Republikanismus: Geschichte und Theorie 3515107193, 9783515107198

Der Republikanismus hat in den letzten Jahren insbesondere durch die Arbeiten von Philip Pettit und Quentin Skinner eine

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INHALT
VORWORT
EINLEITUNG
I. DER REPUBLIKANISMUS IN DER POLITISCHEN THEORIE UND IDEENGESCHICHTE
1. REPUBLIKANISMUS UND POLITISCHE IDEENGESCHICHTE
2. REPUBLIKANISMUS UND POLITISCHE THEORIE
3. AKTUELLE KONTROVERSEN
II. REPUBLIKANISCHE IDEENGESCHICHTE
1. CICERO: DIE DEFINITION DER REPUBLIK
2. MACHIAVELLI: DER REPUBLIKANISCHE STADTSTAAT
3. HARRINGTON: DER REPUBLIKANISCHE FLÄCHENSTAAT
4. ROUSSEAU: DIE VOLKSSOUVERÄNE REPUBLIK
5. MADISON: DIE KONTINENTALE REPUBLIK
6. KANT: DIE WELTREPUBLIK
7. FORSTER: DIE ERSTE DEUTSCHE REPUBLIK
8. SCHLEGEL: EINE REPUBLIK AUCH FÜR NICHTSELBSTÄNDIGE UND FRAUEN
III. REPUBLIKANISCHE THEORIE
1. REPUBLIKANISCHE FREIHEIT
2. REPUBLIKANISCHE POLITIK: VON DER POLIS ZUR KOSMOPOLIS?
LITERATURAUSWAHL
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Republikanismus: Geschichte und Theorie
 3515107193, 9783515107198

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Philipp Hölzing

Republikanismus Geschichte und Theorie

Rechtsphilosophie Franz Steiner Verlag

Grundlagen der Rechtsphilosophie – Band 2

Philipp Hölzing Republikanismus

GrundlaGen der rechtsphilosophie Herausgegeben von Annette Brockmöller Band 2

Philipp Hölzing

Republikanismus Geschichte und Theorie

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10719-8 (Print) ISBN 978-3-515-10723-5 (E-Book)

INHALT Vorwort....................................................................................................................7 Einleitung ................................................................................................................9 I. Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte ................ 11 1. Republikanismus und Politische Ideengeschichte .....................................13 2. Republikanismus und Politische Theorie...................................................18 3. Aktuelle Kontroversen ...............................................................................25 II. Republikanische Ideengeschichte ...................................................................31

1. Cicero: Die Definition der Republik ..........................................................33 2. Machiavelli: Der republikanische Stadtstaat .............................................49 3. Harrington: Der republikanische Flächenstaat...........................................63 4. Rousseau: Die volkssouveräne Republik ...................................................73 5. Madison: Die föderale Republik ................................................................83 6. Kant: Die Weltrepublik ..............................................................................89 7. Forster: Die erste deutsche Republik .......................................................103 8. Schlegel: Eine Republik auch für Nichtselbständige und Frauen ............ 114

III. Republikanische Theorie ..............................................................................121 1. Republikanische Freiheit .........................................................................123 2. Republikanische Politik: Von der Polis zur Kosmopolis? .......................129 Literaturauswahl .................................................................................................137

VORWORT Dieses Buch präsentiert gewissermaßen einen zweiten Versuch, die Ideengeschichte und Theorie des Republikanismus darzustellen. Den ersten Versuch hatte ich mit meinem Buch Republikanismus und Kosmopolitismus. Eine ideengeschichtliche Studie unternommen.1 Als Annette Brockmöller mit der Frage an mich herantrat, ob ich für die Reihe Grundlagen der Rechtsphilosophie einen Band zum Thema Republikanismus verfassen wolle, habe ich diese Gelegenheit gerne angenommen, um nochmals von neuem eine Fragestellung zu umkreisen, die mich nun schon seit beinahe einem Jahrzehnt beschäftigt. Aufgrund dieser langen Beschäftigung waren zahlreiche eigene Veröffentlichungen und reiches Forschungsmaterial vorhanden, so dass für diesen Band nicht jedes Kapitel neu geschrieben werden musste. Insbesondere für den zweiten, ideengeschichtlichen Teil des vorliegenden Buches habe ich auf Texte zurückgegriffen, die bereits an anderer Stelle erschienen sind.2 Ich habe hier keine grundsätzliche Korrektur an meinen Interpretationen vorzunehmen und halte diese immer noch für zutreffend. Die Texte wurden jedoch für die Bedürfnisse und den roten Faden dieses Bandes in geringerem oder größerem Umfang überarbeitet. Der erste und dritte Teil dieses Buches sind dagegen unveröffentlicht und wurden in dieser Form für den vorliegenden Band geschrieben. Ich habe an erster Stelle natürlich Annette Brockmöller für die Gelegenheit zu danken, einen solchen Band in der von ihr herausgegebenen Reihe vorlegen zu dürfen. Weiterhin möchte ich an dieser Stelle einmal meinem Doktorvater Matthias Lutz-Bachmann und meinem zweiten Gutachter Christoph Menke für die Betreuung meiner Forschung herzlich danken. Andreas Niederberger und Philipp Schink gilt mein Dank für lange Jahre der Diskussion der republikanischen Ideengeschichte und Theorie; und Jakob Krebs, Oliver Schütze und Jan-Erik Strasser danke ich für anregende philosophische Diskussionen über die Jahre. Berlin, im Dezember 2013 Philipp Hölzing 1 2

Vgl. Philipp Hölzing, Republikanismus und Kosmopolitismus. Eine ideengeschichtliche Studie, Frankfurt/M. 2011. Das Kapitel zu Cicero geht auf meinen Aufsatz Die Apotheose der römischen Republik. Ciceros politische Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2 (2009), 267–285 zurück; das Kapitel zu Machiavelli auf den Aufsatz Für eine republikanische Kultur der Freiheit. Machiavellis klassischer Republikanismus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 4 (2008), 512–525. Die Kapitel zu Harrington, Rousseau und Madison basieren auf den entsprechenden Ausführungen in meinem Buch Republikanismus und Kosmopolitismus, 109–127, 145–168. Das Kapitel zu Kant knüpft an meinen Aufsatz Kants Theorie des republikanischen Friedens und die republikanische Tradition, in: Philosophisches Jahrbuch 1 (2009), 4–21 an, das Kapitel zu Forster an meinen Aufsatz Von Kant zu Schlegel. Georg Forsters Republikanismus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1 (2013), 29–41, und das Kapitel zu Schlegel an meinen Aufsatz Romantischer Republikanismus. Der Fall Friedrich Schlegel, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1 (2011), 195–208.

EINLEITUNG Der Republikanismus ist ein vielschichtiges Phänomen. Er kann zum einen als Parteiprogrammatik und -name auftreten, wie bei den amerikanischen „Republicans“ oder den deutschen „Republikanern“ – wobei die Berechtigung dieser Namensgebung hier dahingestellt sei. Er kann zum anderen als Kennzeichnung eines in einer bestimmten Weise verfassten konkreten Gemeinwesens dienen, wie in der Klassifizierung als „Stadtrepublik“ oder als „Bundesrepublik“. In diesem Fall hat man es mit einem verfassungsrechtlichen oder verfassungsgeschichtlichen Phänomen zu tun. Oder er kann schließlich eine bestimmte Politische Theorie und Theorietradition bezeichnen. Dann hat man es mit einem Phänomen der Politischen Theorie und Ideengeschichte zu tun. Letzteres soll hier unser Thema sein. Die Übergänge zwischen diesen drei Phänomenbereichen sind jedoch fließend, insofern sich zum Beispiel politische Theorien durchaus auch mit verfassungsrechtlichen Fragen befassen können oder mit konkreten geschichtlichen Gemeinwesen und aus einer politischen Theorie eine politische Strömung oder Partei hervorgehen kann – und wir werden sehen, dass in der republikanischen Ideengeschichte solche Übergänge zahlreich vorhanden sind. Aber als eine erste Sortierung des Phänomenbereichs in republikanische Parteien, Gemeinwesen und Theorien ist diese Dreiteilung hier einleitend hilfreich und orientierend.1 Begriffsgeschichtlich hat die „Republik“ in ihrer mehr als zweitausendjährigen Geschichte enorme Wandlungen durchlaufen: von einem römischen Wertbegriff als „Sache des Volkes“ über organologische und körperschaftliche Begriffe der Republik im Mittelalter bis hin zu einem normativen Verfassungsbegriff, der der Despotie gegenüber gestellt wird, in der Neuzeit. In der Moderne lässt sich dagegen mit Wolfgang Mager von einer zunehmenden „Entleerung“ des Republikbegriffs sprechen, der nun nicht mehr bedeutet als „Nicht-Monarchie“.2 Im diesem Buch wird es daher immer auch darum gehen, diesen entleerten Republikbegriff wieder mit Inhalt zu füllen, indem wir uns die große und weit zurückreichende republikanische Tradition vergegenwärtigen. 1

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Vgl. für eine solche Differenzierung und nähere Ausführungen Emanuel Richter, Republikanische Politik. Demokratische Öffentlichkeit und politische Moralität, Hamburg 2004, 69–119. Siehe auch verfassungsrechtlich Rolf Gröschner, Republik, in: Josef Isensee, Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, Heidelberg 2004, 369–428, und verfassungsgeschichtlich, Paul Rahe, Republics Ancient and Modern: Classical Republicanism and the American Revolution, North Carolina 1992, Luise Schorn-Schütte, Staatsformen in der Frühen Neuzeit, in: Alexander Gallus, Eckhard Jesse (Hg.), Staatsformen von der Antike bis zur Gegenwart, Köln, Weimar, Wien 2007, S. 123–153, 140 ff. Peter Blickle, Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008, 62–89, und Helmut Reinalter (Hg.), Republikbegriff und Republiken seit dem 18. Jahrhundert im europäischen Vergleich, Frankfurt/M. 2005. Vgl. Wolfgang Mager, Republik, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Kosseleck (Hg.) Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, 549–651.

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Einleitung

Die in den letzten Jahren international geführte Debatte über den Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte hat neben einer solchen historischen aber auch eine theoretische Dimension, was wenig überrascht, setzt sich diese Subdisziplin der Politikwissenschaft doch schon dem Namen nach aus einer systematisch-theoretischen, in die Politische Philosophie hinüber weisenden Forschungstätigkeit und aus einer empirisch-ideengeschichtlichen, in die Geschichtswissenschaft hinüber weisenden zusammen. Im Zusammenspiel beider Dimensionen kann es dann entweder so sein, dass ein neues, gegenwärtiges theoretisches Interesse, eine neue theoretische Position, zu ideengeschichtlichen Suchbewegungen und Forschungen nach Vorläufern führt, oder neue ideengeschichtliche Erkenntnisse und Entdeckungen führen zur Entwicklung neuer Theorien für die Gegenwart. Die politische Ideengeschichte fungiert dann wie ein Archiv, das immer wieder aufs Neue zu entdeckende normative Rechtfertigungen, institutionelle Modelle und Problemlösungen bereithält, die für aktuelle Problemlagen relevant werden können.3 Letzteres scheint mir für die Debatte über den Republikanismus der Fall zu sein, und ich werde deshalb zunächst im ersten Teil dieses Buches in einem ersten Schritt die ideengeschichtlichen Forschungen vorstellen, die mit dem Republikanismus und der republikanischen Tradition verbunden sind. In einem zweiten Schritt wende ich mich dann den systematisch-theoretischen Diskussionen zu, die im Anschluss an die ideengeschichtliche „Entdeckung“ des Republikanismus entstanden sind. In einem letzten Schritt möchte ich schließlich einige aktuelle Kontroversen um den Republikanismus schlaglichtartig anführen. Diese leiten über zum zweiten Teil des Buches, in dem anhand exemplarischer Autoren die Begriffs- und Ideengeschichte des Republikanismus von der Antike bis in die Moderne vor dem Hintergrund dieser aktuellen Kontroversen nun im Detail dargestellt wird. Im dritten Teil sollen schließlich anhand der Themen Freiheit und internationale Politik nochmals zwei Problembereiche aufgegriffen werden, die in den aktuellen Kontroversen um den Republikanismus im Mittelpunkt stehen bzw. für die der Republikanismus möglicherweise besonders attraktive theoretische Lösungsvorschläge bereits hält. Wenn das vorliegende Buch auf diesem Weg einen ersten Einblick in die Ideengeschichte und Theorie des Republikanismus gewährt und den Leser zu weiteren Fragen und Forschungen anregt, wäre sein Ziel erreicht.

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Vgl. etwa Herfried Münkler, Politische Ideengeschichte, in: ders. (Hg.), Politikwissenschaft. Eine Grundkurs, Hamburg, 103–131.

I. DER REPUBLIKANISMUS IN DER POLITISCHEN THEORIE UND IDEENGESCHICHTE

1. REPUBLIKANISMUS UND POLITISCHE IDEENGESCHICHTE Die ideengeschichtliche Forschung zum Republikanismus und zur republikanischen Tradition hat ihren Entstehungsherd im angelsächsischen Raum und entwickelte sich dort vor allem in Frontstellung gegen die liberale Geschichtsschreibung. Dabei wurde zum einen gegen die dominante liberale Fortschrittserzählung der englischen Geschichte von der konstitutionellen Monarchie der Glorious Revolution 1688/1689 zur heutigen Demokratie auf die republikanischen Kräfte in der englischen Geschichte hingewiesen, die bereits 1649 den König enthauptet hatten und eine Republik zu errichten versuchten, damit aber gescheitert waren und deren politisches Denken dann in der historischen Erinnerung vom Liberalismus verdrängt worden sei. Und zum anderen wurde gegen die gängige Herleitung der amerikanischen Revolution und Verfassung aus der liberalen, insbesondere auf Locke fußenden englischen Tradition – die vor allem Louis Hartz mit seinem Buch The Liberal Tradition in America hervorgehoben hatte1 – auf eine andere, eben atlantische republikanische Tradition hingewiesen, die in viel stärkerem Maße das Denken der Founding Fathers geprägt habe als die von Hartz propagierte liberale.2 Vor allem Bernard Baylin mit seinem 1967 verfassten Buch The Ideological Origins of the American Revolution und Gordon Wood mit seinem zwei Jahre später verfassten Werk The Creation of the American Republic haben für die amerikanische Geschichte diese neue Deutung etabliert.3 Beide beziehen sich dabei auf eine Reihe von Forschungen unter anderem von John G. A. Pocock, der in den 1960er Jahren in einigen Aufsätzen auf die Bedeutung eines von ihm so genannten „Bürgerhumanismus“ (civic humanism) im angloamerikanischen Denken der frühen Neuzeit hingewiesen hatte.4 Der Begriff des 1 2

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Vgl. Louis Hartz, The Liberal Tradition in America. An Interpretation of American Political Thought since the Revolution, Harcourt 1955. Vgl. Daniel T. Rogers, Republicanism. The Career of a Concept, in: Journal of American History 1 (1992), 11–38, Terence Ball, Discordant Voices: American Histories of Political Thought, in: Dario Castiglione, Ian Hampsher-Monk (Hg.), The History of Political Thought in National Context, Cambridge 2001, 107–133 und Marcus Llanque, Der Republikanismus: Geschichte und Bedeutung einer politischen Theorie, in: Berliner Debatte Initial 4 (2003), 3–15. Vgl. Bernard Baylin, The Ideological Origins of the American Revolution, Harvard 1967, und Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic 1776–1787, North Carolina 1969. Diese neue Deutung der amerikanischen Revolution hat auch zu einer neuen Deutung der amerikanischen Verfassung bei Verfassungsrechtlern geführt: vgl. etwa Cass Sunstein, Beyond the Republican Revival, in: Yale Law Journal 97 (1988), 1539–1590. Vgl. kritisch dazu Thomas L. Pangle, The Spirit of Modern Republicanism. The Moral Vision of the American Founders and the Philosophy of Locke, Chicago 1988 und Joyce Appleby, Liberalism and the Republican Imagination, Cambridge 1992. Vgl. etwa John G. A. Pocock, Machiavelli, Harrington and English Political Ideologies in the

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I. Der Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte

„Bürgerhumanismus“ selbst hat dabei wiederum seinen Ursprung in den Forschungen des aus Deutschland stammenden Historikers Hans Baron und dessen Studien zur Florentiner Renaissance.5 Pocock legte dann auch Mitte der 1970er Jahre mit seinem großen Werk The Machiavellian Moment eine neue Sicht der frühneuzeitlichen, angloamerikanischen Geschichte vor, welche diese unter dem entscheidenden Einfluss einer atlantischen, republikanischen Tradition stehen sieht, die vom Florenz der Renaissance und Machiavelli im Transit über das England der 1649er-Revolution und Harrington zur amerikanischen Revolution führt.6 Pocock bildet zusammen mit dem lange Zeit in Cambridge lehrenden Historiker Quentin Skinner den Kern der so genannten Cambridge School, die seit den 1960er Jahren eine neue Form der Ideengeschichte propagierte, wobei sich Pocock vor allem auf die Identifikation bestimmter politischer Vokabulare konzentrierte. Laut Pocock besteht die „erste Aufgabe eines Historikers […] darin, die ‚Sprache‘ beziehungsweise das ‚Vokabular‘, in dem sich der Autor bewegt, zu bestimmen und zu zeigen, wie diese Sprache durch ihre Paradigmen vorgibt, was er damit sagen konnte und wie er es sagen konnte.“7 Die atlantische republikanische Tradition ist für ihn eine solche politische Sprache bzw. ein Vokabular, das man im Florenz der Renaissance, im England des 17. Jahrhunderts und im Amerika des 18. Jahrhunderts entdecken kann. Skinner entwickelt dagegen im Anschluss an den linguistic turn und die philosophische Sprechakttheorie eine ideengeschichtliche Methodologie, die die praktisch-rhetorische und kontextuelle Dimension politischer Theorien als Sprechakte in den Mittelpunkt stellt. Politische Vokabulare bzw. Diskurse oder Kontexte bilden gewissermaßen ein semantisches Netzwerk, in welchem sich die jeweils zu untersuchenden Autoren vorfinden und das ihnen bestimmte Optionen für ihre textuellen Sprechakte vorgibt. Die Intentionen der Autoren und die Bedeutung ihrer als Sprechakte verstandenen Texte erschließen sich aus der performativen Art und Weise – der „illokutionären Kraft“, wie Skinner im Anschluss an die Sprechakttheorie sagt – der Intervention der Autoren in den so verstandenen politischen Diskurs. Durch diese Interventionen und deren illokutionäre Kraft können die Autoren den

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Eighteenth Century, in: William and Mary Quarterly 22 (1965), 549–583, und ders., Der bürgerliche Humanismus und seine Rolle im anglo-amerikanischen Denken (1967), in: ders., Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption, Frankfurt/M. 1993, S. 33–60. Vgl. für frühere Forschungen, auf die sich Pocock wiederum beruft, Zeda Fink, The Classical Republicans. An Essay in the Recovery of a Pattern of Thought in the Seventeenth Century, Evanston 1944 und Caroline Robbins, The Eighteenth-Century Commonwealthmen, Harvard 1959. Vgl. Hans Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance, Princeton 1966. Eine Sammlung mit zentralen Aufsätzen von Baron ist auf Deutsch unter dem Titel Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance, Berlin 1992, erschienen. Vgl. auch James Hankins (Hg.), Renaissance Civic Humanism. Reappraisals and Reflections, Cambridge 2000. Vgl. John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975. John G. A. Pocock, Sprachen und ihre Implikationen: Die Wende in der Erforschung des politischen Denkens, in: Martin Mulsow, Andreas Mahler (Hg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin 2010, 88–126, 110.

1. Republikanismus und Politische Ideengeschichte

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Diskurs durchaus auch transformieren. Für Skinner ist die Aufgabe der Ideenhistorikers daher: „Recontructing political thought as discourse: that is, as a sequence of speech acts performed by agents within a context furnished ultimately by social structures and historical situations.“8 Auch Skinner hatte sich beginnend mit seinem bedeutenden Werk zu den Foundations of Modern Political Thought von 1978 mit dem Republikanismus und der republikanischen Tradition befasst.9 Und auch bei ihm nehmen die italienische Renaissance und Machiavelli eine wichtige, wegweisende Stellung in der republikanischen Ideengeschichte ein.10 Von dort verläuft dann für Skinner ebenfalls eine zentrale Einflusslinie hin zur englischen Revolution von 1649 und dann weiter zur amerikanischen Revolution, auf der Skinner ein spezifisch republikanisches politisches Freiheitsverständnis entdeckt haben will, eine „Liberty before Liberalism“, wie der Titel eines wichtigen Buches von Skinner aus dem Jahre 1998 lautet.11 Nicht zuletzt in diesem Titel zeigt sich eine gewisse polemische Frontstellung gegen die liberale Geschichtsschreibung. Skinner versteht seine ideengeschichtlichen Forschungen so, dass sie eine „Archäologie des Republikanismus“ betreiben und dadurch ein von der liberalen Geschichtsschreibung verdrängtes Freiheitsverständnis freilegen, das auch heute noch wichtige Impulse gegen die liberalen bzw. neoliberalen Verkürzungen der Freiheit bereithält.12 Ideengeschichtlich fängt dieser Verdrängungsprozess für Skinner bereits mit Hobbes an, der als erster in den Debatten um die englische Revolution ein verkürztes, liberales Freiheitsverständnis der Bewegungs- bzw. Handlungsfreiheit gegen das umfassendere republikanische von Autoren wie Harrington, Sidney oder Nedham ins politisch-diskursive Spiel gebracht habe.13 Die Debatte um den Republikanismus wurde also insbesondere durch diese beiden Ideengeschichtler und ihre revisionistische Interpretation der angloamerikanischen Geschichte der frühen Neuzeit angestoßen. Pocock und Skinner unterscheiden sich jedoch in einem wichtigen Punkt: Während Pocock die republikanische Ideengeschichte der Neuzeit durch eine athenisch-aristotelische Tradition bestimmt sieht, sieht Skinner eine neorömische Tradition am Werk. Im Kern geht diese Meinungsverschiedenheit auf ein divergierendes Verständnis des republikanischen Freiheitsbegriffs zurück. Im Rahmen von Isaiah Berlins berühmter Unterscheidung 8

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Zitiert nach Olaf Asbach, Von der Geschichte politischer Ideen zur „History of Political Discourse“? Skinner, Pocock und die Cambridge School, in: Zeitschrift für Politik 12 (2002), 641 f. Vgl. auch Quentin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: History and Theory 8 (1969), 3–53. Vgl. zur Cambridge School Mulsow, Mahler, Die Cambridge School der Politischen Ideengeschichte, sowie Harald Bluhm, Jürgen Gebhardt (Hg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden 2006 und Luise SchornSchütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung, München 2006, 79 ff. Vgl. Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, 2 Bde., Cambridge 1978. Vgl. Gisela Bock, Quentin Skinner, Maurizio Viroli (Hg.), Machiavelli and Republicanism, Cambridge 1991 und Quentin Skinner, Machiavelli, Hamburg 1990. Vgl. Quentin Skinner, Liberty before Liberalism, Cambridge 1998. Vgl. Marion Heinz, Martin Ruehl, Nachwort, in: Quentin Skinner, Visionen des Politischen, Frankfurt/M. 2009, 253–287. Vgl. Quentin Skinner, Hobbes and Republican Liberty, Cambridge 2008.

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I. Der Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte

favorisiert Pocock eher einen positiven Freiheitsbegriff, Skinner dagegen einen letztlich negativen, wenn auch keinen nach seinem Verständnis liberalen.14 In Pococks Fall bedeutet dies, dass die republikanische Tradition für ihn darin besteht, bürgerliche Tugend, Partizipation und Gemeinwohlorientierung als intrinsisches Gut, als substanziellen Teil eines guten Lebens aufzufassen. Im Anschluss an die bereits erwähnten Studien von Hans Baron zur italienischen Renaissance spricht er daher auch von einem Bürgerhumanismus, nach dem der Mensch im Sinne des Aristoteles als politisches Lebewesen (als zoon politikon) in der politischen Betätigung in der Polis bzw. Republik sein Telos findet.15 Daniel Höchli hat dies in einer aufschlussreichen Studie zum Florentiner Republikanismus einen bürgerorientierten Republikanismus genannt und mit einem institutionenorientierten Republikanismus kontrastiert.16 Skinner betont dagegen, dass bürgerliche Tugend, Partizipation und Gemeinwohlorientierung nur Mittel zum Zweck der Sicherung einer negativen Freiheit der Bürger in der republikanischen Tradition waren. Den Republikanern in der neorömischen Tradition sei es in erster Linie um die Erhaltung der freien Republik gegangen, und d. h. für Skinner, um die Mittel zur Erhaltung der negativen Freiheit der Bürger im Inneren und der Freiheit der Republik nach außen. „Unabhängigkeit“ (independence) ist für ihn der zentrale Gehalt des republikanischen Freiheitsbegriffs und der primäre politische Wert des neorömischen Republikanismus.17 Skinners Republikanismus wurde daher auch – aus meiner Sicht einleuchtend – ein „instrumental republicanism“ genannt, insofern in seiner Deutung zwar ein Zusammenhang zwischen Freiheit als Unabhängigkeit und bestimmten republikanischen institutionellen Ordnungsvorstellungen wie Rule of Law, Mischverfassung bzw. Macht- und Gewaltenteilung und politischen Wahl- und Partizipationsrechten besteht. Der Zusammenhang ist aber eben ein instrumenteller, da diese institutionellen Vorkehrungen nur Mittel zur Wahrung der bürgerlichen Freiheit als Unabhängigkeit sind.18 Im Gegensatz zu Pocock haben damit zusammenhängend Tugend, Partizipation und Gemeinwohlorientierung bei Skinner keinen intrinsischen Wert und bilden nicht das Telos des Menschen. Die neorömische Interpretation des Republikanismus durch Skinner steht dadurch schon ein Stück weiter auf dem Boden eines neuzeitlichen, utilitaristischen und pluralistischen Individualismus und betont stärker als Pococks Bürgerhumanismus institutionelle Vorkehrungen wie die Herrschaft des Gesetzes und die Macht- und Gewaltenteilung als Ausfallbürgschaften für die ungewisse Tugendhaftigkeit der Bürger. Damit rückt der neorömische Republikanismus Skinners in die Nähe dessen, was Höchli institutionenorientierten Republi-

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Isaiah Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe (1969), in: ders., Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/M. 2006, S. 197–256. Vgl. Aristoteles, Politik, herausgegeben von Olof Gigon, München 1998. Daniel Höchli, Der Florentiner Republikanismus. Verfassungswirklichkeit und Verfassungsdenken zur Zeit der Renaissance, Bern 2005. Vgl. Skinner, Liberty before Liberalism. Vgl. Alan Patten, The Republican Critique of Liberalism, in: British Journal of Political Science 26 (1996), 25–44.

1. Republikanismus und Politische Ideengeschichte

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kanismus nennt, und man könnte ihn deswegen vielleicht auch eine Art liberalen Republikanismus nennen. Diese Gegenüberstellung von athenisch-aristotelischem Republikanismus und neorömischem Republikanismus bestimmt noch immer als Streit um das zentrale Deutungsmuster die angelsächsische ideengeschichtliche Forschung zum Republikanismus.19 Auf die damit zusammenhängenden Problematiken und auf Alternativen werden wir immer wieder zurückkommen. Zum Abschluss dieses Überblicks über die ideengeschichtliche Forschung sei noch kurz darauf hingewiesen, dass mittlerweile zahlreiche Studien zu weiteren für den Republikanismus zentralen Figuren (wie etwa Milton oder Spinoza) oder zu republikanischen Strömungen der frühen Neuzeit in weiteren europäischen Ländern (wie etwa der niederländischen Republik) vorliegen, unter anderem in der von Quentin Skinner herausgegebenen Reihe Ideas in Context bei Cambridge University Press.20 Und zusammen mit Martin van Gelderen hat Quentin Skinner eine von der European Science Foundation geförderte Forschungsgruppe geleitet, die in zwei Bänden das reiche Spektrum des Republikanismus im Europa der frühen Neuzeit als „Shared European Heritage“ zu erfassen versucht hat.21 Aber auch außerhalb des engeren Kreises der Cambridge School der Ideengeschichte findet die Wiederentdeckung des Republikanismus und seines komplexen Verhältnisses zur Entstehung einer vom Liberalismus dominierten Moderne zunehmend Aufmerksamkeit, nicht zuletzt in der Politischen Theorie und Politischen Philosophie.

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Vgl. Eric Nelson, Republican Visions, in: John Dryzek, Bonnie Honig, Anne Philipps (Hg.), The Oxford Handbook of Political Theory, Oxford 2006, 193–210, und Richard Dagger, Republicanism, in: George Klosko (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Political Philosophy, Oxford 2011, 701–711 sowie Philipp Schink, Republikanismus, in: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.), Politische Theorie und Politische Philosophie. Ein Handbuch, München 2011, 109–112. Vgl. etwa David Armitage, Armand Himy, Quentin Skinner (Hg.), Milton and Republicanism, Cambridge 1995 und Raia Prokhovnik, Spinoza and Republicanism, New York, Houndmills 2004 sowie Martin van Gelderen, The Political Thought of the Dutch Revolt 1555–1590, Cambridge 1992 und Blandine Kriegel, La République et le Prince moderne, Paris 2011. Vgl. für die zahlreichen weiteren Bände der Reihe Ideas in Context die Website: http://www.cambridge. org/gb/knowledge/series/series_display/item3 937 510/?site_locale=en_GB. Vgl. Martin van Gelderen, Quentin Skinner (Hg.), Republicanism. A Shared European Heritage, 2 Bde., Cambridge 2002. Im Hinblick auf dieses mittlerweile reiche Material sind sicher auch einige Einschätzungen zu korrigieren, die Helmut Koenigsberger in seiner Schlussbetrachtung zu seinem bis heute einschlägigen und für die deutsche Forschung und Rezeption bahnbrechenden Band Republiken und Republikanismus im Europa der frühen Neuzeit, München 1988, 285–302, geäußert hat.

2. REPUBLIKANISMUS UND POLITISCHE THEORIE Die wissenschaftliche Auseinandersetzung in der Politischen Theorie und Politischen Philosophie1 war seit dem Erscheinen von John Rawls‘ wegweisendem Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit 1971 vom liberalen Kontraktualismus dominiert. Rawls hatte mit seiner Theorie eine originelle Neuformulierung einer liberalen Vertragstheorie vorgelegt, in der sich in einem Gedankenexperiment die Vertragspartner in einer „Urzustand“ genannten Situation hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ über ihre zukünftige soziale Position befinden und sich auf die zukünftige Grundstruktur der Gesellschaft einigen müssen. Laut Rawls einigen sie sich dabei rationalerweise erstens auf ein Paket von Freiheiten für jeden, das mit demselben Paket von Freiheiten aller anderen vereinbar ist. In dieser Bedingung der wechselseitigen Vereinbarkeit und Einschränkung der individuellen Freiheitssphären kommt in gewisser Weise bei Rawls ein klassisch liberales, negatives Freiheitsverständnis der Nicht-Einmischung zum Zuge, auch wenn in dem Paket durchaus politische Freiheiten enthalten sein können. Über ein klassisch liberales oder libertäres Freiheitsverständnis geht Rawls allerdings hinaus, insofern sich seine Vertragspartner zudem zweitens auf ein Prinzip der Chancengleichheit und eines der sozialen Umverteilung einigen, das „Differenzprinzip“, nach dem die besser gestellten Gesellschaftsmitglieder nur dann von den Früchten der gesellschaftlichen Kooperation profitieren dürfen, wenn auch die schlechter gestellten profitieren.2 Damit hatte Rawls der Politischen Theorie ein spezifisches liberales Paradigma vorgegeben, das in der Folge von zahlreichen Autoren aufgegriffen, diskutiert, kritisiert und weiterentwickelt wurde: der Liberalismus, eine liberale Vertrags- und Gerechtigkeitstheorie, waren das bestimmende Thema.3 Diese Situation führte zu Beginn der 1980er Jahre zur Formierung einer Gegenströmung, dem so genannten Kommunitarismus. Die Kommunitaristen kritisierten an Rawls und seinen Anhängern den ahistorischen, atomistischen Individualismus, der in der dekontextualisierten Konstruktion der Vertragstheorie zum Tragen komme. Charles Taylor sprach im Hinblick auf den Liberalismus vom „Irrtum der negativen Freiheit“, der darin bestehe, dass dieser mit seiner Bevorzugung äu1

2 3

Im Folgenden sage ich der Einfachheit halber „Politische Theorie“ und meine sowohl die Politische Theorie als auch die Politische Philosophie. Vgl. zur letzten größeren Debatte über den Status der Disziplin die Special Issue „What is Political Theory?“ von Political Theory 2002 sowie Hubertus Buchstein, Dirk Jörke, Die Umstrittenheit der Politischen Theorie. Stationen im Verhältnis von Politischer Theorie und Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, in: Hubertus Buchstein, Gerhard Göhler (Hg.), Politische Theorie und Politikwissenschaft, Wiesbaden 2007, 15–45. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1979 (1971). Vgl. Will Kymlicka, Politische Philosophie heute. Eine Einführung, Frankfurt/M./New York 1997.

2. Republikanismus und Politische Theorie

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ßerer Handlungsfreiheit, einem bloßen „Möglichkeitsbegriff der Freiheit“, zentrale Hindernisse für die freie Selbstverwirklichung von Menschen übersehe, für die tatsächliche Verwirklichung von deren „starken Wertungen“, d. h. von ihnen als bedeutend angesehener Ziele; und Michael Sandel betonte, dass Menschen immer schon in sozialen Gemeinschaften leben, in die sie hinein sozialisiert würden und von deren starken Wertungen ihre ganze Identität und ihr Handeln bestimmt sei.4 Eine dekontextualisierte Vertragstheorie im Sinne Rawls‘ mit ihren sozial ungebundenen, atomistischen Individuen kann aus Sicht der kommunitaristischen Kritiker daher ihrem Zuschnitt nach und folglich in ihren Ergebnissen nur die politisch-soziale Wirklichkeit der Menschen verfehlen – ja, unterminiert vielleicht gar, wenn sie praktisch als politische Ideologie wirksam wird, den politisch-sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft und das politische Engagement in ihr.5 Im Anschluss an ihre Kritik am liberalen Paradigma wandten sich einige Kommunitaristen aristotelischen oder – wie wir im Anschluss an die oben eingeführte Begrifflichkeit sagen können – bürgerhumanistischen bzw. republikanischen Modellen im Sinne Pococks als positiven Antworten auf den Liberalismus zu. So beklagte Alasdair MacIntyre einen „Verlust der Tugend“ und Michael Sandel titelte Liberalismus oder Republikanismus. Von der Notwendigkeit der Bürgertugend.6 Das war die diskursive Konstellation in der Politischen Theorie, in welcher die ideengeschichtliche Forschung zum Republikanismus der Cambridge School nun ab etwa Mitte der 1990er Jahre zunehmend rezipiert wurde. In enger Kooperation, aber durchaus auch mit kleinen theoretischen Differenzen haben Quentin Skinner und der heute in Princeton lehrende Philosoph Philip Pettit mit ihrer Version des Republikanismus eine dritte Strömung in der angelsächsischen Politischen Theorie neben Liberalismus und Kommunitarismus zu etablieren versucht. Zudem hat etwa der ebenfalls eng mit der Cambridge School verbundene italienische MachiavelliForscher Maurizio Viroli in den letzten zwei Jahrzehnten für eine Erneuerung der Theorie des Republikanismus geworben.7 Dieser Versuch vollzog sich dabei insbesondere über die Etablierung eines dritten Freiheitsbegriffs neben dem negativen, der dem Liberalismus zugeschrieben wurde, und dem positiven, den einige Kom4 5 6 7

Vgl. Charles Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1988, 118–144 und Michael Sandel, The Procedural Republic and the Unencumbered Self, in: Political Theory 1(1984), 81–96. Vgl. für einen Überblick Axel Honneth, Kommunitarismus. Eine Debatte, Frankfurt/M. 1992 und Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt/M. 1996, sowie Kymlicka, Politische Philosophie heute. Vgl. Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend, Frankfurt/M. 1993, und Michael Sandel, Liberalismus oder Republikanismus. Von der Notwendigkeit der Bürgertugend, Wien 1995. Vgl. etwa Maurizio Viroli, Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Machiavelli bis heute, Zürich 2002 und Noberto Bobbio, Maurizio Viroli, The Idea of the Republic, Cambridge 2003. Weitere theoretische Entwürfe eines zeitgenössischen Republikanismus finden sich etwa bei Richard Dagger, Civic Virtues. Rights, Citizenship, and Republican Liberalism, Oxford 1997, Iseult Honohan, Civic Republicanism, New York 2002, John Maynor, Republicanism in the Modern World, Cambridge 2003 oder Frank Lovett, A General Theory of Domination and Justice, Oxford 2010. Siehe auch die Sammelbände Cecile Laborde, John Maynor (Hg.), Republicanism and Political Theory, Oxford 2008 und Andreas Niederberger, Philipp Schink (Hg.), Republican Democracy. Law, Liberty and Politics, Edinburgh 2012.

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I. Der Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte

munitaristen mit ihrer Anknüpfung an bürgerhumanistische Motive evozierten. Pettit und Skinner sprechen auch ganz offen von einem „Third Concept of Liberty“, und Skinner versteht darunter das von ihm als republikanisch freigelegte der „Unabhängigkeit“ (independence) des republikanischen Bürgers von der willkürlichen Gunst eines Herrschers, das durch republikanische Institutionen eines auch nach außen unabhängigen republikanischen Gemeinwesens gewährleistet wird.8 Für Pettit steht dagegen im Zentrum des Republikanismus ein Freiheitsverständnis, das durch die Idee der „Nicht-Beherrschung“ (non-domination) bestimmt ist. Dieses republikanische Ideal der Freiheit als Nicht-Beherrschung ist das Grundaxiom, auf dem seine Theorie des Republikanismus aufbaut, die er 1997 mit seinem einflussreichen Buch Republicanism. A Theory of Freedom and Government vorgelegt hat.9 Pettit schließt ideengeschichtlich mit seiner Theorie des Republikanismus ganz explizit an die von Skinner freigelegte neorömische Tradition an, behauptet aber, dass ihr ein Freiheitsverständnis als Nicht-Beherrschung und nicht eines als Unabhängigkeit zugrunde liege. Er setzt dabei seinen auf diesem Freiheitsbegriff aufbauenden Republikanismus von zwei anderen politischen Theorietraditionen ab, die er „Populismus“ und „Liberalismus“ nennt. Der Populismus, dem er im Sinne Berlins einen positiven Freiheitsbegriff der „Selbst-Beherrschung“ (self-mastery) unterstellt und den er etwa in der antiken Athener direkten Demokratie, bei Rousseau oder in Hannah Arendts Versuch einer Wiederbelebung der griechischen Politikund Demokratieideale erblickt, bindet nach Pettit sein Freiheitsideal an die politische Partizipation. Ähnlich wie im Bürgerhumanismus oder Kommunitarismus werde hier die menschliche Selbstverwirklichung und Freiheit in der Teilnahme am politischen Leben verortet, das daher einen intrinsischen Wert erhalte. Gelegentlich, so Pettit, werde diese politische Theorietradition auch als Republikanismus bezeichnet.10 Nach seinem Dafürhalten aber zu unrecht. Der neorömische Republikanismus, wie er insbesondere von Skinner freigelegt wurde, betone zwar die Wichtigkeit politischer Partizipationsrechte und also der Demokratie, aber nicht als intrinsich wertvoll bzw. als Selbstzweck. Für die republikanische Theorietradition seien politische Partizipationsrechte insofern wichtig, als sie der Freiheit als NichtBeherrschung dienen. Daneben sei aber ein Kennzeichen des neorömischen Republikanismus, dass er von Cicero über Machiavelli und Harrington bis zu den Auto8 9

10

Vgl. etwa Quentin Skinner, A Third Concept of Liberty, in: Proceedings of the British Academy 117 (2002), 237–268. Vgl. Philip Pettit, Republicanism. A Theory of Freedom and Government, Oxford 1997. Pettits Republikanismus wurde unter anderem in Kreisen der Labour-Partei aufgegriffen und in der sozialdemokratischen Zapatero-Regierung in Spanien: vgl. Stuart White, Is Republicanism the Left‘s ‚Big Idea‘?, in: Renewal. A Journal for Social Democracy 15, 1 (2007) und José Luis Marti, Philip Pettit, Political Philosophy in Public Life. Civic Republicanism in Zapatero‘s Spain, Princeton 2010. So z. B. bei Jürgen Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996, 277–292 und bei Thorsten Bonacker, Die politische Theorie des freiheitlichen Republikanismus: Hannah Arendt, in: André Brodocz, Gary Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart, Bd. 1, Opladen 2002, 183–220.

2. Republikanismus und Politische Theorie

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ren der Federalist Papers auf die Gefahr einer reinen, direkten Demokratie hinweise: auf die einer Tyrannei der Mehrheit. Der einzelne Bürger sei in einem solchen populistisch organisierten Gemeinwesen der Mehrheit schutzlos ausgeliefert und deshalb unfrei und beherrscht. Pettits Republikanismus wendet sich daher zum einen gegen diese Theorietradition des Populismus mit ihrem Freiheitsideal der Selbst-Beherrschung durch direkte politische Partizipation.11 Zum anderen wendet sich der neorömische Republikanismus aber auch gegen den Liberalismus, dem Pettit wiederum im Sinne Berlins einen negativen Freiheitsbegriff unterstellt, der auf der Idee der „Nicht-Einmischung“ (non-interference) beruhe. Zwar teile der Republikanismus mit dem Liberalismus einige Vorstellungen, insbesondere die Betonung der negativen, auf die Abwesenheit von etwas gerichteten Dimension des Freiheitsbegriffs. Aber anders als der Liberalismus gehe es dem Republikanismus nicht schlechthin um die Abwesenheit von Einmischung, sondern um die Abwesenheit von Beherrschung bzw. von beherrschender Einmischung. Während der Liberale sich als frei betrachte, wenn nichts ihn faktisch bzw. physisch an der Ausführung seiner Handlungen hindere, betrachte der Republikaner sich als frei, wenn er keinen Herren habe, wenn er allen auf gleicher Augenhöhe begegnen könne, wenn er niemand bzw. niemandes willkürlichen Einfluss bei der Wahl seiner Handlungen fürchten müsse. Laut Pettit lässt sich der Unterschied zwischen beiden Freiheitsidealen am einfachsten wie folgt kennzeichnen: „The difference between them comes out in the fact that it is possible to have domination without interference and interference without domination. I may be dominated by another – for example, to go to the extreme case, I may be the slave of another – without actually being interfered with in any of my choices. It may just happen that my master is of a kindly and non-interfering disposition. Or it may just happen that I am cunning or fawning enough to be able to get away with doing whatever I like. I suffer domination to the extent that I have a master; I enjoy non-interference to the extent that that master fails to interfere. As I may suffer domination without interference, so I may undergo interference without being dominated: without relating to anyone in the fashion of a slave or subject. Suppose that another person or agency is allowed to interfere with me but only on condition that the interference promises to further my interests, and promises to do so according to opinions of a kind that I share. Suppose that the person is able to interfere in the event of the interference satisfying that condition, but that otherwise they are blocked from interfering or are subject to a deterrent penalty for attempting interference. It may be that a third party polices the person’s performance or it may be that I am in a position to contest it myself. In such a case it is not possible to see the interference as an exercise of domination; the person interferes with me but not on an arbitrary basis. The person envisaged relates to me, not as master, but more in the fashion of an agent who en11

Vgl. kritisch dazu Nadia Urbinati, Unpolitical Democracy, in: Political Theory 38 (2010), 65– 92. Einen stärker demokratisch ausgerichteten Republikanismus in kritischem Anschluss an Pettits Freiheitsbegriff der Nicht-Beherrschung hat Richard Bellamy, Political Constitutionalism. A Republican Defense of the Constitutionality of Democracy, Cambridge 2007 entwickelt.

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I. Der Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte

joys a power of attorney in my affairs.“12 Während es für Pettit also Beherrschung ohne Einmischung geben kann, so kann es für ihn umgekehrt Einmischung ohne Beherrschung geben. Insbesondere die Einmischung von Gesetzen in die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit eines Bürgers erscheint Pettit als durchaus zulässig und als kein Freiheitsverlust, wenn dieser dem zustimmen könnte, da seine Interessen dadurch verfolgt werden, oder das Gesetz nicht angefochten hat bzw. kein Veto eingelegt hat. Gute gesetzliche Regelungen sind aus Pettits republikanischer Perspektive konstitutiv für die Freiheit des Bürgers und nicht, wie Liberale behaupten, generell und per se einschränkend. Durch Gesetze kann sogar die Freiheit der Bürger befördert werden. Hierin unterscheidet sich Pettit auch von Skinners „instrumental republicanism“ mit seiner Version einer negativen, republikanischen Freiheit als Unabhängigkeit, der wie der Liberalismus gesetzliche Regelungen als Einmischungen in die Freiheit ansieht.13 In der von Pettit auf diese Weise veranschaulichten Differenz zwischen dem liberalen und dem republikanischen Freiheitsbegriff kommt ganz deutlich zum Vorschein, dass mit dem republikanischen Freiheitsbegriff unmittelbar eine spezifische institutionelle Struktur verbunden ist, denn es geht ihm ja bei der Nicht-Beherrschung darum, solche Einmischungen zu verhindern, die beherrschend auf den einzelnen Bürger einwirken, und solche zu befördern, die seinen Interessen dienen. D. h. es muss eine politische Prozedur gefunden werden, die genau dies gewährleistet, die verhindert, dass es „Herren“ und „Sklaven“ oder „Untertanen“ im Gemeinwesen gibt oder eine Tyrannei der Mehrheit, und die es jedem Bürger ermöglicht, politische Entscheidungen mitzubestimmen oder anzufechten. Pettit spricht im Hinblick auf diese Möglichkeit der Anfechtung auch von der Republik als einer „contestatory democracy“. Die republikanischen Bürger sind für ihn nicht nur auf der Inputseite des politischen Prozesses demokratische „Autoren“ der Gesetze, sondern müssen ebenso auf der Outputseite durch Kontestation „Herausgeber“ (editors) – wie Pettit sagt – der Gesetze sein können.14 Auch mit diesen originellen institutionellen Überlegungen, die das klassische, einseitige Modell einer „Inputdemokratie“ ergänzen, sieht sich Pettit in der Tradition des neorömischen Republikanismus stehen: der Vorstellung, dass die Republik sich durch eine Herrschaft von Gesetzen und nicht von Menschen („an empire of law, not of men“) auszeichne, den Motiven der Macht- und Gewaltenteilung, die in der republikanischen Bevorzugung der Mischverfassung zum Tragen kommen,15 sowie der Überzeugung, dass die Mächtigen herrschen wollen, die Menge der Bürger dagegen nur nicht beherrscht werden möchte. Das Moment der Kontestation kann dieser Deutung zufolge bis auf die Volkstribune der römischen Republik zurückverfolgt werden und

12 13 14 15

Pettit, Republicanism, 22–23. Vgl. Philip Pettit, Keeping Republican Freedom Simple. On a Difference with Quentin Skinner, in: Political Theory 30 (2002), 339–365. Vgl. Philip Pettit, Republican Freedom and Contestatory Democratization, in: Ian Shapiro, Casiano Hacker-Gorden (Hg.), Democracy’s Value, Cambridge 1999, 163–190. Vgl. zu diesen Ideen der Machtteilung und Mischverfassung auch die Studie von Alois Riklin, Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006.

2. Republikanismus und Politische Theorie

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wurde von Machiavelli besonders gelobt.16 Pettit hat in diesem Zusammenhang zudem „depolitisierende“ institutionelle Vorkehrungen vorgeschlagen, die einige Themen aus dem direkten, von Leidenschaften bestimmten Parteienkampf herausnehmen, um gemeinwohlorientierte Entscheidungen zu sichern (zum Beispiel Zentralbanken, Verfassungsgerichte, Wahlkommissionen, Strafrechtskommissionen etc.).17 Pettits Republikanismus lässt sich im Anschluss an das Gesagte in der Verschränkung zweier Aufgaben zusammenfassen: erstens müsse die Republik institutionell so strukturiert sein, dass allen Bürgern untereinander der Status der NichtBeherrschung gesichert sei, d. h. dass Relationen der Beherrschung zwischen den Bürgern, die Pettit „dominium“ nennt, verhindert werden; zweitens dürfe die dies gewährleistende, republikanische institutionelle Struktur nicht selbst zum Akteur von Beherrschung werden, was Pettit „imperium“ nennt, d. h. dass den Bürgern gegenüber der Republik selbst der Status der Nicht-Beherrschung gesichert sein muss.18 In seinem 2012 erschienenen Buch On the People‘s Terms – das gewissermaßen eine überarbeitete Neufassung der 1997 vorgelegten Theorie bietet – fasst Pettit diesen Zusammenhang zwischen horizontalen und vertikalen Formen der Beherrschung nun so, dass im ersten Fall die Herstellung der Relation der Nicht-Beherrschung zwischen den Bürgern durch den Staat eine Frage der „sozialen Gerechtigkeit“ (social justice) ist, während es im zweiten Fall des Verhältnisses der Bürger zum Staat um eine Frage der „politischen Legitimität“ (political legitimacy) gehe. Wenn nämlich das republikanische Gemeinwesen dafür verantwortlich ist, durch Gesetze und die Verteilung von Ressourcen jedem einen Status der Freiheit als Nicht-Beherrschung im Verhältnis zu seinen Mitbürgern zu gewähren, dann muss es dies auf legitime Weise tun, d. h. im Rahmen von Prozeduren, die für jeden Bürger nicht-beherrschend sind, ihm also zum einen „demokratischen Einfluss“ und zum anderen „demokratische Kontrolle“ gewähren. Über ein „duales“ Modell versucht Pettit in seinem neuen Buch, die kurzfristigen und langfristigen politisch-institutionellen Mechanismen zu beschreiben, die die Erfüllung dieser Anforderungen ermöglichen könnten.19 Eine zweite Pointe von Pettits republikanischem Ideal der Nicht-Beherrschung lässt sich daher im Vergleich zum liberalen der Nicht-Einmischung so verstehen, dass letzteres Freiheit als gewissermaßen kontingentes Faktum behandele, während ersteres Freiheit als gesicherten Status auffasse. „To enjoy non-interference is to escape coercion in the actual world. For a relevant range of possible choices no on coerces you to choose one way or another; were you to face one of those choices, you could make your choice without hindrance, threat, or penalty. What will it take, 16 17 18 19

Vgl. Niccolo Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt von Rudolf Zorn, Stuttgart, 1977, 21 (I/5). Vgl. Philip Pettit, Depoliticizing Democracy, in: Ratio Juris 17 (2004), 52–65; kritisch dazu Urbinati, Unpolitical Democracy, und Bellamy, Political Constitutionalism. Vgl. kritisch zu Pettits Freiheitsbegriff und der Verschränkung dieser beiden Aufgaben Patchen Markell, The Insufficency of Non-Domination, in: Political Theory 36 (2008), 9–36. Philip Pettit, On the People’s Terms. A Republican Theory and Model of Democracy, Cambridge 2012.

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I. Der Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte

then, for such a non-interference world to be a non-domination world? In one way it will take less: it will not compromise the fact of non-domination that you suffer some interference, provided that the interference is not perpetrated by an agent on an arbitrary basis and does not represent a form of domination. But in another, crucial way, it will take more for that non-interference world – specifically, the world without interference by arbitrary powers – to be a non-domination world; the world must be a non-interference world of that kind, not by accident, but by virtue of your being secured against the powerful.“20 In dieser Perspektive hat Pettits republikanisches Ideal – trotz aller Kritik, die es in den letzten Jahren auch auf sich gezogen hat – durchaus weitreichende emanzipatorische Konsequenzen, gerade auch in der Betonung der politischen Absicherung gegen gesellschaftliche bzw. ökonomische Machtasymmetrien.21 Für Pettit wurde wie für Quentin Skinner dieses anspruchsvollere, umfassendere Freiheitskonzept des Republikanismus mit seiner Betonung der institutionellen Absicherung gegen Beherrschung und der Ausbalancierung gesellschaftlicher und politischer Macht historisch von dem anspruchsloseren des Liberalismus verdrängt, das zwar gegen Einmischung zu schützen versucht, für das die Quellen und Arten der Einmischung aber irrelevant sind. Es ist in dem Sinne anspruchsloser, dass es blind gegenüber gesellschaftlichen und politischen Machverhältnissen und Interessen ist und sein will. Auch für Pettit beginnt die Geschichte dieser Verdrängung mit Hobbes‘ Attacken gegen die englischen Republikaner bzw. Commonwealthmen. Entscheidend durchsetzen können habe sich der von Hobbes erdachte Freiheitsbegriff der Nicht-Einmischung allerdings erst während und nach der amerikanischen Revolution, als er von Gegnern der amerikanischen Unabhängigkeit wieder aufgegriffen worden sei. Laut Pettit sind es daher zunächst britische Tories und dann liberale Utilitaristen wie Bentham und Paley, die für einen Begriff der Freiheit als Nicht-Einmischung argumentieren: die Tories und auch Bentham im 18. Jahrhundert zunächst, um die amerikanischen Ansprüche auf politische NichtBeherrschung, die im alten republikanischen Vokabular vorgebracht worden seien, zurückzuweisen; und die Liberalen im 19. Jahrhunderts dann, um im Zuge der Ausweitung der Bürgerschaft keine übertriebenen Ansprüche von Arbeitern, Angestellten, Bediensteten und Frauen auf einen republikanischen Status der Nicht-Beherrschung, auf eine gleiche Augenhöhe mit ihren „Herren“, aufkommen zu lassen. „Liberty as non-domination – republican liberty –“, so Pettit, „had not only been lost to political thinkers and activists; it had even become invisible to the historians of political thought.“22

20 21

22

Pettit, Republicanism, 24. Vgl. etwa Philip Pettit, Freedom in the Market, in: Politics, Philosophy and Economics 5 (2006), 131–149 und die Ausweitung und Radikalisierung durch Michael J. Thompson, Reconstructing Republican Freedom: A Critique of the Neorepublican Concept of Freedom as Non-Domination, in: Philosophy and Social Criticism 39 (2013), 277–298. Pettit, Republicanism, 50.

3. AKTUELLE KONTROVERSEN Wenden wir uns nun einigen aktuellen Kontroversen und theoretischen Weiterentwicklungsmöglichkeiten zumindest schlaglichtartig zu. Zunächst kann man sich dabei der immer wieder auftretenden ideengeschichtlichen Frage einer bürgerhumanistischen oder neorömischen republikanischen Tradition widmen. Wie mir scheint, sind beide Kennzeichnungen der republikanischen Tradition jeweils für sich zu einseitig und verfehlen die Komplexität der republikanischen Ideengeschichte. So lässt sich zum Beispiel, wie wir noch sehen werden, schon zu Beginn in der römischen Republik bei Cicero durch seine Aufnahme der griechischen politischen Philosophie zeigen, dass dieser bürgerhumanistische, auf die Tugend und den Wert des politischen Lebens zielende Motive mit solchen des so genannten neorömischen Republikanismus, also Institutionenorientierung, Mischverfassung und Herrschaft des Gesetzes, verbindet.1 Ähnlich lässt sich bei der sowohl für die bürgerhumanistische als auch für die neorömische Deutung zentralen Figur Machiavelli zeigen, dass dieser der bürgerlichen Zivilreligion und „Virtu“ ebenso Bedeutung beimisst, wie der Mischverfassung und der Herrschaft des Gesetzes. Auch darauf werden wir zurückkommen.2 D. h. die Forschung zur republikanischen Ideengeschichte müsste in viel stärkerem Maße als bisher die jeweiligen Vermittlungen der beiden genannten republikanischen Traditionsstränge bei einem Autor, in einer bestimmten Epoche oder einem bestimmten nationalen bzw. kulturellen Kontext nachzeichnen.3 Darüber hinaus mehren sich nun Stimmen, die auf ganz andere Traditionsstränge in der republikanischen Ideengeschichte hinweisen, auf ganz unterschiedliche, parallel laufende Republikanismen oder auf epochale Brüche innerhalb der republikanischen Ideengeschichte. So hat etwa jüngst John McCormick in mehreren Aufsätzen und dann mit seinem vielbeachteten, 2011 veröffentlichten Buch Machiavellian Democray für Diskussionen gesorgt. McCormick behauptet, dass Machiavelli entgegen der „elitistischen“ Deutung der republikanischen Tradition der Cambridge School viel stärker die Wichtigkeit des direkten Einflusses deliberativer demokratischer Versammlungen des Volkes betont habe. „Beyond conventional republican principles and practices, in Book I of The Discourses, Machiavelli advocates procedures for the popular indictment of officials, judgment by the peo1 2 3

Vgl. Cicero, De re publica/Vom Gemeinwesen, herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1979 und ders., De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln, herausgegeben von Heinz Gunermann, Stuttgart 1976. Siehe Kapitel II.1. in diesem Band. Vgl. Niccolo Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt von Rudolf Zorn, Stuttgart, 1977. Siehe Kapitel II.2. in diesem Band. Vgl. für einen derartigen Versuch etwa Eric Nelson, The Greek Tradition in Republican Thought, Cambridge 2004 und meine eigene Untersuchung: Philipp Hölzing, Republikanismus und Kosmopolitismus. Eine ideengeschichtliche Studie, Frankfurt/M. 2011.

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I. Der Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte

ple on certain kinds of legal cases, and the establishment of class-specific advocacy institutions; praises the people gathering collectively in deliberative bodies; and, generally, interprets Roman representative institutions in more democratic ways. These practices and institutions may seem superficially consonant with republicanism, but, as I will elaborate below, the latter had always prescribed a much more narrow role for the populace in republics or „mixed regimes“ – at least too narrow to warrant association with Machiavelli and to render republicanism a resource for contemporary progressive politics.“4 Eric Nelson hat dagegen in seinem 2010 erschienenen Buch The Hebrew Republic überzeugend auf die Einflüsse der biblischen, jüdisch-christlichen Tradition auf den Republikanismus der frühen Neuzeit hingewiesen. Für Nelson zeigt sich im 17. Jahrhundert im Zuge der Reformation eine verstärkte Auseinandersetzung von Protestanten mit rabbinischen Bibelkommentaren, die zu einer Radikalisierung und einem Bruch in der republikanischen Tradition geführt habe. Die Republik sei dadurch zunehmend zu einer die Monarchie ausschließenden Staatsform geworden: „The Hebrew revival made republican exclusivism possible by introducing into Protestant Europe the claim that monarchy is sin.“5 Es ist ja tatsächlich kaum zu übersehen, welche bedeutende Rolle etwa bei Harrington das alte Israel als vorbildliche Republik spielt,6 und die republikanische Ideengeschichtsschreibung müsste hier sicher neben der Betonung der antiken griechischen oder römischen Wurzeln die biblisch-christlichen des neuzeitlichen Republikanismus noch viel stärker untersuchen und das jeweils eigentümliche Mischungsverhältnis der drei Traditionsstränge rekonstruieren.7 Schließlich hat als ein letztes Beispiel Jonathan Israel im Rahmen seiner Deutung der Aufklärung – die bekanntlich zwischen einer moderaten und einer radikalen Aufklärung unterscheidet8 – argumentiert, dass der niederländische Republikanismus, wie er vor allem von Spinoza ausgehend sich verbreitet habe, nicht mit der angelsächsischen republikanischen Tradition gleichgesetzt werden dürfte. Der niederländische Republikanismus in der spinozistischen Tradition sei viel radikaler, demokratischer und philosophisch allgemeiner gewesen als der parallel sich entwickelnde angelsächsische Republikanismus und sei daher der eigentliche Entstehungsherd des modernen demokratischen Republikanismus. „Where English com4

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John McCormick, Machiavelli Against Republicanism. On the Cambridge School’s „Guiccardinian Moment“, in: Political Theory 31 (2003), 615–643, 617, und ders., Machiavellian Democracy, Cambridge 2011. Vgl. zur Diskussion etwa Ryan Balot, Stephen Trochimchuk, The Many and the Few: On Machiavelli’s „Democratic Moment“, in: The Review of Politics 74 (2012), 559–588. Vgl. Eric Nelson, The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought, Harvard 2010, 6. Vgl. James Harrington (1656), Oceana, herausgegeben von Hermann Klenner und Klaus Udo Szudra, Stuttgart 1991, 14. Vgl. dazu auch in ersten Ansätzen Hölzing, Republikanismus und Kosmopolitismus, 118 ff. sowie die Kapitel zur Res Publica Christiana. Siehe zu Harrington das Kapitel II.3. in diesem Band. Vgl. als kurzen Überblick Jonathan Israel, A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy, Princeton 2010.

3. Aktuelle Kontroversen

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promise produced an increasingly stable balance between king and Parliament which encouraged a stress in 18th-century British culture on the uniqueness and singularity of the British model, the elimination of monarchy, aristocracy and a state church in the Dutch model continued to encourage a more philosophical, generalized approach which by the 1750s had been taken over – as a result of a complex transition process in which Dutch-based Huguenots played a vital part – by French republican and quasi-republican theorists such as Boulanger, Mably, Diderot and, in some respects, Rousseau. It was this Dutch–French trajectory, arguably, and not the English tradition which – despite having been largely submerged and ignored in histories of western political thought – constitutes the main line in the emergence of modern western democratic republicanism.“9 Israel stellt damit erneut die faszinierende Frage, welche Rolle der Republikanismus – und vor allem auch welche Art von Republikanismus – im Prozess der Aufklärung und der Herausbildung der modernen Welt gespielt hat. Zudem holt er mit seiner Deutung nun den französischen Republikanismus der Philosophes und Rousseaus zurück in die republikanische Ideengeschichte, der von der Cambridge School und Pettit als nicht zur republikanischen Ideengeschichte gehörender Populismus bezeichnet und abgelehnt wird.10 Hieran lässt sich direkt eine letzte ideengeschichtliche Bemerkung anschließen. Neben der in der angelsächsischen Forschung eher vernachlässigten bzw. systematisch ausgeschlossenen niederländisch-französischen republikanischen Tradition, auf die Israel hinweist, scheint mir auch der deutsche Republikanismus, wie er sich insbesondere in den Werken Erhards, Fichtes, Forsters, Kants, Knigges, Rebmanns oder Schlegels als Reaktion auf die Französische Revolution nach 1789 herausbildet, bisher stiefmütterlich behandelt worden zu sein.11 Ich glaube, dass sich hier 9 10

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Jonathan Israel, The Intellectual Origins of Modern Democratic Republicanism (1660–1720), in: European Journal of Political Theory 3 (2004), 7–36, 10. Vgl. zur Rekonstruktion einer französischen republikanischen Tradition etwa Claude Nicolet, L‘Idée républicaine en france 1789–1924, Paris 1982 und Serge Audier, Machiavel, conflit et liberté, Paris 2005. Für die französische Rezeption der Republikanismusforschung zentral ist Jean-Fabien Spitz, La Liberté politique, Paris 1995, einführend auch Serge Audier, Les Théories de la république, Paris 2004. Generell zum Einfluss der Commonwealthmen auf den Kontinent im 18. Jahrhundert Franco Venturi, Utopia and Reform in the Enlightenment, Cambridge 1971 und zum kontinentalen Republikanismus Biancamaria Fontana (Hg.), The Invention of the Modern Republic, Cambridge 1994. Miguel Abensour hat ein radikaldemokratisches, republikanisches machiavellisches Moment in einem originellen Buch schließlich bis in 19. Jahrhundert zum frühen Marx verfolgt. Vgl. Miguel Abensour, Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Berlin 2012. Siehe zu Rousseau das Kapitel II.4. in diesem Band. Vgl. etwa Johann Benjamin Erhard (1975), Über das Recht des Volkes zu einer Revolution, in: Johann Benjamin Erhard, Über das Recht des Volkes zu einer Revolution und andere Schriften, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hellmut G. Haasis, München 1970, Johann Gottlieb Fichte (1793), Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, in: ders., Schriften zur Revolution, herausgegeben von Bernard Willms, Köln 1967, Georg Forster (1792), Über das Verhältniß der Mainzer gegen die Franken, in: ders., Werke, Bd. 3, herausgegeben von Gerhard Steiner, Leipzig 1971, Immanuel Kant (1795/1796), Zum ewigen Frieden, in: ders., Werke, Bd. XI, Frankfurt/M. 1977, Adolf Freiherr Knigge, Benjamin

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I. Der Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte

eine nochmals etwas anders gelagerte Tradition des Republikanismus auffinden lässt, die ideengeschichtlich zum einen deswegen interessant ist, weil einige für die weitere Moderne sehr einflussreiche Denker zu ihren Protagonisten gehören, ohne dass diese bisher explizit als Republikaner angesehen wurden. Und zum anderen ist sie ideengeschichtlich einen genaueren Blick wert, weil hier, soweit ich sehe, mit nie zuvor da gewesener Radikalität kosmopolitische Modelle der Republik am Beginn der Moderne diskutiert werden, die dann allerdings unter dem Druck des Nationalismus im 19. Jahrhundert in Vergessenheit geraten, wie ja auch der Republikanismus unter dem Druck des Liberalismus im 19. Jahrhundert zunehmend in Vergessenheit gerät.12 In der gegenwärtigen postnationalen, globalisierten Konstellation sollte uns neben der momentan viel diskutierten globalgeschichtlichen Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft – die auch auf das grenzüberschreitende Wandern von Ideen verweist, das die Ideengeschichte allerdings schon immer als eines ihrer Haupthemen hatte – aus meiner Sicht ebenso die Ideengeschichte des politischen Denkens über das Nationale und Internationale, die Globalisierung und den Kosmopolitismus interessieren.13 Rückgebunden an die republikanische Ideengeschichte könnte daher eine zentrale Forschungsfrage lauten: Welche Ideen einer internationalen Politik oder weniger anachronistisch: welche Ideen einer über das eigene republikanische Gemeinwesen hinausgehenden politischen Struktur treten in der republikanischen Ideengeschichte auf? Grob zusammengefasst, finden sich dort sehr unterschiedliche Republikmodelle, die wiederum teilweise stark voneinander abweichende Modelle der Einbindung in die überregionale und internationale politische Umwelt nach sich ziehen: zum Beispiel die Stadtrepublik der Antike und frühen Neuzeit, die Res Publica Christiana des Mittelalters, der britische republika-

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Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien, oder Nachricht von seinem und seines Herren Vetters Aufenthalte an dem Hofe des großen Negus, oder Priesters Johannes, 2 Thle., Göttingen, Frankfurt und Leipzig 1791, Georg Friedrich Rebmann, Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands, Leipzig 1793 und Friedrich Schlegel (1796), Versuch über den Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 7, herausgegeben von Ernst Behler, München 1966. Siehe zu Kant, Forster und Schlegel die Kapitel II.6–II.8 in diesem Band. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk, Verfassungsideen in praktischer Absicht? Entwürfe für eine deutsche Republik 1792–1799, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 4 (1992), 62–84 und dies., Reich oder Republik? Pläne und Ansätze zur republikanischen Neugestaltung im Alten Reich 1790–1800, in: Heinz Duchhardt, Andreas Kunz (Hg.), Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780–1815, Mainz 1998, 21–50, sowie Athanasios Moulakis, Kants Konzept der Republik und die atlantische Tradition des Republikanismus, in. Klaus Dicke, Klaus-Michael Kodalle (Hg.), Republik und Weltbürgerrecht, Köln 1998, 241–264, Axel Kuhn, Republikvorstellungen deutscher Jakobiner, in: Helmut Reinalter (Hg.), Republikbegriff und Republiken seit dem 18. Jahrhundert im europäischen Vergleich, Frankfurt/M. 1999, 83–100, Hölzing, Republikanismus und Kosmopolitismus, ders., Romantischer Republikanismus. Der Fall Friedrich Schlegel, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1 (2011), 195–208, und ders., Von Kant zu Schlegel. Georg Forsters Republikanismus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1 (2013) 29–41. Vgl. dazu etwa David Armitage, Foundations of Modern International Thought, Cambridge 2012. Für den Republikanismus vgl. die frühe Studie von Nicolas G. Onuf, The Republican Legacy in International Thought, Cambridge 1998.

3. Aktuelle Kontroversen

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nische Territorialstaat samt Kolonien eines Harrington, die föderale Stadtstaatenrepublik Spinozas, die föderale kontinentale Republik Madisons und schließlich die Weltrepublik eines Kant oder Schlegel.14 Das führt mich zu einer letzten aktuellen Kontroverse um die politische Theorie des Republikanismus, wie sie von Skinner und vor allem von Pettit vorgelegt wurde. Es versteht sich fast von selbst, dass eine aktuelle politische Theorie des Republikanismus sich zu den Vorgängen der Globalisierung, Fragen der globalen Gerechtigkeit und der internationalen politischen Verrechtlichung, die etwa durch die Vereinten Nationen, die Europäische Union oder die Welthandelsorganisation veranschaulicht werden, verhalten muss.15 So haben sich dann auch unter anderen Skinner und Pettit 2010 in einem Sonderheft des European Journal of Political Theory mit der Frage befasst, wie eine internationale oder globale politische Theorie des Republikanismus auszusehen habe, wobei erneut Pettit einen ersten konzisen systematischen Entwurf unter dem Titel „A Republican Law of Peoples“ vorgelegt hat.16 Ich möchte Pettits Theorie eines republikanischen Völkerrechts hier nur ganz kurz umreißen, da wir am Ende dieses Buches auf sie zurückkommen werden. Pettit geht im Anschluss an sein republikanisches Ideal der Nicht-Beherrschung davon aus, dass nach republikanischer Auffassung nicht nur einzelne Bürger innerhalb eines republikanischen Gemeinwesens den Status der Freiheit im Sinne von Nicht-Beherrschung zugesichert bekommen sollten, sondern auch republikanische Gemeinwesen im internationalen Verkehr miteinander. Da „funktionierende“ republikanische Staaten ihre Bürger repräsentierten, würde eine Beherrschung dieser Staaten durch andere Staaten nämlich direkt zu einer Beherrschung der einzelnen Bürger des beherrschten Staates führen. Daher habe – so vor allem dann auch Skinner in seinem Beitrag – die neorömische Tradition nicht nur Wert auf die Freiheit des Bürgers im Inneren, sondern auch auf die Freiheit und Unabhängigkeit der Republik nach außen gelegt. Eine internationale republikanische politische Theorie habe daher eine internationale Politik der Nicht-Beherrschung zwischen Staaten zum normativen Ziel. Ideengeschichtlich ist allerdings äußerst strittig, ob das das durchgehende Modell internationaler Politik in der von Skinner und Pettit bemühten republikanischen 14 15

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Vgl. Hölzing, Republikanismus und Kosmopolitismus, und ders., Romantischer Republikanismus. Vgl. etwa für erste republikanische Auffassungen der EU Armin von Bogdandy, Die europäische Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 9 (2005), 20–26. Vgl. auch zu Fragen der Globalisierung und internationalen Politik James Bohman, Cosmopolitan Republicanism, in: The Monist 84 (2001), 3–21, ders., Democracy across Borders. From Demos to Demoi, Cambridge 2007, Lawrence Quill, Liberty after Liberalism. Civic Republicanism in a Global Age, New York 2006 und Andreas Niederberger, Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft. Normative Grundlagen legitimer Herrschaft in einer globalen politischen Ordnung, Berlin, New York 2009. Vgl. Philip Pettit, A Republican Law of Peoples, in: European Journal of Political Theory 9 (2010), 70–94 und Quentin Skinner, On the Slogans of Republican Political Theory, in: European Journal of Political Theory 9 (2010), 95–102. Siehe auch den Sammelband Samantha Besson, Jose Luis Marti (Hg.), Legal Republicanism. National and International Perspectives, Oxford 2009.

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I. Der Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte

Tradition ist. Gerade der für den neorömischen Republikanismus so wichtige Machiavelli scheint mit seinem Lob des römischen Imperialismus zumeist eher eine auf internationale Beherrschung abzielende republikanische Außenpolitik bevorzugt zu haben; und der englische Republikaner Harrington hatte mit britischen Kolonien und einer Pax Britannica offenbar auch nicht durchgehend ein Problem.17 Hier wäre also nochmals genauer zu prüfen, welche Modelle von Außenpolitik und internationaler Politik sich in der republikanischen Ideengeschichte auffinden lassen. Der Republikanismus mit seinem realistischen Fokus auf Machtverhältnissen und seinem normativen Ziel der Absicherung gegen diese durch institutionelle Machtteilungen könnte aber für die normative Theorie internationaler Politik durchaus wichtige Anregungen bereit halten. Denn wie Andrew Hurrell und Terry Macdonald in einem aktuellen Handbuchartikel über „Ethics and Norms in International Relations“ fordern, sollte die normative Theorie der internationalen Politik nach langen Jahren des Streits über moralische Prinzipien in eine realistischere Phase eintreten: „It is essential that normative analysis of global institutions […] extend its focus beyond the issues of moral principle articulated trough ideal theories of justice, and resume the more traditional habit of placing problems of power and order at the forefront of theoretical inquiry.“18 Ein erneuter Blick in das Archiv der republikanischen Ideengeschichte könnte daher lohnen – und vielleicht lassen sich dabei für die heutigen Bedingungen der Globalisierung auch ideengeschichtlich tragfähigere und zugleich politisch und systematisch attraktivere republikanische Modelle einer internationalen Politik als das oben kurz umrissene neorömische von Skinner und Pettit finden. Denn wie genau die Nicht-Beherrschung zwischen Staaten angesichts der Machtverhältnisse in der internationalen Gesellschaft gesichert werden soll, bleibt bei Skinner und Pettit bisher eher vage. Im dritten Teil dieses Buches komme ich am Beispiel des Buchs Bounding Power von Daniel Deudney, das eine solche realistische und zugleich normative anspruchsvolle republikanische Theorie internationaler Politik vorlegt, auf diese Fragen zurück.19

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Vgl. auch dazu Philipp Hölzing, Republikanismus und Kosmopolitismus. Andrew Hurrel, Terry Macdonald, Ethics and Norms in International Relations, in: Walter Carlsnaes, Thomas Risse, Beth A. Simmons (Hg.), Handbook of International Relations. Second Edition, London, Thousand Oaks, New Dehli 2013, 57–85, 78 f. Vgl. für eine realistische Wende in der Politischen Philosophie generell Raymond Geuss, Philosophy and Real Politics, Princeton 2008. Daniel Deudney, Bounding Power. Republican Security Theory from the Polis to the Global Village, Princeton 2008.

II. REPUBLIKANISCHE IDEENGESCHICHTE

1. CICERO: DIE DEFINITION DER REPUBLIK Der 106 v. Chr. geborene Marcus Tullius Cicero zählt zu den berühmtesten Philosophen, Politikern und Rednern der römischen Republik. Aus dem ländlichen Ritterstand kommend, machte er in Rom schnell als homo novus Karriere und stieg bis zum Konsul – dem höchsten politischen Amt der Republik – auf, fiel jedoch dann als Verteidiger der alten republikanischen Verfassung den Bürgerkriegen um die Macht im römischen Reich, die zum Untergang der Republik führten, zum Opfer und wurde 43. v. Chr. von Anhängern des Antonius enthauptet. Als Politiker wie auch als Theoretiker stand Cicero in den letzten hundert Jahren nicht mehr hoch im Kurs, wofür nicht zuletzt seine vernichtende Aburteilung durch den großen deutschen Althistoriker Theodor Mommsen verantwortlich sein dürfte. Ihre Schärfe und dauerhafte Wirkung gewann Mommsens Polemik wahrscheinlich nicht zuletzt durch ihre literarische Qualität, die ihm schließlich den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Erklären lässt sie sich aus Mommsens eigener politischer Situation als frustrierter 1848er, der in Casär seine Sehnsucht nach einer nationalen Einigungsfigur hinein projizierte und dem Cicero folglich als reaktionärer Verhinderer dieser Einigung erscheinen musste.1 Mommsen schimpft Cicero daher auch „einen Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht“, „einen kurzsichtigen Egoist“, der „als Schriftsteller (…) vollkommen ebensotief wie als Staatsmann“ stehe, „ so durchaus Pfuscher“ sei, „eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes“, „an Gedanken über alle Begriffe arm“, „matt und leer, wie nur je die Seele eines aus seinen Kreisen verschlagenen Feuilletonisten“, von „schwach überfirnisster Oberflächlichkeit“ und dergleichen mehr.2 Davon hat sich Cicero nicht mehr erholt.3 Auch wenn von philologischer Seite versucht wurde, ein neues Cicerobild4 zu etablieren, so hat doch Mommsens Polemik verbunden mit dem allmählichen Absterben des Humanismus bis heute Wirkung gezeigt und in der politischen Philosophie zu einem weitgehenden Desinteresse an Cicero geführt.5 Bis mindestens in 18. Jh. kann Cicero dagegen als einer der einflussreichsten, wenn nicht gar als der einflussreichste antike Autor – noch vor Platon und Aristoteles – 1 2 3 4 5

Vgl. Friedrich Gundolf, Cäsar im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1926, 57. Theodor Mommsen, Römische Geschichte Bd. 3, Berlin 1904, 617–621. Vgl. Pierre Boyance, Das Ciceroproblem, in: Bernhard Kytzler (Hg.), Ciceros Literarische Leistung, Darmstadt 1973, 11–32. Vgl. den Sammelband Karl Büchner (Hg.), Das Neue Cicerobild, Darmstadt 1971. Ausnahmen sind Neal Wood, Cicero’s Social and Political Thought, Berkley 1988, und Robert T. Radford, Cicero. A Study in the Origins of Republican Philosophy, New York 2002, sowie die Sammelbände J. G. F. Powell (Hg.), Cicero the Philosopher. Twelve Papers, Oxford 1995, André Laks, Malcolm Schofield (Hg.), Justice and Generosity. Studies in Hellenistic Social and Political Philosophy, Cambridge 1995, und Emanuel Richter, Rüdiger Voigt, Helmut König (Hg.), Res Publica und Demokratie. Die Bedeutung Ciceros für das heutige Staatsverständnis, Baden-Baden 2007.

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II. Republikanische Ideengeschichte

gelten. Sein Einfluss auf die lateinisch-mittelalterliche Welt, auf die italienische Renaissance und den Humanismus ist kaum zu überschätzen6, und noch in der Zeit der Aufklärung ist nicht nur Herders Menschenbild entscheidend durch Cicero geprägt.7 Auch in der Geschichte der politischen Philosophie ist Ciceros Einfluss auf die Naturrechtslehre, auf den Neostoizismus und die moderne Vertragstheorie unübersehbar.8 Robert T. Radford geht gar soweit, zu behaupten: „We should think of Cicero as the start of modern political thought“.9 Neal Wood ist etwas vorsichtiger und zieht die Formulierung „transition to modern political thought“ vor.10 Dennoch ist auch für ihn klar: „There can be no question of the importance of his transmission to the early modern era of the Stoic conceptions of natural law and justic and universal moral equality“.11 Für Wood war Cicero der erste große politische Denker, der eine formale Definition des Staates lieferte, der bereits rudimentär Staat und Gesellschaft trennte und für den der Staat in erster Linie eine Institution zum Schutz des Privateigentums war. Er nennt ihn daher auch den ersten „systematic constitutionalist“.12 Wir wollen uns hier jedoch auf den Republikaner Cicero konzentrieren und fragen, was seinen Republikanismus ausmacht. Dies scheint ein sinnvoller Startpunkt für eine republikanische Ideengeschichte zu sein, da in der aktuellen Forschungsdiskussion die Rede von einem „neo-roman republicanism“13 ist, der dann von einem griechischen, auf Aristoteles zurückgeführten und von Hans Baron und Hannah Arendt vertretenen „civic humanism“ abgegrenzt zu werden pflegt.14 Der neorömische Republikanismus lässt sich, wie wir im ersten Teil gesehen haben, als institutionenorientierter Republikanismus charakterisieren. Die institutionelle Ordnung der Republik, d. h. eine balancierte Mischverfassung, und die bürgerliche Partizipation und Tugend, dienten ihm zufolge als Instrumente zum Schutz der Freiheit der Republik nach außen und der negativen Freiheit der Bürger im Innern. Dagegen kann der Bürgerhumanismus als bürgerorientierter Republikanismus charakterisiert werden, dem die bürgerliche Partizipation in der Republik und die bürgerliche Tugend als intrinsisches Gut gelten, als substanzieller Teil eines guten Lebens. Mit dieser Unterscheidung werden wir im Folgenden an Cicero herantreten. Auf der 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Tadeusz Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte, Leipzig 1912. Vgl. Friedrich Klingner, Humanität und Humanitas, in: ders., Römische Geisteswelt, München 1941. Vgl. Marcus Llanque, Die politische Rezeptionsgeschichte von Cicero, in: Richter, Voigt, König (Hg.), Res Publica und Demokratie, 223–242. Radford, Cicero, 71. Wood, Cicero’s Social and Political Thought, 10. Ebd., 11. Ebd., 12. Vgl. zum neorömischen Republikanismus wie oben bereits anegführt vor allem Quentin Skinner, Liberty before Liberalism, Cambridge 1998 und Philip Pettit, Republicanism. A Theory of Freedom and Government, Oxford 1997. Vgl. zum Bürgerhumanismus Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958 und Hans Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance: Civic Humanism and republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny, Princeton 1955, ders., Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance, Berlin 1992, und James Hankins (ed.), Renaissance Civic Humanism. Reappraisals and Reflections, Cambridge 2000.

1. Cicero: Die Definition der Republik

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einen Seite ein institutionenorientierter Republikanismus, der die negative Freiheit seiner Bürger als Unabhängigkeit oder Nicht-Beherrschung durch eine balancierte juridisch-institutionelle Ordnung gewährleistet sieht; auf der anderen Seite ein bürgerorientierter Republikanismus, der die positive Freiheit seiner Bürger erst durch deren tugendhafte Partizipation realisiert sieht. In der Diskussion um den neorömische Republikanismus und sein Verhältnis zum Bürgerhumanismus wird zumeist nur kurz verweisend oder gar nicht auf dessen römische Wurzeln eingegangen. Der Republikanismus findet aber buchstäblich seinen ersten philosophischen Ausdruck eben in den politischen Schriften Ciceros, weshalb eine Auseinandersetzung mit der Unterscheidung zwischen neorömischem Republikanismus und Bürgerhumanismus hier ansetzen muss. Nur durch diesen Rückgang auf Cicero kann geklärt werden, ob die Bezeichnung „neorömischer Republikanismus“ in Abgrenzung zum Bürgerhumanismus sinnvoll und historisch tragfähig ist oder ob nicht der römische Republikanismus in seinem Ursprung selbst zugleich ein Bürgerhumanismus ist. Wir haben daher hier zu fragen, wie sich der römische Republikanismus im Falle Ciceros darstellt. Und lässt sich dieser überhaupt vom griechischen politischen Denken trennen, dem der Bürgerhumanismus zugerechnet wird? Ist es nicht vielmehr so, dass insbesondere peripatetische und stoische Elemente in Ciceros Republikanismus eine Verbindung eingehen? So verweist etwa Rudolf Stark darauf, dass „es keinem Zweifel unterliegen“ könne, „dass sich Cicero von jener bei Panaitios vorliegenden Verbindung von akademisch-peripatetischer und stoischer Philosophie (…) zur Fortführung dieses Amalgamierungsprozesses in seiner Staatsphilosophie bestimmen ließ“.15 Es ist jedoch meines Erachtens überaus wichtig, zu sehen, dass Cicero dieses Amalgam, also die abstrakte griechische Staatstheorie, auf die römische Republik überträgt. Diese wird ihm dadurch zum real existierenden Idealstaat: eine Apotheose der römischen Republik. Diese Projektion des griechischen Idealstaats auf die römische Republik erzeugt das Originäre in Ciceros politischer Philosophie, denn es liegt auf der Hand, dass diese Projektion auf die von Cicero aufgegriffenen griechischen Konzeptionen zurückwirkte und sie inhaltlich modifizierte. Malcolm Schofield vertritt daher die These, dass Ciceros Definition der Res Publica die spezifische Funktion eines „criterion for legitimacy“ habe, um zwischen legitimen und illegitimen „constitutions/politeiai/set-ups/regimes“ zu unterscheiden. Dies sei „a distinctivly Roman and Ciceronian input into the theory of Republicanism, not one inherited from whatever Greek models Cicero was using“.16 Wie immer man zu dieser These Schofields stehen mag – und wir werden im Folgenden auf sie zurückkommen –, so scheint mir zumindest richtig zu sein, dass Ciceros politische Philosophie nicht einfach das von Stark vertretene Amalgam griechischer Philosophie ist, sondern durch die Übertragung auf die römische Republik eine gewisse Eigenständigkeit gewinnt. Ob diese Eigenständigkeit allerdings mit der Unterscheidung von neorömischem Republikanismus und Bürgerhu15 Rudolf Stark (1954), Ciceros Staatsdefinition, in: Richard Klein (Hg.), Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt 1980, 332–347, 333. 16 Malcolm Schofield, Ciceros Definition of Res Publica, in: Powell (Hg.), Cicero the Philosopher, 63–83, 64.

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II. Republikanische Ideengeschichte

manismus, also der Unterscheidung zwischen römischer Herrschaft des Gesetzes und Institutionenorientierung und der griechischen bürgerliche Partizipation und Tugend zusammenfällt, bleibt fraglich. Klarheit kann nur die Rekonstruktion von Ciceros Republikanismus bringen. Grundprämissen: Primat der theoretisch informierten Praxis und moderater Skeptizismus Cicero war ein ausgesprochener Homo Politicus, ein Mensch, der für die Politik lebt und in Gedanken immer bei der römischen Politik weilt. Philosophie – die vita contemplativa – betreibt er gewissermaßen nur als Kompensation, wenn ihm die Mitwirkung – die vita activa – an der römischen Politik durch die politischen Verhältnisse versagt ist. Seine philosophischen Schriften, gerade die der politischen Philosophie, haben somit immer eine Ausrichtung auf die politische Praxis, und noch wenn ihm die direkte Beteiligung an der Politik versagt ist, versucht er, indirekt über seine philosophischen Schriften auf sie einzuwirken. Wir können hier eine gewisse Umkehrung der aristotelischen Rangfolge von bios politikos und bios theoretikos beobachten. In dieser Umkehrung der Rangfolge von Theorie und Praxis zugunsten der letzteren kann man bereits die ganze, besondere römische Eigenständigkeit von Ciceros politischer Philosophie beschlossen liegen sehen, die dann auf alles weitere ausstrahlt. Für Cicero steht der bios politikos zwar nicht über dem bios theoretikos, aber – wie wir noch im Zusammenhang mit der Figur des wahren Redners sehen werden – das philosophische Wissen wird in den Dienst der politischen Praxis genommen. In diesem Sinne schreibt er im Proömium von De re publica: „Also ist jener Bürger, der alle durch Befehl und Buße der Gesetze dazu zwingt, wovon die Philosophen mit ihrem Wort nur wenige mit Mühe zu überzeugen vermögen, denen noch vorzuziehen, die diese Dinge erörtern, den Lehrern selber. Denn welche Rede dieser Leute ist so erlesen, dass sie einem durch das öffentliche Recht und die moralische Ordnung wohl gefügten Staate vorzuziehen wäre?“ (Rep. I/3 91) Für Cicero gilt der Primat einer theoretisch informierten Praxis, was nicht meint, der Primat der praktischen Philosophie, sondern der Primat der tatsächlichen politischen Praxis, das Leben als aktiver Bürger in der Wirklichkeit einer gerechten Republik. Dieser sollte jedoch, um seiner Aufgabe gerecht zu werden, philosophisch gebildet sein. Es deutet sich hier bereits an, dass die Unterscheidung von neorömischem Republikanismus und Bürgerhumanismus im Hinblick auf den römischen Republikaner Cicero zumindest fragwürdig ist. Mit diesem Primat einer theoretisch informierten Praxis scheint mir nun Ciceros moderater Skeptizismus verbunden, da in ihm eine den Unwägbarkeiten der politischen Praxis gegenüber offene, geistige Haltung zum Ausdruck kommt. „Wie die übrigen sagen, es sei das eine bestimmt, das andere unbestimmt, so sagen wir, anderer Meinung als diese, es sei das eine wahrscheinlich, das andere dagegen nicht.“ (Off. I/7 147) Das ist der durch Philon von Larissa geprägte akademische Zug in Ciceros Denken, die Orientierung an dem, was wahrscheinlich (probabile) ist, und die Ablehnung sowohl des Dogmatismus, zu dem sich der Schüler Philons,

1. Cicero: Die Definition der Republik

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Antiochos von Askalon, mit seiner „Alten Akademie“ zurückwandte, als auch des radikalen Skeptizismus eines Karneades und Kleitomachos. Politisch äußert sich dies in einer urbanen, liberal-konservativen und dem Kompromiss geöffneten, zur Revision der eigenen Überzeugungen bereiten Einstellung, die sich in der öffentlichen Auseinandersetzung auch eines Besseren belehren lässt, „weil ebendiese Wahrscheinlichkeit nicht ans Licht treten könnte, wenn nicht von beiden Seiten ein Wettbewerb der Argumente durchgefochten würde“ (Off. I/8 149). Sie wird aber nicht durch einen radikalen Zweifel handlungsunfähig und prinzipienlos. „Wir sind ja keine Leute, deren Geist irrend umherschweift und nie eine Richtschnur kennt, der er folgen könnte. Denn was wäre das für eine geistige Haltung oder vielmehr für eine Lebenseinstellung, wenn nicht nur die Methode der Erörterung, sondern auch die der Lebensgestaltung beseitigt wäre.“ (Off. I/7 147) Was wahrscheinlich ist bzw. sich bewährt hat – hier lässt sich wohl auch ein gewisser Konservatismus von Cicero verorten, die Orientierung am mos maiorum – kann und sollte unter Aufwendung aller Mittel der öffentlichen Redekunst verteidigt werden.17 Dies sind die Grundprämissen von Ciceros politischer Philosophie, der Primat einer theoretisch informierten Praxis und der moderate Skeptizismus, die Orientierung am Wahrscheinlichen. Der wahre Redner als optimo cive Bei der Rekonstruktion von Ciceros Republikanismus werden wir uns auf die nicht nur zeitlich sondern auch inhaltlich eng zusammenhängenden Dialoge De oratore, De re publica und De legibus konzentrieren, wobei gelegentlich die zeitlich spätere Schrift De officiis ergänzend hinzugezogen wird.18 Wenden wir uns aber zunächst Ciceros Ideal des wahren Redners zu. Da das Leben als aktiver Bürger und Politiker für Cicero, wie wir gesehen haben, die höchste Lebensform ist, ist für ihn der wahre Redner zugleich der vollkommene Bürger und Politiker.19 Um aber diese vollkommene Redekunst zu erreichen, muss der Redner für Cicero universal gebildet sein. Das ist Ciceros hohes, humanistisches Ideal, und das ist auch die zentrale These von 17

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Vgl. zum Skeptizismus Günter Gawlick, Woldemar Görler, Cicero, in: Helmut Flashar (Hg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike Bd. 4: Die hellenistische Philosophie, Basel 1994, 1009–1155, bei denen allerdings eine Erörterung der politischen Philosophie fehlt. Die angegebenen Schriften werden zitiert als (De O.) nach der Ausgabe Cicero, De oratore/ Über den Redner, herausgegeben von Harald Merklin, Stuttgart 1976, als (Rep.) nach der Ausgabe Cicero, De re publica/Vom Gemeinwesen, herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1979, als (Leg.) nach der Ausgabe Cicero, De legibus/Über das Gesetz, in: Cicero. Staatstheoretische Schriften, herausgegeben von Konrat Ziegler, Berlin 1988, und als (Off.) nach der Ausgabe Cicero, De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln, herausgegeben von Heinz Gunermann, Stuttgart 1976. Vgl. Jean-Louis Ferrary, The Statesman and the Law in the Political Philosophy of Cicero, in: Laks, Schofield (Hg.), Justice and Generosity, 48–73, der zu Recht darauf hinweist, dass das Thema von De re publica nicht nur das vollkommene Gemeinwesen (optimus status), sondern auch der vollkommene Bürger (optimo cive) sei.

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II. Republikanische Ideengeschichte

De oratore, die Cicero im Proömium gegen seinen Bruder Quintus vertritt. „Zuweilen pflegst du auch in unseren Gesprächen über dieses Thema anderer Auffassung als ich zu sein; denn während ich behaupte, die Kunst der Rede setzt höchste Bildung auf wissenschaftlichem Gebiet voraus, meinst du, sie sei von den Feinheiten der Theorie zu trennen und gewissermaßen auf Begabung und praktische Übung zu gründen.“ (De O. I/5 45). Ciceros Position im Dialog, das darf man mit einiger Sicherheit annehmen, vertreten die von ihm bewunderten Crassus und Antonius. Crassus beginnt sein Lob des universal gebildeten Redners mit einer in Ciceros gesamtem Werk grundlegenden Bestimmung des Menschen, den wesentlich ratio et oratio auszeichne. „Dies eine ist doch unser wesentlicher Vorzug vor den Tieren, dass wir miteinander reden und unseren Gedanken durch die Sprache Ausdruck geben können.“ (De O. I/32 59) Cicero versucht, durch die Verbindung dieser Wesensbestimmung des Menschen mit der Notwendigkeit des Wissens für den Redner die Rhetorik gegen Platons Verurteilung derselben als sophistischem Trug wieder zu rehabilitieren. Er beklagt die von Platon Sokrates zugeschriebene Trennung „zwischen Zunge und Gehirn, die dazu führte, dass uns die einen denken und die anderen reden lehrten“ (De O. III/61 485). Der vollkommene Redner, da er über das nötige Wissen verfügt, ist für Cicero der sachkundige und ethische Redner, womit er Platons Sophismusvorwurf unterläuft. Er ist für ihn damit zugleich der vollkommene Bürger und Staatsmann (optimo cive), sogar ein Staatsgründer, wozu er sowohl das Wissen als auch die Kunst der Rede benötigt, beide verschmelzen geradezu. Das ist der Primat der theoretisch informierten Praxis, von dem zuvor die Rede war. Platons Philosophenkönig wird dadurch zum wahren Redner und idealen römischen Bürger und Politiker gewendet. „Wer sollte darum nicht mit Recht bewundernd daran denken und es der höchsten Mühe Wert erachten“, lässt Cicero Crassus fragen, „in dem einen Punkt, in dem die Menschen einen wesentlichen Vorzug vor den Tieren haben, die Menschen selbst zu übertreffen? Ja, welche Macht sonst, um zum Allerwichtigsten zu kommen, vermochte die zerstreuten Menschen an einem Ort zu versammeln, sie von einem wilden und rohen Leben zu unserer menschlichen und politischen Gesittung hinzuführen oder schon bestehenden Staatswesen die Gesetze, Gerichte und Rechtsnormen vorzuschreiben?“ (De O. I/33 61) Crassus Antwort kann uns nun nicht überraschen, denn er behauptet, „dass sich auf das Walten und die Klugheit des wahren Redners nicht nur sein eigener Rang, sondern auch das Wohl der meisten Privatpersonen und des gesamten Staats entscheidend gründet“ (De O. I/34 61). Das ist sicher das Bild, das Cicero gerne seinen Lesern von sich selbst einprägen möchte. Seine Crassus in den Mund gelegte formale Definition, mit der er auch sich selbst beschreibt bzw. sein Ideal, lautet, dass der Titel des Redners nur dem zukommt, „der über jedes Thema, das in Worten zu entwickeln ist, sachkundig, wohlgegliedert, wirkungsvoll, aus dem Gedächtnis und mit angemessener Würde des Vortrags reden kann“ (De O. I/64 79). Was umfasst aber nun die nötige Sachkunde des Redners? Idealiter ist wohl für Cicero das gesamte philosophische Wissen, alles, was wahrscheinlich ist, vom vollkommenen Redner anzustreben und er selbst ist ja das beste Beispiel für diesen titanischen Versuch. Es gibt aber doch pragmatische Gewichtungen. Crassus unterscheidet im ersten Buch prinzipiell drei Teile der Philosophie, „die Erforschung des

1. Cicero: Die Definition der Republik

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geheimen Wesens der Natur, die feine Kunst der Dialektik und die Lehre von der Lebensführung und den Sitten“ (De O. I/68 81). Man erkennt hier die stoische Gliederung der Philosophie in Physik, Logik und Ethik. Im Hinblick auf Ciceros Praxisorientierung liegt auf der Hand, welchem Wissensgebiet die größte Wichtigkeit zukommt. „Der Redner muß sich“, so Crassus, „über den gesamten Bereich, der von der Lebensführung und den Sitten handelt, gründlich unterrichten; die übrigen Bereiche kann er, wenn er sie auch nicht studiert hat, trotzdem wirkungsvoll darstellen, falls es einmal nötig ist, wenn man ihm nur entsprechende Angaben und Hinweise gibt“ (De O. I/69 81). Der Gedanke scheint zu sein, dass der Redner ein aktiver Bürger, ein Mann des Forums ist. Um hier zu bestehen, ist es für Cicero essentiell, das Recht und die Sitten zu kennen, auch die inneren Beweggründe der Menschen, denn Fragen des richtigen Handelns, des Rechts und der Gerechtigkeit bestimmen die politische Öffentlichkeit. Naturwissenschaftliche Fragen oder gar abstrakte Diskussionen über Gesetze der Logik werden hier wohl eher selten auftreten und wenn doch einmal, dann kann sich der Redner zur Not bei einem Experten informieren. Dies sind die Verbindungsfäden, die vom Dialog über den Redner zu den Dialogen über das Gemeinwesen und die Gesetze, sowie dem Brief an seinen Sohn über die Pflichten führen: der wahre Redner als vollkommener Bürger, Staatsmann, gar Staatsgründer, der zumindest um Recht und Sitten weiß, sich aber prinzipiell universell bilden sollte. Die Definition der Republik Cicero Schrift De re publica, der wir uns nun zuwenden wollen, hat eine äußerst komplizierte Rezeptionsgeschichte hinter sich. Irgendwann in der Spätantike muss sie verloren gegangen sein. Einzelne Teile wurden uns aber etwa durch Laktanz und Augustinus überliefert. Über lange Zeit war jedoch nur ein Teil der Schrift unter dem Titel „somnium scipionis“ vollständig bekannt. Erst 1820 wurde der gesamte Text als Palimpsest in der Vatikanischen Bibliothek wieder entdeckt und ist bis heute nicht vollständig rekonstruiert. Die Schwierigkeiten, die sich daraus für eine Interpretation ergeben, sind offensichtlich und brauchen nicht im Einzelnen erörtert werden. Wir werden uns auf die, soweit in der jetzigen Form erkennbar, zentralen Gedanken und Definitionen beschränken. Das Proömium, das wohl den Bruder Quintus adressierte, begann wahrscheinlich mit einem Lob der bürgerlichen Tugend (virtus) und dem Leben für das Gemeinwesen im Gegensatz zum am Genuss orientierten Privatleben, womit Cicero seinen philosophischen Hauptfeind, die Epikureer angreift. In einem nächsten Schritt folgt der bereits referierte Vorrang der Praxis vor der Theorie. An einen aristotelischen Gedanken gemahnend, erklärt Cicero, dass das Ziel der Tugend „ganz in der Betätigung ihrer selbst“ liege. „Ihre größte Betätigung aber ist die Lenkung des Staates“ (Rep. I/2 89), denn „es gibt nichts, wobei menschliche Vollkommenheit näher an der Götter Walten heranreicht, als neue Staaten zu gründen oder bereits gegründete zu bewahren“ (Rep. I/12 101). In der Krisensituation der späten Republik schreibt sich Cicero selbst diese staatsmännische Tugend und die Bewahrung

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II. Republikanische Ideengeschichte

der Republik gegen Catilina zu. Im Dialog lässt er aber den berühmten jüngeren Scipio, der selbst noch zu den von Cicero bewunderten Politikern der für ihn guten Tage der Republik zählt, kurz vor seinem Tod – man beachte diesen Kontext des Dialogs – über die res publica sprechen. Nachdem Laelius zu Beginn des Dialogs den jüngeren Zuhörern nochmals eindringlich ins Gewissen geredet hat, sich nicht durch theoretische Fragen von der politischen Praxis ablenken zu lassen, bittet er Scipio darzulegen, „welches nach seiner Ansicht der beste Zustand des Staates (optimum statum civitatis) ist“ (Rep. I/33 125). Damit ist das zentrale Thema des Dialogs benannt, und Scipio lässt sich nach einigem Bitten dazu überreden, seine Meinung darüber darzulegen. Er beginnt seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass er „nicht (…) zufrieden“ sei mit dem, „was uns die größten und weisesten Männer aus Griechenland geschrieben hinterlassen haben“ (Rep. I/36 129). Scipio möchte wie einer der „Männer in der Toga“ (ebd.) über diese Fragen sprechen, also wie ein Angehöriger der römischen Nobilität, der aber über die griechischen Lehren unterrichtet ist. Hier zeigt sich Ciceros Anspruch, nicht einfach griechische Lehren zu amalgamieren und zu wiederholen, sondern durchaus eigenständig aus römischer Perspektive weiterzuentwickeln. Scipio beginnt mit einer Definition der res publica, da sonst „niemals nämlich wird eingesehen werden können, wie jenes beschaffen ist, worüber gesprochen wird“ (Rep. I/38 131). Seine berühmte Definition lautet: „Es ist also (…) das Gemeinwesen die Sache des Volkes (res publica res populi), ein Volk aber nicht jede zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge (coetus multitudinis), die in der Anerkennung des Rechts (iuris consensu) und der Gemeinsamkeit des Nutzens (utilitatis communione) vereinigt ist (sociatus).“ (Rep. I/39 131) Wir wollen nun, ausgehend von dieser Definition, Ciceros Republikanismus herausarbeiten. Man kann die Definition zunächst so umschreiben, dass sich die res publica über das Volk definiert, dieses aber wiederum über rechtlichen Konsens und gemeinsamen Nutzen. Es fällt dann auf, dass bei der Bestimmung des Volkes eine rechtliche und ein utilitaristische Komponente miteinander verbunden werden.20 Daher lässt sich in einer ersten Annäherung Folgendes festhalten: Die res publica ist etwas, das durch einen rechtlich geregelten Kooperationszusammenhang und damit durch das daran beteiligte und zugleich dadurch konstituierte Volk hervorgebracht wird. Wo kein rechtlich geregelter Kooperationszusammenhang, so der Umkehrschluss, da ist kein Volk und somit keine res publica. Schließlich wird diese res publica und ihre Bürgerschaft nicht durch eine ethnische Volkszugehörigkeit oder ein Territorium hervorgebracht, sondern einzig durch iuris consensu und utilitatis communione. Die Römer pflegten, ähnlich der griechischen koinonia ton politon, ein personales Staatsverständnis, das in der berühmten Formel senatus populusque Romanus (SPQR) zum Ausdruck kommt. Suerbaum nennt den römischen Staat deshalb auch einen „Personenverbandsstaat“ und Cicero bringt zweifellos ein solches Staats- und Bürgerverständnis zum Ausdruck.21 Dieses impliziert auch, dass nicht jeder, der zum Ethnos gehört oder sich auf römischem Territorium befin20 21

Vgl. Johannes Christes, Populus und res publica in Ciceros Schrift über den Staat, in: Richter, Voigt, König (Hg.), Res Publica und Demokratie, 85–103. Werner Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, Münster 1961, 4.

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det, Bürger ist und zum Volk gehört (z. B. Frauen, Sklaven). Der Status des Bürgers ist ein politisch-legaler Status, mit dem bestimmte (Freiheits-)Rechte und Pflichten verknüpft sind. Im Rahmen unserer Unterscheidung von institutionen- und bürgerorientierten Republikanismus bedeutet das zunächst, dass Cicero die res publica vom Volk, d. h. von den Bürgern her denkt. Diese verbinden sich zu einem Volk durch ein gemeinsames Rechtsbewusstsein und ein gemeinsames Interesse. Scipio verknüpft nun in einem nächsten Schritt seine Definition mit einem an Aristoteles’ zoon politikon erinnernden Argument. Dieser rechtlich geregelte Kooperationszusammenhang entsteht „nicht so sehr“ – aber doch ein wenig, als zweite Ursache – aus „Schwäche“, sondern hat seinen primären Grund in der „natürliche(n) Geselligkeit der Menschen“ (Rep. I/39 131). Wie bei Aristoteles wird diese natürliche Geselligkeit des Menschen als eines staatenbildenden Wesens im Anschluss mit dem Vermögen zu tugendhaftem Handeln und zur Unterscheidung von gerecht und ungerecht verbunden. „Denn gäbe es im Menschen nicht zur Gerechtigkeit bestimmte Samen sozusagen, würde man weder irgendeine Entwicklung der übrigen Tugenden noch des Gemeinwesens selbst finden.“ (Rep. I/41 133) Was aber meint hier der „zur Gerechtigkeit bestimmte Samen“? Und welchen Sinn hat die utilitaristische Komponente der Definition, wenn doch scheinbar der Mensch gleichsam durch seine Natur zur rechtlichen verregelten Kooperation gezwungen wird? Warum noch die Gemeinsamkeit des Nutzens? Zur Beantwortung dieser Fragen müssen wir auf die Schrift De officiis zurückgreifen.22 Dort versucht Cicero, an den Stoiker Panaitios anknüpfend, zu zeigen, dass Gerechtigkeit und Nützlichkeit letztlich identisch sind. Wer meine, Nützlichkeit und Gerechtigkeit liefen auseinander, der sehe „die Vorteile (…) in falscher Wertung“ (Off. III/36 251). Ungerechtigkeit könne nur dem Unwissenden und geistig Verwirrten „nützlich scheine(n)“ (Off. III/34 249), wie Cicero erklärt. In Anbetracht dieser Identität von Nützlichkeit und Gerechtigkeit scheint die utilitaristische Komponente in Scipios Definition auf den ersten Blick fast überflüssig. Sie fügt der iuris consensu nichts hinzu. Doch dieser Eindruck täuscht, denn sie hat für Cicero, neben der Absicherung gegen philosophische Gegner wie die Skeptiker Karneades und Kleitomachos, eine explanatorische Dimension. In der Anerkennung des Rechts, der Rechtsidee, findet das Gemeinwohl, die Gemeinsamkeit des Nutzens, und damit die res publica ihren zentralen Ausdruck. Dies führt uns zur stoischen Naturrechtslehre, die Cicero mit der Unterscheidung von natürlichem Gesetz (lex) und positivem Recht (jus) aufgreift. Ciceros klassisch-naturrechtliches Argument lautet: „Es besteht also, da es doch nichts Höheres gibt als die Denkkraft und sie dem Menschen sowohl wie dem Gott innewohnt, zunächst einmal zwischen Menschen und Gott die Gemeinschaft des Denkens. Denen aber, die das Denken gemeinsam haben, ist auch das richtige Denken, die absolute Vernunft, gemein; da dies das Gesetz ist, müssen wir Menschen auch durch das Gesetz als mit den Göttern verbunden gelten. Unter denen sodann, unter welchen Gemeinschaft des Gesetzes besteht, besteht auch Gemeinschaft des Rechts. 22 Vgl. zu dieser Schrift den Überblick bei A. A. Long, Cicero’s politics in De Officiis, in: Laks, Schofield (Hg.), Justice and Generosity, 213–240.

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II. Republikanische Ideengeschichte

Diejenigen aber, die dies gemein haben, müssen als Bürger desselben Staates gelten. Wenn sie aber denselben Befehlen und Gewalten gehorchen, dann noch viel mehr. Sie gehorchen aber dieser himmlischen Ordnung, dem göttlichen Geist und dem allgewaltigen Gott, so dass denn dieses gesamte Weltall als ein einziger, Götter und Menschen gemeinsamer Staat anzusehen ist.“ (Leg. I/7 225)23 Der Mensch verfügt über Vernunft und damit über die Fähigkeit der Einsicht in die vernünftige, ewige, göttliche Struktur der Natur. Diese wiederum hat ihm, der sich wesentlich durch die Komponenten natürliche Geselligkeit und ratio et oratio definiert, Gesetze für allen menschlichen Verkehr implementiert, die er Kraft seines perfektionierten Vernunftvermögens (perfecta ratio) erkennen kann und erkennen soll, will er seiner wahren Natur gemäß leben. Eine Verfassung, die mit ihrem positiven Recht (jus) und ihren Sitten nicht im Einklang mit dem Naturrecht (lex) steht, hat für Cicero im eigentlichen Sinn gar kein Recht und ist keine res publica. Es „ist klar ersichtlich, dass diejenigen“, so Cicero in De legibus, „welche für die Völker verderbliche und ungerechte Verordnungen aufgezeichnet haben, (…) eher alles andere gegeben haben als Gesetze, woraus deutlich zu erkennen ist, dass schon, wenn man das Wort „Gesetz“ erklärt, in ihm der Sinn und die Bedeutung liegt, das Gerechtes und Wahres gesetzt wird (…) bei dessen Fehlen ein Staat eben deswegen, weil es fehlt, für keinen Staat gelten kann“ (Leg. I/12 261). Es handelt sich dann eben nur um eine Ansammlung von Menschen, die von einem Tyrannen (was bei Cicero sowohl ein Einzelner als auch das Volk sein kann24) unterdrückt und zusammengehalten wird. Hier hat Schofields eingangs erwähntes „criterion for legitimacy“ seinen Ort. Er hat insofern mit seiner These Recht, als das Naturrecht in letzter Instanz und als Quelle, sowie davon abgeleitet Scipios Definition der res publica, tatsächlich ein Legitimationskriterium liefern. Nur wo sich die Bürger in Anerkennung eines Rechts (jus) verbinden, das mit dem Naturgesetz (lex) übereinstimmt, kann überhaupt von Recht und res publica die Rede sein. Und nur dann besteht auch die Gemeinsamkeit des Nutzens, nur dann kann es ein Gemeinwohl geben. Allerdings ist dies kein originärer Gedanke Ciceros, sondern schon in Aristoteles’ politischer Philosophie angelegt, auf dessen zoon politikon Cicero auch rekurriert, und dann in der stoischen Naturrechtslehre bereits voll entfaltet, die Cicero über Panaitios aufgreift.25 Der originäre Zug Ciceros ist vielmehr, nun dieses Naturrecht in der römischen Republik positiv verwirklicht zu sehen und ihm damit eine institutionelle Konkretion zu geben.26 Das Legitimationskriterium, ja das Na23 24 25

26

Vgl. dazu Christoph Horn, Gerechtigkeit bei Cicero: kontextualistisch oder naturrechtlich, in: Richter, Voigt, König (Hg.), Res Publica und Demokratie, 105–121 und Pierre Grimal, Cicero. Philosoph, Politiker, Rhetor, München 1988, 343. D. h. das Volk unterdrückt sich selbst bzw. eine Mehrheit des Volkes unterdrückt eine Minderheit, ohne jede rechtliche Beschränkung, was man später die „Tyrannei der Mehrheit“ nennen wird. Vgl. dazu den Essay von Michel Villey (1955), Rückkehr zur Rechtsphilosophie, in: Büchner (Hg.), Das neue Cicerobild, 259–303, der auf den Ursprung der Naturrechtslehre bei Aristoteles verweist und in der Stoa und schließlich bei Cicero eine Kontamination der ursprünglichen Lehre sieht, die einzig den Reichen und Mächtigen dient. Auf diese werde der bürgerliche Liberalismus später zurückgreifen. Vgl. Ulrich Knoche, Ciceros Verbindung der Lehre vom Naturrecht mit dem römischen Recht

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turrecht selbst ist letztlich das römische Staatsrecht der alten Republik. Lex und Jus sind in der Verfassung der römischen Republik zur Deckung gelangt. Das ist die Apotheose der römischen Republik, von der zuvor die Rede war; mit ihr wird Cicero Epoche machen. Bevor wir genauer auf diese Apotheose eingehen, möchte ich einen kleinen Exkurs zum Verhältnis von stoischem Naturrecht und Kosmopolitismus und Ciceros Republikanismus einschieben. Weit ausholend beschreibt beschreibt er die „Stufen menschlicher Gesellschaft“ (Off. I/53 51). Die „erste“ ist für ihn die „Gesellschaft der gesamten Menschheit (universi generis humani societati)“, die durch den Anteil aller Menschen an ratio et oratio, die den Menschen von den Tieren unterscheiden, hervorgebracht wird. Sie verbindet die Menschheit durch „Lehren und Lernen“, durch „das Gespräch miteinander und gegeneinander“, durch „einen ganz natürlichen Gesellschaftsgeist“ (Off. I/50 49). An diese der Stoa entlehnte kosmopolitische Gesellschaft knüpft Cicero sofort gewisse Rechte und Pflichten. Einerseits Individual- beziehungsweise Menschenrechte, nämlich dass „alles, was ohne Schaden gewährt werden kann, sogar einem Unbekannten geleistet werden soll“ (Off. I/51 49). Andererseits völkerrechtliche Bestimmungen über den gerechten Krieg. „Jene Kriege sind ungerecht, die ohne Grund unternommen werden: denn ohne Grund, sich zu rächen oder die Feinde zurückzuschlagen, kann kein gerechter Krieg geführt werden“. Weiter kann kein Krieg als gerecht gelten, „außer dem angesagten, erklärten“ (Rep. III/35 283). Der Krieg selbst allerdings und der militärische Kampf um Hegemonie wird von Cicero nicht als Problematik empfunden. Vielmehr wird er das römische Recht sogar als vollkommenen Ausdruck des Naturrechts begreifen und seine Expansion über alle Völker als vernünftig, gerecht und im Interesse der eroberten Völker rechtfertigen. Eine nächste Stufe der menschlichen Vergesellschaftung, die intensiver ist als die durch die gesellige Vernunftnatur geknüpfte kosmopolitische, ist für Cicero nun die ethnische Vergesellschaftung, die durch Zugehörigkeit zum selben Stamm und derselben Sprachgemeinschaft geknüpft wird. Noch enger und die wichtigste ist für ihn aber die, „derselben Bürgerschaft anzugehören: Denn vieles ist den Bürgern gemeinsam: der Marktplatz, Heiligtümer, Säulenhallen, Straßen, Gesetze, Rechte, Gerichte, Abstimmungen, außerdem Bekanntschaften und Freundschaften sowie Geschäfts- und Handelsbeziehungen“ (Off. I/53 53). Etwas später wird er seinem Sohn nahe legen, dass, wenn er alles mit Vernunft überlege, von allen Gesellschaftsbindungen „keine teurer“ sei, als „diejenige, die ein jeder von uns zum Gemeinwesen hat“ (Off. I/57 53). Auf der nächsten Stufe folgt „die Gemeinschaft der Verwandten“ und schließlich endet diese Stufenfolge in der Ehe, die die „erste Gesellschaftsbildung“ darstellt, dank des menschlichen „Zeugungstriebs“ (Vgl. Off. I/53–54 51). Das heißt, auch wenn sich jedes politische Gemeinwesen, insofern es eine Res Publica sein will, mit seinem positiven Recht (jus) am natürlichen Gesetz (lex) orientieren muss, das die Menschen zu einer kosmopolitischen Gesellschaft verbindet, bleibt doch die Republik als politisch-institutionelle Bürgervereinigung streng von der kosmopolitiund Gesetz, in: Gerhard Radke (Hg.), Cicero. Ein Mensch seiner Zeit. Acht Vorträge zu einem geistesgeschichtlichen Phänomen, Berlin 1968, 38–60.

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II. Republikanische Ideengeschichte

schen Gesellschaft getrennt. Ciceros Kosmopolitismus ist ein moralischer Kosmopolitismus, der von der politisch-institutionellen Ebene der Republik getrennt bleibt, ihr nur als Maßstab dient. Bei Cicero verbinden sich somit ein moralischer Kosmopolitismus und ein politisch-institutioneller, auf kleinere politische Einheiten begrenzter Republikanismus. Kommen wir zur Apotheose der römischen Republik zurück. Diese vollzieht nun Scipio im Anschluss an seine Definition unter Bezug auf den griechischen Historiker Polybios, der ihm ein enger Freund und Lehrer war. „Jedes Gemeinwesen, das, wie ich sagte, die Sache des Volkes ist, muß durch vernünftiges Planen (consilium) gelenkt werden, damit es dauernd ist.“ (Rep. I/41 135) Hier kommt also die Frage nach der Organisation der Staatsführung auf, nach der institutionellen Struktur, verbunden mit der Stabilitätsfrage. Scipio erinnert zunächst noch einmal daran, dass eine vernünftige Lenkung sich immer der „Ursachen“ (ebd.) der Hervorbringung des Staats erinnern müsse. Dies können wir so verstehen, dass einerseits eine gewisse Vertrautheit mit der (römischen) Geschichte, dem Recht und den Sitten nötig ist, andererseits der Sinn der res publica als Sache des Volkes, welches sich durch rechtlichen Konsens und Gemeinsamkeit des Nutzens definiert, stets erinnert wird. Scipio geht dann über zu der Frage, wie denn nun die Lenkung des Staates organisiert sein solle. Sollte ein Einzelner, eine begrenzte Gruppe oder das Volk regieren? Hier greift er auf die anakyklosis des Polybios zurück, der in seinen „Historien“27 gezeigt hatte, das sowohl Monarchie, Aristokratie und Demokratie instabile Verfassungen sind, die einander unaufhörlich im Übergang zu ihrer entarteten Form ablösen, weil die jeweils Regierenden degenerieren und ihre Macht zum eigenen Nutzen und nicht im Sinne des Gemeinwohls einsetzen. Die Größe und der Erfolg Roms beruht nach Polybios darauf, eine Mischung der drei Einzelverfassungen vorgenommen zu haben und so dem Verfassungskreislauf durch ein System der „checks and balances“ entgangen zu sein. Scipio – und mit ihm Cicero – schließt sich dieser Bewertung der römischen Mischverfassung als bester Verfassung durch Polybios an: „Und so meine ich, ist eine vierte Art des Gemeinwesens (genus rei publicae) sozusagen besonders gut zu heißen, die aus diesen drei, die ich erste nannte, ausgewogen und gemischt (moderatum et permixtum) ist.“ (Rep. I/45 139) Aber das bei Polybios im Vordergrund stehende Kriterium für die Vorzugswürdigkeit der Mischverfassung, die wechselseitige Kontrolle der sozialen Fraktionen und Interessen, tritt bei Cicero eher in den Hintergrund. Die römische Mischverfassung ist für ihn vielmehr, was uns nicht mehr überraschen kann, Ausdruck des Naturrechts, ja der Gerechtigkeit schlechthin, insofern sie einerseits allen Bürgern rechtliche Gleichheit und Freiheit und eine gewisse Beteiligung an den politischen Entscheidungen gibt, andererseits aber die besonders Hervorragenden ihrer Würdigkeit gemäß mit der Lenkung des Staates betraut. Schließlich wahrt sie in den monarchieartigen Ämtern der Konsuln die Einheit und Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens und bringt damit die Eintracht aller Stände (concordia ordinum) in der Anerkennung des Rechts zum Ausdruck.28 27 28

Vgl. Polybios, Historien, übersetzt von Karl Friedrich Eisen, Stuttgart 1973. Vgl. dazu den Überblick bei Karl H. Gugg, Cicero, in: Hans Maier (Hg.), Klassiker des politischen Denkens Bd. 1, München 1968, 64–86.

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Von Laelius gedrängt, welche von den drei einfachen Verfassungen er nächst der Mischverfassung für die beste hält, votiert Scipio nach einigem Ausweichen für das Königtum. Dieses Changieren zwischen Mischverfassung und Königtum hat bei Interpreten für große Verwirrung gesorgt. Wollte Cicero am Ende doch den Untergang der Republik und den Prinzipat? Ich denke, dass diese Frage eindeutig zu verneinen ist. Das Königtum wird zum einen als zweitbeste Form genannt, weil Rom von Königen hervorgebracht wurde und diese damit als Ursprung – trotz der Verfehlungen des Tarquinius und seines Sohnes Sextus gegenüber Lucretia – durchaus etwas Verehrungswürdiges für Cicero besitzen. Zweitens wird auf die Regierung des Kosmos durch einen Gott, Jupiter, als Analogie verwiesen, und, wiederum in Analogie dazu, auf die Regierung der Seele durch die Vernunft. Drittens kannte die Republik zum einen in den Konsuln monarchieartige Ämter und in Ausnahmesituationen gar die Diktatur auf Zeit, die jeweils die Entscheidungsfähigkeit des Gemeinwesens zentral bündelten und erhielten. Viertens schließlich zielt Cicero auf die Bedeutung des wahren Redners, Bürgers und Staatsmannes ab, der, aus der Nobilität stammend, in den ihm zugewiesenen Ämtern die Einheit und das Wohl der res publica bewahren soll. Dies alles verweist auf die Wichtigkeit einer tugendhaften politischen Klasse, aber nicht auf die Ablösung der Republik durch den Prinzipat. Grundsätzlich kann daher kein Zweifel an Ciceros Votum für die republikanische Mischverfassung bestehen. So beschließt Scipio das erste Buch von De re publica dann auch unter Verweis auf die libertas des römischen Bürgers und auf die Stabilität mit einer Apologie der republikanischen Mischverfassung: „Es scheint nämlich richtig, daß es im Gemeinwesen etwas an der Spitze Stehendes und Königliches gibt, daß anderes dem Einfluß der fürstlichen Männer zugeteilt und zugewiesen ist und dass bestimmte Dinge dem Urteil und dem Willen der Menge vorbehalten sind. Diese Verfassung hat erstens eine gewisse Gleichheit aufzuweisen, die freie Männer kaum länger entbehren können, dann Festigkeit, weil jene ersten leicht in die entgegengesetzten Fehler umschlagen. (…); dies aber kommt in dieser verbundenen und maßvoll gemischten Verfassung des Gemeinwesens fast nicht ohne große Mängel der führenden Männer vor.“ (Rep. I/69 171) Hier finden wir erneut einen Verweis auf die führenden Männer, die aktiven Bürger und Staatsmänner der Nobilität, denen wir bereits in der Figur des wahren Redners begegnet sind. Scipio wird ihn im zweiten Buch von De re publica den „tutor et procurator rei publicae“ nennen und Cicero hat sich sicher selbst für einen solchen gehalten. „Sorgt, dass ihr diesen Mann erkennt, der ist’s nämlich, der durch Rat und tätige Bemühung die Bürgerschaft zu schützen vermag.“ (Rep. II/51 219) Cicero versteht überhaupt die Entstehung und Entwicklung der römischen Republik als eine Abfolge von solch hervorragenden und tugendhaften Männern aus der Nobilität. So lässt er Scipio erklären, dass „unser Gemeinwesen nicht durch eines Mannes Geist, sondern vieler, nicht in einem Menschenleben, sondern in vielen Generationen und Zeitaltern aufgebaut worden sei“ (Rep. II/2 175). Diese in den republikanischen Sitten und Institutionen geronnene Erfahrung macht die Vollkommenheit der römischen Republik aus, denn „kein Genie sei so groß je entstanden, (…) dem keine Sache entgangen wäre und alle Begabungen zusammengehäuft vermöchten nicht soviel zu einem Zeitpunkt vorauszusehen“

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II. Republikanische Ideengeschichte

(ebd.). Hier kommt Ciceros Konservatismus zum Tragen, das Festhalten am Bewährten. Ähnlich wie später Machiavelli in seiner Nachfolge, verweist Cicero in diesem Zusammenhang darauf, „dass das Schicksal (fortuna) einen großen Einfluß hat, nach beiden Seiten- für Glück und Unglück- wer wüsste das nicht?“ (Off. II/19 157). Während man gegen „Stürme, Unwetter“ und dergleichen nichts tun könne, könne der „tutor et procurator rei publicae“ das menschengemachte Schicksal durchaus beeinflussen. Dies kann ihm gelingen – hier nun contra Machiavelli – wenn er von der Bürgerschaft geschätzt wird und gerecht ist. Aus dem allem erhellt sich, dass Ciceros Republik eine Mischverfassung ist, die durch diese Verfassung allen „eine gewisse Gleichheit“ garantiert, „die freie Männer kaum länger entbehren können“, die aber von einer Klasse von besonders hervorragenden und tugendhaften Männern geleitet werden muss. Für Cicero ist die römische Republik mit ihrer Mischverfassung deswegen „der beste Zustand des Staates (optimum statum civitatis)“, weil sie – das ist ihr demokratischer Zug – allen Bürgern einen Anteil an der Freiheit und eine grundlegende rechtliche Gleichheit gewährt. Cicero verteidigt daher gegen seinen Bruder Quintus die Volkstribunen, mit deren Institutionalisierung im Ständekampf „ein Kompromiß gefunden“ wurde, durch den „die Geringeren sich den Vornehmen gleichgestellt fühlten, und dies allein bedeutete die Rettung des Staates“. Durch sie führt das Volk „keine gefährlichen Kämpfe für sein Recht. Daher durfte man entweder die Könige nicht vertreiben, oder man musste dem Volk der Sache nach, nicht nur dem Namen nach, die Freiheit (libertas) geben.“ (Leg. III/24 313) Die Republik wird aber dennoch zu Recht von der Nobilität geführt, weil die reine Volksherrschaft „keine Stufen der Würde kennt“ und diese „Gleichmäßigkeit unbillig“ sei (Rep. I/43 135). Sie sei wieder das natürlich Recht. „Die Bedeutung der Obrigkeit (magistratus) besteht darin, vorzustehen und das Rechte, das Nützliche, das mit den Gesetzen im Einklang Stehende vorzuschreiben. Wie nämlich über den Obrigkeiten die Gesetze, so stehen über dem Volk die Obrigkeiten, und man kann wahrheitsgemäß sagen, dass die Obrigkeit das redende Gesetz, das Gesetz aber die stumme Obrigkeit ist. Nichts sodann ist dem Recht und der Ordnung der Natur so angemessen (…) wie Herrschgewalt (imperium). (..) Obrigkeiten also sind nötig, ohne deren Klugheit und Sorgsamkeit eine Bürgergemeinschaft nicht bestehen kann.“ (Leg. III/2 299) Die über Generationen organisch durch die tugendhafte Führung der Optimaten und dem Kompromiss mit der Plebs entstandene römische Republik ist mit ihrer Mischung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie, von Konsuln, Senat und Volksversammlung und Volkstribunen der vollkommene positiv-rechtliche Ausdruck des ewigen Naturrechts. Das ist es, was hier letztlich mit der Apotheose der römischen Republik bei Cicero gemeint ist. Cicero hat damit dem Naturrecht in der Verfassung der römischen Republik eine institutionelle Konkretion gegeben, die Epoche machen wird in der politischen Philosophie, und dort vor allem in der republikanischen Tradition. Sie wird schließlich den Republikanern der italienischen Renaissance, den englischen Republikanern im 17. Jh. und den Republikanern der transatlantischen Revolutionen im 18. Jh. als vorbildliches, besonders stabiles, allen Bürgern Freiheit und Gleichheit gewährendes und damit einzig legitimes Ordnungsmodell dienen.

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Auf unsere Eingangs aufgeworfene Frage nach der Unterscheidung von neorömischem Republikanismus und Bürgerhumanismus kann es endlich nach dem bisher Dargelegten nur eine Antwort geben: In Ciceros politischer Philosophie, die wir als Apotheose der römischen Republik begriffen hatten, weil für ihn das Naturrecht (lex) im positiven Recht (jus) der römischen Republik verwirklicht ist, finden sich zweifellos Anklänge beider Motive. Er war ein Republikaner im Sinne des neo-römischen, institutionenorientierten Republikanismus, insofern ihm die Herrschaft des (Natur-)Rechts – das gleichbedeutend mit der alten republikanischen Verfassung ist – letztes Legitimationskriterium war und die klug ausbalancierte institutionelle Struktur der Mischverfassung ein Höchstmaß an Stabilität, vor allem jedoch den Schutz der Freiheits- und Eigentumsrechte der Bürger und deren, je nach Würdigkeit bemessenen Anteil an der Regierung gewährte. Er war aber auch ein Bürgerhumanist im Sinne des bürgerorientierten Republikanismus, insofern ihm die Orientierung am Recht und Gemeinwohl als Pflicht aller Bürger galt, als Konstitutionsgrundlage der res publica. Darüber hinaus galt ihm für den Teil der Bürgerschaft, der zur politischen Führungsklasse gehörte, die aktive und tugendhafte Teilnahme an der politischen Praxis als Pflicht, als größte Ehre und höchste Entwicklungsstufe der menschlichen Vernunftnatur. Wie Scipios Traum am Ende von De re publica deutlich macht, wird sie, wenn nicht bereits im Leben, dann zumindest im Jenseits durch einen Platz an der Seite der Götter belohnt. Vielmehr noch konnten für Cicero nur beide Motive zusammen, das juridischinstitutionelle und das bürgerhumanistische, den Idealstaat der römischen Republik hervorbringen und bewahren. Selbst die beste juridisch-institutionelle Ordnung verfällt nämlich, wenn Korruption unter den mit der Lenkung des Gemeinwesens Beauftragten um sich greift. Dann geht auch die an sich stabile republikanische Mischverfassung zugrunde, denn der Staatsverfall des Verfassungszyklus „kommt in dieser verbundenen und maßvoll gemischten Verfassung des Gemeinwesens fast nicht ohne große Mängel der führenden Männer vor“ (Rep. I/69 171). Darum dann auch die äußerst scharfe Ermahnung an seinen Sohn in De officiis: „Es ist also kein Fehler abstoßender (…) als die Habsucht, zumal bei den hochgestellten Persönlichkeiten und Lenkern des Gemeinwesens. Denn das Gemeinwesen zu einer Quelle des Profits zu machen ist nicht nur schändlich, sondern auch verbrecherisch und gottlos.“ (Off. II/77 213) Das Originäre an Ciceros politischer Philosophie besteht in der Amalgamierung und Projektion beider Motive, des juridisch-institutionellen und des bürgerhumanistischen (für die es selbst jeweils in Polybios, Panaitios und Aristoteles griechische Vorläufer gibt), auf die römische Republik und ihre Lebenswirklichkeit. Diese Apotheose der römischen Republik verschaffte der Romidee ungeheure Wirkungsmacht in der Geschichte des politischen Denkens als immer wieder aufgegriffenem, vorbildlichem Ordnungsmodell bis hin zum repräsentativen, demokratischen Rechtsstaat heutiger Zeit.29 Trotz allen rechtspositivistischen Vertrauens in 29

Hier sei zum Beispiel auf die Einteilung der Legislativen in Senat und Volksversammlung

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II. Republikanische Ideengeschichte

verfassungsmäßige Verfahren und Kontrollen in der Moderne scheint uns auch heute noch evident zu sein, dass ein gewisses Residuum an Bürgerhumanismus verbleibt. Auf die Gemeinwohlorientierung und damit auf die moralische Integrität der mit einem Amt betrauten Bürger kann auch das ausgeklügeltste System von „checks and balances“ noch heute nicht vollkommen verzichten. Die anhaltende Bedeutung von Ciceros politischer Philosophie beruht nach der hier vorgetragenen Interpretation darauf, diesen notwendigen Zusammenhang zwischen institutionellen und bürgerhumanistischen Motiven in den Mittelpunkt seiner politischen Philosophie gerückt zu haben. Der Idealtypus „neorömischer Republikanismus“ in Abgrenzung zum Bürgerhumanismus ist zumindest in Hinblick auf Cicero irreführend. Ein ciceronischer neorömischer Republikanismus müsste sich daher vielmehr dadurch auszeichnen – wenn er seinen Namen verdient –, dass er institutionelle und bürgerhumanistische Elemente in sich vereint.

verwiesen, wie sie dann in der amerikanischen Verfassung mit Senat und Repräsentantenhaus wieder begegnet. Siehe dazu das Kapitel II.5 in diesem Band.

2. MACHIAVELLI: DER REPUBLIKANISCHE STADTSTAAT Eine Rekonstruktion von Machiavellis politischer Theorie sieht sich einer besonders reichen und kontroversen Rezeptionsgeschichte gegenüber. Über kaum einen politischen Denker wurde mehr geschrieben und heftiger gestritten als über den 1469 geborenen Florentiner, der wie zuvor Cicero in der römischen Republik schnell in der Florentiner Republik der italienischen Renaissance politisch Karriere machte, nach der Rückeroberung der Macht durch die Medici 1512 sowie dem Untergang der Republik aber in Ungnade fiel und seinen Lebensabend im Exil verbrachte, wo er seine beiden Hauptwerke, den Principe1 und die Discorsi 2, verfasste.3 Vielen Interpreten gilt Machiavelli noch immer als „teacher of evil“4, als mit einem „moralischen Problem“5 behafteter Denker, auch wenn sich diese Dämonisierung6 in den letzten Jahrzehnten erheblich abgemildert haben mag.7 Demgegenüber beruft sich die hier durchgeführte Rekonstruktion auf ein Wort Benjamins, wonach in jeder Epoche versucht werden muss, „die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen“.8 Ihre grundlegende These lautet, dass man dem Werk Machiavellis am ehesten gerecht wird, wenn man ihn als Republikaner begreift, ohne damit zugleich andere Zugänge zum Werk des Florentiners zu übersehen. Der Verzicht auf die Sichtung der umfangreichen bisherigen Forschung wäre ja auch weniger Ausdruck des Nonkonformismus, sondern käme der Ignoranz gleich. Vielmehr gilt es hier, in Auseinandersetzung mit dem reichen Forschungsstand, eine zeitgemäße Interpretation zu wagen. Diese setzt, um die zentrale These noch etwas genauer zu fassen, bei der 1 2 3

4 5 6 7 8

Im Folgenden im Text in Klammern zitiert als (P) unter Hinzufügung von Kapitel und Seitenzahl nach der Ausgabe Niccolo Machiavelli, Der Fürst, übersetzt von Friedrich von OppelnBronikowski, Frankfurt a.M., 2001. Im Folgenden im Text in Klammern zitiert als (D) unter Hinzufügung von Buch, Kapitel und Seitenzahl nach der Ausgabe Niccolo Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt von Rudolf Zorn, Stuttgart, 1977. Vgl. zur Vielfalt der Machiavelli-Rezeption Isaiah Berlin, Die Originalität Machiavellis, in: ders, Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, Frankfurt a.M., 1982, 93–158, und August Buck, Machiavelli, Darmstadt, 1985, 129–155, sowie pointiert Herfried Münkler, Rüdiger Voigt, Ralf Walkenhaus (Hg.), Demaskierung der Macht. Niccolo Machiavellis Staatsund Politikverständnis, Baden-Baden, 2004, 22–26. Leo Strauss, Thoughts on Machiavelli, Glencoe, 1958, 9 Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates, Hamburg, 2002, 186ff. Vgl. Gerhard Ritter, Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit, Stuttgart, 1948. So zumindest Wolfgang Kersting, Niccolo Machiavelli, München, 1988, 9. Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (1940), in: Michael Opitz (Hg.), Walter Benjamin. Ein Lesebuch, Frankfurt a.M., 1996, 665–676, 667.

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II. Republikanische Ideengeschichte

Feststellung an, dass Machiavelli als „Sattelzeitdenker“ in der republikanischen Ideengeschichte zu begreifen ist. Als „Sattelzeit“ möchte ich hier ein Übergangstadium von einem antiken Republikanismus, wie wir ihn bei Cicero finden, hin zu einem modernen Republikanismus, wie er sich in den Werken Rousseaus, Madisons oder Kants findet, verstehen. Dieses Übergangsstadium kann man als klassischen Republikanismus bezeichnen. In ihm wirken Motive des antiken Republikanismus nach, während sich bereits Motive des modernen Republikanismus anmelden, ohne jedoch voll durchzuschlagen. Genau diese Verbindung aus antiken und modernen Motiven macht seine Klassizität aus. In grober historischer Einordnung entsteht dieser klassische Republikanismus um die Zeit der Übersetzung der Politik des Aristoteles durch Wilhelm von Mörbeke im 13. Jahrhundert, um sich dann über Thomas von Aquin, Tolomeo von Luca und Marsilius von Padua zum Florentiner Republikanismus eines Colucio Salutati, Leonardo Bruni, Francesco Guicciardini, Machiavelli und Donato Gianotti zu entfalten und reicht bis hin zu den englischen Republikanern Milton und Harrington. In ihm lebt noch das alte Ideal des freien Stadtstaates fort, mit seiner Betonung der heroischen politischen Tugenden der Bürger, während sich bereits der moderne Flächenstaat und sein Interesse für die institutionelle Konfliktregulierung zwischen marktwirtschaftlich agierenden Bürgern bemerkbar machen. Nur wenn man Machiavelli innerhalb dieser ideengeschichtlichen Bewegung verortet, ergibt sich ein adäquater Zugang zu seinem Oeuvre. Genau diese Verbindung von antiker bürgerlicher Tugendethik und moderner institutioneller Konfliktregulierung macht seinen Status als klassisch-republikanischer Sattelzeitdenker aus. Machiavelli als Sattelzeitdenker. Versuch einer historischen Einordnung Will man einige Beispiele für den Status Machiavellis als republikanischer Sattelzeitdenker heranziehen, so fällt zunächst folgendes ins Auge: Der antike Republikanismus in der Gestalt von Cicero ist gekennzeichnet durch seine Vorstellung vom Menschen als politischem Lebewesen, die berühmte aristotelische Teleologie des Menschen als zoon politikon.9 Diese vereint Aristoteles und Cicero und trennt sie von Machiavelli, der kein Telos des Menschen mehr kennt. Daneben ist der antike Republikanismus durch seine Befangenheit im Konzept des Stadtstaates gekennzeichnet, der sich über die Gemeinschaft der Bürger (koinonia ton politon) und nicht über Territorium und Bevölkerung, wie der neuzeitliche Flächenstaat, definiert. Machiavelli scheint hier in großen Teilen noch dem antiken Republikanismus zu folgen. Im letzten Kapitel des Principe antizipiert er aber bereits den italienischen Nationalstaat (Vgl. P XXVI).10 Seine Betonung der antiken Bürgertugenden und die Zurückweisung der christlichen Moral erweist Machiavelli als stark vom 9 10

Vgl. Aristoteles, Politik, herausgegeben von Olof Gigon, München, 1998 und Cicero, De re publica/Vom Gemeinwesen, herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart, 1979. Vgl. hierzu Gerhard Ritter, Machiavelli und der Ursprung des modernen Nationalismus, in: ders., Vom sittlichen Problem der Macht, München, 1961, 27–60 und Louis Althusser, Die

2. Machiavelli: Der republikanische Stadtstaat

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antiken Republikanismus beeinflussten Denker.11 Machiavelli teilt aber nicht mehr durchgehend das demokratiekritische und einer aristokratischen Führungsschicht zuneigende elitistische Republikkonzept eines Cicero. Vielmehr sieht er die politische Partizipation des Volkes positiv und tendiert, wie ich zeigen werde, dazu, demokratischen Deliberationsmomenten einen zentralen Platz in seiner Republik einzuräumen.12 Damit zusammenhängend trennt ihn vom antiken Republikanismus sein harter Instrumentalismus und Funktionalismus, der dem antiken, eudämonistischen Denken des politischen Lebens als Möglichkeitsraum des guten Lebens fremd ist.13 Diese verweisen auf einen modernen Republikanismus, wie er etwa von Madison in den Federalist Papers entwickelt wird.14 Machiavellis Konzeption der republikanischen Mischverfassung als institutionell eingebundener Dauerkonflikt, der selbst als produktiv und nicht als schädlich angesehen wird (Vgl. D I/2), stand wohl Pate für Madisons Republikanismus mit seinem System der checks and balances. Madison sieht – worauf wir noch genauer eingehen werden – die Lösung des Problems der sozialen Faktionen bekanntlich gerade darin, sie institutionell gegeneinander auszuspielen und die anzunehmenden eigensüchtigen Interessen der Menschen zum Schutz der Freiheit aller und des Gemeinwohls produktiv zu machen. Diese kurze Komparatistik muss hier genügen, um die These, dass Machiavelli als Sattelzeitdenker zwischen antikem und modernem Republikanismus aufzufassen ist, zu verdeutlichen. Machiavelli zwischen Fürst und Republik. Überlegungen zur Einheit seines Werks Der Republikaner Machiavelli kommt in der kurz nach der Veröffentlichung der Discorsi (1531) und des Principe (1532) einsetzenden Machiavelli-Rezeption zunächst nicht in den Blick.15 Vielmehr setzt zunächst die Auseinandersetzung mit dem vermeintlich amoralischen und atheistischen Machttechniker16 des Principe ein. Eine erste Welle der Empörung führt schließlich dazu, dass Machiavelli 1559 auf den Index librorum prohibitorum gesetzt wird. Diese Empörung setzt auch die Antimachiavellismus-Industrie in Gang, zu deren ersten Vertretern der englische Kardinal Reginald Pole gehört, für den der Principe vom Satan höchstpersönlich verfasst wurde. Weite Verbreitung findet Innocenz Gentillets als Antimachiavellus (1576) bekannte Schrift. Der Antimachiavellismus setzt sich dann fort bis ins 18.

11 12 13 14 15 16

Einsamkeit Machiavellis, in: ders., Machiavelli, Montesquieu, Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit, Berlin, 1987, 11–32. Dies betont besonders Berlin, Die Originalität Machiavellis. Vgl. dazu jetzt auch John McCormick, Machiavellian Democracy, Cambridge 2011. Vgl. zum antiken Eudämonismus Julia Annas, The Morality of Happiness, Oxford, 1993. Vgl. Hamilton/Jay/Madison, Die Federalist-Artikel, herausgegeben von Angela und Willi Paul Adams, Stuttgart, 1994. Vgl. zur im Folgenden wiedergegebenen Machiavelli-Rezeption besonders Berlin, Die Originalität Machiavellis, und Buck, Machiavelli, die ich möglicherweise systematisierend etwas zu stark vereinfache. Ich denke aber, dass die drei folgenden Rezeptionserzählungen zentral sind. Diese technische Seite betont Hans Freyer, Machiavelli, Leipzig, 1938.

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II. Republikanische Ideengeschichte

Jahrhundert, etwa mit Friedrichs II. berühmtem Antimachiavel, und noch im 20. Jahrhundert findet er z. B. in Leo Strauss seine Vertreter, für den Machiavelli ein Lehrer des Bösen ist.17 Ein zweiter, in der Wertung eher neutraler Strang der Machiavelli-Rezeption, der relativ kurz nach seinem Tod einsetzt, sieht in ihm den Erfinder der Staatsräson und der Autonomie der Politik. Dies hat Friedrich Meinecke glänzend herausgearbeitet.18 Er setzt ein mit Bacons rühmendem Urteil, dass Machiavelli die Menschen beschreibe, wie sie sind und nicht, wie sie sein sollten. Später rezipieren Spinoza, Fichte und Hegel Machiavelli als Theoretiker eines starken (National-) Staates und dessen intrinsischen Wertes. Der italienische Nationalismus und Mussolinis Faschismus liegen ebenfalls auf dieser Linie der Machiavelli-Rezeption. Auch die heute weit verbreitete Interpretation Machiavellis als Begründer der modernen Politikwissenschaft, wie sie sich etwa in den Arbeiten von Buck und Münkler angedeutet findet, liegt auf der Linie dieser Machiavelli-Rezeption.19 Schließlich setzt bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts durch Alberico Gentile die Deutung Machiavellis als Republikaner und Tyrannenfeind ein, die dann insbesondere in England im 17. Jahrhunderts prominent wird, etwa in James Harringtons Entwurf eines Idealstaates in seinem Werk Oceana. Harrington bezieht sich dabei vorrangig auf die Discorsi. Auch im Frankreich der Aufklärung setzt sich langsam eine andere Deutung Machiavellis durch. So heben z. B. Bayle, Diderot und Rousseau die republikanische Gesinnung Machiavellis hervor. Für Rousseau wird der Principe am Ende gar zur Schrift eines Aufklärers, der das Volk über die Machenschaften der Tyrannen unterrichtet. Diese Deutung Machiavellis als Republikaner findet heute ihren Ausdruck in den Arbeiten von Pocock, Skinner, Viroli und Pettit.20 Betrachtet man diese drei Stränge der Machiavelli-Rezeption, so fällt auf, dass sich die Deutung Machiavellis als Theoretiker der Staatsräson sowohl mit der Deutung als amoralischem und atheistischem Machttechniker als auch mit der Deutung als Republikaner verträgt, denn auch ein Republikaner kann schließlich der Republik, ihrer Stabilität, Freiheit und Unabhängigkeit, einen eigenen Wert zuschreiben. Der amoralische Machttechniker Machiavelli und der Republikaner Machiavelli scheinen dagegen in krassem Widerspruch zueinander zu stehen. Wie lässt sich diese Schizophrenie Machiavellis erklären? Findet sie sich tatsächlich im Werk Machiavellis oder beruht sie auf einer Fehldeutung? Die Lösung dieses Problems verweist auf eine zentrale Hypothese Machiavellis, den Kreislauf der Verfassungen. Machiavelli entnimmt diese Idee der anakyklo17 18 19 20

Strauss 1958 Vgl. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München/Berlin, 1924. Buck 1985, 156ff. und Münkler 1982, S. 395ff. Vgl. John G. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975, Quentin Skinner, Machiavelli, Hamburg, 1990, Philip Pettit, Republicanism. A Theory of Freedom and Government, Oxford, 1997, Maurizio Viroli, Machiavelli, Oxford, 1998 sowie den Sammelband Gisela Bock, Quentin Skinner, Maurizio Viroli (Hg.), Machiavelli and Republicanism, Cambridge, 1991.

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sis – wie vor ihm bereits Cicero – den Historien des Polybios,21 nach dem jede Verfassung unausweichlich ihre eigene Entartung hervor treibt und so in die nächste übergeht, von der Monarchie über die Tyrannis zur Aristokratie, von dort zur Oligarchie und schließlich zur Demokratie, die wiederum im Übergang zur Anarchie eine Alleinherrschaft notwendig mache, usw. ad infinitum. Machiavelli gibt ihr aber eine eigene Pointe. Die Beschreibung des Verfassungszyklus in den Discorsi beginnt zunächst mit einer Genealogie des Staates, wonach die Menschen „am Anfang der Welt, als es noch wenige Menschen gab“, zerstreut lebten, „ähnlich den wilden Tieren“. Die quantitative Zunahme der Population zwingt dann zur Bildung von größeren Gemeinschaften, die „um sich besser verteidigen zu können, den stärksten und beherztesten (…) zu ihrem Führer“ machen und sich ihm freiwillig unterwerfen. Diese erste politische Vergemeinschaftung führt nun nach Machiavelli zur Entstehung der Unterscheidung von „ehrenvoll und gut im Gegensatz zu verderblich und böse“, die die Schaffung von Gesetzen und Strafen nach sich zieht (D I/2, S. 13). Man sieht hier noch Partikel der aristotelischen Theorie der Genese der Polis, die verbunden wird mit dem menschlichen Vermögen zum Logos, der die Unterscheidung von gerecht und ungerecht hervorbringt. Aber für Machiavelli ist die politische Gemeinschaft nicht mehr das Telos des Menschen, vielmehr sind alle Regierungsformen „durch Zufall“ entstanden (ebd.). Hätte es keine Zunahme der Population gegeben, wäre der Staat nicht notwendig gewesen. Erst diese Zunahme der Population in Verbindung mit der Natur des Menschen, die bei großer Population und ohne jede staatliche Ordnung zum Schlechten und Bösen tendiert, macht den Staat als Verteidigungsgemeinschaft notwendig. Gleichzeitig wird dadurch die Schaffung von Gesetzen notwendig, um diese Verteidigungsgemeinschaft nach innen zu befrieden. Wie später Hobbes denkt sich auch Machiavelli die Entstehung des durch Gesetze regulierten politischen Gemeinwesens als durch das Eigeninteresse der Menschen motiviert. So schreibt er, „überdies sagte sich jeder, es könnte ihm dasselbe Unrecht zugefügt werden. Um ähnliche Übel zu vermeiden, entschloß man sich, Gesetze zu schaffen und Strafen gegen Zuwiderhandeln einzuführen. Hieraus entstand der Begriff der Gerechtigkeit.“ (Ebd.) Die durch die natürliche Notwendigkeit entstandene politische Gemeinschaft und ihr Gesetz, das die Gerechtigkeit hervorbringt – die Gerechtigkeit entsteht wohlgemerkt erst nach der politischen Vergemeinschaftung und Gesetzgebung und geht ihr nicht voraus –, transformiert sich nun nach Machiavelli von der Herrschaft des Stärksten hin zur Wahlherrschaft des „Verständigsten und Gerechtesten“ (ebd.), womit wir beim ersten Glied des Verfassungszyklus angelangt sind, der Monarchie. Durch die Einführung der Erbfolge kommt es jedoch nach Machiavelli dazu, dass die Monarchie degeneriert. Die Erben beginnen „sofort zu entarten“ und geben sich der Vorstellung hin „die Herrscher hätten nichts weiter zu tun, als die anderen an Prunk, Zügellosigkeit und jeder Art von Lüsten zu übertreffen. So wurde der Herrscher verhasst und begann sich wegen dieses Hasses zu fürchten.“ (Ebd.) Die Furcht des Herrschers vor seinen Untertanen führt ihn zu Gewalttaten und damit zur Tyrannis, die ständig von Auf21

Vgl. Polybios, Historien, herausgegeben von Karl Friedrich Eisen, Stuttgart, 1973.

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ständen und Verschwörungen durchzogen wird. Diese werden nach Machiavelli von denen angeführt, „die durch Großmut, Hochherzigkeit, Reichtum und Vornehmheit die anderen übertrafen; sie konnten den ehrlosen Lebenswandel ihres Herrschers nicht ertragen“ (D I/2 14). Die Aristokratie entsteht, wenn sich das Volk diesen besonders Hervorragenden anschließt, den Tyrannen stürzt und sich der Herrschaft der Aristokraten unterwirft. Auch diese regieren zunächst nach Gesetzen und im Hinblick auf das Gemeinwohl, wie der gerechte Monarch. Doch ebenso wie in der Monarchie kommt es auch in der Aristokratie schon in der nächsten Generation zur Degeneration hin zur Oligarchie. Die Nachfahren der Aristokraten werden korrumpiert durch ihre „Habsucht“, ihren „Ehrgeiz“ und „dem Gelüst nach Weibern“ (ebd.). Erneut wird das Volk dieser Herrschaft überdrüssig und stürzt sie, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Da man sich aber noch an die Tyrannei erinnert und die Oligarchen gerade gestürzt hat, wird die Volksherrschaft, die Demokratie, eingeführt. Jedoch kommt es auch in ihr nach einer Generation zu Degeneration, zur Missachtung des Gesetzes und des Gemeinwohls und zur flächendeckenden Korruption. „So kam man dann notgedrungen entweder unter den Einfluß eines redlichen Mannes oder, um der Anarchie zu entgehen, wieder auf die Herrschaft eines Fürsten zurück und von dieser nach und nach in gleicher Weise und aus gleichen Gründen wieder zur Anarchie.“ (D I/2 15) Wie Polybios zieht Machiavelli aus diesem Verfassungszyklus den Schluss, dass alle diese Verfassungen, sowohl die herkömmlich als gerecht betrachteten Drei, als auch die drei Entarteten zu verwerfen sind. Dauerhaft kann einzig eine Mischung der drei gerechten Verfassungen, Monarchie, Aristokratie und Demokratie sein, wie sie bereits Polybios und Cicero in der römischen Republik erblickten. Machiavelli schließt sich diesem Urteil voll und ganz an: „Die Mischung der Regierungsformen führte zu einem vollkommenen Staatswesen.“ (D I/2 17) Diesem vollkommenen Staatswesen sind die Discorsi gewidmet. Wie verhält sich nun der Principe zu dieser Genealogie des Staates, dem Verfassungszyklus und dem Ideal der Republik? Steht er in krassem Widerspruch dazu? Man kann bei Machiavelli unter Bezug auf die Genealogie des Staates, den Verfassungszyklus und das Ideal der Republik als Mischverfassung eine dreistufige Entwicklungstheorie ausmachen. Zunächst herrscht ein Zustand der Krise und Anarchie, wie ihn Machiavelli auch in seiner eigenen Zeit in Italien erblickt, das „immer noch wie tot daliegt und auf den harrt, der seine Verletzungen heilt“ (P XXVI 121).22 Zur Überwindung bedarf es „des Stärksten und Beherztesten“, des uomo virtuoso, der eine Herrschaft neu errichtet und eine institutionelle Ordnung durch Verfassungs- und Gesetzgebung herstellt. Genau diesen beiden Entwicklungsabschnitten ist der Principe gewidmet. Denn in ihm geht es genau um den Fürsten, der in einer Zeit der Krise und Anarchie eine neue Herrschaft errichten will und wie er das bewerkstelligen kann und soll, damit sie von Dauer ist. So heißt es nach der berühmten einleitenden Differenzierung im ersten Kapitel des Principe zunächst zu näheren Einkreisung des Themas: „Ich wende mich zur Alleinherrschaft und werde (…) erörtern, wie diese erworben und erhalten werden kann.“ (P II 19) Kurz darauf 22

Vgl. dazu Sheldon Wolin, Politics and Vision. Expanded Edition, Princeton, 2004, 182ff.

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wird das Thema nochmals spezifiziert: „In den neuen Herrschaften liegen die Schwierigkeiten.“ (P III 20) Der Principe ist nun nichts anderes als eine Anleitung zur Überwindung der Krise durch Schaffung und Konsolidierung einer neuen Herrschaft, wozu Machiavelli fast jedes Mittel recht ist, denn jede Ordnung ist besser als Anarchie. Die Deutung Machiavellis als amoralischer Machttechniker hat hier ihren Ort. Sie übersieht aber den Kontext der Ratschläge. Nach Jacob Burckhardt ist Machiavellis „politische Objektivität (…) bisweilen entsetzlich in ihrer Aufrichtigkeit, aber sie ist entstanden in einer Zeit der Not und Gefahr, da die Menschen ohnehin nicht mehr leicht an das Recht glauben noch die Billigkeit voraussetzen konnten“.23 Insofern kann bei der Überwindung der Krise für Machiavelli auch keine Rücksicht auf Regeln der Moral genommen werden. Das ist sicher auch und gerade für uns heute noch ein höchst problematischer Schluss. Man sollte aber beachten, dass es für Machiavelli durchaus Grenzen gibt. Dies zeigt die Behandlung des Agathokles im Principe, von dem Machiavelli sagt, „man kann es nicht Tugend nennen, seine Mitbürger zu ermorden, die Freunde zu verraten, ohne Treu und Glauben, ohne Menschlichkeit und Religion zu sein. Auf diese Art kann man wohl die Herrschaft, doch keinen Ruhm erwerben.“ (P VIII 50) Ist so der Spielraum der amoralischen Techniken zur Herrschaftserwerbung und -konsolidierung unter Hinblick auf den Nachruhm – der ja grundsätzlich irgendein ethisches Richtmaß verlangt – eingegrenzt, so erteilt das Kapitel über die Erlangung des Ruhmes im Principe dem Fürsten sogar ethische Ratschläge: „Ferner soll ein Fürst die Tüchtigkeit lieben und die Trefflichen in jedem Fach ehren. Er soll seine Bürger anfeuern, ihrem Berufe emsig zu obliegen, sowohl im Handel wie im Ackerbau und in allen anderen Gewerbezweigen, damit sie nicht ablassen, ihren Besitz zu mehren, aus Angst, dass er ihnen genommen werde, noch aus Furcht vor Steuern ihren Handel vernachlässigen. Vielmehr soll er jeden dazu ermuntern und alle belohnen, welche den Staat auf irgendeine Weise bereichern wollen.“ (P XXII 110) Diese Ratschläge zeigen Machiavellis Principe eher als Exemplar der Gattung des Fürstenspiegels, in denen der Fürst zur Wahrung und Mehrung des bonum commune aufgerufen wird. Wir haben jedoch bei der Behandlung des Verfassungszyklus gesehen, dass Machiavelli die Alleinherrschaft, sei sie gerecht oder entartet, für verfehlt hält. Nur die Mischverfassung der Republik ist eine vollkommene Verfassung und Machiavellis Ideal. Die These erscheint daher nahe zu liegen, dass der Principe einzig ein Übergangsstadium von der Krise zur institutionellen Ordnung beschreibt, dass aber in einem nächsten Schritt der Fürst von der Republik abgelöst werden muss, damit eine dauerhafte Ordnung entstehen kann. Ab hier übernehmen dann die Discorsi. Principe und Discorsi stehen somit in einem Ergänzungsverhältnis und die Deutung Machiavellis als amoralischem Machttechniker übersieht genau dieses Ergänzungsverhältnis, das ihn ganz im Gegenteil als Republikaner ausweist.

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Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Hamburg, 2004, 114.

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Der republikanische Stadtstaat Haben wir so die Deutung Machiavellis als Republikaner begründet, stellt sich nun in einem weiteren Schritt die Frage, ob Machiavelli Republikaner aus Gründen der Staatsräson ist. D. h., ist er nur deswegen Republikaner, weil die Mischverfassung der Republik die einzig halbwegs stabile und dauerhafte Ordnung ist? Meine Lesart, die ich hier zunächst erläutern will, ist, dass es nicht nur zwei weitere Gründe für die Vollkommenheit der Republik gibt, nämlich Freiheit und Ruhm, sondern auch noch zwei Modelle der Republik, nämlich das Modell Sparta/Venedig und das Modell Rom. Sowohl das Modell Sparta/Venedig als auch das Modell Rom zeichnen sich durch die Werte relative Stabilität und Freiheit aus, aber einzig das Modell Rom führt zu Ruhm. Kehren wir aber zunächst zur Stabilitätsfrage zurück, die wir bereits bei der Auseinandersetzung mit der Genealogie des Staates und dem Verfassungszyklus gestreift haben. Warum genau ist die Mischverfassung der Republik die stabilste, was zeichnet sie aus? Dazu müssen wir uns der berühmten Stelle des ersten Buches der Discorsi zuwenden, in dem Machiavellis anthropologischer Pessimismus zum Ausdruck kommt: „Alle, die über Politik schrieben, beweisen es, und die Geschichte belegt es durch viele Beispiele, dass der, welcher einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muß, dass alle Menschen schlecht sind und dass sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben.“ (D I/3 17)24 Bevor wir uns den Folgerungen zuwenden, die Machiavelli hieraus zieht, möchte ich einen kleinen Exkurs zur Methode Machiavellis einschieben, der uns den epistemischen Hintergrund seines Republikanismus erhellt. In seinem Brief an Francesco Vettori beschreibt Machiavelli, wie er, vor sich hintreibend im ländlichen Exil, am Abend seine schmutzige Alltagskluft gegen eine „königliche Hoftracht“ tauscht, um so „passend bekleidet die Hallen der Männer des Altertums“ zu betreten.25 „Alle, die über Politik schrieben“, im oben angeführten Zitat aus den Discorsi, meint nun genau diese „Männer des Altertums“, die Philosophen, Staatsmänner und Historiker der Antike. Insbesondere Aristoteles, Polybios, Cicero und Livius tauchen fortwährend als Gewährsmänner in den Discorsi auf. Machiavellis Weg der Erkenntnisgewinnung, seine Methode, besteht aus vier Komponenten: Erstens aus Überlieferungen der antiken Geschichte – „die Geschichte belegt es durch viele Beispiele“ –, zweitens aus der Kommentierung dieser Geschichte bei den antiken Philosophen, Historikern und Staatsmännern – „Alle, die über Politik schrieben“ –, drittens seiner eigenen Erfahrung der Zeitgeschichte – „die Geschichte belegt es durch viele Beispiele“ (“Geschichte“ hat bei Machiavelli immer diese Doppelbedeutung) –, und viertens aus einem gewissermaßen induktiv-deduktiven Verfahren, dass ihn seine eigene geschichtliche Situation unter Zuhilfenahme antiker geschichtlicher Erfahrung und Kategorien verstehen lässt. Er 24

25

Vgl. dazu die Position von Rene König, der Machiavelli für einen Dramatiker hält und Guicciardini vorzieht, der undramatisch und weise urteile, dass Menschen eben nie ganz gut oder schlecht seien, sondern meistens mittelmäßig: Rene König, Niccolo Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, München, 1979. Zitiert nach dem Abdruck des Briefes in Machiavelli, Der Fürst, 12.

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übernimmt dabei nicht einfach die Urteile der „Männer des Altertums“, sondern erwirbt an ihnen seine grundsätzlichen Urteilskategorien, die er durchaus kritisch modifiziert aufgrund eigener geschichtlicher Erfahrung. Sein Ziel ist, dadurch allgemeine Regeln der Politik zu formulieren, da es für Machiavelli ein Irrtum ist, anzunehmen, dass sich „der Himmel, die Sonne, die Elemente, die Menschen in Bewegung, in Gestalt und Wirksamkeit, von dem, was sie seit altersher waren, unterscheiden würden“ (D I/Vorwort 5). Dieses Zitat belegt die ungeheuerliche Modernität Machiavellis, weswegen ihm gelegentlich der Titel des Begründers der Politikwissenschaft, des Galilei der Politik, zugeschrieben wurde. Allerdings muss man diese Interpretation dahingehend einschränken, dass Machiavelli keine experimentell gewonnenen oder gar mathematisierten Gesetze der Politik formuliert, seine allgemeinen Regeln gleichen eher an ein oder zwei Beispielen gewonnenen Faustregeln. Auch seine Methode erweist Machiavelli daher als einen Sattelzeitdenker.26 Kommen wir aber nach diesem Exkurs auf die Folgerungen aus dem anthropologischen Pessimismus zurück. Warum ist die Mischverfassung der Republik die stabilste und vollkommenste? Sie ist es genau wegen diesem anthropologischen Pessimismus. Unabhängig von jeder institutionellen Einbindung und Kontrolle tendiert der Mensch zum Schlechten und Bösen. Das gilt aber ebenso für den Alleinherrscher, für die Aristokratie und die Herrschaft des Volkes, von der Anarchie ganz zu schweigen. Mischt man institutionell dagegen die nach Machiavelli natürlich vorkommenden sozialen Fraktionen und Triebe (ambizione), so erhält man gerade durch den Konflikt zwischen ihnen eine vollkommene Ordnung, die Republik.27 Machiavelli versteht die Entstehung der Stabilität und Freiheit der römischen Republik, ihre für ihn einzigartige Qualität, gerade als Ergebnis eines auf Dauer gestellten Konfliktes.28 So schreibt er, „dass in jedem Gemeinwesen das Sinnen und Trachten des Volkes und der Großen verschieden ist und dass alle zu Gunsten der Freiheit entstandenen Gesetze nur diesen Auseinandersetzungen zu danken sind“ (D I/4 19). Einen weiteren Baustein zum Verständnis dieses Gedankengangs liefert Machiavellis berüchtigte These, „Hunger und Armut machen die Menschen arbeitsam. Gesetze machen sie gut.“ (D I/3 18) Die republikanische Mischverfassung ist genau deshalb vollkommen, weil sie die natürlich zum bösen tendierende, aber formbare menschliche Natur und die sozialen Ungleichheiten in einen institutionellen Dauerkonflikt einbindet, der als Ergebnis Gesetze der Freiheit für alle erzwingt, damit zugleich das Gemeinwohl befördert und die Menschen gut macht. Das ist Machiavellis äußerst realistische Utopie. Dieser institutionell eingebundene Dauer26

Vgl. zu diesem Themenkomplex die interessanten Überlegungen bei Claude Lefort, Machiavelli and the Verita Effetuale, in: ders., Writing. The Political Test, Durham, 2000, 109–140. 27 Madison wird dieser Einsicht später die Form, „ambition should be made to counteract ambition“, geben. 28 Auch in seiner Geschichte von Florenz kommt diese positive Wertung des politischen Konflikts zum Zuge Vgl. Niccolo Machiavelli, Geschichte von Florenz, herausgegeben von Hanns Floerke, München, 1925, 6. Diese Konfliktdimension in Machiavellis politischer Theorie betont besonders Serge Audier, Machiavel, conflit et liberté, Paris, 2005, in seiner Rekonstruktion eines französischen Republikanismus.

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konflikt befördert das, was wir eine republikanische Kultur der Freiheit nennen können. Man kann sagen, Stabilität und Freiheit sind im Modell der Mischverfassung wechselseitig aufeinander verwiesen. In diesem Sinne heißt es auch bei Machiavelli: „Vorsorge für den Schutz der Freiheit zu treffen. Dies ist eine der notwendigsten Einrichtungen; von dieser hängt es ab, ob die bürgerliche Freiheit (und damit die Republik P. H.) von längerer oder kürzerer Dauer ist.“ (D I/5 21) Diese Einrichtungen zum Schutz der Freiheit und damit Stabilität zeichnen nun nach Machiavelli ebenso das Modell Sparta/Venedig wie das Modell Rom aus. Was unterscheidet sie dann? Eine Antwort darauf gibt Machiavelli im fünften Kapitel des ersten Buches der Discorsi: „Es kommt darauf an, ob man einen Staat im Auge hat, der ein mächtiges Reich werden will wie Rom, oder einen Staat, dem es genügt, Bestehendes zu erhalten. Im ersten Fall muß man in allem wie Rom handeln, im zweiten kann man Venedig und Sparta nachahmen.“ (D I/5 22) Der Unterschied zwischen dem Modell Sparta/Venedig und dem Modell Rom besteht für Machiavelli also in ihrer Fähigkeit zum Imperialismus.29 Er erklärt sich diesen Unterschied so, dass in Sparta und Venedig die Regierung eher repräsentativ war. In Sparta lag die Verwaltung in den Händen „eines Königs zusammen mit einem kleinen Senat“ und in Venedig in den Händen der „Genttiluomini“ (D I/6 24). Das Schwergewicht der Mischverfassung lag also stärker auf Seiten der Monarchie und des Adels. Für Machiavelli waren diese Republiken genau aus diesem Grund im Hinblick auf die Vergrößerung ihres Herrschaftsgebietes schwach, da sie auf Söldnerheere zurückgreifen mussten, deren Loyalität er durchweg skeptisch beurteilt. Diese Skepsis gegenüber Söldnern und die Notwendigkeit einer Bürgerarmee ist ein immer wiederkehrender Topos in Machiavellis Werk.30 Rom dagegen konnte auf eine Bürgerarmee zurückgreifen und war deshalb höchst erfolgreich in seinen Eroberungszügen. Es hat sich aber dabei ein höchst fragiles Gleichgewicht zwischen Nobilität und Volk, wenn nicht sogar ein Übergewicht des Volkes bzw. der Volkstribunen eingehandelt, denn die kämpfenden Bürger fordern nun mal irgendwann politische Partizipationsrechte. „So muß man denn die Zwistigkeiten zwischen Volk und Senat ertragen und sie hinnehmen als ein notwendiges Übel, ohne das Rom seine Größe nicht erreicht hätte.“ (D I/7 28) Nun ist es nicht so eindeutig, wie es zunächst erscheint, welchem Modell Machiavelli den Vorzug gibt. Handeln die Discorsi auch im Großen und Ganzen von der römischen Republik, so fällt doch dem aufmerksamen Leser folgende Stelle im sechsten Kapitel des ersten Buches ins Auge: „Um ein Staatswesen von langer Dauer zu gründen, dürfte es wohl am besten 29

30

Vgl. hierzu die berechtigte Irritation von Eberhard Schmitt, Machiavelli, in: Hans Maier (Hg.), Klassiker des politischen Denkens Bd. 1: Von Platon bis Hobbes, München, 1968, 200–221: „Angesichts einer solchen Konsequenz mag man sich fragen, ob die imperiale Leistung endlich in sich selbst genug sei und aus welchen Gründen, wobei man sich ein wenig fühlen mag wie Peer Gynt, der die Zwiebel solange entblätterte, bis er feststellen musste, dass sie keinen Kern hatte.“ (S. 221) Ausführlich dazu Herfried Münkler, Der Imperativ expansiver Selbsterhaltung. Machiavellis komparative Begründung für die Vorbildlichkeit der Römischen Republik, in: ders., Voigt, Walkenhaus (Hg.), Demaskierung der Macht, 103–121. Vgl. dazu auch die Darstellung von Machiavellis Rolle bei der Bildung einer Florentiner Miliz 1512 und die Kommentierung der „Arte della guerra“ in Maurizio Viroli, Das Lächeln Niccolos. Machiavelli und seine Zeit, Zürich, 2000, 275ff.

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sein, ihm eine Verfassung wie Sparta oder Venedig zu geben, es stark zu befestigen und es so mächtig zu machen, dass es niemand in den Sinn kommt, es schnell erobern zu können; andererseits darf man es auch nicht so groß machen, dass es den Nachbarn bedrohlich erscheint.“ (D I/6 27) Hier scheinen sich ein Ausweg aus dem berühmten Sicherheitsdilemma in der internationalen Politik anzudeuten und eine friedliche Koexistenz von Republiken, wie sie später Kant, wenn auch aus anderen Gründen, entwickeln wird.31 Der angeblich amoralische Machttechniker Machiavelli geht sogar noch einen Schritt weiter. Er schreibt: „Ich bin überzeugt, dass dies das wahre politische Leben und die wahre Ruhe für ein Gemeinwesen wäre, wenn man die Dinge auf diese Weise im Gleichgewicht halten könnte.“ (D I/6 28) Allein „alle menschlichen Dinge“ sind „in Bewegung“, „sie steigen und fallen“, und so bleibt für Machiavelli am Ende doch nur ein melancholisches Votum für Rom. Das Zusammenspiel von necessita, fortuna und virtu macht eine Einrichtung des Staates notwendig, die darauf achtet, „was größeren Ruhm bringt, (…) die ihn in den Stand setzt, sich zu vergrößern, wenn es die Notwendigkeit fordert, und zu erhalten, was er erobert hat.“ (D I/6 28)32 Wie stellt sich nun die institutionelle Struktur des republikanischen Stadtstaats bei Machiavelli da, den er ein vollkommenes Staatswesen nennt? Wir hatten bereits gesehen, dass er sich aus einer Mischung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie zusammensetzt, wobei Machiavelli hier die Institutionen der römischen Republik vorschweben, die Mischung von Konsuln, Senat und Comitia. Besonderes Gewicht legt er auf die Volkstribune, die es dem Volk ermöglichen, gegen Beschlüsse der Nobilität ein Veto einzulegen. „Untersucht man das Streben des Adels und des Volkes, so zeigt sich ohne Zweifel beim Adel ein starkes Verlangen zu herrschen, beim Volk aber nur das Verlangen, nicht beherrscht zu werden, und folglich ein stärkerer Wille, in Freiheit zu leben (…). Werden daher Männer aus dem Volk zu Hütern der Freiheit bestellt, so werden diese vernünftigerweise stärker um deren Schutz besorgt sein.“ (D I/5 21) Machiavelli schließt sich dem Urteil des Aristoteles an, das viele besser urteilen, als ein Einzelner, „denn die öffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig.“ (D I/58 151) Machiavellis republikanische Mischverfassung erhält dadurch einen stark zur demokratischen Komponente hinneigenden Zug, dem man durchaus den Charakter einer deliberativen Demokratie zuschreiben kann. Allerdings besteht diese Deliberation eher auf der OutputSeite des politischen Prozesses, in der Diskussion der Beschlüsse der Nobilität verbunden mit einer Vetooption. Machiavelli schließt dies mit einer Apologie der Meinungsfreiheit zusammen: „Die ungünstige Meinung über das Volk entsteht daraus, dass jeder dem Volk, auch dann, wenn es regiert, frei und ohne Scheu Übles nachreden kann, während man über einen Gewalthaber immer nur unter tausend Ängsten (…) sprechen darf.“ (D I/58 153) Es gibt wohl kein besseres Zeugnis für Machiavellis der Demokratie zugeneigten Republikanismus als diese Passagen der Dis31 32

Siehe dazu das Kapitel II.6 in diesem Band. Ich unterlasse es hier, das in der Machiavelli-Forschung reichlich erforschte Feld des Zusammenhanges von necessita, fortuna und virtu wiederzugeben. Die beste Untersuchung zu diesem Thema hat meines Erachtens Hanna Pitkin vorgelegt. Vgl. Hanna Pitkin, Fortune is a Woman. Gender and Politics in the Thought of Niccolo Machiavelli, Berkley, 1992.

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corsi. So heißt es dann auch, „zu einem zügellosen, aufrührerischen Volk kann ein Mann von rechter Gesinnung sprechen und es leicht wieder auf den rechten Weg zurückführen, mit einem schlechten Alleinherrscher aber kann niemand reden, gegen ihn gibt es kein anderes Mittel als den Dolch.“ (Ebd.) Was immer man von diesem Vertrauen Machiavellis auf die Rationalität der Deliberation des Volkes halten mag, es belegt eindeutig seine demokratische Gesinnung. Neben diesem institutionell eingebundenen Dauerkonflikt zwischen Nobilität und Volk, mit seinem stark zu demokratischen Deliberation neigenden Zug, hat nun die Herrschaft des Gesetzes für Machiavelli eine exzeptionelle Bedeutung. Ja, die Herrschaft des Gesetzes ist überhaupt der Kern von Machiavellis Republikanismus, denn Gesetze machen die Menschen gut. Man kann nach Machiavelli einen Staat dann nicht als schlecht beurteilen, wenn er „viele Beispiele hervorragender Tüchtigkeit“ aufweisen kann, gute Beispiele entstehen aber „durch gute Erziehung, gute Erziehung durch gute Gesetze und gute Gesetze durch Parteikämpfe“ (D I/4 19). Wir sehen nun noch etwas genauer, was mit der Formel einer republikanischen Kultur der Freiheit bei Machiavelli gemeint ist. Der institutionell eingebundene republikanische Dauerkonflikt zwischen den Bürgern schafft die Gesetze, die die Bürger zu diesem Dauerkonflikt erzieht und damit genau diese guten Gesetze und guten Bürger weiterhin ermöglicht. Machiavelli ist dabei weit entfernt von einer harmonistischen Vorstellung von Politik. Dennoch gelingt es ihm, über diesen Gedanken der Verwiesenheit von politischem Konflikt, institutioneller Struktur, Herrschaft des Gesetzes und bürgerlicher Tugend eine grundsätzlich gemeinwohlorientierte Politikkonzeption zu entwickeln. Das ist im Übrigen das eigentlich brillante Moment in Machiavellis Denken, das uns heute mehr interessieren sollte als der angebliche Lehrer des Bösen oder der Theoretiker der Staatsräson. Die Herrschaft des Gesetzes in einer solchen Republik zeichnet sich für Machiavelli dadurch aus – und dies ist es, was ihn zu einem von uns Modernen macht –, dass die Vollstreckung „nicht durch die Gewalttat eines einzelnen noch mit Hilfe einer fremden Macht“ geschieht, „was beides die Freiheit vernichtet, sondern durch die öffentliche Gewalt und durch Staatseinrichtungen, die ihre bestimmten Grenzen haben“ (D I/7 30). Insbesondere die Möglichkeit der Klageeinreichung macht für Machiavelli die Herrschaft des Gesetzes attraktiv. Einerseits hat sie eine disziplinierende Wirkung, insofern „die Bürger aus Furcht vor Verfolgung nichts gegen den Staat unternehmen“ (D I/7 29). Andererseits hat sie eine zivilisierende Wirkung, da den „Mißstimmungen, die auf mancherlei Art in einem Staat gegen einen Bürger entstehen, Luft geschaffen“ wird (ebd.). Finden solche Missstimmungen keinen „gesetzlichen Ausweg“, tendieren sie nämlich nach Machiavelli dazu, zu „außerordentlichen Mitteln ihre Zuflucht“ zu nehmen, und diese richten eine Republik „völlig zugrunde“ (ebd.). Dies ist in Grundzügen die institutionelle Struktur von Machiavellis republikanischem Stadtstaat. Eine republikanische Kultur der Freiheit kann aber für Machiavelli allein durch institutionell eingebundenen Dauerkonflikt und gute Gesetze nicht vollständig gewährleistet werden. Sie sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Hier kommt nun Machiavellis instrumentelles und funktionalistisches Verständnis der Religion in Spiel (Vgl. D I/11). Er hebt lobend hervor, wie in Rom die Religion

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instrumentalisiert wurde, um „die Heere in Gehorsam, das Volk in Eintracht zu halten, die guten Menschen zu stärken und die schlechten zu beschämen“ (D I/11 44). Die „Häupter eines Freistaates“ müssen daher „alles, was für die Religion spricht, unterstützen und fördern, auch wenn sie es für falsch halten“ (D I/12 47), da sich, „wo Religion lebendig ist, alles Gute voraussetzen lässt“ (D I/12 49). Man muss dies aber nicht grundsätzlich als Ideologie und manipulative Herrschaftstechnik verstehen, obwohl eine solche Interpretation nicht ganz von der Hand zu weisen ist, sondern kann in Machiavelli auch einen Vertreter einer Zivilreligion im Sinne eines aufgeklärten Verfassungspatriotismus sehen. Funktional reagiert die Religion nämlich nach Machiavelli auf folgendes Problem: „Überdies wird der allgemeine Vorteil, den man von einer freien Verfassung hat, nämlich dass man frei und ohne Sorgen sein Eigentum genießen kann, dass man nicht für die Ehre seiner Frau und seiner Kinder zu bangen und nicht für seine eigene Person zu fürchten braucht, von niemanden anerkannt, solange man ihn genießt; denn nie wird sich jemand einem anderen verpflichtet fühlen, nur weil er ihm nichts zu Leide tut.“ (D I/16 58) Machiavelli behebt so in seinem Republikanismus avant la lettre das Problem des modernen Liberalismus, das nach Böckenfördes berühmtem Diktum bekanntlich darin besteht, dass der „freiheitliche, säkularisierte Staat“ von Voraussetzungen lebt, „die er selbst nicht garantieren kann“.33 Er ist auf ein „Entgegenkommen der Lebenswelt“ (Habermas) angewiesen. In Verbindung mit der rituell im Alltag der Bürger zu verankernden Zivilreligion und dem Dienst in der Bürgerwehr wird für Machiavelli die Republik daher dadurch getragen, dass sie sich immer wieder ihres Ursprungs erinnert. „Zusammenfassend ist zu sagen, dass es für Gemeinschaften (…) absolut notwendig ist, ihnen das Ansehen wiederzugeben, das sie in ihrem Anfang hatten. Hierbei muß man danach trachten, dass entweder gute Einrichtungen oder treffliche Männer diese Wirkung hervorbringen“ (D III/2 278). D. h. die Republik muss neben ihren Institutionen so beschaffen sein, dass sie von Bürgern getragen wird, die sich des ursprünglichen Zwecks und Werts ihrer politischen Vergemeinschaftung erinnern; die diesen Ursprungszustand immer wieder vor der sich zwangsläufig mit der Zeit einstellenden allgemeinen Korruption bewahren und wieder herzustellen suchen, wenn nötig – da ist Machiavelli wie üblich nicht zimperlich – mit Gewalt. Einfach auf den Punkt gebracht, heißt das für Machiavelli auch: „Wie nämlich zur Erhaltung guter Sitten Gesetze nötig sind, so sind auch zur Beachtung der Gesetze gute Sitten erforderlich“ (D I/18 64). Eine Republik ist für Machiavelli also auf eine intakte republikanische Kultur der Freiheit angewiesen und vice versa. Der institutionell eingebundene Dauerkonflikt der Mischverfassung und die Herrschaft des Gesetzes mit ihrer Möglichkeit der Vetooption und der Klageeinreichung auf der institutionellen Seite sowie der Dienst in der Bürgerarmee, die Zivilreligion und die Erinnerung und Bewahrung des republikanischen Ursprungs auf der lebensweltlichen Seite sind für Machiavelli notwendige Komponenten einer republikanischen Kultur der Freiheit. Nur im Zusammenspiel sind sie für ihn hinreichend für eine stabile, freiheitliche politische 33

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M., 1991, 112.

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II. Republikanische Ideengeschichte

Ordnung, die Ruhm erwerben kann. Andersherum formuliert: Diese institutionellen und lebensweltlichen Komponenten konstituieren eine republikanische Kultur der Freiheit, die nicht nur eine institutionelle Ordnung ist. In all ihren Komponenten ist sie Ausdruck einer zumindest nach innen zivilen, nach außen aber letztlich reichlich martialischen Lebensform, die sich der natürlichen Notwendigkeit und der Fortuna samt den damit verbundenen Unverfügbarkeiten des menschlichen Daseins entgegenzustemmen sucht.

II.3. HARRINGTON: DER REPUBLIKANISCHE FLÄCHENSTAAT „Ich gedenke weder geringfügige noch gewöhnliche Dinge zu erzählen: wie ein sehr mächtiger König, der, nach Unterdrückung der Gesetze, nach Niederbeugung der Religion, mit Willkür und Laune herrschte, zuletzt von seinem eigenen Volk, welches eine lange Knechtschaft erduldet hatte, im Kriege besiegt, wie er dann ins Gefängnis geworfen und, da er weder durch Worte noch durch Taten durchaus keinen Grund gab, besseres von ihm zu erwarten, erst von dem höchsten Rat des Reiches zum Tode verurteilt und vor den Pforten des Palastes selbst mit dem Beile enthauptet worden ist.“1 Mit diesen Worten beginnt der englische Dichter und Republikaner John Milton seine große Verteidigung des englischen Volkes. Die gewaltige Erschütterung, die die erste große Revolution der Neuzeit und die öffentliche Verurteilung und Hinrichtung des Königs 1649 weit über die Grenzen Englands hinaus bewirkt hat, werden in dieser Schrift ebenso deutlich, wie das Pathos und die Begeisterung der republikanischen Revolutionäre. Die Existenz der Schrift Miltons selbst ist Ausdruck der Ungeheuerlichkeit der öffentlichen Verurteilung und Hinrichtung eines Königs durch das Volk. So etwas ward bis dato noch nicht gesehen. Gewiss, auch zuvor schon gab es Aufstände gegen Fürsten, gab es Giftmorde und Usurpatoren. Aber dass ein König aufgrund der Rechte des Volkes abgesetzt, verurteilt und hingerichtet wurde, war ein Novum. Damit haben die Engländer 1649 das Zeitalter der Revolutionen und damit die Moderne selbst eingeläutet.2 Ab diesem Moment war die Herrschaft des Volkes eine reale politische Option in Europa. Genau wegen dieser ebenso politisch-sozialen wie geistigen Revolution sahen sich die englischen „Königs-„ bzw. „Vatermörder“ aber heftigster publizistischer Attacken im eigen Land und auf dem Kontinent ausgesetzt, und Milton sieht sich daher genötigt, die Revolution gegen diese zu verteidigen.3 1 2

3

John Milton (1651), John Miltons, eines Engländers, Verteidigung des Volkes von England, in: Elfriede Walesca Tielsch (Hg.), John Milton und der Ursprung des neuzeitlichen Liberalismus. Studienausgabe der politischen Hauptschriften, Hildesheim 1980, 165–353, 165. Dies gilt zumindest, wenn man Hannah Arendts – wie ich finde – zutreffende Definition der modernen Revolution als Maßstab heranzieht. Vgl. Arendt, Hannah, Über die Revolution, München 1963. „Nur wo durch Wechsel ein Neuanfang sichtbar wird, nur wo Gewalt gebraucht wird, um eine Staatsform zu konstituieren, einen neuen politischen Körper zu gründen, nur wo der Befreiungskampf gegen den Unterdrücker die Begründung der Freiheit wenigstens mitintendiert, können wir von einer Revolution im eigentlichen Sinne sprechen.“ (S. 42) Ansonsten handelt es sich lediglich um Aufstände oder Rebellionen. Nun trifft aber diese Definition genau auf die englische, republikanische Revolution der 1640er zu, auch wenn es ihr schließlich nicht gelang, eine dauerhafte republikanische Ordnung zu bilden. Vgl. insgesamt zur englischen Revolution Hans-Christoph Schröder, Die Revolution Englands im 17. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1986.

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II. Republikanische Ideengeschichte

Nun sollte man meinen, dass die politischen Schriften der englischen Republikaner aufgrund der Bedeutung der englischen Revolution als Initialzündung für die politisch-sozialen Revolutionen des 18. Jahrhunderts eine breite philosophische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten. Davon kann aber keine Rede sein. Im Gegenteil hat sogar eher deren Gegner, der Theoretiker des absoluten Souveräns, Thomas Hobbes, die größte Aufmerksamkeit bis heute auf sich gezogen, während Republikaner wie John Milton, Marchmont Nedham, Algernon Sidney oder James Harrington eher der Vergessenheit anheimgefallen sind. Als Philosoph mag ihnen Hobbes im Hinblick auf argumentative Schärfe und Systematik vielleicht überlegen sein. Aber ideengeschichtlich haben rückblickend, wie wir sehen werden, die Republikaner einige bis heute äußerst berücksichtigenswerte Argumente auf ihrer Seite gehabt. Daneben hat ein Werk wie James Harringtons Oceana durchaus hohen philosophischen Rang und lohnt die Auseinandersetzung. Was wir hier angedacht finden, ist eine der zentralen Ideen der Moderne, die Idee der revolutionären Verfassungsgebung, die Abkopplung des Rechts und der Politik vom Herkommen, die Schaffung eines freiheitlich-rechtlichen Rahmens nach vernünftigen, staatsrechtlichen und politikwissenschaftlichen Prinzipien. Pikanterweise hat sich diese Idee der Republikaner mit dem Scheitern der Revolution und der Widereinsetzung der Monarchie 1660 in England bis auf den heutigen Tag nicht durchgesetzt. England ist bekanntlich noch heute ein Land des common law, ein Land ohne Verfassung.4 Es blieb den Amerikanern und Franzosen vorbehalten, diese Idee der englischen Republikaner mehr als einhundert Jahre später in die Tat umzusetzen.5 In den letzten Jahren hat insbesondere Quentin Skinner das politische Denken der englischen Republikaner wieder in den Fokus der philosophischen Aufmerksamkeit gerückt. Skinner spricht, wie wir gesehen haben, von einer „neo-römischen republikanischen Theorie der Freiheit“, einer „Liberty before Liberalism“.6 Es 4

5

6

Vgl. Ivor W. Jennings, Leitfaden, in: ders., Gerhard A. Ritter, Das britische Regierungssystem. Leitfaden und Quellenbuch, Köln 1970, S. 25–107, insbesondere 25–40. Diese Feststellung, dass England bis heute ein Land ohne Verfassung ist, gilt allerdings nur, wenn man den späteren Verfassungsbegriff der schriftlich fixierten Verfassung des 18. Jahrhunderts anlegt, die gewissermaßen über allen Organen des Staates steht bzw. ihnen vorausgeht. Ulrich K. Preuß spricht daher im Hinblick auf England von einer „politischen Verfassung“. Vgl. Ulrich K. Preuß, Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, in: ders. (Hg.), Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, Frankfurt a.M. 1990, 7–37. „Die politische Macht (in England P. H.) ruht gewissermaßen, eingefasst in ehrwürdige Institutionen und überkommene Konventionen, im Schoße der Gesellschaft.“ (S. 12) Vgl. für diese ideengeschichtliche Verbindungslinie zwischen englischer, amerikanischer und französischer Revolution, die für die angelsächsische Linie wesentlich besser untersucht ist, für den Einfluss auf die amerikanische Revolution Bernard Baylin, The Ideological Origins of the American Revolution, Harvard 1967, Gordon Wood, The Creation of the American Republic 1776–1787, North Carolina 1969, John G. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975 und Michael P Zuckert, Natural Rights and the New Republicanism, Princeton 1998. Für den Einfluss der Commonwealthmen auf das kontinentaleuropäische und französische Denken des 18. Jh. grundlegend ist Franco Venturi, Utopia and Reform in the Enlightenment, Cambridge 1971 sowie Biancamaria Fontana (Hg.), The Invention of the Modern Republic, Cambridge 1994. Vgl. Quentin Skinner, Liberty before Liberalism, Cambridge 1998.

3. Harrington: Der republikanische Flächenstaat

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fragt sich allerdings, ob der Begriff „neo-römischer Republikanismus“ für den englischen Republikanismus eine glückliche Wahl ist. Das von Cicero ausgehende und über Livius tradierte Institutionenmodell der römischen Republik und das römische Rechtsverständnis spielen zweifellos eine wichtige Rolle bei den englischen Republikanern. Aber darauf beschränkt sich die Rezeption der Antike bei ihnen sicher nicht. Die englischen Republikaner referieren auf die gesamte antike Geisteswelt, auf Platon und Aristoteles ebenso, wie auf Cicero und Livius, daneben auf eine Vielzahl weiterer antiker Philosophen, Historiker und Dichter. Zudem spielen – es ist das Jahrhundert der Religionskriege7 – die Spaltung des Christentums, die politisch richtige Lesart der Bibel und die Rolle der Religion in der Politik eine zentrale Rolle, so dass man sagen kann, dass die geistesgeschichtlichen Wurzeln neben Rom auch Athen und Jerusalem umfassen und damit die ganze abendländische Geisteswelt.8 Sinnvoller scheint mir daher auch hier eine weitere, epochenspezifische Einteilung, wonach die englischen Republikaner neben den italienischen Republikanern der Renaissance zu einer Gruppe von klassischen Republikanern gehören, die den antiken Republikanismus wieder aufgreifen und in die Moderne hinein transformieren, ohne schon selbst ganz der Moderne anzugehören. Die englischen Republikaner legen die Fundamente für die erste neuzeitliche Konzeption der Republik als Flächenstaat und lösen die Republik damit aus dem Konzept des Stadtstaates. Diese Erweiterung der Republik wird mit der Idee der gewählten Repräsentation für den republikanischen Territorialstaat verbunden.9 Antike und moderne Klugheit Für den 1611 in den englischen Landadel hineingeborenen James Harrington spielt neben dem Bezug auf die von ihm sogenannte „antike Klugheit“ und auf Machiavelli die christliche Tradition eine zentrale Rolle.10 Ja, das alttestamentarische Israel wird für ihn zum Prototyp aller Republiken, an dem sich dann die Republiken Sparta, Athen, Rom, Venedig und andere mehr orientiert hätten. Nun ist diese historische Verbindungslinie aus heutiger Sicht ziemlich abwegig. Sie verdeutlicht aber die besondere geistesgeschichtliche Konstellation, aus der heraus sich der englische Republikanismus konstituiert.11 Neben diesem jüdisch-christlichen Einfluss 7

Vgl. Hugh Trevor-Roper, Die allgemeine Krisis des 17. Jahrhunderts, in: ders., Religion, Reformation und sozialer Umbruch. Die Krisis des 17. Jahrhunderts, Berlin 1967, S. 53–94. 8 Vgl. dazu jetzt auch Eric Nelson, The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought, Harvard 2011. 9 Vgl. für einen umfassenden Überblick über das politische Denken während der englischen Revolution Mark Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, in: Iring Fetscher, Herfried Münkler (Hg), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, München 1985, 275–352. 10 Vgl. zu Harrington insbesondere John G. Pocock, Introduction, in: ders. (Hg.), Harrington. The Commonwealth of Oceana and A System of Politics. Cambridge Texts in the History of Political Thought, Cambridge 1992, S. vii-xxvi. 11 Vgl. zu diesem Israel-Bezug vor allem Nelson, The Hebrew Republic.

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II. Republikanische Ideengeschichte

auf Harringtons Republikanismus sind jedoch das antike politische Denken und das der italienischen Renaissance zentral, wobei hier insbesondere die Republikaner Gianotti und Machiavelli wiederholt in seinen Schriften auftauchen. Es wurde daher auch im Zusammenhang mit Harrington und seinem Ende der 1650er Jahre gegründeten Zirkel von Anhängern, dem Rota-Klub, von einer „Italienisierung“ des englischen politischen Denkens gesprochen.12 Harrington und seine Anhänger setzten sich während der nach der Revolution 1649 immer mehr autokratische Züge annehmenden Regierung Oliver Cromwells für die Schaffung einer aus zwei Kammern bestehenden Republik ein, wie sie auch in Oceana angedacht ist, konnten sich aber damit bis zur Restauration der Monarchie 1660 nicht durchsetzen. Nach der Restauration wurde Harrington auf Anweisung des neuen Monarchen Karl II. verhaftet und in den Kerker geworfen, aus dem er rund ein Jahr später mit schweren gesundheitlichen Schäden, von denen er sich bis zu seinem Tod nicht mehr erholt hat, wieder entlassen wurde. Wenden wir uns zunächst Harringtons Geschichts- und Revolutionstheorie zu. Nach Harrington gab es zwei Etappen oder Perioden der Regierung: Erstens die der „antiken Klugheit“, die „Gott den Menschen in der Staatsform des Reiches Israel geoffenbart hatte und die alsdann gemäß dem von ihm gewiesenen Wege durch Griechen und Römer aufgegriffen und einhellig übernommen wurde“.13 Die zweite Periode beginnt mit der „Waffengewalt Cäsars, die das Ende der Freiheit und den Übergang von der antiken zur modernen Weisheit bedeutete“. Durch die Völkerwanderung, den Untergang des römischen Reiches und die Entstehung der Feudalgesellschaft wurde nach Harrington „das ganze Gesicht der Erde mit jenen üblen Methoden der Staatsführung verunstaltet“.14 Einzig Venedig sei diese Entwicklung erspart geblieben, wodurch es mit seiner republikanischen Staatsform bis heute das blühende Beispiel der antiken Klugheit sei. Der antiken Klugheit gilt staatliche Regierung „als eine Kunst, mit deren Hilfe eine bürgerliche Gesellschaft von Menschen auf der Grundlage gemeinsamer Rechte und Interesse zustande gebracht und aufrechterhalten wird“.15 Nach antiker Klugheit sollen die Gesetze herrschen, so Harrington, und nicht Menschen. Harrington verweist hier auf Aristoteles und Livius, wobei hinter der Definition der antiken Klugheit – das zeigt der Verweis auf das gemeinsame Recht und Interesse – Ciceros Definition der res publica vermutet werden darf.16 Jedenfalls zeichnet sich die moderne Klugheit (bzw. die Feudalgesellschaft) nun umgekehrt dadurch aus, dass nach ihr Menschen und nicht Gesetze regieren und dass Regieren als eine Kunst der Unterwerfung von Städten und Nationen durch kleine Gruppen verstanden wird. Die moderne oder, wie Harrington auch sagt, „gotische“ Kunst des Regierens folgt einzig dem Privatinteresse der Regierenden. Machiavelli ist für Harrington der größte zeitgenössische Vertreter der 12 13 14 15 16

Vgl. Jürgen Gebhardt, James Harrington, in: Eric Voegelin (Hg.), Zwischen Revolution und Restauration. Politisches Denken in England im 17. Jahrhundert, München 1968, 83–111, 87 James Harrington (1656), Oceana, herausgegeben von Hermann Klenner und Klaus Udo Szudra, Stuttgart 1991, 14. Ebd. 14–15. Ebd. 15. Vgl. dazu Kapitel II.1. in diesem Band.

3. Harrington: Der republikanische Flächenstaat

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antiken Klugheit, während für ihn Hobbes deren größter Feind ist, der „ihren Untergang erstrebt“.17 Wie kam es aber zum Übergang von antiker zu moderner Klugheit bzw. wie kommt es überhaupt zu Revolutionen von einer Regierungsart zu einer anderen? Harringtons Revolutionstheorie sieht hier zwei Ursachen vor, eine natürliche und eine gewaltsame. Gewaltsame Revolutionen finden statt, wenn von außen mit Waffengewalt eine politische Ordnung zerstört und eine neue eingeführt wird. Dies geschah im Falle des Übergangs von der antiken zur modernen Klugheit durch Cäsar und die germanischen Völker. Natürliche Revolutionen finden dagegen statt, wenn sich im Innern einer politischen Ordnung durch einen Wandel der Besitzverhältnisse – wobei Harrington hier offenbar an marktartige Prozesse des sozialen Wandels zu denken scheint – die Herrschaftsverhältnisse wandeln. Harrington sieht eine solche Revolution im England seiner Zeit vor sich gehen. Die alte Konzentration des Landbesitzes in der Hand des Königs und des Adels, das „gotische Gleichgewicht“, wie Harrington sagt, hat sich gewandelt zu einer Konzentration des Landes in der Hand des Volkes. Die alte Feudalordnung kann nun nicht mehr stabil sein, da ihr jede materielle Basis fehlt. In dieser These einer natürlichen Revolution zeigt sich Harrington als Theoretiker der bürgerlich-kapitalistischen Revolution. Er fordert politische Mitbestimmung für das Bürgertum, das durch diese natürliche Revolution als neue, führende Klasse hervorgetreten ist. Harrington denkt seine Geschichts- und Revolutionstheorie wie überhaupt seine gesamte politische Philosophie im Rahmen der platonischen Analogie von Mensch und Staat. Er verbindet diese platonische Körperanalogie aber auf eigentümliche Weise mit dem aristotelischen Hylemorphismus, mit der aristotelischen Ontologie von Materie und Form als Komponenten alles Seienden. Die politische Ordnung wird von Harrington in Analogie zum Menschen gedacht. So wie der Mensch über einen Körper, eine Materie verfügt, und über eine Seele, ein Formprinzip, so verfügt der Staat über einen Körper, die materielle Besitzverteilung, und eine Seele, die politische Herrschaftsform. Die Form kann dabei nicht jeder Materie übergestülpt oder eingeschrieben werden, sondern kann nur das entwickeln, was in der Materie bereits angelegt ist. Daher determiniert die Verteilung des Landbesitzes die Stabilität der Herrschaftsform. Nach der natürlichen Revolution der Besitzverhältnisse des gotischen Gleichgewichts kann für Harrington nur noch eine populare, republikanische Regierungsform stabil sein. Die antike Klugheit und die historischen Beispiele von Israel bis Venedig geben dabei nach Harringtons politischer Wissenschaft vor, wie diese politische Ordnung am besten zu gestalten ist. Daran soll sich der von Harrington erdachte Rat der Legislatoren bei ihrer Verfassungsgebung für die ideale Republik Oceana (England) orientieren, wobei das Volk über Petitionen Verbesserungsvorschläge beim Rat einreichen kann, die dieser allerdings nicht annehmen muss. Harrington entwickelt hier die Idee einer revolutionären verfassungsgebenden Versammlung, in der sich ein ungebrochener, rationalistischer Glaube an die Planbarkeit politischer Ordnung auf Basis einer politischen Wissenschaft zeigt, wie er für die Moderne dann zumindest bis ins 20. Jahrhundert hinein 17

Harrington, Oceana, S. 15.

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II. Republikanische Ideengeschichte

bestimmend geblieben ist. Der Rat der Legislatoren – d. h. die Partei der republikanischen Revolutionäre und die New Model Army unter Führung von Cromwell, dem Oceana gewidmet ist – setzt sich als formgebende Avantgarde an die Spitze einer Revolution, die auf natürliche Weise und auf materieller Ebene bereits stattgefunden hat. Die bereits vollzogene Revolution wartet nur noch auf diejenigen, die ihr die bereits in ihr angelegte Form geben. Der republikanische Flächenstaat Was aber besagt nun die politische Wissenschaft der antiken Klugheit? Gemäß Harringtons Analogie von Körper und Seele sind die „Grundsätze staatlicher Regierung zwiefach, indem sie nämlich zum einen die inneren oder geistigen und zum anderen die äußeren oder leiblichen Güter betreffen“.18 Den geistigen Gütern ordnet Harrington die Tugend zu, den körperlichen den Reichtum. Die Tugend führt zu „Ansehen“ beziehungsweise Autorität; Reichtum führt zu „Macht oder Herrschaftsgewalt“.19 Zunächst die körperlichen Güter: Wie bereits deutlich geworden ist, ist für Harrington die Verteilung des Reichtums die materielle Grundlage, nach der sich die Form einer stabilen Regierung richten muss. Harringtons Argument dafür ist, dass sich „in demselben Maße, wie jemand, den es nach Brot verlangt, sich demjenigen zum Diener macht, der ihn speist, so hat auch jemand, der ein ganzes Volk ernährt, dieses in der Hand“.20 Mit diesem Argument eng verbunden ist für ihn, dass jede Herrschaftsgewalt, das „öffentliche Schwert“, wie Harrington auch in Auseinandersetzung mit Hobbes sagt, auf der Miliz fußt, und diese hat einen „großen Magen und will gefüttert sein“.21 Konzentriert sich die Macht, das heißt „Eigentum an Grund und Boden oder privatem Vermögen, […] Ländereien oder Geld und Güter“,22 in der Hand eines Einzelnen, wofür Harrington der türkische Sultan als Beispiel dient, so hat man es mit einer „absoluten Monarchie“ zu tun. Teilt sich das Eigentum unter einem Fürsten und einer Gruppe von Adligen, so hat man es mit der „gemischten Monarchie“ des gotischen Gleichgewichts zu tun. „Und wenn das Volk in seiner Gesamtheit Grundherr ist oder Ländereien so unter sich aufgeteilt hat, dass kein einzelner oder keine Gruppe von Menschen in ähnlichem Umfang wie die Minderheit oder die Aristokratie vorherrscht, so ist die Gewalt […] ein Gemeinwesen [commonwealth].“23 Letzteres ist der Zustand, den Harrington für seine eigene Zeit als gegeben annimmt, wobei hier aber keine absolute Gleichverteilung im Sinne der radikalen Leveller von Harrington gemeint ist. Eher im aristotelischen Sinne die Vermeidung zu großer Ungleichverteilung, wofür ein Bodengesetz mit einer Obergrenze für Landbesitz sorgen soll. Dieses gewährleistet das Fortbestehen, ja die ewige Dauer, wie der optimistische Rationalist Harrington hofft, 18 19 20 21 22 23

Ebd., 17. Ebd., 18. Ebd., 18. Ebd., 22. Ebd., 18 Ebd., 19.

3. Harrington: Der republikanische Flächenstaat

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der materiellen Grundlage der Republik beziehungsweise des Commonwealth und damit von diesem selbst. Kommen wir zu den geistigen Gütern, den Tugenden: Harrington möchte zeigen, wie sich die geistigen Güter, aus denen die Autorität einer Regierung erwächst, mit den körperlichen Gütern, dem Besitz, aus dem die Macht einer Regierung erwächst, vereinigen lassen „und gemeinsam nach dem Kranz oder der Krone der Herrschaft greifen!“24 Die Regierung ist für Harrington die „Seele eines Landes oder einer Stadt“.25 Da nur die Seele „Tugend und Seelenfreiheit“26 gewinnen kann, die durch die Vernunft regiert wird und nicht durch die Leidenschaften, so kann auch ein Gemeinwesen nur frei sein, das durch die Vernunft regiert wird, so Harringtons zentrales Argument. Regierung der Vernunft bedeutet aber Herrschaft von Gesetzen und nicht von Menschen, also die antike Klugheit. Harrington verknüpft an dieser Stelle seiner Argumentation die Herrschaft der Gesetze und die Regierung durch die Vernunft mit der Gleichverteilung von Besitz und Macht. So schreibt er: „Denn die Gleichheit der Güter bewirkt Gleichheit der Macht, und Gleichheit der Macht bedeutet nicht nur die Freiheit des Gemeinwesens, sondern jedes Menschen darin“.27 Die Freiheit eines Gemeinwesens und jedes Menschen darin beruht also auf der Regierung der Vernunft, d. h. des Gesetzes, und der relativen Gleichheit des Besitzes, d. h. der Macht. Harringtons Schrift ist an dieser entscheidenden Stelle, an der die körperlichen und geistigen Güter mit der Freiheit verbunden werden, etwas sprunghaft und unklar. Es ist wohl auch die Stelle der Schrift, an der er sich am weitesten dem Geist der radikalsten Strömungen der englischen Republikaner öffnet. Dass Harrington in eine relativ demokratisch-egalitäre Richtung denkt, beweist die an dieser Stelle der Schrift geführte und in den letzten Jahren insbesondere durch die Arbeiten Quentin Skinners zu einiger Berühmtheit gelangte Auseinandersetzung mit Hobbes.28 Hobbes’ Aussage, dass ein Bürger der Republik Lucca nicht mehr Freiheit besäße als ein Untertan des türkischen Sultans, bringt Harrington gewaltig in Rage.29 Ob ein Gemeinwesen monarchisch oder demokratisch sei, sei für die Freiheit unerheblich, so Hobbes; vielleicht finden wir hier tatsächlich, wie von Skinner und Pettit behauptet, den Ursprung eines vor allem auf privatrechtliche, rein negative Freiheiten beschränkten Liberalismus, dem der Bezug zu politischen Freiheitsrechten verlorengeht. Harrington jedenfalls hält Hobbes‘ Argumentation für vollkommen absurd. Zwar sei es richtig, dass sowohl der Untertan des Sultans, als auch der Bürger Luccas dem Gesetz unterworfen seien. Aber der Untertan des Sultans sei völlig willkürlich gegebenen Gesetzen unterworfen, während der Bürger Luccas sich seine Gesetze selbst gebe und insofern durch diese Gesetze, so Harrington, frei werde. Der „geringste Landbesitzer von Lucca“ ist für Harring24 25 26 27 28 29

Ebd., 29. Ebd., 30. Ebd., 29. Ebd., 30. Vgl. Skinner, Liberty before Liberalism, 77–87. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, Kapitel 21, übersetzt von Jacob Peter Mayer, Stuttgart 1970, 187–199.

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II. Republikanische Ideengeschichte

ton „ein freier Mann, der allein der Herrschaft des Gesetzes unterliegt, das von allen Privatpersonen nur zu dem Zweck abgefasst wurde (sonst könnten sie sich dafür bedanken!), die Freiheit aller Privatpersonen zu schützen, die auf diese Weise zur Freiheit des Gemeinwesens wird“.30 In diesem Punkt und der Frontstellung gegen Hobbes stimmen die englischen Republikaner überein, auch wenn sie sich über die Frage, ob die englische Republik über ein Ein- oder Zwei-Kammersystem verfügen sollte, gestritten haben. Der damalige Streit über die Institutionalisierung des gewählten Repräsentativsystems in einer oder zwei Kammern führt uns nun zu der Frage, wie Harrington die institutionelle Ordnung seines republikanischen Flächenstaats konzipiert und begründet. Wie kann es geschehen, so fragt er sich, dass in einem Gemeinwesen die Vernunft und damit das Gesetz herrschen, wenn doch alle Bürger – und das heißt für Harrington, auch die „geringsten Landbesitzer“, aber keine Lohnempfänger oder Tagelöhner31 – an der Gesetzgebung beteiligt werden sollen, damit von einem freien Gemeinwesen die Rede sein kann, die Menschen aber durch ihre Leidenschaften und damit ihr Privatinteresse gesteuert werden? Der genial einfache Schachzug Harringtons ist nun die Einführung des Prinzips „Teilen und Wählen“ über das Beispiel der zwei Mädchen, das ich etwas ausführlicher zitieren möchte: „Daß sich aber eine derartige Ordnung schaffen lässt, die in allen Fällen [! P. H.] – ungeachtet der in jedem Menschen wirkenden Eigensucht – dem gemeinsamen Recht oder Interesse den Vorrang einräumen kann, ja muß, und zwar auf die gleiche zuverlässige und einfache Weise, wissen sogar kleine Mädchen, da sie nichts anderes darstellt, als was sie bei verschiedenen Gelegenheiten selber zu tun gewöhnt sind. Nehmen wir an, zwei Mädchen hätten einen unzerschnittenen Kuchen in die Hand gedrückt bekommen, den sie so teilen sollen, daß jede ein gleich großes Stück davon erhält. ‚Teile du‘, sagt die eine zur anderen, ‚und ich wähle, oder ich will teilen, und du sollst wählen‘. Wenn sie sich nur in diesem einen Punkt einig werden, genügt das schon, denn diejenige, die ungleich teilt, zieht den kürzeren, weil die andere sich nun das größere Stück aussuchen wird; deshalb teilt sie gleich, und so kommen beide zu ihrem Recht.“32 Auf diesem Beispiel fußt Harringtons institutionelle Ordnung, sein Zweikammersystem, in dem ein Senat Gesetzesvorlagen debattiert und vorschlägt und eine repräsentative Volksversammlung über diese abstimmt. Der Senat kann keine Gesetze entscheiden und das Repräsentantenhaus keine vorschlagen und so werden sie, so Harrington, wie durch eine „unsichtbare Hand“33 geleitet, gerechte Gesetze geben, die im allgemeinen Interesse sind und die Freiheit des Gemeinwesens und jedes einzelnen Bürgers wahren. Diese institutio30 31 32 33

Harrington, Oceana, 31. Vgl. dazu Christopher Hill, James Harrington and the People, in: ders., Puritanism and Revolution. Studies in Interpretation of the English Revolution of the 17th Century, London 1965, 299–313. Harrington, Oceana, S. 33–34. Das steht nicht bei Harrington, aber man könnte dieses Theorem der „unsichtbaren Hand“ bereits hier in politischer Form in Entstehung begriffen sehen. Vgl. die Studie von Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründung des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M. 1985.

3. Harrington: Der republikanische Flächenstaat

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nelle Ordnung fungiert als Ausfallbürgschaft für die ungewisse Tugendhaftigkeit der Bürger und Repräsentanten. Sie ist für Harrington zugleich institutioneller Ausdruck des Naturrechts, der rechten Vernunft (right reason), oder, wie es bei Cicero heißt, der recta et perfecta ratio. „Es gibt ein gemeinsames Recht, Naturgesetz oder Gesamtinteresse, das höhersteht und von den Beteiligten auch so empfunden wird als das Recht oder das Interesse der Einzelteile.“34 Mit Harringtons republikanischer Ordnung und ihrem Bikameralismus nähern wir uns langsam der institutionellen Ordnung, die die Gründerväter der amerikanischen Republik in Verfassungsform gießen werden. Harrington bleibt jedoch insofern noch dem antiken Republikanismus verhaftet, als er davon ausgeht, dass es eine „natürliche Aristokratie“35 gibt, die besonders tugendhaft ist und die wichtige Aufgabe des Teilens, das heißt der Gesetzesberatung und -vorlage zu übernehmen habe. Das Volk habe die „ausdrücklich anbefohlene Verpflichtung, sich ihrer Leitung anzuvertrauen“.36 Allerdings hat diese natürliche Aristokratie kein erbliches Recht auf den Sitz im Senat, sondern soll aufgrund ihrer „hervorragenden Fähigkeiten“ gewählt werden. Neben Senat und Volksversammlung muss es nun für Harrington noch eine dritte Gewalt in einer stabilen Republik geben, die das öffentliche Schwert und damit, soll das Schwert nicht aus Papier sein, die Miliz führt. „Darum muß es neben den beiden gesetzgebenden Körperschaften eines Gemeinwesens, nämlich dem Senat und dem Volk, notwendigerweise noch eine dritte geben, welche die geschaffenen Gesetze vollstreckt, und das ist die Obrigkeit, so dass demzufolge durch kunstvolle Verbindung dieser Körperschaften miteinander das aus dem vorschlagenden Senat, dem beschließenden Volk und der vollstreckenden Obrigkeit bestehende Gemeinwesen, in dem die Aristokratie über den Senat, die Demokratie über das Volk und die Monarchie über die Obrigkeit zur Wirkung gelangen kann, nunmehr komplett ist. Da es nun einmal kein anders geartetes Gemeinwesen als dieses geben kann, und zwar weder in der Vorstellungskraft noch in der Wirklichkeit, nimmt es nicht Wunder, wenn Machiavelli uns dartut, daß die Klassiker der Antike dieses für das einzig gute hielten.“37 Diese Republik ist daher Harringtons Ideal und der Verweis auf Machiavelli zeigt an, dass sich letztlich hinter diesem Ideal wohl doch die römische Republik, wie sie Cicero idealisiert – und nicht das alte Israel –, verbirgt, mit ihrer Mischverfassung von Konsuln, Senat und Volksversammlung.38 Auf der Linie der Tradition der Idealisierung der römischen Republik, wie sie uns bereits bei Machiavelli begegnet ist, liegt auch Harringtons Konzeption der Außenpolitik seines Commonwealth of Oceana. Wie Machiavelli sieht er eine imperiale Strategie seiner Republik im internationalen System vor, wobei die eroberten Kolonien nun gerade im Gegensatz zum imperialen Zentrum, dem Commonwealth selbst, politisch organisiert sein sollen. In ihnen soll die soziale Schicht, die 34 35 36 37 38

Harrington, Oceana, 32. Ebd., 35 Ebd. Ebd., S. 37. Vgl. zur Geschichte der Mischverfassung und Harrington Alois Riklin, Harrington und England, in: ders., Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006, 225ff.

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II. Republikanische Ideengeschichte

über das Eigentum verfügt und damit über die Macht, von der Regierung fern gehalten werden, wodurch die politische Einheit und Stärke der Kolonie geschwächt wird und diese dem imperialen Zentrum unterworfen bleibt. Mit dieser imperialen Strategie verbindet sich aber nun, ganz im Gegensatz zum Realisten Machiavelli, bei Harrington ein heilsgeschichtlicher Auftrag. Die Pax Britannica soll das durch die Vernunft zu erkennende und letztlich durch Gott im alten Israel offenbarte Naturrecht der antiken Klugheit unter allen Völkern der Erde verbreiten.

4. ROUSSEAU: DIE VOLKSSOUVERÄNE REPUBLIK In seinem im 18. Jahrhundert enorm einflussreichen Werk Vom Geist der Gesetze hat der französische Philosoph Montesquieu drei Regierungen unterschieden: „Republikanisch ist diejenige Regierung, bei der das Volk als Körperschaft beziehungsweise bloß ein Teil des Volkes die souveräne Macht besitzt. Monarchie ist diejenige Regierung, bei der ein einzelner Mann regiert, jedoch nach festliegenden und verkündeten Gesetzen, wohingegen bei der despotischen Regierung ein einzelner Mann ohne Regel und Gesetz alles nach seinem Willen und Eigensinn abrichtet.“1 Mit Montesquieu und seinem überaus wirkmächtigen Werk, das sowohl auf die Federalist Papers und die amerikanischen Revolutionäre als auch auf Rousseau und die französischen Revolutionäre gewirkt hat, bekommen wir die für das politische Denken der Aufklärung nun zentral werdenden Regierungsalternativen in den Blick. Kennzeichnend ist die Gegenüberstellung von Republik und Einzelherrschaft, wodurch die moderne Bedeutung des Begriffs Republik als Nicht-Monarchie sich allmählich herauszubilden beginnt. Die Republik wird noch einmal unterteilt in eine demokratische und eine aristokratische Variante, während die Monarchie weiter in eine konstitutionelle Monarchie und den Despotismus unterteilt wird. Eine in den Debatten der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts immer wieder aufgegriffene These Montesquieus besagt, dass die Republik eine Regierung für kleine Staaten auf Grundlage der bürgerlichen Tugend ist.2 Den Mittelweg der konstitutionellen Monarchie in Montesquieus Unterscheidung geht England nach der Glorious Revolution 1688/1689, während sich für Amerikaner und Franzosen bald nach Montesquieu nur noch die Alternative von Republik oder Despotismus zu eröffnen scheint, als der jede Monarchie ihnen nunmehr erscheint. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, welche Variante der Republik man nun wählen soll. Votiert man für die direkte Demokratie des souveränen Volkes oder für ein repräsentatives System (tugendhafter Repräsentanten) oder – noch stärker aristokratisch ausgerichtet – für eine Souveränität einzig bei einer begrenzten tugendhaften Klasse, für eine Beschränkung des passiven oder zumindest aktiven Bürgerstatus auf einige Wenige. Damit befinden wir uns mitten in den Auseinandersetzungen die der amerikanischen und französischen Revolution vorausgehen bzw. im Verlauf der Revolutionen weiter geführt werden und gewissermaßen bis heute nicht abschließend geklärt wurden, wenn auch das repräsentative System sich im Westen weitgehend durchgesetzt hat.

1 2

Montesquieu (1748), Vom Geist der Gesetze, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 106. Ebd. 120.

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II. Republikanische Ideengeschichte

Mit dem 1712 geborenen Jean-Jacques Rousseau wenden wir uns nun einem der zentralen Begründer des modernen Republikanismus zu. Bei Rousseau fußt der Begriff der Republik auf der unteilbaren und unrepräsentierbaren Souveränität des Volkes, die keinen von ihr nicht gewollten Schranken und Begrenzungen unterworfen werden darf und sich in einer direktdemokratischen Legislative äußert. Mit seiner Volkssouveränitätslehre wirkt Rousseau entscheidend auf die republikanischen Verfassungen ein, die im Verlauf der Französischen Revolution in den 1790er Jahren erlassen werden. Das Problem Jean-Jacques Rousseau Es wäre vermessen, im Rahmen dieser Ausführungen zur republikanischen Ideengeschichte das „Problem Jean-Jacques Rousseau“3 erschöpfend behandeln zu wollen. Das wird hier aber auch gar nicht angestrebt. Die folgende Darstellung bescheidet sich damit, Rousseaus Republikanismus, wie er uns vor allem in der Abhandlung über die Ungleichheit4 und dem Gesellschaftsvertrag5 begegnet, herauszuarbeiten. Es sind vor allem diese beiden Schriften, mit denen Rousseau politisch prägend auf die Moderne eingewirkt hat – wenn wir einmal von seinem Erziehungsbuch Emil absehen, auf dessen in der hier vorgetragenen Interpretation zugedachten Platz bei Gelegenheit kurz verwiesen werden soll. Uns interessieren hier einzig die rousseausche Republik und ihre Prämissen. Diese Prämissen sind nun grundgelegt in Rousseaus historischer Anthropologie, so meine Deutung dessen, was in seinem zweiten Diskurs, der Abhandlung über die Ungleichheit, geschieht. Seine republikanische politische Philosophie im Gesellschaftsvertrag muss geradezu als Reaktion auf diese historische Anthropologie verstanden werden. Die Republik ist die Lösung für das zentrale Problem der historischen Anthropologie, den Zustand der sozialen Ungleichheit, der Entfremdung und des Despotismus, den Rousseau in der ihn umgebenden Gesellschaft erblickt. Das ist die werkimmanente These, die hier für Rousseau expliziert werden soll. Nun ist diese These schon von Cassirer6 einerseits, von Engels7 andererseits vertreten worden, dass der Gesellschaftsvertrag, sei es über den Weg der Reform und Erziehung8 (Cassirer), sei es über den Weg der Revolution (Engels), aus dem im zweiten Diskurs kritisierten Zustand hinausführen soll. Starobinski ver3 4 5 6 7 8

Vgl. Ernst Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau (1932), in: ders., Jean Starobinski, Robert Darnton, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt a.M. 1989, 7–78. Im Folgenden zitiert als (AU) nach Jean-Jacques Rousseau (1755), Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel, Stuttgart 1998. Im Folgenden zitiert als (CS) nach Jean-Jacques Rousseau (1762), Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart 1977. Vgl. Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau. Friedrich Engels, Anti-Dühring, Zürich 1866, S. 131. Das wäre dann der Platz des Emil in der hier vorgetragenen Interpretation, der dem Werk natürlich nicht in seiner Gänze gerecht wird. Vgl. Rousseau, Jean-Jacques Rousseau (1762), Emil

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weist allerdings zu Recht darauf, dass sich dieser Zusammenhang so nicht in beiden Werken von Rousseau angedeutet findet und dass seine Äußerungen zum Verhältnis der beiden Werke an anderen Stellen äußert widersprüchlich sind.9 Es mag für unsere Zwecke jedoch dahingestellt bleiben, aus welchen Gründen, Rücksichtnahmen oder inneren Verirrungen Rousseau sich stellenweise gegen eine solche Deutung verwahrte. Rousseau war ein außerordentlich problembeladener Mensch, der neben seiner Abneigung gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse mit vielen inneren Widerständen zu kämpfen hatte. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass die Abhandlung über die Ungleichheit mit einer Hymne auf die Republik Genf beginnt und mit einer Klage über den Despotismus, aus dem es sich zu befreien gelte, endet. Dabei ist Rousseau in der Widmung an die Republik Genf noch in großen Teilen einem klassischen Republikanismus verpflichtet, wie wir ihn etwa bei Harrington angetroffen haben. Er preist die durch eine Schicht von tugendhaften Bürgern geleitete Republik Genf, in der das Volk sich nicht zu großen Anteil an der Regierung anmaßt. So schreibt er dort im Hinblick auf sein Republikideal: „Vor allem gemieden hätte ich wegen ihrer notwendig schlechten Regierung eine Republik, in der das Volk im Glauben, es könne seine Magistratspersonen entbehren oder ihnen nur eine schwache Autorität zubilligen, sich unklugerweise die Verwaltung der bürgerlichen Angelegenheiten und die Ausführung seiner eigenen Gesetze selbst vorbehielte.“ (AU 11) Diese Betonung der Trennung von Legislative und Exekutive findet sich freilich dann auch im Gesellschaftsvertrag. Aber im Gegensatz zur hier angeführten Stelle, legt Rousseau dort Wert darauf, dass die Macht der Regierung niemals die Souveränität des Volkes übersteigen dürfe und dieser voll und ganz untergeordnet sein müsse, gar endet bzw. aufgelöst ist, wenn das Volk sich versammelt (Vgl. CS 3/10 93). Das ist die radikale Idee der Volkssouveränität, mit der Rousseau zentral auf die Moderne eingewirkt hat. Im zweiten Diskurs erklärt er dagegen noch ganz im Sinne des klassischen Republikanismus: „Ich hätte vielmehr eine Republik gewählt, in der die einzelnen sich damit begnügten, die Gesetze zu genehmigen und in Versammlungen aufgrund der Darlegungen ihrer Oberhäupter die wichtigsten Angelegenheiten zu entscheiden; (…) eine Republik, in welcher die Tugend der Magistratspersonen derart Zeugnis von der Weisheit des Volkes ablegte, dass beide sich gegenseitig Ehre machten.“ (AU 11ff.) Das ist die natürliche Aristokratie Harringtons. Dass Rousseau mit den Schriften der englischen Republikaner vertraut war, zeigt der Verweis auf Sidney am Ende des zweiten Diskurses (Vgl. AU 98). Neben den Vertragstheoretikern Hobbes und Locke, von denen sich Rousseau jedoch kritisch distanziert, spielt insbesondere Machiavelli als eine weitere Figur des klassischen Republikanismus für ihn eine zentrale Rolle als positiver Anknüpfungspunkt in seiner politischen Philosophie. Im Gesellschaftsvertrag heißt es dann auch: „Der Fürst von Machiavelli ist das Buch der Republikaner.“ (CS 3/6 78) Machiavelli habe „unter dem Vorwand, die Könige zu unterweisen (…), die Völker gründlich belehrt“ (ebd.). Allerdings ist der Republikanismus, den Rousseau dann im Gesellschaftsvertrag vorschlägt, nicht mehr der Republikanismus eines Machi-

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oder über die Erziehung, übersetzt von Ludwig Schmidts, Paderborn/München/Wien/Zürich 1998. Vgl. Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt a.M. 1988, 49ff.

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avelli, Sidney oder Harrington. Die Idee der Volkssouveränität, die Rousseau in einer Radikalität und Konsequenz durchdenkt wie keiner vor ihm, markiert einen entscheidenden Bruch mit dem klassischen Republikanismus und den Eintritt in die Moderne. Insofern ist der Gesellschaftsvertrag nicht nur einfach eine Reaktion auf die im zweiten Diskurs aufgeworfenen Probleme im Sinne eines Lösungsvorschlags, sondern auch eine Weiterentwicklung in Rousseaus politischem Denken, eine Revolution in seinem Denken darüber, wie eine ideale Republik beschaffen sein sollte. Diese Revolution kündigt sich jedoch am Ende des zweiten Diskurses bereits an, wo er unter Verwendung der schon von Harrington eingesetzten polemischen Figur des Sultans zum Sturz der Despoten aufruft: „Der Aufstand, der mit der Erdrosselung oder der Entthronung des Sultans endet, ist ein ebenso rechtlicher Akt wie diejenigen, durch die er noch am Tag zuvor über Leben und Gut seiner Untertanen verfügte.“ (AU 110) Das Volk duldet ihn solange, solange es ihm beliebt und er ist insofern dessen rechtmäßiger Herrscher; und es setzt ihn mit dem gleichen Recht ab, wenn es ihm beliebt, wie es ihn eingesetzt hat. Historische Anthropologie oder Gedankenexperiment? Zur Genese des Ancien Regime Was besagt aber nun die historische Anthropologie, sowie sie uns im zweiten Diskurs begegnet? Dazu müssen wir uns zunächst die Frage stellen, was überhaupt im zweiten Diskurs vor sich geht. Beansprucht Rousseau mit seinen Ausführungen überhaupt, uns eine Geschichte der Menschheit von den Anfängen bis zur modernen Zivilisation vorzulegen. In der Einleitung wird diese Deutung von Rousseau selbst entschieden zurück gewiesen. „Man darf nicht die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, für historische Wahrheiten halten, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen, die mehr dazu geeignet sind, die Natur der Dinge zu erhellen, als ihren wirklichen Ursprung aufzuzeigen, und die denen ähnlich sind, die unsere Naturforscher alle Tage über die Entstehung der Welt anstellen.“ (AU 33). Er spricht auch von „Vermutungen, die allein aus der Natur des Menschen und der ihn umgebenden Wesen abgeleitet“ seien, darüber, „was aus dem Menschengeschlecht hätte werden können, wenn es sich selbst überlassen geblieben wäre“ (ebd.). D. h., es handelt sich bei allem Folgenden um ein Gedankenexperiment, das Rousseau und seinen Lesern erkennen hilft, was an ihrem gegenwärtigen Fühlen, Denken und Handeln der Natur des Menschen geschuldet ist und was den politischen und sozialen Verhältnissen des Ancien Regime. Das ist die aufklärerische und kritische, ja revolutionäre Pointe des zweiten Diskurses. Denn wenn man erkennt, was den politisch-sozialen Verhältnissen geschuldet ist und wenn in diesen, wie der Gesellschaftsvertrag in seiner furiosen Eröffnung feststellt, der Mensch überall in Ketten liegt und versklavt ist, dann lässt sich das vielleicht ändern, dann ist das vielleicht nur das Ergebnis unglücklicher Umstände und Zufälle, aber nicht notwendig aus der menschlichen Natur gefolgt. Dazu muss aber eben gezeigt werden, dass die Verhältnisse nicht notwendige und damit unveränderliche Folge der menschlichen Natur sind, sondern das Ergebnis eines Zusammentreffens

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unglücklicher Umstände und Zufälle. Das genau ist es, was uns der zweite Diskurs dann zu beweisen sucht. Unter der Hand wird aber Rousseau das Gedankenexperiment dabei zur historischen Anthropologie. Viel zu überzeugt ist er von der Wahrheit seiner Erkenntnisse, die ihn wie eine Offenbarung in einem Moment überkamen. Die Gewalt seiner Entdeckung reißt den Schriftsteller Rousseau mit und lässt ihn jeden Zweifel an ihrer empirischen Wahrheit vergessen. Rousseau beginnt seinen Diskus mit der Unterscheidung von natürlicher bzw. physischer und moralischer bzw. politischer Ungleichheit. Erstere besteht in den natürlichen Unterschieden unter den Menschen im Hinblick auf Körpergröße und -kraft, Intelligenz, Talent usw. Die moralische bzw. politische Ungleichheit entsteht dagegen nach Rousseau durch eine „Art Übereinkunft“, weil sie „durch die Zustimmung der Menschen eingerichtet oder wenigstens gebilligt wird“ (AU 31). Wie kam es nun dazu, so fragt sich Rousseau, dass die Ungleichheit an Reichtum und Macht quantitativ so viel größer ist als die natürliche Ungleichheit unter den Menschen, die, so scheint er anzunehmen, in der Regel alle eine relativ ähnliche Körpergröße und –kraft und eine ähnliche Ausstattung mit Intelligenz und Talent besitzen. Darüber hinaus: Wie kam es dazu – „durch welches Ineinandergreifen von Wundern“ –, dass „der Starke sich entschließen konnte, dem Schwachen zu dienen, und das Volk sich entschließen konnte, eine bloß vorgestellte Ruhe“ unter der Herrschaft eines Despoten „um den Preis wirklicher Glückseligkeit zu erkaufen“? (AU 32) Wie also konnte die moralisch-politische Ungleichheit sogar die natürliche Ungleichheit umkehren und zu gewaltigen Ungleichheiten in der Gesellschaft führen, die jeder natürlichen Grundlage entbehren? Mit dieser Umkehrungsthese ist auch schon von Rousseau unterstellt, dass der Grund nicht in der natürlichen Ungleichheit unter den Menschen zu finden ist. Aber vielleicht liegt der Grund ja doch in der Natur des Menschen, in seinem Inneren, in seinen Wesen? Dazu muss Rousseau untersuchen, wie der Mensch vor aller Gesellschaft, im Naturzustand war. Hier beginnt nun der äußerst spekulative Teil des zweiten Diskurses, denn Rousseau behauptet, dass der Mensch im Naturzustand ein vereinzelter und selbstgenügsamer Wilder war, den einzig die Selbstliebe (amour de soi) und ein unreflektiertes Mitleid bestimmte, der einzig nach seiner Selbsterhaltung, seinem Wohlergehen und nach seiner Fortpflanzung strebte. Ähnlich den Tieren ist der Mensch im Naturzustand grundsätzlich vom Instinkt bestimmt gewesen. Allein, der Mensch unterscheidet sich vom Tier. Rousseau war kein Materialist, sondern Dualist. Er unterscheidet zwischen einer physischen und einer metaphysischen bzw. gesellschaftlich-moralischen Seite des Menschen. „Die Natur befiehlt jedem Lebewesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch verspürt denselben Drang, doch erkennt er sich als frei, ihm nachzugeben oder zu widerstehen; und vor allem in dem Bewußtsein dieser Freiheit zeigt sich die Geistigkeit seiner Seele.“ (AU 45) Das zweite Unterscheidungskriterium zwischen Tier und Mensch ist für Rousseau die Fähigkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen, seine Perfektibilität. Genau in dieser dualistischen Natur des Menschen erblickt Rousseau den Ursprung der Entstehung der Ungleichheit. Wie alle Tiere folgt auch der Mensch seinen Bedürfnissen, nur ist ihm durch sein Bewusstsein der Freiheit, seine Fähigkeit zu wählen und abzuwägen und seine Fähigkeit sich zu vervollkommnen, die Möglichkeit gegeben, sich als Indivi-

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duum und als Gattung zu entwickeln, Fortschritt und Zivilisation hervorzubringen. Dabei muss man allerdings sehen, dass für Rousseau der selbstgenügsame Wilde, seine Bedürfnisse und seine Fähigkeiten zunächst in einem moralischen Sinne vollkommen indifferent sind. Das heißt, auch wenn die Freiheit und die Perfektibilität in Verbindung mit der tierischen Bedürfnisbefriedigung der Ursprung der Ungleichheit sind, so sind sie doch nicht deren Ursache. Diese ist in der Umwelt zu suchen, in einer Verkettung unglücklicher Umstände und Zufälle, in kontingenten Widerständen, die dem Menschen bei seiner Bedürfnisbefriedigung begegnet sind und ihn zwangen, seine Fähigkeiten zu deren Überwindung einzusetzen. Rousseau erzählt hier eine Geschichte, in der sich über die Entdeckung und Entwicklung von Werkzeugen, dem Bau von Behausungen, des Sesshaftwerdens und Ackerbautreibens und der Metallbearbeitung langsam Gesellschaften und Öffentlichkeiten bilden, in denen nun als Folge der Naturbearbeitung Fragen des Eigentums und damit des Vergleichens nach Reichtum, Rang und Schönheit auftreten, die wiederum bis in die emotionale Tiefenstruktur des Menschen eingreifen und sie transformieren. Es entsteht die fatale amour propre, die den Menschen völlig vom Urteil seiner Umwelt abhängig macht. Er fühlt sich gezwungen, sich ständig mit anderen zu vergleichen, will sie übertrumpfen und entwickelt eine Lust am Erniedrigen und Beherrschen. Zugleich treibt ihn nun die Angst um sein Eigentum an, das seinen Rang und seine Geltung bestimmt. Mit einem demagogisch-ideologischen Kunstgriff – das scheint wohl Rousseaus Erklärung zu sein – brachten schließlich die durch Geschicklichkeit besonders Wohlhabenden die Habenichtse dazu, Eigentumsrechte anzuerkennen und, in einem weiteren Schritt, Übergriffe durch eine staatliche Autorität zu sanktionieren. Das ist das Ende des Naturzustandes für Rousseau und der Beginn der Gesellschaft, wie die auch heute noch, trotz all unserer Ernüchterung nach dem Scheitern der sozialistischen Revolutionen, ergreifende Stelle im zweiten Diskurs darlegt: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ‚Dies ist mein‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch davor, auf diesen Betrüger zu hören. Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und dass die Erde niemandem gehört!‘“ (AU 74) Am Ende dieser Entwicklung steht für Rousseau die Gesellschaft seiner eigenen Zeit, eine Gesellschaft von Heuchlern, die insgeheim nur auf die Erniedrigung ihrer Mitmenschen schielen und von einem Despoten beherrscht werden müssen, weil nur dieser noch – hier blitzt der hobbessche Leviathan auf – den in der Gesellschaft tobenden Kampf um Rang und Reichtum bändigen kann. So schreibt er zur Genese des Ancien Régime: „Wenn wir die Ausbreitung der Ungleichheit durch diese verschiedenen Umwälzungen hindurch verfolgen, so werden wir finden, daß die Einführung des Gesetzes und des Eigentumsrechts ihre erste Stufe war, daß die Einrichtung des Magistratsamtes die zweite und die Verwandlung der rechtmäßigen Gewalt in eine willkürliche die dritte und letzte Stufe war. Auf diese Weise wurde der Status von reich und arm durch die erste Epoche gerechtfertigt, jener von mäch-

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tig und schwach durch die zweite und durch die dritte der von Herr und Sklave, welcher der letzte Grad der Ungleichheit ist und der Endpunkt, auf den alle anderen hinauslaufen, bis neue Umwälzungen die Regierung völlig auflösen oder sie den rechtmäßigen Verhältnissen wieder annähern“ (AU 105). Hier finden wir also am Ende des zweiten Diskurses den Ausblick auf eine Umwälzung, eine Revolution, entweder hin zur Anarchie oder zu rechtmäßigen Verhältnissen; und wie wir hier abschließend feststellen können: Diese Revolution zu rechtmäßigen Verhältnissen ist für Rousseau deshalb möglich, weil der Mensch über die Freiheit der Wahl und die Fähigkeit der Vervollkommnung verfügt und der Despotismus des Ancien Régime eine Verkettung unglücklicher Umstände und Zufälle ist, die der Mensch auch wieder umwälzen kann, weil dieser Despotismus nicht notwendig aus seiner Natur folgt, sondern nur eine Möglichkeit seiner Natur in Relation zu den Umständen neben anderen ist. Eine andere Möglichkeit ist eben der Gesellschaftsvertrag. Die volkssouveräne Republik Die Grundprämisse des Gesellschaftsvertrags ist nun genau jene natürliche Freiheit des Menschen, wie sie der zweite Diskurs bereits expliziert hatte. Im Hinblick auf die Fähigkeit der Wahl sind alle Menschen von Natur aus gleich, besitzen also eine moralisch-politische Gleichheit. Diese natürliche Freiheit und moralische Gleichheit des Menschen bildet den Maßstab jeder rechtmäßigen Regierung. Rousseau wendet sich zu Beginn des Contract Social entschieden gegen ein Recht des Stärkeren, die Sklaverei und den Despotismus und folgert: „Da kein Mensch von Natur aus Herrschaft über seinesgleichen ausübt und da Stärke keinerlei Recht erzeugt, bleiben also die Vereinbarungen als Grundlage jeder rechtmäßigen Herrschaft unter Menschen.“ (CS I/4 10) Hier ist bereits der Weg zum Gesellschaftsvertrag angedeutet. Dem Despoten und seinem Gewaltrecht gelingt es nämlich nach Rousseau nicht, ein Volk und ein Gemeinwesen zu bilden. „Wenn zerstreut lebende Menschen“, so Rousseau in Anknüpfung an Ciceros Definition der res publica, „nach und nach in die Knechtschaft eines Einzelnen geraten, sehe ich dabei, gleichgültig wie groß ihre Zahl sein mag, nur Sklaven und einen Herren und nicht ein Volk und sein Oberhaupt; es handelt sich, wenn man will um eine Anhäufung, nicht um einen Zusammenschluß; es gibt weder ein Gemeinwohl noch einen Staatskörper.“ (CS I/5 15) Wir erinnern uns, dass sich nach Cicero die res publica durch das Volk definiert und dieses wiederum durch die Anerkennung des Rechts und die Gemeinsamkeit des Nutzens. Rousseau denkt ganz in dieser Linie von Ciceros politischer Philosophie, wenn er sich fragt, durch welchen Akt „ein Volk zum Volk wird“ (CS I/5 16).10 Allerdings beruft sich Rousseau nun nicht mehr auf das Herkommen, den mos maiorum, und die Faktizität einer politischen Ordnung als Ausdruck des Naturrechts. Genau das ist ihm gerade nicht möglich, denn die Faktizität des Ancien Régime ist für ihn Ausdruck größten, naturwidrigen Unrechts. Die rechtmäßige 10

Vgl. dazu Etienne Balibar, Wie wird ein Volk zum Volk? Rousseau und Kant, in: ders., Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg 2006, 93– 121.

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politische Ordnung muss erst noch geschaffen werden. Das ist das nicht gerade geringfügige Problem, mit dem sich Rousseau auf der genetischen Ebene des Contract auseinanderzusetzen hat und das er in Anknüpfung an Machiavellis Fürsten, der eine neue Herrschaft schafft, mit der Figur eines gottgleichen Gesetzgebers (er verweist auf Calvin) zu lösen sucht. Im Übrigen hofft er, dass der Akt der Vereinbarung, der Gesellschaftsvertrag selbst, die Vertragspartner transformiert und zu gemeinwohlorientierten Bürgern, eben zu mehr als einer Anhäufung, zu einem Volk macht. Formal dagegen, in der Sphäre philosophischer Abstraktion, lässt sich das Problem mit Rousseau wie folgt beschreiben: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“ (CS I/6 17). Die Lösung ist nun nach Rousseau der Gesellschaftsvertrag, die „völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes“ (ebd.). Dieser Akt schafft für Rousseau „augenblicklich […] eine sittliche Gesamtkörperschaft“, eine „öffentliche Person“, die Rousseau „Republik“ nennt (CS I/6 18). Die Vertragspartner treten in ihr in der Doppelrolle als Bürger und Untertanen auf, während die durch den Vertrag geschaffene Körperschaft dem Untertan als Staat gegenübertritt und ihn seinen Gesetzen unterwirft, die er jedoch als Bürger und Teilhaber der Souveränität sich selbst gegeben hat. Das ist der großartige Grundgedanke Rousseaus, die Republik als politische Ordnung, in der der Bürger zugleich Autor und Adressat der Gesetze ist und somit „so frei bleibt wie zuvor“. Indem Rousseau jedoch den Willen des Volkes absolut setzt, der keinerlei rechtlichen Schranken unterworfen wird, und den Gemeinwillen als unfehlbar setzt, verschenkt er die Möglichkeiten, die eine verfassungsrechtliche Einbindung der Volkssouveränität bietet, im Hinblick auf die Regulierung und Balancierung der Realität von Privatinteressen und sozialen Faktionen. Solche Sonderinteressen muss Rousseau daher durch seine Zivilreligion und die Tugend der Bürger auszublenden suchen, was seine Republik am Ende in ein reichlich illiberales Licht rückt, in der ein Pluralismus von Interessen und Meinungen keinen Raum mehr finden darf. Hier werden Madison und die amerikanische Revolution einen anderen Weg einschlagen, den Weg der verfassungsrechtlichen Einbindung der Volkssouveränität. Doch bevor wir uns Madison zuwenden, sei noch kurz auf die institutionelle Ordnung von Rousseaus Republik und sein Verhältnis zum Kosmopolitismus eingegangen. Wie stellt sich Rousseau seine Republik vor? Er unterscheidet zwischen der Legislative und der Exekutive. Die Legislative liegt beim Volk, das sich in regelmäßigen Abständen versammelt und über die Gesetze abstimmt. „Gesetze“ meint hier die Verfassung und damit die gesamte staatsrechtliche Ordnung der Republik. Im Moment der Versammlung des Volkes ist daher die verfassungsmäßige Ordnung für einen Moment aufgelöst und muss erneut geschaffen beziehungsweise bestätigt werden. Die Exekutive wird vom Volk mit diesen Gesetzen konstituiert und darf im Rahmen der Gesetze nur Einzelfälle über Verordnungen regeln. Dabei kann die so geschaffene republikanische Exekutive für Rousseau sowohl monar-

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chisch, aristokratisch, demokratisch oder eine Mischung der drei reinen Formen sein. Der Gegensatz zur Republik ist für ihn nicht die Monarchie, sondern der Despotismus. „Republik nenne ich daher jeden durch Gesetze regierten Staat, gleichgültig, unter welcher Regierungsform dies geschieht: weil nur hier das öffentliche Interesse herrscht und die öffentliche Angelegenheit etwas gilt. Jede gesetzmäßige Regierung ist republikanisch“ (CS II/6 41). Der Republikbegriff wird von Rousseau daher an die Volkssouveränität gebunden und an die aus ihr geschaffenen Gesetze. Die Form der Regierung selbst spielt für ihn dagegen eine nachgeordnete Rolle und er betont, dass je nach Volk, geographischen und klimatischen Bedingungen eine andere Regierungsform angebracht sei. Diese Vernachlässigung der Institutionen ist die große Schwäche der rousseauschen politischen Philosophie. Gerade die republikanische Tradition hatte ja seit Ciceros Tagen über die Diskussion der Mischverfassung ein besonderes Augenmerk auf institutionelle Fragen, und wir hatten gesehen, wie aus der Mischverfassungstheorie bei Machiavelli und Harrington die Ideen der wechselseitigen Kontrolle, der Machtteilung und der Repräsentation hervorgehen. Gerade die Teilbarkeit und Repräsentierbarkeit der Souveränität lehnt Rousseau jedoch ausdrücklich ab. Ihm geht es in erster Linie darum, dass der Wille des Volkes Gesetz ist und dass jeder im Staat „so frei bleibt wie zuvor“. Über ein mathematisches Argument versucht er darzulegen, dass dies nur in einer kleinen, direktdemokratischen, an die antiken Stadtstaaten angelehnten Republik möglich sei. Denn umso mehr Bürger ein Staat habe, umso mehr schwinde das Gewicht der Stimme jedes einzelnen bei der Gesetzgebung und umso weniger habe er Anteil am Gesetz, dem er als Untertan unterworfen ist. Es fragt sich allerdings, ob ein Bürger dadurch tatsächlich unfreier wird. Dieser mathematische Vergleich scheint irgendwie schief zu sein, denn selbst wenn mein Stimmgewicht gering ist, kann ein Gesetz herauskommen, für das ich gestimmt habe und das daher meiner Freiheit keinen Abbruch tut. Viel wichtiger scheint zu sein, dass die Institutionen sensibel sind für die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse aller Betroffenen und diese die Möglichkeit eines Vetos besitzen. Diesem institutionellen Aspekt schenkt Rousseau aber gerade, wie gesagt, keine Aufmerksamkeit. Mit der Betonung der direktdemokratischen Volkssouveränität und der Notwendigkeit einer kleinen Republik hängt nun Rousseaus Ablehnung einer großen Republik zusammen. Ein großer Staat kann für ihn nur ein Despotismus sein, in dem das Stimmgewicht jedes Bürgers bis zur Nichtigkeit herabgesetzt ist, die Volkssouveränität geschwächt ist und somit die Exekutive alle souveräne Macht schließlich an sich reißt. Damit hängt weiter zusammen, dass Rousseau die Zivilreligion und die Tugend der Bürger für unverzichtbar hält, damit das versammelte Volk sich im Sinne des Gemeinwohls entscheidet und keinen privaten Interessen folgt. Dieses gemeinsame Band der Bürger, das für Rousseau ganz aristotelisch mit der Bekanntschaft und Freundschaft unter den Bürgern zusammenhängt, wird durch einen großen Staat zerstört, in dem nur noch Fremde miteinander im politischen Raum agieren. Daher wendet sich Rousseau – auch wenn er sich mit den Schriften des Abbé St. Pierre befasst hat und die Problematik des Naturzustandes zwischen den Staaten durchaus sieht – am Ende entschieden gegen den Kosmopolitismus und verlagert die Lösung des zwischenstaatlichen Naturzustandes in das Innere seiner

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kleinen Republik. Seine kleine Republik soll – wiederum ganz aristotelisch – in ökonomischer Hinsicht den größtmöglichen Grad von Autarkie anstreben. Dadurch befreit sie sich zum einen von der Abhängigkeit von anderen Staaten und hat zum anderen keinerlei Interesse an der Eroberung fremder Territorien und deren Ressourcen. Dies nämlich sind für Rousseau die Hauptgründe zwischenstaatlicher Konflikte. Da er jedoch sieht, dass die Autarkie alleine nicht ausreicht, um vor Angriffen anderer Staaten sicher zu sein, schlägt er als Ergänzung eine lockere Föderation kleiner Republiken zwecks wechselseitigen Beistands gegen Angriffe dritter vor. Es kann sich jedoch nur um eine lockere Föderation handeln, da für Rousseau die Souveränität unrepräsentierbar und unteilbar ist. Jede Abgabe oder Übertragung von Souveränitätsrechten auf supranationale Institutionen zerstört die Volkssouveränität und damit die Freiheit der Bürger.11 Die kleine Republik kann aber als öffentliche Person Verträge mit anderen Republiken auf wechselseitigen Beistand schließen (Vgl. CS I/7 20). Dass diese aus einer direktdemokratischen, monolithischen Souveränitätslehre gefolgerte lockere Föderation kleiner Republiken nicht die einzige Lösung des zwischenstaatlichen Naturzustandes ist, die am Beginn der Moderne gedacht wird, zeigt Madisons kontinentale Republik und die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, der wir uns nun zuwenden wollen.

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Vgl. dazu Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt/M. 1975, S. 179ff. und Olaf Asbach, Staat, Politik und die Verfassung der Freiheit. Zu den Anfängen des republikanischen Verfassungsdenkens in der französischen Aufklärung, in: Der Staat 1 (2003), 1–34.

5. MADISON. DIE KONTINENTALE REPUBLIK Nach der Unabhängigkeitserklärung 1776 und deren erfolgreicher, militärischer Verteidigung gegen die britische Armee hatten sich die dreizehn nun zur Unabhängigkeit gelangten amerikanischen Kolonien in einer lockeren Konföderation zusammengeschlossen. Diese 1781 gegründete Föderation war jedoch durch ihren Zwang zur Einstimmigkeit nicht in der Lage, die Finanzierung des Krieges, die Kreditwürdigkeit der Konföderation in Europa und das geschlossene Auftreten der dreizehn Konföderationsstaaten gegenüber den europäischen Mächten zu gewährleisten. Daher kam es zu einer Verfassungsreformbewegung, die schließlich im Verfassungskonvent von Philadelphia 1787 mündete. Der dort beschlossene Verfassungsentwurf sah einen Bundesstaat mit einer gestärkten Bundesregierung vor. Er stieß jedoch auf heftige Kritik von Seiten der Befürworter einer weitgehenden Unabhängigkeit und Souveränität der Einzelstaaten. Diese Kritiker sind unter dem Namen Antifederalists in die amerikanische Geschichte eingegangen. Mit ihren Argumenten standen sie ganz in der zuvor dargestellten Tradition von Montesquieu und Rousseau. Sie monierten, dass eine Republik nur in einem kleinen Staat möglich sei, dass ihre Grundlage die Tugend ihrer Bürger ist und dass ein großer Staat notwendig zum Despotismus führt.1 Die Federalist Papers2, eine Serie von 85 Artikeln, die zwischen 1787 und 1788 unter dem Pseudonym „Publius“ – eine Anspielung auf den Gesetzgeber Publius Valerius Publicola, der nach Plutarch die römische Republik gerettet hatte – in einer Reihe von New Yorker Zeitungen erschienen, versuchten nun gegen diese Kritik der Antifederalists den Verfassungsentwurf von Philadelphia zu verteidigen. Die von den drei Autoren Alexander Hamilton, John Jay und James Madison in ihnen entwickelten Argumente für eine kontinentale, föderale, gewaltenteilige und repräsentative Republik gelten noch heute als der authentische Kommentar der amerikanischen Verfassung und die Federalist Papers als der bedeutendste Text zur politischen Theorie, den Amerika hervorgebracht hat.3 1 2

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Vgl. The Antifederalists, ed. by Cecilia M. Kenyon, 1966, Indianapolis. Hamilton/Madison/Jay, Die Federalist-Artikel, herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994. Ich zitiere im Folgenden als (F) unter Hinzufügung des Artikels und der Seitenzahl nach der Übersetzung von Adams/Adams. Vergleiche zur amerikanischen Revolution Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1963, Bernard Baylin, The Ideological Origins of the American Revolution, Harvard 1967, Gordon Wood, The Creation of the American Republic 1776–1787, North Carolina 1969, John G. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975, Michael P. Zuckert, Natural Rights and the New Republicanism, Princeton 1998 und Horst Dippel, Die amerikanische Revolution, Frankfurt a.M. 1985.

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Im Folgenden wollen wir uns daher die zentralen Argumenten der Federalists, insbesondere die des bedeutendsten politischen Theoretikers unter den drei Autoren, des 1751 geborenen Großgrundbesitzers und späteren amerikanischen Präsidenten James Madison, für diese kontinentale Republik genauer ansehen. Menschliche Natur und politische Faktionen Im Gegensatz zu Rousseau, für den der Mensch im Naturzustand moralisch indifferent, wenn nicht sogar aufgrund seines Mitleids gut ist, findet sich bei den Autoren der Federalist Papers ein ausgesprochen skeptisches und pessimistisches Menschenbild. Der Mensch ist für sie ein Kompositum aus Vernunft und Leidenschaft, wobei die Vernunft, in der Nachfolge Humes, die Sklavin der Leidenschaften ist. Dieser bereits bei Machiavelli anzutreffende anthropologische Pessimismus, war auch in der angelsächsischen republikanischen Tradition, wie wir bereits bei Harrington gesehen haben, tief verwurzelt. Von ihm her wird die politische Psychologie der Federalists entwickelt. So heißt es im berühmten 10. Artikel von Madison: „Solange zwischen seiner [des Menschen P. H.] Vernunft und seinem Egoismus ein Zusammenhang besteht, werden sich seine Ansichten und seine Leidenschaften wechselseitig beeinflussen und aus seinen Meinungen Ziele erwachsen, an die sich dann die Leidenschaften heften.“ (F 10/52) Für die politische Theorie und die Verfassungsgebung folgt nun die Prämisse, dass es in jedem Staat Interessengruppen gibt, „Faktionen“, die versuchen werden, ihre Interessen ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl durchzusetzen. „Unter einer Faktion“, so Madison, „verstehe ich eine Gruppe von Bürgern – das kann eine Mehrheit oder eine Minderheit der Gesamtheit sein, – die durch den gemeinsamen Impuls einer Leidenschaft oder eines Interesses vereint und zum Handeln motiviert ist, welcher im Widerspruch zu den Rechten anderer Bürger oder dem permanenten und gemeinsamen Interesse der Gemeinschaft steht.“ (F 10/51) Daraus entsteht nach Madison das grundlegende Dilemma für jede freiheitliche, auf der Selbstregierung des Volks basierende Regierungsform. Wie können politische Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls garantiert werden? Wie kann verhindert werden, dass sich Interessengruppen der politischen Macht zum Schaden des Gemeinwesens bemächtigen? Ist der einzige Ausweg die Aufgabe der demokratischen oder, wie Madison auch sagt, popularen Regierung zugunsten eines hobbesschen Despoten? Madisons Antwort lautet, dass eine populare und freiheitliche Regierung die Ursachen der Faktionen nicht beseitigen kann, da diese in der „menschlichen Natur angelegt“ (ebd.) seien, ohne zugleich die Freiheit mit zu beseitigen. Sie kann die Faktionen aber durch eine kluge Verfassung kontrollieren und regulieren. Ganz im Sinne Machiavellis gilt es für Madison, die gesellschaftlichen Faktionen und Konflikte zugunsten der Freiheit und des Gemeinwohls produktiv zu machen. In Artikel 51. bringt Madison diese Einsicht auf die berühmte Formel, „Machtstreben muß Machtstreben entgegenwirken (ambition should be made to counteract ambition).“ (F 51/314) Er fährt dann mit einigen grundlegenden Betrachtungen zur Natur des Menschen, der Politik und Regierung fort, die das äußerst nüchterne Menschenbild der amerikanischen Gründerväter in

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toto auf den Punkt bringen: „Es wirft ein schlechtes Licht auf die menschliche Natur, daß solche Vorkehrungen nötig sind, um den Missbrauch der Regierungsgewalt zu verhindern. Aber ist nicht die Notwendigkeit von Regierung schon an sich die stärkste Kritik an der menschlichen Natur? Wenn die Menschen Engel wären, so bräuchten sie keine Regierung. Wenn Engel die Menschen regierten, dann bedürfte es weder innerer noch äußerer Kontrollen der Regierenden. Entwirft man jedoch ein Regierungssystem von Menschen über Menschen, dann besteht die große Schwierigkeit darin: man muß zuerst die Regierung befähigen, die Regierten zu beherrschen und sie dann zwingen, die Schranken der eigenen Macht zu beachten.“ (ebd.) Wie aber soll das nun geschehen, ohne die Freiheit aufzugeben? Und wie kann das in einer Republik geschehen, die einen ganzen Kontinent umfassen soll? Madison erklärt: „Die Abhängigkeit vom Volk ist zweifellos das beste Mittel, die Regierung zu kontrollieren, aber die Menschheit hat aus Erfahrung gelernt, dass zusätzliche Vorkehrungen nötig sind.“ (ebd.) Wenden wir uns daher diesen zusätzlichen Vorkehrungen zu und damit Madisons föderaler Republik. Die föderale Republik In genauer Umkehrung des Arguments bei Rousseau, dass die Freiheit der Bürger nur in einer kleinen, direktdemokratischen Republik erhalten werden kann, in der jeder zugleich Autor und Adressat der Gesetze ist, behaupten die Federalists, dass die Freiheit jedes Bürgers nur in einer großen Republik gesichert ist. Dass ist natürlich das Beweisziel der gesamten Federalist Papers, insofern sie den bundesstaatlichen Verfassungsentwurf von Philadelphia verteidigen wollen. Diese These ist aber mehr als nur Propaganda und Rhetorik, denn sie wird mit wohldurchdachten Argumenten begründet, die neben Rousseaus Idee der Volkssouveränität von nun an zentrale Bedeutung für alle Verfassungsprojekte der Moderne gewinnen werden. Bereits Hamilton hatte im 9. Artikel die damals ungewöhnliche These eingeführt, dass eine große Republik am besten geeignet ist, die Freiheit der Bürger zu schützen (Vgl. F 9). Madison greift diese These im 10. Artikel unter Bezug auf die zuvor referierte Anthropologie und Faktionentheorie auf. Er erklärt, dass gegen eine Minderheitenfaktion das demokratische Mehrheitsprinzip helfe und dieses verhindere, dass eine solche Faktion die staatliche Macht ihrem privaten Interesse unterwerfe. Gegen eine Mehrheitsfaktion sei dieses Prinzip aber hilflos und damit die Rechte der Minderheit und der einzelnen Bürger sowie das Gemeinwohl (public happiness) gefährdet. Er schreibt: „Wie das öffentliche Wohl und individuelle Rechte vor der Gefahr einer solchen Faktion geschützt und gleichzeitig Geist und Form eines demokratischen (popular) Regierungssystems gewahrt werden können, ist der zentrale Gegenstand unserer Untersuchung“ (F 10/54) Er kommt zu dem Schluss, dass eine „reine Demokratie“ (ebd.), dieses Problem nicht lösen könne, da, wie erwähnt, das Mehrheitsprinzip dagegen hilflos sei. Im Anschluss an diese Feststellung folgt nun die für die weitere, moderne republikanische Verfassungsgeschichte wichtige Unterscheidung von Demokratie und Republik. „Eine Republik, womit ich ein Regierungssystem meine, in dem das Konzept der Repräsentation

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verwirklicht ist, eröffnet ganz andere Perspektiven und bietet das Heilmittel, nach dem wir suchen. […] Die beiden entscheidenden Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Republik sind: erstens, die Delegierung der Herrschaftsgewalt an eine kleine Zahl von den übrigen gewählter Bürger; zweitens, eine größere Zahl von Bürgern und ein größeres Territorium, auf das die Republik ausgedehnt werden kann.“ (F 10/55) Im Artikel 39 wird diese auf das Repräsentationsprinzip und ein großes Territorium abhebende Definition der Republik von Madison nochmals wiederholt, nun ergänzt um die Komponente der Volkssouveränität: Republik ist ein Regierungssystem, „in dem alle Gewalt direkt oder indirekt von der Gesamtheit des Volkes ausgeht und von Personen ausgeübt wird, die ihre Ämter jederzeit abrufbar für eine begrenzte Zeit oder während guter Amtsführung ausüben.“ (F 39/227) Wie aber ermöglicht die Repräsentation eine große Republik und warum ist diese sogar einer kleinen vorzuziehen? Die Repräsentation bewirkt zunächst durch die Wahl für Madison eine „Erweiterung des Horizonts“ und eine „Differenzierung der öffentlichen Meinung“, da diese öffentliche Meinung durch sie gefiltert und schädliche Einflüsse von der staatlichen Macht ferngehalten werden. Hier klingen durchaus noch Motive des klassischen Republikanismus von Harrington bei Madison an, denn die Repräsentanten sollen „aufgrund ihrer Kenntnisse und Erfahrung das wahre Interesse des Landes am besten erkennen“ und sich durch „Patriotismus“ und „Gerechtigkeitsliebe“ auszeichnen, gleichsam eine gewählte natürliche Aristokratie sein (F 10/55). Dass sich Madison im Weiteren keineswegs auf die Tugendhaftigkeit der Repräsentanten verlassen wird, werden wir gleich sehen. Worin liegt aber zunächst der Vorteil der Größe für die Republik? Zum einen führt, so Madison, eine große Republik dazu, dass es eine größere Auswahl an geeigneten Repräsentanten gibt. Zum anderen führen eine große Bevölkerung und ein großes Territorium dazu, dass es einen Pluralismus von Faktionen gibt und damit keine einzelne, die absolut in der Mehrheit ist und die anderen dominieren kann. Schon hier wird also die ungewisse Tugendhaftigkeit durch den Pluralismus ergänzt und, wie wir bereits weiter oben gesehen haben, plädiert Madison letztlich dafür, dass Machtstreben Machtstreben entgegenwirken muss. Hier kommen wir zum strukturellen Herzstück von Madisons kontinentaler Republik, ihrem System von Macht- und Gewaltenteilung, von checks and balances, das im 51. Artikel grundgelegt wird. Madison fragt sich dort, „welches Mittel“ geeignet ist, um „die nötige Aufteilung der Macht auf mehrere Gewalten zu gewährleisten“ (F 51/313). Er kommt zu dem Ergebnis, dass „die innere Struktur des Regierungssystems so gestaltet“ werden muss, „dass dessen verschiedene konstitutive Teile durch ihre wechselseitige Beziehung selbst zum Mittel werden, den jeweils anderen Teil in seine Schranken zu verweisen“ (ebd.). Dies geschieht laut Madison, wenn man „den Amtsinhabern jeder der Gewalten die notwendigen verfassungsmäßigen Mittel und persönlichen Motive“ gibt, „Übergriffe der anderen abzuwehren. […] Zwischen dem persönlichen Interesse des Amtsinhabers und den Verfassungsrechten des Amtes muß ein innerer Zusammenhang bestehen“ (F 51/314). Das heißt, es kommt gar nicht auf die Tugendhaftigkeit der Repräsentanten an. Ganz im Gegenteil! Ihre persönlichen Interessen sind die Voraussetzung für das Funktionieren des republikanischen Regie-

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rungssystems. Nur wenn sie sich wechselseitig eifersüchtig kontrollieren, verhindern sie, dass eine Faktion die Macht okkupiert. Nach Madison sollte dabei das republikanische Regierungssystem des Bundes – wie im Verfassungsentwurf angelegt – in Legislative, Exekutive und Judikative aufgeteilt werden. Die Legislative des Bundes wird noch einmal, wie bereits bei Harrington, in zwei Kammern, Repräsentantenhaus und Senat unterteilt, die sich durch unterschiedliche Wahlmechanismen (im einen Fall national, im anderen föderal) und durch unterschiedliche Amtsdauer (zwei und sechs Jahre) auszeichnen. Gleichzeitig werden damit im Kongress in der Tradition der römischen Mischverfassung ein demokratisches und ein aristokratisches Element miteinander verbunden. Die Exekutive, der Präsident, wird über die Wahlmänner in einer Mischung aus nationalen und föderalen Elementen gewählt. Er repräsentiert das monarchische Element der Regierung, ihre Einheit und Verantwortlichkeit. Die Legislative verfügt über das Budgetrecht und kann damit die Exekutive kontrollieren. Diese verfügt wiederum im Verbund mit dem Senat über ein Veto und kann somit das Repräsentantenhaus kontrollieren. Mit diesem System der wechselseitigen Kontrolle ist Madisons Republik aber keineswegs vollständig beschrieben, denn es handelt sich bei ihr um eine Föderation von Staaten, die gemeinsame Gesetzgebungskompetenzen mit der Bundesregierung und jeweils eigenständige, nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgeteilte Gesetzgebungskompetenzen besitzen. Dadurch kontrollieren sich nicht nur die einzelnen Gewalten des Bundes, sondern auch die Einzelstaaten kontrollieren den Bund und wachen eifersüchtig über ihre Kompetenzen, ebenso wie der Bund die Einzelstaaten kontrolliert. Im Bereich der Judikative enthalten die Federalist Papers schließlich eine weitere Innovation in der republikanischen Ideengeschichte: den Bundesgerichtshof. Dessen Richter sollen bei „guter Amtsführung“ auf Lebenszeit eingesetzt werden, wobei das Auswahlkriterium nicht die demokratische Wahl ist, sondern ihre „spezifische rechtliche Qualifikation“ (F 51/314). Die Einsetzung der Richter ist jedoch indirekt demokratisch legitimiert. Die Verfassung, die dieses föderale republikanische Regierungssystem der eifersüchtigen Kontrolle, der checks and balances, als Rahmen beziehungsweise Spielregeln des pluralistischen Interessenkampfes vorgibt, und das Bundesgericht, als Hüter der Verfassung, thronen gleichsam über dem in der Gesellschaft tobenden Dauerkonflikt. Die Innovation der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde zwar erst 1803 mit dem Fall Marbury vs. Madison voll durchgesetzt und zur gängigen amerikanischen Verfassungswirklichkeit. Sie ist aber in den Federalist Papers bereits deutlich angelegt. Die amerikanischen Gründerväter wussten um das Neuartige ihrer kontinentalen Republik. Madison fragt zum Beispiel mit großem Pathos im 14. Artikel: „Doch warum sollte man das Experiment einer ausgedehnten Republik allein deshalb zurückweisen, weil es etwas Neues beinhaltet? Gereicht es denn der Bevölkerung Amerikas nicht zu Ruhm, dass sie zwar die Meinungen früherer Zeiten und anderer Länder gebührend beachtet hat, doch ohne eine blinde Verehrung für Altes, für Tradition oder ehrwürdige Namen die Einsichten ihres eigenen Verstandes, das

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Wissen um ihre Lage und die Lektionen ihrer eigenen Erfahrung verdrängen zu lassen? […] Zum Glück für Amerika und zum Glück für die ganze menschliche Rasse, so meinen wir, haben die Amerikaner einen neuen und edleren Weg verfolgt. Sie haben eine Revolution vollendet, die in den Annalen der menschliche Gesellschaft keine Parallele kennt.“ (F 14/79) In der Tat, mit Madison und der amerikanischen kontinentalen Republik befinden wir uns in der Moderne, in unserer eigenen Gegenwart, denn sie existiert noch immer. Zugleich kommt in diesen Zeilen das Gefühl einer besonderen amerikanischen Sendung für die gesamte Menschheit zum Vorschein. Madisons Republik ist zunächst auf Expansion nach Westen angelegt und der Verfassungsentwurf von Philadelphia hatte diesen republikanischen Expansionismus in Artikel 4 mit der Möglichkeit der Aufnahme neuer Mitglieder festgeschrieben. Die Bundesregierung hat dabei nach Madison darauf zu achten, dass die neuen Mitglieder ebenfalls eine republikanische Regierungsform haben. Dass Madison diesen republikanischen Expansionismus, das heißt die Ausweitung der föderalen Republik, jedoch nicht auf Amerika beschränkt sehen möchte, wird im 43. Artikel deutlich, wo er erklärt: „Es wäre ein Glück, wenn allen freien Regierungssystemen ein solches Mittel zur Überwindung von Schwächezuständen zu Verfügung stünde und ein ebenso wirksames zur Herbeiführung des universellen Friedens der Menschheit.“ (F 43/265) Hier kommt der Kosmopolitismus der Aufklärung zum Zuge, dem wir gleich bei Kant wiederbegegnen werden. Madisons kontinentale Republik war auch – das verdient abschließend hervorgehoben zu werden – gedacht als der Versuch, den Naturzustand zwischen den dreizehn Kolonien zu überwinden, was der lockeren Konföderation nicht gelungen war. Die Autoren der Federalist Papers befürchteten, wie alle Befürworter der Bundesverfassung des VirginiaPlans, dass sich die Kolonien immer mehr untereinander zerstreiten und schließlich in einen Krieg gegeneinander eintreten würden oder erneut unter die Herrschaft der europäischen Großmächte fallen könnten. Zur Überwindung dieses zwischenstaatlichen Naturzustandes schien ihnen einzig eine starke Bundesregierung samt Verfassungsgericht als Schiedsrichter in der Lage, der sowohl die Einzelstaaten vor inneren Unruhen, als auch vor der Eskalation zwischenstaatli cher Konflikte schützt.

6. KANT: DIE WELTREPUBLIK Immanuel Kant ist das Zentralgestirn am geistigen Firmament des Deutschen Reichs in den Jahren nach der Amerikanischen und Französischen Revolution. Diese herausgehobene Stellung zeigt sich – um nur ein repräsentatives Beispiel zu nennen – etwa in der Äußerung Friedrich Hölderlins, der Kant den „Moses unserer Nation“ nennt.1 Mit seiner kritischen Philosophie wirkt er auf alle Intellektuellen der damaligen Zeit ein; ein jeder von ihnen hat sich mit Kants Philosophie auseinandergesetzt. Zudem beginnt Kant ab Mitte der 1780er Jahre auf Basis seiner kritischen Philosophie eine Geschichtsphilosophie und politische Philosophie in weltbürgerlicher Absicht zu entwickeln, die dann nach der Französischen Revolution zahlreiche Anhänger und Gegner hervorbringen wird. Kant selbst hat die Französische Revolution begeistert begrüßt als ein „Geschichtszeichen“, dass das „beständige Fortschreiten des menschlichen Geschlechts zum Besseren“ bezeuge und nicht mehr in Vergessenheit geraten könne, und er ist auch nach der Eskalation des Terrors nicht von dieser positiven Einschätzung abgewichen.2 Er spricht sogar von einer „Teilnehmung dem Wunsche nach“, die die „Revolution eines geistreichen Volkes“ bei Unbeteiligten ausgelöst habe; und einige deutsche Intellektuelle, wie Campe und der junge Humboldt oder Georg Forster, waren, wie wir noch sehen werden, sogar nach Paris gereist, um Augenzeugen der revolutionären Ereignisse zu werden.3 Kant hat nach dem Bericht seines Schülers Jachmann darüber hinaus nicht nur seine Begeisterung für die Französische Revolution geäußert, sondern auch mit der Amerikanischen Revolution einige Jahre zuvor sympathisiert, die eine erste Welle der Politisierung im Deutschen Reich einleitete. Gegenüber seinem späteren englischen Freund Green hat Kant vehement die Amerikanische Revolution verteidigt. Wie Jachmann berichtet, nahm sich Kant zur damaligen Zeit in einer geselligen Runde „der Amerikaner an, verfocht mit Wärme ihre gerechte Sache und ließ sich mit einiger Bitterkeit über das Benehmen der Engländer aus. Auf einmal springt ganz voll Wut ein Mann aus der Gesellschaft auf, tritt vor Kant hin, sagt, daß er Engländer sei, erklärt seine ganze Nation für beleidigt und verlangt in der größten Hitze eine Genugtuung durch einen blutigen Zweikampf. Kant ließ sich durch den Zorn des Mannes nicht im mindesten aus seiner Fassung bringen, sondern setzte sein Gespräch fort und fing an, seine politischen Grundsätze und Meinungen und den Gesichtspunkt darzulegen, aus welchem jeder Mensch als Weltbürger, seinem Patriotismus unbeschadet, derglei1 2 3

Brief an den Bruder Karl, 1.1.1799, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Michael Knaupp, München 1992, 726. Immanuel Kant (1798), Der Streit der Fakultäten, in: ders., Werke, Bd. XI, Frankfurt/M. 1977, 265–398, 357 ff. Vgl. zu Kants Einschätzung der Revolution Peter Burg, Kant und die Französische Revolution, Berlin 1974.

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chen Weltbegebenheiten beurteilen müsse“.4 In dieser Anekdote kommt neben der Verteidigung der Amerikanischen Revolution der weltbürgerliche, kosmopolitische Zug in Kants politischem Denken zur Sprache. Im Zusammenhang mit seiner Idee einer Weltrepublik wird er in seinen politischen Schriften dann auch auf die Amerikanische Revolution und die kontinentale amerikanische Republik eingehen und diese als Modell diskutieren.5 Neben diesem Einfluss der beiden großen Revolutionen in Frankreich und Amerika und dem der französischen und angelsächsischen Aufklärung wirkt bei Kant aber auch die deutsche Schulphilosophie eines Leibniz, Thomasius und Wolff fort, selbst wenn ihn Hume nach eigenem Zeugnis aus dem „dogmatischen Schlummer“ gerissen und Rousseau ihn „zurecht gebracht“ hatte. Kant transformiert jedoch den noch politisch-theologisch imprägnierten Rationalismus des Naturrechts der deutschen Schulphilosophie in einen säkularisierten, kritischen politischen Rationalismus. Seine Begeisterung für die beiden Revolutionen und seine Transformation der deutschen Schulphilosophie haben Kant allerdings nicht zu einem eindeutigen Befürworter einer Revolution im Deutschen Reich werden lassen. Vielmehr hat er Reformen vorgezogen, um zu einer Verbesserung der politisch-sozialen Verhältnisse zu gelangen. Freiheit, Eigentum, Republik Immanuel Kant wird am 22. April 1724 als viertes Kind des Sattlermeisters Johann Georg Kant in Königsberg geboren, die Französische Revolution hat ihn also bereits in hohem Alter und auf dem Höhepunkt seines Ruhms erreicht. Rein äußerlich ist Kants Leben relativ ereignislos. Er ist aus Königsberg nie herausgekommen. Als junger Mann war Kant jedoch zeitweise als „eleganter Magister“ in der Königsberger Gesellschaft bekannt und eine gewisse Geselligkeit hat er sein ganzes Leben beibehalten. Darüber hinaus war er sein Leben lang überaus interessiert an den zeitgeschichtlichen Vorgängen und außerordentlich gut informiert über das politische und gesellschaftliche Geschehen seiner Zeit, an dem er über seine Veröffentlichungen auch selbst engagiert teilnahm; und durch seine Lehrtätigkeit kam er in Kontakt mit einigen der vielversprechendsten jungen Leute im Deutschen Reich, etwa mit Herder und Fichte oder mit den späteren preußischen Reformern Schröter und Schön, die er selbst ausbildete.6 Philosophisch hat Kant allerdings lange gebraucht, bis er sich aus der bereits angesprochenen deutschen Schulphilosophie eines Leibniz, Thomasius und Wolff befreien konnte, die auch in Königsberg gelehrt wurde. Er hat selbst für diese Befreiung vor allem auf Hume und Rousseau als Anreger verwiesen. Sie mündete 1781 in der Veröffentlichung der Kritik der reinen 4 5 6

L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski, Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Darmstadt 1974, 153. Vgl. etwa Immanuel Kant (1797), Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke, Bd. VIII, Frankfurt/M. 1974, im Folgenden abgekürzt MS, 475. Vgl. zur Biographie Manfred Kühn, Immanuel Kant. Eine Biografie, München 2004.

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Vernunft, einem der bedeutendsten Werke der gesamten Philosophiegeschichte, das die damalige Philosophie auf eine neue Grundlage stellte. Mit ihm wurde Kant weltberühmt und zum Fixpunkt aller philosophischen und politischen Diskussionen im Deutschland der damaligen Zeit. Kant will dort die „Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis“ klären und entwickelt eine neue systematische Philosophie des menschlichen „Denkapparats“. Er bezeichnet die dadurch vorgenommene Wende von den Dingen der Erfahrung zu den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung als „kopernikanische Revolution“ im Denken. Dabei verbindet er auf originelle Weise Elemente des Empirismus und Rationalismus, die die beiden dominierenden philosophischen Theorieströmungen der europäischen Aufklärung darstellen. Alle Erkenntnis beruht auf sinnlicher Anschauung, so Kant im Anschluss an die Lehre des britischen Empirismus. Anschauungen ohne Begriffe seien aber „blind“, wie er nun umgekehrt in Anknüpfung an den Rationalismus erklärt. Der Verstand müsse daher der Anschauung die nötigen Begriffe liefern sowie die Vernunft wiederum die Verstandeserkenntnis anleite. Zusammengefasst wird diese zentrale Überlegung in der berühmten Formulierung: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“7 Mit dieser kritischen Philosophie der Erkenntnis schafft Kant eine ganz neue Grundlegung des modernen Denkens, und zwar nicht nur für die theoretische Philosophie, sondern auch für die praktische beziehungsweise politische Philosophie. Indem er nämlich die Bedingungen der Möglichkeit und zugleich damit die Grenzen der menschlichen Erkenntnis in der Kritik der reinen Vernunft herausarbeitet, macht er seines Erachtens Platz für den Glauben und für die Idee der Freiheit als Grundbedingung der praktischen Vernunft. Die „Gesetze der Freiheit“, die freie Selbstbindung des Menschen an Vernunftgesetze im Handeln, werden von ihm vom deterministischen Mechanismus der Natur, die er in der Nachfolge Newtons begreift, geschieden und als Grundlage der Moral und der gesamten praktischen Philosophie eingesetzt. „So aber, da ich zur Moral nichts weiter brauche, als dass Freiheit sich nur nicht selbst widerspreche, und sich also doch wenigstens denken lasse, ohne nötig zu haben, sie weiter einzusehen, dass sie also dem Naturmechanism eben derselben Handlung (in anderer Beziehung genommen) gar kein Hindernis in den Weg lege: so behauptet die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz, und die Naturlehre auch den ihrigen, welches aber nicht Statt gefunden hätte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich selbst belehrt, und alles, was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte.“8 Will man Kants politische Anschauungen im Anschluss an diese kopernikanische Revolution nun etwas genauer fassen, so ist es zunächst hilfreich, sich den Ort der politischen Philosophie in Kants System zu vergegenwärtigen, denn seine Philosophie zielt auf eine systematische Verortung von theoretischer und praktischer Vernunft sowie Urteilskraft. Er definiert Politik als „ausübende Rechtslehre“.9 Sie 7 8 9

Immanuel Kant (1781/1787), Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke, Bd. III, Frankfurt/M. 1974, B 76, 98. Ebd., B XXXIX, S. 32. Vgl. Volker Gerhardt, Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Gerhard Schön-

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ist somit seiner „Rechtslehre“ systematisch nachgeordnet. Die „Rechtslehre“ selbst gehört wiederum zur in den 1790er Jahren entworfenen Metaphysik der Sitten, die als kritische, nichtdogmatische Metaphysik auf die 1788 veröffentlichte Kritik der praktischen Vernunft folgt, in der das „Faktum“ der praktischen Vernunft als Grundlage allen sittlichen Handelns von Kant herausgearbeitet wurde. Dadurch erhellt sich als allgemeine Bestimmung, dass Recht und Politik Prinzipien der praktischen Vernunft folgen sollen. Das ist der rationalistische Zug in Kants politischer Philosophie. Als Prinzip der praktischen Vernunft hatte Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bereits 1785 den berühmten kategorischen Imperativ eingeführt.10 Er versteht nun das Prinzip des Rechts, das die politische Philosophie begründet, als die Anwendung des kategorischen Imperativs auf das äußere Verhältnis der Menschen zueinander, während seine „Tugendlehre“ den Bereich der rechtlich nicht erzwingbaren, moralischen Motivation umfasst, womit er eine Unterscheidung von Recht und Moral einführt. Diese Trennung von Recht und Moral innerhalb der Metaphysik der Sitten darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass beide Teil derselben sind. Insofern wir uns als freie und gleiche Menschen nach dem kategorischen Imperativ wechselseitig immer als Zweck und nicht als Mittel betrachten sollen, so Kants Ableitung des Rechtsprinzips, ergibt sich für unser äußeres Verhältnis „das strikte Recht […] als die Möglichkeit eines mit Jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen Zwanges“.11 Der Zwang ist nach Kant als „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ mit dem Begriff des Rechts durch den „Satz des Widerspruchs verknüpft“.12 Die Zwangsbefugnis garantiert, dass „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.13 Er betont, dass dieses Prinzip des Rechts der Vernunft und nicht der Empirie entstammt, denn dort lasse sich angesichts der Vielfalt der Gesetze allein durch Anschauung gar kein allgemeines Kriterium finden, welches angebe, was Recht und Unrecht ist. „Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus‘ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat.“14 Mit dieser Ableitung des Rechtsprinzips aus der in der ersten Kritik entwickelten Idee der Freiheit, dem kategorischen Imperativ und dem in der Kritik der praktischen Vernunft postulierten Faktum der Vernunft15 haben wir den Einstieg in Kants Rechts- und Staatsphilosophie gefunden, die auf diesem Weg mit einer apriorischen, rationalistischen Begründung einer freiheitlichen Rechtsstaatlichkeit eröffnet wird.

10 11 12 13 14 15

rich, Yasushi Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt/M. 2002, 464–488. Vgl. Immanuel Kant (1785), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke Bd. VII, Frankfurt/M. 1974. MS, 339. MS, 338–339. MS, 337. MS, 336. Vgl. Immanuel Kant (1788), Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Werke, Bd. VII, Frankfurt/M. 1974.

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Den Staat begründet Kant nun in einem nächsten Schritt im Anschluss an die Vertragstheorie und das Naturrecht der Aufklärung als einen Vertrag zwischen mit natürlichen Rechten ausgestatteten, freien und gleichen Menschen, die dadurch aus einem vorstaatlichen Zustand in einen bürgerlichen Zustand übergehen. Die Begründung erfolgt über den Dreischritt Freiheit, Eigentum, Staat und entwickelt zunächst das Privatrecht, zu dessen zwangsbefugter Garantie es dann des öffentlichen Rechts bedürfe. Für Kant gehört das für das Privatrecht zentrale Eigentum zur äußeren Freiheit, da Willkürfreiheit beinhalte, auf Sachen, Leistungen und Zustände in der Welt einzuwirken, sonst wäre Freiheit gegenstandslos. Eigentum werde aber etwas nicht dadurch, dass jemand es gerade tatsächlich physisch in Besitz nehme oder habe. Eigentum ist vielmehr für Kant ein Rechtsanspruch, ein „intelligibler Besitz“. Der vorstaatliche Naturzustand ist nach Kant allerdings ein Zustand, in welchem die Erde und alle Dinge auf ihr zunächst allen gemeinsam gehören. Die ursprüngliche Akkumulation von Eigentum verläuft dann zunächst unter dem Motto „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Für Kant kann es hier daher zu Ungleichverteilungen kommen, die als solche aber vollkommen gerecht sind. Der Naturzustand ist für ihn kein Zustand der Ungerechtigkeit, sondern nur der Rechtlosigkeit, da die Freiheits- und Eigentumsrechte noch nicht garantiert sind, an sich aber bereits bestehen. Aufgrund dieser Rechtslosigkeit beziehungsweise der noch nicht bestehenden Garantie der freiheitsnotwendigen Eigentumsrechte besteht laut Kant die vernünftige Pflicht aller Individuen, durch Vereinigung ihres Willens diesen Naturzustand zu verlassen und eine öffentliche Rechtsordnung zu schaffen, die diese Freiheits- und Eigentumsrechte mit Zwang garantiert. Diese durchaus nachvollziehbare Bindung der Freiheit an das Eigentum einerseits und die vernunftnotwendige Transformation der unvernünftigen, naturwüchsigen Ungleichverteilung von Freiheitsmöglichkeiten in eine zwangsbefugte Rechtsmäßigkeit andererseits, hat viele Interpreten vor Schwierigkeiten gestellt. Sie scheint entweder widersprüchlich zu sein, da, wenn Freiheit auf Eigentum angewiesen ist, eine extreme Ungleichverteilung sehr verschiedene Grade der Freiheit bis zur vollkommenen Unfreiheit entstehen lässt, an denen dann auch die Verrechtlichung nichts ändert. Oder Kant zielt mit seinem Rechtsprinzip gar nicht darauf ab, dass hier gleiche Freiheit zusammenstimmen können muss. Kant wurde daher als Apologet des Besitzbürgertums charakterisiert. Diese Deutung ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man etwa daran denkt, dass er nur Selbständigen den vollen, aktiven Bürgerstatus zugesteht, was ja wiederum dadurch bedingt ist, dass für ihn nur der frei ist, der über Eigentum verfügt.16 Darüber hinaus unterliegt er in der Frage des Bürgerstatus den Vorurteilen und Wertvorstellungen seiner Zeit, wie seine Exklusion der Frauen zeigt; und wir werden sehen, wie in dieser Frage etwa die frühen republikanisch gesinnten Romantiker explizit über Kant hinausgehen. Diese bis hier entwickelte Interpretation seiner politischen Anschauungen spricht eher für einen liberalen Kant, einen Apologeten des Bildungs- und Besitzbürgertums, der insbesondere ein Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zu begründen 16

Vgl. Richard Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Kant, Stuttgart 1985.

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sucht und an der vertraglichen Sicherung des Eigentums dieses Bürgertums interessiert ist. Es lässt sich jedoch noch eine andere, republikanische Deutung Kants entwickeln, die an dem bereits erwähnten Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand ansetzt. Sie nimmt ihren Ausgang von dem, was Kant das „Erlaubnisgesetz“ nennt und von seiner Unterscheidung eines provisorischen und eines peremtorischen Besitzes. Die Aneignung von Eigentum im Naturzustand und die damit allen anderen einseitig aufgezwungene Verbindlichkeit ist nämlich nach Kant nur provisorisch erlaubt und verlange zu ihrer peremtorischen Geltung der Anerkennung durch den vereinigten Willen aller. Damit steht aber für Kant „das provisorische Sacheigentum unter der Bedingung der näheren Bestimmung durch den allgemeinen Willen“, wie Reinhard Brandt festgestellt hat.17 Diese republikanische Deutung verweist auf Kants innovative Leistung, was die Vertragstheorie angeht. Denn wie sich schon aus der Erörterung des Rechtsprinzips erahnen lässt, ist für Kant das Verlassen des Naturzustandes kein Kompromiss zwischen am eigenen Nutzen orientierten Individuen, wie etwa Hobbes das konzipiert hat. Die ganze Vertragskonstruktion ist ein Gedankenexperiment, das veranschaulicht, dass und wie die Herstellung einer Rechtsordnung eine Pflicht für vernunftbegabte Wesen ist. Die kantianische Vertragstheorie zeigt, dass eine zwangsbefugte, öffentliche Ordnung vernünftig ist, und das Rechtsprinzip gibt an, wie diese Ordnung gerecht zu gestalten ist, nämlich so, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit jedes anderen unter einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmen kann. Dies sind die Grundvoraussetzungen für den in Kants politischem Denken äußerst wichtigen Republikbegriff, mit denen er zwei Vorstellungen der Tradition der politischen Philosophie aufgreift und auf eine höhere Abstraktionsstufe hebt. Zum einen ist es die Vorstellung, dass der Mensch ein zoon politikon ist und als solches in einem politischen Gemeinwesen leben soll,18 das als seinen Zweck das Gemeinwohl und die Glückseligkeit der Bürger hat, wie das auch noch die deutsche Schulphilosophie vertrat und der in der transatlantischen republikanischen Tradition zum Teil wirkmächtige Bürgerhumanismus. Aber die Begründung verläuft nun bei Kant nicht mehr über ein Wissen über die menschliche oder göttliche Natur, sondern wird aus Prinzipien der praktischen Vernunft heraus entwickelt. Zweitens greift er die naturrechtliche Idee der Herrschaft des Gesetzes auf, der wir auch bei Cicero und Harrington begegnet sind und die die Freiheit der Bürger garantiert. Das Naturrecht wird aber nun zu einem Vernunftrecht transformiert, insofern es nicht mehr aus einer Erkenntnis der objektiven Natur deduziert wird, sondern von der Vernunft konstruiert wird. Damit wird der neuzeitlichen, unter anderem auf Locke und die amerikanische Revolution zurückgehenden liberalen Idee des natürlichen Freiheitsrechts eine neue, vernunftrechtliche Wendung gegeben. 17

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Reinhard Brandt, Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin 1982, 223–285, 261. Vgl. auch zur Diskussion dieser Problematik Robert B. Pippin, Mine and Thine? The Kantian State, in: Paul Guyer (Hg.), The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy, Cambridge 2006, 416–446. Vgl. Aristoteles, Politik, hg. v. Olof Gigon, München 1998, 49 (1253a).

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Kants politische Philosophie erschöpft sich jedoch, wie bereits die nähere Bestimmung des provisorischen Sacheigentums durch den allgemeinen Willen angedeutet hat, nicht in einem liberalen, die negative Freiheit gewährenden Rechtsprinzip. In seiner 1793 entstandenen Abhandlung Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, auf die eine hitzige Debatte in der Berlinischen Monatsschrift über das Verhältnis von Theorie und Praxis folgte,19 schreibt er: „Alles Recht hängt nämlich von Gesetzen ab. Ein öffentliches Gesetz aber, welches für alle das, was ihnen rechtlich erlaubt oder unerlaubt sein soll, bestimmt, ist der Aktus eines öffentlichen Willens, von dem alles Recht ausgeht, und der also selbst niemand muß unrecht tun können. Hierzu aber ist kein anderer Wille als der des gesamten Volkes (da alle über alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt) möglich; denn nur sich selbst kann niemand unrecht tun.“20 Rechtmäßig sind also für Kant nur solche Gesetze, denen die ihnen Unterworfenen auch selbst zugestimmt haben, denn nur sich selbst kann niemand Unrecht tun. Im Anschluss erklärt Kant kurz und bündig, „derjenige nun, welcher das Stimmrecht in einer solchen Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger.“21 Im Begriff des Bürgers – und, wie Kant betont, in dem des citoyen, nicht des bourgeoise22 – vereinigen sich negative, liberale und positive, politisch-republikanische Freiheitsrechte. Er ist Adressat und Autor der Gesetze. Im Gegensatz zum republikanischen Staatsbürger verfügt der liberale Wirtschaftsbürger nur über die halbierte, negative Freiheit, wenn er zum Beispiel das Glück hat, unter einem dem Rechtsprinzip folgenden Monarchen zu leben und ist in diesem Sinne unfrei, nur Untertan. Die oben erwähnte Einschränkung auf das Besitzbürgertum scheint Kant hier unter dem Eindruck der Französischen Revolution und deren Begriff des citoyen nicht vorzunehmen. Und in seiner Friedensschrift stellt Kant zwei Jahre später fest: „Die erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder der Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen Gesetzgebung (als Untertanen), und drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung, – die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrages hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volkes gegründet sein muß, ist die republikanische.“23 Hier kommt nun ganz eindeutig ein demokratischer, republikanischer Zug in Kants politischer Philosophie zur Sprache und damit ein Moment der positiven Freiheit, der Selbstbestimmung. Rousseau und seine Lehre der Volkssouveränität24 sowie Kants Begeisterung für die Französische Revolution sind hierfür wohl die wichtigsten Impulsgeber gewesen. Auf der hier vertretenen Interpretationslinie 19 20 21 22 23 24

Vgl. Kant, Gentz, Rehberg. Über Theorie und Praxis. Einleitung von Dieter Henrich, Frankfurt/M. 1967. Immanuel Kant (1793), Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Werke, Bd. XI, Frankfurt/M. 1977, im Folgenden abgekürzt Gemeinspruch, 150. Gemeinspruch, 151. Ebd. Immanuel Kant (1795/1796), Zum ewigen Frieden, in: ders., Werke, Bd. XI, Frankfurt/M. 1977, im Folgenden abgekürzt als ZeF, 204. Vgl. dazu Kapitel II.4 in diesem Band.

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zeigt sich der Republikanismus im Deutschen Reich in der Nachfolge Kants daher zunächst vor allem als ein durch Rousseau und die Französische Revolution beeinflusster Republikanismus.25 Wenn wir uns die konkrete institutionelle Ordnung noch etwas genauer verdeutlichen wollen, die Kant für seine Republik vorsieht, dann müssen wir uns seiner Unterscheidung zwischen Herrschaftsform und Regierungsart zuwenden. Herrschaftsformen unterscheidet er, Aristoteles folgend, nach der Zahl der an der Staatsgewalt Beteiligten, nennt aber nur noch drei Formen: Autokratie, Aristokratie und Demokratie. Regierungsarten nennt er zwei, eine republikanische und eine despotische, wobei es ihm hier um die „auf die Konstitution (den Akt des gemeinsamen Willens, wodurch die Menge ein Volk wird) gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht“26 geht. Damit führt Kant, wie schon Aristoteles, ein zweites, qualitatives Kriterium ein und trennt dieses von seiner quantitativen Typologie. Die Unterscheidung der Regierungsarten zielt dabei auf das unter dem Einfluss von Montesquieus Vom Geist der Gesetze auch in Deutschland diskutierte Konzept der Gewaltenteilung: republikanisch ist die Verfassung, in der Legislative und Exekutive getrennt sind, despotisch die, in der beide in derselben Hand liegen. Dies wäre zunächst einfach ein weiteres rein deskriptives Kriterium, aber Kant lädt die Gewaltenteilung normativ auf. Nur dort, wo Legislative und Exekutive getrennt sind, werde das Recht des Einzelnen gegenüber der Mehrheit geschützt. Kant scheint an dieser Stelle der Friedensschrift dafür allein die Exekutive und nicht auch die Judikative in Anspruch zu nehmen, die wir doch heute über die Klageeinreichung dafür in Anspruch nehmen würden. In der „Rechtslehre“ der Metaphysik der Sitten fügt er aber die Judikative den beiden anderen Gewalten hinzu, wobei er sich hier ein Geschworenengericht vorstellt. Die Regierungsart der Republik besteht somit für Kant in einem gewaltenteiligen System, in dem der Wille des Volkes Quelle der Gesetze ist, in der aber die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers vor der Tyrannei der Mehrheit durch Exekutive und Judikative geschützt werden. Als solche ist die Republik als Regierungsart für Kant nicht mit der Herrschaftsform Demokratie identisch. In Kombination beider Typologien kann es eine despotische und eine republikanische Demokratie geben. Kants republikanische Demokratie entspräche vielleicht dem, was wir heute einen demokratischen Rechtsstaat nennen würden, während der despotischen Demokratie genau dieses rechtstaatliche Element fehlt, das erst durch die in der Verfassung verankerten, unverletzbaren Rechte und die Gewaltenteilung garantiert wird, nicht allein durch die Selbstgesetzgebung der Bürger. Mit dieser freiheitstheoretischen Deutung der Gewaltenteilung nimmt Kant nun neben seinem Bezug auf Rousseau und die Volkssouveränität in seinem Republikbegriff auch Elemente der über Montesquieu vermittelten angelsächsischen Verfassungstradition auf. Man stößt dadurch in Kants politischem Denken auf eine Verknüpfung von liberalen und republikanischen Motiven. 25 Vgl. zum Einfluss Rousseaus auf Kant klassisch Ernst Cassirer, Kant und Rousseau, in: ders., Über Rousseau, hg. v. Guido Kreis, Berlin 2012. 26 Ebd, 206.

6. Kant: Die Weltrepublik

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Die Unterscheidung von Herrschaftsform und Regierungsart hat zudem noch eine zweite antirevolutionäre, reformistische Pointe, die ich abschließend kurz erwähnen will. Sie verweist auf Kants Geschichtsphilosophie und deren Zusammenhang mit seiner eingangs erwähnten Begeisterung für die transatlantischen Revolutionen. Auch wenn letztlich nur die Republik, im soeben explizierten Sinne eines demokratischen, gewaltenteiligen Rechtsstaats, für Kant die einzige vernunftrechtlich legitime Ordnung ist, so können doch auch andere Herrschaftsformen wie etwa Monarchien für ihn eine republikanische Regierungsart zumindest vorgreifend simulieren, indem sie zum Beispiel Presse- und Meinungsfreiheit gewähren und Reformen vorantreiben. Diesen Weg zieht er der revolutionären Umwälzung in Frankreich vor, und er hat damit, wie viele andere im politischen Diskurs nach 1789 in Deutschland, dem aufgeklärten Absolutismus eine gewisse Reformbereitschaft unterstellt, was sich als zweifelhaft erwiesen hat, wie etwa das Wöllnersche Religionsedikt, die Zensur in vielen deutschen Staaten gerade nach 1789 und die Verfolgung der aufklärerischen Geheimbünde zeigt. Laut Kants Geschichtsphilosophie27 laufen allerdings die Natur, der „natürliche Antagonism“ oder, wie Kant auch sagt, die „ungesellige Geselligkeit“ der Menschen, gewissermaßen von selbst auf den republikanischen Zustand hinaus. Diese Teleologie ist jedoch nach Kants dritter Kritik28 etwas, das der Mensch in die Geschichte hineinliest, in der vernunftreligiösen Hoffnung, dass es zutrifft.29 Kant schreibt also seine Geschichtsphilosophie in praktischer, weltbürgerlicher Absicht. Alle existierenden politischen Ordnungen sind für ihn wie für den Republikaner Machiavelli zunächst Resultat von Gewalt. All den gewaltsam entstandenen Herrschaftsformen, seien es Monarchien, Aristokratien oder Demokratien, ist es aber zum einen vernunftrechtlich geboten, eine republikanische Regierungsart zumindest zu simulieren und sich durch Reformen auf den Weg zur Verwirklichung der Republik zu machen. Zu anderen besteht die Hoffnung, dass die Natur über den erwähnten natürlichen Antagonismus zu dieser Verwirklichung beiträgt. Bei Kant sehen wir so eine eminent politische Geschichtsphilosophie entfaltet, die ganz entschieden eine politische, republikanische und vor allem auch kosmopolitische Zielperspektive anvisiert. Dieser wollen wir uns nun noch etwas genauer zuwenden. Weltrepublik Kants politische Zielperspektive des republikanischen weltbürgerlichen Zustands und des ewigen Friedens, wie er sie in seiner 1795 erschienenen Schrift Zum ewigen Frieden dargelegt hat und die ich im Anschluss an das zuvor Ausgeführte skizzieren will, umfasst drei notwendige Bedingungen: erstens die Pflicht zur Republikanisierung aller einzelstaatlichen Verfassungen, wie ich sie im vorherigen Abschnitt be27 28 29

Vgl. Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 1995. Vgl. Immanuel Kant (1790), Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werke Bd. X, Frankfurt/M. 1977. Vgl. Immanuel Kant (1793/1794), Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft, in: ders., Werke Bd. VIII, Frankfurt/M. 1977.

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II. Republikanische Ideengeschichte

reits herausgearbeitet habe, zweitens die Republikanisierung der zwischenstaatlichen Verhältnisse, mit dem Ziel einer globalen Republikenrepublik, und drittens schließlich die Institutionalisierung eines Weltbürgerrechts. Ich werde Kant folgend diese drei Bedingungen in dieser Reihenfolge erläutern. Damit erhellt sich uns Kants kosmopolitischer Republikanismus in seinem vollen Umfang, der in den deutschen politischen Debatten der 1790er Jahre vielfach aufgegriffen wurde, wie wir insbesondere am Fall Friedrich Schlegels nachzeichnen werden.30 Kant gibt dem ersten Definitivartikel in der Friedensschrift den Titel „Die bürgerliche Verfassung in einem jeden Staate soll republikanisch sein“. Neben dem bereits zuvor herausgearbeiteten vernunftrechtlichen Gebot der Republikanisierung hat Kant hierfür noch ein zweites Argument, dass enorm einflussreich war. „Nun hat aber die republikanische Verfassung außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist. – Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Bürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle oder nicht‘, so ist nichts natürlicher als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten […], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen: Dahingegen in einer Verfassung, wo der Untertan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist, […], durch den Krieg nicht das Mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließt.“31 Kant nimmt hier an, dass die Republik eine friedensfördernde Wirkung im zwischenstaatlichen Verkehr habe. Die Internationalen Beziehungen als Teilgebiet der Politikwissenschaft haben diesen Gedanken unter dem Titel „Theorie des demokratischen Friedens“ aufgegriffen und empirisch-statistisch untersucht. Sie kommen dabei zu einem verwirrenden Ergebnis, das Anna Geis auf die griffige Formel „Diagnose: Doppelbefund – Ursache: ungeklärt?“ gebracht hat.32 Danach führen zwar Demokratien untereinander keine Kriege, gegenüber Nicht-Demokratien scheinen sie aber genauso kriegerisch zu sein, wie andere Herrschaftsformen. Die demokratische Verfasstheit scheint also nicht schon von sich aus friedensfördernd zu sein. Vielmehr scheint die wechselseitige Wahrnehmung des Gegenübers, als in gleicher Weise verfasstem Gemeinwesen den Ausschlag zu geben. Harald Müller spricht in diesem Zusammenhang daher in kantianischer Diktion von „Antinomien des demokratischen Friedens“.33 Nun kann es hier nicht unsere Aufgabe sein, empirische Fragen der Politikwissenschaft zu beantworten. Wir können aber zu einer begrifflichen Klärung beitragen, denn es überrascht zunächst nach unserer bisherigen Rekonstruktion von Kants politischer Philosophie, 30 31 32 33

Vgl. Zwi Batscha, Richard Saage (Hg.), Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres, Frankfurt/M. 1979. ZeF, 205. Vgl. Anna Geis, Diagnose: Doppelbefund- Ursache: ungeklärt! Die Kontroverse um den demokratischen Frieden, in: Politische Vierteljahresschrift 42 (2001), 282–299. Vgl. Harald Müller, The Antinomy of Democratic Peace, in: International Politics, 41 (2004), 494–520.

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dass hier von einer Theorie des „demokratischen“ Friedens die Rede ist, wo doch Kant unmissverständlich erklärt, Demokratie und Republik dürften nicht verwechselt werden. Demokratie ist eine Herrschaftsform, Republik dagegen eine Regierungsart. Nur die Republik bzw. die republikanische Demokratie hat eine friedensfördernde Wirkung. Die reine Demokratie ist für ihn dagegen „notwendig ein Despotism“.34 Im Hinblick auf die Friedenswirkung könnte man das so verstehen, dass in der reinen Demokratie die kriegswillige Mehrheit einfach die vernünftige und warnende Minderheit überstimmt, deren Rechte also aufgehoben werden. Das ist ein hypothetisches Argument, denn empirisch-historisch hat die Kriegsbegeisterung natürlich schon ganze Völker erfasst. Aber gab es nicht immer warnende Stimmen? Hätte nicht eine kantianische Republik dann einen Kriegseintritt nicht beschließen können? Sie hätte diese Minderheiten, so klein sie auch waren, in die Entscheidung mit einbeziehen müssen, denn ihr Recht auf Leib- und Leben, auf den Schutz ihres Eigentums ist ja von einer Kriegsentscheidung ohne Zweifel elementar betroffen, und nur sich selbst kann niemand Unrecht tun, wie Kant sagt. Hinzu kommt ein zweites, normatives Argument: Kant argumentiert zwar empirisch, dass eine einzelne Republik friedensfördernd wirke, der erste Definitivartikel enthält jedoch als These das moralische Republikanisierungsgebot für alle Staaten. Erst wenn in jedem Staat eine Republik herrscht, so könnte man in der Zusammenfassung beider Argumente folgern, schlägt die friedensfördernde Wirkung der Republik voll durch, was nun wiederum dem empirischen Ergebnis nahe kommt, dass Demokratien untereinander keinen Krieg führen. Kants Theorie des republikanischen Friedens gibt sich mit dieser Verbindung der empirischen Annahme der friedensfördernden Wirkung der Republik und dem vernunftrechtlichen Republikanisierungsgebot aber nicht zufrieden. Die Republikanisierung der Einzelstaaten ist für ihn eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den republikanischen Frieden. Das Verlassen des zwischenstaatlichen Naturzustandes, wie er zur Zeit der Veröffentlichung der Friedenschrift in den europäischen Koalitionskriegen gegen die französischen Revolutionsarmeen besonders eklatant war, ist der zweite Schritt, womit wir zur zweiten notwendigen Bedingung von Kants Theorie des republikanischen Friedens kommen. Der zweite Definitivartikel der Friedensschrift schließt mit folgenden Worten: „Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als dass sie, ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden und feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Aus34

ZeF 62.

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II. Republikanische Ideengeschichte

bruchs“.35 Über diese Schlussfolgerung Kants wurde in der Forschung viel gerätselt.36 Mir scheint allerdings der Gedankengang letztlich eindeutig zu sein. Indem Kant Staaten mit Menschen im Naturzustand gleichsetzt, haben sie sich genau nach dem gleichen Prinzip des Rechts in eine bürgerliche Verfassung zu begeben, das heißt eine Republik zu generieren, wie es die Rechtslehre expliziert. Das Vernunftrecht gebietet also für Kant, eine Weltrepublik beziehungsweise eine Republik von Republiken zu gründen, die für alle Republiken offen steht. Eine Idee, die wir auf Nordamerika beschränkt etwa auch bei James Madisons Vorschlägen für die amerikanische, föderale Republik angetroffen haben,37 und wir hatten gesehen, dass sich Kant mit der amerikanischen Revolution befasst und diese verteidigt hat. Kant erklärt aber an dieser Stelle, dass die Völker das „nach ihrer Idee des Völkerrechts“ nicht wollen und somit nur der Ausweg eines Völkerbundes bleibe. War Kant also gegen eine Weltrepublik und für einen Völkerbund? Keineswegs, wie mir scheint, es handelt sich hier allenfalls um ein pragmatisches Argument, denn was er von „ihrer Idee des Völkerrechts“ hält, sagt er an anderer Stelle äußerst scharf. Er nennt „Grotius, Pufendorf, Vattel u. a. m. (lauter leidige Tröster)“, die stets „treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs“ herangezogen würden, und deren Recht nicht die „mindeste gesetzliche Kraft“ habe, da ihm jede Zwangsgewalt fehle.38 Das Vernunftrecht gebietet für Kant also ganz eindeutig die Weltrepublik und damit ein zwangsbefugtes Weltinnenrecht. Der Völkerbund kann für ihn nur eine zweitbeste Lösung sein, ein „negatives Surrogat“, „doch mit beständiger Gefahr“ eines neuen Kriegsausbruchs. Ziel muss nach den Prinzipien praktischer Vernunft die Republikanisierung des internationalen Staatensystems bleiben. Ein weiterer, von Kant in der Friedenschrift selbst angegebener Einwand, dass ein Weltstaat ein „Kirchhof der Freiheit“ sein könnte, folgt wohl eher der Unterscheidung von Herrschaftsform und Regierungsart, dass der Weltstaat, wenn er keine Republik ist, ein Kirchhof der Freiheit, also despotisch sei. Das gilt aber, wie gesehen, für jeden Staat, nicht nur für einen Weltstaat. Die Republik dagegen garantiert für ihn gerade, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit jedes anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmen kann. Sie hat es nur mit den äußeren Verhältnissen der Menschen zu tun, und damit, durch die Analogie von Menschen und Staaten, auch nur mit den äußeren Verhältnissen der Staaten. Die Republikenrepublik garantiert, dass die Freiheit (Souveränität) der einen Republik mit der Freiheit (Souveränität) jeder anderen Republik unter einem allgemeinen, zwangsbefugten Gesetz zusammenstimmen kann. Und gerade der Völkerbund kann dies eben nicht garantieren, da ihm jede Zwangsgewalt fehlt, Staaten also weiterhin andere Staaten unterwerfen können, so Kant. Eine Weltrepublik scheint daher für Kant in der Friedenschrift die zweite notwendige Bedingung des ewigen Friedens zu sein, und er hat damit eine elektrisierende politische Perspektive in den politischen Diskurs in Deutschland 35 36 37 38

ZeF, S. 212. Vgl. Otfried Höffe, Völkerbund oder Weltrepublik?, in: ders. (Hg.), Zum ewigen Frieden, Berlin 2004, 109–132. Vgl. Kapitel II.5 in diesem Band. ZeF, 210.

6. Kant: Die Weltrepublik

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nach 1789 eingespeist, an der sich zahlreiche Anhänger und Gegner abarbeiten werden, wie wir noch sehen werden.39 Die dritte notwendige Bedingung des republikanischen Friedens führt Kant schließlich im dritten Definitivartikel ein. „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“40 Unter „Weltbürgerrecht“ versteht Kant ein Besuchsrecht, „welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde.“41 Es beinhaltet, dass keinem Menschen, solange er sich friedlich verhält, feindlich begegnet werden darf. Kant verurteilt im dritten Definitivartikel bereits den europäischen Kolonialismus und den Umgang der Europäer mit den Eingeborenen, und wir werden sehen, wie der deutsche Weltumsegler und Republikaner Georg Forster trotz mancher Kritik in diesen Punkten mit Kant übereinstimmt. Kant selbst sieht die Welt seiner Zeit durch eine zunehmende Interdependenz aller Erdteile gekennzeichnet und plädiert für eine Verrechtlichung des internationalen Verkehrs. Er betont, dass es ihm um Recht gehe und nicht um „Philanthropie“.42 Da es Kant ausdrücklich um Recht geht, müsste er eine zwangsbefugte, öffentliche Gewalt nennen, die das Weltbürgerrecht, das er auch „Menschenrecht“ nennt, garantiert. Dies unterlässt er aber an dieser Stelle. Es lässt sich allerdings aus der Formulierung, dass das Weltbürgerrecht eine „notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts“ sei, schließen, dass im Anschluss an die ersten beiden Definitivartikel sowohl die einzelnen Republiken, als auch die Republikenrepublik – bei Nichteinhaltung durch einzelne Mitglieder – das Menschenrecht zu garantieren haben. Hiermit hat Kant eine Einschränkung der inneren Souveränität der einzelnen Republiken eingeführt. Nach außen war ihre Souveränität durch die Etablierung der Republikenrepublik bereits so eingeschränkt, aber eben auch garantiert, dass sie mit der Souveränität jeder anderen Republik unter einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmen kann. Allerdings dürfen die Einzelrepubliken nach Kant einen Besucher durchaus abweisen, aber nur, wenn es „ohne seinen Untergang geschehen kann“.43 39

40 41 42 43

Vgl. für diese Argumentation unter Einbeziehung der Präliminarartikel Matthias Lutz-Bachmann, Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik, in: ders., James Bohmann (Hg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt/M. 1996, 25–44 und Pauline Kleingeld, Kants Theory of Peace, in: Paul Guyer (Hg.), The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy, Cambridge 2006, S. 477–504. Vgl. zur an Kant anschließenden zeitgenössischen Diskussion Batscha, Saage (Hg.), Friedensutopien. ZeF, 216. ZeF, 214. ZeF, 213. ZeF, 213.

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II. Republikanische Ideengeschichte

Es gibt also für Kant bereits eine Art Menschenrecht auf Asyl, und die innere Souveränität der Einzelrepubliken ist in dieser Hinsicht, aber nur in dieser, tatsächlich eingeschränkt. Er erwartet sich darüber hinaus von dem Weltbürgerrecht als Besuchsrecht ebenfalls eine friedensfördernde Wirkung. Durch den mit diesem einhergehenden globalen Kommunikations- und Handelsverkehr „können entfernte Weltteile miteinander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden und so das menschliche Geschlecht einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen.“44

44

ZeF, 214.

7. FORSTER: DIE ERSTE DEUTSCHE REPUBLIK Georg Forster gehört von der Rezeptionsgeschichte her nicht zu den Großen der klassischen deutschen Literatur und Philosophie. Auch wenn Gervinus Mitte des 19. Jahrhunderts versucht hat, ihn als den Vorläufer der deutschen liberalen Bewegung zu etablieren,1 so galt er doch lange Zeit vor allem als Vaterlandsverräter, der sich mit seinem Einsatz für die Mainzer Republik den französischen Besatzern angedient habe. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte, vor allem auch in der DDR, eine erneute Rezeption ein, die in Forster und den deutschen Jakobinern2 eines der wenigen progressiven Momente in der deutschen Geistesgeschichte erblickte, die schließlich im Faschismus mündete. In diesem Zusammenhang wurde dann auch – nach der ersten Werkausgabe durch Forsters Tochter und Gervinus – eine historisch-kritische Werkausgabe von Gerhard Steiner herausgegeben.3 In Forsters Werken wurden auf dieser Rezeptionslinie nicht zuletzt auch die historisch-materialistischen Motive stark gemacht.4 Ich möchte dagegen im Folgenden Forsters Republikanismus in den Mittelpunkt rücken. Die Republikanismusforschung konzentriert sich, wie wir gesehen haben, weitgehend auf die von John Pocock so genannte „atlantische republikanische Tradition“, die vom Florenz der Renaissance über die englische Revolution zur amerikanischen Unabhängigkeit verläuft.5 Rousseau und die Französische Revolution, aber noch viel mehr der politische Diskurs des Deutschen Reichs der 1790er Jahre wird dagegen eher ausgeblendet. Dabei findet man gerade im Deutschen Reich als Reaktion auf die Französische Revolution eine Vielzahl politischphilosophischer Entwürfe, die sich dem Konservatismus, dem Frühliberalismus oder eben einer spezifisch modernen Form des Republikanismus zuordnen lassen. Von Kant bis zur politischen Frühromantik entfaltet sich hier ein theoretisch innovativer und zunehmend radikalerer kosmopolitischer Republikanismus, den die atlantische republikanische Tradition in dieser Form nicht kennt. Nachdem wir Kants 1 2 3 4 5

Georg Gottfried Gervinus, Charakteristik Forster‘s, in: Georg Forster‘s sämmtliche Schriften, Bd. 7, hg. v. dessen Tochter und begleitet mit einer Charakteristik Forster‘s von G. G. Gervinus, Leipzig 1843. Vgl. zu den „deutschen Jakobinern“ Walter Grab, Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt/M. 1984. Vgl. Georg Forsters Werke, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Gerhard Steiner u. a., Berlin (Ost) 1958 ff. Ich zitiere im Folgenden, wo möglich, nach der zugänglicheren Ausgabe Georg Forster, Werke, 4 Bde., ebenfalls hg. v. Gerhard Steiner, Leipzig 1971. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Helmut Scheuer, ‚Apostel der Völkerfreiheit‘ oder ‚Vaterlandsverräter‘? – Georg Forster und die Nachwelt, in: Georg-Forster-Studien 1 (1997), 1–18. Vgl. allgemein für einen Überblick zur Methode und Programmatik der Republikanismusforschung Martin Mulsow, Andreas Mahler (Hrsg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin 2010.

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II. Republikanische Ideengeschichte

theoretische Grundlegung der Weltrepublik rekonstruiert haben, wollen wir nun zunächst bei Georg Forster die Entstehung der ersten deutschen Republik in Mainz nachvollziehen. Reisen und Forschen Georg Forster wird am 27. November 1754 in Nassenhuben bei Danzig als erster Sohn des evangelischen Pastors Johann Reinhold Forster und dessen Frau Justinia Elisabeth geboren.6 Als Erstgeborener ist er der Liebling seines Vaters, der ihm eine gelehrte Erziehung angedeihen lässt. Johann Reinhold Forster ist ein umfassend gebildeter Mann, der sich insbesondere für die naturwissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit interessiert. Er ist Mitglied der 1743 gegründeten „Naturforschenden Gesellschaft“ in Danzig und sein Beruf als Pastor kann seinen Ehrgeiz und Forscherdrang kaum befriedigen. So kommt ihm ein Angebot der russischen Zarin Katharina II. gerade Recht, die einen unabhängigen Gutachter für eine Untersuchung der Lebensbedingungen deutscher Siedler im Wolga-Gebiet sucht. Im März 1765 macht sich Reinhold Forster auf den Weg nach Russland, und er nimmt den zehnjährigen Georg mit. Seine Frau lässt er mit den sechs jüngeren Geschwistern Georgs einfach zurück. Nach einem kurzen Aufenthalt in Sankt Petersburg reisen die beiden weiter in die WolgaRegion. Reinhold Forster macht sich dort sofort an die Arbeit. Er untersucht die Lebensbedingungen der Siedler, die Bodenbeschaffenheit, die Flora und Fauna und unternimmt mit Georg eine Expedition die Wolga hinauf. Georg lernt, die Natur und das Leben der Menschen in ihr wissenschaftlich zu untersuchen. Im Herbst 1765 kehren sie nach Sankt Petersburg zurück. Reinhold Forsters Bericht findet zunächst Anerkennung bei der Zarin und er wird sogar beauftragt, eine Art Verfassung für die Siedlerkolonie zu entwerfen. Auf eine Bezahlung für seine Arbeit wartet er aber während der nächsten acht Monate vergeblich. Vermutlich wurde er das Opfer einer politischen Intrige. Als er schließlich erfährt, dass seine Stelle in Nassenhuben neu besetzt wurde, stehen die Forsters mittellos da. Reinhold Forster entschließt sich daraufhin, mit Georg nach England zu gehen und dort als Wissenschaftler zu arbeiten. England gilt ihm als das Land der Freiheit, der Aufklärung und des wissenschaftlichen Fortschritts. Seine Frau und die restlichen Kinder in Nassenhuben sollen sobald als möglich nachgeholt werden. Im Oktober 1766 kommen Vater und Sohn in London an. Es folgen Monate der Entbehrung, bis Reinhold Forster im Juni 1767 eine Anstellung als Lehrer in der Dissenter-Akademie in Warrington erhält. Der kleine Georg muss während dieser Zeit mit für den Lebensunterhalt sorgen. Das gelehrte Wunderkind übersetzt Lomonossows Kurze russische Geschichte aus dem Russischen ins Englische. Beide Sprachen hatte er sich angeeignet. Zudem muss er im Kontor einer Tuchhandlung arbeiten. Durch die Anstellung des Vaters wird es schließlich möglich, im Septem6

Vgl. zum folgenden vor allem Gerhard Steiner, Georg Forster, Stuttgart 1983 und Klaus Harprecht, Georg Forster oder die Liebe zur Welt, Hamburg 1990.

7. Forster: Die erste deutsche Republik

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ber 1768 die Mutter und die sechs Geschwister nachzuholen. Doch auch die Anstellung an der Akademie in Warrington kann Reinhold Forsters Ehrgeiz nicht befriedigen. Er möchte lieber wieder auf eine große Entdeckungsreise gehen. Reinhold und Georg Forster hatten sich mittlerweile durch wissenschaftliche Abhandlungen und Übersetzungen in England einen Namen gemacht. 1772 fragt daher ein Vertreter der englischen Admiralität bei Reinhold Forster an, ob er als wissenschaftlicher Begleiter an James Cooks zweiter Weltumsegelung teilnehmen möchte. Forster sagt unter der Bedingung zu, dass er seinen Sohn Georg mitnehmen darf. Erneut lassen sie die Mutter und die Geschwister zurück und stechen am 13. Juli 1772 in See. Die Reise geht zunächst in die arktischen Gewässer und von dort aus in die Südsee, wo Georg schließlich auch Tahiti betritt, das seit Bougainvilles Reisebericht die Phantasie der Europäer als irdisches Paradies beschäftigt hat. Ziel der Reise ist die Suche nach der „Terra australis incognita“, da man damals vermutete, dass es für das „Gleichgewicht“ des Planeten einen großen Kontinent auf der Südhalbkugel geben müsse. Cook hatte auf seiner ersten Reise das heutige Australien – damals Neu-Holland – entdeckt, und nun suchte er nach weiteren, größeren Landmassen. Diesmal allerdings vergeblich. Er entdeckt aber etwa die Neuen Hebriden und die Norfolk-Inseln. Georg Forster wird durch diese dreijährige Reise und das im Anschluss von ihm verfasste Buch Reise um die Welt in ganz Europa berühmt. Er versucht darin eine „philosophische Geschichte der Reise“ zu schreiben, „von Vorurtheil und gemeinen Trugschlüssen frey […], ohne Rücksicht auf willkührliche Systeme, blos nach allgemeinen menschenfreundlichen Grundsätzen“.7 Hierin spiegelt sich der Einfluss der englischen Aufklärung und des Empirismus auf Forsters Denken, die Ablehnung der rationalistischen Systeme zugunsten der genauen Einzelbeobachtung.8 Zudem zeigt sich ein spezifischer, aufklärerischer Universalismus in den „menschenfreundlichen Grundsätzen“. Die Eingeborenen werden nicht mehr als barbarische Wilde betrachtet, sondern als Menschen, die eine eigene Kultur besitzen. Forster geht jedoch auch nicht einfach mit Rousseau d‘accord – dem er ansonsten durchaus nahesteht, wie unter anderem Forsters Aufnahme der Idee der Perfektibilität zeigt –, dass die „edlen Wilden“ besser seien als der entfremdete europäische Mensch.9 Eher changiert er zwischen der Ansicht des „barbarischen“ und des „edlen“ Wilden. Er versucht die Kultur der Eingeborenen genau zu beobachten, ohne aber die Vorzüge und die wissenschaftliche Fortschrittlichkeit der europäischen Kultur zu vergessen oder gar zu verdammen. Auch in der Südsee und selbst auf Tahiti entdeckt er Verhältnisse der Herrschaft und Ausbeutung, gegen die ja 7 8 9

Georg Forster (1784), Reise um die Welt, in: ders., Werke, Bd. 1, 11 f. Vgl. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, Göttingen 2004, 86, der auf den Einfluss des britischen Empirismus und der schottischen Moralphilosophie auf Forster verweist. Vgl. Jean-Jacques Rousseau (1755), Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, übersetzt und hg. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1998 und Ulrich Kronauer, Rousseaus Kulturkritik aus der Sicht Georg Forsters, in: Claus-Volker Klenke (Hg.), Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 1994, 147–156.

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II. Republikanische Ideengeschichte

gerade die europäische Aufklärung und mit ihr Georg Forster ankämpfen. So kehrt er schließlich nach Europa zurück mit der Erkenntnis, dass eine freiheitliche Gesellschaft dort nicht durch ein „Zurück zur Natur“ verwirklicht werden kann, sondern nur auf Basis der fortgeschrittenen, aufgeklärten europäischen Kultur. Das Reisebuch und die mit diesem einhergehende Prominenz bringen finanziell nicht den erhofften Erfolg. Die Forsters müssen nach der Rückkehr weiter um ihren Lebensunterhalt kämpfen. Als sich daher 1778 für den mittlerweile dreiundzwanzigjährigen Georg die Gelegenheit bietet, nach Deutschland zu gehen, nimmt er sie wahr und beginnt, sich vom Vater abzunabeln. Auf seiner Reise wird ihm die Stelle eines Professors am Collegium Carolinum in Kassel angeboten, die er nach einigem Zögern annimmt. Er freundet sich während dieser Zeit mit Friedrich Jacobi und Georg Lichtenberg an, trifft auf Goethe, begeistert sich für den Sturm und Drang, tritt dem Geheimbund der „Rosenkreuzer“ bei, den er allerdings später wieder verlassen wird, und rezipiert Herders Ideen zu einer Philosophie der Menschheit. Hier zeigt sich in der Biographie Forsters der Einfluss jener „irrationalistischen“ Strömung der deutschen Aufklärung, die von Herder und Hamann über Jacobi bis zur Romantik verläuft.10 Zusammen mit seiner früheren Prägung durch die britische bzw. schottische Aufklärung und den Empirismus, die er insbesondere auch in der Person des lebenstüchtigen Cook bewundert,11 bildet sich hieraus seine eigene philosophische Haltung.12 Gegen die damals einsetzende moderne Zersplitterung und Spezialisierung der Wissenschaften und ihre Ablösung vom menschlichen und gesellschaftlichen Leben schreibt der junge Professor für Naturgeschichte: „Man zerstückte also die Wissenschaft, und glaubte, nun sey jede Schwierigkeit besiegt. Es entstanden Facultäten, und in diesen fast unzählige Untherabteilungen und Fächer. Jeder einzelne Theil der menschlichen Kenntnisse erhielt eigene Beobachter, die auf das ganze Verzicht thun, sich nur dem Theile widmen sollten. Da entwich dem schönen Körper die schönere Seele, und jedes erstarrte, abgeschnittene Glied wuchs durch innere Gährung zum Unholde von eigener Art. Jeder schätzt nur die Wissenschaft, die er gewählt, und schien zu vergessen, dass sie nur in Verbindung mit den anderen das Glück der Menschheit befördert.“13 Von hier, von der Suche nach der „schöneren Seele“, die die Wissenschaften wieder zusammenführt und das „Glück der Menschheit befördert“, ist es kein allzu weiter Weg mehr zur deutschen Romantik, insbesondere zur romantischen progressiven Universalpoesie des jungen Schlegel. 1784 nimmt Forster eine vermeintlich höher dotierte Professur in Wilna an, die ihm auch eine Tilgung seiner Schulden verspricht. Er beginnt dort, sich eingehender mit der Philosophie zu beschäftigen und entwickelt seine Kritik an der kanti10 11 12 13

Vgl. Isaiah Berlin, Die Wurzeln der Romantik, Berlin 2004 und Ludwig Uhlig, Georg Forster und seine Zeitgenossen, in: Georg-Forster-Studien 1 (1997), 157 ff. Vgl. Georg Forster (1789), Cook, der Entdecker, in: ders., Werke, Bd. 2 und Horst Dippel, Georg Forster und England: Weltläufigkeit und Tradition im Denken des Forschers und Revolutionärs, in: Georg-Forster-Studien 1 (1997), 101–124. Vgl. zu dieser Vielfalt der Bezüge Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Wetlbürgers, 13. Georg Forster (1784), Ein Blick in das Ganze der Natur, in: ders., Werke, Bd. 2, 12.

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schen Transzendentalphilosophie, die er in dem Aufsatz „Noch etwas über die Menschenrassen“ 1786 publiziert.14 Der Naturforscher und Weltumsegler Forster, der die ganze Mannigfaltigkeit der Natur in all ihren Einzelheiten erfassen möchte, wendet sich dort gegen Kants Versuch, den Gegenständen „die Farbe seiner Brille zu leihen“.15 Forster kritisiert den kantianischen Apriorismus und Rationalismus und fragt: „Wer wollte nicht die wenigen Beobachtungen eines bloßen, jedoch scharfsichtigen und zuverläßigen Empyrikers, den vielen geschminkten eines partheyischen Systematikers vorziehen?“16 Forster verwirft die kantianische Apriorizität der Anschauungsformen und Kategorien und plädiert für ihre historische Wandlungsfähigkeit und Perfektibilität durch Erfahrung. Es ist vor allem diese Betonung der historischen Wandlungsfähigkeit und Perfektibilität durch Erfahrung gegen Kant, die die jungen deutschen Romantiker an Forster interessiert hat. In diesem Sinne schreibt Friedrich Schlegel über Forster: „Die unerschütterliche Notwendigkeit der Gesetze der Natur, und die unvertilgbare Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen: die beiden Pole der höheren politischen Kritik! Sie herrschen allgemein in allen seinen politischen Schriften, welche deshalb um so mehr Werth für uns haben müssen.“17 Hier deutet sich eine theoretische Transformation von der kantianischen Transzendentalphilosophie über Forsters Empirismus und Perfektionismus hin zur deutschen Frühromantik an. Schlegel wird dann, wie wir sehen werden, in seiner eigenen republikanischen politischen Theorie gegen Kants Herleitung des kosmopolitischen republikanischen Friedens aus dem „natürlichen Antagonism“ anmahnen, dass „die Gesetze der politischen Geschichte und die Prinzipien der politischen Bildung […] die einzigen Data“ sind, „aus denen sich erweisen läßt, daß der ewige Friede keine leere Idee sei.“18 Man kann in diesen Diskussionen zwischen Kant, Forster und Schlegel daher auch einen Übergang von einem rationalistischen, apriorischen Republikanismus hin zu einem humanistischperfektionistischen sehen, der zugleich einen Übergang von einer reformistischen, repräsentativen zu einer revolutionären, radikaldemokratischen politischen Haltung bedingt. Für Schlegel ist es im Anschluss an Forster kein „natürlicher Antagonism“, der gewissermaßen hinter dem Rücken der handelnden Subjekte die vernunftnotwendige Republik hervorbringt, wie Kant das konzipiert, sondern die natürliche Perfektibilität des Menschen, die insbesondere über eine Verfeinerung und Erweiterung der Erfahrung und des Geschmacks zur republikanischen Freiheit voranschreitet. Die Bedeutung dieser Perfektionierung durch Verfeinerung und Erweiterung des Geschmacks für den Fortschritt der Menschheit hat Forster in seinem Aufsatz „Über Leckereyen“ dargelegt.19 Wenn man zudem daran denkt, dass Forster 14 15 16 17 18 19

Georg Forster (1786), Noch etwas über die Menschenrassen, in: ders., Werke, Bd. 2. Forster (1786), Noch etwas über die Menschenrassen, 76. Ebd., 76. Friedrich Schlegel (1797), Georg Forster, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, hg. v. Hans Eichner, München 1967, 87. Friedrich Schlegel (1796), Versuch über den Republikanismus Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 7, hg. v. Ernst Behler 1966, München, 23. Vgl. Georg Forster (1788), Über Leckereyen, in: ders., Werke, Bd. 3.

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„Vernunft, Gefühl und Phantasie“ in seiner Philosophie wieder vereinigen und ihr wechselseitiges Zusammenwirken aufzeigen wollte, dann ist der Weg nicht mehr weit zur romantischen „progressiven Universalpoesie“, die „die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen“ sollte.20 In diese Richtung verweisen zumindest Friedrich Schlegels Bemerkungen in seiner Charakteristik Forsters: „Nie beschäftigt er die Einbildungskraft, das Gefühl oder die Vernunft allein: er interessiert den ganzen Menschen.“21 Das romantische Projekt einer herrschaftsfreien Weltrepublik als „poetischer Staat“ liegt also ganz auf der Linie von Forsters Erweiterung des Geschmacks und der natürlichen Perfektibilität. 1783 hatte Forster die emanzipierte Göttinger Professorentochter Therese Heyne geheiratet. Das Leben in der „sarmatischen Wildnis“22 des weit abgelegenen Wilna verschafft dem Ehepaar Forster jedoch nicht das erhoffte Glück, und Forster bemüht sich verzweifelt um eine anderweitige Position. Endlich bekommt er 1788 das Angebot für eine Stelle als Bibliothekar im damals erzkatholischen Mainz. Die Forsters ziehen daraufhin im September dorthin. Hier beginnt der letzte Akt von Georg Forsters ereignisreichem Leben, sein Einsatz für die Mainzer Republik, dem unser besonderes Interesse gilt und für den wir uns nun das hinreichende Vorverständnis verschafft haben. Die erste deutsche Republik Mit großem Interesse verfolgt Forster im Sommer 1789 von Mainz aus die revolutionären Vorgänge in Frankreich. Am 30. Juli schreibt er an seinen Schwiegervater Heyne: „Was hat Ihnen denn zur Revolution in Frankreich gedünkt? Daß England sie ruhig hat geschehen lassen, ist sehr viel Treuherzigkeit und sehr wenig Politik. Die Republik von vierundzwanzig Millionen Menschen wird England mehr zu schaffen machen als der Despot mit dieser Menge Untertanen. Schön ist aber zu sehen, was die Philosophie in den Köpfen gereift und dann im Staate zustande gebracht hat, ohne daß man ein Beispiel hat, daß je eine so gänzliche Veränderung so wenig Blut und Verwüstung gekostet hätte. Also ist es doch der sicherste Weg, die Menschen über ihren wahren Vorteil und über ihre Rechte aufzuklären; dann gibt sich das übrige wie von selbst.“23 Neben den eher nüchternen realpolitischen Betrachtungen zeigt sich hier doch eine große Begeisterung für die Revolution, die Forster auf das Konto der Aufklärung verbucht – gerade auch ihren zu dieser Zeit noch relativ unblutigen Verlauf. Im September des Jahres sind die Frankreichreisenden Campe und Wilhelm von Humboldt bei ihm zu Besuch und berichten von den Vorgängen in Paris. 20 21 22 23

Friedrich Schlegel (1798), Athenäums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 2, hg. v. Hans Eichner, München 1967, 182. Friedrich Schlegel (1797), Georg Forster, 82. Brief an Lichtenberg vom 18. Juni 1786, in: Georg Forsters Werke, Akademie Ausgabe, Bd. 14, 491. Brief an Heyne vom 30. Juli 1789, in: Forster, Werke, Bd. 4, 569 f.

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Im März des darauffolgenden Jahres bricht Forster selbst mit Alexander von Humboldt zu einer Reise den Rhein abwärts auf. Die Erlebnisse dieser Reise wird er in seinem Buch Ansichten vom Niederrhein festhalten. Dort beschreibt er unter anderem den Volksaufstand in Lüttich, zieht Parallelen zur Französischen Revolution und reflektiert allgemein über die Revolution. Dabei erklärt er zum Vertrag zwischen Volk und Herrscher: „Ein Vertrag ist nichtig, der die Sittlichkeit verletzt, und eine Staatsverfassung hat keinen Augenblick eine rechtmäßige Existenz, wenn sie sogar ihren Gliedern die Möglichkeit einer sittlichen Vervollkommnung raubt. Diese Vervollkommnung aber setzt den uneingeschränkten Gebrauch der Vernunft und des gesammten Erkenntnisvermögens voraus; sie heischt sogar Freiheit des Willens, worauf nur da Verzicht getan werden darf, wo gewisse Handlungen der fremden Willkür zum gemeinschaftlichen Besten Aller, das heißt, zur Beförderung der allgemeinen Vollkommenheit, unterworfen werden müssen. Jede Einschränkung des Willens, die nicht zur Erhaltung des Staates unentbehrlich ist, wird der Sittlichkeit seiner Glieder gefährlich, und die Gefahr einer solchen Verwahrlosung der eigentlichen Herrscherpflicht ist groß genug, um weisen Despoten ihren Weg vorzuzeichnen, und sie aufzufordern, ihren Unterthanen die uneingeschränkte Religions- Gewissens- Unterredungs- und Preßfreiheit zuzugestehen, ja sogar über die Verhältnisse des Staates, über seine Mängel und die Mittel ihnen abzuhelfen, keines Menschen Nachdenken und Bemühung sich und Andere zu unterrichten, ein Ziel zu stecken.“24 Es sind reichlich radikale Ansichten, zu denen Forster hier, unter dem Eindruck der Revolution und ausgehend von der Idee der Perfektibilität, gelangt. Rhetorisch äußerst geschickt fordert er die „weisen Despoten“ dazu auf, ihren Untertanen einen beträchtlichen Umfang an politischen Freiheitsrechten zuzugestehen, da diese zur „sittlichen Vervollkommnung“ unerlässlich seien und ansonsten der Vertrag nichtig sei – das heißt, er fordert sie gewissermaßen zu ihrer Selbstabschaffung auf. Das ist bereits eine tendenzielle Radikalisierung der Reformen von oben, die Kant vorschlagen wird. Die Auseinandersetzung Forsters mit dem Volksaufstand in Lüttich zeigt zudem, dass mit der Französischen Revolution auch im Reich erste Unruhen und Aufstände sich ereigneten, und dass dies auf Forster Eindruck machte. Neben dem Aufstand im Fürstbistum Lüttich erhoben sich auch die österreichischen Niederlande gegen die Reformen Josephs II. In beiden Fällen beriefen sich die Aufständischen aber noch auf die alten, mittelalterlichen ständischen Rechte, die ihnen die Herrscher im Zuge ihrer Reformen nehmen wollten. Von der rousseauschen Volkssouveränität als neuer Grundlage der Republik, die die Französische Revolution durchsetzte, war bei diesen frühen Aufständen im Reich noch nicht die Rede.25 Am Ende ihrer Reise in Paris werden Forster und Humboldt schließlich Augenzeugen, wie Ludwig XVI. bei Bauarbeiten zur Vorbereitung eines Festes zum Jahrestag des Sturms auf die Bastille selbst zur Schaufel greift. Für Forster ist dies „beispiellos in den Jahrbüchern der Menschheit“. 24 25

Georg Forster (1791), Ansichten vom Niederrhein, in: ders., Werke, Bd. 2, 506. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk, Reich oder Republik? Pläne und Ansätze zur republikanischen Neugestaltung im Alten Reich 1790–1800, in: Heinz Duchhardt, Andreas Kunz (Hg.), Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780–1815, Mainz 1998, 21–50.

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Zurück in Mainz bemüht sich Forster um eine Übersetzung von Thomas Paines The Rights of Man und schreibt eine Einleitung. Ganz deutlich wird hier neben der zentralen Fokussierung auf Frankreich auch eine ideengeschichtliche Verbindung zwischen der republikanischen Debatte im Deutschen Reich der 1790er Jahre und jener atlantischen republikanischen Tradition sichtbar, von der oben die Rede war; der amerikanische Revolutionär Paine, der sich gegen Burkes Angriffe auf die Französische Revolution wendet, wird von Forster als Gewährsmann wahrgenommen.26 Vehement wendet sich Forster nun gegen Denkverbote und den „gelehrten Zunftzwang“.27 Im Lauf des Jahres 1792 spitzt sich die Lage in Europa schließlich zu, sodass Frankreich in einen Krieg mit den Koalitionsarmeen der Anhänger des Ancien Régime eintritt. Im Zuge dieser Gefechte gerät Mainz am 19. Oktober unter französische Besatzung. Damit beginnt Forsters Tätigkeit für die Mainzer Republik. Auch wenn er noch im Juli 1791 an seinen Schwiegervater Heyne geschrieben hatte, in Deutschland „kommt uns um 50 Jahre zu früh die Revolution über den Hals“,28 so will er nun doch handeln und nicht mehr bloß räsonieren. Forster ist nun bereit, „als Republikaner zu leben und zu sterben“.29 Im November 1792 tritt er dem neu gegründeten Mainzer Jakobinerklub bei, dessen Versammlungen täglich Tausende von Menschen beiwohnen. In ähnlicher Form bildeten sich nun in den von Frankreich besetzten Teilen Deutschlands zahlreiche Jakobinerklubs. Außer in Mainz betrieb man auch in Basel und in der Südpfalz Republikanisierung. Im Mainzer Klub hält Forster eine mitreißende Rede, die als Flugblatt verbreitet wird. Er ruft in ihr dazu auf, die Ketten der alten Ordnung abzuwerfen und sich mit den französischen Brüdern zu einer freiheitlichen und egalitären Republik zu vereinigen. Forster plädiert für die Übernahme der französischen Verfassung, für die Vertretung des Volkes in der Gesetzgebung, für eine Volksgerichtsbarkeit, eine Neuordnung der Verwaltung und die Gleichheit aller Menschen: „Einige Menschen, hieß es, sind zum Befehlen und Regieren, andere zum Besitz von Pfründen und Ämtern geboren; der große Haufe ist zum gehorchen gemacht; der Neger ist seiner schwarzen Haut und seiner platten Nase wegen schon zum Sklaven des Weißen von der Natur bestimmt; und was dergleichen Lästerungen der heiligen Vernunft noch mehr waren.“30 Es sind dies Zeilen, die dem Weltumsegler Georg Forster zu großer Ehre gereichen. Gerade auch in der Wendung gegen die Rassendiskriminierung und die Sklaverei zeigt sich, wie er zu einem „anderen Begriff der Menschheit“ zu gelangen sucht und wie sich hier ein kosmopolitischer Republikanismus im Deutschen Reich der 1790er Jahre entfaltet, der

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Vgl. zu Paine John Keane, Thomas Paine. Ein Leben für die Menschenrechte, Hildesheim 1998. Georg Forster (1791), Über den gelehrten Zunftzwang, in: ders., Werke, Bd. 3. Brief an Heyne vom 25. Juli 1791, in: Forster, Werke, Bd. 4, 668. Brief an Voß vom 21. November 1792, in: Forster, Werke, Bd. 4, 796. Georg Forster (1792), Über das Verhältniß der Mainzer gegen die Franken, in: ders., Werke, Bd. 3, 590.

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sogar die revolutionären Denkbewegungen in den Vereinigten Staaten und in Frankreich noch übertrifft.31 Forster gelangt zu dieser politischen Position, dem „anderen Begriff der Menschheit“, über den bereits erwähnten Gedanken der natürlichen Perfektibilität und den der „Mannigfaltigkeit“, nach dem alles Leben auf der Erde das gleiche Recht auf Selbstvervollkommnung habe. „Friede sei mit allem, was da ist, Friede mit jedem Geiste, sein Wirken und Gebilde sei dem meinen so fremd wie es wolle.“32 In dieser kosmopolitisch gewendeten Idee der mannigfaltigen Vervollkommnung laufen seine naturkundlichen, philosophischen und politischen Überlegungen zusammen.33 Gerade auch die Kunst und Literatur haben für Forster die Aufgabe, an dieser Vervollkommnung der Menschen in ihrer Mannigfaltigkeit über eine Erweiterung und Verfeinerung des Geschmacks mitzuwirken – und man kann nicht zuletzt hier einen Einfluss auf die Frühromantik vermuten: „Es ist das große Vorrecht der Kunst, im edelsten Theil unseres Wesens wirksam zu werden, unser Gefühl und unseren Verstand anzuregen und gleichsam neue Schöpfungen, die wir noch nicht kannten, Gedankenreihen und Ideenverbindungen, die sonst nicht wirklich geworden wären, hervorzubringen.“34 Forsters Denken operiert dabei generell mit historischen Entwicklungskategorien, sowohl im Falle der Kunst, die immer neue Ideenverbindungen hervorbringt und bringen soll, als auch auf dem Gebiet der Philosophie und der Politik. So hatten wir ja bereits bei der Kritik an Kants Apriorismus gesehen, dass Forster gegen diesen die historischen Wandlungsmöglichkeiten der Kategorien ins Feld führt. Auch auf dem Gebiet des Rechts und der Politik denkt er in solch historischen Entwicklungsbegriffen, die zugleich die Einheit der Mannigfaltigkeit und die lokalen Besonderheiten, das spezifische Zusammenspiel von Natur und Kultur berücksichtigen. Im Hinblick auf einen Vergleich zwischen der asiatischen Despotie und Europa schreibt er etwa: „Ich vermuthe fast, dass es weniger an den Vorzügen unserer körperlichen Anlagen, als an der Entstehungsart unserer Bevölkerung, an den Verhältnissen, die das Klima, die Lage der Länder und das Verkehr mit anderen Nationen nothwendig erzeugten, kurz, an einer Verkettung von Umständen liegt, die bis an den Ursprung der Gesellschaft hinaufreicht, dass sich theilweise unter uns eine freie Regsamkeit der Kräfte erhalten hat, die der Despotismus zu seinen Zwecken behutsam anwenden, aber bisher nirgends, ohne sich selbst zu schaden, gänzlich bändigen konnte.“35 Letztlich bleibt aber für Forster trotz dieser historischen Wandlungen und lokalen Besonderheiten unbestritten, dass „die freie republikanische Verfassung bei allen Stürmen, denen sie ausgesetzt ist, in Absicht auf die Bildung des 31 32 33 34 35

Vgl. zu dieser wegweisenden Einbeziehung der Rassendiskriminierung auch Susan BuckMorss, Hegel und Haiti, Berlin 2011. Forster (1791), Ansichten vom Niederrhein, 438. Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Ludwig Uhlig, Georg Forster. Einheit und Mannigfaltigkeit in seiner geistigen Welt, Tübingen 1965. Georg Forster (1791), Erinnerungen aus dem Jahr 1790, in: ders., Werke, Bd. 3., S. 440. Georg Forster (1793), Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit, in: ders., Werke, Bd. 3, 706.

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II. Republikanische Ideengeschichte

Menschengeschlechts zu einer höheren Bestimmung einen entscheidenden Vorzug“ hat.36 Man müsse daher beachten, ob der richtige Zeitpunkt, d. h. die notwendige Verkettung der Umstände, in einer Gesellschaft erreicht ist, um eine Republik zu errichten. Wenn er aber da ist, dann sei ihre Einrichtung geboten. „Schwerer kann sich niemand am Menschengeschlecht versündigen, als indem er diesen Raupenstand, diese thierische Erniedrigung, worin alle seine Anlagen unbenutzt und unentwickelt bleiben, absichtlich zu verlängern sucht. […] Endlich, mein Freund, scheint die Zeit gekommen, wo jenes lügenhafte Bild des Glücks, das so lange am Ziele der menschlichen Laufbahn stand, von seinem Fußgestelle gestürzt, und der ächte Wegweiser des Lebens, Menschenwürde, an seine Stelle gesetzt werden soll.“37 In seiner Zeit schien Forster diese Entwicklungsstufe im Deutschen Reich offensichtlich erreicht. Zum Ende des Jahres wird er als eines von neun Mitgliedern in die neu eingerichtete Administration der Mainzer Republik gewählt, ist Präsident des Jakobinerclubs, gibt die Zeitschrift Neue Mainzer Zeitung oder der Volksfreund heraus, deren Beiträge er größtenteils selbst verfasst, und bereitet die Wahlen zum RheinischDeutschen Nationalkonvent mit vor. Während dieser Zeit verbreitet sich die Nachricht, dass Frankfurt von den Koalitionsarmeen zurückerobert wurde. Viele Freunde fallen nun von Forster ab und verlassen Mainz, aus Angst, nach der Rückeroberung der Stadt von der Reaktion zur Rechenschaft gezogen zu werden. Auch seine Frau verlässt ihn mit den Kindern und geht ein Verhältnis mit dem Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber ein.38 Forster lässt sich von diesen schweren persönlichen Schlägen jedoch nicht von seinem politischen Engagement abbringen. So schreibt er an seine Frau Therese: „Man ist entweder für absolute Freiheit oder für Tyrannei. Ein Mittelding gibt es nicht, denn die bedingte Freiheit läuft immer wieder auf Despotie hinaus.“39 Erneut lässt sich hier der – nun einem schweren persönlichem Verlust abgerungene – revolutionäre, radikal-demokratische Charakter von Forsters Republikanismus erkennen, der jetzt entschieden gegen einen reformistischen Republikanismus à la Kant argumentiert. Am 24. Februar 1793 finden schließlich die Wahlen zum Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent statt. Zur Wahl ist jeder zugelassen, der einundzwanzig Jahre alt ist und einen Eid auf die republikanischen Grundsätze geschworen hat. Frauen und Knechte sind allerdings ausgeschlossen. In diesem Punkt werden die romantischen Republikaner und insbesondere Schlegel später über Forsters praktische republikanische Politik in ihren Forderungen hinausgehen. Sie werden nun auch für Frauen und alle Nichtselbstständigen die politische Mitbestimmung einfordern und einen weiteren Schritt der Radikalisierung über Forster hinaus vollziehen.40 Realisiert 36 37 38

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Forster (1791), Erinnerungen aus dem Jahr 1790, S. 523. Forster (1793), Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschen, 724. Vgl. zu diesem Abfallen der Freunde, das ein ernüchterndes Zeugnis der deutschen Intellektuellen der Epoche bietet, Gordon A. Craig, Ein deutscher Jakobiner. Georg Forster, in: ders., Die Politik der Unpolitischen. Deutsche Schriftsteller und die Macht 1770–1871, München 1993, 39–58. Brief an Therese Forster vom 4. Februar 1793, in: Forster, Werke, Bd. 4, 831. Dass Forster auch in Fragen der radikalen demokratischen Selbstbestimmung des Volkes, aller-

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haben sie dies allerdings faktisch nur teilweise im engeren Kreis, politisch blieb es noch über ein weiteres Jahrhundert eine bloße Forderung. Am 17. März tritt der frisch gewählte Rheinische Nationalkonvent zum ersten Mal zusammen. Forster bringt ein Dekret ein für die Souveränität des Rheinstaates und die Machtenthebung aller weltlichen und geistlichen Herren, das der Konvent in einer Abstimmung annimmt. Der Konvent beschließt im Anschluss, dass „das rheinischdeutsche Volk die Einverleibung in die fränkische Republik wolle“, und Forster wird als einer der Delegierten ausgewählt, die der Pariser Nationalversammlung diesen Beschluss überbringen sollen. Am 25. März reist er nach Paris ab. Er wird nicht mehr nach Mainz zurückkehren, das in der Folge von den Koalitionsarmeen zurückerobert wird. Denn damit war ihm als Republikaner die Rückreise nach Deutschland verwehrt. Wie später Heinrich Heine stirbt er im Pariser Exil, ohne seinen Glauben an die Revolution und die Republik ganz verloren zu haben; aber sein Glaube an die Perfektibilität des Menschen scheint gelitten zu haben. So schreibt er in einem seiner letzten Briefe an Therese aus Paris: „Ich hange noch fest an meinen Grundsätzen; allein ich finde die wenigsten Menschen ihnen getreu: alles ist blinde, leidenschaftliche Wut, rasender Parteigeist und schnelles Aufbrausen, das nie zu vernünftigen und ruhigen Resultaten gelangt.“41 Am 10. Januar 1794 ist Georg Forster in Paris gestorben.

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dings unter dem Druck der Kriegssituation, zu dieser Zeit immer noch ambivalente Haltungen einnahm und Wahlergebnisse mit militärischem Druck herbeizuführen suchte, zeigt detailliert Franz Dumont, Georg Forster als Demokrat, in: Georg-Forster-Studien 1 (1997), 125–153. Vgl. auch die skeptische Einschätzung der Situation in Mainz bei T. C. W. Blanning, Reform and Revolution in Mainz 1792–1803, Cambridge 1983. Brief an Therese Forster vom 8. April 1793, in: Forster, Werke, Bd. 4, 843.

8. SCHLEGEL: EINE REPUBLIK AUCH FÜR NICHTSELBSTÄNDIGE UND FRAUEN Wer sich mit der Politischen Romantik befasst, betritt bis heute ein politisch brisantes Gebiet. Bereits Heinrich Heine hatte in der romantischen Schule vor allem die katholische Reaktion erblickt1 und Georg Lukacs spricht für einen Großteil der marxistischen Romantikdeutung, wenn er in der Romantik den Entstehungsherd des „modernen Irrationalismus“ erkennen will.2 Carl Schmitt wiederum – selbst politisch nicht gerade unverdächtig – bezeichnete die Politische Romantik abschätzig als „ocassitionellen Subjektivismus“.3 Dieses Urteil hat allerdings seinen Parteigenossen Walter Linden nicht daran gehindert, die Romantiker als Vorläufer der nationalsozialistischen Bewegung zu reklamieren.4 Weit verbreitet ist heute daher auf dieser Rezeptionslinie die Erzählung von der Geburt des verspäteten, irrationalen und antimodernen, chauvinistischen und rassistischen deutschen Nationalismus aus dem Geist der Politischen Romantik.5 Ganz in diesem Sinne hat Rüdiger Safranski vor kurzem noch einmal äußerst publikumswirksam geäußert, die Romantik sei „gut für die Poesie, schlecht für die Politik.“6 Diese Etikettierungen der Romantik aus historischer Rückschau können nicht einfach alle mit einem Handstreich vom Tisch gewischt werden. Zutreffend ist schließlich, dass die romantische Bewegung nach 1800 beispielsweise durch Schlegels Konversion zum Katholizismus und seine Anstellung in Metternichs Regime oder durch Adam Müllers Elemente der Staatskunst von 1809 in der Reaktion mündet.7 Will man jedoch eine ganze Bewegung von europäischer Wirkung8 nicht anachronistisch von ihrem Ende her beurteilen, so bietet es sich an, verschiedene Phasen zu unterscheiden. Dabei folge ich der mittlerweile gängigen literaturge-

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Vgl. Heinrich Heine (1835), Die romantische Schule, in: Heine, Werke in vier Bänden, Bd. 4, hg. v. Helmut Schanze, Frankfurt/M. 1994. Vgl. Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied 1962, 89 ff. Vgl. Carl Schmitt (1919), Politische Romantik, Berlin 1982. Vgl. Walther Linden, Umwertung der Romantik, in: Zeitschrift für Deutschkunde 47 (1933), 65–91. Vgl. Helmut Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt/M. 1974. Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007, 13. Vgl. zur Konversion Ernst Behler, Friedrich Schlegel, Hamburg 1966, 93 ff. Zu Adam Müller Jakob Baxa, Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration, Jena 1930 sowie Schmitt, Politische Romantik und Peter Paul Müller-Schmid, Adam Müller (1779–1829), in: Bernd Heidenreich (Hg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, Berlin 2002, 109–138. Vgl. zur europäischen Dimension Ernst Behler (Hg.), Die Europäische Romantik, Frankfurt/M. 1972. Die Bedeutung der Romantik für das moderne Bewusstsein betont Isaiah Berlin, Die Wurzeln der Romantik, Berlin 2004, 24.

8. Schlegel: Eine Republik auch für Nichtselbständige und Frauen

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schichtlichen Einteilung in Früh-, Hoch- und Spätromantik.9 Innerhalb dieser Phaseneinteilung geht es hier im Folgenden um die Politische Frühromantik, genauer: um den Fall Friedrich Schlegel. Die zentrale Behauptung ist, dass wir beim jungen Schlegel kein reaktionäres, antirevolutionäres und antimodernes politisches Denken vorfinden, sondern ganz im Gegenteil eine Radikalisierung des politischen Denkens der deutschen Aufklärung.10 In der Auseinandersetzung Schlegels mit der Französischen Revolution und dem philosophischen Denken seiner Zeit, im Anschluss an Georg Forsters republikanische Praxis und Schriften und insbesondere an Kants Friedensschrift radikalisiert Schlegel den kosmopolitischen Republikanismus der 1790er Jahre. Das ist die zentrale ideengeschichtliche Bewegung, die man sehen muss, will man die Politische Frühromantik angemessen bewerten. Sie erscheint dann als eine progressive, sogar avantgardistische politische Bewegung, die die sich gerade bildenden geistigen und politischen Tendenzen der republikanischen Strömung in Deutschland nach 1789 in einmaliger Weise bündelt und radikalisiert. Schlegel und die Herausbildung der Frühromantik Frederick Beiser hat in seiner wichtigen Studie zur Genese des politischen Denkens in Deutschland nach 1790 drei zentrale Strömungen ausgemacht: Liberalismus, Konservatismus und Romantik.11 Der Republikanismus kommt somit bei Beiser als zentrale politische Strömung nicht vor, obwohl der Republikbegriff auch in Deutschland nach 1789 der prominente Begriff im Kampf einiger Aufklärer gegen den Despotismus ist. Stattdessen muss bei Beiser der begriffsgeschichtlich erst im 19. Jahrhundert auftretende Liberalismusbegriff nun ein extrem breites Spektrum von politischen Theorien fassen. Beiser ordnet dem Liberalismus radikale Republikaner wie Georg Forster und die deutschen Jakobiner ebenso zu wie Kant, der Reformen zu einer gewaltenteiligen, rechtsstaatlichen Republik vorschlägt, und Humboldt, der eine konstitutionelle Monarchie anstrebt. Darüber hinaus ist nicht ganz klar, inwiefern es sich bei der Romantik um eine eigenständige politische Strömung handelt. Meines Erachtens versteht man die Romantik besser als eine umfassendere philosophisch-ästhetische Haltung beziehungsweise eine literarische-künstlerische Bewegung, die sich im Lauf der Zeit mit unterschiedlichen politischen Strömungen verbindet. Ich denke daher, dass man mehr Klarheit gewinnt, wenn man neben den von Beiser genannten politischen Strömungen Konservatismus und Liberalismus 9 Vgl. Detlef Kremer, Romantik, Stuttgart 2007. 10 Ein solches Verständnis findet sich zumindest angedeutet bei Leo Löwenthal, Die Romantik- die verdrängte Revolution, in: ders., Schriften Bd. 2, Frankfurt/M. 1990, 301–316. Um ein differenziertes philosophisches Bild der Romantik hat sich in den letzten Jahren vor allem Manfred Frank verdient gemacht. Vgl. etwa Manfred Frank, Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/M. 1997 und ders., Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 2007. 11 Vgl. Frederik Beiser, Enlightenment, Revolution and Romanticism: The Genesis of Modern German Political Thought 1790–1800, Harvard 1992.

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II. Republikanische Ideengeschichte

als dritte den Republikanismus aufnimmt. Innerhalb des Republikanismus kann man dann zwischen einer revolutionären, radikaldemokratischen und einer reformistischen Variante unterscheiden. Die Politische Frühromantik schließt an diese republikanische Strömung im deutschen politischen Denken um 1790 an. Schlegel romantisiert und radikalisiert den deutschen Republikanismus, das heißt er führt die frühe romantische Philosophie mit der politischen Theorie des Republikanismus zusammen. Auf welche Weise er dies tut und wie dieser romantische Republikanismus dann im Detail aussieht, soll uns im Folgenden beschäftigen. Dazu und um Schlegel im damaligen politisch-sozialen Kontext zu sehen, müssen wir uns zunächst kurz seiner Biographie und der Herausbildung der Frühromantik etwas genauer zuwenden. Der theoretische Kopf der Frühromantik, Friedrich Schlegel, wird am 10. März 1772 in Hannover geboren. Er und sein älterer Bruder August Wilhelm entstammen einer Familie mit einer lange zurückreichenden gelehrten und literarischen Tradition. So war bereits der Großvater literarisch interessiert, und auch der Vater und einige Onkel sind literarisch und wissenschaftlich tätig. Die Nähe zur Philosophie und Literatur war also von Kindheit an gegeben, und der schwierige, grüblerische und gesundheitlich labile Knabe eignet sich, nach einer gescheiterten Kaufmannslehre, selbst das nötige Gymnasialwissen an, um dann für ein Studium der Rechtswissenschaften nach Göttingen und später nach Leipzig zu gehen. Er beschäftigt sich während des Studiums jedoch zunehmend mit Philosophie, Literatur, Kunsttheorie und Geschichte und gibt die Rechtswissenschaft schließlich zugunsten einer Laufbahn als freier Schriftsteller 1794 auf.12 Bereits 1792 hatte Schlegel Friedrich von Hardenberg kennengelernt, der sich bald Novalis nennen wird und mit dem ihn von da an ein reger Austausch freundschaftlich verbindet, der als eine Keimzelle der Frühromantik gelten kann. 1793 assistiert er seinem Bruder August Wilhelm als Bote in der Liebesaffäre mit der Göttinger Professorentochter Caroline Böhmer, die eine glühende Anhängerin der Revolution ist und im Haus von Georg Forster in Mainz verkehrt. Hierdurch ist eine Verbindung zum Mainzer Republikaner Forster gegeben, und mit Caroline ist sozusagen eine Mainzer Republikanerin Mitglied im Kreis der Frühromantiker geworden.13 Schlegel folgt schließlich 1796 seinem Bruder August Wilhelm, der mittlerweile mit Caroline verheiratet ist, nach Jena. Hier entsteht um die Brüder herum die Jenaer Frühromantik, deren Zentralorgan etwas später die Zeitschrift Athenäum werden sollte und deren Haupttreffpunkt die Wohngemeinschaft der Schlegels ist, zu der neben Friedrich und August Wilhelm noch Caroline und Dorothea Veit, die Tochter des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, gehören, die Friedrich im Berliner Salon von Henriette Herz kennengelernt hatte. Zum Jenaer Frühromantikerkreis zählen daneben etwa Ludwig Tieck, Friedrich Schleiermacher und die Philosophen Schelling und Fichte, dessen Wissenschaftslehre Schlegel mit der Franzö12 13

Vgl. zur Biographie insbesondere Ernst Behler, Friedrich Schlegel. Vgl. Marita Gilli, Die Mainzer Republik 1792–93, in: Helmut Reinalter (Hg.), Republikbegriff und Republiken seit dem 18. Jahrhundert im europäischen Vergleich, Frankfurt/M. 1999, 71– 82.

8. Schlegel: Eine Republik auch für Nichtselbständige und Frauen

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sischen Revolution und Goethes Wilhelm Meister auf eine Stufe stellen wird. Man trifft sich in ungezwungener, bohèmehafter Atmosphäre zum „Symphilosophieren“.14 Es ist diese geistige Atmosphäre, aus der Schlegels Republikanismus hervorgeht, dem wir uns nun zuwenden wollen. Er entwickelt sich in direkter Auseinandersetzung mit Kants Republikanismus und mit dessen Friedenschrift. Eine Republik auch für Nichtselbständige und Frauen Für Friedrich Schlegel „ist eben das romantisch, was uns einen sentimentalen Stoff in einer phantastischen Form darstellt.“15 Wenn von ihm in dieser Schrift um 1800 der Romantikbegriff als literarische Kategorie definiert wird, so erschöpft er sich für den jüngeren Schlegel doch nicht darin. In den drei Jahre zuvor veröffentlichten Lyceums-Fragmenten ist die romantische Poesie für ihn darüber hinaus „eine republikanische Rede; eine Rede, die ihr eigenes Gesetz und ihr eigener Zweck ist, wo alle Teile freie Bürger sind und mitstimmen dürfen.“16 So zeigt sich, wie in den 1790er Jahren in der Idee der romantischen Poesie für den jungen Schlegel das Politische enthalten ist, eine bestimmte freiheitlich-egalitäre Ordnung des Politischen, eben eine republikanische Ordnung, die für ihn, wie wir sehen werden, am Ende nur in einer Weltrepublik münden kann. Die romantische Poesie ist für den jungen Schlegel „progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht nur, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und der Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen.“17 Mit dieser Vergesellschaftung der Poesie und Poetisierung der Gesellschaft schließt die Frühromantik an Schillers ästhetische Erziehung der Bürger zu Freiheit und Republik an, mit dem Unterschied, dass die Poesie nun bereits einen direkten politischen, eben republikanischen Zweck hat.18 Dieses Ineinandergreifen von Poesie, Philosophie und republikanischer Politik in der romantischen Universalpoesie, das auch in Schlegels berühmter Feststellung zum Vorschein kommt, „die französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister“ seien die „größten Tendenzen des Zeitalters“,19 ließ sich nun 14 15 16 17 18 19

Vgl. allgemein zur Jenaer Frühromantik Kremer, Romantik und Gerhard Schulz, Romantik. Geschichte und Begriff, München 1996. Friedrich Schlegel (1800), Gespräch über die Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 2, hg. v. Hans Eichner, München 1967, 333. Friedrich Schlegel (1797), Lyceums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 2, 155. Friedrich Schlegel (1798), Athenäums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 2, 182. Friedrich Schiller (1795), Über die ästhetische Erziehung der Menschen, in: ders., Theoretische Schriften, Werke in zwölf Bänden, Bd. 8, herausgegeben von Rolf-Peter Janz, Frankfurt/M. 1992. Ebd. S. 198.

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II. Republikanische Ideengeschichte

ohne allzu große Schwierigkeiten mit der kantischen Geschichtsphilosophie verbinden. Nach Kant lenkt ja, wie wir gesehen haben, ein „natürlicher Antagonism“ sozusagen hinter dem Rücken der Subjekte die Menschheitsgeschichte auf die ideale Republik hin. Schlegel wendet aber gegen Kants geschichtsphilosophische Herleitung seiner Theorie des republikanischen Friedens aus dem „natürlichen Antagonism“ ein, dass „die Gesetze der politischen Geschichte und die Prinzipien der politischen Bildung […] die einzigen Data“ sind, „aus denen sich erweisen läßt, daß der ewige Friede keine leere Idee sei.“20 Das heißt, anstatt auf einen natürlichen, nicht-intentionalen Mechanismus zu setzen, kommt es laut Schlegel auf die politische Geschichte und die von den Romantikern intendierte Bildung der Menschen in ihr zur kosmopolitischen Republik an; und diese Bildungsaufgabe kommt der Kunst, der Universalpoesie zu, die eine neue Mythologie, eine neue Zivilreligion erschafft, die die Menschen zum „poetischen Staat“ bildet. In dieser Umstellung von einer rationalistischen Geschichtsphilosophie auf eine humanistisch-perfektionistische, die die ästhetische Dimension politischer Ordnungen betont, liegt meines Erachtens der tiefere Grund der Radikalisierung von Kants Republikanismus durch Schlegel. Die politische Geschichte und die politische Bildung der Menschen wird dadurch ein radikal offenes, kontingentes Projekt. Schlegel hält jedoch zugleich am Republikanismus der Aufklärung und an dem Kants fest. Nur gibt es für Schlegel nun kein natürliches oder rationales Gesetz, dass die Republik sozusagen notwendig hervorbringt – bereits bei Kant war ja die in die Geschichte hineingelesene Teleologie mehr ein Ansporn zum Tätigwerden denn ein historisches Faktum. Der Republikanismus ist für Schlegel eine menschliche Schöpfung, das Leben als Freie und Gleiche in einer Republik letztlich ein ästhetisches Projekt. Schlegel hebt deshalb hervor, dass man die Menschen auch als phantasiebegabte, für Kunst und Mythen empfängliche Wesen für das republikanische Projekt begeistern müsse, nicht alleine durch rationale Prinzipien oder die Berufung auf natürliche Mechanismen. Diese geschichtsphilosophische Dynamisierung und Radikalisierung des Republikbegriffs finden wir gleich zu Beginn von Schlegels „Versuch über den Republikanismus“, wenn er zwischen einem Minimum, Medium und Maximum der republikanischen Freiheit unterscheidet. Er erklärt dort, dass die bürgerliche Freiheit der Republik eine „Idee“ sei, „welche nur durch eine ins Unendliche fortschreitende Annäherung wirklich gemacht werden kann.“21 Das Minimum dieser Idee umfasse das in Kants Rechtsbegriff gemeinte Zusammenstimmen der Freiheit eines jeden mit der gleichen Freiheit aller anderen unter einem zwangsbefugten Gesetz. Das Medium sei der kantische Autonomiebegriff und die Idee, nur solchen Gesetzen zu gehorchen, denen man auch selbst zugestimmt hat. Politisch äußere sich dies in einer nach Mehrheitsprinzip entscheidenden repräsentativen Volksversammlung. Diese demokratische, repräsentative, gewaltenteilige Republik hatten wir bei Kant als Ideal rekonstruiert. Das „unerreichbare“ Maximum politischer Freiheit und Gleichheit – und hierin besteht nun die Radikalisierung – liegt für Schlegel darin, 20 21

Schlegel, Friedrich (1796), Versuch über den Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 7, hg. v. Ernst Behler, München 1966, 23. Ebd., 12.

8. Schlegel: Eine Republik auch für Nichtselbständige und Frauen

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dass moralisches und politisches Handeln deckungsgleich würden, alle Zwangsgesetze aufgehoben und alle Menschen von sich aus mit allen anderen so im Einklang handeln würden, dass ihre Freiheit zusammenstimmen würde. Diese These vom „Absterben des Staates“ hat später in linken politischen Bewegungen als faktisches Ziel erhebliche Prominenz erlangt. Bei Schlegel bleibt sie eine „unerreichbare“ Idee, die aber dennoch als republikanisches Ideal der vollkommenen Herrschaftsfreiheit praktische Gültigkeit behalte. In diesem „politischen Imperativ“ des unerreichbaren Maximums bringt Schlegel seine – für die frühe Romantik prägende – These von der Sehnsucht des Menschen nach dem Unendlichen politisch zum Ausdruck. Walter Benjamin hat diese These der unendlichen Annäherung auf den gegen Fichte und Kant entwickelten offenen Reflexionsbegriff des frühen Schlegel zurückgeführt.22 Schlegel erklärt jedenfalls mit deutlichen Anklängen an Rousseau: „Die Voraussetzung, daß der Wille nicht aller einzelnen Staatsbürger mit dem allgemeinen Willen stets übereinstimmen werde, ist der einzige Grund der politischen Herrschaft und Abhängigkeit. So allgemein sie aber auch gelten mag, so ist ihr Gegenteil durchaus denkbar.“23 Wenn dies aber für eine einzelne Republik als „unerreichbares Maximum“ denkbar ist, dann ist für Schlegel auch eine kosmopolitische Republik auf dieser demokratischen, herrschaftsfreien Grundlage denkbar. „Also nicht ein jeder [denkbare P. H.] Staat enthält das Verhältnis eines Oberen zu einem Unteren, sondern nur der durch jenes faktische Datum empirisch bedingte. Es läßt sich allerdings ein Völkerstaat ohne dies Verhältnis denken, und ohne daß die verschiedenen Staaten in einem einzigen zusammenschmelzen müßten: eine nicht zu einer besonderen Absicht bestimmte, sondern nach einem unbestimmten Ziel strebende (nicht hypothetisch, sondern thetisch zweckmäßige) Gesellschaft im Verhältnis der Freiheit der Einzelnen und der Gleichheit Aller, unter einer Mehrheit oder Masse von politisch selbständigen Völkern. Die Idee einer Weltrepublik hat praktische Gültigkeit und charakteristische Wichtigkeit.“24 Es ist dieser Gedankengang der unendlichen Annäherung an ein unerreichbares republikanisches, herrschaftsfreies Maximum in einer Weltrepublik, den ich mit meiner These der Radikalisierung von Kants kosmopolitischem Republikanismus durch den romantischen Republikanismus Schlegels herausarbeiten wollte. Während Kant hier noch zurückhaltend war beziehungsweise sogar die reine Demokratie in seiner Bestimmung des Republikbegriffs als Despotismus bezeichnete, heißt es bei Schlegel ohne Wenn und Aber: „Der Republikanismus ist also notwendig demokratisch.“25 Zudem verteidigt Schlegel gegen Kant das Recht auf „Insurrektion“, wobei er zwei rechtmäßige Gründe für diese nennt. Erstens könne es in einer republikanischen Verfassung ein Recht auf Insurrektion geben, durch das verhindert werde, dass die Verfassungswirklichkeit zusehends in Richtung einer „Annullierung“ des in der Verfassung vorgeschriebenen Republikanismus tendiere. Sein Beispiel ist ein Staatsnotstand, indem die Exekutive diktatorische Kompeten22 23 24 25

Vgl. Walter Benjamin (1919), Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, hg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt/M. 2008, 32 ff. Schlegel, Versuch über den Republikanismus, 13. Ebd. Ebd., 17.

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II. Republikanische Ideengeschichte

zen auf Zeit übertragen bekomme, sie aber nach dem Notstand nicht mehr aufgebe. Zweitens sei eine Insurrektion gegen den absoluten Despotismus rechtmäßig, denn dieser sei gar kein Staat, sondern ein „Antistaat“.26 In diese Richtung war aus dem Jenaer Kreis um den Kantianer Carl Leonhard Reinhold, der Anfang der 1790er Jahre stark auf die Herausbildung der Jenaer Frühromantik eingewirkt hat, bereits Johann Benjamin Erhard 1795 mit seiner Schrift Über das Recht des Volkes zu einer Revolution gegangen.27 Der junge Schlegel schließt auch an diese Jenaer Radikalisierung des Kantianismus an. Der revolutionäre, radikaldemokratische Charakter von Schlegels romantischem Republikanismus verdankt sich also dem Einfluss der radikalen deutschen Republikaner, zu denen auch Erhard gezählt werden kann und deren zentrale Figur Georg Forster ist. Es ist diese Strömung des deutschen politischen Denkens um 1790, die Schlegel aufgreift und romantisiert. Für die Radikalisierungsthese spricht zuletzt vor allem, dass Schlegel gegen Kant – der, wie wir gesehen haben, Nichtselbständigen und Frauen den aktiven Bürgerstatus verweigerte – einwendet, „Armut und vermutliche Bestechbarkeit, Weiblichkeit und vermutliche Schwäche sind wohl keine rechtmäßigen Gründe, um vom Stimmrecht ganz auszuschließen.“28 Diese Einwände gegen Kant zeigen deutlich die radikale Modernität der Frühromantik und des romantischen Republikanismus. Die pauschale Etikettierung der Romantik als reaktionäre, antiwestliche Bewegung übersieht vollkommen, wie modern in einem ganz konkreten politischen Sinne die Frühromantik nicht zuletzt in Fragen des Geschlechterverhältnisses und der Emanzipation der Frauen war.29 Der deutsche kosmopolitische Republikanismus, wie er sich von Kant und Forster bis zur Frühromantik und Friedrich Schlegel entwickelt, weist dadurch eine ungeheure Modernität auf, die ihn noch heute als republikanische politische Theorie neben der sogenannten atlantischen republikanischen Tradition Skinners und Pettits und der niederländisch-französischen Israels attraktiv erscheinen lassen.

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Ebd., 25. Johann Benjamin Erhard (1975), Über das Recht des Volkes zu einer Revolution, in: Johann Benjamin Erhard, Über das Recht des Volkes zu einer Revolution und andere Schriften, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hellmut G. Haasis, München 1970, 7–98. Vgl. zu Erhard und dem Jenaer Kreis um Reinhold Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen-Jena 1790–1794, 2. Bde., Frankfurt/M. 2004, 1189–1392. Schlegel, Versuch über den Republikanismus, 25. Vgl. zu dieser emanzipatorischen Rolle der Frauen in der Frühromantik und im deutschen Republikanismus auch nochmals die Biographie von Caroline Schlegel: Eckhart Kleßmann, Caroline, München 1975 und ders., Universitätsmamsellen. Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Rokoko, Revolution und Romantik, Frankfurt/M. 2008.

III. REPUBLIKANISCHE THEORIE

1. REPUBLIKANISCHE FREIHEIT „Freiheit ist die mächtigste unter den politischen Ideen“, schreibt der englisch Philosoph David Miller in seiner Einleitung zu einer wichtigen Aufsatzsammlung über den Freiheitsbegriff.1 Wie wir im ersten Teil dieses Buches gesehen haben, beruft sich die aktuelle theoretische Debatte um den Republikanismus vor allem auf einen alternativen Freiheitsbegriff. Wir wollen daher hier abschließend nochmals diese Debatte um den Freiheitsbegriff im Lichte unseres Durchgangs durch die republikanische Ideengeschichte rekapitulieren, um den republikanischen Freiheitsbegriff historisch tragfähig zu rekonstruieren. Die zeitgenössische philosophische Auseinandersetzung um den Freiheitsbegriff entzündete sich insbesondere an Isaiah Berlins berühmtem und viel zitiertem Essay „Zwei Freiheitsbegriffe“. Berlin unterscheidet dort zwischen einem negativen und einem positiven Freiheitsbegriff. Den negativen Freiheitsbegriff charakterisiert er als eine „Freiheit von“, als das Recht eines Individuums auf Schutz vor Einmischung in einen ihm zugesicherten Freiheits- und Handlungsraum, in dem dieses tun kann, was ihm beliebt, sofern es niemand anderem damit schadet. Negative Freiheit meint somit insbesondere eine Freiheit von durch andere Menschen errichteten Hindernissen, die sich der Verwirklichung meiner Präferenzen in den Weg stellen. Positive Freiheit charakterisiert Berlin dagegen als „Freiheit zu“, als Möglichkeit des Individuums, sein „eigener Herr zu sein“. Dieses Freiheitsverständnis beruht für Berlin zum einen auf der Vorstellung, dass es besser ist, sich durch die Vernunft und nicht durch die Leidenschaften leiten zu lassen. Von den Stoikern bis zu Kant sei die Unterwerfung unter die Rationalität als „Befreiung“ von den blinden Leidenschaften aufgefasst worden, als individuelle Selbstbestimmung oder Selbstverwirklichung. Zum anderen beinhaltet der positive Freiheitsbegriff nach Berlin die Idee der kollektiven Selbstbestimmung, also die Idee, dass das Individuum an der Entwicklung der Gesetze beteiligt sein sollte, denen es unterworfen ist. Vor allem Rousseau ist hier für Berlin ein paradigmatischer Vertreter dieser Auffassung. Berlin geht es in seinem Essay darum zu zeigen, dass diese beiden Freiheitsbegriff vollkommen unabhängig voneinander sind und sogar miteinander in Konflikt geraten können. Die positive Freiheit hat für ihn dank ihrer Bindung an die Rationalität und die kollektive Selbstbestimmung eine inhärente Tendenz zur Tyrannei bzw. Diktatur, da unter Berufung auf die Vernunft bzw. die Wahrheit oder auf den Willen des Kollektivs häufig die individuelle, negative Freiheit des einzelnen ausgehebelt worden sei. Er plädiert daher dafür, angesichts des Pluralismus der Werte in modernen Gesellschaften und der Unmöglichkeit einer letztgültigen vernünftigen Wertehierarchisierung den positiven Freiheitsbegriff zugunsten des negativen 1

David Miller, Introduction, in: ders. (Hg.), The Liberty Reader, Edinburgh 2006, 1.

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III. Republikanische Theorie

zurückzustellen. „Der Pluralismus mit jenem Maß an ‚negativer Freiheit‘, das er mit sich bringt, scheint mir ein wahrhaftigeres und humaneres Ideal zu sein als die Ziele derer, die in großen, disziplinierten, autoritären Strukturen nach ‚positiver‘ Selbstbeherrschung von Klassen oder Völkern oder der ganzen Menschheit suchen“, so Berlins Schlussfolgerung.2 Diese Konklusion Berlins und seine Differenzierung zweier Freiheitsbegriffe hat viel Widerspruch hervorgerufen. Dabei war es insbesondere seine These, dass die negative Freiheit völlig unabhängig von der positiven Freiheit demokratischer Selbstbestimmung sei, die Kritik hervorgerufen hat. Laut Berlin besteht „zwischen individueller Freiheit und demokratischer Freiheit […] kein notwendiger Zusammenhang. Die Antwort auf die Frage ‚Wer regiert mich?‘ ist logisch wohlunterschieden von der Frage ‚Wie weit engen Staat oder Regierung mich ein?‘ Aus diesem Unterschied ergibt sich der entscheidende Gegensatz zwischen den Begriffen der negative und der positiven Freiheit. Denn die positive Bedeutung des Begriffs Freiheit tritt zutage, nicht wenn wir fragen ‚Was zu tun oder zu sein bin ich frei?‘, sondern wenn wir fragen ‚Von wem werde ich regiert?‘ oder ‚Wer soll sagen können, was ich sein oder tun soll und was nicht?‘ Die Verbindung zwischen Demokratie und individueller Freiheit ist sehr viel brüchiger, als viele ihre Befürworter vermuten. Der Wunsch nach politischer Selbstbestimmung oder danach, an dem Prozeß, durch den mein Dasein kontrolliert wird, beteiligt zu sein, mag genauso tief sein wie der Wunsch nach einem Raum, in dem ich frei handeln kann, und historisch gesehen ist er vielleicht älter. Aber beide Wünsche richten sich nicht auf das gleiche Ziel.“3 Gegen diese Konklusion Berlins hat Charles Taylor in einer ersten Kritikvariante eingewandt, dass der Trennstrich der Unterscheidung zwischen negativen und positiven Freiheitsbegriffen bei Berlin gewissermaßen falsch gezogen ist. Nach Taylor seien nur äußerst „krude“ Theorien negativer Freiheit der Auffassung, Freiheit bestehe allein in der Abwesenheit äußerer Hindernisse. Er nennt den von diesen Theorien vertretenen Freiheitsbegriff einen reinen „Möglichkeitsbegriff“ der Freiheit, der alleine auf die Möglichkeit, Handlungen zur Befriedigung jedweder Präferenzen auszuführen, abziele. Daneben seien aber durchaus auch negative Freiheitstheorien vorstellbar, die Präferenzen gewichten und auf die Verwirklichung von als bedeutsam empfundenen Werten abheben würden. Mit diesen Theorien komme jedoch unausweichlich eine positive Dimension in den negativen Freiheitsbegriff hinein, weswegen Taylor hier dann auch von einem „Verwirklichungsbegriff“ der Freiheit spricht, der allerdings durchaus mit negativen Theorien vereinbar sei. „Wir können im Rahmen einer Selbstverwirklichungskonzeption nicht sagen, daß jemand frei ist“, so Taylor, „wenn er überhaupt kein Bewußtsein von sich selbst hat, wenn er sich beispielsweise seines Potentials überhaupt nicht bewußt ist, wenn dessen Erfüllung für ihn niemals auch nur als Frage aufgetaucht ist oder wenn er von der Furcht paralysiert wird, eine Norm zu verletzten, die er internalisiert hat, in der er sich aber nicht authentisch wiedererkennt. Innerhalb dieses begrifflichen Rah2 3

Isaiah Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe, in: ders., Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/M. 2006, 254. Ebd., 210.

1. Republikanische Freiheit

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mens ist ein bestimmtes Maß an praktischer Übung erforderlich, damit ein Mensch als frei gelten kann. Oder wenn wir uns die inneren Schranken der Freiheit in Analogie zu den äußeren als Hindernisse vorstellen wollen, dann schließt das innehaben einer Position, die es mir gestattet, meine Freiheit zu praktizieren, das Verfügen über die Gelegenheit zur Freiheit zugleich die Beseitigung von inneren Barrieren ein, und dies ist nicht möglich, ohne daß ich mich in einem bestimmten Grade selbst erkenne. Somit setzt die Freiheit der Selbstverwirklichung, die Gelegenheit frei zu sein, bereits voraus, daß ich die Freiheit praktiziere. Ein reines Möglichkeitskonzept ist hier ausgeschlossen.“4 Ist so in dieser ersten Kritikvariante Berlins scharfe Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit bereits in erheblichem Maße verwischt, zielt eine zweite Kritikvariante, die insbesondere Gerald MacCallum prominent vertreten hat, auf die komplette Auflösung von Berlins Unterscheidung. Für MacCallum ist Freiheit ein Begriff mit einer dreistelligen Relation. Wenn wir über Freiheit reden, dann sprechen wir laut MacCallum immer erstens über eine Person, die zweitens frei ist von einem Hindernis, einer Einmischung oder Einschränkung, um drittens eine Präferenz zu realisieren bzw. eine Handlung zu vollziehen. Diesen dreistelligen Freiheitsbegriff bringt MacCallum auf die Formel „X ist frei von Y, um Z zu tun“. In dieser Formel sind – wie man leicht sieht – negative und positive Freiheit, Freiheit von und Freiheit zu, als aufeinander verwiesene Dimensionen der einen Freiheit miteinander verbunden. MacCallum beansprucht mit seinem Vorschlag, die politisch aufgeladenen Auseinandersetzungen über den Freiheitsbegriff einer rationalen Klärung zuzuführen.5 Im ersten Teil dieses Buches haben wir jedoch gesehen, dass die zwei einflussreichsten Vertreter der aktuellen Theorie des Republikanismus, Skinner und Pettit, eine nochmals andere Variante der Kritik an Berlin entwickelt haben. Beide versuchen, einen dritten Freiheitsbegriff gegen Berlins zwei Freiheitsbegriffe in Spiel zu bringen, den sie in der republikanischen Ideengeschichte entdeckt zu haben vermeinen und den sie als Freiheit als „Unabhängigkeit“ (Skinner) oder als „Nicht-Beherrschung“ (Pettit) charakterisieren. Wie wir ebenfalls bereits gesehen haben, behaupten beide, dass es sich bei diesem republikanischen Begriff in bestimmter Weise ebenfalls um einen negativen Begriff der Freiheit handelt, dass es den Republikaner wie den Liberalen um die Abwesenheit von etwas gegangen sei: im republikanischen Fall aber um die Abwesenheit von Abhängigkeit bzw. Beherrschung und nicht um die von Einmischung, wie im liberalen Fall. Mit Bezug auf die republikanische Ideengeschichte und d. h. mit Bezug auf Machiavelli hat diese These zuerst Quentin Skinner vorgebracht. In gewisser Nähe zu den zuvor diskutierten Argumenten von Taylor und MacCallum – aber zugleich auch in expliziter kritischer Distanz zu diesen – versucht Skinner, unter Bezug auf Machiavelli und die republikanische Tradition zu zeigen, dass ein negativer Freiheitsbegriff nicht inkompatibel mit Ideen ist, die bei Berlin dem positiven Freiheits4 5

Charles Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit, in: ders., Negative Freiheit?, Frankfurt/M. 1988, 121f. Gerald C. MacCallum Jr., Negative and Positive Freedom, in: David Miller (Hg.), The Liberty Reader, Edinburgh 2006, 100–123.

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III. Republikanische Theorie

begriff zugerechnet werden. „Ich werde zu zeigen versuchen“, so Skinner, „daß in einer bestimmten Tradition des Nachdenkens über soziale Freiheit der Begriff der negativen Freiheit auf genau jene Weise mit den Idealen der Tugend und des Dienstes an der Gemeinschaft verknüpft worden ist, von der man heutzutage annimmt, daß sie nur um den Preis der Inkohärenz möglich sei.“6 Wie Skinner ausführt, habe Machiavelli in seinen Discorsi ganz eindeutig einen negativen Freiheitsbegriff entwickelt, unter dem er „die Abwesenheit von Einschränkungen oder Hindernissen“ verstanden habe, „die von anderen Akteuren ausgehen und die Fähigkeit begrenzen, unabhängig die selbstgewählten Ziele zu verfolgen“.7 Die Verfolgung dieser negativen Freiheit sei aber, so Skinner weiter, laut Machiavelli nur möglich in einem freien Gemeinwesen, und dies sei der entscheidende Schritt, mit dem er seinen negativen Freiheitsbegriff mit herkömmlich dem positiven Freiheitsbegriff zugehörigen Ideen verknüpfe. Unter einem freien Gemeinwesen verstehe Machiavelli ein republikanisches Regierungssystem, das zum einen im Inneren durch institutionelle Mechanismen wie Wahlen und Selbstregierung sowie tugendhaftes, gemeinwohlorientiertes Handeln der Bürger die Herrschaft der Mächtigen (grandi) über den Rest des Volkes verhindere und zum anderen nach außen durch den Dienst der Bürger in der Armee die Beherrschung des eigenen republikanischen Staates durch andere Staaten unterbinde. Skinner erklärt, dass es für die republikanischen Autoren wie Cicero, Machiavelli oder Harrington wesentlich sei, „daß die individuellen Mitglieder einer politischen Gemeinschaft ihrer persönlichen Freiheit verlustig gehen (in dem gewöhnlichen Sinne, daß sie die Freiheit verlieren, ihre eigenen Ziele zu verfolgen), wenn das Gemeinwesen nicht in einem ‚Zustand der Freiheit‘ erhalten werden kann (in dem gewöhnlichen Sinne der Freiheit von Einschränkungen, entsprechend dem eigen Willen zu handeln). Zur Begründung führt Machiavelli an, daß die Bürger nur mehr als Mittel zu den Zwecken ihrer Herren behandelt und folglich ihre Freiheit zur Verfolgung ihrer eigenen Zwecke verlieren werden, sobald der politische Körper seine Fähigkeit einbüßt, in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Willen zu handeln, und dem willen entweder der eigenen grandi oder einer ehrgeizigen benachbarten Gemeinschaft unterworfen wird. Die Versklavung einer Gemeinschaft führt deshalb unweigerlich zum Verlust der individuellen Freiheit.“8 Das ist die machiavellistische Freiheitstheorie, die Skinner seinem als drittem Freiheitsbegriff bezeichneten Konzept der republikanischen Freiheit zugrunde legt, welches negative Freiheit und Tugend, politische Partizipation sowie ein spezifisches Institutionensystem miteinander verbindet. Wie ich zuvor gezeigt habe, beruft sich Philip Pettit wiederum auf diese ideengeschichtlichen Analysen Skinners für seinen Begriff der republikanischen Freiheit, den er als „Nicht-Beherrschung“ charakterisiert. Und wie Skinner sieht auch Pettit den republikanischen Freiheitsbegriff durch eine negative Dimension gekennzeichnet, die Abwesenheit von willkürlicher Einmischung bzw. Beherrschung, welche wiederum durch bestimmte institutionelle Mechanismen, Formen der de6 7 8

Quentin Skinner, Die Idee der negativen Freiheit. Machiavelli und die moderne Diskussion, in: ders., Visionen des Politischen, Frankfurt/M 2009, 135–172, 140. Ebd., 150. Ebd., S. 161.

1. Republikanische Freiheit

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mokratischen Partizipation und Kontestation sowie der Macht- und Gewaltenteilung, garantiert werde. Für uns stellt sich hier abschließend die Frage, ob der republikanische Freiheitsbegriff in der von Skinner und Pettit charakterisierten Weise zutreffend beschrieben ist. Dabei scheint mir insbesondere auch die Frage im Mittelpunkt zu stehen, ob die Betonung der negativen Dimension des republikanischen Freiheitsbegriffs diesen wirklich korrekt erfasst. Wenn wir nochmals unsere republikanische Ideengeschichte rekapitulieren, dann können wir zunächst zugestehen, dass Skinner und Pettit recht damit haben, gegen Berlins strikte Trennung von negativer und positiver Freiheit in der republikanischen Tradition den Zusammenhang zwischen Freiheit und politischen Institutionen hervorzuheben. So betonte z. B. Cicero – wie wir gesehen haben –, dass mit dem Übergang von der Monarchie zur römischen Republik, d. h. zur republikanischen Mischverfassung von Konsuln, Senat und Volksversammlung, dem Volk die Freiheit (libertas) gegeben worden sei, also Freiheit von dieser Verfassung abhänge.9 Und Machiavelli hatte erklärt, dass die Freiheit in der Republik einzig den institutionell eingebundenen Machtkämpfen zwischen dem Volk und den Großen zu verdanken sei.10 Bei James Harrington hatten wir in der Auseinandersetzung mit Hobbes gesehen, wie Harrington gegen diesen betont, dass nur der Bürger einer Republik frei sei, da er sich seine Gesetze selbst gebe, während der Untertan eines Monarchen bzw. eines Sultans vollkommen willkürlich gegebenen Gesetzen unterworfen sei.11 In ähnlicher Weise hatte auch Rousseau erklärt, dass nur derjenige Mensch seine natürlich Freiheit behalte, der als Untertan Gesetzen unterworfen sei, die er sich als Bürger selbst gegeben habe.12 James Madison wiederum hatte mit seinen „zusätzlichen Vorkehrungen“ eines komplexen Institutionengefüges der checks and balances versucht, die freiheitsgefährdenden Momente der Tyrannei der Mehrheit der „reinen Demokratie“ zu beheben.13 Und auch die deutschen Republikaner Kant, Forster und Schlegel vertreten die Ansicht, dass Freiheit nur da möglich sei, wo ein Gesetz „der Aktus eines öffentlichen Willens, von dem alles Recht ausgeht“ ist, „und der also selbst niemand muß unrecht tun können. Hierzu aber ist kein anderer Wille als der des gesamten Volkes (da alle über alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt) möglich.“14 9 10 11 12 13 14

Vgl. etwa Cicero, De legibus/Über das Gesetz, in: Cicero. Staatstheoretische Schriften, herausgegeben von Konrat Ziegler, Berlin 1988, III/24 313. Vgl. Niccolo Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt von Rudolf Zorn, Stuttgart, 1977, I/4 19. Vgl. James Harrington, Oceana, herausgegeben von Hermann Klenner und Klaus Udo Szudra, Stuttgart 1991, 31. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart 1977, 1/6 17 Hamilton/Madison/Jay, Die Federalist-Artikel, herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, Art. 51, 314. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Werke, Bd. XI, Frankfurt/M. 1977, 150.

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III. Republikanische Theorie

Es besteht daher in der republikanischen Tradition in der Tat ein enger Zusammenhang zwischen Freiheit und politischen Institutionen bzw. republikanischem Gemeinwesen. Es scheint allerdings fraglich zu sein, ob der sich hieraus ergebende Freiheitsbegriff ein negativer Freiheitsbegriff ist, der allein auf eine Art „instrumentelle“ Weise mit bestimmten politischen Institutionen verbunden wird, da diese zum Schutz der negativen Freiheit dienlich seien, wie Skinner und Pettit behaupten. Aus der in diesem Buch entwickelten Perspektive auf die republikanische Ideengeschichte zeigt sich in der republikanischen Tradition vielmehr eine zugleich kausale wie normative Verknüpfung negativer und positiver Dimensionen der Freiheit, von Freiheit von und Freiheit zu. Denn zu einen wird von allen Autoren ein empirischer Zusammenhang zwischen der Bewahrung der Freiheit der Bürger und bestimmten institutionellen Mechanismen behauptet und zum anderen wird diese Form der institutionellen Ausgestaltung des Gemeinwesens als normativ richtig angesehen. In Anknüpfung an MacCallums Formel könnte man deshalb auch von einer Inversion dieser Formel in der republikanische Tradition sprechen: Für den Republikaner geht es bei der Freiheit immer um einen Bürger eines republikanischen Gemeinwesens, der kraft seines Bürgerstatus frei ist zur politischen Partizipation oder Kontestation, der frei ist, den anderen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, und dadurch frei ist von Beherrschung, Abhängigkeit oder willkürlicher Einmischung. Der republikanische Freiheitsbegriff lässt sich daher auf die Formel bringen: „X ist frei Z zu tun und dadurch frei von Y“. Auf diese Weise werden im republikanischen Freiheitsbegriff positive und negative Dimensionen der Freiheit verknüpft, wobei unter Z nicht nur demokratische Partizipations-, sondern auch Kontestationsmöglichkeiten zu verstehen sind und unter Y nicht nur institutionelle Strukturen, sondern auch gesellschaftliche Macht- bzw. Kräfteverhältnisse, wie Pettit zu recht in seiner Unterscheidung der horizontalen und vertikalen Dimension des republikanischen Freiheitsbegriffs hervorhebt. Auch wenn sich daher die jeweilige Konzeption der Verfassung der Republik von Autor zu Autor und von der Antike zur Moderne hin verändert – vom antiken römischen Stadtstaat mit seiner Mischverfassung hin zum modernen föderalen demokratischen Staat der ganze Kontinente umfassen kann –, so bleibt doch in dieser Veränderung jener spezifische republikanische Freiheitsbegriff erkennbar. Dieser so verstandene republikanische Freiheitsbegriff hat aber nicht nur Folgen für die Politik auf Ebene der Einzelstaaten, sondern auch für eine republikanische Theorie der internationalen Beziehungen, der wir uns nun in einem letzten Schritt zuwenden wollen.

2. REPUBLIKANISCHE POLITIK: VON DER POLIS ZUR KOSMOPOLIS? Wie wir im ersten Teil dieses Buches gesehen haben, behaupten Skinner und Pettit, dass die neorömische republikanische Tradition mit ihrem Grundaxiom der republikanischen Freiheit als Unabhängigkeit bzw. als Nicht-Beherrschung nicht nur auf die innere Verfassung des republikanische Gemeinwesens abzielt, sondern auch auf die Verfassung der internationalen politischen Welt.1 Nach Pettit sollten nicht nur einzelne Bürger innerhalb eines republikanischen Gemeinwesens den Status der Freiheit im Sinne von Nicht-Beherrschung zugesichert bekommen, sondern auch republikanische Gemeinwesen im internationalen Verkehr miteinander. Da effiziente republikanische Staaten ihre Bürger in korrekter Weise repräsentierten, würde eine Beherrschung dieser Staaten durch andere Staaten zu einer Beherrschung der einzelnen Bürger des beherrschten Staates führen. Und Quentin Skinner hatte in seiner Rekonstruktion von Machiavellis Freiheitsbegriff als negativem Freiheitbegriff zu zeigen versucht, dass es den neorömischen Republikanern auch um die Erhaltung der Freiheit des Gemeinwesens nach außen gegangen sei, da die Bürger eines beherrschten Gemeinwesens ansonsten nur noch als Mittel für die Zwecke ihrer Beherrscher behandelt würden und damit ihre Freiheit im Sinne der unabhängigen Verfolgung ihrer eigenen Zwecke verlieren werden. „Die Versklavung einer Gemeinschaft führt deshalb unweigerlich zum Verlust der individuellen Freiheit“, so Skinner.2 Skinners und Pettits internationale republikanische politische Theorie hat demzufolge eine internationale Politik der Unabhängigkeit bzw. Nicht-Beherrschung zwischen Staaten zum normativen Ziel. Nun wirft diese Schlussfolgerung von Skinner und Pettit zur internationale politischen Theorie des neorömischen Republikanismus – wie bereits zuvor angedeutet – mehrere Fragen auf: Zum ersten scheint es nicht ganz klar zu sein, ob alle Vertreter der von Skinner und Pettit bemühten neorömischen republikanischen Tradition eine solche Theorie der internationalen Politik tatsächlich vertreten haben. So scheinen zentrale Figuren wie Machiavelli oder Harrington, wie wir oben gesehen haben, eher dem Modell einer imperialen internationalen Politik bzw. einem Modell realistischer Machtpolitik angehangen zu haben, wie sie es im alten Rom vorbildlich verwirklicht sahen. Zum zweiten bleibt Skinners und Pettits Charakterisierung der internationalen politischen Welt, die ihrer Theorie zugrunde liegt, eher vage. Zwar erklärt Pettit, dass er von der gegenwärtigen internationalen politischen Welt der Nationalstaaten ausgeht und dass in seinen Augen hier längerfristig keine 1 2

Vgl. Philip Pettit, A Republican Law of Peoples, in: European Journal of Political Theory 9 (2010), 70–94 und Quentin Skinner, On the Slogans of Republican Political Theory, in: European Journal of Political Theory 9 (2010), 95–102. Quentin Skinner, Die Idee der negativen Freiheit. Machiavelli und die moderne Diskussion, 161.

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Änderung zu erwarten sei. Es ist aber alles andere als klar, ob die heutige internationale politische Welt zutreffend als eine Welt von Nationalstaaten zu beschreiben ist. Sie spielen zweifellos weiterhin eine wichtige Rolle, aber sie sind keineswegs mehr die einzigen Akteure der internationalen Politik. Mittlerweile haben zahlreiche internationale Institutionen wie z. B. die UNO oder die WTO sowie Nichtregierungsorganisationen und multinationale Konzerne ebenfalls wichtige Positionen im internationalen System eingenommen. Und transnationale Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof oder die EU nehmen heute ganz selbstverständlich herkömmlich staatliche Funktionen wahr bzw. haben im Falle der EU möglicherweise schon einen quasi-bundesstaatlichen Charakter.3 Diese Merkmale der gegenwärtigen internationalen politischen Welt hat manche Autoren bereits von einem „Regieren jenseits des Nationalstaats“ sprechen lassen oder vom „Regieren in Mehrebenensytemen“.4 Pettit erwähnt diese Veränderungen der internationalen Politik zwar am Rande, hält allerdings eine republikanische Staatenföderation nach dem Vorbild der USA oder EU oder gar eine föderale Weltrepublik nicht für den gangbaren Weg, um republikanische Freiheit im Sinne internationaler Nicht-Beherrschung zu garantieren. Vielmehr ist seines Erachtens eine freiwillige Assoziation von Staaten anzustreben, die über die Institutionalisierung diskursiver Foren eine gleiche Beteiligung und Berücksichtigung aller Staaten bei der Regelung internationaler politischer Probleme gewährleiste.5 Ob eine solche freiwillige Assoziation in ihren Foren allerdings den Machtasymmetrien der internationalen Staatenwelt entgegensteuern kann, scheint angesichts ihres lockeren und nur schwach institutionalisierten Charakters zweifelhaft. Hier würde man von einer republikanischen Theorie doch im Lichte der Tradition eine viel engere Verknüpfung von Freiheit im Sinne internationaler Nicht-Beherrschung und ganz konkreten sowie robusten internationalen institutionellen Mechanismen der Macht- und Gewaltenteilung, der Partizipation und Kontestation erwarten. Es ist also fraglich, ob Pettits und Skinners republikanischer Theorie internationaler Politik eine überzeugende Beschreibung der heutigen internationalen politischen Welt zugrunde liegt und ob sie die richtigen theoretischen Konsequenzen zieht. Dies führt drittens zu der Frage, wie sich der Republikanismus überhaupt in der gegenwärtigen Diskussionslandschaft zur Theorie internationaler Politik verorten lässt. Dieser letzten Frage möchte ich mich nun zuwenden. Dabei ist zunächst zu beachten, dass die Diskussionslandschaft zur Theorie internationaler Politik in zwei disziplinäre Diskurse zerfällt, die häufig ganz unabhängig voneinander und ohne wechselseitige Beachtung die Entwicklung einer ad3 4 5

Vgl. Armin von Bogdandy, Die europäische Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 9 (2005), 20–26 und ders., Ingo Venzke, In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, Berlin 2014. Vgl. Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, Frankfurt/M. 1998 und Fritz Scharpf, Regieren im europäischen Mehrebenensystem. Ansätze zu einer Theorie, in: Leviathan 30/1 (2002), 65–92. Vgl. Philip Pettit, Legitimate International Institutions: A Neorepublican Perspective, in: Samantha Besson, John Tasioulas (Hg.), The Philosophy of International Law, Oxford 2010, 139–162.

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äquaten Theorie internationaler Politik vorantreiben. Zum einen ist dies der Diskurs in der Subdisziplin der Politikwissenschaft namens Internationale Beziehungen, die in den letzten hundert Jahren ein eigenes Arsenal an theoretischen Modellen entwickelt hat, um ihren Gegenstand, die internationalen Beziehungen, zu erfassen; und zum anderen wird in der Politischen Theorie bzw. Politischen Philosophie seit jeher und verstärkt im Zuge der großen Globalisierungsdebatte seit dem Ende des OstWest-Konflikts über eine Theorie der internationalen Politik bzw. der globalen Gerechtigkeit debattiert. Wie verhält sich der Republikanismus als Theorie internationaler Politik zu diesen beiden Diskursen und deren jeweiligem Theorieangebot? Die Diskussion in den Internationalen Beziehungen ist grundsätzlich geprägt von der Auseinandersetzung zwischen Realismus und Idealismus bzw. Liberalismus. Der Realismus geht davon aus, dass die internationale politische Welt eine anarchisch strukturierte Welt ist, ein Naturzustand, in dem Staaten um ihr Überleben kämpfen, ihre Interessen im Sinne der Machtmehrung verfolgen und dabei eine Politik der Machtbalancierung (balance of power) anwenden. Der Liberalismus geht dagegen von der internationalen politischen Welt als einer interdependenten internationalen Gesellschaft aus, die durchaus bestimmte Normen und Regeln anerkennt und kooperative Strukturen bis hin zu internationale Institutionen aufweist. Während für den Realismus der Staat selbst eine Black Box ist und Staaten ganz unabhängig von ihrer internen Verfassung ihre Machtinteressen in immer gleicher Weise verfolgen, öffnet der Liberalismus die Black Box des Staates und weist auf Unterschiede im außenpolitischen Verhalten von Staaten hin, die von deren interner Verfassung abhängen. Beide Theorien werden dabei jeweils auf zentrale Denker als Stichwortgeber zurückgeführt. So beruft sich der Realismus auf Thukydides, Machiavelli und Hobbes als seine theoretischen Ahnherren. Der Liberalismus reklamiert dagegen Grotius, Locke oder Kant als seine theoretischen Vorläufer.6 Festzuhalten ist zunächst für unseren Zusammenhang, dass offenbar in der Diskussion in den Internationalen Beziehungen mit Machiavelli und Kant Denker einander in theoretischen Lagern gegenübergestellt werden, die wir zu einer einzigen republikanischen Tradition gezählt haben. Auf diesen verblüffenden Sachverhalt werde ich gleich zurückkommen. Zuvor möchte ich aber noch kurz den zweiten Diskurs in der Politischen Theorie bzw. Philosophie über internationale Politik und globale Gerechtigkeit charakterisieren. Auch hier lassen sich zwei grundlegende theoretische Lager ausmachen, die einander gegenüberstehen: der Kosmopolitismus und der Partikularismus. Der Kosmopolitismus geht dabei von den Annahmen aus, dass es universell gültige Rechte von Menschen gibt, dass politische Herrschaftsverhältnisse gegenüber allen von ihnen Betroffenen gerechtfertigt werden müssen und dass es zur Herstellung gerechter globaler Verhältnisse globale politische Institutionen bedarf. Der Partikularismus geht dagegen davon aus, dass es globale Unterschiede im Hinblick auf Rechte und Pflichten gibt und die eigenen Mitbürger Vorrang gegenüber den Bürgern anderer Staaten genießen. Fragen der Gerechtigkeit können dem Partikularis6

Vgl. etwa David Boucher, Political Theories of International Relations, Oxford 1998, 13–28 und Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus. Die Lehre von den Internationalen Beziehungen, Frankfurt/M. 2001.

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mus zufolge nur innerhalb bestimmter politischer Vergemeinschaftungsformen wie z. B. Staaten mit einem bestimmten Kooperations- und Verregelungsniveau gestellt werden. Auf globaler Ebene sei dagegen eine entsprechende Form der politischen Vergemeinschaftung bisher nicht zu erkennen und die Frage nach globaler Gerechtigkeit bzw. nach globalen politischen Institutionen daher obsolet.7 Auffällig ist auch hier wiederum, dass mit den beiden theoretischen Lagern Positionen getrennt sind, die wir im Republikanismus als in einer Tradition vereint vorgefunden haben. Machiavelli oder Rousseau scheinen eher einem Partikularismus zuzuneigen, während Madison und Kant eher dem Kosmopolitismus zuzurechnen sind. Wie lässt sich diese erneute Diskrepanz zwischen der republikanischen Tradition und der aktuellen Diskussion über eine Theorie internationaler Politik erklären? Wie lässt sich der Republikanismus in der aktuellen Theorielandschaft verorten? Für eine Antwort auf diese Fragen können wir das wegweisende Buch Bounding Power des amerikanischen Politikwissenschaftlers Daniel Deudney heranziehen.8 Deudney hat mit diesem Buch den ersten umfassenden Versuch einer republikanischen Theorie internationaler Politik vorgelegt und diesen zugleich auf interessante Weise in ein Verhältnis zur aktuellen Diskussionslandschaft gesetzt.9 Er weist darauf hin, dass Realismus und Liberalismus als Theorien der internationalen Beziehungen erst im 19. Jahrhundert entstehen, dabei den Republikanismus verdrängen und sich zugleich von diesem theoretische Annahmen aneignen, aber eben jeweils nur einen Teil seiner theoretischen Annahmen. So komme es, dass in beiden Theorietraditionen republikanische Autoren als Ahnherren auftauchten können, ohne dass den Vertretern dieser Theorien noch bewusst sei, welcher älteren, umfassenderen Theorietradition sie zentrale Prämissen ihrer eigenen Theorie verdanken. Der Republikanismus teile mit dem Realismus etwa die Ansicht, dass die internationale Staatenwelt eine zunächst anarchisch strukturierte Welt sei, in der es um Machtmehrung und Machtbalancierung gehe. Zugleich weise er aber, wie nach ihm der Liberalismus, darauf hin, dass sich hier über die Zeit kooperative Strukturen und internationale Institutionen herausbilden können und auch in einem normativen Sinne entwickelt werden sollten, um Freiheit als Sicherheit vor Gewalt und Beherrschung zu garantieren. Für Deudney geht der Republikanismus dabei von der Antike bis in das Jahrhundert der Aufklärung einen Weg, der von partikularen politischen Gemeinschaften wie Stadtstaaten zu immer größeren, kosmopolitischen politischen Vergemeinschaftungsformen wie der föderalen, kontinentalen amerikanischen Republik führe, die nicht einfach ein weiterer Staat neben anderen sei, sondern die Antwort der republikanischen Theorie internationaler Politik auf das Prob7 8 9

Vgl. Christoph Broszies, Henning Hahn, Die Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte im Kontext, in: dies. (Hg.), Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Frankfurt/M. 2010, 9–54. Vgl. Daniel H. Deudney, Bounding Power. Republican Security Theory From the Polis to the Global Village, Princeton 2007. Vgl. ergänzend zudem die Arbeiten von James Bohman, Democracy Across Borders. From Demos to Demoi, Cambridge 2007, Lawrence Quill, Liberty after Liberalism. Civic Republicanism in a Global Age, New York 2006 und Andreas Niederberger, Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft. Normative Grundlagen legitimer Herrschaft in einer globalen politischen Ordnung, Berlin, New York 2009.

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lem des zwischenstaatlichen Naturzustandes. Das ist der Ausgangspunkt der republikanischen Theorie internationaler Politik als Theorie der Sicherheit vor Gewalt und Beherrschung, die Deudney herausarbeitet und die Realismus und Liberalismus sowie Partikularismus und Kosmopolitismus in sich vereint. Die von Deudney als „republican security theory“ aus der republikanischen Ideengeschichte rekonstruierte Theorie internationaler Politik setzt bei der Frage an, welche politischen Arrangements notwendig sind für Freiheit im Sinne von Sicherheit vor Gewalt und Beherrschung. Ihre zentrale These ist, dass Unsicherheit in den genannten Hinsichten aus dem Mangel an Beschränkung von gewaltsamer Macht herrühre, während Sicherheit auf der Beschränkung gewaltsamer Macht beruhe. Diese Beschränkungen gewaltsamer Macht können nun der republikanischen Theorie zufolge entweder durch den materiellen Kontext gewährleistet werden, insofern Klima, geographische Lage, mangelnde Ressourcen und technologische Mittel die Wirksamkeit und Reichweite gewaltsamer Macht beschränken. Oder aber sozial konstruierte Beschränkungen können als politisch-strukturelle bzw. institutionelle Sicherungen gegen gewaltsame Macht eingeführt werden. Wo materielle oder politisch-strukturelle Beschränkungen vorliegen, herrscht Sicherheit, wo diese fehlen, herrscht Unsicherheit. Für Deudney zeigt sich in der Geschichte der internationalen Politik, dass insbesondere mit der rasanten Entwicklung technologischer Mittel – vom Speer zur Atombombe – die materielle Beschränkung gewaltsamer Macht immer schwächer wurde. Im gleichen Zuge musste die Entwicklung politisch-struktureller Beschränkungen sich anpassen an diese technologische Entwicklung und immer neue, weiträumigere politische Arrangements ersinnen, die Sicherheit vor Gewalt und Beherrschung gewährleisten können. Ein vorbildliches weiträumiges, föderales republikanisches Arrangement ist für Deudney die Verfassung der amerikanischen Republik, wie sie in den Federalist Papers grundgelegt wurde. Abstrakter formuliert macht also der republikanischen Theorie zufolge die Zunahme technologischer Mittel bzw. die Variation des materiellen Kontexts die Variation der politisch-strukturellen Arrangements notwendig. Laut Deudney hat die „republican security theory“ dabei zwei Problematiken in ihrem Zentrum: erstens die Anarchie-Interdependenz-Problematik und zweitens die Hierarchie-Beschränkungs-Problematik. Der Anarchie-Interdependenz-Problematik geht es dabei um die Frage, wie viel Anarchie in der internationalen Politik mit der Sicherheit vor Gewalt verträglich ist, gegeben ein bestimmtes Niveau von Interdependenz zwischen den politischen Akteuren im Hinblick auf die Wirksamkeit und Reichweite gewaltsamer Machtmittel. Hat man es mit einem niedrigen Niveau an Interdependenz zu tun – wenn der materielle Kontext von Klima, geographischer Lage, Ressourcen und technologischen Mitteln keinem Akteur große Reichweite an gewaltsamen Machtmitteln zur Verfügung stellt –, dann ist ein hohes Maß an Anarchie mit einem hohen Maß an Sicherheit für alle Akteure vereinbar. Steigt dagegen das Niveau der internationalen Interdependenz durch die Zunahme der Reichweite und Wirksamkeit gewaltsamer Machtmittel, ist ein hohes Maß an Anarchie im internationalen System inkompatibel mit der Sicherheit vor Gewalt aller politischen Akteure. Neue weiträumigere politische Arrangements werden notwendig.

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Damit kommt die zweite Problematik ins Spiel, die Hierarchie-BeschränkungsProblematik. Denn mit der Notwendigkeit neuer politischer Arrangements kommt das Problem auf, dass diese als Reaktion auf die Anarchie eine allzu große Hierarchiesierung und Machtbündelung aufweisen können wie etwa im Falle von Imperien oder Hegemonien. Für die republikanische Theorie internationaler Politik sind daher bei hoher Interdependenz sowohl Anarchie als auch Hierarchie zu vermeiden. Das richtige politische Arrangement sollte immer ein republikanisches Arrangement sein, das zwischen Anarchie und Hierarchie situiert ist und so allen Akteuren Sicherheit vor Gewalt und Beherrschung gewährleistet. 1. Problematik

2. Problematik Variationen im Typus und Sicherheitsvermögen einer republikanischen Regierung

Variationen im materiellen Kontext

Variationen in der Reichweite des politischen Arrangements Variationen im Umfang tolerierbarer Anarchie

Variationen im Typus und Sicherheitsvermögen einer hierarchischen Regierung

Hauptprobleme der Republikanischen Theorie internationaler Politik10 Hauptprobleme der Republikanischen Theorie internationaler Politik10 Durch institutionelle Formen der Macht- und Gewaltenteilung, durch demokratiDurch institutionelle Formen derdurch Machtund Gewaltenteilung, demokratische sche Partizipation und Kontestation, ein System der Checks and durch Balances versucht die republikanische politische Theorie analog der zur Ebene Einzelstaaten Partizipation und Kontestation, durch ein System Checksderand Balances versucht die auch auf der Ebene der internationalen Politik, Probleme der Variation des materirepublikanische politische Theorie analog zur Ebene der Einzelstaaten auch auf der Ebene der ellen Kontextes durch die Variation in der Reichweite der republikanischen politiinternationalen Politik, Probleme derder Variation des kontinentalen materiellen Kontextes durch die Variation schen Arrangements zu lösen; und mit föderalen, amerikanischen Republik Madisons liegt hier für Deudney ein erstes funktionsfähiges republikaniin der Reichweite der republikanischen politischen Arrangements zu lösen; und mit der sches politisches Modell für eine Lösung auch im globalen Maßstab vor. Wie für föderalen, kontinentalen amerikanischen Republik liegt hier für Deudney Kant haben für Deudney Republiken zudem sogar Madisons eine besondere Neigung und ein erstes Fähigkeit zu solchen republikanischen, föderalen globalen Institutionen: „All polifunktionsfähiges republikanisches politisches Modell für eine Lösung auch im globalen ties, regardless of their internal patterns of authority, have the incentive and have Maßstab vor. Wie für Kant haben füralliances DeudneyinRepubliken zudem sogarouteine besondere shown the ability to form various ad hoc order to counterbalance side common but zu republics both particularly strong globalen incentives and Neigung undthreats, Fähigkeit solchenhave republikanischen, föderalen Institutionen: „All abilities to cobind in order to form temporary alliances and more lasting confederpolities, regardless of their internal patterns of authority, have the incentive and have shown 10

the ability to form various ad hoc alliances in order to counterbalance outside common Vgl. Deudney, Bounding Power, 29.

threats, but republics have both particularly strong incentives and abilities to cobind in order to form temporary alliances and more lasting confederations and federal unions. Republics have a greater incentive to form interstate unions because such unions make less necessary the centralization of authority, and thus less likely the deformation of domestic republican forms.

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ations and federal unions. Republics have a greater incentive to form interstate unions because such unions make less necessary the centralization of authority, and thus less likely the deformation of domestic republican forms. At the same time, republics have a particularly strong ability to create such unions, because the structure of the union extends their fundamental constitutional arrangements on a more extensive spacial scale.“11 Damit ist von Deudney über Pettit und Skinner hinaus eine sowohl realistische – im Hinblick auf die Macht- und Gewaltproblematik – als auch normativ anspruchsvolle und zugleich institutionell konkrete – eine globale, föderale Republik – republikanische Theorie der internationale Politik vorgelegt, an der die weitere Forschungsdiskussion sich sicher messen lassen muss.

11

Ebd., 58.

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Rebmann, Georg Friedrich 1793/1968: Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands, Frankfurt/M. Reinalter, Helmut, 2005 (Hg.), Republikbegriff und Republiken seit dem 18. Jahrhundert im europäischen Vergleich, Frankfurt/M. Richter, Emanuel 2004: Republikanische Politik. Demokratische Öffentlichkeit und politische Moralität, Hamburg. Riklin, Alois 2006: Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt. Robbins, Caroline 1959: The Eighteenth-Century Commonwealthmen, Harvard. Rogers, Daniel T. 1992: Republicanism. The Career of a Concept. In: Journal of American History 1, 11–38. Rousseau, Jean-Jacques 1977: Gesellschaftsvertrag. Übersetzt von Hans Brockard, Stuttgart. Saar, Martin 2013: Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Berlin. Sandel, Michael 1984: The Procedural Republic and the Unencumbered Self. In: Political Theory 1, 81–96. Sandel, Michael 1995: Liberalismus oder Republikanismus. Von der Notwendigkeit der Bürgertugend, Wien. Schink, Philipp 2011: Republikanismus. In: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.), Politische Theorie und Politische Philosophie. Ein Handbuch, München, 109–112. Schlegel, Friedrich 1796/1966: Versuch über den Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 7, herausgegeben von Ernst Behler, München. Schorn-Schütte, Luise 2006: Historische Politikforschung. Eine Einführung, München. Schorn-Schütte, Luise 2007: Staatsformen in der Frühen Neuzeit. In: Alexander Gallus, Eckhard Jesse (Hg.), Staatsformen von der Antike bis zur Gegenwart, Köln, Weimar, Wien, 123–153. Skinner, Quentin 1969: Meaning and Understanding in the History of Ideas. In: History and Theory 8, 3–53. Skinner, Quentin 1978: The Foundations of Modern Political Thought, 2 Bde., Cambridge. Skinner, Quentin 1990: Machiavelli, Hamburg. Skinner, Quentin 1998: Liberty before Liberalism, Cambridge. Skinner, Quentin 2002: A Third Concept of Liberty. In: Proceedings of the British Academy 117, 237–268 Skinner, Quentin 2008: Hobbes and Republican Liberty, Cambridge. Skinner, Quentin 2010: On the Slogans of Republican Political Theory. In: European Journal of Political Theory 9, 95–102. Spitz, Jean-Fabien 1995: La Liberté politique, Paris. Sunstein, Cass 1988, Beyond the Republican Revival. In: Yale Law Journal 97, 1539–1590. Taylor, Charles 1988: Der Irrtum der negativen Freiheit. In: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M., 118–144. Thompson, Michael J. 2013: Reconstructing Republican Freedom: A Critique of the Neorepublican Concept of Freedom as Non-Domination. In: Philosophy and Social Criticism 39, 277–298. Urbinati, Nadia 2010: Unpolitical Democracy. In: Political Theory 38, 65–92. Venturi, Franco 1971: Utopia and Reform in the Enlightenment, Cambridge. Viroli, Maurizio 2002: Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Machiavelli bis heute, Zürich. White, Stephen K./Moon, J. Donald 2004 (Hg.): What is Political Theory?, London. White, Stuart 2007: Is Republicanism the Left’s ‘Big Idea’? In: Renewal. A Journal for Social Democracy 15, 1, 1–12. Wood, Gordon S. 1969: The Creation of the American Republic 1776–1787, North Carolina.

Tetsu Sakurai / Makoto Usami (ed.)

Human Rights and Global Justice The 10th Kobe Lectures, July 2011 Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie – Beiheft 139

Tetsu Sakurai / Makoto Usami (ed.) Human Rights and Global Justice 2014. 167 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-10489-0

Global justice has been one of the hottest issues among legal and political philosophers in the past several decades. David Miller, Professor of Political Theory at Oxford University, is without doubt one of the theorists who have been taking the lead in the debate on global justice. In the summer of 2011 he was invited to give the tenth Kobe Lecture, which was first established in 1988 in order to commemorate the Thirteenth IVR World Congress that had taken place in Kobe. As well as delivering his Kobe Lecture „Are Human Rights Conditional?“ in Kyoto on 9 July 2011, Professor Miller conducted seminars in Tokyo, Nagoya, Osaka and Fukuoka. His Kobe Lecture, eleven comments on the lecture and his celebrated book National Responsibility and Global Justice, and his response to them are included in this volume. The title of the volume, Human Rights and Global Justice, represents our shared belief that guaranteeing basic human rights is an essential element of global justice. It is quite interesting to examine how the subject of his lecture, human rights, has come out of his intense study on global justice. What brought Miller to the examination of the conditionality and reciprocity of human rights in this lecture soon after criticising cosmopolitanism in his theory of global justice? What kind of reactions does his multifaceted theory of global justice and human rights cause in Japan? This volume gives the key to address these intriguing questions.

Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de

Pedro Villas Bôas Castelo Branco

Die unvollendete Säkularisierung Politik und Recht im Denken Carl Schmitts Übersetzt von Markus Hediger Staatsdiskurse – Band 25

Die Säkularisierung wird häufig als eine bloße Trennung von geistlicher und weltlicher Macht, von Kirche und Staat, von Altar und Thron verstanden. Viele Autoren, unter ihnen auch Jürgen Habermas, betrachten die Politik und das Recht der westlichen Staaten als vollendenten Säkularisierungsprozess. Der Prozess der Säkularisierung umfasst jedoch ein sehr viel breiteres semantisches Spektrum, dessen Inhalt sich über eine Vielzahl von Auffassungen erstreckt, welche den Begriff in verschiedenen historischen Kontexten charakterisiert haben. Der Autor macht auf ein gravierendes Problem aufmerksam, nämlich auf die Spannung zwischen sichtbaren und Pedro Villas Bôas Castelo Branco Die unvollendete Säkularisierung 2013. 267 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-10342-8

unsichtbaren Mächten und auf die Notwendigkeit, die existentiellen Antagonismen zwischen den Menschen aufzudecken. Die Verschleierung der Souveränität, der politischen Handlungen und Entscheidungen durch das Recht, die Wirtschaft und die Moral erhöht die Unvorhersehbarkeit und damit die Zahl der Missgeschicke im politischen Leben. Carl Schmitt hat sein Leben lang gegen die unsichtbaren oder indirekten Mächte gekämpft, um die Instabilität, welcher die politischen Institutionen unterworfen sind, zu verringern.

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Rüdiger Voigt / Ulrich Weiss (Hg.)

Handbuch Staatsdenker Unter Mitarbeit von Krisztina Adorján Ausgangspunkt des Handbuchs ist ein staatwissenschaftlicher Ansatz, der das Staatsdenken mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Mitteln analysiert. Anhand der wichtigsten Staatsphilosophen und -theoretiker sowie ausgewählter Staatspraktiker führen die Artikel in alle Facetten des Staatsdenkens ein. Dabei kommen philosophische, theologische, juristische, historische, politische und soziologische Gesichtspunkte zur Sprache. Eine epochenspezifische Systematik ist nicht vorgegeben, vielmehr werden die Staatsdenker in alphabetischer Reihenfolge behandelt, um Vergleiche über alle Epochen, Kulturkreise und Ausrichtungen hinweg zu erleichtern. Dazu folgen alle Einzelbeiträge einem durchgängigen Gliederungsprinzip. Rüdiger Voigt / Ulrich Weiss (Hg.) Handbuch Staatsdenker 462 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-09934-9

Der Band wendet sich an Studierende, Wissenschaftler und Journalisten sowie an ein allgemein interessiertes Publikum. Das Handbuch, das nun auch als broschierte Studienausgabe vorliegt, dient in erster Linie als Nachschlagewerk, bietet sich aber auch als staatswissenschaftliches Lehrbuch an und gibt einen Überblick über die Teilbereiche der Disziplin, der sich zu einem umfassenden Gesamtbild zusammenfügt.

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Der Republikanismus hat in den letzten Jahren insbesondere durch die Arbeiten von Philip Pettit und Quentin Skinner eine Wiederbelebung in der politischen Philosophie erfahren. Neben Libertarianismus, Liberalismus, Kommunitarismus oder postmodernen politischen Theorien hat sich der Republikanismus als vielversprechende Alternative etabliert. Der Band bietet eine Einführung in die Forschungsgeschichte des „republican revival“ und in aktuelle Forschungsdiskussionen. Er stellt zentrale Autoren

der republikanischen Ideengeschichte wie Cicero, Machiavelli, James Harrington, Jean-Jacques Rousseau und James Madison vor sowie die bisher in der internationalen Forschung eher übergangene deutsche republikanische Tradition um Immanuel Kant, Georg Forster und Friedrich Schlegel. Schließlich werden zentrale Begriffe wie der der republikanischen Freiheit oder Fragen einer republikanischen Theorie der internatio­ nalen Politik im Zeitalter der Globalisierung diskutiert.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10719-8