er den republikanischen Freiheitsbegriff des klassischen Republikanismus von Machiavelli aufgreift und mitprägt und dabei in einem bestimmten, tradierten Denk- und Vokabularraum operiert. Er transformiert aber zugleich diesen Denk- und Vokabularraum durch seine Auseinandersetzung mit Descartes und Hobbes und durch die Entwicklung seiner Metaphysik. Zudem überführt er diese Tradition in die Zukunft durch seine Transformation der Stadtrepublik in eine föderale Stadtstaatenrepublik.250 Indem Spinoza nämlich in einem nächsten Schritt eine Föderation von in der zuvor beschriebenen Weise verfassten Stadtstaaten vorschlägt und als beste Staatsform auszeichnet, führt er eine verfassungsmäßige Innovation in die republikanische Ideengeschichte ein, die sich dann erst rund hundert Jahre später bei Madison und Kant wieder findet. Diese Innovation lässt sich in ihrer institutionellen Konkretion wohl nur aus Spinozas niederländischem Kontext heraus erklären, aus der politischen Wirklichkeit der föderalen Republik der Generalstaaten. Spinoza schlägt für diese Föderation vor, dass in gleicher Weise, wie das zuvor für die einzelnen Stadtrepubliken geschehen ist, auf Bundes-
—————— 250 Vgl. zu diesem Problem der Verortung Spinozas in der Republikanismus-Forschung Israel, Jonathan 2004: »The Intellectual Origins of Modern Democratic Republicanism (1660-1720)«, in: European Journal of Political Theory 3.
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ebene eine oberste Ratsversammlung gebildet wird, die jede Einzelrepublik je nach ihrer Größe und Macht mit einer bestimmten Zahl von Ratsmitgliedern beschickt (Vgl. TP 9/193). Die oberste Ratsversammlung muss jedoch nach Spinoza nur selten tagen, nämlich wenn grundlegende Verfassungsänderungen für den gesamten Bundesstaat anstehen oder bei schweren Konflikten (Vgl. TP 9/195). Ansonsten stellt er sich vor, dass ein Senat, der wiederum proportional zur Größe der einzelnen Stadtrepubliken besetzt wird, die Geschäfte der Bundesregierung leitet (Vgl. TP 9/193). Daneben soll ein Bundesgerichtshof als höchste Instanz für Streitigkeiten zwischen Privatleuten eingerichtet werden, der ebenfalls nach proportionaler Größe von den einzelnen Stadtrepubliken mit Richtern beschickt wird (Vgl. TP 9/193). Die Autonomie der Einzelrepubliken bleibt also bei Spinoza weitgehend gewahrt und nur dort, wo Probleme auftreten, die alle betreffen oder bei Streitigkeiten zwischen Privatpersonen verschiedener Stadtrepubliken, wird die Bundesversammlung, die Bundesregierung oder der Bundesgerichtshof aktiv. Spinoza bevorzugt die föderale Stadtstaatenrepublik gegenüber der einzelnen Stadtrepublik, weil in ihr ein friedlicher Wettbewerb zwischen den einzelnen Stadtrepubliken um das bessere politische, soziale und ökonomische Umfeld entsteht. »Die Patrizier einer jeden Stadt werden, wie die menschliche Begierde nun einmal ist, danach streben, ihr Recht sowohl in der Stadt wie im Senat [des Bundes, P.H.] zu behaupten und womöglich zu erweitern. Daher werden sie danach streben, die Bevölkerung möglichst in die eigene Stadt zu ziehen, also darauf bedacht sein, mehr mit Wohltaten als durch Schrecken zu regieren und (auf diese Weise) die Bevölkerungszahl ihrer Stadt zu mehren« (TP 9/203). Hier zeigt sich erneut, wie die eigensüchtigen Interessen der Regierenden gerade durch die föderale institutionelle Verfassung zugunsten der Bürger und des Gemeinwohls von Spinoza genutzt werden. Darüber hinaus bewahre die föderale Stadtstaatenrepublik vor der Okkupation der Macht durch einen Tyrannen. Jemand könne wohl leicht eine einzelne Stadtrepublik sich unterwerfen, aber nicht eine größere Menge von miteinander verbundenen Stadtrepubliken (Vgl. TP 9/205). Am Ende – hier blitzt das Freiheitspathos Spinozas wieder auf – erklärt er zudem: »Schließlich ist in diesem Staat einer größeren Zahl von Bürgern die Freiheit eigen. Denn wo nur eine einzige Stadt herrscht, dort kümmert man sich um das Wohl der übrigen nur so weit, wie es im Interesse der herrschenden Stadt ist« (TP 9/205).
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III.3.3 Spinoza als Katalysator des modernen, kosmopolitischen Republikanismus Mit seiner föderalen Stadtstaatenrepublik hat Spinoza bereits eine ausgesprochen innovative Lösung für den zwischenstaatlichen Naturzustand unterbreitet, den er an anderer Stelle äußerst nüchtern sieht. Für den zwischenstaatlichen Naturzustand gilt auch für Spinoza, dass sich Staaten im Gegensatz zu Individuen durchaus durch Waffengewalt und Abschreckung in ihrem Sein erhalten können. Wie Machiavelli oder Harrington sieht auch Spinoza zunächst den zwischenstaatlichen Zustand als Raum der Macht und des Imperialismus (Vgl. TTP 16/241). Das ist die grundlegende Konstellation des klassischen Republikanismus. Nach innen Republik und Herrschaft des Gesetzes, nach außen Naturzustand, Waffengewalt und Imperialismus. Spinoza geht aber mit seiner föderalen Stadtstaatenrepublik und den Argumenten für sie zumindest im Bezug auf die Niederlande über diese ideengeschichtliche Grundkonstellation des klassischen Republikanismus hinaus. Im Rahmen der Niederlande kann er sich bereits eine, die einzelnen Stadtrepubliken übergreifende föderale Republik vorstellen. Diese erscheint ihm sogar als vorzugswürdig. Man könnte daher im klassischen niederländischen Republikanismus Spinozas einen Katalysator des modernen, kosmopolitischen Republikanismus der Aufklärung sehen. Eine breite Rezeption des Spinozismus finden wir zum Beispiel in der deutschen Aufklärung, die ihren Ausdruck unter anderem im Streit zwischen Jacobi und Lessing findet. Wir hatten zudem bemerkt, dass Spinozas Vertragstheorie bereits Argumente Rousseaus vorwegzunehmen scheint, und der ideengeschichtliche Einfluss der maßgeblich von Spinoza ausgehenden »radikalen Aufklärung« auf die amerikanische, föderale kontinentale Republik wird heute immer deutlicher.251 Rousseau und der amerikanischen Republik werden wir uns gleich zuwenden. Auf diesen ideengeschichtlichen Zusammenhang verweist auch ein Lösungsvorschlag für die Ambivalenz von Demokratie und Aristokratie bei Spinoza. Wenn man nämlich die Selbstwahl der aristokratischen Ratsversammlung durch eine demokratische Wahl von Repräsentanten ersetzen würde, würde sich im Prinzip nichts weiter an dem von Spinoza vorgeschlagenen Prozeduralismus für die föderale Stadtstaatenrepublik ändern – außer eben, dass die Ratsversammlung nun vom Volk gewählt würde. Das ist aber genau der Weg, den die Autoren der Federalist Papers dann gehen werden.
—————— 251 Vgl. Israel, Jonathan 2010: A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy, Princeton.
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IV. Moderner Republikanismus
IV.1 Zwei Gesichter des modernen Republikanismus? Rousseau und Madison In seinem Werk Vom Geist der Gesetze unterscheidet Montesquieu drei Regierungen: »Republikanisch ist diejenige Regierung, bei der das Volk als Körperschaft beziehungsweise bloß ein Teil des Volkes die souveräne Macht besitzt. Monarchie ist diejenige Regierung, bei der ein einzelner Mann regiert, jedoch nach festliegenden und verkündeten Gesetzen, wohingegen bei der despotischen Regierung ein einzelner Mann ohne Regel und Gesetz alles nach seinem Willen und Eigensinn abrichtet.«252 Mit Montesquieu und seinem überaus einflussreichen Werk, das sowohl auf die Federalist Papers und die amerikanischen Revolutionäre als auch auf Rousseau und die französischen Revolutionäre gewirkt hat, bekommen wir die für das politische Denken der Aufklärung nun zentral werdenden Regierungsalternativen in den Blick. Kennzeichnend ist die Gegenüberstellung von Republik und Monarchie, wodurch die moderne Bedeutung des Begriffs Republik als Nicht-Monarchie eingeführt wird. Die Republik wird noch einmal unterteilt in eine demokratische und eine aristokratische Variante, während die Herrschaft eines Einzelnen weiter in eine konstitutionelle Monarchie und den Despotismus unterteilt wird. Montesquieus in den Debatten der politischen Theorie der Aufklärung immer wieder aufgegriffene These ist, dass die Republik eine Regierung für kleine Staaten auf Grundlage der bürgerlichen Tugend sei.253 Den Mittelweg der konstitutionellen Monarchie geht nach dem Scheitern der Revolution der 1640er Jahre England, während sich für Amerikaner und Franzosen bald nach Montesquieu nur noch die Alternative von
—————— 252 Montesquieu 1748: Vom Geist der Gesetze, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand 1994, Stuttgart, S. 106. 253 Ebd. S. 120.
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Republik oder Despotismus zu eröffnen scheint, als der jede Monarchie ihnen nunmehr erscheint. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, welche Variante der Republik man nun wählen soll. Votiert man für die direkte Demokratie des souveränen Volkes, für ein repräsentatives System (tugendhafter Repräsentanten) oder – noch stärker aristokratisch ausgerichtet – für eine Souveränität einzig bei einer begrenzten tugendhaften Klasse, für eine Beschränkung des Bürgerstatus auf einige Wenige. Damit befinden wir uns mitten in den Auseinandersetzungen, die der amerikanischen und französischen Revolution vorausgehen beziehungsweise im Verlauf der Revolutionen weiter geführt werden und gewissermaßen bis heute nicht abschließend geklärt wurden, wenn auch das repräsentative System sich im Westen weitgehend durchgesetzt hat. Meine zentrale These ist, dass wir anhand von Rousseau und Madison zwei grundlegende Gesichter des modernen Republikanismus in besonders hervorstechender und wirkmächtiger Weise vor Augen geführt bekommen. Während wir bei Rousseau einen radikalen Voluntarismus vorfinden, die Betonung der Souveränität des Volkes, die keinen von ihr nicht gewollten Schranken und Begrenzungen unterworfen werden darf und sich in einer direktdemokratischen Legislative äußert, betont Madison umgekehrt den Vorrang der Verfassung, die sozusagen über den politischen Entscheidungsfindungsprozessen steht beziehungsweise ihnen vorausgeht und die Spielregeln vorgibt, nach denen sich der Wille des gesamten Volkes und das Gemeinwohl allererst finden lassen angesichts der Vielfalt der Stimmen und Interessengruppen. Dafür ist ein föderales und repräsentatives System laut Madison am besten geeignet. Das ist die paradoxe Situation, mit der sich das politische Denken der Moderne von da an konfrontiert sieht: einerseits die Betonung der monolithischen Souveränität des Volkes, von der alle Gesetze und damit auch die Verfassung ausgehen, andererseits die Beschränkung und Dispersion dieser Souveränität des Volkes durch eine Verfassung, die nicht ohne weiteres, eigentlich nur in einem außerlegalen Akt der Revolution des Volkes gegen sich selbst, geändert werden kann, ist sie erst einmal verabschiedet.254
—————— 254 Vgl. Kielmannsegg, Peter Graf 1988: »Das Verfassungsparadox. Bemerkungen zum Spannungsverhältnis von Demokratieprinzip und Verfassungsprinzip«, in: Maier, Hans/Matz, Ulrich/Sontheimer, Kurt/Weihnacht, Paul-Ludwig (Hg.) 1988: Politik, Philosophie, Praxis, Stuttgart und Holmes, Steven 1994: »Verfassungsförmige Vorentscheidungen und das Paradox der Demokratie«, in: Preuss 1994.
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Zweitens finden wir in der Gegenüberstellung von Rousseau und Madison die Alternativen einer kleinen, nach antikem Vorbild stadtstaatlichen Republik mit einem Demos bei Rousseau und einer großen, einen ganzen Kontinent umfassenden Republik aus vielen Republiken, mit vielen Demoi, bei Madison. Die Wahl der angemessenen Größe hängt dabei nun – das ist die zweite These – mit ihrer jeweiligen Konzeption der Republik zusammen. Rousseaus radikaldemokratische, voluntaristische Versammlungsrepublik kann für ihn nur in einem kleinen Staat mit kleiner Bevölkerung funktionieren. Umgekehrt argumentiert Madison gerade für den Vorteil einer großen Republik, die den direkten Einfluss und die Okkupation der Macht durch einzelne Interessengruppen durch ihr weiträumiges und balanciertes Institutionengefüge verhindert. Hier wird dann auch deutlich, dass der moderne Begriff der Republik als Nicht-Monarchie letztlich wenig besagt, solange nicht näher hin geklärt ist, wie diese Nicht-Monarchie nun beschaffen sein soll. So schablonenhaft unsere Gegenüberstellung auch erscheinen mag – und sie trifft, wie üblich bei derartigen Gegenüberstellungen, beide Autoren nur grob –, so hat sie doch einen heuristischen Wert für unsere grundlegende Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit eines kosmopolitischen Republikanismus. Indem wir Rousseaus für die Moderne eminent prägende Volkssouveränitätslehre herausarbeiten und mit seinem Begriff der Republik verbinden, können wir sehen, welche Argumente für oder gegen Madisons kontinentale Republik sprechen, die Rousseau ablehnt – wie den Kosmopolitismus überhaupt –, und damit gegen einen kosmopolitischen Republikanismus. Dies bereitet uns auf die Auseinandersetzung mit Kant vor, dessen politisches Denken sich im Kontext dieser ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen entfaltet. Ich möchte im Folgenden zuerst auf Rousseaus kleine Republik eingehen, indem ich zunächst meine hermeneutische Herangehensweise an ihn erläutere (IV.1.1), um dann Rousseaus Menschenbild und seine Genese des Ancien Regime zu rekonstruieren (IV.1.2). Dies versetzt uns in die Lage, die Grundprämissen seiner kleinen Republik zu erkennen und von ihnen aus diese selbst herauszuarbeiten. Ich beschließe meine Ausführungen zu Rousseau mit einigen Überlegungen zu Rousseaus Republik und ihrem Verhältnis zum Kosmopolitismus (IV.1.3). Im zweiten Schritt werden die Federalist Papers und damit Madisons kontinentale Republik im Vergleich zu Rousseau vorgestellt. Nach einigen Ausführungen zur politischen Ausgangslage der Federalist Papers (IV.1.4) wenden wir uns dann, komplementär
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zu Rousseau, zunächst dem Menschenbild Madisons zu und der daraus folgenden Faktionentheorie (IV.1.5). Von diesen Grundprämissen ausgehend, können wir wiederum Madisons Republik und ihr Verhältnis zum Kosmopolitismus rekonstruieren (IV.1.6). Ich schließe mit einem kurzen Fazit zur Frage, ob es sich bei Rousseau und Madison tatsächlich um zwei Gesichter des modernen Republikanismus, also um zwei Republikanismen handelt. Oder müsste nicht vielmehr ein moderner kosmopolitischer Republikanismus Elemente beider Entwürfe in sich vereinen? Diese Frage leitet zu Kant über.
IV.1.1 Das Problem Rousseau Zweifellos wäre es vermessen, das »Problem Jean-Jacques Rousseau«255 hier erschöpfend behandeln zu wollen. Das ist hier aber auch gar nicht angestrebt. Die folgende Darstellung bescheidet sich damit, Rousseaus Republikanismus, wie er uns in der Abhandlung über die Ungleichheit 256 und dem Gesellschaftsvertrag 257 begegnet, herauszuarbeiten. Es sind vor allem diese beiden Schriften, mit denen Rousseau politisch prägend auf die Moderne eingewirkt hat – wenn wir einmal vom Emil absehen, auf dessen in der hier vorgetragenen Interpretation zugedachten Platz bei Gelegenheit kurz verwiesen werden soll. Mich interessieren hier einzig die Rousseausche Republik und ihre Prämissen. Diese Prämissen sind grundgelegt in Rousseaus historischer Anthropologie, so meine Deutung dessen, was im zweiten Diskurs geschieht. Seine republikanische politische Philosophie im Gesellschaftsvertrag muss geradezu als Reaktion auf diese historische Anthropologie verstanden werden. Die Republik ist die Lösung für das zentrale Problem der historischen Anthropologie, den Zustand der Entfremdung, des Despotismus und der sozialen Ungleichheit, den Rousseau in der ihn umgebenden Gesellschaft erblickt. Das ist die werkimmanente These, die hier für Rousseau expliziert
—————— 255 Vgl. Cassirer, Ernst 1932: »Das Problem Jean-Jacques Rousseau«, in: ders./Starobinski, Jean/Darnton, Robert 1989: Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt/M. 256 Im Folgenden zitiert als (AU) nach Rousseau, Jean-Jacques 1755: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel 1998, Stuttgart 257 Im Folgenden zitiert als (CS) nach Rousseau, Jean-Jacques 1762: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard 1977, Stuttgart.
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werden soll. Nun ist diese These schon von Cassirer258 einerseits, von Engels259 andererseits vertreten worden, dass der Gesellschaftsvertrag, sei es über den Weg der Reform und Erziehung260 (Cassirer), sei es über den Weg der Revolution (Engels), aus dem im zweiten Diskurs kritisierten Zustand hinausführen soll. Starobinski verweist allerdings zu Recht darauf, dass sich dieser Zusammenhang so nicht in beiden Werken von Rousseau angedeutet findet, und dass seine Äußerungen zum Verhältnis der beiden Werke an anderen Stellen äußert widersprüchlich sind.261 Dahingestellt mag hier bleiben, aus welchen Gründen, Rücksichtnahmen und inneren Verirrungen Rousseau sich stellenweise gegen eine solche Deutung verwahrte. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass die Abhandlung über die Ungleichheit mit einer Hymne auf die Republik Genf beginnt und mit einer Klage über den Despotismus, aus dem es sich zu befreien gelte, endet. Dabei ist Rousseau in der Widmung an die Republik Genf noch in großen Teilen einem klassischen Republikanismus verpflichtet, wie wir ihn etwa bei Milton und Harrington angetroffen haben. Er preist die durch eine Schicht von tugendhaften Bürgern geleitete Republik Genf, in der das Volk sich nicht zu großen Anteil an der Regierung anmaßt. So schreibt er dort im Hinblick auf sein Republikideal: »Vor allem gemieden hätte ich wegen ihrer notwendig schlechten Regierung eine Republik, in der das Volk im Glauben, es könne seine Magistratspersonen entbehren oder ihnen nur eine schwache Autorität zubilligen, sich unklugerweise die Verwaltung der bürgerlichen Angelegenheiten und die Ausführung seiner eigenen Gesetze selbst vorbehielte« (AU 11). Diese Betonung der Trennung von Legislative und Exekutive findet sich freilich dann auch im Gesellschaftsvertrag. Aber im Gegensatz zur hier angeführten Stelle, legt Rousseau dort Wert darauf, dass die Macht der Regierung niemals die Souveränität des Volkes übersteigen dürfe und dieser voll und ganz untergeordnet sein müsse, gar endet beziehungsweise aufgelöst ist, wenn das Volk sich versammelt (Vgl. CS 3/10 93). Das ist die radikale Idee der Volkssouveränität, mit der Rousseau zentral auf die Moderne eingewirkt hat. Im zweiten Diskurs erklärt er dagegen noch ganz im Sinne des klassischen Republikanismus: »Ich hätte vielmehr
—————— 258 Vgl. Cassirer 1932. 259 Engels, Friedrich 1886: Anti-Dühring, Zürich, S. 131. 260 Das wäre dann der Platz des Emil in der hier vorgetragenen Interpretation, der dem Werk natürlich nicht in seiner Gänze gerecht wird. Vgl. Rousseau, Jean-Jacques 1762: Emil oder über die Erziehung, übersetzt von Ludwig Schmidts 1998, Paderborn/ München/Wien/Zürich. 261 Vgl. Starobinski, Jean 1988: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, S. 49ff.
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eine Republik gewählt, in der die einzelnen sich damit begnügten, die Gesetze zu genehmigen und in Versammlungen aufgrund der Darlegungen ihrer Oberhäupter die wichtigsten Angelegenheiten zu entscheiden; […] eine Republik, in welcher die Tugend der Magistratspersonen derart Zeugnis von der Weisheit des Volkes ablegte, dass beide sich gegenseitig Ehre machten« (AU 11 ff.). Das ist die natürliche Aristokratie Miltons und Harringtons. Dass Rousseau mit den Schriften der englischen Republikaner vertraut war, zeigt der Verweis auf Sidney am Ende des zweiten Diskurses (Vgl. AU 98). Neben den Vertragstheoretikern Hobbes und Locke, von denen sich Rousseau jedoch kritisch distanziert, spielt insbesondere Machiavelli als eine weitere Figur des klassischen Republikanismus für ihn eine zentrale Rolle als positiver Anknüpfungspunkt in seiner politischen Philosophie. Im Gesellschaftsvertrag heißt es dann auch: »Der Fürst von Machiavelli ist das Buch der Republikaner« (CS 3/6 78). Machiavelli habe »unter dem Vorwand, die Könige zu unterweisen […], die Völker gründlich belehrt« (ebd.). Allerdings ist der Republikanismus, den Rousseau dann im Gesellschaftsvertrag vorschlägt, nicht mehr der Republikanismus eines Machiavelli, Sidney, Milton oder Harrington. Die Idee der Volkssouveränität, die Rousseau in einer Radikalität und Konsequenz durchdenkt wie keiner vor ihm, markiert einen entscheidenden Bruch mit dem klassischen Republikanismus und den Eintritt in die Moderne. Insofern ist der Gesellschaftsvertrag nicht nur einfach eine Reaktion auf die im zweiten Diskurs aufgeworfenen Probleme im Sinne eines Lösungsvorschlags, sondern auch eine Weiterentwicklung in Rousseaus politischem Denken, eine Revolution in seinem Denken darüber, wie eine ideale Republik beschaffen sein sollte. Diese Revolution kündigt sich jedoch am Ende des zweiten Diskurses bereits an, wo er unter Verwendung der schon von Harrington eingesetzten polemischen Figur des Sultans zum Sturz der Despoten aufruft: »Der Aufstand, der mit der Erdrosselung oder der Entthronung des Sultans endet, ist ein ebenso rechtlicher Akt wie diejenigen, durch die er noch am Tag zuvor über Leben und Gut seiner Untertanen verfügte« (AU 110). Das Volk duldet ihn, solange es ihm beliebt und er ist insofern dessen rechtmäßiger Herrscher; es setzt ihn aber auch mit dem gleichen Recht ab, wenn es ihm beliebt, wie es ihn eingesetzt hat.
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IV.1.2 Historische Anthropologie oder Gedankenexperiment? Zur Genese des Ancien Régime Was besagt aber nun die historische Anthropologie, so wie sie uns im zweiten Diskurs begegnet? Dazu müssen wir uns zunächst die Frage stellen, was überhaupt im zweiten Diskurs vor sich geht. Beansprucht Rousseau mit seinen Ausführungen überhaupt, uns eine Geschichte der Menschheit von den Anfängen bis zur modernen Zivilisation vorzulegen. In der Einleitung wird diese Deutung von Rousseau selbst entschieden zurückgewiesen. »Man darf nicht die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, für historische Wahrheiten halten, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen, die mehr dazu geeignet sind, die Natur der Dinge zu erhellen, als ihren wirklichen Ursprung aufzuzeigen, und die denen ähnlich sind, die unsere Naturforscher alle Tage über die Entstehung der Welt anstellen« (AU 33). Er spricht auch von »Vermutungen, die allein aus der Natur des Menschen und der ihn umgebenden Wesen abgeleitet« seien, darüber, »was aus dem Menschengeschlecht hätte werden können, wenn es sich selbst überlassen geblieben wäre« (ebd.). Das heißt, es handelt sich bei allem Folgenden um ein Gedankenexperiment, dass Rousseau und seinen Lesern erkennen hilft, was an ihrem gegenwärtigen Fühlen, Denken und Handeln der Natur des Menschen geschuldet ist und was den politischen und sozialen Verhältnissen des Ancien Régime. Das ist die aufklärerische und kritische, ja revolutionäre Pointe des zweiten Diskurses. Wenn man erkennt, was den politisch-sozialen Verhältnissen geschuldet ist und wenn in diesen, wie der Gesellschaftsvertrag in seiner furiosen Eröffnung feststellt, der Mensch überall in Ketten liegt, dann lässt sich das vielleicht ändern, dann ist das vielleicht nur das Ergebnis unglücklicher Umstände und Zufälle, aber nicht notwendig aus der menschlichen Natur gefolgt. Dazu muss aber eben gezeigt werden, dass die Verhältnisse nicht notwendige und damit unveränderliche Folge der menschlichen Natur sind, sondern das Ergebnis eines Zusammentreffens unglücklicher Umstände und Zufälle. Das genau ist es, was uns der zweite Diskurs dann zu beweisen sucht. Unter der Hand wird aber Rousseau das Gedankenexperiment dabei zur historischen Anthropologie. Viel zu überzeugt ist er von der Wahrheit seiner Erkenntnisse, die ihn, wie er an der hochgradig stilisierten Stelle der Bekenntnisse in Anspielung auf Augustinus' Bekehrungserlebnis erzählt, wie eine Offenbarung in einem Moment überkamen. Die Gewalt seiner Entdeckung reißt den Schriftsteller Rousseau mit und lässt ihn jeden Zweifel an ihrer empirischen Wahrheit verlieren.
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Rousseau beginnt seinen zweiten Diskurs mit der Unterscheidung von natürlicher beziehungsweise physischer und moralischer beziehungsweise politischer Ungleichheit. Erstere besteht in den natürlichen Unterschieden unter den Menschen im Hinblick auf Körpergröße und -kraft, Intelligenz, Talent usw. Die moralische beziehungsweise politische Ungleichheit entsteht dagegen nach Rousseau durch eine »Art Übereinkunft«, weil sie »durch die Zustimmung der Menschen eingerichtet oder wenigstens gebilligt wird« (AU 31). Wie kam es nun dazu, so fragt sich Rousseau, dass die Ungleichheit an Reichtum und Macht quantitativ so viel größer ist als die natürliche Ungleichheit unter den Menschen, die, so scheint er anzunehmen, in der Regel alle eine relativ ähnliche Körpergröße und -kraft und eine ähnliche Ausstattung mit Intelligenz und Talent besitzen. Darüber hinaus: Wie kam es dazu – »durch welches Ineinandergreifen von Wundern« –, dass »der Starke sich entschließen konnte, dem Schwachen zu dienen, und das Volk sich entschließen konnte, eine bloß vorgestellte Ruhe« unter der Herrschaft eines Despoten »um den Preis wirklicher Glückseligkeit zu erkaufen« (AU 32)? Wie also konnte die moralisch-politische Ungleichheit sogar die natürliche Ungleichheit umkehren und zu gewaltigen Ungleichheiten in der Gesellschaft führen, die jeder natürlichen Grundlage entbehren? Mit dieser Umkehrungsthese ist auch schon von Rousseau unterstellt, dass der Grund nicht in der natürlichen Ungleichheit unter den Menschen zu finden ist. Aber vielleicht liegt der Grund ja doch in der Natur des Menschen, in seinem Inneren, in seinem Wesen? Dazu muss Rousseau untersuchen, wie der Mensch vor aller Gesellschaft, im Naturzustand, war. Hier beginnt nun der äußerst spekulative Teil des zweiten Diskurses, denn Rousseau behauptet, dass der Mensch im Naturzustand ein vereinzelter und selbstgenügsamer Wilder war, den einzig die Selbstliebe (amour de soi) und ein unreflektiertes Mitleid bestimmte, der einzig nach seiner Selbsterhaltung, seinem Wohlergehen und nach seiner Fortpflanzung strebte. Ähnlich den Tieren ist der Mensch im Naturzustand grundsätzlich vom Instinkt bestimmt gewesen. Allein, der Mensch unterscheidet sich vom Tier. Rousseau war kein Materialist, sondern Dualist. Er unterscheidet zwischen einer physischen und einer metaphysischen beziehungsweise gesellschaftlich-moralischen Seite des Menschen. »Die Natur befiehlt jedem Lebewesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch verspürt denselben Drang, doch erkennt er sich als frei, ihm nachzugeben oder zu widerstehen; und vor allem in dem Bewußtsein dieser Freiheit zeigt sich die Geis-
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tigkeit seiner Seele« (AU 45). Das zweite Unterscheidungskriterium zwischen Tier und Mensch ist für Rousseau die Fähigkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen, seine Perfektibilität. Genau in dieser dualistischen Natur des Menschen erblickt Rousseau den Ursprung der Entstehung der Ungleichheit. Wie alle Tiere folgt auch der Mensch seinen Bedürfnissen, nur ist ihm durch sein Bewusstsein der Freiheit, seine Fähigkeit zu wählen und abzuwägen und seine Fähigkeit sich zu vervollkommnen, die Möglichkeit gegeben, sich als Individuum und als Gattung zu entwickeln, Fortschritt und Zivilisation hervorzubringen. Dabei muss man allerdings sehen, dass für Rousseau der selbstgenügsame Wilde, seine Bedürfnisse und seine Fähigkeiten zunächst in einem moralischen Sinne vollkommen indifferent sind. Das heißt, auch wenn die Freiheit und die Perfektibilität in Verbindung mit der tierischen Bedürfnisbefriedigung der Ursprung der Ungleichheit sind, so sind sie doch nicht deren Ursache. Diese ist in der Umwelt zu suchen, in einer Verkettung unglücklicher Umstände und Zufälle, in kontingenten Widerständen, die dem Menschen bei seiner Bedürfnisbefriedigung begegnet sind und ihn zwangen, seine Fähigkeiten zu deren Überwindung einzusetzen. Rousseau erzählt hier eine Geschichte, in der sich über die Entdeckung und Entwicklung von Werkzeugen, dem Bau von Behausungen, des Sesshaftwerdens und Ackerbautreibens und der Metallbearbeitung langsam Gesellschaften und Öffentlichkeiten bilden, in denen nun als Folge der Naturbearbeitung Fragen des Eigentums und damit des Vergleichens nach Reichtum, Rang und Schönheit auftreten, die wiederum bis in die emotionale Tiefenstruktur des Menschen eingreifen und sie transformieren. Es entsteht die fatale amour propre, die den Menschen völlig vom Urteil seiner Umwelt abhängig macht. Er fühlt sich gezwungen, sich ständig mit anderen zu vergleichen, will sie übertrumpfen und entwickelt eine Lust am Erniedrigen und Beherrschen. Zugleich treibt ihn nun die Angst um sein Eigentum an, das seinen Rang und seine Geltung bestimmt. Mit einem demagogisch-ideologischen Kunstgriff – das scheint wohl Rousseaus Erklärung zu sein – brachten schließlich die durch Geschicklichkeit besonders Wohlhabenden die Habenichtse dazu, Eigentumsrechte anzuerkennen und, in einem weiteren Schritt, Übergriffe durch eine staatliche Autorität zu sanktionieren. Das ist das Ende des Naturzustandes für Rousseau und der Beginn der Gesellschaft, wie die auch heute noch, trotz all unserer Ernüchterung nach dem Scheitern der sozialistischen Revolutionen, ergreifende Stelle im zweiten Diskurs darlegt: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ›Dies ist
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mein‹ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ›Hütet euch davor, auf diesen Betrüger zu hören. Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und dass die Erde niemandem gehört!‹« (AU 74). Am Ende dieser Entwicklung steht für Rousseau die Gesellschaft seiner eigenen Zeit, eine Gesellschaft von Heuchlern, die insgeheim nur auf die Erniedrigung ihrer Mitmenschen schielen und von einem Despoten beherrscht werden müssen, weil nur dieser noch – hier blitzt der hobbessche Leviathan auf – den in der Gesellschaft tobenden Kampf um Rang und Reichtum bändigen kann. So schreibt er zur Genese des Ancien Régime: »Wenn wir die Ausbreitung der Ungleichheit durch diese verschiedenen Umwälzungen hindurch verfolgen, so werden wir finden, daß die Einführung des Gesetzes und des Eigentumsrechts ihre erste Stufe war, daß die Einrichtung des Magistratsamtes die zweite und die Verwandlung der rechtmäßigen Gewalt in eine willkürliche die dritte und letzte Stufe war. Auf diese Weise wurde der Status von reich und arm durch die erste Epoche gerechtfertigt, jener von mächtig und schwach durch die zweite und durch die dritte der von Herr und Sklave, welcher der letzte Grad der Ungleichheit ist und der Endpunkt, auf den alle anderen hinauslaufen, bis neue Umwälzungen die Regierung völlig auflösen oder sie den rechtmäßigen Verhältnissen wieder annähern« (AU 105). Hier finden wir also am Ende des zweiten Diskurses den Ausblick auf eine Umwälzung, eine Revolution, entweder hin zur Anarchie oder zu rechtmäßigen Verhältnissen; und wie wir hier abschließend feststellen können: Diese Revolution zu rechtmäßigen Verhältnissen ist für Rousseau deshalb möglich, weil der Mensch über die Freiheit der Wahl und die Fähigkeit der Vervollkommnung verfügt und der Despotismus des Ancien Régime eine Verkettung unglücklicher Umstände und Zufälle ist, die der Mensch auch wieder umwälzen kann, weil dieser Despotismus nicht notwendig aus seiner Natur folgt, sondern nur eine Möglichkeit seiner Natur in Relation zu den Umständen neben anderen ist. Eine andere Möglichkeit ist eben der Gesellschaftsvertrag.
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IV.1.3 Rousseaus kleine Republik und der Kosmopolitismus Die Grundprämisse des Gesellschaftsvertrags ist nun genau jene natürliche Freiheit des Menschen, wie sie der zweite Diskurs bereits expliziert hatte. Im Hinblick auf die Fähigkeit der Wahl sind alle Menschen von Natur aus gleich, besitzen also eine moralisch-politische Gleichheit. Diese natürliche Freiheit und moralische Gleichheit des Menschen bildet den Maßstab jeder rechtmäßigen Regierung. Rousseau wendet sich zu Beginn des Contract Social entschieden gegen ein Recht des Stärkeren, die Sklaverei und den Despotismus und folgert: »Da kein Mensch von Natur aus Herrschaft über seinesgleichen ausübt und da Stärke keinerlei Recht erzeugt, bleiben also die Vereinbarungen als Grundlage jeder rechtmäßigen Herrschaft unter Menschen« (CS I/4 10). Hier ist bereits der Weg zum Gesellschaftsvertrag angedeutet. Dem Despoten und seinem Gewaltrecht gelingt es nämlich nach Rousseau nicht, ein Volk und ein Gemeinwesen zu bilden. »Wenn zerstreut lebende Menschen«, so Rousseau in Anknüpfung an Ciceros Definition der Res Publica, »nach und nach in die Knechtschaft eines Einzelnen geraten, sehe ich dabei, gleichgültig wie groß ihre Zahl sein mag, nur Sklaven und einen Herren und nicht ein Volk und sein Oberhaupt; es handelt sich, wenn man will um eine Anhäufung, nicht um einen Zusammenschluß; es gibt weder ein Gemeinwohl noch einen Staatskörper« (CS I/5 15). Wir erinnern uns, dass sich nach Cicero die Res Publica durch das Volk definiert und dieses wiederum durch die Anerkennung des Rechts und die Gemeinsamkeit des Nutzens. Rousseau denkt ganz in dieser Linie von Ciceros politischer Philosophie, wenn er sich fragt, durch welchen Akt »ein Volk zum Volk wird« (CS I/5 16).262 Allerdings beruft sich Rousseau nun nicht mehr auf das Herkommen, den mos maiorum, und die Faktizität einer politischen Ordnung als Ausdruck des Naturrechts. Genau das ist ihm gerade nicht möglich, denn die Faktizität des Ancien Régime ist für ihn Ausdruck größten, naturwidrigen Unrechts. Die rechtmäßige politische Ordnung muss erst noch geschaffen werden. Das ist das nicht gerade geringfügige Problem, mit dem sich Rousseau auf der genetischen Ebene des Contract auseinanderzusetzen hat und das er in Anknüpfung an Machiavellis Fürsten, der eine neue Herrschaft schafft, mit der Figur eines gottgleichen Gesetzgebers (er verweist auf Calvin!) zu lösen sucht. Im Übrigen hofft er, dass der Akt der Vereinbarung, der Gesellschaftsvertrag selbst, die Ver-
—————— 262 Vgl. Balibar, Etienne 2006: »Wie wird ein Volk zum Volk? Rousseau und Kant«, in: ders. 2006: Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg.
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tragspartner transformiert und zu gemeinwohlorientierten Bürgern, eben zu mehr als einer Anhäufung, zu einem Volk macht. Formal dagegen, in der Sphäre philosophischer Abstraktion, lässt sich das Problem mit Rousseau wie folgt beschreiben: »Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor« (CS I/6 17). Die Lösung ist nun nach Rousseau der Gesellschaftsvertrag, die »völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes« (ebd.). Dieser Akt schafft für Rousseau »augenblicklich […] eine sittliche Gesamtkörperschaft«, eine »öffentliche Person«, die Rousseau »Republik« nennt (CS I/6 18). Die Vertragspartner treten in ihr in der Doppelrolle als Bürger und Untertanen auf, während die durch den Vertrag geschaffene Körperschaft dem Untertan als Staat gegenübertritt und ihn seinen Gesetzen unterwirft, die er jedoch als Bürger und Teilhaber der Souveränität sich selbst gegeben hat. Das ist der großartige Grundgedanke Rousseaus, die Republik als politische Ordnung, in der der Bürger zugleich Autor und Adressat der Gesetze ist und somit »so frei bleibt wie zuvor«. Indem Rousseau jedoch den Willen des Volkes absolut setzt, der keinerlei rechtlichen Schranken unterworfen wird, und den Gemeinwillen als unfehlbar setzt, verschenkt er die Möglichkeiten, die eine verfassungsrechtliche Einbindung der Volkssouveränität bietet, im Hinblick auf die Regulierung und Balancierung der Realität von Privatinteressen und sozialen Faktionen. Solche Sonderinteressen muss Rousseau daher durch seine Zivilreligion und die Tugend der Bürger auszublenden suchen, was seine Republik am Ende in ein reichlich illiberales Licht rückt, in der ein Pluralismus von Interessen und Meinungen keinen Raum mehr finden darf. Hier werden Madison und die amerikanische Revolution einen anderen Weg einschlagen, eben den Weg der verfassungsrechtlichen Einbindung der Volkssouveränität. Doch bevor wir uns Madison zuwenden, sei noch kurz auf die institutionelle Ordnung von Rousseaus Republik und sein Verhältnis zum Kosmopolitismus eingegangen. Wie stellt sich Rousseau seine Republik vor? Er unterscheidet zwischen der Legislative und der Exekutive. Die Legislative liegt beim Volk, das sich in regelmäßigen Abständen versammelt und über die Gesetze abstimmt. »Gesetze« meint hier die Verfassung und damit die gesamte staatsrechtliche Ordnung der Republik. Im Moment der Versammlung des Volkes ist daher die verfassungsmäßige Ordnung für einen
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Moment aufgelöst und muß erneut geschaffen beziehungsweise bestätigt werden. Die Exekutive wird vom Volk mit diesen Gesetzen konstituiert und darf im Rahmen der Gesetze nur Einzelfälle über Verordnungen regeln. Dabei kann die so geschaffene republikanische Exekutive für Rousseau sowohl monarchisch, aristokratisch, demokratisch oder eine Mischung der drei reinen Formen sein. Der Gegensatz zur Republik ist für ihn nicht die Monarchie, sondern der Despotismus. »Republik nenne ich daher jeden durch Gesetze regierten Staat, gleichgültig, unter welcher Regierungsform dies geschieht: weil nur hier das öffentliche Interesse herrscht und die öffentliche Angelegenheit etwas gilt. Jede gesetzmäßige Regierung ist republikanisch« (CS II/6 41). Der Republikbegriff wird von Rousseau daher an die Volkssouveränität gebunden und an die aus ihr geschaffenen Gesetze – und zwar in dieser Reihenfolge! Die Form der Regierung selbst spielt für ihn dagegen eine nachgeordnete Rolle und er betont, dass je nach Volk, geographischen und klimatischen Bedingungen eine andere Regierungsform angebracht sei. Diese Vernachlässigung der Institutionen ist die große Schwäche der Rousseauschen politischen Philosophie. Gerade die republikanische Tradition hatte ja seit Ciceros Tagen über die Diskussion der Mischverfassung ein besonderes Augenmerk auf institutionelle Fragen, und wir hatten gesehen, wie aus der Mischverfassungstheorie bei Milton, Harrington und Spinoza die Ideen der Machtteilung, der Repräsentation und des Föderalismus hervorgehen. Gerade die Teilbarkeit und Repräsentierbarkeit der Souveränität lehnt Rousseau jedoch ausdrücklich ab. Ihm geht es in erster Linie darum, dass der Wille des Volkes Gesetz ist und dass jeder im Staat »so frei bleibt wie zuvor«. Über ein mathematisches Argument versucht er darzulegen, dass dies nur in einer kleinen, direktdemokratischen, an die antiken Stadtstaaten angelehnten Republik möglich sei. Denn umso mehr Bürger ein Staat habe, umso mehr schwinde das Gewicht der Stimme jedes einzelnen bei der Gesetzgebung und umso weniger habe er Anteil am Gesetz, dem er als Untertan unterworfen ist. Es fragt sich allerdings, ob ein Bürger dadurch tatsächlich unfreier wird. Dieser mathematische Vergleich scheint irgendwie schief zu sein, denn selbst wenn mein Stimmgewicht gering ist, kann ein Gesetz herauskommen, für das ich gestimmt habe und das daher meiner Freiheit keinen Abbruch tut. Viel wichtiger scheint zu sein, dass die Institutionen sensibel sind für die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse aller Betroffenen und diese die Möglichkeit eines Vetos besitzen. Diesem institutionellen Aspekt schenkt Rousseau aber gerade, wie gesagt, keine Aufmerksamkeit.
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Mit der Betonung der direktdemokratischen Volkssouveränität und der Notwendigkeit einer kleinen Republik hängt nun Rousseaus Ablehnung des Kosmopolitismus zusammen. Ein großer Staat kann für ihn nur ein Despotismus sein, in dem das Stimmgewicht jedes Bürgers bis zur Nichtigkeit herabgesetzt ist, die Volkssouveränität geschwächt ist und somit die Exekutive alle souveräne Macht schließlich an sich reißt. Damit hängt weiter zusammen, dass Rousseau die Zivilreligion und die Tugend der Bürger für unverzichtbar hält, damit das versammelte Volk sich im Sinne des Gemeinwohls entscheidet und keinen privaten Interessen folgt. Dieses gemeinsame Band der Bürger, das für Rousseau ganz aristotelisch mit der Bekanntschaft und Freundschaft unter den Bürgern zusammenhängt, wird durch den Kosmopolitismus zerstört, in dem nur noch Fremde miteinander im politischen Raum agieren. Daher wendet sich Rousseau – auch wenn er sich mit den Schriften des Abbé St. Pierre befasst hat und die Problematik des Naturzustandes zwischen den Staaten durchaus sieht – am Ende entschieden gegen den Kosmopolitismus und verlagert die Lösung des zwischenstaatlichen Naturzustandes in das Innere seiner kleinen Republik. Seine kleine Republik soll – wiederum ganz aristotelisch – in ökonomischer Hinsicht den größtmöglichen Grad von Autarkie anstreben. Dadurch befreit sie sich zum einen von der Abhängigkeit von anderen Staaten und hat zum anderen keinerlei Interesse an der Eroberung fremder Territorien und deren Ressourcen. Dies nämlich sind für Rousseau die Hauptgründe zwischenstaatlicher Konflikte. Da er jedoch sieht, dass die Autarkie alleine nicht ausreicht, um vor Angriffen anderer Staaten sicher zu sein, schlägt er als Ergänzung eine lockere Föderation kleiner Republiken zwecks wechselseitigen Beistands gegen Angriffe dritter vor. Es kann sich jedoch nur um eine lockere Föderation handeln, da für Rousseau die Souveränität unrepräsentierbar und unteilbar ist. Jede Abgabe oder Übertragung von Souveränitätsrechten auf supranationale Institutionen zerstört die Volkssouveränität und damit die Freiheit der Bürger.263 Die kleine Republik kann aber als öffentliche Person Verträge mit anderen Republiken auf wechselseitigen Beistand schließen (Vgl. CS I/7 20). Dass diese aus einer direktdemokratischen, monolithischen Souveränitätslehre gefolgerte lockere Föderation kleiner Republiken nicht die einzige Lösung des zwi-
—————— 263 Vgl. dazu Fetscher, Iring 1975: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt/M., S. 179ff. und Asbach, Olaf 2003: »Staat, Politik und die Verfassung der Freiheit. Zu den Anfängen des republikanischen Verfassungsdenkens in der französischen Aufklärung«, in: Der Staat 1/2003.
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schenstaatlichen Naturzustandes ist, die am Beginn der Moderne gedacht wird, zeigt Madisons kontinentale Republik und die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika.
IV.1.4 Die politische Ausgangslage der Federalist Papers Nach der Unabhängigkeitserklärung 1776 und deren erfolgreicher militärischer Verteidigung gegen die britische Armee hatten sich die dreizehn nun zur Unabhängigkeit gelangten amerikanischen Kolonien in einer lockeren Konföderation zusammengeschlossen. Die 1781 gegründete Föderation war jedoch durch ihren Zwang zur Einstimmigkeit nicht in der Lage, die Finanzierung des Krieges, die Kreditwürdigkeit der Konföderation in Europa und das geschlossene Auftreten der dreizehn Konföderationsstaaten gegenüber den europäischen Mächten zu gewährleisten. Daher kam es zu einer Verfassungsreformbewegung, die schließlich im Verfassungskonvent von Philadelphia 1787 mündete. Der dort beschlossene Verfassungsentwurf sah einen Bundesstaat mit einer gestärkten Bundesregierung vor. Er stieß jedoch auf heftige Kritik von Seiten der Befürworter einer weitgehenden Unabhängigkeit und Souveränität der Einzelstaaten. Diese Kritiker sind unter dem Namen Anti-Federalists in die amerikanische Geschichte eingegangen. Mit ihren Argumenten standen sie ganz in der zuvor dargestellten Tradition von Montesquieu und Rousseau. Sie monierten, dass eine Republik nur in einem kleinen Staat möglich sei, dass ihre Grundlage die Tugend ihrer Bürger sei und dass ein großer Staat notwendig zum Despotismus führe.264 Die Federalist Papers,265 eine Serie von 85 Artikeln, die zwischen 1787 und 1788 unter dem Pseudonym »Publius« – eine Anspielung auf den Gesetzgeber Publius Valerius Publicola, der nach Plutarch die römische Republik gerettet hatte – in einer Reihe von New Yorker Zeitungen erschienen, versuchten nun, gegen diese Kritik der Anti-Federalists, den Verfassungsentwurf von Philadelphia zu verteidigen. Die von den drei Autoren Alexander Hamilton, John Jay und James Madison entwickelten Argumente für eine kontinentale, föderale, gewaltenteilige und repräsentative
—————— 264 Vgl. The Antifederalists, herausgegeben von Cecilia M. Kenyon 1966, Indianapolis. 265 Ich zitiere im Folgenden als (F) unter Hinzufügung des Artikels und der Seitenzahl nach der Übersetzung Hamilton/Jay/Madison: Die Federalist-Artikel, herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Angela und Willi Paul Adams 1994, Paderborn/München/Wien/Zürich.
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Republik gelten noch heute als der authentische Kommentar der amerikanischen Verfassung und die Federalist Papers als der bedeutendste Text zur politischen Theorie, den Amerika hervorgebracht hat.266 Im Folgenden wollen wir uns daher die zentralen Argumente der Federalists, insbesondere die des politischen Theoretikers unter den drei Autoren, Madison, für diese kontinentale Republik genauer ansehen.
IV.1.5 Menschliche Natur und politische Faktionen Im Gegensatz zu Rousseau, für den der Mensch im Naturzustand moralisch indifferent, wenn nicht sogar aufgrund seines Mitleids gut ist, findet sich bei den Autoren der Federalist Papers ein ausgesprochen skeptisches und pessimistisches Menschenbild. Der Mensch ist für sie ein Kompositum aus Vernunft und Leidenschaft, wobei die Vernunft, in der Nachfolge Humes, die Sklavin der Leidenschaften ist. Dieser bereits bei Augustinus und Machiavelli anzutreffende anthropologische Pessimismus, die christliche Lehre vom Sündenfall, war auch in der puritanischen Tradition, wie wir bei Milton und Harrington gesehen haben, tief verwurzelt. Von ihm her wird die politische Psychologie der Federalists entwickelt. So heißt es im berühmten 10. Artikel von Madison: »Solange zwischen seiner [des Menschen P.H.] Vernunft und seinem Egoismus ein Zusammenhang besteht, werden sich seine Ansichten und seine Leidenschaften wechselseitig beeinflussen und aus seinen Meinungen Ziele erwachsen, an die sich dann die Leidenschaften heften« (F 10/52). Für die politische Theorie und die Verfassungsgebung folgt nun die Prämisse, dass es in jedem Staat Interessengruppen gibt, »Faktionen«, die versuchen werden, ihre Interessen ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl durchzusetzen. »Unter einer Faktion«, so Madison, »verstehe ich eine Gruppe von Bürgern – das kann eine Mehrheit oder eine Minderheit der Gesamtheit sein, – die durch den gemeinsamen Impuls einer Leidenschaft oder eines Interesses vereint und zum Handeln motiviert ist, welcher im Widerspruch zu den Rechten anderer Bürger oder dem permanenten und gemeinsamen Interesse der Gemeinschaft steht« (F 10/51). Daraus entsteht nach Madison das grundlegende Dilemma für jede freiheitliche, auf der Selbstregierung des Volks basierende Regierungsform.
—————— 266 Vgl. zur amerikanischen Revolution Arendt 1963, Baylin 1967, Wood 1969, Pocock 1975, Zuckert 1998 sowie als allgemeine historische Einführung Dippel, Horst 1985: Die amerikanische Revolution, Frankfurt/M.
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Wie können politische Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls garantiert werden? Wie kann verhindert werden, dass sich Interessengruppen der politischen Macht zum Schaden des Gemeinwesens bemächtigen? Ist der einzige Ausweg die Aufgabe der demokratischen oder, wie Madison auch sagt, popularen Regierung zugunsten eines Hobbesschen Despoten? Madisons Antwort lautet, dass eine populare und freiheitliche Regierung die Ursachen der Faktionen nicht beseitigen kann, da diese in der »menschlichen Natur angelegt« (ebd.) seien, ohne zugleich die Freiheit mit zu beseitigen. Sie kann die Faktionen aber durch eine kluge Verfassung kontrollieren und regulieren. Ganz im Sinne Machiavellis gilt es, die gesellschaftlichen Faktionen und Konflikte zugunsten der Freiheit und des Gemeinwohls produktiv zu machen. In Artikel 51. bringt Madison diese Einsicht auf die berühmte Formel, »Machtstreben muß Machtstreben entgegenwirken (ambition should be made to counteract ambition)« (F 51/314). Er fährt dann mit einigen grundlegenden Betrachtungen zur Natur des Menschen, der Politik und Regierung fort, die das äußerst nüchterne Menschenbild der amerikanischen Gründerväter in toto auf den Punkt bringen: »Es wirft ein schlechtes Licht auf die menschliche Natur, dass solche Vorkehrungen nötig sind, um den Missbrauch der Regierungsgewalt zu verhindern. Aber ist nicht die Notwendigkeit von Regierung schon an sich die stärkste Kritik an der menschlichen Natur? Wenn die Menschen Engel wären, so bräuchten sie keine Regierung. Wenn Engel die Menschen regierten, dann bedürfte es weder innerer noch äußerer Kontrollen der Regierenden. Entwirft man jedoch ein Regierungssystem von Menschen über Menschen, dann besteht die große Schwierigkeit darin: man muß zuerst die Regierung befähigen, die Regierten zu beherrschen und sie dann zwingen, die Schranken der eigenen Macht zu beachten« (ebd.). Wie aber soll das nun geschehen, ohne die Freiheit aufzugeben? Und wie kann das in einer Republik geschehen, die einen ganzen Kontinent umfassen soll? Madison erklärt: »Die Abhängigkeit vom Volk ist zweifellos das beste Mittel, die Regierung zu kontrollieren, aber die Menschheit hat aus Erfahrung gelernt, dass zusätzliche Vorkehrungen nötig sind« (ebd.). Wenden wir uns daher diesen zusätzlichen Vorkehrungen zu und damit Madisons föderaler Republik.
IV.1.6 Die föderale Republik In genauer Umkehrung des Arguments bei Rousseau, dass die Freiheit der Bürger nur in einer kleinen, direktdemokratischen Republik erhalten wer-
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den kann, in der jeder zugleich Autor und Adressat der Gesetze ist, behaupten die Federalists, dass die Freiheit jedes Bürgers nur in einer großen Republik gesichert ist. Dass ist natürlich das Beweisziel der gesamten Papers, insofern sie den bundesstaatlichen Verfassungsentwurf von Philadelphia verteidigen wollen. Diese These ist aber mehr als nur Propaganda und Rhetorik, denn sie wird mit wohldurchdachten Argumenten begründet, die neben Rousseaus Idee der Volkssouveränität von nun an zentrale Bedeutung für alle Verfassungsprojekte der Moderne gewinnen werden. Bereits Hamilton hatte im 9. Artikel die damals ungewöhnliche These eingeführt, dass eine große Republik am besten geeignet ist, die Freiheit der Bürger zu schützen (Vgl. F 9). Madison greift diese These im 10. Artikel unter Bezug auf die zuvor referierte Anthropologie und Faktionentheorie auf. Er erklärt, dass gegen eine Minderheitenfaktion das demokratische Mehrheitsprinzip helfe und dieses verhindere, dass eine solche Faktion die staatliche Macht ihrem privaten Interesse unterwerfe. Gegen eine Mehrheitsfaktion sei dieses Prinzip aber hilflos und damit die Rechte der Minderheit und der einzelnen Bürger sowie das Gemeinwohl (public happiness) gefährdet. Er schreibt: »Wie das öffentliche Wohl und individuelle Rechte vor der Gefahr einer solchen Faktion geschützt und gleichzeitig Geist und Form eines demokratischen (popular) Regierungssystems gewahrt werden können, ist der zentrale Gegenstand unserer Untersuchung« (F 10/54). Er kommt zu dem Schluss, dass eine »reine Demokratie« (ebd.), dieses Problem nicht lösen könne, da, wie erwähnt, das Mehrheitsprinzip dagegen hilflos sei. Im Anschluß an diese Feststellung folgt nun die für die weitere, moderne republikanische Verfassungsgeschichte zentrale Unterscheidung von Demokratie und Republik. »Eine Republik, womit ich ein Regierungssystem meine, in dem das Konzept der Repräsentation verwirklicht ist, eröffnet ganz andere Perspektiven und bietet das Heilmittel, nach dem wir suchen. […] Die beiden entscheidenden Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Republik sind: erstens, die Delegierung der Herrschaftsgewalt an eine kleine Zahl von den übrigen gewählter Bürger; zweitens, eine größere Zahl von Bürgern und ein größeres Territorium, auf das die Republik ausgedehnt werden kann« (F 10/55). Im Artikel 39 wird diese auf das Repräsentationsprinzip und ein großes Territorium abhebende Definition der Republik von Madison nochmals wiederholt, nun ergänzt um die Komponente der Volkssouveränität: Republik ist ein Regierungssystem, »in dem alle Gewalt direkt oder indirekt von der Gesamtheit des Volkes ausgeht und von Personen ausgeübt wird, die ihre
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Ämter jederzeit abrufbar für eine begrenzte Zeit oder während guter Amtsführung ausüben« (F 39/227). Wie aber ermöglicht die Repräsentation eine große Republik und warum ist diese sogar einer kleinen vorzuziehen? Die Repräsentation bewirkt zunächst durch die Wahl für Madison eine »Erweiterung des Horizonts« und eine »Differenzierung der öffentlichen Meinung«, da diese öffentliche Meinung durch sie gefiltert und schädliche Einflüsse von der staatlichen Macht ferngehalten werden. Hier klingen durchaus noch Motive des klassischen Republikanismus von Milton und Harrington bei Madison an, denn die Repräsentanten sollen »aufgrund ihrer Kenntnisse und Erfahrung das wahre Interesse des Landes am besten erkennen« und sich durch »Patriotismus« und »Gerechtigkeitsliebe« auszeichnen, gleichsam eine gewählte natürliche Aristokratie sein (F 10/55). Dass sich Madison im Weiteren keineswegs auf die Tugendhaftigkeit der Repräsentanten verlassen wird, werden wir gleich sehen. Worin liegt aber zunächst der Vorteil der Größe für die Republik? Zum einen führt, so Madison, eine große Republik dazu, dass es eine größere Auswahl an geeigneten Repräsentanten gibt. Zum anderen führen eine große Bevölkerung und ein großes Territorium dazu, dass es einen Pluralismus von Faktionen gibt und damit keine einzelne, die absolut in der Mehrheit ist und die anderen dominieren kann. Schon hier wird also die ungewisse Tugendhaftigkeit durch den Pluralismus ergänzt und, wie wir bereits weiter oben gesehen haben, plädiert Madison letztlich dafür, dass Machtstreben Machtstreben entgegenwirken muß. Hier kommen wir zum Herzstück von Madisons kontinentaler Republik, ihrem System von Macht- und Gewaltenteilung, von checks and balances, das im 51. Artikel grundgelegt wird. Madison fragt sich dort, »welches Mittel« geeignet ist, um »die nötige Aufteilung der Macht auf mehrere Gewalten zu gewährleisten« (F 51/313). Er kommt zu dem Ergebnis, dass »die innere Struktur des Regierungssystems so gestaltet« werden muss, »dass dessen verschiedene konstitutive Teile durch ihre wechselseitige Beziehung selbst zum Mittel werden, den jeweils anderen Teil in seine Schranken zu verweisen« (ebd.). Dies geschieht laut Madison, wenn man »den Amtsinhabern jeder der Gewalten die notwendigen verfassungsmäßigen Mittel und persönlichen Motive« gibt, »Übergriffe der anderen abzuwehren. […] Zwischen dem persönlichen Interesse des Amtsinhabers und den Verfassungsrechten des Amtes muß ein innerer Zusammenhang bestehen« (F 51/314). Das heißt, es kommt gar nicht auf die Tugendhaftigkeit der Repräsentanten an. Ganz im
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Gegenteil! Ihre persönlichen Interessen sind die Voraussetzung für das Funktionieren des republikanischen Regierungssystems. Nur wenn sie sich wechselseitig eifersüchtig kontrollieren, verhindern sie, dass eine Faktion die Macht okkupiert. Nach Madison sollte dabei das republikanische Regierungssystem des Bundes – wie im Verfassungsentwurf angelegt – und der Einzelstaaten in Legislative, Exekutive und Judikative aufgeteilt werden. Die Legislative des Bundes wird noch einmal, wie bereits bei Harrington, in zwei Kammern, Repräsentantenhaus und Senat unterteilt, die sich durch unterschiedliche Wahlmechanismen (im einen Fall national, im anderen föderal) und durch unterschiedliche Amtsdauer (zwei und sechs Jahre) auszeichnen. Gleichzeitig werden damit im Kongress in der Tradition der römischen Mischverfassung ein demokratisches und ein aristokratisches Element miteinander verbunden. Die Exekutive, der Präsident, wird über die Wahlmänner in einer Mischung aus nationalen und föderalen Elementen gewählt. Er repräsentiert das monarchische Element der Regierung, ihre Einheit und Verantwortlichkeit. Die Legislative verfügt über das Budgetrecht und kann damit die Exekutive kontrollieren. Diese verfügt wiederum im Verbund mit dem Senat über ein Veto und kann somit das Repräsentantenhaus kontrollieren. Mit diesem System der wechselseitigen Kontrolle ist Madisons Republik aber keineswegs vollständig beschrieben, denn es handelt sich bei ihr um eine Föderation von Staaten, die gemeinsame Gesetzgebungskompetenzen mit der Bundesregierung und jeweils eigenständige, nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgeteilte Gesetzgebungskompetenzen besitzen. Dadurch kontrollieren sich nicht nur die einzelnen Gewalten des Bundes, sondern auch die Einzelstaaten kontrollieren den Bund und wachen eifersüchtig über ihre Kompetenzen, ebenso wie der Bund die Einzelstaaten kontrolliert. Im Bereich der Judikative enthalten schließlich die Federalist Papers eine weitere Innovation in der republikanischen Ideengeschichte: den Bundesgerichtshof. Dessen Richter sollen bei »guter Amtsführung« auf Lebenszeit eingesetzt werden, wobei das Auswahlkriterium nicht die demokratische Wahl ist, sondern ihre »spezifische rechtliche Qualifikation« (F 51/314). Die Einsetzung der Richter ist jedoch indirekt demokratisch legitimiert. Die Verfassung, die dieses föderale republikanische Regierungssystem der eifersüchtigen Kontrolle, der checks and balances, als Rahmen beziehungsweise Spielregeln des pluralistischen Interessenkampfes vorgibt, und das Bundesgericht, als Hüter der Verfassung, thronen gleichsam über dem
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in der Gesellschaft tobenden Dauerkonflikt. Die Innovation der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde zwar erst 1803 mit dem Fall Marbury vs. Madison voll durchgesetzt und zur gängigen amerikanischen Verfassungswirklichkeit. Sie ist aber in den Federalist Papers bereits deutlich angelegt. Die amerikanischen Gründerväter wussten um das Neuartige ihrer kontinentalen Republik. Madison fragt zum Beispiel mit großem Pathos im 14. Artikel: »Doch warum sollte man das Experiment einer ausgedehnten Republik allein deshalb zurückweisen, weil es etwas Neues beinhaltet? Gereicht es denn der Bevölkerung Amerikas nicht zu Ruhm, dass sie zwar die Meinungen früherer Zeiten und anderer Länder gebührend beachtet hat, doch ohne eine blinde Verehrung für Altes, für Tradition oder ehrwürdige Namen die Einsichten ihres eigenen Verstandes, das Wissen um ihre Lage und die Lektionen ihrer eigenen Erfahrung verdrängen zu lassen? […] Zum Glück für Amerika und zum Glück für die ganze menschliche Rasse, so meinen wir, haben die Amerikaner einen neuen und edleren Weg verfolgt. Sie haben eine Revolution vollendet, die in den Annalen der menschliche Gesellschaft keine Parallele kennt« (F 14/79). In der Tat, mit Madison und der amerikanischen kontinentalen Republik befinden wir uns in der Moderne, in unserer eigenen Gegenwart, denn sie existiert noch immer. Zugleich kommt in diesen Zeilen das Gefühl einer besonderen amerikanischen Sendung für die gesamte Menschheit zum Vorschein. Madisons Republik ist zunächst auf Expansion nach Westen angelegt und der Verfassungsentwurf von Philadelphia hatte diesen republikanischen Expansionismus in Artikel 4 mit der Möglichkeit der Aufnahme neuer Mitglieder festgeschrieben. Die Bundesregierung hat dabei nach Madison darauf zu achten, dass die neuen Mitglieder ebenfalls eine republikanische Regierungsform haben. Dass Madison diesen republikanischen Expansionismus, das heißt die Ausweitung der föderalen Republik, jedoch nicht auf Amerika beschränkt sehen möchte, wird im 43. Artikel deutlich, wo er erklärt: »Es wäre ein Glück, wenn allen freien Regierungssystemen ein solches Mittel zur Überwindung von Schwächezuständen zu Verfügung stünde und ein ebenso wirksames zur Herbeiführung des universellen Friedens der Menschheit« (F 43/265). Hier kommt der Kosmopolitismus der Aufklärung zum Zuge, dem wir dann bei Kant begegnen. Madisons kontinentale Republik war auch – das verdient hervorgehoben zu werden – gedacht als der Versuch, den Naturzustand zwischen den dreizehn Kolonien zu überwinden, was der lockeren Konföderation nicht gelungen war. Die Autoren der Federalist Papers befürchteten, wie alle Befürworter der
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Bundesverfassung des Virginia-Plans, dass sich die Kolonien immer mehr untereinander zerstreiten und schließlich in einen Krieg gegeneinander eintreten würden oder erneut unter die Herrschaft der europäischen Großmächte fallen könnten. Zur Überwindung dieses zwischenstaatlichen Naturzustandes schien ihnen einzig eine starke Bundesregierung samt Verfassungsgericht als Schiedsrichter in der Lage, der sowohl die Einzelstaaten vor inneren Unruhen, als auch vor der Eskalation zwischenstaatlicher Konflikte schützt.
IV.1.7 Zwei Gesichter des modernen Republikanismus? Wir haben gesehen, wie bei Rousseau die Idee der Volkssouveränität eingeführt wurde, ein Prinzip, auf das keine legitime moderne politische Ordnung heute noch verzichten kann. Allerdings hatten wir auch gesehen, wie diese Idee bei Rousseau zu einer Konzeption der Republik führt, die einzig in kleinen Staaten umgesetzt werden kann. Dies hängt, so wurde argumentiert, mit Rousseaus monolithischer Souveränitätslehre zusammen, die weder Repräsentation noch Teilung zulässt. Konzipiert man dagegen die Volkssouveränität als Pluralismus von Interessen und Meinungen, so wie das in den Federalist Papers geschieht, der über einen verfassungsmäßigen Kampf um politischen Einfluss und durch wechselseitige Kontrolle als Ergebnis das Gemeinwohl und die Freiheit hervorbringt, so gibt es keinen Grund, warum man nicht auch große, einen ganzen Kontinent umfassende Republiken für umsetzbar halten soll. Hier liegen die Stärken von Madisons kontinentaler Republik. Bei Madison sehen wir die Abschwächung des tugendethischen Motivs in der republikanischen Ideengeschichte auf ihrem Höhepunkt. Ja, Madisons kontinentale Republik stellt ganz darauf ab, dass die Menschen nicht tugendhaft sind. Hatten wir bei Rousseau seine monolithische Souveränitätslehre, seine illiberale Konzeption von Zivilreligion und Tugend kritisiert, so wird man nun umgekehrt gegen Madisons Republik einwenden dürfen, dass sein pessimistisches Menschenbild und sein rechtspositivistisches Vertrauen in verfassungsrechtliche, institutionelle Mechanismen nicht vollends überzeugen kann. Wenn zum Beispiel die Verfassungsrichter sich tatsächlich nur von ihren egoistischen Trieben leiten ließen, wäre es wohl schlecht um Madisons Republik bestellt. Die von Madison geforderte »spezifisch rechtliche Qualifikation« der Richter ist nichts, was normativ neutral ist. Die erhoffte Rechtswissenschaft ist keine Wissenschaft,
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die vollkommen unabhängig von der persönlichen Integrität des Richters sich vollzieht. Hier ist daher letztlich ein Residuum der bürgerlichen Tugend des Bürgerhumanismus unverzichtbar, der allerdings nicht gleich in Rousseaus Aufopferung für das Gemeinwesen umschlagen muss. »Vernunft« und »gesunder Menschenverstand« (F 51/315), die Madison sich schließlich selbst zuschreiben muss und in deren Namen er wiederholt an seine amerikanischen Landsleute appelliert, reichen, so ist zu hoffen, aus. Wie Rousseau zu Recht festgestellt hat: »Die Natur befiehlt jedem Lebewesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch verspürt denselben Drang, doch erkennt er sich als frei, ihm nachzugeben oder zu widerstehen; und vor allem in dem Bewußtsein dieser Freiheit zeigt sich die Geistigkeit seiner Seele« (AU 45). Aus diesem Bewusstsein der Freiheit entspringen seine Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln, zu Moral, Recht und Republik. Wer dies begründungstheoretisch aus den Augen verliert, der wird sich wohl ohne Murren auch unter dem Despotismus eines Sultans einrichten müssen. Wir werden sehen, wie Kant an diese Grundprämisse Rousseaus anschließt und seinen kosmopolitischen Republikanismus aus der vernünftigen Freiheit des Menschen, aus seiner Fähigkeit zur Autonomie, heraus begründet. Anders als Rousseau wird er aber wie Madison viel stärker auf die verfassungsförmige Ordnung der Republik als auf die bürgerliche Tugend abheben. Schließlich sei hier abschließend noch bereits im Hinblick auf die Schlussdiskussion bemerkt, dass man Rousseau durchaus darin folgen kann, dass es auch in einer großen Republik Foren politischer Partizipation und demokratischer Deliberation geben sollte – und zwar so viele wie möglich, auf jeder föderalen Ebene, nicht nur im lokalen Bereich. Aber da würde Madison auch nicht widersprechen. Die Meinungs- und Pressefreiheit sind zwei der grundlegenden Rechte der amerikanischen Verfassung,267 und die Bedeutung einer politischen Öffentlichkeit war den Autoren der Federalist Papers durchaus bewusst. Die Federalist Papers sind selbst Produkt einer vitalen politischen Öffentlichkeit; es sind Zeitungsartikel. Nur würde Madison zu Recht einwenden, dass demokratische Deliberation und Partizipation alleine nicht ausreichen, um das Gemeinwohl und die Freiheit der Bürger angesichts der unzuverlässigen Tugendhaftigkeit der Menschen zu schützen. Hierzu bedarf es »zusätzlicher Vorkehrungen«, die Madisons föderale, kontinentale Republik in großer gedanklicher Präzision
—————— 267 Sie werden durch den 1. Zusatzartikel der Verfassung geschützt.
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und Konkretion zu entwickeln versucht. An diese zusätzlichen Vorkehrungen wird ein moderner kosmopolitischer Republikanismus daher anzuschließen haben.
IV.2 Kants Theorie des republikanischen Friedens und die republikanische Tradition Die transatlantischen Revolutionen, die wir anhand zweier ihrer einflussreichsten Ideengeber, Rousseau und Madison, zuvor untersucht haben, sorgen gegen Ende des 18. Jahrhunderts in ganz Europa für Aufsehen. Mehr noch als die amerikanische Revolution ist es jedoch vor allem die Französische Revolution, die überall und auch im Deutschen Reich die Gemüter bewegt und zu Polarisierungen führt.268 Das Deutsche Reich war mit seiner Kleinstaaterei, seinen mehr als dreihundert Territorien und Herrschaften, die zwischen den beiden Großmächten Preußen und Österreich lavierten, bis dato noch weitgehend Forum einer rein literarischen Öffentlichkeit, die aber nun durch das Erlebnis der Revolutionen politisiert wird. Grob kann man dabei zwei idealtypische Reaktionsmuster ausmachen: Diejenigen, die die Revolution begeistert begrüßen und auch nach der Eskalation des Terrors an ihren Zielen festhalten und diejenigen, die entweder von Beginn an gegen die hochfliegenden Ideen der Revolution im Sinne Burkes269 auf die organische Entwicklung und Eigenheit des Deutschen Reichs hinweisen und an ihm festhalten wollen oder sich nach der Eskalation des Terrors entsetzt von der Revolution abwenden. An letztere schließt sich dann auch eine spezifisch politische Ausprägung der deutschen Romantik mit ihrer Verklärung mittelalterlicher Lebensformen an.270 Zwischen diesen beiden idealtypischen Reaktionsmustern gibt es aber eine Vielzahl an Mischformen und Schattierungen.
—————— 268 Vgl. Fehrenbach, Elisabeth 1976: »Deutschland und die Französische Revolution«, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.) 1976: 200 Jahre amerikanische Revolution und moderne Revolutionsforschung, Göttingen. 269 Vgl. Burke, Edmund 1791: Reflections on the Revolution in France, London. 270 Vgl. Beiser, Frederik 1992: Enlightnment, Revolution and Romanticism: The Genesis of Modern German Political Thought 1790-1800, Harvard.
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Eine sehr eigentümliche Reaktion zeigt sich etwa bei den ehemaligen Stürmern und Drängern, den Weimarer Klassikern Schiller und Goethe. So schreibt Schiller im fünften Brief über die ästhetische Erziehung mit Blick auf die Revolution, diese zunächst scheinbar begrüßend: »Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen.« Schon im nächsten Satz fügt er jedoch einschränkend hinzu: »Vergebliche Hoffnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht.«271 Die Menschen sind moralisch noch nicht bereit für diese Revolution und müssen erst durch die Kunst – Schiller denkt wohl vor allem an das Theater – zur Freiheit erzogen werden. Diese Ästhetisierung der Politik ist durchaus bezeichnend für den Zustand der sich gerade erst bildenden politischen Öffentlichkeit im Reich. Wesentlich bodenständiger, dafür auch um einiges ablehnender, fällt Goethes Reaktion auf die Revolution aus. Er feiert im Egmont den gegen den modernen, abstrakten Maschinenstaat gerichteten Aufstand der Niederländer, die ihre altständischen »Freiheiten und Privilegien« verteidigen.272 Goethe bevorzugt die natürliche, organisch gewachsene Balance von altständischen, individuellen Freiheiten und hierarchischer Ordnung. Den revolutionären, rationalistischen demokratischen Freiheits- und Gleichheitsidealen steht er dagegen ablehnend gegenüber. Diese Position nähert sich der der deutschen Frühkonservativen, Ernst Brandes273 und August Wilhelm Rehberg,274 die – nicht zuletzt durch Burke beeinflusst – für eine evolutionäre Verfassungsentwicklung nach dem Beispiel Englands, für eine sanfte Modernisierung der ständischen Gesellschaftsordnung plädieren. Eine Revolution zur demokratischen Republik im amerikanischen oder französischen Sinne steht dieser Auffassung fern.
—————— 271 Schiller, Friedrich 1795: Über die ästhetische Erziehung der Menschen, in: ders., Theoretische Schriften, Werke in zwölf Bänden, Bd. 8, herausgegeben von Rolf-Peter Janz, Frankfurt/M., S. 576f. 272 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang 1788: Egmont, Leipzig. 273 Vgl. Brandes, Ernst 1786: »Über den politischen Geist Englands«, in: Berlinische Monatsschrift, herausgegeben von F. Gedieke und J. E. Biester, Bd. 7., Berlin. 274 Vgl. Rehberg, August Wilhelm 1793: Untersuchungen über die Französische Revolution, Hannover.
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Auf der anderen Seite des politischen Spektrums finden wir jene radikalen Anhänger der Französischen Revolution, die in der Forschung unter dem Sammelbegriff »deutsche Jakobiner« geführt werden. Sie rufen in Flugblättern und Schriften, Zirkeln und Klubs zum »Sturz des Privilegiensystems« auf. Allerdings fehlt ihnen im Deutschen Reich die breitere soziale Basis. Das Experiment der Mainzer Republik blieb Episode.275 Weniger revolutionär gesinnt als viele der deutschen jakobinischen Republikaner, aber in gleicher Weise von der Französischen Revolution und ihren Zielen begeistert, sind die Philosophen Kant und Fichte. Beide empfehlen jedoch zur Erreichung dieser Ziele rechtzeitige und vernünftige Reformen, da diese den »revolutionären Zufall« ausschalten, der auch leicht in blutige Barbarei münden könne. Fichte hatte 1793 anonym zwei Schriften veröffentlicht, die die Französische Revolution verteidigen.276 In der »Zurückforderung der Denkfreiheit« erklärt Fichte, da alle Menschen frei und gleich seien, könne eine bürgerliche Gesellschaft allein »auf einem solchen Vertrag aller Mitglieder mit einem, oder eines mit allen gründen, und auf nichts anderes«.277 Hier ist offensichtlich der Einfluss Rousseaus zu entdecken, den wir auch bei Kant antreffen. Und in seiner »Berichtigung der Urteile des Publikums« verteidigt er die Französische Revolution als ein »reiches Gemälde über den großen Text: Menschenrecht und Menschenwert«.278 Allerdings wendet er sich dort auch gegen eine Revolution in Deutschland: »Würdigkeit zur Freiheit muß von unten herauf kommen; die Befreiung kann ohne Unordnung nur von oben herunter kommen.«279 Fichte argumentiert hier ganz im Sinne des kantianischen Reformismus. Kant hat die Französische Revolution begeistert begrüßt als ein »Geschichtszeichen«, dass das »beständige Fortschreiten des menschlichen Geschlechts zum Besseren« bezeuge.280 Er spricht auch von einer »Teilneh-
—————— 275 Vgl. zu den »deutschen Jakobinern« Grab, Walter 1984: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt/M. 276 Vgl. Fichte, Johann Gottlieb 1793a: »Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten«, in: ders.: Schriften zur Revolution, herausgegeben von Bernard Willms 1967, Köln und ders. 1793b: »Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution«, in: ebd. 277 Fichte 1793a, S. 17. 278 Fichte 1793b, S. 34. 279 Ebd. 280 Kant, Immanuel 1798: Der Streit der Fakultäten, in: ders.; Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Bd. 1, herausgegeben von Wilhelm Weischedel Frankfurt/M. 1977, S. 357ff.
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mung dem Wunsche nach«, die die »Revolution eines geistreichen Volkes« bei Unbeteiligten ausgelöst habe – einige, wie Campe oder der junge Humboldt, waren sogar nach Paris gereist, um Augenzeugen der revolutionären Ereignisse zu werden. In welchem weiteren geschichtsphilosophischen Zusammenhang diese Bemerkungen Kants stehen und wie dies mit Kants kosmopolitischem Republikanismus zusammenhängt, wird uns noch beschäftigen. Daneben hatte Kant nach dem Bericht Jachmanns gegenüber seinem späteren englischen Freund Green vehement die amerikanische Revolution verteidigt. Wie Jachmann berichtet, nahm sich Kant »der Amerikaner an, verfocht mit Wärme ihre gerechte Sache und ließ sich mit einiger Bitterkeit über das Benehmen der Engländer aus. Auf einmal springt ganz voll Wut ein Mann aus der Gesellschaft auf, tritt vor Kant hin, sagt, daß er Engländer sei, erklärt seine ganze Nation für beleidigt und verlangt in der größten Hitze eine Genugtuung durch einen blutigen Zweikampf. Kant ließ sich durch den Zorn des Mannes nicht im Mindesten aus seiner Fassung bringen, sondern setzte sein Gespräch fort und fing an, seine politischen Grundsätze und Meinungen und den Gesichtspunkt, aus welchem jeder Mensch als Weltbürger, seinem Patriotismus unbeschadet, dergleichen Weltbegebenheiten beurteilen müsse«.281 Kant scheint Green, laut Jachmann, mit seinen Argumenten überzeugt zu haben. Die beiden wurden Freunde. Kommt in dieser Anekdote das Kantsche Weltbürgertum zu Worte, so wird Kant im Zusammenhang mit der Idee einer Weltrepublik auch auf die amerikanische Revolution und die kontinentale amerikanische Republik eingehen und diese diskutieren.282 Schließlich sei hier abschließend noch auf den Einfluss der deutschen Schulphilosophie auf Kants kosmopolitischen Republikanismus hingewiesen, auch wenn ihn Hume nach Selbstzeugnis aus seinem »dogmatischen Schlummer« gerissen habe. In den letzten Jahren hat vor allem Francis Cheneval versucht, den Einfluss von Leibniz und Wolff auf Kants Kosmopolitismus herauszuarbeiten.283 Cheneval hat in seiner hervorragenden Arbeit gezeigt, wie bei Leibniz die augustinische Civitas Dei politisiert wird.
—————— 281 Borowski, L.E., Jachmann, R.B. und Wasianski, A.Ch.: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Darmstadt 1974, S. 153. 282 Vgl. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, herausgegeben von Wilhelm Weischedel 1977, Frankfurt/M., im Folgenden abgekürzt MS, S. 475. 283 Vgl. Cheneval, Francis 2002: Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung. Über die Entstehung und die philosophischen Grundlagen des supranationalen und kosmopolitischen Denkens der Moderne, Basel.
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Der beste Staat erscheint für Leibniz die Universalmonarchie Gottes zu sein, da dessen Gesetze höchste Allgemeinheit und höchste Vernünftigkeit auszeichne. Die christliche Res Publica Universalis wird dabei für Leibniz zum »Urbild aller Rechtsstaatlichkeit«.284 Man kann in der Leibnizschen Universalmonarchie das letzte große philosophische Gebilde der christlichen politischen Theologie sehen. Cheneval jedenfalls sieht dann in Christian Wolff den entscheidenden Transformator der Leibnizschen universalen Gottesstaatslehre. Die Leibnizsche Res Publica Universalis wird bei Wolff zur vernunftrechtlich begründeten Civitas Maxima. Diese Transformation fände dann in Kants Kosmopolitismus ihre »Vollendung«.285 Zuvor bereits hatte Martha Nussbaum in einem Aufsatz auf das Verhältnis von Kant zur stoischen Idee des Weltbürgertums hingewiesen, der wir in dieser Untersuchung bei Cicero nachgegangen sind.286 Diese Studie hat die Perspektive dahingegen zu erweitern versucht, als sie unter der Überschrift der Res Publica Christiana nun auch den mittelalterlichen, über Augustinus und Dante laufenden Diskurs über Republik und Kosmopolitismus nachgezeichnet hat. Kants moderner kosmopolitischer Republikanismus gründet jedoch nicht mehr, wie bei Cicero, in einer ewigen, göttlichen, vernünftigen Naturordnung, die die menschliche Vernunft erkennen kann und soll. Ebenso wird er nicht mehr in einer gottgewollten Civitas Dei begründet, wie das Augustinus konzipiert. Der kosmopolitische Republikanismus Kants ist grundlegend modern, insofern die kosmopolitische Republik aus dem Subjekt und seiner vernünftigen Freiheit, seiner Autonomie, heraus begründet wird, eine Konstruktion von Menschen ist. Allerdings wird Kant diese Vernunft wiederum zum überhistorischen Faktum erheben. Dies bezeichnet den Punkt, an dem diese Studie von Kants Transzendentalphilosophie abweicht. Ich komme darauf am Ende dieses Kapitels zurück (IV.2.3). Im Folgenden will ich zunächst versuchen, Kants Republikbegriff unter Bezugnahme auf die bisher erarbeitete republikanische Ideengeschichte herauszuarbeiten (IV.2.1). In einem zweiten Teil werde ich in Auseinandersetzung mit der politikwissenschaftlichen Theorie des demokratischen Friedens und der Diskussion über einen Völkerbund oder eine Weltrepublik Kants Theorie des republikanischen Friedens rekonstruieren (IV.2.2).
—————— 284 Ebd., S. 121. 285 Ebd., S. 196. 286 Vgl. Nussbaum, Martha 1996: »Kant und stoisches Weltbürgertum«, in: Bohman/LutzBachmann 1996.
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IV.2.1 Kants Republik Will man Kants Republikbegriff genauer fassen, so erscheint es zunächst hilfreich, sich den Ort der politischen Philosophie in Kants System zu vergegenwärtigen. Kant definiert Politik als »ausübende Rechtslehre«.287 Sie ist somit der Rechtslehre systematisch nachgeordnet. Die Rechtslehre selbst gehört wiederum zur Metaphysik der Sitten und erweist sich damit als Teil der Ethik, die als kritische, nichtdogmatische Metaphysik auf die Kritik der praktischen Vernunft folgt. Dadurch erhellt sich als allgemeine Bestimmung, dass Recht und Politik Prinzipien der praktischen Vernunft folgen sollen. Sie werden systematische aus dem von Kant sogenannten »Faktum der Vernunft« abgeleitet. Als Prinzip der praktischen Vernunft hatte sich für den Bereich der Ethik in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten für Kant der kategorische Imperativ ergeben.288 Das Prinzip des Rechts ist nun nichts anderes als die Anwendung des kategorischen Imperativs auf das äußere Verhältnis der Menschen zueinander, während die Tugendlehre den Bereich der rechtlich nicht erzwingbaren, moralischen Motivation umfasst. Bei dieser Trennung von Recht und Moral innerhalb der Metaphysik der Sitten darf aber nicht übersehen werden, dass beide Teil der Ethik sind. Insofern wir uns als freie und gleiche Menschen wechselseitig immer als Zweck und nicht als Mittel betrachten sollen, ergibt sich für unser äußeres Verhältnis »das strikte Recht […] als die Möglichkeit eines mit Jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen Zwanges«.289 Der Zwang ist nach Kant als »Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit« mit dem Begriff des Rechts durch den »Satz des Widerspruchs verknüpft«.290 Die Zwangsbefugnis garantiert, dass »die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«.291 Kant betont scharf, dass das Prinzip des Rechts der Vernunft und nicht der Empirie entstammt, denn dort lässt sich angesichts der Vielfalt der Gesetze allein durch Anschauung gar kein
—————— 287 Vgl. Gerhardt, Volker 2002: »Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik«, in: Schönrich, Gerhard/Kato, Yasushi (Hg.): Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt/M.. 288 Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, herausgegeben von Bernd Kraft und Dieter Schönecker 1999, Hamburg. 289 MS, S. 339. 290 MS, S. 338-339. 291 MS, S. 337.
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allgemeines Kriterium finden, welches angibt, was Recht und Unrecht ist. »Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat.«292 Den Staat begründet Kant nun im Anschluss an die Vertragstheorie als einen Vertrag zwischen mit natürlichen Rechten ausgestatteten, freien und gleichen Menschen. Die Begründung erfolgt über den Dreischritt Freiheit, Eigentum, Staat und entwickelt daher zunächst das Privatrecht, zu dessen zwangsbefugter Garantie es dann des öffentlichen Rechts bedarf. Für Kant gehört das Eigentum zur äußeren Freiheit, da Willkürfreiheit beinhaltet, auf Sachen, Leistungen und Zustände in der Welt einzuwirken, sonst wäre Freiheit gegenstandslos. Mein Eigentum wird aber etwas nicht dadurch, dass ich es gerade tatsächlich physisch in Besitz habe. Eigentum ist vielmehr ein Rechtsanspruch, ein »intelligibler Besitz«, wie Kant sagt. Mein Fahrrad bleibt mein Fahrrad, auch wenn ich gerade nicht auf ihm sitze, und meine Handlungsfreiheit wird unrechtmäßig beschnitten, wenn es mir jemand stiehlt. Soweit kann man Kant wohl folgen. Nun sollen wir uns den vorstaatlichen Naturzustand aber nach Kant als einen Zustand vorstellen, in welchem die Erde und alle Dinge auf ihr zunächst allen gemeinsam gehören und die ursprüngliche Akkumulation von Eigentum dann unter dem Motto »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!« verläuft. Das heißt, mit Kant kann es hier zu gewaltigen Ungleichverteilungen kommen, die als solche aber vollkommen gerecht sind. Der Naturzustand ist für ihn kein Zustand der Ungerechtigkeit, sondern nur der Rechtlosigkeit, da die Freiheits- und Eigentumsrechte noch nicht garantiert sind, an sich aber bereits bestehen. Laut Kant ist es die moralische Pflicht aller Individuen, durch Vereinigung ihres Willens, diesen Naturzustand zu verlassen und eine öffentliche Rechtsordnung zu schaffen, die diese Freiheits- und Eigentumsrechte mit Zwang garantiert. Die durchaus nachvollziehbare Bindung der Freiheit an das Eigentum einerseits und die vernunftnotwendige Transformation der unvernünftigen, naturwüchsigen Ungleichverteilung von Freiheitsmöglichkeiten in eine zwangsbefugte Rechtsmäßigkeit andererseits hat bei vielen Interpreten für Kopfschütteln gesorgt. Sie scheint entweder widersprüchlich zu sein, da, wenn Freiheit auf Eigentum angewiesen ist, eine extreme Ungleichverteilung sehr verschiedene Grade der Freiheit bis zur vollkommenen Unfreiheit entstehen lässt, an denen dann
—————— 292 MS, S. 336.
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auch die Verrechtlichung nichts ändert. Oder Kant meint in seinem Rechtsprinzip gar nicht, dass hier gleiche Freiheit zusammenstimmen können muss? Richard Saage hat Kant daher als Apologeten des Besitzbürgertums charakterisiert. Nicht ganz zu Unrecht, wenn man daran denkt, dass Kant nur Selbständigen den vollen, aktiven Bürgerstatus zugesteht, was ja wiederum dadurch bedingt ist, dass für ihn nur der frei ist, der über Eigentum verfügt.293 Im Übrigen unterliegt er hier Vorurteilen seiner Zeit, wie die Exklusion der Frauen zeigt, und wir sollten in diesen Punkten sicher über Kant hinausgehen. Es lässt sich jedoch noch eine andere, republikanische Deutung des Übergangs vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand entwickeln, die auf das Erlaubnisgesetz und die von Kant getroffene Unterscheidung von provisorischem und peremtorischem Besitz abhebt. Die Aneignung von Eigentum im Naturzustand und die damit allen anderen einseitig aufgezwungene Verbindlichkeit ist nur provisorisch erlaubt und verlangt zu ihrer peremtorischen Geltung der Anerkennung durch den vereinigten Willen aller. Damit steht aber »das provisorische Sacheigentum unter der Bedingung der näheren Bestimmung durch den allgemeinen Willen«, wie Reinhard Brandt festgestellt hat.294 Diese republikanische Deutung verweist auf Kants innovative Leistung, was die Vertragstheorie angeht. Denn wie sich schon aus der Erörterung des Rechtsprinzips erahnen lässt, ist für Kant das Verlassen des Naturzustandes kein Kompromiss zwischen am eigenen Nutzen orientierten Individuen, wie etwa Hobbes das konzipiert. Die ganze Vertragskonstruktion ist ein Gedankenexperiment, das veranschaulicht, dass und wie die Herstellung einer Rechtsordnung eine Pflicht für vernunftbegabte Wesen ist. Die kantianische Vertragstheorie zeigt, dass eine zwangsbefugte, öffentliche Ordnung vernünftig ist, und das Rechtsprinzip gibt an, wie diese Ordnung gerecht zu gestalten ist, nämlich so, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit jedes anderen unter einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmen kann. Dies sind, um zu unserem zentralen Thema zurückzukehren, die Grundvoraussetzungen für Kants Republikbegriff, mit denen er zwei Vor-
—————— 293 Vgl. Saage, Richard 1985: Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Kant, Stuttgart. 294 Brandt, Reinhard 1982: »Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre«, in: ders. (Hg.) 1982: Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin, S. 261. Vgl. auch zur Diskussion dieser Problematik Pippin, Robert B. 2006: »Mine and thine? The Kantian State«, in: Guyer, Paul (ed.) 2006: The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy, Cambridge.
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stellungen der republikanischen Tradition aufgreift und auf eine höhere Abstraktionsstufe hebt. Zum einen ist es die Vorstellung, dass der Mensch ein zoon politikon ist und als solches in einem politischen Gemeinwesen leben soll. Aber die Begründung verläuft nun nicht mehr über ein Wissen über die menschliche Natur, sondern wird aus Prinzipien der praktischen Vernunft heraus entwickelt. Zweitens greift er die Idee der Herrschaft des Gesetzes auf, die die Freiheit der Bürger garantiert. Gleichzeitig fügt er diesen alten republikanischen Motiven aber die liberale Idee des natürlichen Freiheitsrechts hinzu, das unabhängig von jeder faktischen Ordnung gilt; und das gleiche gilt ja auch für das Rechtsprinzip selbst, denn es ist für Kant kein rein empirisch gewonnener und historisch bedingter, sondern vernünftiger Maßstab aller faktischen Rechtsordnungen. Kants Republikanismus erschöpft sich jedoch, wie bereits die nähere Bestimmung des provisorischen Sacheigentums durch den allgemeinen Willen gezeigt hat, nicht in diesem, die negative Freiheit gewährenden Rechtsprinzip. »Alles Recht hängt nämlich von Gesetzen ab. Ein öffentliches Gesetz aber, welches für alle das, was ihnen rechtlich erlaubt oder unerlaubt sein soll, bestimmt, ist der Aktus eines öffentlichen Willens, von dem alles Recht ausgeht, und der also selbst niemand muß unrecht tun können. Hierzu aber ist kein anderer Wille als der des gesamten Volkes (da alle über alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt) möglich; denn nur sich selbst kann niemand unrecht tun«.295 Hier kommt nun Rousseaus partizipatorischer Republikanismus ins Spiel und damit ein Moment der positiven Freiheit, der Selbstbestimmung und Autonomie. Rechtmäßig sind nur solche Gesetze, denen die ihnen Unterworfenen auch zugestimmt haben, »denn nur sich selbst kann niemand unrecht tun«. Im Anschluss erklärt Kant kurz und bündig, »derjenige nun, welcher das Stimmrecht in einer solchen Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger.«296 Im Begriff des Bürgers – und, wie Kant betont, in dem des citoyen, nicht des bourgeoise 297 – vereinigen sich negative und positive Freiheitsrechte. Er ist Adressat und Autor der Gesetze. Im Gegensatz zum republikanischen Staatsbürger verfügt der Wirtschaftsbürger nur über die halbierte, negative Freiheit, wenn er zum Beispiel das Glück hat, unter einem dem Rechtsprinzip folgenden
—————— 295 Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, herausgegeben von Heiner F. Klemme 1992, Hamburg, im Folgenden abgekürzt Gemeinspruch, S. 26. 296 Gemeinspruch, S. 27. 297 Ebd.
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Monarchen zu leben und ist in diesem Sinne unfrei, nur Untertan. Somit kann Kant schließlich feststellen: »Die erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder der Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen Gesetzgebung (als Untertanen), und drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung, – die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrages hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volkes gegründet sein muß, ist die republikanische.«298 Das ist die Verschränkung von negativer und positiver Freiheit in Kants Republikanismus, von der in der Einleitung die Rede war. Bei der Erörterung der institutionellen Ordnung der Republik führt Kant, »damit man sie nicht mit der demokratischen verwechsle«299(!), in einem ersten Schritt die Unterscheidung zwischen Herrschaftsform und Regierungsart ein. Herrschaftsformen unterscheidet er, Aristoteles folgend, nach der Zahl der an der Staatsgewalt Beteiligten, nennt aber nur noch drei Formen: Autokratie, Aristokratie und Demokratie. Regierungsarten unterscheidet er zwei, eine republikanische und eine despotische, wobei es ihm hier um die »auf die Konstitution (den Akt des gemeinsamen Willens, wodurch die Menge ein Volk wird) gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht«300 geht. Damit führt Kant, wie Aristoteles auch, ein zweites Kriterium ein, trennt aber dieses von der quantitativen Typologie. Welcher Art ist nun dieses Unterscheidungskriterium? Auf den ersten Blick scheint einfach die Gewaltenteilung das Unterscheidungskriterium zu sein: republikanisch ist die Verfassung, in der Legislative und Exekutive getrennt sind, despotisch die, in der beide in derselben Hand liegen. Dies wäre dann einfach ein weiteres rein deskriptives Kriterium, aber Kant lädt die Gewaltenteilung normativ auf. Nur dort, wo Legislative und Exekutive getrennt sind, wird das Recht des Einzelnen gegenüber der Mehrheit geschützt. Seltsamerweise scheint Kant an dieser Stelle der Friedensschrift dafür allein die Exekutive und nicht auch die Judikative in Anspruch zu nehmen, die wir doch heute über die Klageeinreichung dafür in Anspruch nehmen würden. In der Rechtslehre fügt er aber die Judikative den beiden anderen Gewalten hinzu, wobei er sich hier ein Geschworenengericht vorstellt. Verwirrend ist auch, dass er in der
—————— 298 Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, herausgegeben von Heiner F. Klemme 1992, Hamburg, im Folgenden abgekürzt als ZeF, S. 59. 299 ZeF, S. 62. 300 Ebd.
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Friedensschrift die Trennung von Legislative und Exekutive als repräsentatives System bezeichnet, die Repräsentation aber auf der Seite der Exekutive verortet. Ein repräsentatives System würde doch heute landläufig so verstanden, dass man Repräsentanten in die Legislative wählt und diese wiederum die Regierung und die obersten Gerichte bestellen. Kant hat aber eine Art Präsidialsystem im Kopf – er nennt es als moralische und nicht physische Person auch »Direktorium«301 –, in dem ja auch die Spitze der Exekutive direkt gewählt wird, verbunden mit einer teils direktdemokratischen, teils repräsentativen Legislative. So verwirrend diese Ausführungen in der Friedensschrift auch sein mögen – es handelt sich schließlich um einen Entwurf –, es lässt sich doch in Verbindung mit der Rechtslehre hinter ihnen eine bestimmte Stoßrichtung ausmachen. Die Republik besteht in einem repräsentativen, gewaltenteiligen System, in dem der Wille des Volkes Quelle der Gesetze ist, in der aber die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers vor der Tyrannei der Mehrheit durch Exekutive und Judikative geschützt werden. Als solche ist die Republik als Regierungsart tatsächlich nicht mit der Herrschaftsform Demokratie identisch. In Kombination beider Typologien kann es eine despotische und eine republikanische Demokratie geben. Kants republikanische Demokratie entspräche meines Erachtens somit dem, was wir heute einen demokratischen Rechtsstaat nennen würden, während der despotischen Demokratie genau dieses rechtsstaatliche Element fehlt, das erst durch die in der Verfassung verankerten unverletzbaren Rechte, die Repräsentation und die Gewaltenteilung garantiert wird, nicht allein durch die Selbstgesetzgebung der Bürger. Kersting spricht im Hinblick auf Kants Republik von einem »vernunftrechtlich modifizierten Aristotelismus«302 und wir könnten im Rahmen unserer eingangs vorgenommenen Unterscheidungen von aristotelischkommunitaristischem und römisch-liberalem Republikanismus im Hinblick auf Kant von einem aristotelisch-römischen oder eben republikanischem Republikanismus sprechen. Kants Republik entpuppt sich so ideengeschichtlich in dieser Synthese als eine historische Vollendungsform der republikanischen Tradition, als ein Zustand »wohlgeordneter Freiheit«;303 oder, wie Kant es im Sinne des Republikanismus und gegen die am Ideal
—————— 301 Vgl. MS, S. 435. 302 Kersting, Wolfgang 2004: »Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein«, in: Höffe, Otfried (Hg.) 2004: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, München. 303 Kersting 1984.
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der negativen Freiheit orientierten liberalen Kontraktualisten formuliert: »Man kann daher nicht sagen: der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d.i. in einem rechtlichen Zustand unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.«304 Die Unterscheidung von Herrschaftsform und Regierungsart bei Kant hat noch eine zweite Pointe, die auf den eingangs erwähnten Reformismus verweist. Auch wenn letztlich nur die Republik, im soeben explizierten Sinne eines demokratischen, repräsentativen, gewaltenteiligen Rechtsstaats die einzige vernünftige Ordnung ist, so können doch auch andere Herrschaftsformen eine republikanische Regierungsart simulieren. Dieser Gedanke verweist auf Kants Geschichtsphilosophie305, nach der die Natur, der »natürliche Antagonism« oder, wie Kant auch sagt, die »ungesellige Geselligkeit« der Menschen, auf den republikanischen Zustand hinaus laufen. Diese Teleologie ist jedoch, wie die dritte Kritik306 deutlich macht, etwas, das wir in die Geschichte hineinlesen, in der vernunftreligiösen Hoffnung, dass es zutrifft.307 Kant schreibt eine Geschichte mit praktischer Absicht. Alle existierenden, politischen Ordnungen sind für ihn, wie für den Republikaner Machiavelli, Resultat von Gewalt. Aber im Gegensatz zu Machiavelli geht es ihm nicht darum, die Republik als beste, freiheitliche Lösung des Problems stabiler Ordnung zu präsentieren. Die Republik mag auch eine Lösung des Ordnungsproblems sein, sie ist aber für Kant in erster Linie die einzige vernünftige, und das heißt, moralisch richtige politische Ordnung. Ein Gedanke, dem wir bereits bei Cicero begegnet sind. Insofern ist es allen gewaltsam entstandenen Herrschaftsformen, seien es Monarchien, Aristokratien oder Demokratien, moralisch geboten, eine republikanische Regierungsart zumindest zu simulieren, darüber hinaus, sich durch Reformen auf den Weg zur Verwirklichung der Republik zu machen. Diese Pflicht zur Republikanisierung ist für Kant der kategorische Imperativ der Politik.
—————— 304 MS, S. 434 (Hervorh. P.H.). 305 Vgl. Kleingeld, Pauline 1995: Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg. 306 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, herausgegeben von Heiner F. Klemme 2001, Hamburg. 307 Vgl. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft, herausgegeben von Wilhelm Weischedel 1977, Frankfurt/M.
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Kerstings These von einem vernunftrechtlich modifizierten Aristotelismus bei Kant wirft im Hinblick auf die republikanische Tradition eine weitere Frage auf: Gibt es bei Kant so etwas wie bürgerliche Tugenden? Sandra Seubert hat versucht, bei Kant eine bürgerliche Tugendlehre herauszuarbeiten, die Tugenden wie Gemeinsinn, Toleranz, Zivilcourage und Gerechtigkeitssinn umfasst.308 Angesichts der ethischen Zweideutigkeit der kantianischen Republik bin ich mir nicht ganz sicher, ob ihre Antwort in dieser Breite vollkommen überzeugt. Einerseits ist die Republik zwar Teil der Rechtslehre und damit Teil der Metaphysik der Sitten, das heißt der Ethik. Andererseits scheidet aber die Metaphysik der Sitten eindeutig Rechtsund Tugendlehre. Die Tugend gehört also nicht zur Rechtslehre und damit nicht zum Begriff der Republik. Der Begriff »staatsbürgerliche Tugend« scheint vielmehr für Kant auf den ersten Blick fast eine contradictio in adjecto zu sein. Staatsbürger haben nämlich zunächst gegeneinander Rechtspflichten, die vollkommene Unterlassungspflichten sind. Bei fehlender innerer Motivation der Bürger, ihren Rechtspflichten zu folgen, tritt daher der äußere Zwang dem Recht zur Seite. Das schließt aber nicht aus, dass ich als »guter« Bürger dem Recht folgen sollte, weil es Recht ist – das heißt aus einem republikanischen Prozedere der Rechtssetzung hervorgegangen und somit legitim ist – und nicht aus Furcht vor Zwang oder aus anderen eigennützigen Gründen. Tugendpflichten sind dagegen unvollkommene Pflichten, die letztlich auf die Selbstvervollkommnung und Glückseligkeit jedes Menschen als Teil der Menschheit zielen. Sie haben keinen negativen Unterlassungscharakter, sondern einen positiven Herstellungscharakter und sind daher unvollkommene Pflichten, die nicht durch staatlichen Zwang verordnet werden dürfen. Ebenso wie die Pflicht zur Republikanisierung und die damit verbundenen Rechtspflichten verweisen die Tugendpflichten auf die kantianische Geschichts- und Religionsphilosophie, auf die Herstellung eines »ethisch gemeinen Wesens«.309 Während jedoch durch die Republikanisierung und die Rechtspflichten nur das Böse verhindert wird, die Etablierung einer republikanischen politischen Ordnung sozusagen praktisch und geschichtsphilosophisch primär
—————— 308 Seubert, Sandra 1999: Gerechtigkeit und Wohlwollen. Bürgerliches Tugendverständnis nach Kant, Frankfurt/M. Vgl. auch O'Neill, Onora 2001: Tugend und Gerechtigkeit. Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens, Berlin. 309 Vgl. Lutz-Bachmann, Matthias 2005: »Das »ethisch gemeine Wesen« und die Idee der Weltrepublik. Der Beitrag der Religionsschrift Kants zur politischen Philosophie internationaler Beziehungen«, in: Städtler, Michael (Hg.) 2005: Kants »Ethisches Gemeinwesen«. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie, Berlin.
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ist, zielen die Tugendpflichten auf dieser rechtlichen Basis auf die Vermehrung des Guten. Daher dann auch die kantische These: »Das Problem der Staatserrichtung ist selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar«.310 Hier ist aber nur von Staatserrichtung, nicht von der Republik die Rede. Die Republik, die aus der Idee des ursprünglichen Vertrages hervorgeht, setzt darüber hinaus nicht nur den Rechtsgehorsam voraus, sondern den öffentlichen Vernunftgebrauch im Gesetzgebungsverfahren, der sicherlich auf Seiten der Bürger zumindest einen Gemein- und Gerechtigkeitssinn impliziert. Die Tugendpflichten benötigen also, so können wir abschließend festhalten, einen politisch-rechtlichen, das heißt letztlich republikanischen Rahmen, der selbst bereits nicht moralisch neutral ist, vielmehr öffentlichen Vernunftgebrauch voraussetzt. Sie gehen aber praktisch wie geschichtsphilosophisch über diesen republikanischen Zustand hinaus, insofern sie selbst nicht Gegenstand der äußeren Gesetzgebung sind (aber unter ihr stehen: tugendhaftes Handeln darf sich nicht über Rechtspflichten hinwegsetzen), sondern der individuellen moralischen Bereitschaft, die Vervollkommnung und Glückseligkeit der Menschheit zu befördern.311 Ein staatlicher Tugendterror im Stile Robbespierres ist damit ausgeschlossen, um ein Kant vor Augen liegendes Beispiel heranzuziehen. Das ist der äußerst moderne Zug an Kants Republikanismus, in dem sich auf spezifische Weise institutionelle Ordnung und bürgerliche Tugend verbinden. Die bürgerliche Tugend benötigt eine institutionelle freiheitlich-republikanische Ordnung, um sich überhaupt entfalten zu können, ohne dass diese Ordnung schon vorgibt, ob und wie im Detail sie sich dann entfalten wird. Diese Frage bleibt an uns selbst als Bürger, ja, als Weltbürger zurückverwiesen, wie wir von unserer republikanischen Freiheit Gebrauch machen.
IV.2.2 Kants Theorie des republikanischen Friedens Kants Theorie des republikanischen Friedens, die ich nun im Anschluss an das zuvor Ausgeführte herausarbeiten will, besteht aus drei notwendigen Bedingungen. Erstens aus der Pflicht zur Republikanisierung aller einzelstaatlichen Verfassungen, wie ich sie im vorherigen Abschnitt bereits herausgearbeitet habe, zweitens aus der Republikanisierung der zwischenstaat-
—————— 310 ZeF, S. 79. 311 Vgl. Kersting 1984, S. 143ff.
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lichen Verhältnisse, mit dem Ziel einer globalen Republikenrepublik, drittens schließlich in der Institutionalisierung eines Weltbürgerrechts. Ich werde im Folgenden versuchen, die drei Bedingungen in dieser Reihenfolge abzuarbeiten. Kant gibt dem ersten Definitivartikel in der Friedensschrift den Titel »Die bürgerliche Verfassung in einem jeden Staate soll republikanisch sein.« Neben dem bereits erarbeiteten moralischen Gebot der Republikanisierung hat Kant hierfür noch ein zweites Argument, das enorm einflussreich war. »Nun hat aber die republikanische Verfassung außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist. – Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Bürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, »ob Krieg sein solle oder nicht«, so ist nichts natürlicher als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten […], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen: Dahingegen in einer Verfassung, wo der Untertan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist, […], durch den Krieg nicht das Mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließt«.312 Kant nimmt hier an, dass die Republik eine friedensfördernde Wirkung im zwischenstaatlichen Verkehr hat. Die Internationalen Beziehungen als Teilgebiet der Politikwissenschaft haben diesen Gedanken unter dem Titel »Theorie des demokratischen Friedens« aufgegriffen und empirisch-statistisch untersucht. Sie kommen dabei zu einem verwirrenden Ergebnis, das Anna Geis auf die Formel »Diagnose: Doppelbefund-Ursache: ungeklärt?« gebracht hat.313 Danach führen zwar Demokratien untereinander keine Kriege, gegenüber Nicht-Demokratien scheinen sie aber genauso kriegerisch zu sein, wie andere Herrschaftsformen. Die demokratische Verfasstheit scheint also nicht schon von sich aus friedensfördernd zu sein. Vielmehr scheint die wechselseitige Wahrnehmung des Gegenübers, als in gleicher Weise verfasstem Gemeinwesen, den Ausschlag zu geben. Harald Müller spricht in diesem Zusammenhang daher in kantianischer Diktion
—————— 312 ZeF, S. 61. 313 Vgl. Geis, Anna 2001: »Diagnose: Doppelbefund- Ursache: ungeklärt? Die Kontroverse um den demokratischen Frieden«, in: Politische Vierteljahresschrift 42.
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von »Antinomien des demokratischen Friedens«.314 Nun kann es nicht die Aufgabe einer philosophischen Untersuchung sein, empirische Fragen der Politikwissenschaft zu diskutieren. Sie kann aber zu einer begrifflichen Klärung beitragen, denn es überrascht den Kant-Kenner zunächst, dass hier von einer Theorie des »demokratischen« Friedens die Rede ist, wo doch Kant unmissverständlich erklärt, Demokratie und Republik dürften nicht verwechselt werden. Nur die Republik hat eine friedensfördernde Wirkung. Die Demokratie ist für ihn dagegen »notwendig ein Despotism«.315 Im Hinblick auf die Friedenswirkung könnte man das so verstehen, dass in der Demokratie die kriegswillige Mehrheit einfach die vernünftige und warnende Minderheit überstimmt, deren Rechte also aufgehoben werden. Das ist ein hypothetisches Argument, denn empirischhistorisch hat die Kriegsbegeisterung natürlich schon ganze Völker erfasst. Aber gab es nicht immer warnende Stimmen? Hätte nicht eine kantianische Republik dann einen Kriegseintritt nicht beschließen können? Sie hätte diese Minderheiten, so klein sie auch waren, in die Entscheidung mit einbeziehen müssen, denn ihr Recht auf Leib und Leben, auf den Schutz ihres Eigentums ist ja von einer Kriegsentscheidung ohne Zweifel elementar betroffen, und »nur sich selbst kann niemand unrecht tun«. Hinzu kommt ein zweites, normatives Argument: Kant argumentiert zwar empirisch, dass eine einzelne Republik friedensfördernd wirke, der erste Definitivartikel enthält jedoch als These das moralische Republikanisierungsgebot für alle Staaten. Erst wenn in jedem Staat eine Republik herrscht, so könnte man weiter folgern, schlägt die friedensfördernde Wirkung der Republik voll durch, was nun wiederum dem empirischen Ergebnis nahe kommt, dass Demokratien untereinander keinen Krieg führen. Kants Theorie des republikanischen Friedens gibt sich mit dieser Verbindung der empirischen Annahme der friedensfördernden Wirkung der Republik und dem moralischen Republikanisierungsgebot aber nicht zufrieden. Die Republikanisierung der Einzelstaaten ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den republikanischen Frieden. Das Verlassen des zwischenstaatlichen Naturzustandes ist der zweite Schritt, womit wir zur zweiten notwendigen Bedingung der Theorie des republikanischen Friedens kommen. Der zweite Definitivartikel der Friedensschrift schließt mit folgenden Worten: »Für Staaten im Verhältnisse
—————— 314 Vgl. Müller, Harald 2004: »The Antinomy of Democratic Peace«, in: International Politics 41. 315 ZeF, S. 62.
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untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie, ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden und feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs.«316 Über diese Schlussfolgerung Kants wurde viel gerätselt.317 Mir scheint allerdings der Gedankengang letztlich eindeutig zu sein. Indem Kant Staaten mit Menschen im Naturzustand gleichsetzt, haben sie sich genau nach dem gleichen Prinzip der Vernunft in eine bürgerliche Verfassung zu begeben, das heißt eine Republik zu generieren, wie es die Rechtslehre expliziert. Die Vernunft gebietet also, und das heißt ja bei Kant nichts anderes als die Moral, eine Weltrepublik beziehungsweise eine Republik von Republiken zu gründen, die für alle Republiken offensteht. Eine Idee, die wir auf Nordamerika beschränkt etwa auch bei Madison für die amerikanische, föderale Republik angetroffen haben. Nun sagt aber Kant, dass die Völker das »nach ihrer Idee des Völkerrechts« nicht wollen und somit nur der Ausweg eines Völkerbundes bleibt. Ist Kant also gegen eine Weltrepublik und für einen Völkerbund? Keineswegs, es handelt sich hier allenfalls um ein pragmatisches Argument, denn was er von »ihrer Idee des Völkerrechts« hält, sagt er an anderer Stelle äußerst scharf. Er nennt »Grotius, Pufendorf, Vattel u. a.m. (lauter leidige Tröster)«, die stets »treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegesangriffs« herangezogen würden, und deren Recht nicht die »mindeste gesetzliche Kraft« hätte, da ihm jede Zwangsgewalt fehle.318 Die Vernunft gebietet für Kant ganz eindeutig die Weltrepublik und damit ein zwangsbefugtes Weltinnenrecht. Der Völkerbund kann nur eine zweitbeste Lösung sein, ein »negatives Surrogat«, »doch mit beständiger Gefahr« eines neuen Kriegsausbruchs. Ziel muss nach den Prinzipien praktischer Vernunft die Republikanisierung des internationalen Staatensystems bleiben.
—————— 316 ZeF, S. 68. 317 Vgl. Höffe, Otfried 2004: »Völkerbund oder Weltrepublik?«, in: ders. 2004. 318 ZeF, S. 65.
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Ein weiteres, von Kant selbst angegebenes Argument, dass ein Weltstaat ein »Kirchhof der Freiheit« sein könnte, wird häufig ins Feld geführt, und dies nicht nur um Kants Ablehnung der Weltrepublik zu begründen, sondern gegen die Idee einer Weltrepublik überhaupt. Aber diese Behauptung Kants folgt wohl eher der Unterscheidung von Herrschaftsform und Regierungsart, dass der Weltstaat, wenn er keine Republik ist, ein Kirchhof der Freiheit, also despotisch sei. Das gilt aber für jeden Staat, nicht nur für einen Weltstaat. Die Republik dagegen garantiert, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit jedes anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmen kann. Sie hat es nur mit den äußeren Verhältnissen der Menschen zu tun, und damit, durch die Analogie von Menschen und Staaten, auch nur mit den äußeren Verhältnissen der Staaten. Die Republikenrepublik garantiert somit gerade, dass die Freiheit (Souveränität) der einen Republik mit der Freiheit (Souveränität) jeder anderen Republik unter einem allgemeinen, zwangsbefugten Gesetz zusammenstimmen kann. Und genau der Völkerbund kann dies eben nicht garantieren, da ihm jede Zwangsgewalt fehlt, Staaten also weiterhin andere Staaten unterwerfen können. Somit ist der Völkerbund vielmehr ein ständig drohender Kirchhof der Freiheit. Die Weltrepublik ist also für Kant die zweite notwendige Bedingung des republikanischen Friedens.319 Die dritte und letzte notwendige Bedingung des republikanischen Friedens führt Kant schließlich im dritten Definitivartikel ein. »Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.«320 Unter »Weltbürgerrecht« versteht Kant ein Besuchsrecht, »welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der
—————— 319 Vgl. für diese Argumentation unter Einbeziehung der Präliminarartikel, Lutz-Bachmann, Matthias 1996: »Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik«, in: ders. /Bohmann 1996 und Kleingeld, Pauline 2006: »Kant's Theory of Peace«, in: Guyer 2006. 320 ZeF, S. 72.
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Erde.«321 Es beinhaltet, dass keinem Menschen, solange er sich friedlich verhält, feindlich begegnet werden darf. Kant verurteilt im dritten Definitivartikel in schärfster Weise den europäischen Kolonialismus und den Umgang der Europäer mit den Eingeborenen. Er selbst sieht die Welt seiner Zeit durch eine zunehmende Interdependenz aller Erdteile gekennzeichnet und plädiert für eine Verrechtlichung des internationalen Verkehrs. Man kann Kant daher auch als einen der ersten Theoretiker der Globalisierung bezeichnen. Er betont entschieden, dass es ihm um Recht geht und nicht um »Philanthropie«.322 Doch wer soll das Weltbürgerrecht durchsetzen? Da es Kant ausdrücklich um Recht geht, müsste er eine zwangsbefugte, öffentliche Gewalt nennen, die das Weltbürgerrecht, das er auch »Menschenrecht« nennt, garantiert. Dies unterlässt er aber an dieser Stelle. Es lässt sich allerdings aus der Formulierung, dass das Weltbürgerrecht eine »notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts« (Hervorhebung P.H.) sei, schließen, dass im Anschluss an die ersten beiden Definitivartikel sowohl die einzelnen Republiken als auch die Republikenrepublik – bei Nichteinhaltung durch einzelne Mitglieder – das Menschenrecht zu garantieren haben. Hiermit hätte Kant eine Einschränkung der inneren Souveränität der einzelnen Republiken eingeführt. Nach außen war ihre Souveränität durch die Etablierung der Republikenrepublik bereits so eingeschränkt, aber eben auch garantiert, dass sie mit der Souveränität jeder anderen Republik unter einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmen kann. Allerdings dürfen die Einzelrepubliken nach Kant einen Besucher durchaus abweisen, aber nur, wenn es »ohne seinen Untergang geschehen kann«.323 Es gibt also für Kant ein Menschenrecht auf Asyl, und die innere Souveränität der Einzelrepubliken ist in dieser Hinsicht, aber wohl nur in dieser, tatsächlich eingeschränkt. Er erwartet sich darüber hinaus von dem Weltbürgerrecht als Besuchsrecht ebenfalls eine friedensfördernde Wirkung. Durch den mit ihm einhergehenden globalen Kommunikations- und Handelsverkehr, wie wir heute sagen würden, »können entfernte Weltteile miteinander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden und so das menschliche Geschlecht einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen.«324
—————— 321 ZeF, S. 69. 322 ZeF, S. 69. 323 ZeF, S. 69. 324 ZeF, S. 70.
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IV.2.3 Kants normative Theorie des republikanischen Friedens als kosmopolitischer Republikanismus Kants Theorie des republikanischen Friedens besteht, wie gezeigt wurde, in einer Triangulation notwendiger Bedingungen, der Republikanisierung der Einzelstaaten, des internationalen Systems und der Institutionalisierung eines Weltbürgerrechts, die zusammen als hinreichend für einen dauerhaften Frieden vorgestellt werden.325 Sie stellt mit dieser innovativen Verbindung von Elementen des antiken (Cicero), klassischen (Machiavelli, Milton, Harrington, Spinoza) und modernen Republikanismus (Rousseau, Madison) und deren Übertragung auf den gesamten Globus eine historische Vollendungsform der republikanischen Tradition dar. Kants Theorie des republikanischen Friedens transformiert so den modernen Republikanismus eines Rousseau und Madison in einen kosmopolitischen Republikanismus. Damit nimmt sie die Tradition der Res Publica Christiana (Augustinus, Dante) in säkularisierter Form in sich auf. Es handelt sich bei dieser Theorie des republikanischen Friedens nicht um eine empirisch gewonnene Theorie. Vielmehr ist es ganz entschieden eine normative Theorie, die einen, durch die Prinzipien der praktischen Vernunft gebotenen, globalen Rechtszustand expliziert. Kant versucht lediglich, mit hypothetisch-empirischen Argumenten die moralischen Argumente flankierend zu unterstützen. Die Theorie des republikanischen Friedens ist als politische Theorie Teil der Rechtslehre, die wiederum durch die Prinzipien der praktischen Vernunft bestimmt ist und daher von Kant aus dem Faktum der Vernunft abgeleitet wird. Sie wird jedoch geschichtsphilosophisch im »natürlichen Antagonism« fundiert, der gleichsam hinter dem Rücken der Subjekte zum anvisierten republikanischen Zustand führen soll. Andererseits soll diese Teleologie aber die Menschen motivieren, praktisch an diesem in die Geschichte hineingelesenen Prozess mitzuwirken. Sieht man sich nun diese beiden Argumente des kantianischen Republikanismus im Zusammenhang an, dann fällt auf, dass das bewusste menschliche Tätigwerden im Sinne des Imperativs der Republikanisierung für Kant keinen Einfluss auf die Entstehung der Republik zu haben scheint. Für Letzteres ist allein ein natürlicher Mechanismus zuständig, der hinter dem Rücken der Subjekte abläuft. Dieser Dualismus scheint mir wenig überzeugend zu sein. Wesentlich überzeugender ist es, die Heraus-
—————— 325 Ich übernehme den Begriff der »Triangulation« von Russett, Bruce/O'Neal, John 2001: Triangulating Peace. Democracy, Interdependence and International Organization, Norton & Co.
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bildung des kosmopolitischen Republikanismus über die vier Entwicklungsstadien hinweg, die wir hier nachvollzogen haben, als Lernprozess zu verstehen, in dem immer wieder von einzelnen Individuen und Parteiungen Versuche unternommen wurden, mit ihren politischen Schriften und Interventionen auf eine republikanische Ordnung hinzuwirken. Wir finden in der republikanischen Ideengeschichte bis zu Kant weniger einen natürlichen Antagonismus der zur Republik führt als eine Geschichte wiederholter Versuche, republikanische Ideen zu verwirklichen. Dabei kam es immer wieder zu Fehlschlägen, Modifikationen und Transformationen, die wir nachgezeichnet haben. Die republikanische Ideengeschichte kann daher letztlich nicht als ein Geschehen angesehen werden, das sich hinter dem Rücken der Subjekte vollzieht, sondern muss als ein von diesen Subjekten aktiv gestalteter und zugleich reversibler Lernprozess verstanden werden, in dem Menschen immer wieder in der Auseinandersetzung über die beste politische Ordnung auf die Idee der Republik zurückgegriffen haben. Das Faktum der Vernunft, aus dem Kant seinen kosmopolitischen Republikanismus ableitet, ist Ergebnis dieses Lernprozesses, ja, es ist dieser Lernprozess selbst. Wenn wir das Faktum der Vernunft so unter nachmetaphysischen Bedingungen als ein historisches Faktum verstehen, nimmt ihm das nichts von seiner Faktizität. Dieses Faktum der Vernunft wird nun nur in der Geschichte verortet und nicht mehr in einem metaphysischen Reich über ihr, von dem man ohnehin heute nicht mehr zu sagen weiß, wo es sich denn befinden mag. Es ist Teil unserer heutigen, geschichtlich gewordenen politisch-sozialen Wirklichkeit, unserer Werthaltungen und moralischen Intuitionen. Die politisch-institutionellen, republikanischen Konsequenzen und Möglichkeiten dieses Faktums der Vernunft inhaltlich auszubuchstabieren, darum ging es dieser Studie, und dazu kann uns Kant immer noch als großer Anreger dienen.326
—————— 326 In den letzten Jahren hat unter anderen James Bohman versucht, einen an Kant anschließenden kosmopolitischen Republikanismus zu entwickeln. Vgl. Bohman, James 2001: »Cosmopolitan Republicanism«, in: The Monist 84. Vgl. zum Republikanismus in den Internationalen Beziehungen Onuf, Nicolas G. 1998: The Republican Legacy in International Thought, Cambridge.
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Epilog: Vom kosmopolitischen Republikanismus zum liberalen Nationalismus und wieder zurück?
Im Zuge der Koalitionskriege gegen die Französische Revolution und den auf sie folgenden napoleonischen Eroberungen entstanden überall in Europa und so auch im Deutschen Reich nationale Befreiungsbewegungen. Diese historische Konstellation bildet meines Erachtens den zentralen realgeschichtlichen Ausgangspunkt des modernen Nationalismus, in dessen Folge der kantianische kosmopolitische Republikanismus in Vergessenheit geriet. Die Französische Revolution hatte zunächst in einem Atemzug die Menschen- und Bürgerrechte erklärt und auf das Prinzip der Volkssouveränität umgestellt. Unter dem Druck der monarchischen, antirevolutionären Koalitionsarmeen formt sich diese kosmopolitische Volkssouveränität jedoch zu einer nationalen Verteidigungsgemeinschaft im Namen dieser Rechte um, die dann unter Napoleon in eine Eroberungspolitik übergeht. Diese Eroberungspolitik führt dazu, dass sich in den von Frankreich besetzten Staaten ein durch die französische Entwicklung beeinflusster, aber gegen Frankreich gerichteter Nationalismus entwickelt.327 Im Deutschen Reich zeigt sich dies besonders eindringlich an den Preußischen Reformen und an einem ihrer Hauptinitiatoren, dem Freiherrn von Stein. Die Reformen sollten einerseits den preußischen Staat im Sinne Kants von oben modernisieren und ihn damit an die durch die Französische Revolution vorgegebenen Standards moderner Staatlichkeit annähern. Andererseits ist diese defensive Modernisierung von Stein aber so gedacht, dass sie die Nation stärken sollen, um schließlich in einem großen nationa-
—————— 327 Vgl. zu diesen sicher sehr allgemeinen Überlegungen, die aber meines Erachtens die zentrale Konstellation treffen, aus der mittlerweile nicht mehr überschaubaren Literatur zum Nationalismus die Klassiker Gellner, Ernest 1983: Nations and Nationalism, Oxford, Anderson, Benedict 1992: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, Hobsbawm, Eric 1991: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M., und Langewiesche, Dieter 2000: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München.
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len Befreiungskrieg die französische Okkupation abzuwerfen. Dieses Umschlagen der defensiven Modernisierung in eine offensive Nationalisierung eröffnet überhaupt erst das historische Verständnis der Preußischen Reformen. So erklärt Stein in seiner berühmten »Nassauer Denkschrift«: »Erspahrung an Verwaltungs Kosten ist aber der weniger bedeutende Gewinn, der erhalten wird durch die vorgeschlagene Theilnahme der Eigenthümer an der Provinzialverwaltung, sondern weit wichtiger ist die Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden oder falsch geleiteten Kräfte und der zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staats Behörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und National Ehre.«328 Dieses nationalistische Programm finden wir philosophisch überhöht bei Fichte. War er in den 1790er Jahren, wie wir gesehen haben, noch ein begeisterter Anhänger der Französischen Revolution, so entpuppt er sich in seinen Reden an die deutsche Nation329 als gegen die Franzosen agitierender Nationalist. In Fichtes Reden kommt stellenweise bereits das Völkische, Chauvinistische und Antisemitische des modernen Nationalismus zum Tragen, das sich aus der von Herder ausgehenden politischen Romantisierung eines besonderen »Volksgeistes« speist. »Fichtes These«, so Helmut Plessner, »das deutsche Volk habe unter den europäischen Völkern und besonders im Vergleich zu Frankreich eine eigentümliche Bedeutung, weil es ein »Urvolk« sei mit gewachsener Sprache, nicht latinisiert und deshalb mit seinem Ursprung noch in Kontakt, aus ihm sich erneuernd und nicht nur entstanden, wirkt dabei wie eine Analyse der ganzen im Begriff des Volkes aufgespeicherten Affektladung«.330 Von hier führt unbestreitbar ein verschlungener, aber nachvollziehbarer Pfad zum imperialen Wettlauf der europäischen Nationalstaaten um die Kolonien und damit zu den »Ideen von 1914«, in den Ersten Weltkrieg.331 In der deutschen Geschichte steigert sich dieser Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg bekanntlich zum rassistischen, antisemitischen Nationalismus, der im eliminatorischen, rassistischen Nati-
—————— 328 Denkschrift Steins »Ueber die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial, Finanz und Polyzey Behörden in der preußischen Monarchie (Nassauer Denkschrift)«, in: Botzenhart, Erich (Hg.) 1933: Freiherr vom Stein. Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen, Bd. 2, Berlin, S. 227. 329 Fichte, Johann Gottlieb 1808: Reden an die deutsche Nation, Berlin. 330 Plessner, Helmut 1974: Die verspätete Nation, Frankfurt/M., S. 53. 331 Vgl. dazu Lübbe, Hermann 1972: Politische Philosophie in Deutschland, München.
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EPILOG
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onalstaat und im Zweiten Weltkrieg mündete.332 Unter der emotionalen und identitätspolitischen Gewalt des Nationalismus wurde der kosmopolitische Republikanismus der Aufklärung und Kants begraben.333 Bis heute prägen der Nationalismus und die Nationalstaaten zu einem nicht geringen Teil noch das politische Weltgeschehen, auch wenn wir seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine beispiellose Welle transnationaler Rechtssetzungsprozesse beobachten können. Von der Gründung der UNO und der Erklärung der Menschenrechte über die Gründung, Vertiefung und Erweiterung der EU bis hin zur WTO und zum IWF sehen wir zudem eine Reihe von internationalen Institutionen und Organisationen entstehen, die die nationale Souveränität des »Westfälischen Staatensystems« rechtlich einschränken oder einbinden. Schließlich haben die – häufig nicht unproblematischen – humanitären Interventionen der letzten Jahre gezeigt, dass diese nationale Souveränität sogar zugunsten der Sicherung der Menschenrechte aufgehoben werden kann.334 Die ökonomische Globalisierung und die Revolution im Bereich der Kommunikationstechnologie (Internet) haben das Ihrige dazu getan, dass wir es heute mehr und mehr mit einer interdependenten und vernetzten Weltgesellschaft zu tun haben, in der eine politische oder ökonomische Entscheidung an einem Punkt der Erde – um Kant zu paraphrasieren – an allen anderen gefühlt wird.335 Trotz dieser rechtlichen, ökonomischen und kommunikationstechnologischen Globalisierung hält sich sowohl in der politischen Praxis als auch in der politischen Philosophie weiterhin hartnäckig das Konzept des Nationalismus und des Nationalstaats. In der politischen Philosophie plädieren insbesondere liberale Nationalisten wie Rawls, Nagel und Kymlicka oder kommunitaristische Nationalisten wie Michael Walzer dafür, am Konzept
—————— 332 Vgl. dazu besonders die Studie von Walser Smith, Helmut 2008: Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge. 333 Die letzten verbliebenen Kinder der Aufklärung waren am Ende des 19. Jh. im deutschen Reich die sozialistische Internationale und die Sozialdemokratie, während sich das liberale Bürgertum nach der gescheiterten 48er Revolution in der Regel relativ problemlos in den autoritären Nationalismus einfügte. Vgl. Mommsen, Wolfgang J. 1995: Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 7/2, Berlin. 334 Vgl. zur internationalen Verrechtlichung List, Martin/Zangl, Bernhard 2003: »Verrechtlichung internationaler Politik«, in: Hellmann, Gunther/Wolf, Klaus Dieter/Zürn, Michael (Hg.) 2003: Die neuen internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven, Baden-Baden. 335 Vgl. Held/McGrew 2002.
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des Nationalstaates festzuhalten.336 Der Nationalstaat ist für diese Nationalisten der einzige Rahmen, innerhalb dessen sich Menschenrechte und Demokratie umsetzen lassen. Grundsätzlich halten sie damit auch am Westfälischen Staatensystem fest. Zeitnah zu diesem Festhalten an der Nation und am Nationalstaat haben etwa Richard Rorty, David Miller oder Maurizio Viroli versucht, eine gemäßigte Form des Nationalismus zu entwickeln, die ihn von seinen biologistischen, völkischen oder chauvinistischen Tendenzen reinigt.337 Es scheint mir weitgehend eine empirische Frage zu sein, ob man einen solchen sanften Nationalismus haben kann, ob man ihn überhaupt braucht für stabile demokratische Ordnungen und ob man sich nicht zugleich die alten Freund/Feind- beziehungsweise Wir/Sie-Unterscheidungen mit einkauft, wenn man erst einmal die nationalistische Büchse der Pandora geöffnet hat. Dolf Sternberger und Jürgen Habermas haben aus diesem Grund versucht, über den Begriff des »Verfassungspatriotismus« Abstand vom Konzept der Nation zu bekommen.338 Hier will dann aber auch nicht mehr einleuchten, warum man auf dieser Basis ausgerechnet am Nationalstaat festhalten soll. Dieser erscheint dann vielmehr als eine historisch kontingente territoriale Verfassung, gegenüber der man patriotische Gefühle und Loyalitäten hegen kann. Andere sind vorstellbar und tatsächlich historisch vorgekommen. Im Rahmen dieser Studie haben wir Bekanntschaft mit der Stadtrepublik, der Res Publica Christiana, der föderalen Stadtstaatenrepublik und der kontinentalen Republik gemacht. James Buchanan hat die Nationalisten vor allem unter Bezug auf den Hinweis kritisiert, dass wir aufgrund der erwähnten Globalisierungsprozesse schon längst in einem »post-westfalian system« leben würden, das Festhalten am Nationalstaat also an der Realität vorbeigehe und daher auch nicht mehr das adäquate Modell zur Lösung aktueller politischer Probleme sei.339 Dem muss man wohl zustimmen, wenn man etwa an die Klimaproblematik oder die Regulierung des globalen Finanzsystems denkt. Es ist
—————— 336 Vgl. Walzer 1996, Rawls 1999, Nagel 2005, und Kymlicka, Will 2001: Politics in the Vernacular. Nationalism, Multiculturalism and Citizenship, Oxford. 337 Vgl. Rorty, Richard 1999: Achieving our Country, Harvard, Miller 2004 und Viroli, Maurizio 1997: For Love of Country. An Essay on Patriotism and Nationalism, Oxford. 338 Vgl. Sternberger, Dolf 1990: Verfassungspatriotismus, Frankfurt/M. und Habermas, Jürgen 1992: »Staatsbürgerschaft und nationale Identität«, in: ders. 1992. 339 Buchanan, James 2000: »Rawls's Law of Peoples. Rules for a vanished Westphalian World«, in: Ethics 110.
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nicht zu sehen, wie diese Probleme im nationalstaatlichen Rahmen zu lösen sind. Aus menschenrechtlicher Perspektive, genauer: aus der Perspektive des Rechts auf Zugehörigkeit oder – wie sie im Anschluss an Arendt auch sagt – des »Rechts Rechte zu haben« hat insbesondere Seyla Benhabib in den letzten Jahren eindringlich und kraftvoll den liberalen Nationalismus kritisiert. Über das Modell der »demokratischen Iteration« und der »jurisgenerativen Politik« versucht sie, an den Demos der Volkssouveränität,340 der damit in ihren Augen notwendigen verbundenen partikularen Abschließung, und zugleich an die universalistische Geltung der Menschenrechte anzuschließen. Die Vermittlung von partikularer Volkssouveränität und universalen Menschenrechten soll in einem an Kant orientierten »kosmopolitischen Föderalismus« über eine »demokratische Iteration« laufen, das heißt über die Einbeziehung der universalistischen Tendenz der Menschenrechte in partikulare demokratische Deliberationen und Rechtssetzungsprozesse, die dadurch zunehmend ihre Partikularität überwinden.341 Benhabib gehört wie David Held,342 Otfried Höffe343 oder Thomas Pogge344 zu jener Bewegung der Wiedererinnerung an den kosmopolitischen Republikanismus der Aufklärung und Kants. Die hier durchgeführte Studie hat versucht, diesen Prozess der Wiedererinnerung des Vergessenen und Verdrängten weiter zu forcieren und historisch zu fundieren, um der Moderne damit einen über lange Zeit verschütteten, aber ihr eigenen Möglichkeitsraum zu öffnen. Aus der Perspektive der hier entwickelten republikanischen Ideengeschichte hält jedoch Benhabib noch zu stark an einem rousseauistischen Konzept der Volkssouveränität und des Demos fest. Der moderne kosmopolitische Republikanismus Madisons und Kants geht nach der hier
—————— 340 Der volkssouveräne Demos wird bei ihr allerdings explizit in Abgrenzung zum Begriff der »Nation« eingeführt. 341 Vgl. Benhabib, Selya 2008a: Die Rechte der Anderen, Frankfurt/M. und dies. 2008b: Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte, Frankfurt/M. Im zweiten Band sieht man sehr gut an der Debatte mit Will Kymlicka jene Problematik von Nationalismus, Globalisierung und Kosmopolitismus, von der hier die Rede ist. Vgl. Kymlicka, Will 2008: »Liberale Nationalstaatlichkeit und globale Gerechtigkeit«, in: ebd. und die folgende Antwort von Benhabib. 342 Vgl. Held 1995. 343 Vgl. Höffe 1999. 344 Vgl. Pogge, Thomas 2002: »Kosmopolitanismus und Souveränität«, in: Lutz-Bachmann/Bohman 2002 und Menke, Christoph/Pollmann, Arnd 2007: Philosophie der Menschenrechte, Hamburg
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vorgestellten Untersuchung einen nicht vollkommen anderen, aber doch in wichtigen und interessanten Spezifizierungen anderen Weg. Deshalb hatte ich auch von zwei Gesichtern des modernen Republikanismus gesprochen. Ich möchte im Folgenden abschließend noch einmal kurz diesen modernen kosmopolitischen Republikanismus und seine zentralen Merkmale, so wie sie zuvor herausgearbeitet wurden, rekapitulieren (1). Im Anschluss daran skizziere ich sehr allgemein und vorläufig die Konsequenzen für eine aktuelle kosmopolitisch-republikanische Theoriebildung (2). (1) Wie gezeigt wurde, fällt Rousseau mit seinem direktdemokratischen, monolithischen Begriff der Volkssouveränität in das Konzept der antiken Stadtrepublik zurück. Dagegen wurde Madison als einer der Gründerväter der amerikanischen kontinentalen Republik vorgestellt, der durchaus am Prinzip der Volkssouveränität festhält. Er verankert diese Souveränität aber nun im Vorrang der Verfassung, die die Spielregeln vorgibt, nach denen sich der Wille des Volkes allererst finden lässt. Das Volk der Volkssouveränität wird als ein Einheitliches eine verfassungsrechtliche Fiktion und ist faktisch eine Vielzahl von Demoi, von Faktionen. Im gleichen Sinne ist Volkssouveränität und die Res Publica Noumenon bei Kant ein regulatives Ideal, ein Verfassungsprinzip, das auf den Konstitutionalismus, eine republikanische Verfassung verweist, ohne dass jedoch die positive Freiheit, die Autonomie aufgegeben wird. Angesichts des Pluralismus der Meinungen und Interessen und der Hilflosigkeit des demokratischen Mehrheitsprinzips gegen die Tyrannei einer Mehrheitsfaktion – die genau nicht den allgemeinen Willen des Volkes, sondern nur ihr eigenes Interesse durchzusetzen sucht – hatte Madison den Begriff der »Republik« als ein komplexes, weiträumiges Institutionengefüge gerade gegen die »reine Demokratie« in Stellung gebracht. In dieselbe Richtung zielt Kant, wenn er erklärt, die Demokratie »sei notwendig ein Despotismus«. Der Begriff der »Republik« ist daher auf dieser Linie des modernen Republikanismus ein extensional weiterer Begriff als der der »Demokratie«. Er umfasst demokratische Elemente, wird aber zugleich in Abgrenzung zur einer »reinen Demokratie« eingeführt. Neben der Volkssouveränität und der demokratischen Deliberation sind nach Madison und Kant »zusätzliche Vorkehrungen« nötig, um die republikanische Freiheit der Bürger und das Gemeinwohl zu gewährleisten. Madison und Kant nennen hier beide zunächst eben den Konstitutionalismus, die Macht- und Gewaltenteilung und die Repräsentation als zentrale Merkmale einer Republik. Bei Madison finden wir darüber hinaus den Föderalismus und den damit verbundenen legislativen Bikameralismus
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sowie eine Verfassungsgerichtsbarkeit in großer gedanklicher Konkretion und Präzision entwickelt. Dieser Föderalismus findet sich aber auch bei Kant in seiner Konzeption einer Weltrepublik beziehungsweise Republikenrepublik; und ich hatte gezeigt, dass Madison seinen kontinentalen, föderalen Republikanismus nicht auf die Vereinigten Staaten von Amerika beschränkt sehen wollte. Kants großer Entwurf eines republikanischen Friedens und Madisons detaillierte Entwicklung einer kontinentalen, föderalen Republik ergänzen sich somit und können so miteinander ins Gespräch gebracht werden, dass sie sich wechselseitig informieren. Eine Liste der zentralen Komponenten des modernen kosmopolitischen Republikanismus müsste daher im Ausgang von Madison und Kant mindestens folgende Punkte enthalten: – – – – – –
Volkssouveränität durch verfassungsmäßige Verfahren Macht- und Gewaltenteilung Repräsentation Föderalismus Verfassungsgerichtsbarkeit Weltbürgerrecht
Dies sind die zusätzlichen Vorkehrungen, die nach Madison und Kant notwendig sind, damit die demokratische Deliberation republikanisch, das heißt nicht-despotisch ist. Was aber folgt nun daraus für die aktuellen Bemühungen um eine republikanische Theoriebildung? (2) Es ist zunächst bemerkenswert, dass sowohl Madison wie auch Kant von ihrem zentralen Ausgangspunkt der republikanischen, bürgerlichen Freiheit gerade nicht zu einer kleinen direktdemokratischen Stadtrepublik, sondern zu sehr großräumigen, ja globalen Gebilden geführt werden, die den klassischen europäischen Nationalstaat sprengen. Im Sinne des geschichtsphilosophischen Zugs dieser Studie könnte man hier von historischen Lernprozessen sprechen, die bereits vor der Entstehung des modernen liberalen Nationalismus über diesen hinaus wiesen. Madison betont ja explizit, dass er die amerikanische Revolution und Verfassung als das Ergebnis eines solchen Lernprozesses sieht, dass die Amerikaner etwas Neues probieren wollen, in Kenntnis ihrer republikanischen Vorläufer, aber ohne deren Fehler noch einmal zu begehen. Die kantianische Geschichtsphilosophie in praktischer, weltbürgerlicher Absicht versucht ebenfalls, diesen kognitiven »Fortschritt der Menschheit zum Besseren« anzutreiben, an dessen Ende dann irgendwann eine globale Republikenrepublik
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und ein faktisch juristisch einklagbares Weltbürgerrecht, nicht bloß eines auf Papier, stehen werden. Das ist bis heute freilich eine Utopie geblieben. Aber es ist eine realistische Utopie, und ich möchte hier am Ende darauf hinweisen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika und die Europäische Union bereits erste, sicherlich noch unvollkommene Objektivationen eines solchen kosmopolitischen Republikanismus sind.345 Beide inkorporieren bereits Spuren jener Komponenten des modernen kosmopolitischen Republikanismus, die ich oben aufgelistet hatte. Dieser Hinweis auf ihre Verbesserungsfähigkeit und den historisch-dynamischen Grundzug des modernen Republikanismus verweist auf den für den Republikanismus fundamentalen Prozeduralismus, der auf die Theorie der Mischverfassung zurückgeht und damit auf den ihm zugrundeliegenden Freiheitsbegriff, der, wie wir gesehen haben, positive und negative Freiheiten verschränkt. Wir hatten gesehen, wie bereits im klassischen Republikanismus Machiavellis, Miltons, Harringtons und Spinozas ein politischer Freiheitsbegriff eingeführt wurde, der sie direkt zur Institutionentheorie in Form der repräsentativen Macht- und Gewaltenteilung der Mischverfassung führt. Madison und Kant liegen nach den Ergebnissen der hier durchgeführten Studie ganz auf dieser Linie eines politischen Freiheitsbegriffs, der auf eine komplexe Institutionentheorie, auf einen nun föderalen, repräsentativen, macht- und gewaltenteiligen Prozeduralismus verweist, der die Freiheit aller Bürger und das Gemeinwohl garantiert. Vor allem Philip Pettit hat diesen Freiheitsbegriff, der direkt zur Institutionentheorie führt, theoretisch fruchtbar aufgegriffen und als »Non-Domination« definiert.346 Ausgehend von diesem Begriff der republikanischen Freiheit als Nicht-Beherrschung hat Pettit dann die Republik als »Contestatory Democracy« expliziert.347 Eine republikanische politische Ordnung schützt ihre Bürger nicht nur (aber immer auch) durch Foren demokratischer Deliberation und gewählter Repräsentation, die fortwährend in Gefahr sind, zum Mehrheitsdespotismus zu werden, sondern durch ein komplexes Institutionengefüge, das die gesellschaftlichen Faktionen ausbalanciert und zudem, auf der Outputseite des politischen Entscheidungspro-
—————— 345 Vgl. von Bogdandy, Armin 2005: »Die europäische Republik«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36 und Chryssochoou, Dimitris N. 2007: »Democracy and the European Polity«, in: Cini, Michelle (Hg.) 2007: European Union Politics, Oxford. 346 Vgl. Pettit 1997. 347 Vgl. Pettit, Philip 1999: »Republican Freedom and Contestatory Democratization«, in: Shapiro, Ian/Hacker-Gorden, Casiano (Hg.) 1999: Democracy's Value, Cambridge.
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zesses, unter Beherrschung leidenden Bürgern Rechte, Kanäle und Foren der Kontestation von Entscheidungen garantiert. Wir haben gesehen, wie bereits Madison und Kant diese Idee für großräumige, kosmopolitische Republiken fruchtbar gemacht haben. Im Zusammenhang mit seinem historisch-dynamischen Moment und seinem Freiheitsbegriff hebt der moderne Republikanismus also die Notwendigkeit einer komplexen Institutionentheorie, eines Prozeduralismus, hervor, der die immer wieder auftretenden und oft neuartigen Probleme, die zu einer politischen Entscheidung und Regelung zwingen, im Sinne des größtmöglichen Umfangs von Freiheit als Nichtbeherrschung aller davon Betroffenen löst. Daraus folgt, dass dieser republikanische Prozeduralismus selbst verbesserungsfähig ist, sich problemadäquat zu verändern hat, eine Art Metaprozeduralismus, das heißt Verfahren der Verfassungsreform und der Übertragung von Souveränitätsrechten, beinhalten muss, um dem Legitimationskriterium der größtmöglichen Freiheit im Sinne von Nichtbeherrschung unter veränderten Bedingungen gerecht zu werden. In seiner langen Geschichte hat der Republikanismus gewaltige Transformationen durchlaufen, die ich hier versucht habe, in vier Epochen beziehungsweise Entwicklungsstadien nachzuzeichnen. Es ist daher nicht einzusehen, warum er ausgerechnet heute im Stadium des Nationalstaates für immer eingekapselt bleiben sollte. Die globalen Probleme und die mit ihnen einhergehenden neuen Formen der Beherrschung drängen ihn gerade dazu, dieses zu verlassen. Wie ich versucht habe zu zeigen, hatte der moderne kosmopolitische Republikanismus den Nationalstaat bereits bei Madison und Kant theoretisch hinter sich gelassen. Im Anschluss an dieses Theorieniveau sind heute republikanische Entwürfe zu entwickeln, die aus der Perspektive der Nichtbeherrschung aktuelle Entwicklungen und Problemlagen zu verstehen und zu bearbeiten suchen.
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Benhabib (Hg.) opolitismus und Demokratie. Eine Debatte iträgen von Bonnie Honig, Will Kymlicka