Buchstäblichkeit: Theorie, Geschichte, Übersetzung 9783839450499

»Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.« Unter dieser Maxime verband eine jahrhundertealte Tradition die Privile

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German Pages 216 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Die Buchstäblichkeit der Buchstaben
Das Pharmakon der Allegorese oder: Grundlagen einer literalen Hermeneutik
Hermeneutik der Buchstäblichkeit
Von der Verdrängung zum Genießen
Das postfaktische Drängen des Buchstaben in Zeiten rechtlich-sprachlicher Entgrenzung
Buchstabe, Wort und Geist
Brentanos Klingding
»Nach dem Gesetz der Treue in der Freiheit«
Buchstäblichkeit der Dinge in Balzacs La peau de chagrin
Realität und Symbolfähigkeit
Kafkas buchstäbliche Rhetorik Signifikantenlogik und Wörtlichkeit
Autorinnen und Autoren
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Buchstäblichkeit: Theorie, Geschichte, Übersetzung
 9783839450499

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Achim Geisenhanslüke (Hg.) Buchstäblichkeit

Literalität und Liminalität  | Band 27

Editorial Die literaturtheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben zu einer Öffnung der Philologien insbesondere für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen beigetragen. Die daraus resultierende Erweiterung des Literaturbegriffs bedingt zugleich, dass die unscharfen Ränder der kulturellen Grenzen in den Blick rückten, wo Fremdes und Eigenes im Raum der Sprache und Schrift ineinander übergehen. Die Reihe Literalität und Liminalität trägt dem Rechnung, indem sie die theoretischen und historischen Transformationen von Sprache und Literatur ins Zentrum ihres Interesses rückt. Mit dem Begriff der Literalität richtet sich das Interesse auf Schriftlichkeit als Grundlage der Literatur, auf die Funktion der Literaturtheorie in den Kulturwissenschaften sowie auf das Verhältnis literarischer Texte zu kulturellen Kontexten. Mit dem Begriff der Liminalität zielt die Reihe in theoretischer und historischer Hinsicht auf Literatur als Zeichen einer Kultur des Zwischen, auf die Eröffnung eines Raums zwischen den Grenzen. Die Reihe wird herausgegeben von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein.

Achim Geisenhanslüke (Prof. Dr. phil.), geb. 1965, lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Literaturtheorie und der europäischen Literatur vom 17.-21. Jahrhundert.

Achim Geisenhanslüke (Hg.)

Buchstäblichkeit Theorie, Geschichte, Übersetzung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5049-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5049-9 https://doi.org/10.14361/9783839450499 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung Achim Geisenhanslüke ............................................................................................. 7

Die Buchstäblichkeit der Buchstaben Heinz Sieburg ........................................................................................................ 11

Das Pharmakon der Allegorese oder: Grundlagen einer literalen Hermeneutik Thomas Emmrich...................................................................................................29

Hermeneutik der Buchstäblichkeit Friedrich Schleiermacher und der Geist der Auslegung Achim Geisenhanslüke ........................................................................................... 53

Von der Verdrängung zum Genießen Zu Lacans Umschriften des Verhältnisses zwischen tötendem Buchstaben und lebendigem Geist Judith Kasper ....................................................................................................... 71

Das postfaktische Drängen des Buchstaben in Zeiten rechtlich-sprachlicher Entgrenzung Katrin Becker....................................................................................................... 89

Buchstabe, Wort und Geist Dialektik in Hölderlins Patmos Thomas Schröder ................................................................................................ 103

Brentanos Klingding Eine Kulturpolitik der Buchstäblichkeit in der Romantik Till Dembeck........................................................................................................ 117

»Nach dem Gesetz der Treue in der Freiheit« Über Wörtlichkeit und Buchstäblichkeit in Georges und Benjamins Übersetzungen von Baudelaires »A une passante« Eva-Maria Konrad ................................................................................................ 135

Buchstäblichkeit der Dinge in Balzacs La peau de chagrin Oliver Völker ........................................................................................................ 161

Realität und Symbolfähigkeit Hanna Segals Geigenspieler und Anton Čechovs »Der schwarze Mönch« Maren Scheurer .................................................................................................... 179

Kafkas buchstäbliche Rhetorik Signifikantenlogik und Wörtlichkeit Claudia Liebrand ..................................................................................................199

Autorinnen und Autoren ................................................................................213

Einleitung Achim Geisenhanslüke

Dass Literatur aus Buchstaben besteht, scheint eine ebenso einfache wie unumstrittene Tatsache, fast eine Selbstverständlichkeit zu sein, die keiner weiteren Begründung mehr bedarf. Dementsprechend ist die Buchstäblichkeit bisher auch kaum zum Gegenstand der Forschung geworden – die einzige Studie, die sich ausdrücklich dem Thema der Buchstäblichkeit widmet, stammt bezeichnenderweise aus der Kunstgeschichte.1 Der vorliegende Band möchte dem Sachverhalt trotz dieser scheinbar eindeutigen Evidenz genauer nachgehen und damit ein Gebiet erschließen, das in der Forschung bisher zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat. Das Ziel ist ein bescheidenes: Es geht weniger darum, endgültige Antworten auf die Frage nach der Bedeutung der Buchstäblichkeit zu bekommen als vielmehr darum, der Frage überhaupt eine Berechtigung zu geben. In diesem Zusammenhang lassen sich drei unterschiedliche Themenfelder unterscheiden, die für die Auseinandersetzung mit der Buchstäblichkeit wesentlich sind. Da wäre zum einen die Frage nach der Theorie der Buchstäblichkeit, zweitens die nach einer Geschichte der Buchstäblichkeit von der Antike bis zur Moderne und drittens die nach der Rolle der Buchstäblichkeit in konkreten Fragen der Übersetzung. Dass der Buchstäblichkeit in Theoriezusammenhängen eine große Bedeutung zukommt, erschließt sich schon durch die ursprünglich theologisch begründete Unterscheidung zwischen dem Buchstaben und dem Geist. Vor diesem Hintergrund lassen sich scheinbar problemlos solche Ansätze unterscheiden, die eher den Geist privilegieren, wie etwa die Hermeneutik, und solche, die sich eher dem Buchstaben zuwenden, wie es etwa die Linguistik und die daraus erwachsenden Theorien im Rahmen strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorien getan haben. Buchstäblichkeit wird in diesem Zusammenhang folgerichtig meist mit dem gleichgesetzt, was in posthermeneutischen Ansatzen oft auf sehr allgemeine Weise die »Materialität des Signifikanten« heißt. 1 Vgl. Rainer Metzger, Buchstäblichkeit. Bild und Kunst in der Moderne. Köln 2004.

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Achim Geisenhanslüke

Wie die vorliegenden Studien zu zeigen versuchen, geht eine solche einfache Unterscheidung aber an der Sache vorbei. Schon die Ursprünge der modernen Hermeneutik bei Schleiermacher zeigen, dass dem Geist der Buchstabe korreliert, dass es also keineswegs um eine einsinnige Betrachtung der Ebene des Geistigen geht, sondern ebenso um eine philologisch begründete Aufmerksamkeit auf den Buchstaben. Und umgekehrt richten auch solche Ansätze, die sich scheinbar eindeutig der Materialität des Signifikanten verschreiben, wie etwa das Beispiel der Psychoanalyse zeigt, ihr Augenmerk durchaus auch auf die Ebene der geistig vermittelten Bedeutungen. Nicht die Antithesen unterschiedlicher und sich scheinbar wechselseitig ausschließender Theorien steht im Fokus der Buchstäblichkeit, sondern die Möglichkeit, jenseits bestehender Unterschiede auf gemeinsame Grundlagen zurück- und Vermittlungsmöglichkeiten nachzugehen, um so die Grenzen von unversöhnlich anmutenden Theorieansätzen zu überschreiten. Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte des Buchstabens in der Literatur. Sie reicht von der Antike über das Mittelalter bis in die Moderne, von magischen Beschwörungsformeln, die als Schutzzauber dienen, bis in komplexe, scheinbar autonome Sprachgebilde hinein. Auch hier geht es nicht darum, das Phänomen der Buchstäblichkeit einer Epoche zuzuordnen, sondern ihre Präsenz in allen Epochen nachzuweisen, um so die Grundlagen für weiteres Fragen herauszuarbeiten. Eine besondere Dringlichkeit gewinnt die Buchstäblichkeit in Übersetzungen. Es geht in diesem Zusammenhang nicht allein um die vielgestellte Frage nach den Gründen für die Unterscheidung zwischen einer möglichst wortgetreuen oder einer möglichst freien Übersetzung, nach der Nähe oder der Ferne zum Buchstaben in der Übersetzung. Schon die im Deutschen übliche Unterscheidung von Buchstäblichkeit und Wörtlichkeit, die so nicht in allen Sprachen möglich ist, deutet darauf hin, dass die Problemlage komplexer ist, dass die Orientierung am Buchstaben sich zur Wörtlichkeit hin- wie von ihr wegbewegen kann. Die drei Aspekte der Theorie, der Geschichte der Literatur und der Übersetzung bilden vor diesem Hintergrund kein festes Schema aus, sondern eine möglichst offen gehaltene Folie für einen ersten Zugang zu einem Thema, das sich nicht einfach kategorisieren lässt. Der Band versammelt in diesem Sinne Einzelstudien, die sich ergänzen, komplementieren, und zugleich Raum für Offenes, Zukünftiges lassen wollen. So wendet sich Heinz Sieburg einleitend der Frage nach der Buchstäblichkeit der Buchstaben zu und beleuchtet zugleich den reichen Korpus der Buchstäblichkeit in der mittelalterlichen Literatur, während Thomas Emmrich kritisch die antiken Grundlagen der Philologie, der Liebe zum Wort, diskutiert. Achim Geisenhanslüke nimmt die Geschichte der Hermeneutik von Schleiermacher bis zu Szondi und Bloom in den Blick, um nach der Vermittlung zwischen Buchstabe und Geist zu fragen. Judith Kasper setzt sich mit dem »Drängen des Buchstabens im Unbewussten« auseinander, wo hingegen Katrin Becker die ausdrücklich an Lacan an-

Einleitung

schließenden Arbeiten des französischen Rechtshistorikers Pierre Legendre in den Blick nimmt. Mit Friedrich Hölderlins später Hymne Patmos rückt ein für das Verständnis der Moderne zentraler Text in den Fokus, dessen vielzitierte Forderung nach »Pflege des Buchstabens« gegen vereinheitlichende Deutungsansätze für einen kritischen Begriff der Philologie im Zeichen der Buchstäblichkeit offen bleibt. Till Dembeck widmet seinen Beitrag dem von der Forschung bisher viel zu wenig beachteten Phänomen der homophonen Übersetzung, während Eva-Maria Konrad anhand der unterschiedlichen Baudelaire-Übertragungen Georges und Benjamins die Differenz zwischen Buchstäblichkeit und Wörtlichkeit diskutiert. Mit den von Maren Scheurer, Oliver Völker und Claudia Liebrand verhandelten Texten von Balzac, Čechov und Kafka rücken abschließend aus einer komparatistischen Perspektive heraus drei Schriftsteller aus unterschiedlichen Sprachräumen in den Fokus, um den Blick auf die Literatur zu öffnen. Damit soll der Buchstäblichkeit, wie bereits angedeutet, keineswegs ein Ende, sondern ein, hoffentlich vielversprechender, Anfang gesetzt werden. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine Tagung zurück, die in einer Kooperation des Luxemburgers Institut für Germanistik und des Frankfurter Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft vom 29. November bis zum 1. Dezember 2017 an der Goethe-Universität stattgefunden hat. Mein Dank gilt allen, die die Publikation begleitet haben, neben den Beiträgern vor allem Dieter Heimböckel, Georg Mein und Edgar Pankow, ohne deren Unterstützung der Band in dieser Form nicht möglich geworden wäre.

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Die Buchstäblichkeit der Buchstaben Heinz Sieburg

Einleitung ›Buchstäblichkeit‹ ist eine Metapher für Nichtmetaphorisches. Der Begriff ist demnach rhetorisch das, was er gleichzeitig inhaltlich verneint. Im Begriff der Buchstäblichkeit liegt damit gewissermaßen sein eigener Gegensinn. Etwas ›buchstäblich meinen‹, heißt, etwas gemäß dem eigentlichen Wortsinn zu verstehen, sich nach den Buchstaben des Gesetzes zu richten‹, sich jedweder individuellen Auslegung zu enthalten. Der Sinn derlei Aussagen rekurriert zweifellos auf eine Grundebene, eine Basiskategorie des Textverständnisses, allerdings nicht wirklich auf die Beachtung konkreter Buchstaben (als Schriftzeichen, Graphe). Der wortbildungsmäßige Bezug der Abstraktbildung Buchstäblichkeit zur Ableitungsbasis Buchstabe1 ist eher einer des übertragenen Sinns, als Rekurs auf eine allgemeine Elementarebene, eine generelle Basisstufe. Die Buchstaben als solche bleiben dabei referentiell in einem diffusen Hintergrund. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs Buchstabe (als diffuse Referenzebene der Metapher und als konkretes Schriftzeichen) ist im Buchstäblichkeits-Diskurs meist unterbeleuchtet. Bisweilen changieren die Bedeutungen hier, überlappen sich und fließen ineinander. Nimmt man aber die Buchstaben selber in den Blick, könnte man sagen, diese bilden eine Basisstufe zweiter Ordnung, bzw. ein Fundament, welches der Betrachtung freilich oft genug entzogen bleibt. Aber vielleicht lohnt sich ja der Blick gerade darauf, d.h. auf die Buchstaben selbst. Dann nämlich stellt sich als Frage: Gibt es eine Buchstäblichkeit der Buchstaben? Dem vorliegenden Beitrag geht es im Sinne dieser Frage vor allem um die Vermessung eines Terrains, um eine Musterung derjenigen Felder, für die der Rekurs auf die Buchstaben von Bedeutung ist. Dass der Anspruch, hier einen Überblick zu gewinnen, die Konzession zu akzeptieren hat, nicht immer in der wünschenswerten Tiefe und Breite zu agieren, liegt in der Natur der Sache. Der Verweis auf das Buchstäbliche fokussiert, wie oben bereits skizziert, stets auf etwas Ureigenes, ein Erstes und Anfängliches, wofür der Buchstabe (als Platz1 Streng genommen ist Buchstabe die mittelbare Ableitungsbasis, die unmittelbare ist buchstäblich.

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halter) steht. Buchstäblichkeit referiert insofern auf ein Radikales und ist in diesem Sinne ein Extrembegriff für das (scheinbar) Unhintergehbare. Und gleichzeitig kann Buchstäblichkeit als ein Rückverweis auf das Elementare, Unmittelbare, oft auch auf das Reduzierte, Direkte, Materielle, Objekthafte und Körperliche diesseits jeder Um- und Ausdeutung verstanden werden. Das macht den Begriff tauglich für unterschiedlichste Relevanzbereiche. Beispielhaft dafür kann die ›Karriere‹ der Buchstäblichkeit als Schlüsselbegriff der modernen Kunst angeführt werden, und zwar bezogen auf die Minimal Art, die folgerichtig mitunter auch als ›ABC Art‹ oder ›Buchstäblichkeitskunst‹ bezeichnet wird. Hier gilt: ›Buchstäblichkeitskunst‹ ist eine Beschreibungsformel, zwar mit Abneigung aufgeladen aber deswegen durchaus adäquat, weil die Aluminiumboxen und Holzquader der Minimal Art in der Tat nicht mehr darstellen als das, was sie eben sind. Sie sind buchstäblich sie selbst (Metzger 2004: 22).2 Beim geschriebenen Text, der eigentlichen Referenzebene für das Buchstäbliche, dient Buchstäblichkeit – als Ausdruck des sensus litteralis – als das, wovon alles Interpretieren, Metaphorisieren, Analogisieren u.s.w. seinen Ausgang nimmt. Bei all dem ist, um es abermals zu betonen, allerdings noch keineswegs zwingend der eigentliche Buchstabe, das Schriftzeichen als solches, als ›grafischer Körper‹, in das Zentrum der Betrachtung gerückt. Die Frage nach der Buchstäblichkeit der Buchstaben will aber genau das, nämlich die Buchstaben buchstäblich nehmen. Das bedingt notwendigerweise eine Verkehrung der Wirkrichtung. Die Buchstaben sind dann nämlich weniger Ausgangspunkt der Deutung, sondern eher deren Resultat. Die Buchstaben sind unter dieser Prämisse auch nicht selber das Elementare, sondern verweisen auf ein Dahinter, aus dem sie sinnhaft geformt sind.

Buchstabe versus Geist? Zunächst gilt es jedoch hervorzuheben, dass die Buchstaben vielfach nicht eben wohl beleumundet sind, denn die Buchstaben gelten vielfach als tot und geistlos. Entsprechend heißt es bei Lessing (Der bescheidene Wunsch): »Man nehm es nicht buchstäblich an,/Der Buchstab bringet Tod und Bann.«3 Im Grimmschen Wörter2 In die Bildende Kunst eingeführt wurde der Begriff des Buchstäblichen zuerst von Goethe, und zwar in Bezug auf die erste oder unterste Stufe der »Arten, Kunstwerke hervorzubringen« (Goethe 2006: 189). Gegenüber der ›Manier‹ und dem ›Styl‹ besteht demnach die ›Nachahmung‹ darin, »der Natur ihre Buchstaben im Zeichnen nur gleichsam nachzubuchstabieren« (Goethe 2006: 187). »Die Nachahmung, Goethe selbst hat es so genannt, ist eine Sache der Buchstäblichkeit. ›Das Wort Stil‹, auch das hat Goethe vorformuliert, ist es nicht minder: Stil meint letztlich nichts anderes als jenen buchstäblichen Kunstbegriff, mit dem die Moderne als Etikett hantieren wird (Metzger 2003: 34). 3 Zitiert aus Lessing 1757: 77.

Die Buchstäblichkeit der Buchstaben

buch liest man: »Entgegen steht der buchstabe sowol der mündlichen, lebendigen rede als auch dem geist« (DWB 2, Sp. 480). Folgt man Metzger, so gilt: Der Gegensatz von Buchstabe und Geist, den Goethe als erster in der Kunst wiederfindet, ist ein literarischer Gassenhauer des 18. Jahrhunderts. Die biblische Herkunft ist ihm dabei anzusehen (Metzger 2004:31). ›Biblische Herkunft‹ ist als Rekurs auf das im gegebenen Zusammenhang viel zitierte Wort aus den Korintherbriefen im Neuen Testament zu verstehen, wo es unmissverständlich heißt: »Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« (2. Kor. 3, 6).4 Der Gegensatz von Buchstabe und Geist weitet das Betrachtungsfeld darüber hinaus aber auch in den Zusammenhang von wörtlicher und übertragener Bedeutung, der formverpflichteten oder sinngemäßen Übersetzung, von Beschränkung und Entfaltung. Aber die Ebene des Buchstäblichen ist von einem Seitenblick her betrachtet weder etwas Unhintergehbares, noch können die Buchstaben unter einem solchen Blickwinkel als tot und geistlos angesehen werden. Betrachtet man die Buchstaben nämlich von ihrer kulturhistorischen Genese her, erkennt man in ihnen nicht nur eine der größten Kultur- und Geistesleistungen der Menschheitsgeschichte, sondern auch ein Verhaftetsein mit einer fast kaleidoskophaften Fülle an Bedeutungsdimensionen, die die Buchstaben als höchst vital erscheinen lassen. Buchstaben sind aus dieser Sicht also nicht nur Ausgangspunkt aller geistreichen Interpretation und Abstraktion, sondern zugleich Kristallisationskerne vorgängiger Sinngehalte, Anschauungen, und Spekulationen, – auch wenn uns das meiste davon heute eher befremdlich anmuten muss. Es gibt demnach, so möchte ich behaupten, eine Buchstäblichkeit zweiter Dimension, eine inzwischen meist ausgeblendete Tiefendimension, in der Buchstaben eben nicht als Negativbegriff gedeutet werden, sondern als Verkörperungen und auch Symbolisierungen eines dahinterstehenden Numinosen, eines Ur-Anfänglichen, Ur-Ursprünglichen oder wie immer man das nennen möchte. Buchstaben in diesem Sinne sind also nicht Ausgangsmaterial hermeneutischer Prozesse, sondern gestalthafte Inkarnationen metaphysischer Entitäten. Zunächst aber zu etwas höchst Profanem und Immanentem:

Laut-/Buchstaben-Relationen Vom Blickpunkt der Linguistik, zumal von einer strukturalistisch‐systemlinguistischen, durch de Saussure geprägten Richtung her, sind die Buchstaben eher uninteressant. Schrift ist (demnach) ein der gesprochenen Sprache zugeordnetes sekundäres System; sie ist nichts als visualisierte und fixierte Sprache. Das Revolu4 Hier und im Folgenden zitiert nach der Einheitsübersetzung 2013.

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tionäre bei de Saussure war ja gerade die Abkehr von der geschriebenen und die Hinwendung zur gesprochenen Sprache. Ihn interessieren die Laute, nicht aber die Buchstaben. Ebenso wie die Laute haben die Buchstaben selbst auch keine Bedeutung, vielmehr unterscheiden sie Bedeutungen. Diese distinktive Funktion ist durch Minimalpaaranalyse wie in Baum : Schaum formal nachweisbar, wonach im ʃ in paradigmatischer Beziehung (Opposition) zueinangegebenen Beispiel /b/ und /  / der stehen. Die hier relevante Lautschrift unterstreicht einerseits die Priorität der Laute, signalisiert aber andererseits auch das Zufällige einzelsprachlicher Orthographieregeln. Groß-Kleinschreibung oder die Verwendung von Buchstabenkombinationen zur Bezeichnung eines Einzellautes (z.B. für/ ʃ /) sind in dieser Perspektive eher ›Störgrößen‹. Insbesondere unter zeichentheoretischer (semiotischer) Hinsicht sind die Laute und erst recht die Buchstaben irrelevant, denn sie haben keine Inhaltsseite, keine Signifikate und sind deswegen auch – streng genommen – keine Signifikanten. Von daher ist bemerkenswert, welche Prominenz die Buchstaben (bzw. die Schrift) unter dem Leitwort des Signifikanten – und mit Referenz auf de Saussure, aber auch in Abgrenzung von diesem – bei Lacan und vor allem bei Derrida erlangt haben. Derridas dekonstruktivistisches Verfahren verkehrt ja bekanntlich das Abhängigkeitsverhältnis und setzt die Schrift als ein Erstes, als Bedingung der Möglichkeit des Zeichensystems Sprache.5 »War Schrift zuvor Manifestation von Sprache, ist bei Derrida die Sprache dann eine Manifestation von Schrift« (Krämer 2003: 159). Das Verhältnis von Sprache und Schrift, von ›Phoné und Graphé‹, allein über die Frage der Priorisierung bestimmen zu wollen, greift allerdings zu kurz. Schrift (bzw. der Text) besitzt nämlich aufgrund ihrer zugrundeliegenden Organisationsstruktur eine weiterreichende, wenn auch oft übersehene mediale Autonomie. Dazu zählt, dass Schrift – im Gegensatz zur Lautsprache – nicht auf eine eindimensionale Linearität beschränkt werden kann. Vielmehr operiert sie, ähnlich wie Bilder, in der Zweidimensionalität der Fläche. »Diese Zweidimensionalität im Verbund mit der Simultaneität lässt ein Phänomen hervortreten, das in der Betrachtung der Alphabetschriften gewöhnlich ausgeblendet bleibt« (Krämer 2003: 159f.). Gemeint sind ideographische Bedeutungsaspekte, die durch Interpunktion, Worttrennungen, Groß-Kleinschreibung, Kursivierung etc. markiert werden, ohne dass sie eine genaue Entsprechung im physikalischen Lautstrom der gesprochenen Sprache hätten. Auch die Anordnung und Organisation des Textes durch Überschriften, Gliederungspunkte oder Fußnoten stellt ein (verräumlichtes) Bedeutungs-System eigener Ordnung dar. Die Vorstellung eines rein 5 »Wir werden zu zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorausginge« (Derrida 1974: 29).

Die Buchstäblichkeit der Buchstaben

phonographischen Schriftkonzepts greift jedenfalls zu kurz.6 Angemessener ist dagegen, eine – zumindest partielle – Autonomie der Schrift und damit auch der Buchstaben zu betonen. Sichtbar wird unter dieser Perspektive das, was Krämer (2003: 161) als ›operative Schrift‹ bezeichnet.7 Krämer weist der Schrift (im Gegensatz zu Bildern) zudem eine ›notationale Ikonizität‹ (162 et passim) zu, als deren Kennzeichen die Lücken und Leerstellen zwischen den einzelnen Schriftzeichen gesehen werden und wodurch Sprache ihre eigentümliche Körperlichkeit in der Schrift gewinnt. Man kann bereits das als Anstoß für eine Art Rehabilitation der Schrift und der Buchstaben verstehen. Einmal gegenüber einem rein phonographischen Schriftverständnis, sodann aber auch gegenüber einer im (traditionellen) literaturwissenschaftlich‐philosophischen Diskurs weit verbreiteten Geringschätzung der (›toten und geistlosen‹) Buchstaben.

Buchstaben, Schrifttypen und Alphabete Buchstaben sind nicht gleich Buchstaben. Dies gilt, ganz abgesehen von der Doppelung in Minuskeln und Majuskeln, auch in einem weiteren grafischen Sinne. Die spezifische Gestaltung der Schriftzeichen hat zunächst einmal bestimmten Praktikabilitätserwägungen mit Blick auf den Schreib- und Leseprozess zu genügen. Unter grafischen Gesichtspunkten sind daneben vor allem auch ästhetische Kriterien relevant, häufig auch eine Korrelation zwischen Aussageabsicht und formaler Ausführung der Buchstaben (eines Wortes). So wird man Spiekermann vermutlich zustimmen können, wenn er beispielsweise bezogen auf die optimale typografische Ausformung des Wortes Wut formuliert: Wut ist, wie Zweifel, eine dieser schweren Stimmungen, die eine schwarze, kräftige Schrift verlangen. Aber Wut ist nicht so eng wie Zweifel – sie braucht mehr Raum und muss laut brüllen können. Gut, wenn die Buchstaben nicht alle perfekt gezeichnet sind. Sie sollen ruhig unvollendet daherkommen und Platz für die 6 Das gilt in noch offensichtlicherer Weise für »die schriftlichen Zeichen der Mathematik und der Logik, aber auch der ›Programmiersprachen‹, sogenannte ›formale Sprachen‹ also, welche graphische Systeme sui generis bilden und allenfalls im Nachhinein – und das auch nur begrenzt und lückenhaft – verlautiert werden können« (Krämer 2003: 161). 7 Die operative Schrift versteht Krämer als ›Kalkül‹, welches wie folgt definiert ist: »Wir verstehen darunter ein aus endlich vielen diskreten Zeichen zusammengesetztes Notationssystem, das eine Doppelfunktion erfüllt: Es ist einerseits Medium zur visuellen Repräsentation einer Domäne kognitiver Gegenstände und andererseits Instrument zum handgreiflichen Operieren mit diesen Gegenständen, um dadurch zu Problemlösungen und Beweisen zu gelangen, welche sich auf diese kognitive Domäne beziehen.« (Krämer 2003: 161).

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Phantasie lassen. Eine vollkommen ausgewogene Univers oder Helvetica wären fehl am Platz (Spiekermann 2004: 51). Buchstaben, bzw. deren Formgebung, sind aber oft genug auch ideologisch aufgeladen und stehen in diesem Sinne für bestimmte, ihnen zugeschriebene Werthaltungen, Orientierungen und Weltanschauungen. Als die Nationalsozialisten 1941 die Frakturschrift verbieten, erfolgt dies mit der rassistisch motivierten Begründung, diese sei eine ›Schwabacher Judenletter‹.8 Politisch motiviert war 1928 die Schriftreform Kemal Atatürks, wonach Türkisch zukünftig nicht mehr mit arabischen, sondern lateinischen Buchstaben zu verschriften war. Damit verbunden war eine intendierte Orientierung am modernen westlich‐europäischen Standard. Derzeit erfolgt in Kasachstan (auf Initiative des Präsidenten Nursultan Nasarbajew) die Umstellung vom (kasachisch-)kyrillischen zum lateinischen Alphabet.9 Dies gilt als Signal der Selbstbehauptung gegenüber der russischen Einflusssphäre und der Stärkung der Verbundenheit mit der Türkei. Buchstaben und Schriften sind also auch in dieser Hinsicht keineswegs neutral, sondern mit Sinn aufgeladen. Die hier genannten Schriften (Lateinisch, Arabisch, Kyrillisch) sind bei aller Gegensätzlichkeit unter einem die globale historische Schriftgenese betrachtenden Blickwinkel nahe verwandt. Es sind ihrem Typ nach alphabetische Schriften, die genealogisch auf frühe semitische Vorläufer zurückverweisen.10 Für die global betrachtet am weitesten verbreitete lateinische Schrift bilden die Phönizier, Griechen, Etrusker und Römer wichtige Vermittlungsinstanzen, wobei keineswegs nur die nackten Schriftzeichen weitervermittelt, umgeformt oder der Zahl nach verändert wurden, sondern sich auch die religiösen, kultischen, mystischen und magischen Sinngehalte weitertradierten, die sich – vielleicht irritierenderweise – von Beginn an mit den Buchstaben verbunden haben.

Sakrale Schriften und Buchstabenmystik Diese aus heutiger Sicht merkwürdige Aufladung speist sich offenbar aus unterschiedlichen Quellen der menschlichen Vorstellungskraft. Spekuliert wurde, dass 8 »Die sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift anzusehen oder zu bezeichnen ist falsch. In Wirklichkeit besteht die sogenannte gotische Schrift aus Schwabacher Judenlettern.« Aus: Bormann-Erlass vom 3.1.1941. Vgl. https://ewnor.de/ah/bormann_erlass.php (letzter Zugriff: 13.3.2019). 9 »Am 26. Oktober 2017 erließ Nursultan Nasarbajew eine Verordnung, die die Umstellung auf lateinische Schrift bis 2025 vorsieht. Gleichzeitig wurde eine nun offizielle Version des neuen kasachischen Lateinalphabets vorgestellt« (Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Kasachisches_ Alphabet (letzter Zugriff: 11.03.2019). 10 Zur Frage der Schriftgenese sei verwiesen auf Haarmann 2004, Robinson 2004 und Türcke 2005.

Die Buchstäblichkeit der Buchstaben

für Analphabeten früherer Epochen die Kunst des Schreibens ein »unheimliches Mysterium« (Dornseiff 1922:1) gewesen sei. Mit den Worten Dornseiffs liegt [dem] zugrunde das Staunen und Erschaudern des primitiven Menschen vor dem Bild und vor dem Schriftbild im besondern, durch das das Verblüffende zuwege gebracht wird, daß die Worte Entfernter reden, als spräche ein Geist (Dornseiff 1922: 1). Schrift und Schreiben sind in einem animistischen Verständnis aber nicht nur dem Schreibunkundigen ein Mysterium, sondern können auch von den Schriftkundigen als feierliche Handlung, als sakraler Akt inszeniert und verstanden werden. Schreiben war, das lässt sich bei unterschiedlichen Kulturen zeigen, schon insofern nichts Profanes, sondern oft eine sakrale oder magische Handlung, zu der nur Erwählte fähig und legitimiert waren. Dies gilt bezogen auf das germanische Runenalphabet ebenso wie für die Hieroglyphen, die den Sakralitätsanspruch bereits im Namen tragen (›heilige Zeichen‹). Resultiert die Sakralität der Schrift so zum einen aus einer naiven Geisteshaltung, so kann als ein anderer Grund eine hochspekulative Hermeneutik in Anschlag gebracht werden, ein ›Universismus‹, der beseelt war vom Glauben an die universelle Symbolhaftigkeit der Welt, wonach gilt: »Alles ist Chiffre, Sinnbild, Zeichen, Spiegel, Allegorie, alles steht mit allem in geheimnisvoller Beziehung« (Dornseiff 1922: 1). Eine solche Hermeneutik, die vielleicht säkularisiert noch bis zu Goethes naturwissenschaftlichen Studien und Grundauffassungen reicht, ist für das christliche Mittelalter verbindlich. Die Welt ist demnach sozusagen ein zweites Buch, das es zu lesen und zu deuten galt wie das erste Buch, die Bibel. Beim Spruchdichter Freidank (um 1230) ist zu lesen: Diu erde keiner slahte treit daz gar sî ân bezeichenheit. Nehein geschephde ist sô vrî, sîn bezeichene anders dan si sî. (Auf der Erde findet sich nichts ohne ›Zeichenhaftigkeit‹. Kein Geschöpf steht allein für sich selbst, sondern deutet stets auf etwas außerhalb seiner selbst.)11 Auch die Literatur des Mittelalters ist ein Stück weit dieser Tradition verhaftet. Ehrismann ist daher zuzustimmen, wenn er betont: Das Verfertigen von Geschichten bedeutete im Mittelalter immer auch, sich der Allegorese, deren Methoden man sich von der theologischen Interpretation abschauen konnte, versichern: Hier gilt das Material, d.h. das verschriftete oder erzählte ›buchstäbliche‹ Wort, bloß als Stellvertreter des ›eigentlichen‹ Sinns. Texte 11 Zitiert nach Grimm (1834: 12, Z. 9-12), Übersetzung durch mich.

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werden transparent auf ein Anderes hin, das es für die Rezipierenden zu entdecken gilt. (Ehrismann 2011: 277) Gerade deswegen kann Ehrismann im Nachwort seiner Edition der ›Erzählungen, Fabeln, Reden‹ des mittelhochdeutschen Dichters Stricker in einigen der dort versammelten Texte »die Abkehr von der Transparenz der Buchstaben« als eine Besonderheit hervorheben, und diese als Reaktion auf »die zunehmende Säkularisierung des Denkens seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert« (Ehrismann 2011: 277) deuten. ›Die Abkehr von der Transparenz der Buchstaben‹ setzt voraus und signalisiert gleichzeitig ein historisch vorgängiges Schriftverständnis, das Buchstäblichkeit anders, als wir es heute gemeinhin verstehen, nicht als platten, stumpfen, fantasielosen, rein denotativen Erstsinn begreift, sondern den Buchstaben als eigentliche Funktion eine erkenntnisgenerierende Transparenz für dahinterliegende transzendente Bedeutungsebenen zuweist. Den Buchstaben ist demnach immer schon ein eigentümlicher Hintersinn, sozusagen eine zweite Ebene der Buchstäblichkeit eigen. Die christliche Hermeneutik und Typologie ist dabei allerdings nur eine schon späte Entwicklungsstufe. Die Anfänge reichen bis weit zurück in die Antike und auch in das Halbdunkel menschlicher Frühgeschichte. Buchstaben, dies gilt für unterschiedliche Epochen, Kulturen und Religionen, sind auf geheimnisvolle Weise Abbild allgemeingültiger kosmischer Zusammenhänge. Sie stehen in Beziehung zum Sternenhimmel, zur Musik, zur Schöpfung insgesamt und sie sind Instrumente der Magie. Weder die Form der Buchstaben noch ihre Zahl, noch ihre innere Gliederung nach Vokalen und Konsonanten, noch ihre Anordnung in einer festen Reihenfolge sind dieser Prämisse nach beliebig, sondern stehen jeweils in einem Wechselverhältnis zum Mikro- und Makrokosmos. Dem unterliegt ein, auf uns heute absonderlich anmutendes, aber in seiner Zeit sicher ernstgemeintes und durch tiefgründige ›Forschung‹ gewonnenes Wissen, das aus einem Streben nach abstrakten Erkenntnissen, aber auch praktischem Tun im Dienste der Heilung, Abwehr von Dämonen oder aber auch der Bemächtigung magischer Kräfte resultiert.

Die göttliche Herkunft der Buchstaben Die Bedeutsamkeit und Deutbarkeit der Buchstaben rührt nicht zuletzt aus der Annahme ihrer göttlichen Herkunft, die sich in unterschiedlichsten Kulturen findet: Schrift kommt von Gott – im alten Ägypten von Toth, in Israel von Jahwe, in Germanien von Odin, in Indien von Brahma, in China von Fubi, von dem es heißt, er habe die Schriftzeichen aus den Zähnen eines großen Drachens gemacht, und in

Die Buchstäblichkeit der Buchstaben

Polynesien, wo das Tattoo zu Hause ist, ist nicht ein einzelner Gott für die Schrift zuständig, sondern alle (Türcke 2005: 47). Entsprechende Vorstellungen sind demnach so etwas wie eine interkulturelle Konstante. Türcke (2005: 48f.) geht soweit, Schriftzeichen als ›Eigenzeichen‹ zu deuten, deren ursprünglicher Sinn (auch) gewesen sei, einem Kollektiv Identifikation zu vermitteln und zugleich das Bewusstsein, Eigentum einer göttlichen Schutzmacht zu sein. Die göttliche Herkunft der Schrift blieb natürlich nicht ohne Einfluss auf die Funktion, die Wertschätzung und die Verantwortung der irdischen Schreiber. Diese galten etwa im alten Ägypten als mit der Götterwelt verbunden; Schreiben selber war kultische Handlung, die Schrift Ausdruck des Sakralen, versehen mit einer Aura der Macht. Das Numinose der Schrift ist bekanntlich auch in den rezenten ›Buchreligionen‹ nachweisbar. So übergibt, wie es im Buch Exodus des Alten Testaments heißt, Gott die mit eigener Hand geschriebenen Gesetzestafeln an Moses: Nachdem der Herr zu Mose auf dem Berg Sinai alles gesagt hatte, übergab er ihm die beiden Tafeln der Bundesurkunde, steinerne Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte. (Exod. 31,18)12 Die enge Verbindung zwischen Religion und Schrift zeigt sich im Übrigen natürlich auch mit Blick auf das gotische Alphabet des Bischofs Wulfila (um 311-383) oder mit Blick auf die Entwicklung des Kyrillischen durch die Mönche Kyrill und Method (10. Jh.).

Die Totalität und Symbolhaftigkeit der Buchstaben Unberührt von der Vorstellung einer göttlichen Abkunft der Buchstaben scheinen allerdings die antiken Griechen gewesen zu sein. Aber auch bei diesen, insbesondere den Pythagoreern, wiesen die Buchstaben über sich hinaus ins Metaphysische. Die 24 Buchstaben standen hier nicht nur für die 24 Aulostöne der Flöte, sondern die Zahl 24 verwies gleichzeitig auf die »Totalität, [die] Gesamtheit der Glieder des Himmels« (Dornseiff 1922: 12). Der Siebenzahl der Vokale (a,e,i,o,u,e:,o:) wurde ebenso Bedeutung beigemessen wie überhaupt die Unterschiede zwischen Vokalen und Konsonanten als Sinnbild für die Differenz von Seele und Leib gelten konnte. Andererseits wurden die Vokale aber auch auf den Vollmond, die Konsonanten auf die anderen Mondphasen bezogen. Die Vorstellung der Totalität des Alphabets findet sich als Niederschlag dann auch wieder im Christentum, wo ja Alpha und 12 Vielfach wurde aber auch der Urvater Adam als Erfinder der Schrift, oder als von Gott in die Geheimnisse der Buchstaben eingeweiht, betrachtet (vgl. Dornseiff 1922: 4).

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Omega die Grenzpunkte markieren zwischen denen die gesamte Schöpfung, das All, das Totum steht. Mehr noch, der erste und letzte Buchstabe dienten Gott zur Selbstbezeichnung. Das folgt jedenfalls aus der Offenbarung des Johannes: »Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung« (Offb. 1,8).

Form und Klang Im Sinne dieser Logik kaum verwunderlich ist, dass der dreieckige griechische Buchstabe Delta auf die Dreieinigkeit Gottes hinwies, genauso wie auf die sechs (2x3) Schöpfungstage der Genesis. Als vierter Buchstabe im Alphabet steht er für die vier Elemente und andere Tetraden (vgl. Dornseiff 1922: 22). Und da das Tau ja dem Kreuz gleicht, konnte es somit in Verbindung zum Kreuzestod Jesu gebracht werden. Erkennbar ist: Auch die Form der Buchstaben funktionierte als Wink Gottes. Dass jedes einzelne Schriftzeichen eine (mitunter geheime) sakrale Bedeutung haben kann, lässt sich ebenso auf die Kabbala beziehen, in der »jeder der Buchstaben eine wirkende Macht ist« (Papus/Nestler 1986: 75), – mit drastischen Auswirkungen auf jede Art von Veränderung: »Im kabbalistischen System etwa kam bereits einem einzelnen Buchstaben fundamentale Bedeutung zu, kopiale Korrumpierungen, ein lapsus calami, mußten als Katastrophe erscheinen« (Schulz 2003: 17). Übersetzungen sind vor diesem Hintergrund praktisch verunmöglicht. All das sind Belege für die Vorstellung der Buchstaben als Verkörperungen göttlicher Präsenz oder als Speicher arkanen Wissens. Ein Wissen, welches oft nur einer Elite von Schriftkundigen zugänglich und von diesen zu schützen ist. Abgestuft findet sich die Vorstellung der Buchstaben als Substitut für Außersprachliches oder auch Personales etwa im spätmittelalterlichen Ackermann von Böhmen Johanns von Tepl, wenn der Protagonist im Streitgespräch mit dem Tod diesen wegen des Ablebens seiner Frau in fast feierlichem Ton anklagt und kryptonymisch formuliert: Gehessig, widerwertig vnde widerstrebend soll ich euch ymmer wesen, wann jr hapt mir den zwolfften buchstaben, meyner frewden hort, auß dem alphabet gar freysanlich gezucket[.] (Haßerfüllt, widerborstig und widerstrebend will ich Euch gegenüber immer sein, denn Ihr habt mir den zwölften Buchstaben, meiner Freuden Hort, aus dem Alphabet grausamst herausgerissen[.]13 13 Zitiert nach der Ausgabe Kiening 2004: 8ff.

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Gemeint ist übrigens das M, welches für die verstorbene Margareta steht.14 Aber, wie beim Alpha, Delta oder Tau gesehen, – nicht nur die Form der Buchstaben war bedeutungsvoll im Sinne einer spirituellen Transzendenz, sondern auch deren Lautwert (Klang). So finden sich Belege, wonach die antiken (ägyptischen) Anhänger der Theurgie die (sieben) Vokale als Abklänge der göttlichen Sphären aufgefasst haben (vgl. Dornseiff 1922: 52). Beim antik‐griechischen Philosophen und Musiktheoretiker Nikomachos von Gerasa (Excerpta ex Nicomacho) heißt es (übersetzt): Auch die Töne jeder einzelnen Sphäre von den sieben, die kraft ihrer Natur einen gewissen Schall von sich gibt, wonach dann die Buchstaben, nämlich die Vokale, benannt sind, sind an sich unsprechbar […]. Werden sie aber mit der Materie zusammengebracht – den Konsonanten – wie die Seele mit dem Leib, die Harmonie mit den Saiten, – so schafft die Seele Lebewesen, die Harmonie Töne und Weisen, die Sphärenlaute Kräfte zum Handeln und göttliche Weihekräfte.15 Damit ist die Grenze zur Zauberpraxis bereits überschritten. Es lohnt sich, auch hierauf einen näheren Blick zu werfen.

Buchstaben und Magie Auffällig sind die zahlreichen Palindrome, auch Krebswörter genannt, Wörter (oder Verse), die ebensogut vorwärts wie rückwärts gelesen werden können. Deren magische Kraft zur Abwehr von Dämonen und sonstigen Übeln galt als besonders stabil, denn sie waren gefeit gegen die magische Gegenkraft, die ansonsten durch das Rückwärtslesen eines Wortes oder einer Formel aktiviert werden konnte. Vielzitiert und oft besprochen ist die sog. Sator-Formel.16 Das Frappierende daran ist, dass die 25 hier versammelten Buchstaben (drei unterschiedliche Vokale und fünf unterschiedliche Konsonanten) in praktisch allen Richtungen mit identischem Wortlaut gelesen werden können – und noch dazu in der Mitte ein Kreuz bilden. Man würde fehlgehen, derlei artifizielle oder auch sonstige (oberflächlich sinnfreien) Buchstabenkombinationen als bloße Spielerei abtun zu wollen. Im Gegenteil, deren (vermeintlich) lebenspraktischer Nutzwert ist vielfach belegt: Sie werden auf Zetteln dem Vieh gegen Behexung eingegeben, auf einen Teller geschrieben und ins Feuer geworfen, das sie löschen sollen, als Amulet umgebun14 Das M ist der 12. Buchstabe unter der sprachgeschichtlich gültigen Bedingung, dass I und J als Einheit gesehen wurden. 15 Zitiert nach Dornseiff 1922: 52. 16 Vgl. Harmening 2009: 371f.

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Abbildung 1: Sator-Formel

den oder zum Schutz des Hauses unters Dach gelegt. Es ist eine Thorheit einen Sinn in den Buchstaben suchen zu wollen. Sie haben niemals Sinn gehabt. (Dieterich 1901: 92) Dass sich darin Heidnisches mit Christlichem vermischt und die magisch‐sakralen Schreibungen noch bis in die jüngere Gegenwart als wirksam betrachtet wurden, bezeugt etwa der sog. Zachariassegen, eine Buchstabenfolge, die durch Kreuze gegliedert ist. Auf Zetteln aufgedruckt und im Stall aufgehängt sollte dieser gegen Krankheiten, aber auch Verhexungen wirken, namentlich »wider Pestilenz, und von leidigen Suchten herkommenden Krankheiten, Zauberei, Verschreyungen und Nachstellungen des bösen Feinds« (s. Abb. 2). Gedruckt (und genutzt) wurden derlei Apotropäa noch bis ins 19. Jahrhundert.

Abbildung 2: Zachariassegen, gedruckt 1835

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Zachariassegen#/media/File:Zachariassegen_2.jpg (letzter Zugriff: 12.3.2019)

Ein wesentliches Moment magischer Praxis ist der Namenzauber. Vorherrschender Grundgedanke ist: ›Wer den rechten Namen hat, hat die Gottheit auch‹ und damit natürlich auch die dieser zugehörige Kraft und Macht. Wo der Name

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unbekannt war, lag in den Buchstaben immerhin der Schlüssel, diesen zu enträtseln. Aufgabe war eben, die richtige Zahl und Reihenfolge zu finden. Mitunter wurden blindlings Buchstabenreihen zusammengestopft, in der Hoffnung, so einen Zufallstreffer zu landen. Ins Satirische verlagert zeigt sich dieses Zufallsprinzip auch in Johann Michael Moscheroschs Philanders von Sittenwald wunderliche und wahrhaftige Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Hier heißt es vom Kroaten Grschwbbt: Wenn ich morgens aufstehe, […] so spreche ich ein ganzes ABC, indem alle Gebete der Welt enthalten sind, unser Herrgott mag sich dann die Buchstaben selbst zusammenreimen und Gebete daraus machen, wie er es will, ich könnte es sowieso nicht, er kann es noch besser.17 Nicht nur zu Namen und Formeln geordneten Buchstabenreihen wurden magische Potenzen zugesprochen, sondern auch dem Alphabet als solchem. Lange hat man gerätselt, welche Bewandtnis in unterschiedlichen Kulturen vorfindbare aufgeschriebene, eingravierte oder auch eingemeißelte Alphabete auf Vasen, Ziegeln, Scherben und Gemäuern gehabt haben könnten. Spekuliert wurde etwa, es handele sich um Schreibübungen von Schülern. Durchgesetzt hat sich inzwischen aber die Ansicht, die hier auffindbaren ABCdarien als magisch‐kultische Mittel zu apotropäischen Zwecken (Dämonenabwehr) zu sehen. Bereits Dieterich macht das in einem 1901 publizierten Aufsatz mit dem Titel ABC-Denkmäler plausibel (Dieterich 1901). Dort findet sich auch die Verbindung zu christlichen Alphabet-Ritualen. Schreiner gibt hierfür (mit Verweis auf das Pontifikale der spanischen Bischofskirche Roda, einer um 1000 angefertigten Pergamenthandschrift) einen Textbeleg, der übersetzt heißt: »Der Bischof beginne, um die Kirche herumzugehen, wobei er auf die Wände dreimal das A, B, C schreibt.« Bei diesem Umgang mit Klerus und Volk wurden die Außenwände auch mit Weihwasser besprengt, um sie mit der »virtus benedicionis« auszustatten, welche die Kirche gegen den Einfluß und die Verführungskraft gottfeindlicher Mächte abschirmt. (Schreiner 2006: 156) Eine sakrale, dämonenabwehrende Wirkung war wohl auch mit dem Brauch verbunden, das griechische und lateinische Alphabet innerhalb des Kirchenraumes auf ein zuvor ausgestreutes Aschekreuz zu schreiben (s. Abb. 3). Natürlich lag nahe, die Zahl der Buchstaben, nämlich 24, mit den 12 Körperteilen oder den 12 Tierkreiszeichen in Beziehung zu setzen oder einen Zusammenhang zu den 24 Stunden des Tages zu sehen. Aber die Buchstaben hatten auch je eigene Zahlenwerte, mit dem Effekt, über den Namen eines Kranken und bestimmte Rechenoperation dessen Überlebenschance ausrechnen zu können. Auch 17 Zitiert nach Popp 1998: 46.

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Abbildung 3: Pontificale Romanum 1664, pars secunda S. 34

Quelle: Schreiner 2006: 185.

der Ausgang von kriegerischen Auseinandersetzungen konnte so berechnet werden. Ein Beispiel gibt Dornseiff (1922: 116f.): Um den Ausgang eines Kampfes zu prophezeien, addiert man den Zahlenwert der Buchstaben des betreffenden Namens so, daß von den Buchstabenwerten, die 10 übersteigen, die Quersumme genommen wird. Die gefundene Summe wird abermals auf die Quersumme vermindert und das Ergebnis mit der auf demselben Wege gewonnenen Zahl des Gegners verglichen. Der Besitzer der größeren Zahl gewinnt. Es wäre leicht möglich, hier fortzufahren und weitere Belege beizubringen, die allesamt für die metaphysische Aufladung der Buchstaben und damit deren numinosen Hintersinn stehen. Stattdessen soll im Folgenden, stellvertretend für die anderen Buchstaben, das A noch einmal stärker herausgegriffen werden, um an ihm die Genese, die mystische Aufladung und deren Nachklang in der Moderne und Gegenwart aufzuzeigen. Das A, das Alpha, bei den Phöniziern noch Aleph (Alef) genannt, was so viel wie ›Ochse‹ heißt, ein Name, in dem der piktografische Ursprung (stilisierter Ochsenkopf) des Buchstabens nachwirkt, war wohl von Anfang an (nachweislich jedenfalls seit 1.300 v. Chr.) der erste Buchstabe im nach ihm benannten Alphabet. Durchgängig erscheint er im Proto-Semitischen, bei den Phöniziern, den Griechen, den Etruskern und den Römern. Der Lautwert war zunächst wohl der des Kehlkopfver-

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schlusses (Knacklaut, glottis stop). Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wird diese exponierte Stellung auch mit dem frühkindlichen Spracherwerb in Zusammenhang gebracht: A, der edelste, ursprünglichste aller laute, aus brust und kehle voll erschallend, den das kind zuerst und am leichtesten hervor bringen lernt, den mit recht die alphabete der meisten sprachen an ihre spitze stellen. (DWB 1, Sp. 1) Und natürlich wird die prominente Position des Buchstabens mit entsprechenden metaphysischen Gehalten verbunden. In der mystischen Tradition des Judentums, speziell in der Kabbala, steht Alef für die göttliche Energie, die der Schöpfung vorausging und erst ermöglichte. Zudem wird diesem Initialbuchstaben die Zahl 1, die die kosmische Einheit symbolisiert, zugeordnet (vgl. Kastner 2012: 37). Das A steht also in einem jüdisch‐christlichen Verständnis für die Quelle der Schöpfung. In dieser Tradition stehen auch literarische Zeugnisse wie Brentanos Romanzen vom Rosenkranz (Romanze XII: Jacopone und Rosarosa), wo, mit Verweis auf die Bildhaftigkeit des Buchstabens, Jesus selbst seinen Lehrer über das Aleph unterrichtet: Sprachst: »Ich will dich nun belehren, Wie das Aleph ist geformet. Aus drei Strichen es bestehet, Weil auch steht die Einheit Gottes, Dieses Aleph alles Lebens, In drei göttlichen Personen!«18 Ohne alle mystisch‐theologische Einkleidung stellt sich die Vorherrschaft des A in Goethes Séance dar: Hier ist’s, wo unter eignem Namen Die Buchstaben sonst zusammen kamen. Mit Scharlachkleidern angetan Saßen die Selbstlauter oben an: A, E, I, O und U dabei, Machten gar ein seltsam Geschrei. Die Mitlauter kamen in steifen Schritten, Mußten erst um Erlaubnis bitten. Präsident A war ihnen geneigt; Da wurd’ ihnen denn der Platz gezeigt;19 18 Zitiert nach der Ausgabe von Steinle 1912:176f. 19 Zitiert nach der Münchner Ausgabe, Band 4.1 2006: 911.

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Und natürlich steht das A auch am Anfang meist alphabetisch geordneter Lexika oder bei Bewertungsskalen, um dort oft zugleich die Idealposition einzunehmen. (Triple A)

Schluss Über Buchstäblichkeit zu diskutieren, erzwingt keineswegs, die Buchstaben als materiell wirksame metaphysische Zeichen im hier vorgeführten Sinne zu betrachten. Man kann das alles als historische Schlacken werten, deren sich die moderne Zeit längst enthoben weiß. Zumindest gilt dies für die moderne Linguistik. Ob dies auch für eine zeitgemäße Literaturwissenschaft, erst recht unter dem Vorzeichen der Kulturwissenschaft oder Interkulturalität gelten kann, scheint mir indes weniger evident. Die hier vorgeführten zahlreichen Beispiele aus literarischen Texten unterschiedlicher Zeiten setzen als Interpretationszugang ein Wissen um die merkwürdige Hintergrunddimension der Buchstaben immerhin voraus. Aber auch abgesehen davon kann es vielleicht von Nutzen sein, sich der verborgenen Tiefendimensionen der Buchstäblichkeit zu vergewissern und sei es nur aus dem apotropäischen Bemühen, sich dadurch ihrer suggestiven Potenz nicht durch Ignoranz, sondern durch aufgeklärte Rationalität entziehen zu können.

Literatur Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Lizenzausgabe Freiburg i.Br. 2013. Brentano, Clemens (1912): Romanzen vom Rosenkranz. Unter erstmaliger Benutzung des gesamten handschriftlichen Materials herausgegeben und eingeleitet von Alphons M. von Steinle. Trier. Derrida, Jacques (1974): Grammatikologie. Frankfurt a.M.. Dieterich, Albrecht (1901): ABC-Denkmäler. In: Rheinisches Museum für Philologie 56, S. 77-105. Dornseiff, Franz (1922): Das Alphabet in Mystik und Magie. Berlin. DWB = Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Nachdruck der Leipziger Ausgabe, München 1999. Ehrismann, Otfrid (2011): Der Stricker. Erzählungen, Fabeln, Reden. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Otfrid Ehrismann. 2. Auflage Stuttgart. Goethe, Johann Wolfgang (2006): Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke 3.2. Italien und Weimar 1786-1790. Münchner Ausgabe, München S. 186-191.

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Goethe, Johann Wolfgang (2006): Séance. In: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke 4.1. Wirkungen der Französischen Revolution 1791-1797. Münchner Ausgabe, München S. 911. Grimm, Wilhelm (1834) (Hg.): Vridankes Bescheidenheit. Göttingen. Haarmann, Harald (2004): Geschichte der Schrift. 2., durchgesehene Auflage München. Harmening, Dieter (2009): Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart. Johann von Tepl (2004): Der Ackermann. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Christian Kiening. Stuttgart. Kastner, Hugo (2012). Das Alphabet. Die Geschichte der Schrift. Wiesbaden. Krämer, Sybille (2003): ›Schriftlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: Sybille Krämer, Bredekamp/Horst (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München, S. 157-176. Metzger, Rainer (2004): Buchstäblichkeit. Bild und Kunst in der Moderne. Köln. Lessing, Gottfried Ephraim (1757): Der bescheidene Wunsch. In: Kleinigkeiten von G. E. Lessing. Neue Auflage, Frankfurt und Leipzig, S. 77. Papus/Nestler (1986): Die Kabbala von Papus. Einführung in die jüdische Geheimlehre. Autorisierte Übersetzung von Julius Nestler. 6. Aufl. Wiesbaden. Popp, Wolfgang (1998) (Hg.): Johann Michael Moscherosch: Philanders von Sittenwald wunderliche und wahrhaftige Gesichte. Auszüge daraus in: Lesebuch I: Dreißigjähriger Krieg: Eine Textsammlung aus der Barockliteratur. Münster, S. 43-50. Robinson, Andrew (2004): Die Geschichte der Schrift. Aus dem Englischen übertragen von Martin Rometsch. Düsseldorf. Schreiner, Klaus (2006): Abecedarium. Die Symbolik des Alphabets in der Liturgie der frühmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchweihe. In: Stammberger, Ralf M. W./Sticher, Claudia, zusammen mit Annekatrin Warnke (Hg.): »Das Haus Gottes, das seid ihr selbst«. Mittelalterliches und barockes Kirchenverständnis im Spiegel der Kirchweihe. Berlin, S. 143-189. Schulz, Monika (2003): Beschwörungen im Mittelalter. Einführung und Überblick. Heidelberg. Spiekermann, Erik (2004): Über Schrift. Mainz. Türcke, Christoph (2005): Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift. München.

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Das Pharmakon der Allegorese oder: Grundlagen einer literalen Hermeneutik Thomas Emmrich

Die Urszene der Hermeneutik. Allegorese und/als Literaturontologie Philologie ist bekanntermaßen die Liebe zum Wort. Unverbrüchlich ist sie noch dann, gerade dann, wenn das Wort gegen sich und seinen Kontext revoltiert, wenn es sich in seine eigenen Fallstricke verwickelt, kippt und seinen semantischen Orkus zu erkennen gibt oder sich selbst als verschlagener Fallensteller betätigt. »Der Philologe ist der Narr am Tisch des Philosophen«, so Jürgen Paul Schwindt, »er schaut den Herren auf die Finger, wenn sie nach den Fleischtöpfen greifen, und achtet auf den Augenblick, wenn das Schöne und Gemessene des herr(l)i(s)chen Ausdrucks zur Grimasse entgleitet.«1 Oder anders formuliert: Der Philologe achtet, hört auf des Philosophen Wort, indem er eben dieses unterlässt; indem er die Literatur, die sog. literarische wie die sog. philosophische, beim Wort, beim sei es noch so konvulsivisch entgleitenden Wortkörper nimmt und gegen das gemessene Wort der Philosophie abwägt. Seine Liebe ist noch oder gerade dann unverrückbar, wenn die Behaglichkeit binärer und identitärer Logiken, das schablonenhaft Ordnung und Orientierung stiftende Profil der traditionellen okzidentalen Theoriebildung,2 brüchig und instabil werden. Ein Textethos des Aporetischen und der »letzten Enttäuschung«3 hält den Philologen nicht davon ab, das Wort zu lieben, es bestätigt nur seine Hingabe. Am Anfang der Philologie steht indes weniger die Liebe zum Wort. In ihrer Geburtsstunde ist sie nicht bei sich, sich selbst fremd, außer sich, eine disziplinäre Aberration. Es ist die Liebe zum Wissen und zur Wahrheit, zu einem bestimmten Wissen und einer bestimmten Wahrheit, der sich die ersten historisch fassbaren

1 Schwindt: Monumente machen. S. 85. 2 Hierzu Assmann: Kulturen der Identität, Kulturen der Verwandlung. S. 25-45. Ebenso Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. S. 9-31. 3 Geisenhanslüke: Das Ideal der letzten Enttäuschung. S. 77-89.

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γραμματικοι, i.e. »Philologen« oder »Literaturwissenschaftler«,4 verschrieben haben. Und es ist die kundige Liebe zu Homer, die noch Jahrhunderte nach der ersten philosophisch motivierten Homerkritik selbst auf der Seite der Homeromastigen, der »Peitscher« oder »Geißeln« Homers derart mesmerisierend wirkte, dass z.B. Platon in der Πολιτεία unumwunden seine »Liebe und Ehrfurcht«: φιλία καὶ αἰδὼς5 für den Ependichter bekannte, wenngleich dieser Eros ihn nicht davon abbringen konnte, Homer zusammen mit den anderen μιμητικοί6 , den »nachahmenden Dichtern«, seien sie noch so ἡδύν7 : »gefällig« bzw. »anmutig« aus moralischen wie ontologischen Gründen, i.e. wegen des depravierenden Effekts seiner Literatur und des phainomenal mimetischen, daher zweifach wahrheitsabgewandten Charakters der Literatur des Idealstaates zu verweisen.8 Dass noch im ersten nachchristlichen Jahrhundert ein Text mit dem Titel Ὁμηρικὰ Προβλήματα (Homerische Probleme) von einem Rhetor namens Heraklit verfasst wurde, dokumentiert, wie beharrlich und unnachgiebig die moralischen und erkenntnistheoretischen Nachstellungen und Diskreditierungen der Philosophen über die Jahrhunderte hinweg waren. Und wie unerschütterlich zugleich die Attraktion und Strahlkraft Homers wirkte, dass immer noch und immer weitere, immer neue hermeneutische Investitionen getätigt wurden, um ihn, den Anfang der europäischen Überlieferung – und Gleiches gilt nicht minder für Hesiod –, von dem Vorwurf der Lügenhaftigkeit und insbesondere von dem der Amoralität, der ασέβεια zu exkulpieren.9 Getätigt wurden diese Investitionen von Philologen, die darüber letztlich ihr Geschäft vergaßen, als »Narren am Tisch der Philosophen«10 feinspürend und diligent, vor allen Dingen hellhörig und misstrauisch über deren Logos zu wachen. Da Homer, so lautet die für seine Apologeten unverhandelbare Prämisse, als literarische Autorität nur Gutes und Frommes gelehrt haben kann, muss das, was an Unschicklichem, Unfrommem und Schlechtem bei ihm vorgefunden wird, wie etwa das theologische Skandalon seines menschlichen, allzumenschlichen, da betrügerischen, raubenden und vergewaltigenden Götterpantheons, allegorisch interpretiert werden: Μέγας απ’ ουρανοῦ καὶ χαλεπὸ ς αγὼ ν 4 Zur Bedeutung von γραμματικός vgl. Liddell/Scott: A Greek-English Lexicon: »II. Subst. […] 2. one who occupies himself with literary texts, grammarian, critic […] 3. concerned with textual criticism« (S. 359). 5 Platon: Πολιτεία. 595b. Verwendet wird die Ausgabe von Burnet. 6 Ebd. 7 Ebd. 398a. 8 Zu Platons kritischer Auseinandersetzung mit der Dichtung vgl. exemplarisch Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie. S. 71-90. 9 Zur antiken Allegorese vgl. z.B. Bernard: Spätantike Dichtungstheorien. Richardson: La lecture dʼHomère par les Anciens. S. 293-327. Rocca-Serra: Naissance de lʼexégèse allégorique et naissance de la raison. S. 77-82. Wehrli: Zur Geschichte der allegorischen Deutung Homers im Altertum. 10 Schwindt: Monumente machen. S. 85.

Das Pharmakon der Allegorese oder: Grundlagen einer literalen Hermeneutik

Ομή ρῳ καταγγέλλεται περὶ τῆ ς εις τὸ θεῖον ολιγωρίας· πά ντα γὰ ρ ησέβησεν, ει μηδὲν ηλληγό ρησεν11 : »Dem Homer«, kommentiert Heraklit, »wird vom Himmel ein großer und schlimmer Vorwurf angekündigt wegen seiner Verachtung für die Götter. Wenn er nichts allegorisch deuten würde, wäre er ganz und gar frevlerisch.« Heraklits Verteidigung exponiert ihr hermeneutisch‐apologetisches Stratagem, die λύ σις – ursprünglich ein Terminus aus dem Pfandrecht –,12 programmatisch im Exordium: ἠλληγόρησεν. Die λύσις rekurriert also, um das Verbum im Indikativ Aorist zu einem Substantiv zu transformieren, auf die ἀλληγορία. Der heute kurrente Begriff der Allegorie geht auf die rhetorische Tradition des Hellenismus und der Nachklassik zurück. Kanonisch ist Quintilians Bestimmung als Expansionsform der Metapher, als »fortgesetzte Metapher« geworden oder, wie es in der Institutio oratoria heißt, als continua μεταφορά: quem ad modum ἀλληγορίαν facit continua μεταφορά13 : »wie deshalb eine Folge von Metaphern eine Allegorie bildet«. Die αλληγορία bezeichnet in diesem Kontext einen Spezialfall übertragenen Sprechens, eine Trope unter vielen, eine, die gleichwertig neben der Ironie, der Metapher, der Metonymie, der Personifikation, des Symbols oder der Synekdoche etc. rangiert. Doch ist diese Fixierung und mit ihr zugleich die Diskursbindung an die Rhetorik lediglich die Endstation, das semantische Zerfallsprodukt oder positiv gewendet: Differenzierungsresultat der Begriffsgeschichte. Vor dem Verglimmen zu einem Tropos stand die Allegorie in dem exklusiven Recht, das ihr von ihrem etymologischen Substrat verbrieft wird: άλλος αγορεύ ειν: »anders reden«. Der zweite Wortbestandteil, das αγορεύ ειν, macht überdies deutlich, dass sich die αλληγορία genuin an eine Öffentlichkeit adressiert, an eine – und damit ist sie unverkennbar rhetorisch kodiert – breite Rezeption in der αγορά , der »Versammlung« der Bürger.14 Als Allodiktion umfasst der Signifikant ἀλληγορία das gesamte System indirekter Deixis und rhetorischer Repräsentation, sämtliche Stellvertretungs- und Übertragungsoperationen in der und durch die Sprache: einerseits solitäre Tropen, wie Heraklit festhält: ο γὰ ρ άλλα μὲν αγορεύ ων τρό πος, έτερα δὲ ῶν λέγει σημαίνων, επωνύ μως αλληγορία καλεῖται15 : »Denn die Redefigur, die zwar etwas verkündet, 11 Heraklit: Ομηρικὰ Προβλήματα. 1,1. Das Original folgt der Ausgabe von Buffière, die Übersetzung stammt von Emmrich. Herzlich gedankt sei Eva Marie Noller für die sorgfältige Überprüfung meiner Übersetzungen. 12 Zur Bedeutung von λύσις vgl. Liddell/Scott: A Greek-English Lexicon: »loosing, releasing, ransoming […] 3. deliverance from guilt by expiatory rites […] 4. redemption of mortgage or pledge […] b. release, discharge from a financial obligation […] II. loosing, parting […] 2. emptying, evacuation […] 4. as a technical term, a. solution of a difficulty« (S. 1066). 13 Quintilian: Institutio oratoria. 9,2,46. Original und Übersetzung folgen der Ausgabe von Rahn. 14 Zur Bedeutung von ἀγορεύειν vgl. Liddell/Scott: A Greek-English Lexicon: »speak in the assembly, harangue […] 2. generally, speak, say […] 3. proclaim« (S. 13f.). Zu ἀγορά ebd.: »assembly, esp. of the People, opp. the Council of Chiefs […] II. place of assembly […] III. business of the ἀγορά: 1. public speaking, gift of speaking« (S. 13). 15 Heraklit: Ὁμηρικὰ Προβλήματα. 5,2.

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aber etwas anderes bedeutet, als sie sagt, wird zurecht Allegorie genannt«. Andererseits subsumiert der Begriff αλληγορία auch Episoden und Ekphraseis im Rahmen textueller Gebilde oder, makrostrukturell betrachtet, ganze Texte und Textsorten, die nicht selten getragen sind von einem didaktischen Konatus, wie etwa die äsopische Fabel, Parabeln oder, in christlicher Zeit, auf Personifikation beruhende narrative Großformate wie Prudentius’ Psychomachia. In ihrer originären Bedeutung weist die αλληγορία zudem über den Bereich der Produktionsästhetik, i.e. über den rhetorischen und gattungspoetischen Sektor hinaus und bezeichnet eine Methode der Auslegung oder Ausfaltung, der hermeneutischen Umkehrung produktionsästhetischer Prozesse,16 die konventionellerweise mit dem nicht‐antiken Begriff der Allegorese bezeichnet wird. Noch in der Moderne, z.B. von Schleiermacher in Hermeneutik und Kritik, wird die Hermeneutik als Reversion rhetorischer elocutio definiert.17 Die allegorischen bzw. allegoretischen Grabungsarbeiten basieren auf dem Axiom, dass neben/hinter/unter dem sensus literalis, dem literalen Wortkörper ein verborgener, verhüllter und arkaner, nicht unmittelbar transparenter, spiritueller Sinn existiert, den es zu dechiffrieren gilt, etwa durch die Rekonstruktion von etymologischen, strukturellen oder motivischen Analogie- und Ähnlichkeitsverhältnissen. Um der Begriffs- und Ideengeschichte der Allegorie eine weitere Facette beizubringen, sei schließlich noch erwähnt, dass der Signifikant αλληγορία, gleichgültig, ob produktionsästhetisch oder exegetisch verstanden, eine relativ späte Prägung ist: οὺς ταῖς πά λαι μὲν υπονοίαις αλληγορίαις δὲ νῦ ν λεγομέναις18 : »Was heute ἀλληγορία heißt«, konstatiert Plutarch in seinen Moralia zu Beginn der nachchristlichen Zeitrechnung, »haben die Früheren als υπό νοια bezeichnet«. υπό νοια ist eine Derivation, gebildet aus dem Präfix υπό -, das »unter« und gerade in Komposita »heimlich« meint, sowie dem Substantiv νό ος, das das semantische Spektrum von »Einsicht«, »Verstand«, »Bedeutung«, »Sinn«, aber auch »Seele« umfasst.19 Die υπό νοια ist folglich die »heimlich« »unter« dem Wortkorpus liegende »Vernunft«, die erst aufzuspürende und einzufangende »Bedeutung« 16 Vgl. hierzu Plutarch: De Iside et Osiride. 303D. 17 Vgl. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik: »Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, dass jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewusstsein kommen muss, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen.« (S. 76). 18 Plutarch: Moralia. 19E. Das Original folgt der Ausgabe von Babbitt, die Übersetzung stammt von Emmrich. 19 Zur Bedeutung von ὑπόνοια vgl. Liddell/Scott: A Greek-English Lexicon: »suspicion, conjecture, guess […] II. the real meaning which lies at the bottom of a thing, deeper sense […] esp. covert meaning (such as is conveyed by myths and allegories)« (S. 1890). Vgl. ferner ebd. das semantische Spektrum des Präfixes ὑπό-: »F. IN COMPOSITION: I. under, as well of rest as of motion […] 2. of the casing or covering of one thing with another […] 3. of the agency or influence under which a thing is done, to express subjection or subordination […] III. underhand, secretly« (S. 1875). Zudem ebd. die Bedeutung von νόος: »1. mind, as employed in perceiving and thinking, sense, wit […] 3. mind,

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oder »Seele« des Literalen. Ferner zeigt sie, dass das Hyperonym für die Andersrede selbst auf eine solche angewiesen, selbst eine solche ist. Der Überlieferung und der Quellenlage zufolge steht am Anfang der professionalisierten hyponoetischen, damit am Anfang der philologisch‐hermeneutischen Betrachtung von Literatur der als γραμματικό ς deklarierte Theagenes von Rhegion aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Er darf als der Erste gelten, der das Verstehen literarischer Texte zum Thema, zum Problem machte; der darauf reflektierte, dass sich Literatur dem willfährigen, raschen, allzu einfachen Zugriff verweigert; der sich auf die Entzugs- und Abschottungsdynamiken von Literatur besann, darauf sann, dass das Verstehen von Literatur nicht selbstverständlich, keine banale Alltagsangelegenheit, kein bloßes Nebenbei ist. »Am geschichtlichen Anfang der Dinge«, statuiert Foucault in seinem Essay Nietzsche, la généalogie, lʼhistoire, »stößt man nicht auf die noch unversehrte Identität ihres Ursprungs, sondern auf Unstimmigkeit und Unterschiedlichkeit«20 : »Ce qu’on trouve, au commencement historique des choses, ce n’est pas l’identité encore préservée de leur origine – c’est la discorde des autres choses, c’est le disparate.«21 Man stößt auf »Invasionen, Kämpfe, Raubzüge, Verstellungen und Listen«22 : »invasions, luttes, rapines, déguisements, ruses«23 . Auch der Entstehungsherd der Philologie ist Kampf, Friktion, Spannung, Konflikt, im konkreten Fall: ein Agon um das rechte, angemessene Verständnis von Homer. Die sog. Vorsokratiker, sowohl die ionischen als auch die süditalischen, waren notorische Homeromastigen und nicht weniger solche des Hesiod. So beanstandet etwa Xenophanes von Kolophon, in Kleinasien geboren, späterhin in der Magna Graecia, also Süditalien tätig, wo auch Rhegion, das heutige Reggio Calabria, liegt, und Zeitgenosse des Theagenes, den theologisch kaum gefälligen Anthropomorphismus des homerischen und hesiodischen Götterapparates: πά ντα θεοῖσ᾽ ανέθηκαν Όμηρό ς θ᾽ Ησίοδό ς τε, όσσα παρ᾽ ανθρώ ποισιν ονείδεα καὶ ψό γος εστίν, κλέππειν μοιχεύ ειν τε καὶ αλλή λους απατεύ ειν24 : »Homer und Hesiod haben die Götter mit allem belastet, was bei Menschen übel genommen und getadelt wird: stehlen und ehebrechen und einander betrügen«. An dem stereotypen ασέβεια-Argument der Vorsokratiker hat sich die Hermeneutik literarischer Texte, die der hyponoetischen, i.e. übertragenen Bedeutung nachspürt im Kampf um die Deutungsmacht entzündet – ein interpretatorisches Verfahren, das noch heute in der Literaturwissenschaft, wenngleich nicht mehr in der allegoretischen

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more widely, as employed in feeling, deciding etc., heart […] 4. mind, resolve, purpose […] II. act of mind, thought […] III. sense, meaning of a word« (S. 1180f.). Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. S. 169. Ders.: Nietzsche, la généalogie, l’histoire. S. 138. Ders.: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. S. 166. Ders.: Nietzsche, la généalogie, lʼhistoire. S. 136. Xenophanes: Fragmente. DK21 B11. Original und Übersetzung folgen der Ausgabe von Mansfeld.

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Qualität, zum Einsatz gelangt. Nicht ein einziges Wort von Theagenes ist auf uns gekommen, greifbar wird er lediglich sekundär und indirekt bei Porphyrios, zudem in der Suda, dem umfangreichsten erhaltenen byzantischen Lexikon, sowie bei Tatian. Porphyrios referiert im 3. Jahrhundert nach Christus Theagenesʼ allegorische (Er)Läuterung der Theomachie als Widerstreit der Elemente: τοῦ ἀσυμφόρου μὲν ὁ περὶ θεῶν ἔχεται καθόλου λόγος, ὁμοίως δὲ καὶ τοῦ ἀπρεποῦς· οὐ γὰρ πρέποντας τοὺς ὑπὲρ τῶν θεῶν μύθους φησίν. πρὸς δὲ τὴν τοιαύτην κατηγορίαν οἱ μὲν ἀπὸ τῆς λέξεως ἐπιλύουσιν, ἀλληγορίαι πάντα εἰρῆσθαι νομίζοντες ὑπὲρ τῆς τῶν στοιχείων φύσεως, οἷον ἐναντιώσεσι τῶν θεῶν. καὶ γάρ φασι τὸ ξηρὸν τῶι ὑγρῶι καὶ τὸ θερμὸν τῶι ψυχρῶι μάχεσθαι καὶ τὸ κοῦφον τῶι βαρεῖ. ἔτι δὲ τὸ μὲν ὕδωρ σβεστικὸν εἶναι τοῦ πυρός, τὸ δὲ πῦρ ξηραντικὸν τοῦ ὕδατος. ὁμοίως δὲ καὶ πᾶσι τοῖς στοιχείοις, ἐξ ὧν τὸ πᾶν συνέστηκεν, ὑπάρχειν ἐναντίωσιν, καὶ κατὰ μέρος μὲν ἐπιδέχεσθαι φθορὰν ἅπαξ, τὰ πάντα δὲ μένειν αἰωνίως. […] οὗτος μὲν οὖν τρόπος ἀπολογίας ἀρχαῖος ὢν πάνυ καὶ ἀπὸ Θεαγένους τοῦ Ρηγίνου, ὃς πρῶτος ἔγραψε περὶ Ομήρου, τοιοῦτός ἐστιν ἀπὸ τῆς λέξεως.25   [Homers] Berichte über die Götter hielt man allgemein für nutzlos und unschicklich, da er Geschichten über sie erzählt, die nicht ziemlich sind. Gegen diesen Vorwurf haben einige eine Lösung, die die Sprache zu bieten hat, angewandt, indem sie davon ausgingen, dass alles, was gesagt wird, Allegorien sind über die Natur der Elemente wie auch andererseits über die der Götter. So behaupten sie, dass das Trockene mit dem Feuchten kämpft, das Heiße mit dem Kalten sowie das Leichte mit dem Schweren; weiterhin, dass Wasser Feuer löscht, wohingegen Feuer das Wasser verdampfen lässt; und so geht es mit allen Elementen, aus denen das All zusammengesetzt ist: Sie haben ein Gegensätzliches, und obwohl sie ein für allemal im einzelnen zerstört würden, setze sich das Ganze ewig fort. […] Diese Art der Verteidigung ist sehr alt und stammt von Theagenes Rhegion, der der Erste war, der über Homer geschrieben hat, das bedeutet, sie geht von der Sprache aus. Die Theomachie im 20. Gesang der Ilias (vgl. 20,23-75), ein götterunwürdiges Verhalten, interpretiert Theagenes, Porphyrios zufolge, als eine Allodiktion, als einen epischen Diskurs der Uneigentlichkeit, und verteidigt damit Homer gegen die Kritiker der eigenen, i.e. des Theagenes’ Zeit, nämlich gegen die Vorsokratiker. Doch es ist eine Apologie Homers gegen die Vorsokratiker, die selbst in zweierlei Hinsicht vorsokratisch belastet ist; die sich in ihrem philologischen Ethos selbst kompromittiert, indem sie philosophische Prämissen und Vorgaben in die Literatur bzw. Literaturanalyse aufnimmt. Zum einen reproduziert Theagenes auf inhaltlicher Ebene 25 Porphyrios: Quaestiones Homericae. 1,240,14-241,12. Das Original folgt der Ausgabe von Sodano, die Übersetzung stammt von Emmrich.

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vorsokratisch kosmologisch‐kosmogenetische Denkmuster und Routinen, wenn er die Theomachie hyponoetisch als Kampf der Elemente und deren Eigenschaften auslegt. Heikler und verfänglicher, da in die genetische Signatur der literaturwissenschaftlichen Interpretation eindringend, ist der zweite Aspekt, nämlich die methodologische Homologie: Das Doublieren von Sinn in der υπό νοια, das Schisma von literalem und übertragenem Sinn ist ein hermeneutischer Abkömmling des originär philosophischen Doublierens von Welt, eine textwissenschaftliche Kopie der metaphysischen Grundannahme von der Spaltung der Welt in Schein und Sein. Über die Vorsokratik notiert Andreas Graeser: Zum anderen wird begreiflich, dass die Kopplung der Woher-Frage mit der WarumFrage und die entsprechende Suche nach Dingen im Hintergrund der zu erklärenden Welt der Erfahrung in nuce jene Unterscheidung heraufbeschwört, die in der Folgezeit unter dem Titel »Erscheinung und Wirklichkeit« berühmt werden sollte. […] Jedenfalls thematisiert die vorsokratische Ursachenforschung eine Unterscheidung zwischen einer vordergründigen […] Wirklichkeit einerseits und einer eher hintergründigen, sozusagen begründenden Wirklichkeit andererseits.26 In ihrer Geburtsstunde im 6. Jahrhundert vor Christus ist die hermeneutische Allegorie bzw. Allegorese mit der Philosophie verschaltet, nicht mit der Rhetorik wie z.B. im Hellenismus und der Nachklassik. Die Auslegung von Literatur, sofern sie sich an der binären Opposition von uneigentlicher, vordergründiger und eigentlicher, übertragener, hintergründiger Bedeutung ausrichtet, ist philosophieverfallen, nur eine textontologische Fortführung, eine Kolonie der philosophischen Ontologie. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Literatur dadurch nicht sich selbst unähnlich und fremd wird; ob sie, konfrontiert mit Kategorien und Leitdifferenzen, die nicht ihre eigenen sind, nicht Gefahr läuft, entmündigt und heteronom zu werden. In einem Interview mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta über eine »stratégie générale de la déconstruction«27 hebt Derrida hervor, dass »man es bei einem klassischen philosophischen Gegensatz nicht mit einer friedlichen Koexistenz eines Vis-à-Vis, sondern mit einer gewaltsamen Hierarchie zu tun hat. Einer der beiden Ausdrücke beherrscht (axiologisch, logisch usw.) den anderen, steht über ihm«28 : »dans une opposition philosophique classique, nous n’avons pas affaire à la coexistence pacifique d’un vis-à-vis, mais à une hiérarchie violente. Un des deux termes commande l’autre (axiologiquement, logiquement etc.), occupe la hauteur«29 . Die literaturwissenschaftliche Hyponoetik imitiert nicht nur getreulich den binären Metacode der traditionellen abendländischen Episteme, sie 26 27 28 29

Graeser: Die Vorsokratiker. S. 16. Derrida: Positions. S. 56. Ders.: Positionen. S. 88. Ebd. S. 56f.

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stellt darüber hinaus ihre aus der Philosophie übernommenen Dichotomien in ein Verhältnis von Superiorität und Minderwertigkeit und priorisiert den figurativen, eigentlichen Sinn, das νοού μενον vor dem λεγό μενον, dem literalen, uneigentlichen Sinn. Dabei moduliert sie, die die Andersrede zu diskursivieren trachtet, ihre binär‐hierarchisch arrangierten Terme selbst allegorisch. Sie redet anders, indem sie im Modus der philosophisch standardisierten, wertenden Unterscheidungen von sinnlich‐materieller und intelligibler Wahrnehmung, von εἶδος bzw. Simulacrum und Idee, von Körper und Geist redet. Insbesondere um den letztgenannten Komplex kondensiert die allegorische Redeweise über die Allegorie: Philon von Alexandrien etwa bezeichnet in De Abrahamo den Literalsinn als σῶμα und den übertragenen als ψυχή der Schrift.30 Origines, der Begründer der christlichen Allegorese, spricht in Περὶ Αρχῶν in Anlehnung an die Heilige Schrift vom »Fleisch der Schrift«: σαρκὸς τῆς γραφῆς und ihrer ψυχή,31 was Rufinus, der Origines’ Gründungsdokument der Bibelallegorese in die lateinische Sprache übersetzt hat, mit corpore scripturarum und scripturae anima wiedergibt,32 die Opposition von corpus und anima durch die chiastische Wortstellung akzentuierend. Am allodiktorischsten paraphrasiert jedoch die Bibel selbst die Korporalität und Theopneustie der Schrift: Der Buchstabe ist lediglich ein – in der Lutherübersetzung – »zerbrechliches« und »irdenes« »Gefäß« (vgl. 2. Kor. 4,6-10), wohingegen auf der Ebene des Spiritualsinns der »verborgene Schatz« (ebd.) oder »die ganze Herrlichkeit des Königs« (Ps. 44) des hyponoetischen Exegeten harren. Ein weiteres theoriekonstitutives Gegensatzpaar ist das von γρά μμα und πνεῦμα, von »Buchstabe« und »Geist«: »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig«, so das paulinische Diktum im 2. Korintherbrief (3,6). Im Protestantismus gleitet die Polarität von »Buchstabe« und »Geist« von der Hermeneutik in Richtung der Differenzierung von Judentum und Christentum, Altem und Neuem Testament. »Hier haben wir also«, stellt Simon Gerber in seiner Studie Geist, Buchstabe und Buchstäblichkeit – Schleiermacher und seine Vorgänger fest, »nicht mehr den Gegensatz von γράμμα und πνεῦμα, sondern von γράμμα und εὐαγγέλιον«33 , i.e. der Heilsbotschaft Christi. Maßgeblich zu der testamentarischen Erweiterung von Paulus’ Sentenz beigetragen hat Luther. Dass aus der Erweiterung eine Verschiebung und darüber hinaus eine Verkomplizierung des topologischen Binarismus resultiert, zeigt folgender Umstand: Zwar gerät bei Luther einerseits die γρά μμα zu einer Diskriminierungsformel für das Alte Testament und das Judentum, wohingegen er das Neue Testament und das Christentum pneumatisch nobilitiert. Andererseits aber bezeichnet er die hermeneutischen Technologien von »Allegoriis, Tropologiis, Analogiis«, mithin die althergebrachten 30 31 32 33

Vgl. Philon von Alexandrien: De Abrahamo. 93. Verwendet wird die Ausgabe von Gorez. Origines: Περὶ Αρχῶν. 312. Verwendet wird die Ausgabe von Görgemanns und Karpp. Ebd. Gerber: Geist, Buchstabe und Buchstäblichkeit – Schleiermacher und seine Vorgänger. S. 117.

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Methoden zur Ent- und Aufdeckung des Schriftpneumas, in einer Tischrede aus dem Jahr 1540 als »eitel Kunst« und »lauter Dreck«, mit dem er die eigene Maxime der sola scriptura34 kontrastiert: »Als ich jung war, da war ich gelehrt und sonderlich, ehe ich in die Theologie kam, da ging ich mit Allegoriis, Tropologiis, Analogiis um, und machte eitel Kunst. Aber ich weiß, dass es ein lauter Dreck ist.«35 Doch so einfach verhält es sich wiederum auch nicht. Worum es Luther im Kern geht, ist nicht die prinzipielle Verwerfung der allegorischen Lesart und, komplementär hierzu, nicht die Verabsolutierung des genauen Wortlautes der Heiligen Schrift. Ihm geht es vielmehr um die Abkehr von einer dogmatischen, i.e. institutionell organisierten, vermittelten und autorisierten Allegorese. Den allegorischen Sinn der Schrift soll die Schrift selbst verbürgen und zwar nur die Schrift, allein vor ihr soll er bestehen und nicht vor der Dogmatik der Kirche.

Allegorese als (Anti) φάρμακον Wenn der »Körper« der Schrift nur ein rüstiger, gesunder wäre! Doch ist der sensus literalis nicht nur »Körper«, der aufgrund seiner natürlichen Hinfälligkeit und Ephemeralität ohnehin immer schon der »Seele«, dem unzerstörbaren Pneuma heillos unterlegen ist. Er ist zudem ein siecher, kranker und verfallener Körper, der allerdings, der γραμματικοι sei Dank, auf seine Rekonvaleszenz hoffen darf. 34 Vgl. Luther: Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum: Nemo ergo mihi opponat Papae aut sancti cuiusvis autoritatem, nisi scripturis munitam. Nec statim vociferetur, me unum velle omnibus doctiorem videri et scripturas proprio spiritu intelligere. Haec enim non sunt vociferationes quaerentium dei veritatem sed suam vanitatem, aut eum afferat autorem, quem constet nunquam errasse, scripturas torsisse, aliis et sibi pugnasse, dubitasse. Nolo omnium doctior iactari, sed solam scripturam regnare, nec eam meo spiritu aut ullorum hominum interpretari, sed per seipsam et suo spiritu intelligi volo. (S. 98f., die Hervorhebungen durch Fettdruck wurden von Emmrich vorgenommen): »Niemand soll mir also die Autorität des Papstes oder irgendeines Heiligen entgegenhalten, es sei denn, sie ist durch die Schriften untermauert. Und er soll auch nicht gleich schreien, ich als Einziger wolle allen gegenüber gelehrter erscheinen und die Schriften nach meinem eigenen Geist verstehen. Denn das sind nicht die lauten Stimmen derer, welche die Wahrheit Gottes suchen, sondern ihre eigene Eitelkeit – oder er soll den Autoren anführen, von dem feststeht, dass er niemals geirrt, die Schriften verdreht, anderen und sich selbst widersprochen und gezweifelt hat. Ich will nämlich nicht gelehrter erscheinen [als alle anderen], sondern will, dass allein die Schrift regiert und diese nicht nach meinem eigenen Geist oder dem [Geist] irgendwelcher Menschen ausgelegt, sondern durch sich selbst und ihren eigenen Geist verstanden wird.« (Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos X. verdammt worden sind. S. 83/85). Das Original folgt der Weimarer Ausgabe, die Übersetzung stammt von Rolf. Mit der vanitas, i.e. der »Hoffart«, der »Eitel-« und »Überheblichkeit«, greift Luther zu nichts Geringerem als zu einer der sieben Todsünden, um die antiscripturale Auslegungspraxis zu stigmatisieren. 35 Luther: Tischreden. S. 34.

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Das antike Nachdenken über die Hermeneutik diagnostiziert der Schriftsoma von καχεξία, νό σος und σαθρό της infiziert zu sein, von »Schwäche«, »Siechtum«, »Krankheit« und »Seuche«,36 und zugleich versteht es sich auf deren Therapie. Plutarch etwa empfiehlt in seinen Moralia die »wahren Meinungen«, die δόξαι ἀλήθεῖς37 über die Götter der Sage als »heilsam«: υγιαίνουσαι38 . Die δόξαι ἀλήθεῖς sind, will man der Etymologie der privativen Wortbildung von ἀλήθεια folgen, solche, die das Verborgene,39 i.e. den übertragenen, geheimen, da hyponoetischen Sinn aufdecken, Unverborgenheit und somit Verstehen ermöglichen. Heraklit, der der Ὁμηρικὰ Προβλήματα, verschreibt dem invaliden Schriftkörper ein αντιφά ρμακον: Ταύ της τοίνυν τῆ ς ασεβείας έν εστιν αντιφά ρμακον, εὰ ν επιδείξωμεν ηλληγορημένον τὸ ν μῦ θον40 : »Um den Vorwurf der Gottlosigkeit abzuwenden, gibt es nur ein Heilmittel, nämlich zu zeigen, dass die Erzählung allegorisch ist.« Das verordnete αντιφά ρμακον ist semantisch unterschwellig, subkutan eine homöopathische Kur, im schlimmsten Fall eine »Vergiftung«, denn das Antidot der αλληγορία bzw. des ηλληγορημένον bedeutet, wenn es mit der Phonem- bzw. Graphemkette φά ρμακον signifiziert wird, zugleich »Gift«. φά ρμακον ist ein antithetischer, kontradiktorischer Begriff, der sowohl »Gift« als auch dessen Gegenteil: »Heilmittel«, »Arznei« bezeichnet.41 Und es ist ebenso in seiner Negierung durch das Präfix αντι- sowohl »Heilmittel« als auch ein »Toxikum«, bewegt sich semantisch nicht vom Fleck, stagniert in lexikalischer Redundanz: Heraklits αντιφά ρμακον ist ein »Gegengift«, also ein »Heilmittel«, sowie dessen Antonym, ein »Gegen-Heilmittel«, daher ein »Gift«. Auf einen weiteren Text- bzw. Literaturmediziner namens Heraklit, der weder mit dem Vorsokratiker noch wahrscheinlich mit dem der Ὁμηρικὰ Προβλήματα identisch ist, weist Eustathius, ein byzantinischer Gelehrter und Geistlicher aus dem 12. Jahrhundert in seinem Kommentar zu Homers Odyssee hin: Ἐνταῦθα δὲ, προσθετέον εἰπεῖν, ὅτι καθάπερ ἐχεῖ τὸ τοῦ μύθου καχεκτοῦν εὗρέ τι θεράπευμα, οὕτω καὶ τὰ ἐκεῖσε παραπεπηγότα τέρατα τὸ πολυκέφαλον τὸ μυριόφθαλμον καὶ τὸ τῶν ἑκατογχείρων, ἔχουσι καὶ αὐτὰ τοὺς θεραπεύοντας. 36 Zur Bedeutung von καχεξία vgl. Liddell/Scott: A Greek-English Lexicon: »bad habit of body« (S. 933). Ferner zu νόσος ebd.: »sickness, disease, plague« (S. 1181). Zu σαθρότης ebd.: »unsoundness, weakness« (S. 1580). 37 Plutarch: Moralia. 20F. 38 Ebd. 39 Vgl. hierzu λῆθος, das Partizip Perfekt Passiv von λανθάνω. Zur Bedeutung von λανθάνω vgl. Liddell/Scott: A Greek-English Lexicon: »1. escape […] 2. […] unawares, without being observed […] B. causal, make one forget a thing […] C. Med. and Pass., let a thing escape one, forget« (S. 1917). 40 Heraklit: Ὁμηρικὰ Προβλήματα. 22,1. 41 Zum semantischen Spektrum von φάρμακον vgl. Liddell/Scott: A Greek-English Lexicon: »drug, whether healing or noxious […] 2. healing remedy, medicine […] 4. poison […] II. generally, remedy, cure« (S. 1917). Hierzu auch Derrida: Positionen. S. 90.

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ὁποῖοί τινες, ὁ Παλαίφατος. ὁ Ἡράκλειτος οὐχὶ ὁ σκοτεινὸς ἀλλ᾽ ἕτερός τις ὁ τοῖς ἀπίστοις προθέμενος ἐμφῆναι πίστιν.42   An dieser Stelle sollte man hinzufügen, dass, genauso wie die Krankheit des Mythos dort eine Therapie gefunden hat, auch die Monster – mit vielen Köpfen, zahllosen Augen und hundert Armen – ihre Ärzte hatten. Da gab es zum Beispiel Palaiphatos und Heraklit, nicht der ›Dunkle‹ [i.e. der vorsokratische Philosoph], sondern ein anderer, der das Wahrscheinliche in unglaublichen Dingen aufdecken wollte. Bei besagtem Heraklit selbst findet sich in Περὶ Ἀπὶστων (Über unglaubliche Geschichten) ein Epigraph, in dem die Zuversicht zum Ausdruck gelangt, dass Mythen bzw. mythologische Fabelwesen »therapiert« werden können. Und sie müssen es sogar, v.a. solche, die »gegen die Natur« verstoßen: ανασκευή ὴ θεραπειά μυθων τῶν παρὰ φύ σιν παραδεδομένων43 : »Wiederlegung und Heilung der überlieferten Mythen, die der Natur widersprechen«, lautet das paratextuelle Motto. Die Motivation für die Allegorese ist bei Palaiphatos und Heraklit längst nicht mehr nur die Apologie Homers. Der Mythos in genere ist unter Beschuss geraten, nicht nur aus moralisch‐theologischen Gründen, sondern gleichfalls vor dem Hintergrund einer kulturgeschichtlichen Progression »vom Mythos zum Logos«44 . Gerade solche Mythen erregen Anstoß, die, wie das Epigraph proklamiert, »gegen die Natur«: παρὰ φύσιν sind, die biologische Adynata zum Inhalt haben oder, um das recht allgemein gehaltene Verdikt gegen die Paraphysis mit Eustathius zu spezifizieren, über τέρατα, i.e. über »Monster« berichten.45 Biologisch skandalös sind Monster, da sie die vermeintlich stabilen Distinktionen, die Arten- und Bereichsgrenzen revozieren;46 da sie paradoxe »Figuren des Dritten«47 sind, deren Paradoxie weder reduziert noch durch eine dialektische Harmonisierungs- bzw. Neutralisierungslogik aufgehoben 42 Eustathius: Odyssee. 4,450. Das Original folgt der Ausgabe von Stallbaum, die Übersetzung stammt von Emmrich. 43 Heraklit: Περὶ Απὶστων. Das Original folgt der Ausgabe von Stern, die Übersetzung stammt von Emmrich. 44 Nestle: Vom Mythos zum Logos. In Nestles strikter Auslegung gehört diese kulturgeschichtliche Diagnose sicherlich selbst der (wissenschaftlichen) Mythenbildung an. 45 Vgl. Eustathius: Odyssee. 4,450. Zur Bedeutung von τέρας vgl. Liddell/Scott: A English-Greek Lexicon: »sign, wonder, marvel, portent […] II. in concrete sense, monster […] monstrous birth, monstrosity« (S. 1776). 46 Vgl. z.B. die Basisdefinition von Brittnacher: »Eine Gemeinsamkeit der vielen als ›monströs‹ apostrophierten Wesen besteht in ihrer exzessiven Abweichung von der Norm physischer Integrität. Im körperlichen Extremismus des Monstrums verschränken sich die Sphären des Menschlichen und des Tierischen und wird die Idee eines in Arten geordneten Tierreichs revoziert.« (Ästhetik des Horrors. S. 183f.). 47 Eßlinger/Schlechtriemen/Schweitzer/Zons (Hg.): Die Figur des Dritten.

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werden kann.48 Monster sind Figurationen der Liminalität. Victor Turner selbst, der neben Arnold van Gennep das in der Ethnologie wurzelnde Konzept der Liminalität promoviert hat, zählt in Liminality and Communitas »monsters«49 zu den Paradefällen des Liminalen. Mit der Allegorese werden Monster aber mitnichten »therapiert«, das ist allenfalls ein euthanasischer Zynismus. Mit der monsterphoben Allegorese verkehrt sich Paulus’ Losung vom tötenden Buchstaben und verlebendigenden Geist: Wird der Buchstabe, die Buchstäblichkeit des Monsters dementiert, wird ihm das Leben entzogen. Es ist der Geist, der tötet, der Buchstabe hingegen hält die teratologischen Kreaturen am Leben. Der figurative Sinn ist folglich ein apotropäisches Kalkül gegen das Trauma der Theorie und die epistemische Verunsicherung durch das Monströse.

Die Philologie der Medusa Im letzten Abschnitt soll mit der Schlangenfrau Medusa ein einschlägiges Beispiel der hyponoetisch‐exegetischen Abwehr des Monströsen diskutiert werden. Medusa entspricht nicht nur der Definition des Monsters als einer Bastardisierung von Körperfragmenten inkommensurabler Ordnungen. Sie zeigt fernerhin, dass das Monströse eine Inskriptionsfläche für diskursive Verhandlungen ist,50 in ihrem Fall handelt es sich um geschlechterpolitische Turbulenzen und Verwerfungen, die auf ihrem Rücken bzw. ihrem Haupt ausgetragen werden. Medusa erscheint auch deswegen als Exempel besonders günstig, da die Mythenrezeption in einer frappierend hohen Frequenz auf sie zurückgreift, darüber übergriffig wird und ihr allegorisch mit der Harpe der Theorie den kapitalen Buchstabenkörper dekapitiert, wie in der Sage Perseus ihr den kapitalen Teil ihres Körpers, den Kopf abtrennt. Als mythologische Hypostase der femme fatale, so die präponderierende Lesart, lockt, verführt sie die zumeist männlichen Hyponoetiker zu einem coitus hermeneuticus. Sie spielt ihre fatalen hermeneutischen Reize aus, was zu immer neuen interpretatorischen Ejakulationen führt. In Heraklits Περὶ Ἀπὶστων wird sie zu einer ἑταίρα51 deklas48 Hierzu Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. S. 9-31. 49 Turner: Liminality and Communitas. S. 95. Hierzu auch Geisenhanslüke: Schriftkultur und Schwellenkunde?. S. 97-120. 50 Vgl. hierzu Cohen: Monster Culture (Seven Theses): »Any kind of alterity can be inscribed across (constructed through) the monstrous body, but for the most part monstrous difference tends to be cultural, political, racial, economic, sexual.« (S. 7). Ebenso Breitenfellner/Kohn-Ley (Hg.): Wie ein Monster entsteht. 51 Heraklit: Περὶ Ἀπὶστων. 1. Vgl. Hawes: Rationalizing Myth in Antiquity: »This association is apparent also in the stereotypes of middle and new comedy. A passage attributed to Anaxilas’ Neottis rehearses this characterization of hetairai as greedy, parasitic, and inescapable and compares them to dangerous female monsters of myth.« (S. 106f.).

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siert, zu einer »Prostituierten«, die durch die Versteinerung ihrer Gegenüber die narkotisierende männerverderbende Wirkung weiblicher Schönheit versinnbildlichen soll. In der Enzyklopädie des Isidor von Sevilla wird gleich das gesamte Schwesternkollektiv der Gorgonen als meretrices52 , als »Dirnen« verunglimpft und steht für eine sukkubitische, morbide Erotik ein, die die moralische Integrität und Identität der Männer korrumpiert. Diese misogyne Deutungstradition setzt sich das gesamte Mittelalter und die Renaissance hindurch fort, etwa bei Bernardus Silvestris, Arnulf von Orléans, Boccaccio, dem anonymen Verfasser des mythenallegoretischen Kompendiums L’Ovide moralisé sowie bei Dante.53 Selbst in der Moderne, z.B. bei Freud in seiner kurzen Notiz zum Medusenhaupt, wird sie einer hermeneutischen Therapie unterzogen, wobei diese Therapie zugleich eine psychoanalytische Therapierelevanz besitzt. Aus dem Mythos von Medusa macht Freud kurzerhand das psychodramatische Szenario der Kastrationsdrohung des Vaters: »Kopfabschneiden = Kastrieren«54 , lautet die lapidare Formel in der Exposition von Das Medusenhaupt. Auch das Serpentinenhaar, Freuds zweite Aitiologie für den »Schreck der Meduse«55 , gerät zum Zeichen für die phallische Leerstelle der kastrativ verstümmelten Frau, indem es das von Haaren umsäumte weibliche Genital, zuvörderst dasjenige der Mutter, repräsentiert: »Wenn die Haare des Medusenhauptes von der Kunst so oft als Schlangen gebildet werden, so stammen diese wieder aus dem Kastrationskomplex.«56 Doch das ist nur ein sträflich summarischer Überblick, der Folgendes deutlich machen soll: All diese und vergleichbare Interpretationen sind epistemisch determinierte, thetische oder, wie sie Derrida in This strange institution called literature nennt, transzendente Lektüren: »›Transcend‹ here means going beyond interest for the signifier, the form, the language […] in the direction of the meaning or referent«57: »›Transzendieren‹ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man über ein Interesse am Signifikanten, an der Form und an der Sprache […] hinausgeht, in die Richtung einer Bedeutung oder einer Referenz«58 . Es sind Lektüren, die eher einen toxischen Effekt auf die Literatur zeitigen, vielmehr ein φά ρμακον im Sinne von »Gift« sind, da durch sie die Mündigkeit, die Autonomie und Eigengesetzlichkeit der Literatur in Bedrängnis gerät, deren kritische Erfahrung für Derrida gerade darin besteht, sich gegen transzendente Lektüren zu immunisieren, ihnen zumin52 53 54 55 56 57

Isidor von Sevilla: Enzyklopädie. 11,3,29. Verwendet wird die Ausgabe von Lindsay. Zum Medusenmythos vgl. Leeming: Medusa. Ebenso Garber/Vickers (Hg.): The Medusa Reader. Freud: Das Medusenhaupt. S. 47. Ebd. Ebd. Derrida: This strange institution called literature. S. 44. Das Interview fand 1989 in Laguna Beach/USA auf Französisch statt, veröffentlicht wurde es in der autorisierten englischen Übersetzung. 58 Ders.: Diese merkwürdige Institution namens Literatur. S. 95.

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dest entschlossener und renitenter zu widerstehen als andere Textsorten oder Diskurse.59 In ihrem Essay La mélancolie de l’art aus dem Jahre 1985 postuliert Sarah Kofman, dass es in einer privilegierten Art und Weise die Kunstfrage ist, qu’elle force à solliciter de façon plus générale tout le système des oppositions métaphysiques sur lequel repose classiquement le discours philosophique sur l’art : opposition de l’art et de la nature, du sensible et de l’intelligible, de la forme et du contenu, de la surface et de la profondeur, de l’apparence et de la réalité, du signifiant et du signifié etc.60   die dazu zwingt, […] das ganze System der metaphysischen Oppositionen in Bewegung zu versetzen, auf dem nach klassischem Brauch der philosophische Diskurs über die Kunst beruht: die Opposition von Kunst und Natur, von Sinnlichem und Intelligiblem, von Form und Inhalt, Oberfläche und Tiefe, Schein und Wirklichkeit, Zeichen und Bezeichnetem und so weiter.61 Kofmans Aufzählung ließe sich u.a. um die Opposition von literalem und figurativem Sinn, von pathologischer Buchstäblichkeit und dem kurativen υπό νοιαPneuma ergänzen. Um der Polysemie von »solliciter« gerecht zu werden, womöglich gerechter, als es Birgit Wagners Wiedergabe mit »in Bewegung zu versetzen« wird, scheint es nicht untunlich, auf die Mehrdeutigkeit des deutschen Verbs »beanspruchen« zurückzugreifen, denn die Kunstfrage und mit ihr die Kunst selbst erfüllt sämtliche semantische Komponenten:62 Sie nimmt binäre Oppositionen in Anspruch: ruft sie auf, ersucht sie, sucht sie an und auf, um sie zu beanspruchen: 59 Auch für de Man ist die Literatur ein paradigmatischer Diskurs der Dekonstruktion, vgl. z.B. Semiology and Rhetoric: »The reading is not ›our‹ reading, since it uses only the linguistic elements provided by the text itself; […] The deconstruction is not something we have added to the text but it constituted the text in the first place. […] Poetic writing is the most advanced and refined mode of deconstruction« (S. 32): »Die Lektüre ist nicht ›unsere‹ Lektüre, sofern sie ausschließlich solche sprachlichen Elemente heranzieht, die der Text selber darbietet; […] Die Dekonstruktion ist nichts, was wir dem Text hinzugefügt hätten, sondern sie ist es, die den Text allererst konstituiert hat. […] Dichtung ist die avancierteste und verfeinertste Form der Dekonstruktion.« (Semiologie und Rhetorik. S. 48). 60 Kofman: La mélancolie de l’art. S. 11f. 61 Dies.: Die Melancholie der Kunst. S. 12. 62 Zur Bedeutung von »beanspruchen« vgl. Duden. Bd. 1: A-Bedi: »1. auf etw. Anspruch erheben; fordern, verlangen […] 2. a) von etw. Gebrauch machen, verwenden, ausnutzen […] b) (jmdm. od. einer Sache) viel abverlangen; großen Anforderungen aussetzen […] (strapaziert); c) benötigen, brauchen« (S. 474). Jacob und Wilhelm Grimm paraphrasieren »beanspruchen« mit dem lateinischen Verb petere (vgl. Deutsches Wörterbuch. Erster Band: A-Biermolke. Sp. 1206). Zum semantischen Spektrum von petere Glare (Hg.): Oxford Latin Dictionary. Vol. II (M-Z). S. 1507f.

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zu strapazieren, aufzuzehren, auszulaugen, zu erschüttern, »heftig« oder »wiederholt« »in Bewegung zu versetzen«, was die lateinische Wurzel des französischen »solliciter«, nämlich das Intensivum citare bzw. sollicitare durchklingen lässt.63 Im Spiel der Gegensätze, in Medusas konkretem Fall: der zwischen dämonischer, sexueller Verderbtheit des weiblichen Geschlechtes und der Pietät des männlichen oder: zwischen phallischer An- und Abwesenheit, schreibt Kofman wie vor ihr bereits Hélène Cixous in ihrem Essay Le rire de la Méduse dem angeblichen Monster das subversive Potenzial der Beanspruchung zu: »Cet effondrement pétrifiant de toutes les catégories oppositionnelles et de tout sens décidable, c’est cela qui fascine et qui effraie : comme la tête de la Gorgone. Vernant rappelle que Perséphone l’envoyait à la rencontre de ceux qui prétendaient pénétrer vivants au royaume des morts«64 : »Der versteinerte Zusammenbruch aller gegensätzlichen Kategorien und jeder festlegbaren Bedeutung ist es ja gerade, was fasziniert und erschreckt: wie das Gorgonenhaupt. Vernant erinnert daran, dass Persephone die Gorgo jenen entgegensandte, die lebendig in das Totenreich einzudringen sich erkühnten.«65 Nicht ganz einsichtig in diesem Kontext ist Kofmans Verweis auf Jean-Pierre Vernant. Bestimmt Persephone das »gorgonische Haupt des grausigen Unholds«: Γοργείην κεφαλὴν δεινοῖο πελώρου66 die spiegelbildliche Funktion des Kerberos, wie in der Nekyia der Odyssee zu lesen ist, sabotiert Medusa mitnichten die »catégories oppositionnelles«, im Gegenteil: Sie ist eine numinose, Grauen evozierende Patronin derselben, indem sie die existentielle Letztgrenze bewacht und somit in den Dienst des Gegensatzpaares von Leben und Tod tritt. Kompatibler mit einem poststrukturalistischen Programm als die reine Signifikantenpräsenz der Medusa in Homers Katabasis ist Ovids Adaption der Mythe im vierten und fünften Buch der Metamorphosen. Wie keiner seiner Vorgänger inszeniert er die schöpferisch‐künstlerische Dimension von Medusas versteinerndem (An)Blick. Weder eine beliebige Lexik noch ein beliebiges geologisches Material verwendet Ovid, um Medusas artifizielle ενέργεια zu beschreiben. Regelrechte Kunstwerke sind die Petrefakte, die sie mit ihren saxificos vultus67 skulptiert, ge63 Zu citare vgl. Glare (Hg.): Oxford Latin Dictionary. Vol. I (A-L): »1 To set in motion, rouse to activity. […] b to rouse, put up […] c to set (a process) in motion […] d (transf.) to stimulate […] 2 To excite, promote […] b to cause to come to the surface, draw out. […] 3 To call, summon […] 4 a To summon (an accused person) by name to appear« (S. 359f.). Zu sollicitare ebd. Vol. II (M-Z): »1 To disturb with repeated attacks, harass, molest […] 4 […] b to rouse, excite (passions or sim.) […] c to rouse the anger of, provoke […] 5 […] b (esp., in political or military context) to incite to revolt, insurrection, mutiny, or sim.« (S. 1967f.). 64 Kofman: La mélancolie de l’art. S. 17f. 65 Dies.: Die Melancholie der Kunst. S. 17f. 66 Homer: Odyssee. 11,634. Das Original folgt der Ausgabe von Allen, die Übersetzung stammt von Hampe. 67 Ovid: Metamorphosen. 5,217. Verwendet wird die Ausgabe von Tarrant. Im Folgenden finden sich die Stellenangaben hinter den Zitaten im Haupttext.

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kennzeichnet durch eine einschlägige Terminologie: Es sind »Marmorbilder«: signum de marmore (5,183),68 monimenta (5,227),69 imagines (vgl. z.B. 5,229)70 und simulacra (5,211),71 also »Standbilder«, »Statuen« oder »Plastiken«, die den Augenblick der Agonie in Form eines verzerrten, angstentstellten Antlitzes, eines os trepidum (vgl. 5,231) oder timidum (5,234) festhalten. Medusa wird bei Ovid als eine monströse Kunstmächtigkeit vorgestellt, die fernab von Winckelmanns Ideal der Affektdämpfung operiert, fernab der »edle[n] Einfalt, und eine[r] stille[n] Größe«72 , die »bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele«73 zu erkennen gibt, wie der Schmerzensmann Laokoon aus dem Vatikanischen Museum, dessen diskret geöffneter Mund höchstens ein verhaltenes Seufzen und Stöhnen, vielmehr das Fehlen eines solchen, die seiner Kehle entströmende gequälte Stille zur Anschauung bringt. Doch Medusa – und das entspricht der Logik des Mythos und bedarf nicht der Absicherung durch Ovids Metamorphosen – ist nicht allein eine antiklassizistische Bildnerin, sondern zugleich eine antimimetische. Die binäre Opposition, die Medusa beansprucht: die sie zitiert, heraufbeschwört und bersten lässt, ist die von Ur- bzw. Vorbild einerseits und Abbild andererseits. Das simulacrum, das neben »Statue« auch »Eben-«, »Abbild«, »Nachbildung« bedeutet,74 beschränkt sich in ihrem Fall auf das Lexem »Statue«, da Vor- und Abbild identisch sind, da das Abbild das Vorbild ist und vice versa. Im horriblen Angesicht der Medusa implodiert die Theorie künstlerischer Mimesis und mit ihr jedwede ontologisch argumentierende Mimesis-Kritik, wie sie z.B. Platon in der Πολιτεία vorträgt.75 Der »effondrement pétrifiant de toutes les catégories oppositionnelles«76 , den Kofman mit Medusa as68 Zur Bedeutung von signum vgl. Glare (Hg.): Oxford Latin Dictionary. Vol. II (M-Z): »A sculptured figure, commonly of a deity, statue, image« (S. 1940). 69 Zu monimentum bzw. monumentum vgl. ebd.: »A statue, trophy, building, or sim.« (S. 1245). 70 Zur Bedeutung von imago vgl. ebd. Vol. I (A-L): »1 A representation in art of a person or thing, picture, likeness, image […] 9 A duplicate, copy, reflection, likeness, image« (S. 913). 71 Zum semantischen Spektrum von simulacrum vgl. ebd. Vol. II (M-Z): »1 That which resembles something in appearance, sound etc., a likeness […] 2 A visual representation, image […] 3 […] a An image, statue« (S. 1947). 72 Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in Mahlerey und Bildhauer-Kunst. S. 27. 73 Ebd. S. 28. 74 Vgl. hierzu Glare (Hg.): Oxford Latin Dictionary. Vol. II (M-Z). S. 1947. 75 Vgl. exemplarisch: δεῖ δὴ ἐπισκέψασθαι πότερον μιμηταῖς τούτοις οὗτοι ἐντυχόντες ἐξηπάτηνται καὶ τὰ ἔργα αὐτῶν ὁρῶντες οὐκ αἰσθάνονται τριττὰ ἀπέχοντα τοῦ ὄντος καὶ ῥᾴδια ποιεῖν μὴ εἰδότι τὴν ἀλήθειαν – φαντάσματα γὰρ ἀλλ᾽ οὐκ ὄντα ποιοῦσιν (Platon: Πολιτεία. 598e-599a): »Wir müssen also zusehen, ob die so Urteilenden es dabei mit Nachahmern zu tun gehabt haben, von denen sie hintergangen worden sind, und ob sie bei der Betrachtung ihrer Werke nicht merken, dass diese um drei Stufen vom Seienden abstehen und leicht herzustellen sind auch für einen, der der Wahrheit nicht kundig ist – denn Scheingebilde sind es, nicht Wirklichkeit, was sie machen«. Die Übersetzung stammt von Schleiermacher. 76 Kofman: La mélancolie de lʼart. S. 17.

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soziiert, ist der Zusammenfall, das Zusammenfallen und der Kollaps der traditionsreichen Dichotomie von Vor- und Abbild in der Versteinerung. Medusas implizite Ästhetik der Skulptur öffnet sich somit auf eine literarische (Krypto)Theorie der Differenz und Abwesenheit hin, obwohl in ihren Plastiken die beiden Seiten des Kunstwerkes, i.e. Form und Inhalt, Bezeichnendes und Bezeichnetes kongruieren. Sie formiert einen Widerstand gegen die Ideologie des Symbolischen, wie sie z.B. in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik eine prominente Vertretung gefunden hat. Dass in Hegels Ästhetik der Signifikant des Symbolischen für eine defizitäre Kunstform reserviert ist, nämlich für die Architektur bzw. das Epos, in denen das Ideal als »wahre Idee der Schönheit«77 oder als »sinnliche[s] Scheinen der Idee« (S. 179) erst noch gesucht 78 werden muss, ändert nichts an der Tatsache, dass es sich um eine Ideologie des Symbolischen handelt. »Hegel ist nach dieser Auffassung«, notiert Paul de Man lakonisch, ein »Symboltheoretiker«79 : »theoretician of the symbol«80 , was eher mit »Theoretiker des Symbolischen« wiedergegeben werden sollte, da es de Man nicht primär, zumindest nicht ausschließlich um eine einzelne rhetorische Trope zu tun ist, sondern um eine bestimmte Kultur, einen bestimmten Orbit des Denkens – eben um eine Ideologie. De Man versteht unter dem Symbol bzw. dem Symbolischen im Anschluss an Gadamer das Phantasma einer gleichsam transzendentalen Einheit von Erscheinung und Bedeutung. »Das Symbol«, so heißt es in Wahrheit und Methode, ist »keine beliebige Zeichennahme oder Zeichenstiftung, sondern [setzt] einen metaphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem voraus«81 ; oder in der Formulierung de Mans: Das Symbol ist eine »Einheit zwischen der darstellenden und der bedeutenden Funktion der Sprache«: »The supremacy of the symbol, conceived as an expression of unity between the representative and the semantic function of language, becomes a commonplace that underlies literary taste, literary criticism, and literary history«82 : »Die Vormacht des Symbols, verstanden als Einheit zwischen der darstellenden und der bedeutenden Funktion der Sprache, wird ein Gemeinplatz, die Basis für den literarischen Geschmack, die Kritik und die Geschichte der Literatur.«83 Im Unterschied jedoch zu Gadamer, der die federführend von Goethe zementierte Hegemonie des Symbols in einer historisierenden Perspektive zu einer bloßen Etappe der Ästhetik relativiert, nämlich des 77 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil. S. 140. Im Folgenden finden sich die Stellenangaben hinter den Zitaten im Haupttext. 78 Vgl. ebd.: »Die erste Kunstform ist deshalb mehr ein bloßes Suchen der Verbildlichung als ein Vermögen wahrhafter Darstellung; die Idee hat die Form noch in sich selber nicht gefunden und bleibt somit nur das Ringen und Streben danach. Wir können diese Form im allgemeinen symbolische Kunstform nennen.« (S. 133f.). 79 de Man: Zeichen und Symbol in Hegels Ästhetik. S. 44. 80 Ders.: Sign and Symbol in Hegel’s Aesthetics. S. 765. 81 Gadamer: Wahrheit und Methode. S. 69. 82 de Man: The Rhetoric of Temporality. S. 189. 83 Ders.: Die Rhetorik der Zeitlichkeit. S. 85.

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ästhetischen Diskurses im 18. Jahrhundert, erweitert de Man seine Auseinandersetzung mit dem Symbolischen zu einer Metaphysikkritik sowie zu einer Revision idealistischer Identitäts-, Totalitäts- und Harmoniepostulate.84 Kunst begreift Hegel als Entwicklungsstadium des Substantiellen, als Initiationskapitel seines philosophischen Bildungsromans, an dessen Ende der sich seiner selbst bewusste Geist und die »Prosa des Denkens« (S. 149) stehen, oder disziplinär gesprochen: die Philosophie bzw. seine eigene Philosophie. Als immanenten »wahren Einteilungsgrund« (S. 133) für die infantile Epoche seines Geist-Protagonisten gibt Hegel die »verschiedenen Verhältnisse von Inhalt und Gestalt« (S. 133) an, womit er kein aptum oder decorum, keine »bloße Richtigkeit« (S. 131) meint, wie sie von der Rhetorik disziplinär gesteuert und überwacht wird, sondern eine philosophisch säkularisierte Epiphanie, ein profaniertes eschatologisches Offenbarungsgeschehen. Hegels Interesse gilt dem »Anundfürsichseiende[n]« (S. 46), der »sinnliche[n] Darstellung des Absoluten« (S. 126), dem »Wahre[n]« (S. 154), der »absolute[n] Idee« (S. 155), dem »allgemeine[n] unendliche[n] und absolute[n] Geist« (S. 155), dem »volle[n] totale[n] Geist« (S. 262), dem »Substantielle[n] […], das als das eigentlich Wesentliche innerhalb der geistigen Wirklichkeit alle Erscheinungen derselben zusammenhält« (S. 263) – und mit welchen Begriffen er seine Metaphern für das »zentrale, originäre oder transzendentale Signifikat«85 : »le signifié central, originaire ou transcendantal«86 sonst noch ausstattet. Den Punkt der Präsenz innerhalb der Geschichte der Kunst, i.e. den Punkt, an dem die Arbitrarität des Zeichens suspendiert wird durch die »freie adäquate Einbildung der Idee in die der Idee selber eigentümlich ihrem Begriff nach zugehörige Gestalt« (S. 135), der Punkt also, an dem die Verschiebung der Signifikanten an ein vorläufiges Ende gelangt, dessen »Erreichen« (S. 140) auch schon wieder ein »Überschreiten« (S. 140) ist,87 wird literarisch‐gattungspoetisch von der attischen Tragödie und im Hinblick auf die übrigen Kunstregister von der Skulptur der griechischen Klassik markiert: »Denn durch die Skulptur soll der Geist in seiner leiblichen Form in unmittelbarer Einheit still und selig dastehen und die Form durch den Inhalt geistiger Individualität verlebendigt werden« (S. 144). Hegels Kratylismus der klassischen Skulptur gegenüber stehen Medusas antiklassizistische Versteinerungsartefakte der Differenz, die dem »Geist« die kontemplative Seligkeit seiner Manifestation in der Materie verweigern. Zwar sind in ihnen Form und 84 Zu Gadamers und de Mans Auseinandersetzung mit der Allegorie vgl. Geisenhanslüke: Der Buchstabe des Geistes. S. 79-97. 85 Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. S. 424. 86 Ders.: La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines. S. 411. 87 Der Passus lautet in Gänze: »Dies wäre im allgemeinen der Charakter der symbolischen, klassischen und romantischen Kunst form als der drei Verhältnisse der Idee zu ihrer Gestalt im Gebiete der Kunst. Sie bestehen im Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals als der wahren Idee der Schönheit.« (Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil. S. 140).

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Inhalt isotop, i.e. sie koinzidieren im Raum. Dadurch aber, dass sie nur ein Double der Lebenden sind, nehmen sie eine uneinholbare Distanz im Hinblick auf ihren Ursprung ein, eine Distanz, die deswegen als uneinholbar zu gelten hat, da der vitale Ursprung der Plastik für immer verloren ist. Der zum Kunstwerk lithifizierte Tote ist mit seinem lebendigen Vorbild nicht mehr identisch, er ist aber auch kein ganz anderer. Der Leichnam ist vielmehr eine entstellte, unheimlich doublierte Option des eigenen Selbst, die die Identität dieses Selbst unwiderruflich annihiliert, wie Blanchot festhält: »Ce quʼon appelle dépouille mortelle échappe aux catégories communes : quelque chose est là devant nous, qui nʼest ni le vivant en personne, ni une réalité quelconque, ni le même que celui qui était en vie, ni un autre, ni autre chose.«88 : »Was man sterbliche Hülle nennt, entzieht sich den üblichen Kategorien: Etwas ist da, vor uns, das weder das Lebendige in Person ist, noch irgendeine Wirklichkeit, noch jener, der am Leben war, noch ein anderer, noch etwas anderes.«89 Nur durch einen Augenblick sind Vor- und Abbild der Plastiken Medusas von der reinen Selbstidentität geschieden, und doch geben die beiden Seiten der Kunst den Blick frei in einen klaffenden zeitlichen Abgrund, in dem die Episteme binärer Oppositionen versinkt. Was ist nun die Philologie der Medusa? Sowohl in ihrer Liminalität, i.e. in ihrer Morphologie eines »indifferente[n] Schwellenwesen[s] jenseits von identifizierbarer Gattung und Art«90 , als auch in ihrer Literalität organisiert Medusa einen Widerstand gegen die Theorie.91 Sie steht für eine spezifische Ethik des Lesens ein: für einen mikroskopierenden, atomisierenden und zetetischen, bis zum Erliegen kommenden Nachvollzug des Textes – Nietzsche würde dies »Ephexis«92 nennen –, der die widerständige, anarchische Potenz des Literalen und seiner (un)heimlichen Eigen- und Entzugsdynamiken gegen ein transzendentes Lektüreverfahren auf-

88 Blanchot: Les deux versions de lʼimaginaire. S. 344. 89 Ders.: Die zwei Fassungen des Imaginären. S. 57. 90 Geisenhanslüke/Mein/Overthun: Einleitung. S. 14. 91 Vgl. de Man: The Resistance to Theory. 92 Vgl. Nietzsche: Der Antichrist: »Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst gut zu lesen verstanden werden, – Tatsachen ablesen können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne im Verlangen nach Verständnis die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren. Philologie als Ephexis in der Interpretation: handle es sich um Bücher, um ZeitungsNeuigkeiten, um Schicksale oder Wetter-Tatsachen, – nicht zu reden vom ›Heil der Seele‹.« (S. 231).

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bietet;93 der die duale und hierarchisch strukturierte Architektur der abendländischen Episteme, damit auch den Binarismus von buchstäblicher und übertragener Bedeutung beansprucht, ohne dabei Zuflucht zu der Beschaulichkeit einer dialektisch‐synthetischen Versöhnung, einer Ideologie der Präsenz, der Identität oder des Symbolischen zu nehmen. Die Philologie der Medusa ist eine Philologie im Zeichen des antiken paganen Mythos, die dasjenige radikal einlöst und umsetzt, was der protestantische Mythos lediglich verheißen hat: sola scriptura.

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Hermeneutik der Buchstäblichkeit Friedrich Schleiermacher und der Geist der Auslegung Achim Geisenhanslüke

Friedrich Schleiermacher und die Begründung der modernen Hermeneutik Dass Friedrich Schleiermacher bis heute als Begründer der modernen Hermeneutik gilt, ist keineswegs selbstverständlich. Denn wie schon Alex Bühler deutlich gemacht hat, liegen die lange Zeit vergessenen Grundlagen der Hermeneutik bereits in der Aufklärung, also vor Schleiermacher bereit: »Wie bislang in der einschlägigen Literatur nicht hinreichend betont worden ist, gehörten die methodischen Grundlagen der Interpretation zu den zentralen Themen des Denkens der Aufklärung.«1 Bühler moniert dementsprechend das Vergessen der spezifisch aufklärerischen Grundlagen der Hermeneutik: »In der Philosophiegeschichtsschreibung besteht die Tendenz, die Interpretationstheorien der Aufklärung zu vernachlässigen bzw. ganz außer Acht zu lassen.«2 Die Revision der Privilegierung Schleiermachers zum Begründer der Hermeneutik hat daher zu einem neu erwachten Interesse an der aufklärerischen Hermeneutik geführt.3 So betont auch Hans Werner Arndt, welchen Platz die Hermeneutik schon in der Aufklärung eingenommen habe. »In der rationalistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts kommt der Auslegungskunst oder Hermeneutik ein fester Platz im Rahmen der philosophischen Wissenschaften und insbesondere der philosophischen und allgemeinwissenschaftlichen Methodenlehre zu.«4 1 Axel Bühler, Einleitung, in: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 1-11, hier S. 1. 2 Ebd., S. 4. 3 »Und so entwickelte sich, teils aus Unkenntnis der hermeneutischen Tradition, teils aus dem Bemühen, Schleiermachers Verdienst in das hellste Licht zu setzen, eine noch bis in die jüngere Zeit fortlebende Klischeevorstellung, die in der Behauptung gipfelte, daß die Vorgänger Schleiermachers ›das Verstehen im ganzen unreflektiert‹ treiben und ›auch die Gründe für ihr Ver fahren nicht angeben‹ können.« Werner Alexander, Hermeneutica Generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 8f. 4 Hans Werner Arndt, Die Hermeneutik des 18. Jahrhunderts im Verhältnis zur Sprach- und Erkenntnistheorie des klassischen Rationalismus. In: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneu-

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So wichtig die Korrekturen an der Inthronisierung Schleiermachers als dem Gründervater der Hermeneutik auch sein mögen: Sie können nicht vergessen machen, dass Schleiermacher eine Wende innerhalb der Hermeneutik vollzieht, die deren Selbstverständnis bis heute geprägt hat. Darauf hat Peter Szondi hingewiesen, um zugleich seinen eigenen kritischen Anschluss an Schleiermacher zu begründen. »Es bezeichnet die Wende in der Geschichte der Hermeneutik, wenn bei Ast und Schleiermacher als Gegenstand des Verstehens nicht mehr die Stelle oder die Schrift auftritt, die ihrerseits sich auf eine Sache beziehen, deren Erkenntnis sie darstellen und die letztlich das Ziel der Auslegung ist, sondern der Autor selbst den Gegenstand des Verstehens abgibt. Strenggenommen tritt erst jetzt das Verstehen als hermeneutischer Akt in Erscheinung und verdrängt die Auslegung.«5 An die Stelle der traditionellen Textauslegung tritt bei Schleiermacher die – bis heute umstrittene – Frage nach dem Verstehen des Autors und seiner Intentionen. Szondi begreift Schleiermachers Leistung daher nicht als eine Weiterführung der aufklärerischen Hermeneutik, wie sie Chladenius und Meier vorgelegt haben, sondern als eine Zäsur innerhalb der Geschichte der Hermeneutik: »So ist Schleiermachers Hermeneutik von Anfang an nicht als Fortführung der traditionellen Hermeneutik, sondern als deren theoretische Begründung intendiert.«6 Szondi zufolge ist es der Versuch einer theoretischen Begründung der Hermeneutik, der Schleiermachers Anspruch definiert. Seitdem bildete die Hermeneutik für eine lange Zeit die Grundlage aller Interpretationsverfahren in den Geisteswissenschaften. Dass Szondi sich im Rahmen seiner Frage nach einer speziell literarischen Hermeneutik an Schleiermacher orientiert, ist allerdings gerade vor diesem Hintergrund erläuterungsbedürftig. Das gilt nicht nur im Blick auf die vor Schleiermacher existierenden Versuche einer Begründung der Hermeneutik im Kontext der tik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 12-25, hier S. 25. Aber nicht nur das: Im Blick auf den inneren Zusammenhang von Ästhetik und Hermeneutik lassen sich die Spur der Hermeneutik auch in die Kritik der Urteilskraft eintragen. Rudolf Makreel hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die reflexive Wende der dritten Kritik zugleich eine Wende zu einer interpretativen Verstehenslehre sei: »Das Werk wendet sich von den doktrinalen Ansprüchen bestimmender Urteilskraft in den beiden ersten Kritiken einer reflektierenden Urteilsweise zu, deren Funktion eher interpretativ als gesetzgebend ist.« Rudolf Makreel, Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft, Paderborn 1997, S. 15. 5 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen. Band 5, hg. von Jean Bollack/Helen Stierlin, Frankfurt a.M. 1975, S. 143. Ähnlich urteil Hendrik Birus: »Seit Beginn des 19. Jahrhunderts läßt sich ein deutlicher Wandel im Verständnis von ›Hermeneutik‹ beobachten, und er ist entscheidend durch das Wirken Friedrich Schleiermachers geprägt worden.« Hendrik Birus, Einleitung. In: Hendrik Birus (Hg.): Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer, Göttingen 1982, S. 5-14, hier S. 7. 6 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 159.

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Aufklärung. Darüber hinaus steht Schleiermachers eigener Entwurf einer allgemeinen, die einzelnen Disziplinen übergreifenden Hermeneutik kritisch in Frage. Wenn Szondi nach einer spezifisch literarischen Hermeneutik fragt, dann stellt er gerade jenen Universalitätsanspruch in Frage, den Schleiermachers Begründung einer allgemeinen Hermeneutik erhoben hatte. Der geläufigen Auffassung zufolge liegt Schleiermachers epochale Leistung vor allem darin begründet, dass er eine allgemeine und von ihrem eigenen Anspruch her universale Hermeneutik schafft, deren Grundlage die Idee der Hermeneutik als die Kunst bildet, »die Rede eines andern richtig zu verstehen«7 . Es ist die neue Verhältnisbestimmung der Begriffe des Verstehens und der Auslegung, die sich für Schleiermachers Modernität verantwortlich zeichnet. Mit der Unterteilung der Hermeneutik in die beiden Bereiche der grammatischen und der psychologischen Auslegung hat er neue Grundlagen geschaffen, die das hermeneutische Denken bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmen. Unter dem Psychologischen versteht er die Sprache als das Instrument, durch dessen Hilfe der einzelne Mensch seine Gedanken mitteilt, unter dem Grammatischen dagegen wird die »Sprache insofern betrachtet, als sie das Denken aller Einzelnen bedingt, den einzelnen Menschen aber nur als den Ort für die Sprache und seine Rede nur als das, worin sich diese offenbart.«8 Das Grammatische verkörpert den allgemeinen, das Psychologische dagegen den individuellen Aspekt der Sprache. Schleiermacher erkennt die Vollendung des Grammatischen im Klassischen, die des Psychologischen im Originellen, die Identität beider im Genialischen. Damit setzt er nicht nur in ähnlicher Weise wie Hegel in einer dialektischen Bewegung einen Vorrang der klassischen Kunstform ein, der die hermeneutischen Theorien bis ins 20. Jahrhundert begleiten wird. Das Verstehen definiert Schleiermacher in einer für die Syntheseanstrengungen des 19. Jahrhunderts charakteristischen Weise als das Zusammengehen von grammatischer und psychologischer Auslegung: »Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen).«9 Schleiermachers Ineinsführung der grammatischen und der psychologischen Auslegung ist in der auf ihn aufbauenden Geschichte der Hermeneutik allerdings nicht immer befolgt worden. Auf keineswegs unproblematische Weise rückt dort vielmehr das Moment der psychologischen Auslegung in den Mittelpunkt. Die psychologische Auslegung hat Schleiermacher in die beiden Momente des Divinatorischen und des Komparativen unterteilt: »Die divinatorische ist die, welche, indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das Individuelle unmittelbar 7 Friedrich D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977, S. 75. 8 Ebd., S. 79. 9 Ebd.

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aufzufassen sucht. Die komparative setzt erst den zu Verstehenden als ein Allgemeines und findet dann das Eigentümliche, indem mit andern unter demselben Allgemeinen Befaßten verglichen wird.«10 Wie die grammatische und die psychologische Ordnung der Sprache, so sind auch die divinatorische und die komparative Auslegung eng miteinander verknüpft. Nicht nur verdankt sich die Sicherheit der Divination der Vergleichung. Zugleich verweist die komparative Auslegung auf die Divination zurück: »Das Allgemeine und Besondere müssen einander durchdringen, und dies geschieht immer nur durch die Divination.«11 Mit der psychologischen Auslegung rückt so der Begriff der Divination in das Zentrum der Hermeneutik. Mit dem Begriff der Divination hat Schleiermacher einen der folgenreichsten, zugleich aber einen der umstrittensten Begriffe der Hermeneutik geprägt. Die zwiespältige Bedeutung der Divinationslehre für die moderne Hermeneutik hat schon Manfred Frank festgehalten: »Das Divinations-Theorem bezeichnet eines der heikelsten Themen seines Denkens und gewiß dasjenige, dessen wirkungsgeschichtliche Berühmtheit in der auffälligsten Disproportion zur Kenntnis seiner ursprünglichen und kontextgemäßen Bedeutung steht.«12 Die Bedeutung der Divination besteht in einer Form der Einfühlung in den individuellen Geist eines Autors. Damit scheint die Divination zunächst einzig das Moment des Individuellen abzudecken: »Die glückliche Ausübung der Kunst beruht auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntnis.«13 Wie Frank betont, wäre es jedoch falsch, den Geltungsbereich der Divination auf die Ordnung des Individuellen einzuschränken. Vielmehr sei das Divinationstheorem »Ausdruck seiner Einsicht in die Irreduzibilität individueller Sinnstiftung auf das von der grammatischen Auslegung Erfaßbare.«14 Die Divination fördere demnach nicht, wie Schleiermacher immer wieder vorgeworfen wird, eine psychologisch motivierte Einheit des Sinnes zutage, sie stelle diese Einheit vielmehr erst in der Differenz von Grammatik und Psychologie, von Allgemeinem und Individuellem her. Vor diesem Hintergrund deutet Frank Schleiermachers Lehre vom individuellen Allgemeinen als »geheime Interaktion zwischen der Individualität des Sinns […] und der Universalität der signifikanten Ordnung«15 : »Das Allgemeine (Identische) existiert nur als Einzelnes; aber es geht in ihm nicht unter; eine unüberschreitbare Barriere trennt es von der Bedeutung, die der Sinn ihm einschreibt, ohne seine Sphäre je zu erschöpfen (kein 10 Ebd., S. 169. 11 Ebd., S. 170. 12 Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a.M. 1985, S. 314 13 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 81. 14 Manfred Frank, Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch‐französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1990, S. 115. 15 Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 10.

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Einzelnes ist dem Sein adäquat). Das Sein kündigt sich vielmehr in der Tatsache des Streits als die permanente Alternative eines mit keiner Aussage einholbaren Anderen Sinns zu jeder individuellen Sinngebung (signification) an.«16 Im Rahmen seiner Würdigung Schleiermachers geht Frank sogar so weit, dieser sei als »ein ›genetischer Strukturalist‹ avant la lettre«17 zu begreifen, da er mit der Verknüpfung von grammatischer und psychologischer Auslegung die Saussuresche Unterscheidung von langue und parole vorwegnehme. Im Zusammenhang mit der allgemeinen Forderung nach einer »Rückbesinnung auf Schleiermacher«18 kommt Frank daher zu dem Schluss, der Schleiermacherschen Hermeneutik einen Vorrang vor der strukturalistischen Sprachtheorie zuzusprechen. »Dabei stellt sich als Vorzug der Schleiermacherschen Position heraus […], daß sie die strukturalistische These eines Primats des Signifikanten vor dem Signifikat anerkennt«19 . Franks ambitionierter Rettungsversuch hat dazu beigetragen, viele Unklarheiten in der Rezeptionsgeschichte von Schleiermachers Theorie aus dem Weg zu räumen. Die stolze These, dass Schleiermacher neben der Begründung der Hermeneutik zugleich noch die Grundlagen der modernen Linguistik vorweggenommen habe, entspricht jedoch kaum dem Anspruch Schleiermachers als vielmehr dem Wunsch Franks nach einer Aufhebung des in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heftig entbrannten Streits zwischen Hermeneutik und Strukturalismus auf dem Boden einer kritischen Revision Schleiermachers. So lässt die grundsätzlich berechtigte Würdigung Schleiermachers durch Frank einige kritische Fragen offen, die insbesondere die von Szondi monierte Definition der Hermeneutik als eine universale Lehre des Verstehens betreffen. Die Kritik zielt vor allem auf das von Schleiermacher angegebene Ziel der Auslegung, den Nachweis der Einheit von Autor, Werk und Leser. Wenn Schleiermacher den für die gesamte Geschichte der Hermeneutik folgenreichen Satz formuliert, »daß wir den Verfasser besser verstehen als er selbst, denn in ihm ist vieles dieser Art unbewußt, was in uns ein bewußtes werden muß«20 , dann gründet er die Kunst des Verstehens letztlich auf eine »Analogie zwischen der Kombinationsweise des Verfassers und der des Auslegers«21 . Aufgabe der hermeneutischen Interpretation sei es, nach dem Ideal der »Vollkommenheit des Verstehens«22 , »die wahre vollkommene Einheit des Wortes«23 und die »Einheit des Werkes«24 zu finden. Zwar hat Frank selbst die Invarianz des WerkBegriffes bei Schleiermacher kritisiert. Dennoch weigert er sich, die hermeneuti16 Ebd., S. 132. 17 Ebd., S. 248f. 18 Ebd., S. 14. 19 Ebd., S. 147. 20 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 104. 21 Ebd., S. 182. 22 Ebd., S. 110. 23 Ebd., S. 106. 24 Ebd., S. 167.

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sche Prämisse der Einheit von Autor, Werk, Leser endgültig aufzugeben. Nicht nur die Geschichte der Literatur von dem von Schleiermacher wie von Hegel gleichermaßen bevorzugten Ideal des Klassischen bis hin zu desintegrativen Formen der Moderne widerspricht der romantischen Suche der Hermeneutik nach der Einheit von Autor, Werk und Leser. Die Hermeneutik, wie sie Schleiermacher konzipiert hat, findet ihre Grenzen vielmehr an den Phänomenen, die sich nicht mehr durch den scheinbar selbstverständlichen Rekurs auf den scheinbar universalen Begriff des Verstehens einholen lassen. Dazu zählt auf besondere Weise die Ordnung des Buchstäblichen. Lesbar wird die in der Schleiermacherschen Hermeneutik selbst angelegte Kritik an der Universalität des Verstehens an der Kritik der allegorischen und der kabbalistischen Auslegung.

Buchstabe und Geist bei Schleiermacher Zu dem Versuch, die Hermeneutik als eine allgemeine Kunst des Verstehens zu begründen, deren Geltungsbereich sich auf Theologie, Philosophie und Literatur gleichermaßen erstreckt, steht die Buchstäblichkeit in einer geheimen Spannung. Am Buchstaben droht der Universalanspruch des Geistes zu zerschellen. Was damit in Frage steht, ist die zentrale Stelle der Hermeneutik in den Geisteswissenschaften. Als theoretische Grundlage ist ihr Ort zugleich ein prekärer. Schon Schleiermacher selbst weist vor diesem Hintergrund auf die Probleme hin, die mit dem Begriff der Hermeneutik verbunden sind. »Es ist schwer, der allgemeinen Hermeneutik ihren Ort zuzuweisen.«25 Die Schwierigkeiten, einen allgemeinen Begriff der Hermeneutik zu etablieren, sind mehrfacher Natur. In Frage steht zum einen das Verhältnis der allgemeinen Hermeneutik zu den in der Geschichte fest etablierten speziellen Formen der hermeneutica sacra und der hermeneutica profana in der Theologie und der Rechtswissenschaft. Darüber hinaus stellt sich für die Literaturwissenschaft die Frage, was sich ändert, wenn nicht mehr heilige oder profane Gesetzestexte zum Gegenstand der Auslegung genommen werden, sondern poetische Texte: Was folgt für die Hermeneutik, wenn es nicht länger um die Bibel oder Justinian geht, sondern um Homer, Ovid oder Goethe? Ein zweites Problem stellt die innere Verbundenheit der Hermeneutik mit Logik und Grammatik dar. Für die von Aristoteles in De interpretatione etablierte Unterordnung der Hermeneutik unter die dialektische Logik interessiert sich Schleiermacher kaum, sehr wohl aber für den Zusammenhang zwischen Hermeneutik und Grammatik. Nicht umsonst stellt die grammatische Auslegung eine der beiden Säulen seiner allgemeinen Hermeneutik dar. Wenn Schleiermacher die Hermeneutik einleitend als »die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, 25 Ebd., S. 75.

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richtig zu verstehen«26 definiert, dann greift er auf eben das Kriterium zurück, das dem Wissen der Grammatik zukommt: die Frage nach dem richtigen Sprachgebrauch innerhalb eines kodifizierten Systems von Regeln.27 »Wie Hermeneutik und Kritik zusammengehören, so beide mit der Grammatik«28 , stellt Schleiermacher fest, um im Verweis auf die bereits vorliegenden Entwürfe zu einer allgemeinen Hermeneutik bei Wolf und Ast zugleich zu betonen: »Hermeneutik und Kritik sind nur mithilfe der Grammatik ausführbar und beruhen auf derselben. Aber die Grammatik ist wieder nur mittels jener beiden aufzustellen, wenn sie nicht den schlechtesten Sprachgebrauch mit dem klassischen und allgemeine Sprachregeln mit individuellen Spracheigentümlichkeiten vermischen will. Die vollkommene Lösung dieser dreifachen Aufgabe ist nur in Verbindung miteinander approximativ möglich in einem philologischen Zeitalter, durch vollkommene Philologen.«29 In Hermeneutik und Kritik verkörpert das philologische Zeitalter eine Utopie, die auf der wechselseitigen Durchdringung von Hermeneutik, Kritik und Grammatik beruht. Dennoch sind damit nicht alle Probleme gelöst. Eine auffällige Leerstelle innerhalb von Schleiermachers Entwurf einer allgemeinen Hermeneutik markiert die Frage nach dem Ort von Rhetorik und Poetik. Schon bei Quintilian stellt sich ja die Frage, wie sich die von der Grammatik geforderte Sprachrichtigkeit zur Figuralität dichterischen Sprechens als einer legitimen Form der Abweichung vom richtigen Reden verhält.30 Schleiermacher selbst ist offenbar nur dazu bereit, solche Abweichungen zu tolerieren, solange sie sich mit seinen Leitbegriffen des Klassischen, Individuellen und Genialischen vereinbaren lassen. Jean Paul etwa rügt er ausdrücklich, da dieser »wegen der häufigen Ausdrücke aus speziellen Gebieten nicht auf Klassizität Anspruch machen.«31 Jean Pauls Sprachartistik, die nicht zuletzt auf der enzyklopädeischen Einbeziehung von Fachvokabular aus unterschiedlichsten Wissensbereichen beruht und die gerade auf diesen scheinbar antiklassischen Grundlagen in der Moderne ein vielfältiges Echo bei Autoren wie Paul Celan oder Thomas Kling hat finden können,32 kann aus der grammatischen Perspektive, deren Leitfaden die Suche nach Klassizität ist, nur als ein nicht tolerierbares Extrem erscheinen. 26 Ebd., S. 71. 27 Zur Grammatik vgl. Robert Stockhammer, Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution, Berlin 2014. 28 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 71. 29 Ebd., S.71f. 30 Vgl. Robert Stockhammer, Grammatik, S. 45f. 31 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 103. 32 Zum Begriff artistischer Enzyklopädik vgl. Andreas B. Kilcher, mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003.

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In Schleiermachers Affekt gegen Jean Pauls anti‐klassische Sprachartistik kommt noch etwas anderes zur Sprache: das schwierige Verhältnis, das die Hermeneutik zur Ordnung des Buchstäblichen einnimmt. Auf zwei Ebenen durchkreuzt das Buchstäbliche Schleiermachers Vorhaben: zum einen im Blick auf eine Literatursprache, die in ihrer Fixierung auf den materiellen Träger die geistige Grundlage jeder Bedeutung zu verfehlen droht, zum anderen im Rahmen einer theologischen Auslegungskunst, die sich in den Elementen und Zeichen der Rede zu verlieren scheint. Beiden, der Literatursprache, die auf den Buchstaben als dem ihr zugrundeliegenden Sprachmaterial insistiert, als auch der Auslegungskunst, die quasi manisch am heiligen Text kleben bleibt, wirft Schleiermacher den gleichen Fehler vor: die Auflösung der Einheit von Denken und Sprechen, auf der die philosophische Begründung der Hermeneutik beruht: »Da Kunst zu reden und zu verstehen (korrespondierend) einander gegenüberstehen, reden aber nur die äußere Seite des Denkens ist, so ist die Hermeneutik im Zusammenhang mit der Kunst zu denken und also philosophisch.«33 Philosophisch nennt Schleiermacher die Hermeneutik, da sie davon ausgeht, dass jedes Reden auf ein ihm vorausgehendes Denken verweist, das Denken demzufolge die Grundlage der Sprache bildet: »Das Denken wird durch innere Rede fertig, und insofern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst«34 , hält Schleiermacher fest. Er scheint damit in vollem Umfang zu bestätigen, was Jacques Derrida im Blick auf eine neue Wissenschaft namens Grammatologie den Phonozentrismus des abendländischen Denkens genannt hat. Für Schleiermacher jedenfalls ist evident, dass die innere Rede der Ort ist, an dem das Denken eine Kontur gewinnt, die nichts als der »gewordene Gedanke selbst« sein soll. Schleiermachers philosophische Hermeneutik öffnet so gerade im sprachzugewandten Begriff der grammatischen Auslegung eine Kluft zwischen dem Buchstaben und dem Geist, die für sie nicht mehr aufhebbar ist: Wer, wie bestimmte Formen der Literatur, mit dem Sprachmaterial nur zu spielen scheint, oder wer, wie bestimmte Formen der Auslegung, am materiellen Wert des Buchstabens hängen bleibt, für den ist der Geist in unendliche Ferne gerückt. Und nur aus dieser einseitigen Perspektive heraus ist die Idee einer Grammatologie möglich, die sich als Korrektur an den idealistischen Prämissen einer ganz am Geist ausgerichteten Philosophie begreift, um die Kluft zwischen dem Buchstaben und dem Geist letztlich nur aus der umgekehrten Perspektive zu bestätigen. Die allzu berechtige Kritik an der einseitigen Orientierung der durch Schleiermacher in Szene gesetzten Hermeneutik droht so, insgeheim die von ihr kritisierten Prämissen zu bestätigen, da sie die Trennung von Buchstabe und Geist ebenso zugrunde legt wie die Hermeneutik – in dem einen Fall durch die Privilegierung des Geistes vor dem Buchstaben, in dem anderen in der des Buchstabens vor dem 33 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 76. 34 Ebd.

Hermeneutik der Buchstäblichkeit

Geiste. Wie aus dieser wenig ertragreichen Aporie, die die literaturtheoretischen Debatten des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts lange bestimmte, herauszukommen ist, muss offen bleiben, solange das Verhältnis von Buchstabe und Geist nicht anders denn als scheinbar unaufhebbare Differenz verstanden wird. Was damit in Frage steht, ist eine Form der Hermeneutik, die den beiden Momenten des Buchstabens und des Geistes gleichermaßen Rechnung trägt und so der Gefahr entrinnt, in der Privilegierung des Sinns die Materialität des Zeichens zu vernichten oder jede Form der Bedeutung im Abgrund der Zeichenhaftigkeit alles Denkens zu versenken.

Die Grenzen des Verstehens: Allegorische und kabbalistische Auslegung Die Kritik einer auf Buchstäblichkeit dringenden Literatursprache, wie sie exemplarisch an der zu finden ist, die Jean Paul in Hermeneutik und Kritik erfährt, verbindet Schleiermacher mit einer vehementen Kritik jener Formen der Auslegung, die gegen den von ihm vorausgesetzten Primat des Geistes verstoßen. In den Blick rückt so zunächst die allegorische Auslegung. Unter ihr versteht Schleiermacher eine Interpretation, »welche, wo der eigentliche Sinn in den unmittelbaren Zusammenhang fällt, doch neben demselben noch einen uneigentlichen annimmt.«35 Was Schleiermacher an der allegorischen Auslegung kritisiert, ist das beständige Schielen des Exegeten nach einer uneigentlichen Bedeutung der Rede. Er wehrt sich damit keineswegs gegen die Auffassung, dass es einen solchen zweiten und in gewisser Weise uneigentlichen Sinn nicht geben könne. Im Gegenteil: »Man kann sie nicht mit dem allgemeinen Grundsatz abfertigen, daß jede Rede nur Einen Sinn haben könne, so wie man ihn gewöhnlich grammatisch nimmt. Denn jede Anspielung ist ein zweiter Sinn, wer sie nicht auffaßt, kann den Zusammenhang ganz verfolgen, es fehlt ihm aber doch ein in die Rede gelegter Sinn. Dagegen war eine Anspielung findet, welche nicht hineinlegt ist, hat immer die Rede nicht richtig ausgelegt.«36 In Anlehnung an die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn ist Schleiermacher durchaus dazu bereit zuzugestehen, dass jede Rede mehr als nur einen Sinn haben könne. Er macht das insbesondere an dem Begriff der Anspielung fest, der auf einen zweiten, mit der Rede verbundenen Sinn ziele. Aber er sieht zugleich zwei Gefahren für die von ihm geforderte Kunst der Auslegung. Die eine besteht darin, Anspielungen gar nicht als solche zu erkennen, so dass eine wesentliche Dimension der Rede dem Ausleger verborgen bleibt. Die andere besteht darin, dort Anspielungen zu erkennen, wo gar keine vorhanden sind. Wo die erste Auffassung 35 Ebd., S. 85. 36 Ebd.

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ein naives Verstehen verkörpert, das sich nicht vorstellen kann, dass mit einer Rede noch ein zweiter Sinn verbunden sein kann, da manifestiert sich in der Vorstellung, bei allen sprachlichen Äußerungen könne es sich um Anspielungen auf einen geheimen Sinn handeln, um ein Missverstehen, das sich bis zum Wahn steigern kann – einem Deutungswahn, der in die Geschichte als Ausdruck einer paranoiden Unvernunft eingegangen ist, die zugleich eine therapeutische Behandlung vonnöten macht, für die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die neue Wissenschaft der Psychoanalyse verantwortlich zeichnet, um zugleich neue Formen der Auslegung zu entwickeln, die mit denen der philosophischen Hermeneutik nicht vorbehaltlos zu vermitteln sind. Berechtigt ist die allegorische Auslegung für Schleiermacher dagegen dort, wo sie sich mit dem Primat des Geistes verbinden lasse. Das ist Schleiermacher zufolge allein in der Frage der Bibelexegese der Fall. Dort zeige sich die allegorische Auslegung als Möglichkeit, die unterschiedlichen Formen des Alten und des Neuen Testaments miteinander zu verbinden. Schleiermacher kann sich in diesem Zusammenhang auf die traditionelle Auffassung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn berufen, der zufolge das Allegorische die Überführung der Figuren des Alten Testaments in die eine Heilsfigur des Neuen Testaments leiste. Darüber hinaus garantiere die allegorische Auslegung im Blick auf die Frage nach dem Verfasser des Neuen Testaments jene Einheit, die aus der Perspektive einer historisch verfahrenden Philologie gerade in Frage stehen muss: »Dann aus der hier noch mehr als beim A. T. ausgebildeten Vorstellung, den heiligen Geist als Verfasser anzusehen. Der heilige Geist kann nicht gedacht werden als ein zeitlich wechselndes einzelnes Bewußtsein. Daher auch hier die Neigung, in jedem alles zu finden. Allgemeine Wahrheiten oder einzelne bestimmte Vorschriften befriedigen diese von selbst, aber das am meisten Vereinzelte und an sich Unbedeutende reizt sie.«37 Die allegorische Auslegung reagiert auf die Frage, wer der Verfasser der Bibel sei, mit dem Hinweis auf die Präsenz des Heiligen Geistes in der Schrift, zu der sich selbst das scheinbar Unbedeutende noch in Verbindung setzen lasse. Im Neuen Testament erfüllt die allegorische Auslegung so die Sicherung des christlichen Heilssinns, indem sie zeigt, »daß, wenn auch die Verfasser tote Werkzeuge gewesen wären, der heilige Geist durch sie doch nur könnte geredet haben, so wie sie selbst würden geredet haben.«38 Mit der Rede von den toten Werkzeugen und dem heiligen Geist greift Schleiermacher die Spannung zwischen dem Buchstaben und dem Geist auf, die schon das Matthäus-Evangelium gepredigt hatte. Wie er deutlich macht, gelingt es dem heiligen Geist, selbst den scheinbar unbeseelten Buchstaben des Alten Testaments zu verlebendigen. Der heilige Geist, der das Neue Testament an allen Stellen 37 Ebd. »Wenn die philologische Absicht dies verkennt, vernichtet sie das Christentum«, notiert Schleiermacher daher. Ebd., S. 126. 38 Ebd., S. 87.

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durchweht, ist dazu in der Lage, jene Einheit zu gewähren, um die es auch der allegorischen Auslegung gehen muss, will sie sich nicht in sinnlosen Abstürzen der Bedeutung verlieren. Auch für diesen Fall, den Absturz der Bedeutung im Abgrund der Sinnlosigkeit, hat Schleiermacher jedoch vorgesehen. Er findet ihn in der kabbalistischen Auslegung. Im Unterschied zur allegorischen Auslegung hat er über sie nichts Gutes zu berichten: Die schlimmste Abweichung nach dieser Seite hin ist die kabbalistische Auslegung, die sich mit dem Bestreben, in jedem alles zu finden, an die einzelnen Elemente und ihre Zeichen wendet. – Man sieht, was irgend einem Bestreben nach noch mit Recht Auslegung genannt werden kann, darin gibt es keine andere Mannigfaltigkeit als die aus den verschiedenen Verhältnissen der beiden von uns aufgestellten Seiten.39 Wo die allegorische Deutung in Bezug auf die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament ihre grundsätzliche Berechtigung findet, solange sie auf die einheitsstiftende Instanz des Heiligen Geistes bezogen werden kann, da führt die kabbalistische Auslegung nur in die Irre. Als schlimmste Abweichung bezeichnet Schleiermacher sie, da sie sich an den einzelnen Elementen und Zeichen der Rede aufhält und darüber das Ganze aus den Augen zu verlieren droht. Indem sie sich auf den bloßen Buchstaben konzentriert, löst die kabbalistische Auslegung die Verbindung zwischen den materiellen Trägern der Schrift und ihrer Bedeutung, um im scheinbaren Tiefsinn der Schriftgelehrtheit melancholisch abzustürzen. Was die kabbalistische Auslegung durch ihr Verfahren in Frage stellt, ist »die Wirksamkeit des heiligen Geistes vom Entstehen des Gedankens bis auf den Akt des Schreibens«40 . Aus der Kunstlehre der Hermeneutik, wie Schleiermacher sie entwirft, bleibt die kabbalistische Auslegung daher ausgeschlossen. Schleiermacher entwirft damit ein grundlegend zwiespältiges Bild der Hermeneutik. Der dialektischen Verknüpfung von grammatischer und psychologischer Auslegung auf der einen Seite stehen auf der anderen Seite die Ausgrenzung der allegorischen und vor allem der kabbalistischen Auslegung als defiziente hermeneutische Auslegungsformen gegenüber. Insbesondere in der scharfen Abwertung der kabbalistischen Auslegung bestätigt Schleiermacher zugleich den in der Bibel verankerten Vorrang des Geistes vor dem Buchstaben. Zwar erlaubt es die allegorische Auslegung, das messianische Heilsversprechen des Alten Testaments in das apostotelische Modell des Neuen Testaments zu überführen. Außerhalb der figuralen Verknüpfung des Alten und des Neuen Testaments hat die allegorische 39 Ebd. 40 Ebd.

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Auslegung jedoch keine Berechtigung. Im Unterschied zu ihr markiert die kabbalistische Auslegung daher eine nicht tolerierbare Abweichung innerhalb der Hermeneutik, in der sich die Kritik der protestantischen Philosophie und Theologie gegen die scheinbar spezifisch jüdisch konnotierte Reduktion von Sprache auf das Moment der Buchstäblichkeit bemerkbar macht. Schleiermacher bestätigt so die Privilegierung des Geistes gegenüber dem Buchstaben, die den deutschen Idealismus in der Anknüpfung an Platon und das Neue Testament kennzeichnet. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, ob sich die Hermeneutik im Allgemeinen und die literarische Hermeneutik im Besonderen mit dieser Ausgangssituation zufrieden geben kann, oder ob sie nicht nach alternativen Modellen der Textauslegung Ausschau halten sollte, die dem Buchstaben ein größeres Recht einräumen, ohne doch den Sprung in den Abgrund des Sinns zu vollziehen, vor dem Schleiermachers Kritik der kabbalistischen Auslegung gewarnt hat.

Harold Bloom und die kabbalistische Auslegung Wenn Schleiermacher sich in Hermeneutik und Kritik gegen die kabbalistische Auslegung ausspricht, dann bezieht er sich im Rahmen der lutherischen Sicherung des einheitsverbürgenden Geistes gegenüber dem Buchstaben kritisch auf die spezifisch jüdische Tradition der Schriftüberlieferung zurück. »Die Kabbala, wörtlich ›Überlieferung‹, nämlich Überlieferung von den göttlichen Dingen, ist die jüdische Mystik«41 , hält Gershom Scholem einleitend in seiner Schrift Zur Kabbala und ihrer Symbolik fest. Die Kabbala, ein Ausdruck, der wörtlich nichts anderes als Tradition bedeutet,42 bezieht sich auf die Tora, den Pentateuchus, auf die ersten fünf Bücher Moses, als Grundlage eines mystischen Verständnisses der Bibel zurück, in dessen Zentrum der Name Gottes stehe. Im Mittelpunkt der Kabbala steht demzufolge die schriftliche Form des Namens: »Die Tora ist der Name Gottes, weil sie ein lebendiges Gewebe, einen ›Textus‹ im präzisen Verstande darstellt, worin der eine wahre Name, das Tetragrammaton, in verborgener und indirekter Weise eingewebt ist und in dem er auch direkt gleichsam als Leitmotiv des Gewebemusters immer wiederkehrt.«43 Die Kabbala, in deren Tradition noch Walter Benjamins magische Theorie der Namenssprache steht, ist nicht nur auf den Namen Gottes zentriert, sie ist damit zugleich ausgesprochen sprach- und insbesondere schriftbezogen. Scholem wehrt sich allerdings gegen die vorbehaltlose Annäherung der kabbalistischen und der allegorischen Auslegung, wie sie schon Schleiermacher vorbereitet 41 Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a.M. 1973, S. 7. 42 »Kabbala bedeutet wörtlich: Tradition.« Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a.M. 1980, S. 22. 43 Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 62.

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hatte. »Der Kabbalist aber geht nicht darauf aus, die Wirklichkeit allegorisch zu entziffern, obwohl die Allegorie auch in den Schriften vieler Kabbalisten eine große Rolle spielt. Seine Weltauffassung ist, was ich in einem prägnanten Sinn symbolisch nennen möchte.«44 Symbolisch nennt Scholem das Sprachbewusstsein des Kabbalisten, da sie nicht auf jener Trennung von Zeichen und Bedeutung beruht, die der Allegorie eigen ist, sondern stets auf Wirklichkeit bezogen bleibt. Scholem sieht den Kabbalisten daher gerade vor der Gefahr gefeit, in die Schleiermacher ihn abstürzen sieht: in den völligen Verlust der Realität angesichts der wahnhaften Verstrickung in eine Welt, die nur aus Zeichen und Buchstaben zu bestehen scheint. Scholems Ausführungen zur Kabbala und ihrer Symbolik hat Harold Bloom im Rahmen seines Entwurfes einer allgemeinen Theorie des literarischen Einflusses als Topographie des Fehllesens aufgenommen und weitergeführt. »Lesen, mein Titel weist schon darauf hin, ist ein später (oder, um mit Freud zu sprechen, nachträglicher) und so gut wie unmöglicher Akt, jede starke Lektüre notwendig ein Fehllesen.«45 In diese Theorie des Fehllesens bezieht Bloom die Kabbala von Anfang an ein: »Alle kabbalistischen Texte sind Interpretationen, wenn auch noch so spekulative, und was sie interpretieren, ist ein zentraler Text, der fortwährende Autorität, Priorität und Kraft besitzt, den man in der Tat als Text schlechthin betrachten darf.«46 Bloom, der zugleich auf der Verschränkung der kabbalistischen Auslegung und der Psychoanalyse Freuds wie der Dekonstruktion Derridas besteht, sucht in der Textbezogenheit der kabbalistischen Tradition zugleich die Mitte zwischen zwei Extremen zu halten, die er als Über- und Entspiritualisierung der Kritik bezeichnet: »Der Literaturkritik droht einerseits die Gefahr einer Überspiritualisierung durch die Erben Auerbachs und Frye, andererseits einer übermäßigen Entspiritualisierung durch die Anhänger der dekonstruktivistischen Schule, die Erben Nietzsches, deren herausragendste Köpfe Derrida, de Man und Hillis Miller sind.«47 Im kritischen Blick auf die Geschichte der Literaturkritik im zwanzigsten Jahrhundert will sich Bloom – trotz einer gewissen Nähe zur dekonstruktiven Übersetzung von Literatur in Rhetorik – weder auf die Instanz des Geistes (Überspiritualisierung) noch die des Buchstabens allein (Entspiritualisierung) verpflichten lassen. »Wenn es mir selbst auch nicht immer wohl ist auf der Suche nach dem verlorenen Sinn, ziehe ich doch letztlich, meine ich, eine Art Interpretation, die bestrebt ist, Sinn wiederherzustellen und Bedeutungen ins Lot zu bringen, einer Deutungsweise vor, die in erster Linie auf die Dekonstruktion von Sinnesbezügen gerichtet ist.«48 Blooms Theorie des Fehllesen ist daher keineswegs mit der Gram44 45 46 47 48

Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 28. Harold Bloom, Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt a.M. 1997, S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 105. Ebd., S. 223.

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matologie zu verwechseln. Seine Idee einer kabbalistischen Textauslegung, die der Psychoanalyse mehr verdankt als der Dekonstruktion, bleibt auf das Moment des Sinns bezogen, ohne doch die Materialiät des Buchstabens als Träger der Bedeutung zu leugnen. Einer der Gründe, der Bloom zu seiner Abgrenzung von dekonstruktiven Texttheorien bewegt, ist der Zusammenhang zwischen der Kabbala und der Mündlichkeit. In seiner Untersuchung der Kabbala und Grundlage des Zusammenhangs von Poesie und Kritik weist Bloom daher einleitend im Rekurs auf Scholem auf die Bedeutung der Mündlichkeit hin: »Das Wort ›Kabbala‹ bedeutet ›Tradition‹ im Spezialsinn von ›Empfangen‹ und bezog sich zunächst auf das ganze mündliche Gesetz.«49 Bloom, der die Geschichte der Kabbala im Wesentlichen als den Kampf zwischen gnostischen und neuplatonischen Tendenzen auf dem Boden des Judentums begreift, teilt zwar die Einschätzung, dass Literatur wie Kritik sich letztlich rhetorischen Prozessen verdanken: »Kabbala ist eine ungewöhnliche Summe von rhetorischer und figurativer Sprache und ist sogar auch eine Theorie der Rhetorik«50 . Und wie in der amerikanischen Dekonstruktion nicht unüblich, so neigt auch Bloom dazu, die Rhetorik auf einige wenige Figuren, in diesem Fall Ironie, Metonymie, Metapher auf der einen und Synekdoche, Hyperbole, Metalepsis auf der anderen Seite zu reduzieren.51 Dennoch grenzt er seine Theorie der EinflussAngst ausdrücklich von der Dekonstruktion ab: »Die Kabbala ist eine kühnere Theorie der Schrift als alle neueren Entwicklungen der französischen Kritik, allerdings ist sie Theorie, die die absolute Unterscheidung zwischen der Schrift und der inspirierten Rede ebenso leugnet, wie sie die menschlichen Unterscheidungen zwischen Anwesenheit und Abwesenheit leugnet.«52 Auch Bloom versteht die Kabbala im Wesentlichen als eine Theorie der Schrift. Im Unterschied zur Grammatologie aber wehrt er sich gegen die vollständige Auflösung aller Formen der Mündlichkeit in Schriftlichkeit, der Anwesenheit in Abwesenheit. Bloom glaubt an so etwas wie die inspirierte Rede, auch wenn er in Formen der Inspiration immer Abwehrvorgänge erkennt, mit deren Hilfe ein Dichter oder Kritiker sich des auf ihn wirkenden Einflusses erwehrt. »Interpretieren ist revidieren ist Einfluß abwehren«53 , lautet die einfache Formel, die es Bloom erlaubt, seine Theorie der Dichtung auf Abwehrvorgänge zugründen, deren Gesetze bereits die Psychoanalyse herausgearbeitet habe. Blooms Theorie des Fehllesens ist daher keineswegs dekonstruktiv, sehr wohl aber psychoanalytisch begründet – sofern man bereit ist, darin eine Differenz zu erkennen, die Freud sowohl von den Aneignungsversuchen durch Lacan als auch 49 Harold Bloom, Kabbala. Poesie und Kritik, Basel 1997, S. 10. 50 Ebd., S. 12f. 51 »Wenn man die Kabbala als Rhetorik sieht, kreist sie um zwei Reihen von Tropen, zuerst: Ironie, Metonymie, Metapher, und dann: Synekdoche, Hyperbole, Metalepsis.« Ebd., S. 70. 52 Ebd., S. 48. 53 Ebd., S. 60.

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durch die darauf aufbauenden Übersetzungen der psychoanalytischen Theorie in die französischen Schrifttheorien unterscheidet. Fast alle seiner Begriffe, der der Abwehr wie der der Nachträglichkeit sowie seine gesamte Konzeption des Fehllesens als einer bestimmten Form der Interpretation der Vergangenheit weisen auf Freud zurück. Dementsprechend stellt Bloom auch auf naheliegende Weise eine Verbindung zwischen der Kabbala und Freud her: »Als eine Psychologie der Verspätetheit zeigt die Kabbala viele Präfigurationen der Freudschen Lehre«54 , heißt es im Blick auf die spezifisch jüdische Tradition, die auch die Psychoanalyse an die Kabbala bindet. »Die wichtige Lektion, die die Kabbala der zeitgenössischen Interpretation beibringen kann, ist, daß Bedeutung in verspäteten Texten immer wandernde Bedeutung ist, wie die verspäteten Juden ein wanderndes Volk waren«55 , hält Bloom fest, der nicht müde wird, im Blick auf die Kabbala an spezifisch jüdischen Traditionen der Auslegung festzuhalten, an deren Ende Freud und er selbst stehen. Was Bloom in der Kabbala findet, ist demnach eine von der Hermeneutik Schleiermachers differierende Form der Auslegung, die nicht von vorneherein auf den Geist dringt, sondern auf der sprachlichen Bedingtheit der Bedeutung insistiert, ohne die Sprache doch zum Schriftzeichen zu fetischisieren. Im Blick auf die Thora bezieht sich Bloom auf die Urszene der jüdischen Überlieferung überhaupt zurück, auf die Verwandlung der Stimme Gottes in die Schrift des Gesetzes zurück: »Als Theorie der Bedeutung besagt die Kabbala, daß Bedeutung die Kränkung ist, daß Bedeutung selbst kränkend ist. Denn die Kabbala versucht jene erste Bedeutung wiederherzustellen, die Gott im Sinn hatte, als er Moses die Thora gab. Doch sie behandelt die Thora als Alphabet, als Sprache selbst.«56 Moses, dem auch Freuds letzte Arbeit gegolten hatte, ist der Zielpunkt von Blooms Analysen, weil die Übergabe der Gesetzestafeln auf dem Berg Sinai den Ursprung aller sprachlich vermittelten Bedeutungszusammenhänge verkörpert. Von einer Kränkung spricht Bloom, der darin wie in seiner Theorie insgesamt keinem ödipalen, sondern einem narzistischen Modell folgt,57 weil der durch die Gesetze verbürgte Imperativ den Menschen zugleich zu den Umwegen zwingt, die abweichende Bedeutung als Abwehr der ihr vorhergehenden Bedeutung erst möglich machen. »Kabbala, wie auch die Dichtung der letzten zwei Jahrhunderte, liest die Schrift nur in einer so geneigten oder figurativen Abwehrhaltung«58 , fasst Bloom daher zusammen. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass nicht nur Gedichte 54 55 56 57

Ebd., S. 39. Ebd, S. 79. Ebd., S. 77. Vgl. Martin von Koppenfels, Häresie als Beruf: Die krummen Blicke des Harold Bloom. In: Poetica 33 (2001), S. 307-322. 58 Harold Bloom, Kabbala, S. 88.

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das Ergebnis solcher Abwehrvorgänge sind,59 sondern auch seine eigene offen betriebene Anknüpfung an Freud. Blooms Modell der kabbalistischen Auslegung verkörpert so eine Alternative zur hermeneutischen Privilegierung des Geistes, wie sie Schleiermacher begründet hat, die zugleich einen Problemhorizont öffnet, der letztlich zu jener anderen, dem Buchstaben verpflichteten und dennoch nicht geistfremden Hermeneutik zurückführt, die die Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts initiiert hat.

Literatur Alexander, Werner: Hermeneutica Generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993. Arndt, Hans Werner: Die Hermeneutik des 18. Jahrhunderts im Verhältnis zur Sprach- und Erkenntnistheorie des klassischen Rationalismus. In: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 12-25. Birus, Hendrik: Einleitung. In: Hendrik Birus (Hg.): Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer, Göttingen 1982, S. 5-14. Bloom, Harold: Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt a.M. 1997. Bloom, Harold: Kabbala. Poesie und Kritik, Basel 1997. Bühler, Axel: Einleitung, in: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 1-11. Frank, Manfred: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a.M. 1985. Frank, Manfred: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch‐französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1990. Kilcher, Andreas B.: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003. Koppenfels, Martin von: Häresie als Beruf: Die krummen Blicke des Harold Bloom. In: Poetica 33 (2001), S. 307-322. Makreel, Rudolf: Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft, Paderborn 1997. 59 »Gedichte sind apotropäische Litaneien, Systeme von Abwehrtropen und tropisierende Abwehren, und was sie abzuhalten versuchen ist im wesentlichen der Abgrund in ihren eigenen Annahmen über sie selbst, die zugleich empirisch verdinglichen und dialektisch ironisieren. Eine Theorie des poetischen Einflusses wird zu einer Theorie des Fehl-Lesens, weil nur das FehlLesen einem Gedicht erlaubt, in seinen eigenen philosophischen Widersprüchen weiterzugehen. Schizophrenie ist im Leben ein Desaster und in der Poesie ein Erfolg.« Ebd., S. 111.

Hermeneutik der Buchstäblichkeit

Schleiermacher, Friedrich D. E.: Hermeneutik und Kritik. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977. Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a.M. 1973. Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a.M. 1980. Stockhammer, Robert: Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution, Berlin 2014. Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen. Band 5, hg. von Jean Bollack/Helen Stierlin, Frankfurt a.M. 1975.

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Von der Verdrängung zum Genießen Zu Lacans Umschriften des Verhältnisses zwischen tötendem Buchstaben und lebendigem Geist Judith Kasper

I. Zum 2000 Jahre alten theologischen Streit um Buchstabe und Geist, der die Auslegung der Schrift, die Einhaltung des Gesetzes und den Ausdruck des Glaubens an Gott bis heute durchzieht, steht die Psychoanalyse und die in ihrem Feld entwickelte Hermeneutik quer. Jacques Lacan, in seiner Rückkehr zu Freud, erfasst das Sprachliche am Unbewussten vor allem in der Insistenz des Buchstabens innerhalb der menschlichen Rede: als Drängen von etwas, das darin zur Sprache kommt, aber nicht artikuliert werden kann und dennoch sprachlich‐psychische Effekte zeitigt. In seinem Vortrag »L’instance de la lettre ou l’inconscient de Freud«, neben seinem Séminaire sur » La Lettre volée »1 der wichtigste Text für Lacans frühe Auffassung vom Buchstaben, lesen wir: Certes la lettre tue, dit-on, quand l’esprit vivifie. Nous n’en disconvenons pas […] mais nous demandons comment sans la lettre l’esprit vivrait. Les pretentions de l’esprit pourtant demeureraient irréductibles, si la lettre n’avait fait la preuve qu’elle produit tous ses effets de vérité dans l’homme, sans que l’esprit ait le moins du monde à s’en mêler. Cette révélation, c’est à Freud qu’elle s’est faite, et sa découverte, il l’a appelée l’inconscient.2 1 Jacques Lacan, »Le Séminaire sur ‚La Lettre volée’«, gehalten 1955, geschrieben 1956, erstmals publiziert 1957 und dann als Eröffnung von Écrits I, Paris: Seuil 1966 wiederveröffentlicht. Zitiert wird im Folgenden nach letzterer Ausgabe. 2 Jacques Lacan: »L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison après Freud«, in: Écrits I, Paris: Seuil, S. 249-289, hier: S. 267; »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, in: Schriften II, Weinheim, Berlin: Quadriga 1986, S. 15-55, hier: S. 34: »Sicher, man sagt, der Buchstabe tötet und der Geist macht lebendig. Wir schließen uns nicht aus von dieser Konvention, […], aber wir fragen auch, wie der Geist ohne den Buchstaben leben könnte. Die Ansprüche des Geistes würden auch dann unangefochten bleiben, wenn der Buchstabe nicht die Probe abgelegt hätte davon, dass er alle seine Wahrheitswirkungen im Menschen tätigt, oh-

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Lacan schreibt die Psychoanalyse, die Entdeckung des Unbewussten, in die Spannung zwischen buchstäblichem und geistigem Sinn ein. Er fasst den geistigen Sinn allerdings keineswegs als den Ort, in dem der tötende Buchstabe je aufgehoben wäre. Der »tötende Buchstabe« bedroht in seinen Überlegungen nicht einfach den »lebendigen Geist«, im Gegenteil: Ohne den Buchstaben könnte der Geist nicht leben. Darüber hinaus – und das ist vielleicht noch wichtiger – bemerkt er, dass der Buchstabe, unabhängig von den Ansprüchen und dem Selbstverständnis des Geistes, fortwährend Wahrheitseffekte (effets de vérité) im Menschen produziert, mit denen der Geist nichts zu schaffen hat, ja von denen er nicht die geringste Ahnung zu haben scheint. Vor allem wenn er sich als ein in sich selbst präsenter, von sich selbst ganz erfüllter Geist ausgibt. Das christlich‐theologische Deutungsmuster, das das Verhältnis zwischen der jüdischen und der christlichen Religion, das Verhältnis zwischen altem und neuem Glauben betrifft, wird von Lacan als eines gedacht, das in der Psyche des abendländischen Menschen eine eigene Wirkung entfaltet. Er übersetzt diese christlich geprägte Sprache und dieses christliche Sprachverständnis und -verhältnis innerpsychisch als Spaltung zwischen Bewusstem und Unbewusstem, wobei der vermeintlich im Namen des Geistes überwundene Buchstabe als Zeichen der Insistenz eines nicht bewusstseinsfähigen Unbewussten erscheint, das »Wahrheitswirkung« zeitigt.

II. »La lettre« – die Letter, der Buchstabe, der Brief und bei Lacan homophon erweitert auch »l’être« (das Sein) sowie qua Paranomasie auch »l’autre« und englisch: »litter« (Abfall) – wird als »instance« (Instanz, Insistenz, aber auch als Un‐stanz, eben etwas, das sich zu keiner Instanz und Institution je verfestigt) gedacht. Instanz des Unbewussten, aber auch – hier hält sich Lacan wiederum buchstäblich an die Paulinische Scheidung – Instanz des Todes: … notre propos n’est pas de confondre la lettre avec l’esprit, […], et que nous admettons fort bien que l’une tue si l’autre vivifie, pour autant que le signifiant, vous commencez peut-être à l’entendre, matérialise l’instance de la mort.3 ne dass der Geist auch nur das geringste damit zu schaffen hat. Dies hat sich Freud offenbart, und Freud nannte seine Entdeckung das Unbewußte.« 3 Lacan, »Le Séminaire sur » La Lettre volée »«, S. 33; »Das Seminar über E.A. Poes »Der entwendete Brief«, in: Schriften I, Freiburg: Walter 1973, S. 7-60, hier: S. 22: »… und wir nicht vorhaben, die Letter [den Buchstaben/den Brief] mit dem Geist [dem sich selbst präsente Sinn] zu verwechseln, … auch wissen Sie, dass wir durchaus erkennen, dass der eine tötet, während der andere lebendig macht, insofern der Signifikant […] die Instanz des Todes materialisiert.«

Von der Verdrängung zum Genießen

Eine für Lacan typische, auf den ersten Blick nicht leicht zu durchschauende Ironie ist hier am Werk, die das zitierte theologische Paradigma abermals in einem anderen Licht erscheinen lässt: Wiederum wird die Anerkennung der Differenz zwischen dem tötenden Buchstaben und dem lebendigen Geist unterstrichen, darin allerdings ein Gesetz der Verdrängung aufgezeigt: »l’une tue si l’autre vivifie« – von Rodolphe Gasché als adversativer Gegensatz übersetzt (»dass der eine tötet, während der andere lebendig macht«) – heißt auch und vielleicht noch mehr: wenn der andere, der Geist, lebendig macht, dann muss der eine – der Buchstabe – also töten. Dies würde implizieren, dass Lacan in der theologischen Gegenüberstellung ein ziemlich desaströses Bedingungsgefüge hervorhebt, dem zufolge die Voraussetzung dafür, dass der Geist lebendig macht, in der Vorstellung begründet ist, dass der Buchstabe die Instanz des Todes materialisiert. Das würde desweiteren bedeuten, dass dieses Leben, das hier im Namen des Geistes aufgerufen wird, den Tod aus der eigenen Lebensrechnung ausgestrichen, verdrängt hat. Ein Leben aber, das den Tod durchgestrichen hat – das lesen wir wiederholt bei Freud – ist ein Leben im Namen des Todestriebes.4 Nichts ist so dem Tod verfallen wie ein Leben, das den Tod verdrängt hat. Für einen starken und vollen Lebensbegriff, für ein Leben, das nicht zerstörerisch und selbstzerstörerisch im Namen des Erhalts von Leben agiert, muss der Mensch, Freud zufolge, ein ganz anderes Verhältnis zum Tod entwickeln.5 Das heißt auch – und das wird durch Lacans Weiterentwicklung der Psychoanalyse noch klarer, als es bei Freud formuliert ist –, dass es darum geht, ein ganz anderes Verhältnis zur Sprache auszuprägen, vor allem einen Sinn für das Buchstäbliche zu entwickeln, ein Gehör für das, was insistierend in einer Rede hörbar wird, ohne sich je verständlich auszudrücken. Die Psychoanalyse fällt damit keine Entscheidung zwischen Buchstabe und Geist, sondern sie öffnet die Sinne – Auge und Ohr – für das, was in einer dominant auf den Geist, auf die Bedeutung hin orientierten, hermeneutischen Kultur leicht auf der Strecke bleibt: für all das, was darin überhört, ja ausgeschlossen wird, aber doch auf unerhörte Weise immer wieder dazwischen quatscht und die Konstitution von Bedeutung in einer vermeintlich kohärenten Rede empfindlich stören kann. In den ungewollten Unterbrechungen der Rede – den Fehlleistungen vor allem –

4 Vor diesem Hintergrund muss die leidenschaftliche Identifizierung des Figuralen, Metaphorischen und Allegorischen mit dem Literarischen schlechthin, die in der Literaturwissenschaft stark verbreitet ist, als eine Verdrängung des Todes erscheinen. 5 Vgl. Sigmund Freud, »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, in: Gesammelte Werke, Bd. 10. London 1949: Imago, S. 324-355; dazu RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, 90 (2019), hg. von Marcus Coelen, Judith Kasper, Johannes Kleinbeck und Aaron Lahl.

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wird etwas vom Wirken des Unbewussten erfahrbar. Und das Unbewusste gehört zur »Ordnung des Buchstabens und nicht zur Ordnung der Idee«6 .

III. Das Deutsche hat, im Gegensatz zum Französischen, zwei Wörter, die eine nicht geistige, nicht übertragene Bedeutung in der Sprache bezeichnen: Buchstäblichkeit und Wörtlichkeit. Doch fällt gerade hier gemeinhin die Buchstäblichkeit mit einer wörtlichen Auffassung zusammen, und die Differenz, die zwischen Buchstäblichkeit und Wörtlichkeit erkannt werden könnte, wird dadurch verschenkt. Die Wörtlichkeit setzt die Vorstellung von einem »festen Buchstabe« voraus, der die Festschreibung von Bedeutung und Sinn verspricht. Der Buchstabe ist so gesehen, nach einer Formulierung von Geisenhanslüke, »ein mächtiges Phantasma, dem ein Versprechen von Stabilität, Verlässlichkeit, Realität und Körperlichkeit innewohnt – das Versprechen, dass Wirklichkeit durch Buchstaben zu bewältigen sei«7 . Das Wort »buchstäblich« fungiere als eine Art adverbialer Schwur, der den Wirklichkeitsbezug des Gesagten bezeuge.8 Die Etymologie des Wortes »Buchstabe« scheint hier Garant solcher Befestigung zu sein: der altgermanische »Stab« – die phallische Dimension ist hier nicht zu übersehen – wurde eingesetzt in der juridischen Urteilsfällung, und das Verb »staben« hat auch die Bedeutung von »einen Eid sprechen«.9 Das Staben des Buchstabens, wie zum Beispiel auch im germanischen Stabreim, wird vor allem im Sinne eines insistenten Befestigens und Unterstreichens einer Aussage verstanden. Der Buchstabe steht hier also ganz im Sinne 6 Serge Leclaire, zit.n. Manfred Pabst, Bild – Sprache – Subjekt. Traumtexte und Diskurseffekte bei Freud, Lacan, Derrida, Beckett und Deleuze/Guattari, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 89. 7 Achim Geisenhanslüke, Buchstäblichkeit. Literatur und Liminalität IV. https://avldigital. wordpress.com/2017/11/10/tagung‐buchstaeblichkeit-literatur‐und-liminalitaet‐ivfrankfurt‐am-main-01-02-12-2017/. 8 Geisenhanslüke, ebd. 9 Vgl. Jakob und Wilhelm Grimm: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Eintrag »Buchstabe«. In diesem sehr umfangreichen Eintrag wird der »Stab« immer wieder eigens Thema: »vor alters hatten die richter einen stab als einen scepter in den händen, er bedeutete absonderlich den blut‐bann oder das gericht über leben und tod.« (Band 17, Sp. 350). Der Stab ist mit dem Wahrsprechen, dem Eid eng verbunden: »besonders spielt der stab beim eide eine rolle. dieser wird im mittelalter so geleistet, dasz der richter oder noch früher der gegner dem schwörenden einen stab hinhält und dabei die eidesformel vorspricht, dieser sie unter berührung des stabes wort für wort nachsagt (ebd., Sp. 351); »stab bezeichnet dann auch in freierer weise die richterliche gewalt oder die gerichtsbarkeit« (ebd., Sp. 352); am ältesten bezeugt und am weitesten verbreitet ist die redeweise einen eid staben, einem schwörenden den eid wort für wort zum nachsprechen vorsagen, was zufrühest sache des gegners, später des richters war (ebd., Sp. 363).

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und in der Funktion der Fixierung der unzweideutigen Wahrheitsgemäßheit einer Aussage. Die Psychoanalyse stellt dieses In-Eins-Gehen des Buchstabens mit der Hervorbringung einer in sich selbst kohärenten Aussage radikal in Frage: Das stumme Staben des Buchstaben widerspricht vielmehr der geistigen Vorstellung, führt einen Widerspruch, eine Spaltung darin ein, es bewirkt, dass die Idee sprachlich nicht widerspruchsfrei zum Ausdruck kommt. Der Buchstabe bricht vielmehr als plötzlich Fremdes und Unintegrierbares in die sprachlichen Bewältigungsstrategien von Wirklichkeit ein, wo er doch als materielles Fundament des Wortes unbemerkt im Wortsinn aufgehen sollte. Schon Freud geht es bei seiner Suche und Erkundung der Wege zum Unbewussten vor allem um solche Verunsicherungen: im Traum, wo Sprachliches plötzlich zum Rebus mutiert; im Witz, der witzig ist, weil er vermeintlich feste Bedeutungen plötzlich ins Rutschen bringt (das französische Wort für Witz – »mot d’esprit« – macht das darin wirksame Spannungsverhältnis zwischen Wörtlichkeit (mot) und Geistigkeit (esprit) explizit); in Freuds anhaltendem Interesse für die Fehlleistungen, insbesondere für das Versprechen und das Verlesen, in denen die intendierte Bedeutung häufig gerade um einen Buchstaben verrutscht, wodurch Anderes, auf den ersten Blick Unsinniges, auf einen zweiten, dritten, vierten Blick Verdrängtes zum Vorschein kommt. Freud bleibt in seiner Aufmerksamkeit für diese vermeintlichen Unsinnsfälle dem hermeneutischen Paradigma verschrieben, öffnet es aber und verschiebt es zunehmend hin zu dem, was in einer Rede die über Tropen bewerkstelligte Bedeutungskonstitution unterbricht, verunsichert, Anderes zur Sprache bringt. Zugleich ist bei Freud immer noch eine Tendenz zur Ontologisierung dieser in der intendierten Bedeutung nicht aufgehenden Restbestände des Unbewussten erkennbar, und zwar genau dann, wenn er meint, die »eigentliche Bedeutung« »hinter« der Oberfläche eines Textes greifen zu können.10 Man könnte sagen: Freud vergeistigt nachträglich das, was er buchstäblich findet. Halten wir zunächst fest: Der psychoanalytische Impuls, dem Buchstaben – dem Abfall und Ausfall in einer Rede – Aufmerksamkeit zu schenken, hat erstens damit zu tun, dass die Psychoanalyse in der Verdrängung des Buchstabens und des damit verbundenen Todes die stärksten neurotischen Leiden erkennt und sich von einem anderen Verhältnis zum Buchstaben und einem anderen Verhältnis zum Tod auch ein lebendigeres Leben verspricht, als es der vermeintlich lebendige, auf Ausgrenzung des toten Buchstaben beruhende »Geist« hervorgebracht hat. Der Impuls, dem Buchstaben erneute Aufmerksamkeit zu schenken, hat zweitens 10 Vgl. hierzu Judith Kasper: »Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben. Saussures Anagramm-Studien und Freuds Fehlleistungen«, in: Sarah Schmidt (Hg.), Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns, Paderborn: Fink 2016, S. 163-179.

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mit der psychoanalytischen Kur von traumatisierten Patienten zu tun: In besonders vertrackter Weise insistiert hier ein nicht integrierbares Ereignis (das immer mit einem schockhaften, nicht bewusst registrierten Zusammentreffen mit dem Tod zu tun hat) in der Rede. Zugleich ist in diesem Unsagbaren ein merkwürdiges Verhaften an einer, immer gleichen, irgendwie erstarrten Erzählung des nicht integrierbaren, nicht transformierbaren Ereignisses zu beobachten. Die Durchquerung einer solchen traumatischen Fixierung kann nur dann stattfinden, wenn die eine, vermeintlich einzige und dadurch vermeintlich einzigwahre Darstellung des Widerfahrenen, die alles andere, was sonst auch noch geschehen ist, negiert, sowohl anerkannt als auch in einem produktiven Sinne verunsichert wird.11 Es geht in der Psychoanalyse also nicht so sehr um eine Fetischisierung des Buchstabens in der Psychoanalyse, sondern vielmehr darum, den Fetisch festgeschriebener Bedeutungen und wahnhaft‐traumatischer Verbindungen aufzulösen. Diese Auflösung kann durch keine andere, positive Darstellung der erlittenen Ereignisse ersetzt werden – das wäre nur Schönrederei. Die psychoanalytische Lockerung setzt vielmehr auf Momente, die in ein Jenseits von Bedeutung führen. Sie stellt erstens in Frage, ob es immer hilfreich ist, das Verstehen einer Bedeutung als den letzten zu erstrebenden Horizont fraglos vorauszusetzen. Zugleich gibt die Psychoanalyse nicht ohne weiteres das Verstehen auf: Sie öffnet aber für die Erfahrung, dass sich eine Bedeutung überhaupt nur einstellen kann, wenn festgefahrene Bedeutungen durchkreuzt werden. Der Buchstabe als Moment dieser Unterbrechung – und diese Unterbrechung ist immer ein kritischer, schwieriger, irritierender Moment, eine Krise der Bedeutung, ein Verlust des Bedeutungshorizontes, ein unbestimmt langer Moment von Desorientierung, der auch mit Angst einher geht – bildet hier die Chance, dass Bedeutung sich selbst in Frage stellt, zugunsten der Möglichkeit, dass sich in dieser Unterbrechung ein anderes Verhältnis zu Sprache und Wirklichkeit entwickeln kann. Genau in dieser Dynamisierung von Bedeutung, ihre Öffnung auf den Unsinn in ihr selbst und außerhalb ihrer, ist der Buchstabe der stärkste Hebel.

IV. Für Lacan werden bestimmte Kipppunkte, in denen Freud an die Grenze des psychoanalytischen Deutungsparadigmas stößt, sowie seine eigenen klinischen Erfahrungen, vor allem mit Psychotikern, zum Anlass, sich zunehmend vom hermeneutischen Paradigma zu verabschieden. Das Sprechen und Schreiben sowie das 11 Vgl. hierzu Judith Kasper, Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift und Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin, New York: de Gruyter 2016.

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Lesen und Hören einer Rede trennen sich zunehmend vom Verstehen einer Bedeutung. Dies ist nicht unbedingt von Nachteil: Denn was sich der Deutung fortwährend entzieht, kann offensichtlich nicht mehr deutend angenähert werden. Anstatt in frustrierender Weise dem sich entziehenden Sinn nachzurennen, wie der Hase dem Igel, vollzieht Lacan eine radikale Abkehr von der Deutung. Was aber bleibt, wenn wir nicht mehr deuten? Wenn wir nicht mehr verstehen? Ist das gleichzusetzen mit totalem Sinnverlust, auf den der Sturz in den depressiven Abgrund oder in den Wahnsinn folgen muss? Eine solche Gefahr besteht zweifelsohne. Aber vor dem Hintergrund des dem Todestrieb verfallenen vermeintlich »lebendigen Geistes«, der das Leben irgendwie schal und gehaltlos macht, lohnt es sich vielleicht, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Wo sich Bedeutungsstrukturen auflösen, gibt es keine Methode. Es gibt das Registrieren von Lachen, Stolpern, Schrecken, von Unsinn – Momenten unvermuteten Genießens, wie Lacan zunehmend unterstreicht. Literatur ist in diesem rutschigen Gelände ein (un)zuverlässigen Wegbegleiter. In der Tat wird bei Lacan, offensiver als bei Freud, das Auseinanderdriften zwischen Buchstabe und Geist bei gleichzeitig bleibender Wirkkraft von beiden, an Literatur festgemacht. Die Avantgarde-Literatur spielt bei der Erkundung dieses Spannungsverhältnisses für Lacan eine wichtige Rolle, denn sie ist eine Literatur, die, so könnte man etwas zugespitzt formulieren, die Letter selbst zum Thema macht. Aber nicht nur: Sie ist eine Literatur, die dem gleichsam eigenmächtigen Spiel der Buchstaben Raum zur Entfaltung gibt und dadurch die eigene Lesbarkeit radikal verunsichert. Edgar Allen Poes Erzählung The Purloined Letter ist davon gleichsam die Erzählung in nuce: Sie erzählt einerseits von einer perfekten Suchmethode, die ihr Objekt dennoch übersieht, weil sie ganz systematisch und dabei entweder zu tief oder zu oberflächlich ansetzt. Andererseits stellt sich Poes Erzählung in Lacans Lektüre als die Erzählung vom Zeigen als Verdecken des Buchstabens in der Dichtung selbst dar. Denn der Brief/Buchstabe kann keine eigentliche Bedeutung entwickeln, weil derjenige, der sich ihn aneignet, immer schon von ihm besessen ist.12 Das Kippen des vermeintlich souveränen Subjekts in eines, das dem Brief/Buchstaben unterworfen ist, impliziert, dass sich die Letter stets dem zugreifenden Blick entzieht und ihre Bedeutung aus der Deckung heraus entfaltet. Dupin (und mit ihm, dem Psychoanalytiker) gelingt es, sich mit der Letter in Bezug zu setzen, indem er sie nicht sucht. Er durchkämmt den Raum des Ministers nicht, sondern er liest ihn.13 Lesen heißt hier, sich versetzt, den Blick verborgen 12 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen von Jacques Derrida, »Le facteur de la vérité«, in: ders., La carte postale de Socrate à Freud et au‐delà, Paris: Flammarion 1980, S. 441-524, hier: S. 450. 13 Vgl. zu dieser grundlegenden Unterscheidung die erhellenden Ausführungen in Mai Wegeners Lektüre von Lacans Poe-Seminar, in: dies., Neuronen und Neurosen. Der psychische Apparat bei

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und gefiltert durch die grüne Brille, die sich Dupin aufsetzt, zur Letter zu verhalten: Die irreduzible, nicht anzueignende Äquivozität, die die Letter immer als etwas anderes erscheinen lässt als sie ist, wird erst so erkennbar.

V. Die unkontrollierbare Vieldeutigkeit des Signifikanten »Lettre« ist in beiden Beiträgen Lacans – dem Séminaire sur la ‚Lettre volée’ und dem Vortrag »L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud« – Protagonist und wird jeweils in ihrer rätselhaften und ungreifbaren Insistenz herausgestellt. Diese Insistenz ist für Lacan zugleich inkonsistent. Die insistente Inkonsistenz oder inkonsistente Insistenz des Buchstabens ist das Prinzip des Wiederholungszwanges: »D’où l’on peut dire que c’est dans la chaîne du signifiant que le sens insiste, mais qu’aucun des éléments de la chaîne ne consiste dans la signification dont il est capable au moment même.«14 Weil etwas gesagt werden will, das ganz offensichtlich nichts sagen will, weil etwas insistiert, das in keiner Bedeutung aufgeht, gibt es den Zwang zur Wiederholung. Damit beginnt das Seminar über E.A. Poes »Der entwendete Brief »: »das Prinzip des Wiederholungszwangs [gründet] in dem […], was wir die Insistenz der signifikanten Kette nannten.«15 In diesem frühen Seminar vollzieht sich ein Versteckspiel, das ständige Verfehlen einer Bedeutung mit sich selbst in der verwirrenden und von Lacan ausgespielten Homonymie und Homophonie des Signifikanten »lettre«. Lacan agiert gleichsam mimetisch‐buchstäblich Poes Erzählung aus, verlängert und verkompliziert über die Erzählung hinaus die Logik der Verbergung als Aussetzung ans Offensichtliche. Auch das Joycesche Wortspiel zwischen »letter« und »litter« taucht hier schon auf, das in seinem späteren Text »Lituraterre« wichtig wird und auf das ich weiter unter zu sprechen komme. Hier wird es erwähnt, um zu sagen, dass in dem Moment, als die Polizisten in Poes Erzählung den Brief in ihren Händen halten und hin und her wenden, sie etwas in der Hand hielten, »das nicht der Beschreibung entsprach, die sie vom Brief hatten [.] A letter, a litter, ein Brief, ein Abfall.«16 Freud und Lacan. Ein historisch‐theoretischer Versuch zu Freuds Entwurf von 1895, München: Fink 2004, S. 91ff. 14 Lacan, »L’instance de la lettre«, S. 260; »Das Drängen des Buchstabens«, S. 27: »Man kann also sagen, daß der Sinn in der Signifikantenkette insistiert, daß aber nicht ein Element der Kette seine Konsistenz hat in der Bedeutung, deren es im Augenblick gerade fähig ist.« 15 Lacan, Das Seminar über E.A. Poes ‚Der entwendete Brief’, S. 9; frz. S. 19: »Notre recherche nous a mené à ce point de reconnaître que l’automatisme de répétition (Wiederholungszwang) prend son principe dans ce que nous avons appelé l’instance dee la chaîne signifiante«. 16 Ebd., S. 24, frz. S. 35.

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Lacan geht es hier um das Paradox des ständigen Sich-Selbst-Verfehlens des Sinns, aber auch um das Paradox, dass die Letter eben durch dieses ständige Verfehlen immer an ihren Bestimmungsort gelange.17 Genau dieser Dynamik ruht der Wiederholungszwang auf. Das Paradox rührt daher, dass das, was Lacan das Reale nennt, die symbolische Ordnung, ohne je von dieser aufgenommen zu werden, fortwährend durchkreuzt: »Das Reale […] befindet […] sich immer und in jedem Fall an seinem Platz, es trägt ihn an seiner Sohle mit sich fort, ohne dass es etwas gibt, das es aus ihm verbannen könnte«18 , wohingegen das Symbolische dadurch ausgezeichnet ist, dass es seinen Ort wechseln kann, also das metaphorische Prinzip der Ersetzung garantiert. Für Lacan heißt das aber auch, dass man vom »Symbolischen buchstäblich (à la lettre) sagen kann, dass es an seinem Platz fehle«19 . Wo sich das Reale nicht vom Platz bewegt, sich also dem Prinzip der Ersetzung, das die symbolische Ordnung garantiert, sperrt, flieht die symbolische Ordnung gleichsam immer schon vom Platz weg, an dem sie das Reale hätte antreffen können. Der Buchstabe als das, »was von einem Signifikanten übrig bleibt, der keine Bedeutung mehr hat«20 ist gleichsam der Zipfel, an dem unter Umständen die beiden getrennt laufenden Ordnungen des Realen und des Symbolischen punktuell zusammenstoßen, ohne sich dadurch ineinander zu integrieren. An dieser Stelle darf Derridas kritische Lektüre von Lacans Séminaire nicht unerwähnt bleiben. Derrida wendet zunächst die durch Lacans Lektüre hervorgetriebene Äquivozität von »lettre« auf dessen eigene Schreibweise zurück. Indem er die Lacansche Wendung »manque à sa place« oszillieren lässt mit »le manque a sa place«, zeigt er durch diese um nur einen Akzent verschobene Differenz die immer noch kryptisch vorhandene Metaphysik der Psychoanalyse auf.21 Denn die Zirkulation, der Wiederholungszwang, die Lacansche Behauptung, dass jede Letter bei seinem Empfänger ankommt, erhalten sich, so Derrida, nur aufgrund der Annahme, dass hinter der Signifikantenlogik des Fehlens und Verfehlens ein dem Subjekt zwar unzugänglicher aber doch sich selbst identischer Ort (des Fehlens) mit eigentlicher Bedeutung (»sens propre«) zugrunde liege, den nur Dupin und der Psychoanalytiker kennen: Es ist der Ort der Kastration, der zum (negativen) Ausgangspunkt für die Konstitution des Subjekts wird. So findet Dupin in Poes Erzählung den Brief im Kamin, von Lacan als weibliches Geschlecht übersetzt: »Telle 17 Vgl. ebd. S. 41, frz. S. 53: »C’est ainsi que ce que veut dire ‘la lettre volée’, voire ‘en souffrance’, c’est qu’une lettre arrive toujours à destination«. 18 Ebd., S. 24, frz. S. 35: »Car pour le réel, quelque bouleversement qu’on puisse y apporter, il y est toujours et en tout cas, à sa place, il l’emporte collée à sa semelle, sans rien connaître qui puisse l’en exiler.« 19 Ebd., S. 24, frz. S. 35: »C’est qu’on ne peut dire à la lettre que ceci [le symbolique] manque à sa place.« 20 Ebd., S. 39, frz. S. 51: »ce qu’il reste d’un signifiant quand il n’a plus de signification«. 21 Derrida, »Le facteur de la vérité«, S. 453.

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la lettre volée, comme un immense corps de femme, s’étale dans l’espace du cabinet du ministre, quand y entre Dupin. […] et il n’a plus qu’à déshabiller ce grand corps«, um dann den Brief »entre les jambages de la cheminée« zu finden.22 Derrida schlussfolgert daraus, dass es sich bei Lacans Lektüre immer noch um eine hermeneutische Entschlüsselung handle: »Le lien de la Féminité et de la Vérité (de la castration) en est l’ultime signe.«23 Umgekehrt kann man allerdings an Derrida kritisieren, dass er seine Auseinandersetzung mit Lacan auf dieses frühe Seminar beschränkt, das für ihn gleichsam zum »letzte Zeichen« der Psychoanalyse wird.

VI. Schon in Lacans kurze Zeit später gehaltenem Vortrag »L’instance de la lettre dans l’inconscient de Freud« wird gleichsam die Rückseite des Buchstaben durchgespielt, die Letter noch einmal umgewendet und nicht so sehr in ihrer verborgenen Offensichtlichkeit, sondern in ihrem perennierendem Andrängen erkundet. Das Sprachspiel um »lettre« erweitert sich zum homophonen »l’être« (wodurch nicht der Buchstabe ontologisiert, sondern vielmehr das Sein ins Buchstabenspiel aufgenommen wird) und zum paronomastisch verschobenen »l’autre«. Der Buchstabe ist das Sein, aber immer als ein anderes und Anderes als Sein. In seiner 15 Jahre später gehaltenen Seminarsitzung »Leçon sur Lituraterre« – Teil des Seminar XVIII D’un discours qui ne serait pas du semblant (1971) –, leicht verändert unter dem Titel »Lituraterre« im gleichen Jahr in der Zeitschrift »Littérature« veröffentlicht24 , kehrt der Buchstabe dann mächtig und noch einmal ganz anders zurück und mit ihm auch ein provozierend anderer Literaturbegriff, der für die Literaturwissenschaft und ihre Methodik noch weitgehend unerschlossen ist. Lacans hier vollzogene Relektüre25 seiner frühen Texte zur Letter führt eine entscheidende Wende in seine frühere Auffassung des Buchstabens und die an ihm gezeigte Dynamik des Wiederholungszwangs ein. Man könnte vielleicht sagen, Lacan treibe den Wiederholungszwang in diesem späten Text gleichsam einem Punkt zu, an dem Buchstabe und Geist nicht mehr in einem wie auch immer gearteten Verhältnis zueinander stehen, sondern sich voneinander abspalten: der Buchstabe beginnt ein entfesseltes Eigenleben. Das führt zunächst zu einer tiefen Krise des 22 Lacan, » Séminaire sur la lettre volée «, S. 47; dazu Derrida, »Le facteur de la vérité«, S. 468f. 23 Derrida, »Le facteur de la vérité«, S. 470. 24 Lacan, »Leçon sur Lituraterre«, in: Le Séminaire. Livre XVIII. D’un discours qui ne serait pas du semblant, Paris: Seuil 2007, S. 113-127, sowie Lacan, »Lituraterre«, in: Littérature, 1971, Nr. 3, S. 3-10. Im Folgenden wird nach dem Séminaire XVIII zitiert. 25 Lacan erwähnt seine – für ihn außergewöhnliche – Relektüre (»je ne me relis jamais, mais…«) des Seminars über den Entwendeten Brief selbst in der Sitzung vom 10. März 1971 (Séminaire XVIII, S. 93).

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Sinns. Wo aber die Eigendynamik des Buchstabens den Geist und den an ihn gebundenen Sinn mitzureißen vermag, wird ein – sexuelles – Genießen (jouissance) freigesetzt (im Seminar über Poe wird zwar der Ort des Briefes als weibliches Geschlechtsteil und Ort der Kastration erkannt, aber dieser Befund steht der jouissance noch sehr fern). Das Genießen ereignet sich in dem Moment, in dem nun der Geist als Instanz des hermeneutischen Deutungshorizonts wirklich verabschiedet wird. D.h. aber auch, dass das Genießen ein schwieriger Begriff ist, denn die Verabschiedung vom Geist als Garant des Verstehens ist unweigerlich mit der Angst vor totalem Sinnverlust und Wahnsinn verbunden. Doch werden wir von Lacan bei diesem Schritt und Schnitt nicht ganz alleine gelassen. Mit Joyce, Mallarmé, Apollinaire, Beckett und Rabelais ruft Lacan in „Lituraterre“ wichtige literarische Weggefährten auf, die bereit waren, die Kluft zwischen Buchstaben und Geist sehr weit, bis in einen Bereich hinein, der gemeinhin als psychotisch bezeichnet wird, auszuschreiten, ohne vorzeitige Kompromisse zu schließen. Lacans Vokabular ebenso wie sein sind in „Lituraterre’ anders. Der Begriff der »instance« und das daraus gewonnene Wortfeld sind abwesend. Auch ist nicht mehr vom Wiederholungszwang die Rede. »La lettre volée« – die entwendete, verborgene, beiseite geschobene Letter – wird hier zu einer Meditation über den Buchstaben, die Lacan mit einer Flugreise (frz.: »vol«) von Japan zurück nach Europa verbindet.26 Japan bedeutet für Lacan die Entdeckung der Schrift diesseits und jenseits ihrer Zeichenhaftigkeit: als japanische Kalligraphie und das Element des Wassers. Der nahen Lektüre der abendländisch konstipierten Geschichte der »lettre volée« (in der in phallischer Weise ein Konkurrenzverhältnis ausgetragen wird, wer der intelligenteste, pfiffigste und finderischste Geist ist, und es ist natürlich der dichterische, der über dem prosaisch‐polizeilichen Sinn den Sieg davon trägt) wird die orientalische, irgendwie weitschweifige, gleichsam verflüssigte Meditation von »Lituraterre« gegenübergestellt, die nicht zuletzt – ich komme weiter unten darauf zurück – im Kontext von Lacans erneutem Sich-Heranschreiben an »Frau« steht: hier eine Sprachlandschaft aus ausgewaschenen Litoralen, sich ständig verändernden Zonen innerhalb dieser »Lituraterre«; fortwährend verändert, ver‐andert (wie Hamacher sagen würde), durch das, was schweigt (taire) und schweigend darin mitspricht (Lacan schweigt selbst über diese doch so offenkundige Homophonie). 26 Die Verschiebung von »vol« (Entwendung, Diebstahl) zu »vol« (Flug) kündigt sich schon in Lacans Seminar über Poe an, wenn er von »fliegenden Blättern« spricht (»Et, s’ils n’étaient feuilles volantees, il n’y aurait pas dee lettres volées« (Séminaire sur la ‚lettre volée’, S. 37, dt: S. 26: »Und wären sie keine fliegenden Blätter, gäbe es keine gestohlenen Briefe«). Auch Derrida betont im übrigen die Deplatzierung als Mobilisierung der Letter durch Lacans Lektüre (»Le facteur de la vérité«, S. 451).

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Auch der »Abfall« (litter, déchet …) bleibt sich nicht gleich: Während beim frühen Lacan wie bei Freud der Abfall das ist, was von der abendländischen Zivilisation ständig verdrängt wird und nicht wahrgenommen werden kann (weshalb das zerrissene und zerknitterte Aussehen die beste Tarnung für den entwendeten Brief ist), gibt es in »Lituraterre« nichts Intaktes mehr, gegen das das Ruinöse abfallen würde. Es geht vielmehr um Bewegungen: ewig anschlagende Wellen, durch die sich eine Küste – ein Litoral – bildet und zugleich ständig ausstreicht. Der Buchstabe steht hier nicht im Zeichen des quälenden Wiederholungszwangs, sondern vielmehr in einer Phase der Wiederholung, in der diese nicht mehr so sehr als Insistenz erfahren wird, sondern vielmehr als Auswaschung und Ausstreichung, als eine Zersetzung, durch die sich neue Zonen öffnen, Zonen, die sich in ihrer Form ständig verändern. Diese Zonen sind das Litoral, sind Literatur, so wie Lacan Literatur auffasst: Gebilde, die durch das Wegreiben von fester Materie entstehen, Züge, die sich selbst auslöschen. Lacan schreibt: Rature d’aucune trace qui soit d’avant, c’est ce qui fait terre du littoral. Litura pure, c’est le littéral.27 Das verwirrende Wortspiel um »lettre« wird in diesem späten Text noch weitergetrieben. Die Bedeutungen von lat. »litera« (Ausstreichung, Schmiererei) und frz. »litoral« und »terre« werden entgegen etymologischer Schlüssigkeit durch falschen Schnitt in »Literatur« eingetragen. »Literatur« wird so noch mehr ins Schillern und Schwanken gebracht. Diese Schnitte – versetzte Akzentuierungen, paronomastische Vokalvertauschungen – verursachen darin gleichsam einen Schiffbruch des Sinns, durch den sich, wie bei Mallarmé, ein Zwischenraum (espacement) innerhalb von Sprache und Sinn sich auftut.28 Lacan verbindet diese Vertauschungen mit der 27 Lacan, Séminaire XVIII, S. 121; »Durchstreichung jeglicher Spur, die vorher gewesen wäre, das ist das was aus dem Litoral Terra macht. Reine Litura (lat: ausstreichen), das ist das Literale (= Buchstäbliche)« (Übers. von Rolf Nemitz, siehe https://lacan‐entziffern.de/signifikant/35133psychoanalyse‐lituraterre/) 28 Auch hier wieder die ironische Pointe: Lacan bezieht sich auf das Dictionnaire étymologique de la langue latine von Ernout und Meillet (1932), um sich des dort aufgefundenen Wortmaterials zu bedienen, die etymologischen Verbindungen durchschneidend: »Ce mot, lituraterre, que j’ai inventé, se légitime de l’Ernout et Meillet. Il y en a peut-être ici qui savent ce que c’est. C’est un dictionnaire dit étymologique du latin. Cherchez à lino, litura, et puis liturarius. Il est bien précisé que ça n’a rien à faire avec littera, la lettre. Que ça n’ait rien à faire, moi, je m’en fous. Je ne me soumets pas forcément à l’étymologie quand je me laisse aller à ce jeu de mots dont on fait à l’occasion le mot d’esprit – le contrepet, en l’occasion évident, m’en revenant aux lèvres et le renversement à l’oreille« (Lacan, Séminaire XVIII, S. 113). »Dieses Wort, Lituraterre, das ich erfunden habe, findet seine Rechtfertigung im Ernout und Meillet, es gibt hier ja vielleicht einige, die wissen, was das ist; das ist ein etymologisches Lexikon des Lateinischen, das gar nicht so dumm gemacht ist. Schlagen Sie nach unter lino, litura, Sie werden das finden, und dann unter liturarius; es wird deutlich darauf hingewiesen, dass das mit littera, mit dem Buchstaben, nichts zu tun

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Erfahrung, die man macht, wenn man anfängt, eine fremde Sprache zu sprechen: die Signifikanten sitzen noch nicht fest, man verwechselt häufig Vokale und Konsonanten, verpasst so haarscharf das richtige Wort, wodurch der Sprachlernprozess durchaus in engem Zusammenhang mit den Fehlleistungen Freuds zu sehen ist (die Fälle des Vergessens von Namen und Fremdwörtern ereignen sich da häufig beim prekären Übergang von der Mutter- in die Fremdsprache, bei dem sich in der und als Sprache des Versprechens eine andere – nicht positive, nicht erlernbare, aber schweigend immer anwesende – Sprache zeigt).29 Das Spiel mit den Homonymien und -phonien, das sich in Lacans frühen Schriften ausgehend vom französischen Signifikanten »lettre« entfaltet hat, tritt hier in eine neue Runde ein, in der die Paronomasie die Vorhut übernimmt. Dadurch wird die für den Wiederholungszwang typische Selbstbezüglichkeit des homophon/nymen Verwirrspiels überschritten. Worte fließen von einer Sprache in eine andere. In solcher Weise verharren die Signifikanten und Buchstaben nicht mehr am verstohlenen Ort, um von dort die symbolische Ordnung aufzustören, sondern sie beginnen zu fliegen. Zu welcher Sprache das Wort »Lituraterre« überhaupt gehört, kann ebenso wenig entschieden werden, wie dies bei Joyces Kofferwörtern der Fall ist, in die häufig viele Sprachen ineinander collagiert sind. Aber kehren wir noch einmal zu der Passage zurück, in der die unterschiedlichen Pseudo-Etyma zur »Lituraterre« zusammengewirbelt werden: Rature d’aucune trace qui soit d’avant, c’est ce qui fait terre du littoral. Litura pure, c’est le littéral. Will man aus dem Gesagten noch ein »Bild« gewinnen, so wird dieses von Lacan radikal umgewendet, auf den Kopf gestellt: denn geologisch wird das Meer ja als Fraß am Land gesehen, Küsten entstehen durch permanenten Wellenanschlag als weggefrästes Land. Hier aber taucht das Negativ davon auf. Bei Lacan macht die Aushat. Dass das nichts damit zu tun hat, ist mir egal. Ich unterwerfe mich nicht zwangsläufig der Etymologie, wenn ich mich diesem Wortspiel hingebe, mit dem gelegentlich ein Witz gemacht wird; der Schüttelreim (contre‐pêt), der hier evident ist, kam mir auf die Lippen und die Umstellung kam mir zu den Ohren (Übers. Rolf Nemitz, https://lacan‐entziffern.de/signifikant/35133psychoanalyse‐lituraterre/)). Vgl. zu diesen Erschütterungen der Sprache auch Judith Kasper, »Für eine Philologie der Katastrophe«, in: Ottmar Ette, dies. (Hg.), Unfälle der Sprache. Literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe, Wien: Turia+Kant 2014, S. 7-22. 29 »Ce n’est pas pour rien que, quand vous apprenez une langue étrangère, vous mettez la première consonne de ce que vous avez entendu la seconde, et la seconde, la première« (Lacan, Séminaire XVIII, S. 113) (»Es ist nicht von ungefähr, dass Sie, wenn Sie eine Fremdsprache lernen, von dem, was Sie gehört haben, den ersten Konsonanten an die zweite Stelle setzen und den zweiten an die erste«) (Übers. Rolf Nemitz). Vgl. Judith Kasper: »›Aufrichtig und kritiklos und ohne bestimmte Absicht‹. Liquides und Widerständiges bei Freud«, in: Annika Haas, Jonas Hock, Anna Leyrer, Johannes Ungelenk (Hg.), Widerständige Theorie. Kritisches Lesen und Schreiben, Berlin: Neofelis 2018, S. 41-50.

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streichung aus dem Litoral Land (und nicht: aus dem Land ein Litoral). Das heißt auch, dass es nicht nur um Verlust von »festem Boden« geht, sondern dass durch den Wellenanschlag (man erinnere sich an Lacans Statement, dass die psychoanalytische Deutung nicht verstanden werden will, sondern dass sie Wellen produzieren soll, wobei das französische Wort »vague« selbst zwischen Nomen und Adjektiv schwankt und schwingt)30 Land gewonnen wird genau da, wo man meint, des festen Bodens verlustig zu gehen. »… ce qui fait terre du littoral. Litura pure, c’est le littéral.« Das Litoral muss zum Schweigen gebracht werden (faire taire). Wenn das Bild des Litorals ausgewaschen sein wird, bleibt – litter – ein stummes Stottern und Staben, durch das etwas als Zwischenraum oder auch reine Differenz, die an keine positive Bedeutungseinheit mehr gebunden ist, fortgeschrieben wird: »lit[toral]«, »lit[ura]«, »lit[téral]«. Das Litoral rutscht von einem auf den Kopf gestellten symbolisch‐imaginären Vorstellungsraum in die Buchstaben-Bewegung seiner Signifikanz, die diese symbolisch‐imaginäre Dimension durchstreicht, auswäscht und auslöscht. Dies nicht nur über die Vervielfältigung der Schüttelreime und puns in Lacans Text, sondern auch über eine an Mallarmé gemahnende Syntax, wie Eric Laurent treffend bemerkt hat: Alors en tout cas on se dit, d’accord, on voit le montage entre » La lettre volée «, le vol, et puis dans le montage il dit c’est formidable, il voit les fleuves, comme une sorte de trace d’où s’abolit l’imaginaire et il dit ça comme du Mallarmé: » Tel invinciblement m’apparut […] d’entre les nuages, le ruissellement, seule trace à apparaître, d’y opérer plus encore que d’en indiquer le relief en cette latitude, dans ce qui de la Sibérie fait plaine, plaine désolée d’aucune végétation que de reflets, lesquels poussent à l’ombre ce qui n’en miroite pas. ‚En effet’, c’est du Mallarmé, c’est écrit, ça c’est un français sur lequel il faut vraiment se casser la tête pour comprendre la construction exacte, où sont les relatives, le sujet est‐il en apposition, où ? comment ? C’est une langue qui travaille. On voit donc cette abolition de l’imaginaire : » les reflets poussent à l’ombre ce qui n’en miroite pas «. Ce n’est pas le signe en tant qu’il indique, mais on a cette trace qui ne vient même pas souligner un aspect préexistant du monde. Ce n’est même pas l’opposition du fleuve et de la montagne, ça ne trompe pas –, pas de rayage –, pure trace qui opère. Il nous dit qu’il revient du Japon, mais comme il le dit, il revient surtout d’un certain rapport à l’écriture.31 30 »L’interprétation analytique n’est pas faite pour être comprise; elle est faite pour produire des vagues« (Lacan, Freud et ses erreurs?, Conférences et Entretiens dans des universités nord‐américaines, in: Scilicet Nr. 6/7, 1975, S. 32-37, hier: 35). 31 Eric Laurent, »La lettre volée et le vol sur la lettre«, in: La Cause freudienne, Nr. 43 (1999), S. 31-46, hier: S. 38.

Von der Verdrängung zum Genießen

Der Buchstabe beruht, so suggeriert Lacan in »Lituraterre«, nicht mehr auf einer Verdrängungslogik. Der ganze Text ist als Flug über die Erdoberfläche, als Durchreise durch große Weiten gestaltet. Als eine ganz andere Art von distant reading – avant la lettre: ein Lesen ohne festen Standpunkt, in dem aus der Höhe des Flugzeugs nur noch unscharfe Konturen von Flussverläufen in Sibirien und von Küstenstrichen zu lesen sind, ein Lesen, das durchaus im ironischen Gegensatz zu dem obsessiven, alles durchforschenden und doch für die Letter (Brief/Buchstabe) blinden Durchkämmen des Präfekten G in Poes Erzählung gesehen werden kann. Dieses Lesen – beeinflusst von der Begegnung mit japanischer Kalligraphie – bringt keinerlei Bedeutung hervor, ist aus den Zwängen der Sinnerschließung gleichsam freigesetzt. Die Buchstaben haben sich aus den insistenten Zwängen der Wiederholung gelöst: Sie sind nicht mehr quälendes Zeichen für etwas, das zum Ausdruck kommen will und nicht zum Ausdruck kommen kann – sondern sie bilden einen Fluss von Schrift, in dem sich eine ganz andere, noch nicht existierende Sprache ankündigt.

VII. Joyces Texte, die in den folgenden Jahren für Lacan immer wichtiger werden, werden hier mit der japanischen Kalligraphie, gelesen von jemandem, der die japanischen Schriftzeichen nicht entziffern kann, enggeführt. Der generalisierte Schüttelreim bei Joyce, die japanische Kalligraphie. Zugleich bringt Lacan Joyces Schreibweise mit der Psychose in Verbindung und schreibt selbst zunehmend wie Joyce. Die Herausforderung besteht darin, die Psychoanalyse diesen so ganz anderen Erscheinungsformen von Sprache auszusetzen. Lacan bemerkt in »Lituraterre«, dass Joyce, der nie eine Psychoanalyse gemacht hat, so schreibe, wie es der denkbar beste Ausgang aus einer Psychoanalyse sein könnte: »Au jeu que nous évoquons, il n’y eût rien gagné, puisqu’il allait tout droit, avec cet a letter, a litter, tout droit au mieux de ce qu’on peut attendre de la psychanalyse à sa fin.«32 In seinem Seminar über Joyce sagt er, Joyce erscheine wie »désabonné à l’inconscient«.33 Genauer: »J’ai dit que l’inconscient est structuré comme un langage. Il est étrange que je puisse aussi dire désabonné à l’inconscient quelqu’un qui ne joue strictement que sur le langage […]«.34 In diesem Zugleich, der Annahme des logischen Widerspruchs, taucht jouissance auf, nicht als feststehender Begriff, sondern als Ergebnis eines Wortspiels: 32 Lacan, Séminaire XVIII, S. 113 (»Bei dem Spiel, das wir evozieren, hätte er nichts gewonnen, denn er ging ganz direkt, mit diesem a letter, a litter, ganz direkt auf das Beste dessen zu, was man an ihrem Ende von einer Psychoanalyse erwarten kann« (Übers. Rolf Nemitz)). 33 Jacques Lacan, ‚Joyce le symptôme’, conférence du 16 juin 1975, in: ders: Le Séminaire livre XXIII, Le sinthome. Paris: Seuil 2005, S. 164. 34 Ebd. S. 166.

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»jouer«, »joyce«, »joy«35 ; aber wie Lacan auch schreibt: »jouis‐sens«36 . Diese Pointe ist wichtig, denn sie bringt den »Sinn«, die »Bedeutung«, die »Richtung« und in gewisser Weise auch den »Geist« noch einmal anders zurück, als etwas, das nicht verstanden, sondern nur gehört (j’ouis) und genossen (jouis) werden kann: »Lisez des pages de Finnegans Wake, sans chercher à comprendre. Ça se lit. Si ça se lit, […], c’est parce qu’on sent présente la jouissance de celui qui a écrit ça.«37 Man bemerke in diesem erstaunlichen Satz wiederum die Insistenz von »lit« – nun als ein radikales Lesen ohne Deutung – und die zugleich insistierende, veranderte, nurmehr hörbare Rückkehr von »sens« in »sent«, »présente« und »jouissance«. Man könnte auch sagen: In der überdrehten Produktion von puns und in den zunehmend kryptischen Einschreibungen wird die symbolische Struktur der Sprache aufgesprengt, überschritten und überschrieben; sie kann darum nicht mehr von einem Verdrängten in Form seiner Wiederkehr durchbrochen werden. In diesem Moment tauchen Panik angesichts des Verlusts und gleichzeitig ein jubelndes Gefühl von Befreiung von Sinn auf. Dies ist für Lacan das Sexuelle, das er mit dem Axiom »il n’y a pas de rapport sexuel« schreibt: Das Sexuelle nicht als »rapport« (frz. für Verhältnis, Beziehung, Bericht etc.), sondern als Entbindung von Beziehungsgefügen und Bedeutungsverpflichtungen.38 Die Opposition von signifié und signifiant, die das symbolische Gefüge der Sprache bildet, tritt dabei zunehmend in den Hintergrund, und der Buchstabe – das Reale – schreibt sich gleichsam in Reinschrift39 und fällt zugleich doch von Schrift und Sprache ab: letter, litter. Der Buchstabe fällt vom Geist ab und dadurch werden gewisseraßeb beide gleichzeitig verabschiedet. Das Litoral ist die Zone, in der sich dieser Abfall vollzieht und zugleich ist es die Zone, die sich in dieser und durch diese Verabschiedung überhaupt erst öffnet – am einen Rand verbunden bleibend mit der bedeutenden sprachlichen Artikulation, am anderen Rand übergehend in die jouissance.

Coda Der Buchstabe, der in Lacans frühen Schriften im Zeichen der rätselhaften Sprache des Unbewussten stand und dadurch auch den Status des Symptoms hatte,40 35 36 37 38

Ebd. S. 166 und 167. Lacan, Télévision (1973), in: Autres écrits, Paris: Seuil, 2001, S. 517. Lacan, » Joyce le symptôme », S. 165. Vgl. hierzu Jean-Luc Nancy, L’ ‚il y a du rapport sexuel’, Paris: Galilée 2001; dt: Es gibt – Geschlechtsverkehr, Zürich: Diaphanes 2012. 39 »L’écriture, la lettre, c’est dans le réel, et le signifiant, dans le symbolique« (Séminaire XVIII, S. 122). 40 »l’apparence du symptome, c’est à dire, en principe, des choses qui vous font signe, mais à quoi on ne comprend rien« (ebd., S. 52).

Von der Verdrängung zum Genießen

wird im späten Seminar über Joyce umgeschrieben zu »Sinthome«. »Sinthome« ist ein weiterer Schauplatz innerhalb der Psychoanalyse, an dem das theologische Paradigma vom tötenden Buchstaben und lebendigen Geist noch einmal und sicherlich nicht zum letzten Mal durchgespielt wird. Denn in der Silbe »thome« wird unter anderem auch Thomas – Thomas von Aquin – aufgerufen, für Joyce eine wichtige und zugleich in puns umgeschriebene Referenz, gilt Thomas von Aquin doch bekanntlich als ein eifriger Verfechter des Heiligen Geistes und Verächter des Buchstabens. Lacan verfremdet die Schreibweise und verschweißt so in irrwitziger Weise den »heiligen Mann« – »Saint Homme« – mit dem sündigen Thomas – »Sin‐thome«. So etwas ist jedem Geist und gesunden Menschenverstand zuwider. Eine Verballhornung, die keinen Sinn macht, aber »jouis‐sens« bereitet, insofern darin, wie auch in den vielen anderen Schüttelreimen, puns, falschen Schnitten und Buchstaben-Abfällen die Ankunft eines ganz anderen Verhältnisses zur Sprache, die Ankunft einer ganz anderen Sprache wahrgenommen werden kann. Für den späten Lacan ist das kein unglückliches Ende einer Psychoanalyse, wenn es denn ein Ende der Psychoanalyse gäbe.

Abbildung 1: Francis Picabia, Cover der Zeitschrift Littérature, 7. Dezember 1922

Literatur

Coelen, Marcus, Kasper, Judith, Kleinbeck, Johannes und Aaron Lahl (Hg.): RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, 90 (2019). Derrida, Jacques: La carte postale de Socrate à Freud et au‐delà, Paris 1980. Freud, Sigmund: »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, in: Gesammelte Werke, Bd. 10. London 1949, S. 324-355. Geisenhanslüke, Achim: Buchstäblichkeit. Literatur und Liminalität IV. https:// avldigital.wordpress.com/2017/11/10/tagung‐buchstaeblichkeit-literatur‐undliminalitaet‐iv-frankfurt‐am-main-01-02-12-2017/.

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Grimm, Jakob und Wilhelm: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Leipzig 1854-1961. Kasper, Judith: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift und Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin, New York 2016. Kasper, Judith: »›Aufrichtig und kritiklos und ohne bestimmte Absicht‹. Liquides und Widerständiges bei Freud«, in: Annika Haas, Jonas Hock, Anna Leyrer, Johannes Ungelenk (Hg.), Widerständige Theorie. Kritisches Lesen und Schreiben, Berlin 2018, S. 41-50. Kasper, Judith: »Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben. Saussures Anagramm-Studien und Freuds Fehlleistungen«, in: Sarah Schmidt (Hg.), Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns, Paderborn 2016, S. 163-179. Kasper, Judith: »Für eine Philologie der Katastrophe«, in: Ottmar Ette, dies. (Hg.), Unfälle der Sprache. Literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe, Wien 2014, S. 7-22. Lacan, Jacques: Écrits, Paris 1966. Lacan, Jacques: Autres écrits, Paris 2001. Lacan, Jacques: Le Séminaire. Livre XVIII. D’un discours qui ne serait pas du semblant, Paris 2007. Lacan, Jacques: Le Séminaire livre XXIII, Le sinthome. Paris 2005. Lacan, Jacques: »Lituraterre«, in: Littérature, 1971, Nr. 3, S. 3-10. Lacan, Jacques: Freud et ses erreurs?, Conférences et Entretiens dans des universités nord‐américaines, in: Scilicet Nr. 6/7, 1975, S. 32-37. Lacan, Jacques: Schriften I, Freiburg 1973. Lacan, Jacques: Schriften II, Weinheim, Berlin 1986. Laurent, Eric: »La lettre volée et le vol sur la lettre«, in: La Cause freudienne, Nr. 43 (1999), S. 31-46. Nancy, Jean-Luc: L’ ‘il y a du rapport sexuel’, Paris 2001. Pabst, Manfred: Bild – Sprache – Subjekt. Traumtexte und Diskurseffekte bei Freud, Lacan, Derrida, Beckett und Deleuze/Guattari, Würzburg 2004. Wegener, Mai: Neuronen und Neurosen. Der psychische Apparat bei Freud und Lacan. Ein historisch‐theoretischer Versuch zu Freuds Entwurf von 1895, München 2004.

Das postfaktische Drängen des Buchstaben in Zeiten rechtlich-sprachlicher Entgrenzung Katrin Becker

I. Im folgenden Beitrag möchte ich das Experiment wagen, die Frage der Buchstäblichkeit mit der Frage der Konstituierung und Positionierung des Subjekts in der Kultur kurzzuschließen und dabei von einem Konzept der textunabhängigen »Buchstäblichkeit« auszugehen. Denn schließlich ist gerade in der gesprochenen Sprache immer wieder die Rede von der buchstäblichen Aussage – und dem daran anknüpfenden Wahrheitsgehalt: »Ich meine das ganz buchstäblich.« Was bedeutet Buchstäblichkeit in diesem Sinne genau, wenn man es auf das Verhältnis von Signifikant und Signifikat bezieht; und lässt sich – und wenn ja wie – Buchstäblichkeit unabhängig vom Text denken? Im Duden heißt es: Buchstäblich: genau dem Wortlaut der Vorlage folgend. Will man nicht die mimetische Sprachtheorie, also die Idee der Abbildung einer vorsprachlichen Welt durch die Sprache, aufwerfen, so impliziert diese Definition in jedem Fall eine Art Vorlage, d.h. eine zumindest der Logik eines Textes entsprechende Grundlage, auf die sich die Aussage bezieht. Die Aussage: »Ich meine das ganz buchstäblich« bezieht sich aber eben nicht auf eine Textvorlage, sondern suggeriert, dass der verwendete Signifikant sich ganz eindeutig auf ein anerkanntes, scheinbar unhinterfragtes Signifikat bezieht. Die Textvorlage kann dementsprechend in diesem Kontext als die jedem Sprachsystem zugrundeliegende Konvention verstanden werden. Buchstäblichkeit setzt eine »[R]eferenzkonstan[z]«, eine Verankerung im Sprachgebrauch, voraus, so erläutert Ingo Baron, und ließe sich nicht definieren, »ohne auf den Gebrauch in einer bestimmten Sprache zu blicken«.1 1 Baron, Ingo, Die Metapher im Kontext einer allgemeinen Symboltheorie: Systemtheoretische Überlegungen im Ausgang von Nelson Goodman und deren Konsequenzen für die Philosophie. Berlin/Boston: de Gruyter 2014, 170: »Jedes buchstäbliche Etikett muss besser im Sprachgebrauch verankert sein und wird so mit geringen Abweichungen referenzkonstant verwendet. Damit erscheint es letztlich als ›buchstäblich‹. Das Figurative kann sich nur im direkten Vergleich mit dieser bereits etablierten Buchstäblichkeit durch Kontraindizierung und bewusst kreatives Auf-

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Wie unterscheidet sich diese Buchstäblichkeit dann aber von der Figuralität? Bereits Nietzsche verweist auf die aus dem Konventionscharakter resultierende Kontingenz dieser Bedeutungsgrundlagen und stellt damit den Unterschied zwischen Buchstäblichkeit und Figuralität generell in Frage. So heißt es in seiner Geschichte der griechischen Beredsamkeit: die Sprache ist Rhetorik, denn sie will nur eine doxa, keine episteme übertragen. […] In summa: die Tropen treten nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer ›eigentlichen Bedeutung‹, die nur in speziellen Fällen übertragen würde, kann gar nicht die Rede sein. Ebenso wenig wie zwischen den eigentlichen Wörtern und den Tropen ein Unterschied ist, giebt es einen zwischen der regelrechten Rede und den so genannten rhetorischen Figuren. Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnlich Rede nennt.2 In ähnlichem Sinne erläutert Gadamer, dass der Sprache selbst eine »grundsätzliche Metaphorik« eignet. »Die bekannte Stilfigur der Metapher ist nur die rhetorische Wendung dieses allgemeinen, zugleich sprachlichen und logischen Bildungsprinzips.«3 Durch seine Definition des ursprünglichen »Grund[s] des Sprachlebens« und »seine[r] logische[n] Produktivität« als »das genial‐erfinderische Herausfinden von Gemeinsamkeiten, durch die sich die Dinge ordnen«4 zweifelt Gadamer, so erläutert de Cochetti, die »traditionellen Identifizierungen des Buchstäblichen mit dem Eigentlichen und des Metaphorischen mit dem Übertragenen als dem Uneigentlichen« an.5 In Wirklichkeit ist die Übertragung in der Sprache generell, denn sowohl die buchstäblichen als auch die metaphorischen Sprechkonstrukte sind ›Übertragungen‹ und deshalb ist es prinzipiell nicht möglich, dem Buchstäblichen die

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brechen der Referenzkonstanz absetzen. Deswegen setzt jede Metapher eine in diesem Sinne buchstäbliche Extension des betreffenden Etiketts notwendig voraus, bevor dieselbe aufgebrochen werden kann. Grundsätzlich geschieht jede Fortsetzung allein induktiv in der Praxis einer Sprachgemeinschaft. Keiner würde also je ein Wort und seine Bedeutung definieren können, ohne auf den Gebrauch in einer bestimmten Sprache zu blicken.« Friedrich Nietzsche, KGW II/4, 425: »Es ist aber nicht schwer zu beweisen, dass was man als Mittel bewusster Kunst ›rhetorisch‹ nennt, als Mittel unbewusster Kunst in der Sprache und deren Werden thätig war, ja, dass die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist, am hellen Lichte des Verstandes. Es giebt gar keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache, an die man appeliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten« Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, 434f. Ibid., 436. Stefan de Cochetti, Differenztheorie der Metapher. Ein konstruktivistischer Ansatz zur Metapherntheorie im Ausgang vom erlebten Raum, hg. v. Constanze Breuer, Münster: Lit 2004, 193.

Das postfaktische Drängen des Buchstaben in Zeiten rechtlich-sprachlicher Entgrenzung

Rolle eines Maßstabs oder einer Norm zuzuschreiben, deren Befolgung dem ›eigentlichen‹ Gebrauch der Sprache entspräche, während die Nicht-Befolgung oder die Abweichung von der Norm den ›uneigentlichen‹ und metaphorischen Gebrauch der Sprache definieren würde.6 Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit diese Unschärfe zwischen figürlicher und buchstäblicher Sprachanwendung bzw. das Konzept der Buchstäblichkeit eine Bedeutung für Fragen der Subjektivität und der institutionellen Ordnung einer Kultur hat. Dabei möchte ich mich auf Pierre Legendres dogmatische Anthropologie beziehen, in der dieser in Anlehnung an Lacan eine Analogie zwischen dem Verhältnis von Signifikant und Signifikat und jenem zwischen Subjekt und Spiegelbild entwirft. Anhand des auf dieser Grundlage entwickelten Text- und Sprachkonzepts, das ich zunächst erläutern werde, möchte ich anschließend die Hypothese entwickeln, dass das Konzept der Buchstäblichkeit eine kulturelle- und Subjektivitätsdimension hat und insbesondere gegenwärtig zunehmend einer Bedeutungswandlung unterliegt.

II. In Anlehnung an Lacans Spiegelparadigma stellt Legendre eine Analogie zwischen dem Verhältnis Signifikant-Signifikat einerseits und dem Subjekt und seinem Bild im Spiegel bzw. seiner institutionellen Position andererseits auf. Bei Lacan heißt es: [I]l n’y a de sujet que pour un sujet…7   Unsere Definition des Signifikanten (es gibt keine andere) ist: ein Signifikant ist das, was das Subjekt repräsentiert für einen anderen Signifikanten. […] Denn nichts wird repräsentiert, wenn nicht für…8 6 Dazu weiter de Cochetti, 135: »Verbrugge, Blasko, Connine und Boyd bestreiten die Trennschärfe des Unterschieds zwischen den zwei Ähnlichkeitstypen: da jede Anwendung der Sprache gewissermaßen eine figürliche ist, weil die Kontexte der Sprachanwendung nie exakt die Gleichen sein können (Verbrugge 1977: 370), gibt es keine rein sprachliche Genauigkeit, auf welche sich die Buchstäblichkeit stützen könnte (Boyd 1979: 403, 406), so dass Genauigkeit dem sinnvollen Gebrauch der Termini entbehrlich ist (Boyd 1979: 391). Die Unterscheidung Buchstäblichkeit/Metaphorizität auf der Basis der Unterscheidung zwischen dem, was man wortwörtlich sagt, und dem, was man wirklich damit meint, ist nicht scharf, weil der Mangel an adäquaten Informationen das buchstäblich Gesagte und das wirklich Gemeinte gleichermaßen unbestimmt und ungenau auszeichnet (Verbrugge 1977:370).« 7 Jacques Lacan, 1959, Séance du 13.05.59, in Le désir et son interprétation, inédit. 8 Jacques Lacan, Écrits 819/Schriften II, 195.

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Für die Sprache bedeutet dies zunächst, dass die »Zeichen also keine stabile Bedeutung [tragen], über die ein Sprecher verfügen könnte; Bedeutung ist vielmehr ein ›Signifikanteneffekt‹.« Die Bedeutung, der Sinn, stellt somit »ein [nur] nachträgliches Produkt dar[], das aus der Bewegung und Wirksamkeit des Signifikanten hervorgeht.« Für das Subjekt wiederum bedeutet dies, dass sich das je, gewissermaßen der identitätsstiftende Kern des Subjekts, im Spiegelstadium nur als Spur niederschlägt, »die aus dem (bewussten) Sein fällt.« Dem je eignet die »Seinsweise der Exzentrizität«, und als »solchem aber können wir ihm kein eigentliches Wesen zuschreiben«, so erläutert Pagel. Und so gilt für Sprache wie für die Identität: das »Signifizierte [respektive die Identität des Subjekts, KB] [gleitet] unaufhörlich unter dem Signifikanten«9 . Für Lacan wird in der Subjektkonstitution diese aus dem Gleiten resultierende und nicht zu schließende Lücke durch die sprachliche Intervention des elterlichen Dritten überbrückt. Mit diesem externen sprachlichen Akt wird die Identität zum Zwecke ihrer Gültigkeit oder Anerkennbarkeit authentifiziert, und so setzt gerade dieser – logisch betrachtet – die Anwendung einer scheinbar nicht mehr in ihrer Bedeutung gleitenden Sprache voraus; dies wird Legendre zufolge ermöglicht durch den Einsatz der Institution: Das Subjekt wird institutionalisiert, durch den Einsatz einer institutionell verankerten Sprache, bzw. anders gesagt: durch die verankerte Institution der Sprache. Nochmal anders ausgedrückt: Durch den Eintritt in die Sprache vollzieht sich die von Legendre sogenannte »zweite Geburt«, d.h. die Institutionalisierung des Individuums: »durch Aussprache des Wortes erkennt sich der Sprechende als der Legalität unterworfenes Subjekt an«10 , einer Legalität, die er als eine Ordnung erkennt, die »ihn und seine Eltern übersteigt«11 , und in deren institutioneller Struktur er einen ihm spezifisch zugeordneten Platz einnimmt. Doch worin lässt sich die Institution der Sprache verankern, d.h. wie lässt sich das Verhältnis von Signifikant und Signifikat in diesem Rahmen als legitimiertes, authentifiziertes bzw. authentisches deklarieren? An dieser Stelle entwickelt Legendre das Konzept der Referenz, das bei ihm unmittelbar mit dem Textkonzept verbunden ist. Der Mangel, der aus der Alteritätsbedingtheit der menschlichen Identität resultiert, der sich an der Position der barre im Sinne Saussures zwischen Signifikant und Signifikat auftut, wird ihm zufolge von einer jeden Kultur durch eine 9 Lacan, Schriften II, 27. 10 Pierre Legendre, Das politische Begehren Gottes. Studie über die Montagen des Staates und des Rechts, übers. v. Katrin Becker, Wien/Berlin: Turia und Kant 2012, 63. 11 Pierre Legendre, »Die Fabrikation des abendländischen Menschen«, in: Vom Imperativ der Interpretation, übers. v. Sabine Hackbarth, Wien/Berlin: Turia und Kant 2010, 23.

Das postfaktische Drängen des Buchstaben in Zeiten rechtlich-sprachlicher Entgrenzung

sprachlich‐bildliche Intervention ertragbar gemacht – und zwar durch die ästhetisch‐sprachliche Errichtung einer fiktiven letzten Garanteninstanz, eines legitimatorischen Bezugspunkts ihres eigenen Daseins, der Referenz.12 Auf diese Weise vermag es die Kultur, ihre Identität zu konstituieren und sie metaphysisch zu authentifizieren. Jedes System, so Legendre, deklariere durch die Einrichtung jenes »dritte[n] Ort[es] des Diskurses«, der ihm zufolge letztlich in die »Dimension des Fantastischen«13 zu rechnen ist, »seine [eigene] Art der Bindung an die Sprache«14 . In der abendländischen Kultur findet diese Referenz dabei traditionell ihre ultimative Verkörperung bzw. Repräsentation in einem Text – der Bibel, der Thora, oder wie Legendre in einer ausführlichen Analyse der abendländischen Rechtsgeschichte und ihrer jüdischen sowie römisch‐christlichen Einflüsse darlegt – dem Corpus Iuris Civilis. Es ist jener – in einem Text verkörperte bzw. repräsentierte – große Dritte, die Referenz, die einer Kultur, einer Sprachordnung, die Illusion bietet, die Kontingenz der Sprache, das Driften der Bedeutungen durch die Bindung an ein stabiles Gründungsfundament zu arretieren… und die zugleich dem Subjekt als letzte Instanz seine Position im Institutionensystem verleiht. Vor dem Hintergrund dieser fundamentalen textbasierten Repräsentationslogik treibt Legendre die Analogisierung zwischen der Struktur von Sprache/Schrift und Subjektivität soweit, dass er das Subjekt selbst als Schriftzeichen definiert; die Subjektkonstitution ist dementsprechend zugleich als Eintritt in den kulturellen Text zu werten. Jede Gesellschaft spricht und konstruiert die Wohnstätte der Vernunft, indem sie sich in das Gerüst eines Textes einschreibt.15 In den »abendländischen Gesellschaften, die auf schriftlich fixierten Gesetzesordnungen beruhen«, ist es dementsprechend der Text, der für die Subjekte der Kultur »den Bezug zu einer Wahrheit einrichte[t], die sie übersteigt und die Kraft hat, ihr 12 Legendres Konzept der Referenz geht dabei insofern über das lacansche Konzept des großen Dritten hinaus, der letztlich die symbolische Ordnung, und damit die Sprache selbst ist, als hier eine Verschmelzung von symbolischer und imaginärer Ordnung stattfindet, die zur Errichtung einer Instanz noch ‚oberhalb’ der Sprache führt. Vgl. dazu Katrin Becker, Zwischen Norm und Chaos: Literatur als Stimme des Rechts. Legendre, Kafka, Hoffmann, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, 61f. 13 Pierre Legendre, Gott im Spiegel. Untersuchung zur Institution der Bilder, übers. v. Sabine Hackbarth und Verena Reiner, Wien/Berlin: Turia + Kant 2011, 192. 14 Legendre, Das politische Begehren Gottes, 514. 15 Pierre Legendre: Über die Gesellschaft als Text. Grundzüge einer dogmatischen Anthropologie, übers. v. Sabine Hackbarth, Wien/Berlin: Turia und Kant 2012, 144.

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Verlangen nach Verschmelzung mit der absoluten Macht auf eine Weise einzuschränken, die menschlich erträglich ist..«16 Jedes einzelne Subjekt schreibt sich ein in diesen Text, wird zu dessen Kind, zur »lebendige[n] Schrift«17 , und hat so letztlich an der textuellen Substanz der Kultur teil. Der Text der Kultur, d.h. in der Perspektive Legendres: die Institutionen (des Rechts) etc., fixieren somit die Normativität, die Wahrheit, das Recht; und zwar ausgehend von einem heiligen Gründungstext, bezüglich dessen Interpretation die Auswahl zwischen der buchstäblichen oder geistigen Methode ihm zufolge letztlich gleichgültig ist. In beiden Fällen handelt es sich um einen Bluff, um die eine Stimme, die es zu finden gilt bzw. die rituell gefunden wird, sei es in den Buchstaben des Textes selbst, sei es in der aus diesem Text herausklingenden Stimme des göttlichen Autoren oder seines menschlichen Vertreters – und nur aufgrund des Glaubens an diesen Bluff vermögen die Subjekte einer Kultur, sich als institutionalisierte zu konstituieren – und im hier aufgestellten Kontext gesprochen: im Sinne der Buchstäblichkeit, d.h. als Schriftzeichen des kulturellen Textes… mit Althusser gesagt: nur so fühlen sie sich angerufen und in ihrer Subjektivität bestätigt… oder mit Lacan: auf diese Weise ordnen sie sich der ihre Omnipotenz durchstreichenden symbolischen Ordnung unter.18 Ich fasse diesen Ansatz nochmal – in meiner Interpretation – zusammen: Wenn das Subjekt selbst als Signifikant bzw. Schriftzeichen konzipiert wird, so bedeutet die Aussage: das »Signifizierte [gleitet] unaufhörlich unter dem Signifikanten«19 übertragen auf das Subjekt: Es gibt keine stabile Identität, sie ist ein Effekt der verschiedenen Identitäten, die letztlich, mit Legendre hingegen, durch die große kulturelle Identität, den großen Signifikanten arretiert werden – der, anders als bei Lacan, auf einer Verschmelzung von Symbolischem und Imaginärem basiert. Eine Arretierung, die Legendre zufolge die Kultur leistet, leisten muss, und dies auf dem Wege der Institutionalität, der Institutionalisierung des Lebens. Legendre konzipiert hier somit einen Ansatz, der zum einen zwar der Kontingenz des Sprachsystems und dem Drängen des Buchstaben im Sinne Lacans Rechnung 16 Hackbarth, Pierre Legendres »dogmatische Anthropologie«, 91. 17 Pierre Legendre, »Der dogmatische Wert des Ästhetischen«, übers. v. Sabine Hackbarth, Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 3, Nr. 1 (2012), 163-172. 18 Auch in diesem Rahmen macht Legendre deutlich, dass es sich bei der Auslegung des Gesetzes im Sinne einer buchstäblichen oder geistigen Interpretation letztlich um dieselbe trianguläre, metaphysisch begründete Logik der Repräsentation handelt, die einmal im Modus der Füllung, einmal im Modus der Leere gehandhabt wird.Vgl. dazu den Vergleich zwischen dem römisch‐christlichen und jüdischen Rechtsbegriff in Katrin Becker, Zwischen Norm und Chaos: Literatur als Stimme des Rechts. Legendre, Kafka, Hoffmann, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, 89ff. 19 Lacan, Schriften II, 27.

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trägt; doch arretiert er ihn auf kultureller Ebene durch jene Instanz, die ihm zufolge die Identität der Subjekte wie der Kultur – über den Weg der Sprache und des Rechts – verbürgt. Ich behaupte also im Grunde, dass – mit Legendre – die Kultur als Fiktion von Buchstäblichkeit anzusehen ist, dass die Institutionen, die Sprache – als Institution – und die (institutionalisierten) Subjektivitäten dazu dienen, das Drängen des Unbewussten im institutionalisierten Buchstaben zu arretieren, die grundlegende Metaphorik des Seins und der Sprache zu verschleiern, und einen Text, eine Vorlage, zu schaffen, dessen bzw. deren Sinn festgeschrieben scheint, bzw. immer wieder rituell als festgeschrieben inszeniert wird. Zwei Dinge scheinen somit erforderlich, um die Buchstäblichkeit im Kontext der Sprache sowie im Kontext der Subjektivität zu gewährleisten, um die Wahrheit/Buchstäblichkeit sprachlicher, textueller oder letztlich kultureller Manifestationen zu begründen: Zum einen die Existenz eines Institutionensystems, das die Existenz dieser Vorlage effizient inszeniert und somit den Glauben an ihre Wahrhaftigkeit bzw. Buchstäblichkeit ermöglicht und gewährleistet. Zum anderen eben jener Glaube bzw. die Verkennung der Fiktionalität der institutionellen Ordnung und ihrer Grundlage. Dass dieser Glaube für die Verwendung der Institution Sprache notwendig ist, macht Legendre deutlich, indem er die »Produktion sprachlicher Bedeutung« wie die »Identitätskonstruktion« als Produkt einer »Kreisbewegung […] [interpretiert], die nur dank einer konstitutiven Leere funktionieren kann und sowohl eine normative Relation als auch eine Glaubensbeziehung einrichtet […]«20 . Oder wie es bei Nietzsche heißt: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.21

20 Sabine Hackbarth, Pierre Legendres »dogmatische Anthropologie«: Subjektkonstitution im Medium des Blicks, Wien: Turia und Kant 2014, 67. 21 Friedrich Nietzsche, »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York: Deutscher Taschenbuch Verlag; Walter de Gruyter 1988, Bd. 1, S. 875-890, Abschn. 1. »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken.

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III. Nun lassen sich meines Erachtens gegenwärtig zwei Entwicklungen beobachten, die diese beiden Bedingungen in Frage stellen und damit das Konzept der Buchstäblichkeit in Mitleidenschaft ziehen könnten – zwei Entwicklungen, die möglicherweise ineinanderspielen bzw. einander verstärken oder bedingen. Zum einen scheint die Stabilität bzw. Wirkungskraft jener Autoritäten und Institutionen, die mit Legendre für die Inszenierung eines kulturell fest konturierten Sinnhorizonts, einer klar fixierten »Vorlage« zu sorgen haben, durch Tendenzen der Mehrsprachigkeit, Interkulturalität, Transnationalisierung etc. in Frage gestellt. Diese Dynamik lässt sich meines Erachtens beispielhaft am Wahlkampf Trumps nachvollziehen, zu dem es in der Zeit hieß: Nur noch jeder Fünfte vertraut den Politikern aus der Hauptstadt Washington noch. Das Ansehen des Kongresses ist auf einem historischen Tiefpunkt und auch das Vertrauen in Institutionen wie das Oberste Gericht ist dramatisch gesunken. Ganz zu schweigen von den Medien, die sowieso einen verheerenden Ruf haben.22 Es ist somit eine generelle Abkehr von all jenen Institutionen zu konstatieren, die Legendre zufolge als Sprachrohr der Referenz dienen, d.h. in der hier aufgestellten Logik, die das Drängen des Buchstaben auf kultureller Ebene arretieren und ein normativ wirkendes Bedeutungsfundament einrichten und vermitteln. Zum anderen ist die Verkennung bzw. der besagte Glaube nicht erst durch die »Entzauberung der Welt«, sondern vor allem durch den Wandel der Sprachauffassung selbst prekär bzw. hinfällig geworden. (Legendre entwirft mit Blick auf die Entzauberung der Welt einen ganzen Abgesang auf das Abendland, den ich an dieser Stelle auslassen werde, da ich eine anderen Weg einschlagen will). Durch den linguistic turn und den Poststrukturalismus wurde die Idee der Möglichkeit eines Arretierens des Signifikanten völlig aufgegeben. Vielmehr wurde die Kontingenz jeglicher Bedeutung, die »Differenz als zentraler Mechanismus der Sprache« in den Vordergrund gestellt, und auf die daraus resultierenden »ständige[n] Unterschiede und Verschiebungen« verwiesen, auf das Verflüssigen der Begriffe, deren Sinn »nicht durch konkrete Identitäten und Bestimmungen« entstehe, »sondern durch ein Geflecht von Bezügen, die jede Eindeutigkeit immer wieder in Frage stellen«23 . Vielerorts – und meines Erachtens schlüssigerweise – wird vertreten, dass die Erkenntnisse des linguistic turn, Poststrukturalismus etc. inzwischen in einen umfassenden epistemischen Relativismus gemündet sind.24 Dessen ursprünglich be22 Die Zeit 26.09.2016 23 Hans-Martin Schönherr-Mann, Was ist politische Philosophie?, Frankfurt: Campus 2012, 155. 24 https://kenanmalik.com/2017/02/05/not‐post-truth‐as-too‐many-truths/

Das postfaktische Drängen des Buchstaben in Zeiten rechtlich-sprachlicher Entgrenzung

absichtigte Effekte, wie die Einsicht in den Eurozentrismus vieler Theorien, in die Dominanz maskuliner oder weißer Perspektiven, sind im Zuge dessen jedoch nunmehr in das Post-Truth-/Postfaktualismus-Phänomen umgeschlagen: Jeder Einzelne, bzw. jede kleinere Gemeinschaft scheint das Recht zu haben, seine eigenen Wahrheiten zu schaffen, seine eigene Vorlage, die zumeist auf klar greifbaren – ethnisch oder religiös bestimmten – Aspekten basiert. Die Annahme einer sich gegenseitig verstärkenden Verflechtung dieser beiden Entwicklungen liegt dabei nahe: Denn zum einen scheint das sprachtheoretische Infragestellen der Möglichkeit des (ideologischen/referenziellen) Arretierens des Signifikanten angesichts der transnationalisierenden, interkulturalisierenden und mehrsprachigen Tendenzen zugegebenermaßen wesentlich realistischer als die legendresche Hypothese eines gewissermaßen hermetisch abgeriegelten Kulturkreises und der Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen den Systemen. Anders gesagt: Wenn man davon ausgeht, dass die Institutionen, das Recht etc. die Buchstäblichkeit verbürgen, dann hat eine Entgrenzung auf der Ebene der Institutionen notwendig Auswirkungen auf die Sprache – die subjektivitäts- und wahrheitsverbürgenden, das Drängen arretierenden Instanzen brechen weg, werfen das Subjekt auf sich zurück… und die Sprache wird wirkmächtiger mit Blick auf Fragen der Konstitution des Selbst und der institutionellen Bindung. Zum anderen und umgekehrt betrachtet: Geht man davon aus, dass die Sprache selbst Teil jener Institutionen ist, die für die normative Setzung von (Bedeutungs)Relationen, d.h. die für die Buchstäblichkeit sorgen, und damit an der Konstitution von Subjektivität teilhaben, müsste logisch daraus folgen, dass jene Diskurse, die die Glaubwürdigkeit von Sprache betreffen, d.h. der linguistic turn oder der Poststrukturalismus, Einfluss auf die Gültigkeit, die Akzeptanz jener wahrheitsverbürgenden Instanzen und Institutionen haben. Es findet somit eine Prekarisierung beider Bedingungen für die Gewährleistung der traditionellen Bedeutungsdimensionen statt, auf die sich die Annahme von Buchstäblichkeit beziehen kann: zum einen durch die sprachtheoretisch motivierte Infragestellung des Glaubens an eine wahrheitverbürgende »Vorlage« bzw. Textgrundlage; zum anderen durch die daraus resultierende Infragestellung der übrigen Institutionen, die darüber hinaus durch politisch‐globaletransnationalisierende Bestrebungen der Auflösung dessen, was ich hier als traditionelle »Vorlage« bezeichnet habe, weiter intensiviert wird. Durch die Bündelung dieser beiden Entwicklungen müsste sich dementsprechend eine umso stärkere Auswirkung auf Konzepte der Wahrheit, Buchstäblichkeit und Subjektivität abzeichnen.

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IV. Im Folgenden, und abschließend, möchte ich erläutern, was dies meines Erachtens für Fragen der Subjektivität – und möglicherweise auch für die Literatur – bedeutet und warum ich dieses Phänomen als »postfaktuales Drängen des Buchstaben« bezeichne. Meine Hypothese ist, dass durch die beiden genannten Entwicklungen und die damit einhergehende Prekarisierung des großen, das Drängen arretierenden Signifikanten nicht nur das Urteil über ›Wahrheit‹ und ›Lüge‹ als völlig kontingent inszeniert wird; darüber hinaus zeichnen sich auch Auswirkungen auf den generellen Umgang mit Sprache ab, auf ihren normativen Wahrheits- bzw. Bedeutungsgehalt sowie bezüglich ihrer Rolle in der Konstitution, Rückversicherung von Subjektivitätspositionen. Erneut will ich mich auf den amerikanischen Wahlkampf als illustratives Beispiel für das Phänomen des Postfaktualismus und seiner Auswirkungen auf die Sprache beziehen, zu dem sich nach dem Erfolg Trumps in zahlreichen Artikeln lesen ließ, die Medien hätten Trump ›wörtlich, aber nicht ernst‹, seine Anhänger ihn ›ernst, aber nicht wörtlich‹ genommen. Hier schwingt ein gänzliches Aufheben dessen mit, was traditionell mit der Buchstäblichkeit im Rahmen der mündlichen Sprechanwendung gemeint war. Zudem wird hier bereits deutlich, inwieweit dieses Phänomen des Postfaktualismus eine Verlagerung auf das »Gefühlte, Imaginierte« beinhaltet. So erläutert Newt Gingrich: Liberale haben eine ganze Ansammlung an Statistiken, die theoretisch richtig sein mögen, aber das ist nicht, was die Menschen fühlen… Als politischer Kandidat gehe ich danach, wie die Leute sich fühlen.25 Dies spiegelt sich wieder im ebenso neuen – und im Geiste solcher Gefühligkeiten ausgerichteten – Umgang mit Texten. So hieß es kürzlich in einem Artikel über den Konflikt um den »safe space« und die Problematik der Meinungsfreiheit an der Uni, wie der Kampf für Meinungsfreiheit inzwischen umgeschlagen sei in eine Kultur, in der jeder zweimal nachdenken muss, bevor er sich zu Wort meldet, weil er sonst eine Anklage wegen Unsensibilität, Aggression oder Schlimmerem fürchten muss… Lukianoff und Haidt beschreiben, wie in den vergangenen Jahren in den USA eine studentische Bewegung entstanden ist, die Campusse von Ideen und Themen säubert, die Unbehagen auslösen könnten. Dozenten sind angehalten »trigger 25 In einem Interview auf CNN, 27.07. 2016. [Übers. KB]

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warnings« auszusprechen, sollten in Seminaren und Vorlesungen Inhalte verhandelt werden, die beispielsweise Opfer von sexueller Gewalt oder Rassismus an Erlebtes erinnern könnten. Das geht so weit, dass Studenten verlangen, Werke klassischer Literatur wie F. Scott Fitzgeralds »The Great Gatsby« (häusliche Gewalt) oder Virgina Woolfs »Mrs Dalloway« (Selbstmord) mit einem Warnhinweis zu versehen. An der Harvard Law School forderten sie, Sexualstrafrecht vom Lehrplan zu streichen und auf Vokabeln wie »violate« zu verzichten – was im Englischen in Idiomen wie »violate the law« zu finden ist, aber auch »vergewaltigen« bedeutet.26 Mein Eindruck ist, dass sich im Zuge dieser Entwicklungen eine neue, zum einen explizite, zum anderen verschleierte Sehnsucht nach Buchstäblichkeit abzeichnet, die sich – so meine Überlegung – aus dem grundlegenden Bedürfnis oder der generellen Notwendigkeit nach jener Anrufung im Sinne Althussers, bzw. nach einer Eingliederung in eine klare Sprach- und Institutionsordnung erklären ließe. Jedoch scheint dies vielerorts ein ganz anderes Verständnis von Buchstäblichkeit zu implizieren – und zwar das, was ich hier als postfaktuales Drängen des Buchstaben bezeichne: das Drängen des Unbewussten, welches die Bedeutung der Bewegung der différance unterwirft, wird in den Bedeutungsfestlegungsprozess eingebunden… unter den Vorzeichen der Postfaktualität, des epistemischen Relativismus. Mit Blick auf den Umgang mit dem Text, bzw. der Vorlage allgemein, verlagert sich der Schwerpunkt weg von der Frage »was steht hinter dem Buchstaben?«, d.h. weg von der Relation Text – Referenz, hin zu: »was bedeutet der Buchstabe für mich?«, d.h. der Relation Text – Rezipient. In Ermangelung einer akzeptierten und anerkannten Instanz bzw. Institutionalität, die für die Bedeutung des Buchstaben bürgt, scheint jener Moment fraglich zu werden, der auf der Textebene als Aufscheinen des kulturellen Sinnhorizonts bezeichnet werden könnte, oder als das, was ich eingangs als sprachlich‐kulturelle Konvention beschrieben habe; und auf der Ebene der Subjektkonstitution jener Moment, der sich mit Althusser als Moment der Anrufung begreifen ließe, bzw. mit Legendre als die subjektkonstitutierende Bindung an eine kulturspezifisch bedeutungsgenerierende Sinnvorlage. 26 »…Es geht um ›micro aggressions‹, kleine Handlungen und Worte, die zwar unbedacht sind, aber trotzdem verletzend. Also zum Beispiel, einen deutschen Studenten mit Migrationshintergrund zu fragen, wo er denn eigentlich herkäme. Oder angesichts einer Staatssekretärin zu bemerken, man hätte keine so junge und schöne Frau erwartet. Oder ein Gedicht über einen Mann, der Alleen, Frauen und Blumen betrachtet. Die Idee der Micro Aggressions zielt auf den impliziten Teil von Sprache, auf das, was an Bedeutung mitschwingt, an Vorurteilen und Klischees. Das macht es so schwierig, sie zu benennen, und erklärt die ablehnende Haltung und das Unverständnis, auf die eine derart verfeinerte Suche nach Diskriminierungen im Alltag trifft.« (Quelle: https://www.berliner‐zeitung.de/28819046 ©2017)

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Stattdessen scheint das Subjekt in seiner Suche nach der Identität, in seiner Verwendung von Sprache, in seinem Umgang mit dem Text auf sich selbst zurückgeworfen; und es gerät, zumindest teilweise, ins Hintertreffen, dass die Sprache die »Unterordnung unter eine Universalität von Gemeinsamkeit«27 verlangt: »Nur da«, so erläutert Pagel, »wo das Wort des einen auch und zugleich das des anderen sein kann, herrscht wechselseitige Anerkennung, in der – wie Hegel schon betonte – das ›Ich das wir, und wir das Ich ist.‹ Dieser Ordnung der Sprache sich zu überantworten heißt, auf narzisstische Omnipotenz zu verzichten, sich der Signifikantenkette einzuschreiben und die Offenständigkeit der Differenzen auszuhalten.«28 Dass diese Abwendung von einer konventionell generierten, kulturell gewährleisteten Buchstäblichkeit und die Einschaltung der Dimension der Gefühle in die Bedeutungsgenerierung hin zur Sehnsucht nach einer neuen Form der Buchstäblichkeit führt, zeigen nicht allein die populistischen Strömungen, in denen Zugehörigkeiten und Identitäten anhand von klaren und eindeutig zuordbaren – ethnisch, religiösen etc. – Signifikanten bestimmt werden: Sehnsucht nach Literalität ist Ausdruck des Begehrens nach nackter Wahrheit, [so beschreibt Goebel], nach engster, alle Grenzen überschreitender Berührung womöglich entsetzlicherweise dessen, was man mit Lacan das Reale nennen kann.29 Und so scheint eine sprachlich‐gesellschaftliche Dynamik im Gange, die sich als direkte – bzw. vielmehr in ihr Gegenteil gekehrte – Folge der von Nietzsche diagnostizierten »Krankheit der Sprache und in indirekter Folge auch der modernen Gesellschaft« lesen ließe. Bei Nietzsche heißt es: Der Mensch kann sich in seiner Noth vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verständigen und zu einem Werk zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklänge, und in 27 Pagel, 50. 28 Pagel, 53. 29 Eckart Goebel, »Out of line«, in: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.), Schriftkultur und Schwellenkunde, Bielefeld: transcript 2008, 227. Die Beliebigkeit der Deutung des Buchstäblichen, des Sprechen »im wahrsten Sinne des Wortes«, das dem entspricht, was Lacan das »leere Sprechen« (parole vide) nennt, »findet in der ›Spiegelfechterei eines Monologs‹ statt, in den ›wohlmeinenden Bildern‹, die das Subjekt entwirft, um den anderen damit zu umgarnen, in den ›narzisstischen Umarmungen, die einen Hauch von Selbstbeseelung vortäuschen‹, während das volle Sprechen der ›harten Arbeit eines Diskurses ohne Ausflüchte‹ entspricht. (Pagel, 53)

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Folge dieser Unfähigkeit, sich mitzutheilen, tragen dann wieder die Schöpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich‐nicht-verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nöthen entsprechen, sondern eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe. So nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Convention hinzu, das heisst des Übereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Übereinkommen des Gefühls.30 Heute, so meine pessimistische Einladung zur Diskussion, scheint eher die Convention fraglich, es regiert das Gefühl, der Versuch, die Sprache selbst zu fassen und zu schieben, wohin sie eigentlich nicht will.

Literatur Baron, Ingo: Die Metapher im Kontext einer allgemeinen Symboltheorie: Systemtheoretische Überlegungen im Ausgang von Nelson Goodman und deren Konsequenzen für die Philosophie, Berlin/Boston 2014. Becker, Katrin: Zwischen Norm und Chaos: Literatur als Stimme des Rechts. Legendre, Kafka, Hoffmann, Paderborn 2016. Cochetti, Stefan de: Differenztheorie der Metapher. Ein konstruktivistischer Ansatz zur Metapherntheorie im Ausgang vom erlebten Raum, hg. v. Constanze Breuer, Münster 2004. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2010. Goebel, Eckart: »Out of line«, in: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.), Schriftkultur und Schwellenkunde, Bielefeld 2008. Hackbarth, Sabine: Pierre Legendres »dogmatische Anthropologie«: Subjektkonstitution im Medium des Blicks, Wien 2014. Lacan, Jacques: Écrits, Paris 1966. Lacan, Jacques: Le désir et son interprétation, inédit. Legendre, Pierre: Das politische Begehren Gottes. Studie über die Montagen des Staates und des Rechts, übers. v. Katrin Becker, Wien/Berlin 2012. Pierre Legendre, Vom Imperativ der Interpretation, übers. v. Sabine Hackbarth, Wien/Berlin 2010. Legendre, Pierre: Gott im Spiegel. Untersuchung zur Institution der Bilder, übers. v. Sabine Hackbarth und Verena Reiner, Wien/Berlin 2011. Legendre, Pierre: Über die Gesellschaft als Text. Grundzüge einer dogmatischen Anthropologie, übers. v. Sabine Hackbarth, Wien/Berlin 2012. 30 Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemäße Betrachtungen«, KSA 1, 455.

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Legendre, Pierre: »Der dogmatische Wert des Ästhetischen«, übers. v. Sabine Hackbarth, Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 3, Nr. 1 (2012), 163-172. Malik, Kenan: Not post‐truth as too many truths, in: Pandaemonium (https://kenanmalik.com/2017/02/05/not‐post-truth‐as-too‐many-truths/), 05.02.2017. Mösken, Anne Lena: Politische Korrektheit. Die neue Intoleranz an Berliner Universitäten, (https://www.berliner‐zeitung.de/28819046), 12.11.2017. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1988. Pagel, Gerda: Lacan zur Einführung, Hamburg 1989. Schönherr-Mann, Hans-Martin: Was ist politische Philosophie?, Frankfurt: Campus 2012.

Buchstabe, Wort und Geist Dialektik in Hölderlins Patmos Thomas Schröder »Patmos stands in fact quite isolated. […] No inhabitans. – Was here again afflicted with the great curse of modern travel – skepticism. Could no more realize that St:John had ever had revelations here, […].« (Herman Melville 4. Febr. 1857)

Voraussetzungen Anders als in Melvilles ernüchtertem Blick auf die Insel invoziert Hölderlin sie fünfzig Jahre vor ihm sowohl als Schreibort der Offenbarung: »O Insel des Lichts«1 , wie er seinerseits das Problem der Übertragung des religiösen Geistes in die irdische Sphäre thematisiert, die Herausforderung wie Anmaßung: »wenn einer/Für irrdisches prophetisches Wort erklärt«2 . Vision und Säkularisation treffen bei ihm in der Organisation von Texten und also im buchstäblichen wie im wörtlichen Sinn konfrontativ, um nicht zu sagen, apokalyptisch aufeinander, oder um mit ihm selbst zu sprechen: als Feste im Ruin3 . Es ist eine der vielen Varianten, in denen Hölderlin vor der poetischen Entfaltung seines Spätwerks zwischen 1802 und 1807 das Phänomen der Hybris gleichermaßen beschreibt, praktiziert und problematisiert. Immer wieder geht es ihm um den Komplex der falschen Priesterschaft, die mit dem Anspruch, »das Heilige sei mein Wort«4 aus Wie wenn am Feiertage in Gefahr steht, zu freveln, sich selbst zu überheben oder Gott zu instrumentalisieren. Im Kern wiederholt sich hier das Empedokles-Problem, das in Hölderlins Textgeschichte die gattungspoetische 1 2 3 4

Friedrich Hölderlin, sämtliche werke. Frankfurter Ausgabe, Bd. 8, Gesänge II, S. 834, Zeile 54. Ebd., Zeile 71/72. Ebd., Z. 70/71. Ders., a.a.O., S. 557, Z. 20.

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Zäsur zwischen Trauerspiel und Lyrik inhaltlich und formal exakt zum Ausdruck bringt.5 Dieser Perspektive entspricht ein Hölderlin-Bild, daran möchte ich hier nur kurz erinnern, das seine Texte nicht als in sich vollendete, gleichsam klassisch gelungene dichterische Gestaltungen betrachtet, sondern ihr Gefüge als work in progress begreift.6 Gleiches gilt für sein Verhältnis zum philosophischen Diskurs seiner Zeit. Er entspricht ihm nicht in der abgeschlossenen Begrifflichkeit und Systematik seiner idealistischen Freunde Hegel, Schelling und Sinclair, sondern in einer gleichrangigen und -wertigen Prozesswahrheit ihrer Genese (der Phänomenologie) wie ihrer finalen Intention (ihrer Ab-Geschlossenheit). Hölderlins Textdenken berührt auf der einen Seite den Unsinn, das NichtGelingen von Kommunikation und auf der anderen den absoluten Anspruch auf Sinn und sprachlich‐künstlerische Vollendung. Es ist schwierig, diese Balance zwischen zwei sich ausschließenden Diskursen nicht zu vernichten, bedroht ist allerdings auch der interpretatorische Aufweis dieser Konstellation von Absolutheit und Zerstörung, da sie kaum nachvollziehbar ist. Diese Dialektik kann – und mehr ist hier nicht intendiert – an Patmos vorgeführt werden, einem Textprojekt, das in seiner geglätteten, reinschriftlichen Erstfassung, gleichsam buchstäblich »vest« daherkommt, aber wieder in Fluss zu versetzen ist, genauer: sich von sich aus wieder aufgelöst haben wird. Begrifflich wird die Explikation an der zugrunde liegenden triadischen Struktur von Buchstabe, Wort und Geist entwickelt, also sprachphilosophisch – um eine weitere hybris‐bedrohte Voraussetzung thetisch anzudeuten –, wobei diese Betrachtung sich zunächst an Walter Benjamin orientiert, der – wesentlich inspiriert durch seinen frühen Hölderlin-Zugang – am Buchstaben das Zugleich von sinnlich konkreter Mimesis und von unsinnlich abstrakter Repräsentation beschreibt, ein an sich des Materials wie der Form annehmend.7 Dies entspricht in einem gewis5 Vgl. hierzu: Thomas Schröder, Poetik als Naturgeschichte. Hölderlins fortgesetzte Säkularisation des Schönen, Lüneburg 1995. 6 Diesen Aspekt rekonstruiert vor allem die Frankfurter Ausgabe Hölderlins. Auch ihr Herausgeber hat sich mittlerweile aber wieder der klassischen Editionspraxis angeschlossen, die endgültige Texte meint liefern zu können. Vgl. seine als hesperische gesänge vorgelegte Edition, Bremen o.J. 7 Walter Benjamin, Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. »Dichtermuth« – »Blödigkeit«, in: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, 1, S. 105-126. Geht es Benjamin hier um die »geistig‐anschauliche Struktur derjenigen Welt, von der das Gedicht zeugt« (a.a.O., S. 105), so nimmt er diese Aufeinanderbezogenheit einer vorgegeben An‐sich-Welt, der das Gedicht Ausdruck geben will und zugleich eine intellektuell‐bildliche Struktur zu geben vermag, in dem Text »Über das mimetische Vermögen« (a.a.O., S. 210-213) wieder auf, in der er Schrift und Sprache als »Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten und unsinnlicher Korrespondenzen« (a.a.O., S. 213) entwickelt: sie verweisen/erinnern ein ihnen wesentliches sinnliches An‐sich, als dessen Gedächtnis-

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sen Sinn dem Spinozismus Hölderlins, einer immer schon vorgegebenen natürlich‐materialen Einheit, die zugleich als logisch abstrakte Struktur zugrundliegt. Das Wort wäre demgegenüber immer schon bewusster Ausdruck eines Nachzuahmenden und auf der formalen Ebene auch als Fetisch wirksam, in dem das konkrete an sich immer schon ein verlorenes ist. Hölderlin fasst diesen Zeichencharakter des Wortes selber in radikaler Ausdrücklichkeit. Am deutlichsten findet sich dies in einem ersten Entwurf zu Mnemosyne als vollendete Negativität thematisiert: Ein Zeichen sind wir, deutungslos/Schmerzlos sind wir und haben fast/Die Sprache in der Fremde verloren.8 Der Geist (wie bei Hegel Figur einer Negation der Negation) wäre in der Dialektik unserer Betrachtung dann das Gegenmoment dieser bloßen Verweisungsfunktion der Sprache. Tatsächlich bleibt es in der Weiterarbeit an Mnemosyne nicht bei einer nur mehr unsinnlich wirkenden Zeichenfunktion. Buchstabe und Wort werden in ihrer Dialektik immer schon auf ihre geistige Prozesshaftigkeit bezogen: der Übergang ins sinnlich Konkrete ist unverzichtbar bis in dessen Auflösung hinein und durch sie hindurch. Mit der philosophischen Figur der Negation der Negation berühren wir inhaltlich wie formal auch die theologischen Themen, die in Patmos behandelt werden. Vor allem eine Theorie des Todes würde den notwendigen Teil einer transzendenten Religionskonzeption bilden. In Hölderlins Gedicht ist es dagegen weniger abstrakt vor allem das Emmaus-Erlebnis, in dem von seinen Protagonisten eine kompensatorische Verarbeitung des Hinscheidens verlangt ist. Eine Reflexions-Situation, die Hegel auf der Ebene des absoluten Geistes dann als »spekulativen Karfreitag«9 terminiert hat, um dessen Szenario und Ausdeutung sich auch am Schreib-Ort Patmos bemüht wird, von dem aus – wenn auch kaum vorstellbar (erinnert sei auch noch einmal an das Melville-Motto) – sich eine Erzählung der Apokalypse entwickelt hat, wie sie im gesamten lyrischen Spätwerk Hölderlins eine durchgängige Rolle spielt: »Das bist du ganz in deiner Schönheit/apocalyptica«10 . Struktur sie funktionieren. Auch Charles de Roche, Friedrich Hölderlin: Patmos. Das scheidende Erscheinen des Gedichts, München 1999, entwickelt seine Patmos-Interpretation im Anschluss an Benjamins Überlegungen. Vgl dazu meine Rezension in: paratexte printmedial 1 (Berlin 2000) 1, S. 84-86. 8 Hölderlin, a.a.O., S. 860, Z. 1-3. 9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Kritische Schriften (III). Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. Neu hrsgg. v. Hans Brockard und Hartmut Buchner, Hamburg 1986, S. 134. 10 A.a.O., S. 927. Wir unterscheiden uns hier sehr von der etablierten Hölderlin-Deutung, wie sie repräsentativ durch den Aufsatz von Wolfgang Binder, Hölderlins Patmos-Hymne, in: ders., Hölderlin-Aufsätze, Frankfurt a.M. 1970, S. 362-402, vertreten wird, der konstatiert: »›Patmos‹

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Textlektüre Die Greifbarkeit der apokalyptischen Dimension als eine der höchsten Möglichkeiten dialektischen Denkens wird gleich in der ersten Formulierung des Gedichts ausgedrückt, die mittlerweile so berühmt ist, dass man sich fast scheut, sie zu zitieren: »Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.«11 Sie unterstützt aber den Versuch, das Hybrisproblem endlich hinter sich zu lassen, vor seiner Gefahr nicht zurückzuschrecken, zumal Hölderlin im zweiten Schritt der Ausarbeitung eine grundlegendere polare Konstellation formuliert, die über die Dimension der möglichen Verfehlung noch hinausgeht und ihr vorangestellt wird: »Nah ist/Und schwer zu fassen der Gott«12 . Damit ist der Gefahr der maßlosen Selbstermächtigung das Darstellungsproblem einer theologischen Dialektik vorgeordnet, die interpretatorisch zu rekonstruieren ist. Auch der Landgraf von Hessen-Homburg, der das Gedicht in Auftrag gegeben hat, wollte diese entwickelt sehen13 , aber dieser Auftrag ist schon am Anfang der Textkomposition überschritten, geht es doch hier schon um die Dialektik sprachlichen Ausdrucks überhaupt: das Nennen und Verstehen des wörtlich Unsagbaren, vor allem des buchstäblich Unrepräsentierbaren, aber auch des geistig Unfaßbaren, eben Unbegreiflichen. Damit ist der bloß theologischen Dialektik, der antibuchstäblichen pietistischen Innerlichkeit und der wortgläubigen, aufklärerischen Lehre lutherischer Provenienz von vorneherein der Boden entzogen – es geht in Hölderlins Text immer schon um weniger und mehr als in diesen Bekenntnissen.Die dichterische Sprache gelingt in Patmos zunächst in einem Maße, die Staunen macht: die Anrufung des Anderen erreicht dieses, die ins Licht zu rückende Insel wird gleichsam realiter, bildlich und wörtlich darstellbar und fokussiert in der Totalität ihrer Naturvision zugleich orientalische wie hesperische Geschichtsdimensionen. Es gelingt, aus Hölderlins europäischer Welt »hinüberzugehen« in die vorderasiatische Kulturlandschaft und aus dieser »wiederzuzeichnet das Bild eines Christus ohne Passion und Versöhnung; Tatsache und Sinn des Kreuzestodes werden nicht erwähnt.« (S. 363) 11 Hölderlin, a.a.O., zunächst S. 653, wo Sattlers Rekonstruktion der Niederschrift zeigt, dass die Ausarbeitung der ersten Strophe von diesen zwei zunächst bruchstückhaft notierten Zeilen ausgeht, vgl. in der Druckfassung dann S. 687, Zeilen 3/4. Ich zitiere den Text nach dieser fehlerhaften Fassung, da er sich in dieser Form buchstäblich überliefert. Analog versucht diese Textfassung meines Vortrages die Mündlichkeit wie die Rhetorik der Rede als Form beizubehalten: diese verkörpert ihrerseits einen thetisch nicht vollständig abgesicherten Argumentationsgang, der sich zu behaupten versucht. 12 Ebd. Zeilen 1/2. 13 Wie Jochen Schmidt referiert, hatte der Landgraf zunächst »Klopstock gebeten, ein gegen die aufklärerische Bibelexegese gerichtetes Gedicht zu schreiben. Dieser Wunsch entsprang der pietistisch geprägten Bibelfrömmigkeit des Landgrafen.« (Ders., Hölderlins Patmos-Hymne, Hegels Frühschriften und das Johannes-Evangelium, in: ders.: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, Darmstadt 1990, S. 185-288, hier: S. 185.

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kehren«14 . Dadurch stellen sich auch die historisch‐endlichen Momente wieder her, die irreversibel verloren zu sein schienen, und von denen jetzt mit der Gewissheit gesprochen wird, dass nämlich »die liebsten/Nah wohnen«15 .Aber gerade dadurch, dass die Darstellung des Natur- und Kulturraumes so exakt gelingt (sogar die Erfahrung des Fremden, Nicht-Bekannten wird in den imaginierten poetischen Flug von West nach Ost und vice versa integriert16 ), kommt es auch zur Nennung des Disparaten. Negativität passt ins Bild: So die bleibende Einsamkeit des poetischen Ich und der Insel, die Erfahrung der Armut17 , ihrer Ödheit; auch von Schiffbruch18 wird gesprochen. Auch diese Erfahrungen aber intensivieren nur die Vision der Erfüllung, die nun als ihren Gegenstand (und damit nicht als [christo-]logisches Zentrum oder als Geheimnis) die Mittelbarkeit der christlichen Religion thematisiert: das Abendmahl, das auch ein Gedächtnis des Todes ist, ein sakramentaler Versuch seiner Überwindung.

Textperspektive Von Anfang an möchte ich daran erinnern, dass es sich beim christlichen Abendmahl um ein Essen handelt, das auch dem Eros und der Anamnesis Ausdruck gibt. Es ist ein Liebes- und Gedächtnismahl wie eine Henkersmahlzeit. Ein Akt der Erfüllung, aus dem Hölderlin aber immer schon auch ein Dokument machen will und das er schließlich – mit Bezug auf Johannes den Täufer – auch als »uneßbare Schrift« beschreibt19 und das von ihm genau an der Stelle eingesetzt wird, wo er zunächst den Tod Christi platziert, den er zunächst mit der ebenso viel- wie nichtssagenden Floskel: »Vieles wäre/Zu sagen davon«20 erwähnt, um dieses Geschehen später mit dem ebenfalls gewaltsamen Opfer-Tod des Täufers zu kumulieren, dessen abgeschlagener Kopf mit der inkommensurablen Schrift verglichen wird. Wir werden noch sehen, dass die Ankündigung des Messias, für die der Täufer in der Parallelität zwischen Prophetem und Prophezeitem theologisch einsteht, in der nunmehr poetischen Analogisierung ihres je tödlichen Endes sich wiederholt. Das theologische Problem radikalisiert und vertieft sich erneut als ein sprachliches und verkörpert sich gleichsam johanneisch, wobei der personale Einsatz des 14 15 16 17 18 19

Ebd., Zeile 15. Ebd., Zeile 10/11. Vgl. ebd. »Nimmer kannt’ ich die Länder« (Zeile 24). A.a.O., S. 687, vgl. Zeile 62 Ebd., vgl. Zeile 64. A.a.O., S. 864. Im Geiste dieser Textstelle und auf ihre Bedeutung für die Überarbeitung von Patmos hinarbeitend, hat Rainer Nägele mit: Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung – »Uneßbarer Schrift gleich«, Stuttgart 1985, v.a. S. 222-233, die bis heute bedeutendste Interpretation des Patmos-Stoffes vorgelegt. 20 A.a.O., S. 688, Zeilen 88/89.

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einen und der beiden anderen Johannes-Figuren über das sie identifizierende Wort der Theologe hinaus ist, sie entsprechen sich vielmehr – wie noch gezeigt werden wird – im sprachlichen Geschehen, das von ihnen ausgeht.

Zwischenreflexion Hölderlin will etwas buchstäblich ins Bild setzen, das nicht wortwörtlich schon in der Bibel steht, aber andererseits auch der klassisch griechischen Natur-KulturEinheit nicht einfach sinnbildlich entspricht. Vielmehr entzieht sich seine Vision solcher Darstellbarkeit immer schon als Prozess. Als tradierte Form und bloßer Inhalt aber ist das Dargestellte hochproblematisch: eine ungesicherte Fiktion oder nur gläubige Mutmaßung. Hölderlin visiert – dem entgegen – einerseits den idealen Schreibort einer Apokalypse, der gerade, weil er nicht der Ort des Abendmahls ist, der ideale Ort seiner Erinnerung ist, wesentlich konstituiert durch die selbstredende Gastfreundschaft der Insel und die durch Johannes eingesetzte GedächtnisFunktion (womit der Evangelist und Lieblingsjünger Johannes und der Autor der Offenbarung als ein und dieselbe Person entwickelt werden). Dies ist wiederum keine historisch‐biographische Analogisierung, sondern eine des sprachlichen und theologischen Bedeutungsträgers. Das ist, wenn eine Lösung, dann eine im hier und jetzt, in der absoluten Präsenz, im erfüllten Präsens eines Symposiums oder eines Abendmahles; Modelle einer poetischen Auf- und Einlösung.

Textentsprechung Dem entspricht der Text wiederum vollkommen: und es sahe der achtsame Mann Das Angesicht des Gottes genau, Da beim Geheimnisse des Weinstocks sie Zusammensassen zu der Stunde des Gastmahls, Und – in der großen Seele ruhig ahnend den Tod – Aussprach der Herr und die letzte Liebe, denn nie genug Hatt’ er von Güte zu sagen Die Worte damals, und zu erheitern, […]«21 21 Ebd., Z. 79-86.

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Im Überschuss der Worte und der Liebe gelingt über alle Konflikte, »das Zürnen der Welt«22 hinweg, die Versöhnung: »Denn alles ist gut.«23

Text-Unbewusstes/Text-Transzendenz Über diese Gegenwärtigkeit hinaus, ja sie schlicht ignorierend, thematisiert Hölderlin die mythische Welt der Götter, in der er den Geschichtsablauf bebildert, aber er beschreibt auch unbewusste Prozesse, die in diesem nachzuzeichnen sind, wie sie ihn konstituieren. Als übergeordnete sind historische Prozesse gegenüber jeglicher Erfüllung gleichgültig. Sie gehen über diese gleichsam hinweg, nicht ohne die Erfüllung nicht ihrerseits auch zu beinhalten. Wie die zitierte Vollkommenheit gegen den Tod nur durchzuhalten war in dem schon zitierten Vers »in der großen Seele ruhig ahnend den Tod«24 , so heißt es nun, dass der Prozess des Weiterlebens über alle Zäsur, Kreuzes- wie Todeserfahrung hinweg, nur möglich ist durch das Bewahren eines »Großentschiedene(n) in der Seele«25 . Die unbewusst seelische Disposition ist ein nicht zu unterschätzendes Moment des Prozesses in dem Trauer und Tod, die persönliche wie die absolute Verlassenheit ebenso bleiben wie die Erfüllung.Nur der hinzukommende »Geist«26 , das Bewusstsein dieses Prozesses aber vermag aus den Protagonisten des Gedichtprozesses so etwas wie »Todeshelden«27 zu machen. Das Ausharren in der Nacht und in der Einsamkeit wird nun zur idealistischen Bestimmung gegenüber den »Abgründen der Weisheit«28 .

Zerstreuung Dann thematisiert Hölderlins Gedicht einen Prozess, der nicht nur für ihn als poetologisches Zentrum zu bezeichnen ist: die Dispersion, die Zerstreuung qua Zäsur, also das, was die Abgründe evozieren: Doch furchtbar ist, wie da und dort Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott29 Negativität steigert sich in ein fast unerträgliches Maß, resultiert aus einem Stigmata. Das ist das Faszinosum, das von der 9. bis in 11. Strophe reicht. 22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd., Z. 87. Ebd., Z. 88. Ebd., Z. 83. Ebd., Z. 93. Ebd., Z. 101. Ebd., Z. 105. A.a.O., S. 689, Z. 119. Ebd. Z. 121/122.

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Hölderlin gestaltet eine Dialektik am Rande der Unsinnigkeit und doch von einer überzeugenden Intensität der Rede. Es geht zunächst um ein »zweihaft/Erkannt«30 -Sein als als dieser Ausharrende, einsame Todesheld, der zugleich Protagonist des Himmlischen und dessen Opfer ist: Er verkörpert den Agenten und den Sklaven des Himmlischen, der Himmlischen wie auch des Himmels. Herr und Knecht werden zu Repräsentanten des buchstäblich abgründigen Geistes. Und, als würde diese Multiplizität der Dialektiken nicht ausreichen, werden diese – und dies ist der Anspruch der idealistischen Philosophie, die Schelling, Hölderlin und Hegel visieren – auch noch selbstreflexiv gewendet und bei Hölderlin in ein Sprachbild gebracht: Es ist der Wurf des Sämanns, wenn er fasst31 Fassen, Begreifen kann auch an einem seinem dialektischen Selbstverständnis schwierigen Moment einfach formuliert sein, so wenn das Worfeln als Gewinnung des Korns, der Ernte der sprachlichen Hervorbringung der Schrift analog gedacht wird, in der die lebendige Rede verhallt.32 Es verfliegen gleichsam die Spelzen und die sprichwörtlichen Worthülsen, während das herabfallende Korn wie die übrig bleibenden Buchstaben zurückzubleiben vermögen als die Reste einer Rede, als ihr Wesentliches. Dies ist wiederum als poetisch‐sprachliches Gegensatzpaar formuliert. Dieses ist nun aber gerade nicht als ein zu Verzehrendes, zu Konsumierendes intendiert, sondern – wir erinnern uns an die »uneßbare Schrift« des Todesereignisses des auf Christus verweisenden Täufers33 – es erweist sich als inkommensurabel. Das Einfachste ist das Schwierigste, das Offenbare ein Geheimnis. Dies meint aber hier keine rhetorische Scheinlegitimierung theologischer Tiefe, sondern ist die sprachliche Vorführung von deren Unmöglichkeit.

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Ebd. Z. 126/127. Ebd. Z. 152. Vgl. Ebd. Z. 159. Jürgen Link, Beim zweiten mal stirbt nicht Jesus, sondern Johannes. Eine abweichende Lektüre von Hölderlins »Patmos« und was aus ihr folgt, in: hölderlin: französisch – deutsch (kultuRRevolution nr. 35 [april 1997], S. 43-52, bezieht diesen dritten Johannes nicht ein, sondern rekurriert ausschließlich auf die Identität von Evangelist und Apokalyptiker. Damit verbleibt seine Deutung in der Tradition eines auch schon von Binder favorisierten johanneischen Christentums und weicht damit um so weniger von der traditionellen Deutung ab, als er sich auf sie explizit bezieht: So fehlten in der Patmos-Hymne »gänzlich die beiden wichtigsten Mytheme, Kreuzigung und Auferstehung« (S. 48), wobei er auf den Aufsatz von Binder (wie in Fußnote 8) verweist.

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Schweigen Zunächst erreicht das mehrfach thematisierte Scheitern der bildlichen, sprachlichen und anamnetischen Repräsentation des Gottes damit ein neues Niveau. Auch dessen Selbstrealisation, Selbstverkörperung bis in den Tod hinein ist nicht nur fürchterlich und gewaltsam, sondern ein der menschlichen Kraft zur künstlerischen Vision durchaus analoger Prozeß der Negation. Für die kommunikativen Verluste dieser Prozesse: das Ende des subjektiven Sagens, das Scheitern der Sich‐retten-wollenden-Gläubigkeit, wie schließlich noch den unsäglichen Zorn des Gottes über das Falsche, die Sünde und die subjektive Anmaßung, gilt gleichermaßen: Und nicht ein Übel ist’s, wenn einiges Verloren gehet«34 Die gesprochenen Worte wie die Bilder des Geistes werden zurückgenommen in Stille, ins Schweigen, als: stillleuchtende Kraft aus heiliger Schrift35 , was auch für die göttliche Sprache in der Natur gilt: Still ist sein Zeichen Am donnernden Himmel.36 Und diese nicht mehr sprechenden Zeichen eines nicht mehr Identischen stehen nun für die Deutung bereit, sind auf sie angewiesen, wie sie diese ermöglichen. Das göttliche Bewusstsein von diesem Prozess – Denn seine Werke sind Ihm alle bewußt von jeher.37 – bleibt seinem Anspruch nach absolut, wie auf der Ebene der Menschen die überindividuelle Kraft der Naturgeschichte anerkannt wird: Denn sie nicht walten, es waltet aber Unsterbliches Schicksal und es wandelt ihr Werk Von selbst38 In diesem Sinne folgt auf die nicht‐wissende Religiosität der Natur und der Sonne (die noch nicht das Licht der Aufklärung ist) das bewusste Sich-Orientieren an der 34 35 36 37 38

Hölderlin, a.a.O., Z. 157/158. A.a.O., S. 690, Z. 194. Ebd. Z. 203/204. Ebd. Z. 210/211. Ebd. Z. 176-178.

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buchstäblichen Schrift und ihrer Deutung am Schluss der Hymne in ihrer ersten und scheinbaren Vollendung: Wir haben gedient der Mutter Erde, Und haben jüngst dem Sonnenlichte gedient, Unwissend, der Vater aber liebt,Der über allen waltet, Am meisten, dass gepfleget werde Der feste Buchstab, und Bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt teutscher Gesang.39 So funktioniert vorderhand auch die idealistische, geschichtsphilosophische Dialektik, für deren interpretatorische Explikation beispielhaft noch einmal Jochen Schmidt zitiert werden kann, dessen Deutung zudem in die ungebrochene Tradition pietistischer Theologie zurückreicht. Schmidt resümiert: »Die entschlossene Universalisierung des Heilsgeschehens in den beiden letzten Strophen, die weit über den christlichen Horizont hinausreichen, […], hat längst nichts mehr mit dem ›vesten Buchstab‹ im engeren Sinne zu schaffen.«40 Vielmehr solle »der Buchstabe der Bibel gepflegt werden, der dem Prinzip der bloßen Buchstäblichkeit widerspricht«41 , wie es dem Selbstverständnis einer pietistisch pneumatologischen Geistlehre oder noch der Wortwahl des späteren Hegels als Selbstvermittlung des Geistes in der Geschichte entspricht. Hölderlin aber beschreibt die Crux dieser Philosophie im Sinne einer sehr viel mehr skandalisierenden Radikalität: In ihr geht es um das Nicht-Gelingen sprachlich‐bildlicher Repräsentation, die doch immer schon um den Preis des Todes vollzogen wird, immer schon vollzogen gewesen sein wird: Die Geopferten bleiben gekreuzigt – möchte man im Blick auf Benjamins Geschichtsthesen sagen. Die Krise resultiert aus einem Nicht‐weiter-korrespondieren-Können derer, die einmal eine ursprüngliche Einsicht im Sinne eines System-Programms auf den Weg gebracht haben, das nun in seinen unterschiedlichsten (und unterschiedlich sein müssenden und sollenden) Ausprägungen sprachlich leer ausgeht: […] und wenn ein Rätsel ewig für einander Sie sich nicht fassen können Einander, die zusammenlebten, im Gedächtnis, […].42 Die Emmaus-Erfahrung der Jünger überträgt sich gleichermaßen auf die Korrespondenzen der Symphilosophierenden um 1800. Ihr allumfassender, absolut inte39 A.a.O., S. 691, Zeilen 220-226. 40 Schmidt, a.a.O., S. 286. 41 Ebd. 42 Hölderlin, a.a.O., S. 689, Z. 140-143.

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grativer Diskurs fasst sich nicht mehr als ein gemeinsamer, begreift auch sich selbst eben doch nicht als überindividueller. In den erneuerten Analogien der menschlichen und der göttlichen Sphären überwiegt gleichermaßen die Erfahrung negativer Totalität. Diese überlagert auch immer umfassender die Vision des Abendmahls: Wenn der abgeschlagene Kopf des Johannes sich immer stärker als antizipierendes Bild für das Ende durchsetzt, das dann nicht mehr auf Christus und eine mögliche Erlösung verweist, auch wenn sie johanneisch gleichermaßen angezeigt, verkündigt und heilsgeschichtlich dokumentiert zu sein scheint, durch die Dreieinigkeit des auf Christus verweisenden Täufers, des ihn bezeugenden Evangelisten und des ihn offenbarenden Apokalyptikers.

Überarbeitung Die Hybris, die ja über Hölderlins Selbstkritik hinaus auch den Idealismus als Geistesrichtung betrifft, wird als Idolatrie in den sich an die Reinschrift anschließenden Überarbeitungen deutlich an- und ausgesprochen: Grausam nemlich hasset Allwissende Stirnen Gott43 . Gerade der Täufer Johannes wird aber von solcher Geisteshaltung nun deutlich abgesetzt: Rein aber bestand Auf ungebundenem Boden Johannes44 . Führt das nun auf johanneisches Christentum, also auf das: Am Anfang war das Wort? – sozusagen jenseits von Buchstabe und Bild, diesseits hybrider Geistigkeit? So könnte es sich verhalten. Der Anspruch, alles‐zu-verstehen, der in der absoluten Geistphilosophie wie im Christentum liegt, ist allerdings nicht nur zurückzustellen, sondern wird endgültig zurückgewiesen. Eine zweite Schlussvariante formuliert Hölderlin dem entsprechend so: Zu lang, zu lang schon ist Die Ehre der Himmlischen unsichtbar. Denn fast die Finger müssen sie Uns führen und schmählich Entreißt das Herz uns eine Gewalt. Denn Opfer will der Himmlischen jedes 43 A.a.O., S. 834, Z. 78-79. 44 Ebd. Z.79-80.

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Wenn aber eines versäumt ward, Nie hat es Gutes gebracht. Wir haben gedienet der Mutter Erd’ Und haben jüngst dem Sonnenlichte gedient, Unwissend, Das Tagwerk aber bleibt, Der Erde Vergessenheit, Wahrheit schenkt aber dazu Den Athmenden Der ewige Vater.45 Wir verbleiben als Säumige, Zögerliche, blind Opfernde im Nicht-Gelungenen, Nicht-Enträtselten. Das Dienen missrät als unreflektierte ungedachte Unterwerfung. Die Gemeinschaft, die – christlich und philosophisch – einmal eine des Gedächtnisses war, ist nun eine der Vergessenheit. Aber immerhin sind wir noch Athmende, die – wie die Luft – auch die Wahrheit aufzunehmen vermöchten, wie wir sie in poetischer Gestalt auch wahrzunehmen bereit sind. Solche Klarheit artikuliert aber letztlich die Einsicht, dass jeder hybride Anspruch auch als ästhetisches Gebilde, als Kunstreligion an sich selbst scheitert. Es ist immer schon alles angerichtet, wie ein Essen: ein letztes Gericht und bildet doch auch ein Arrangement, das die Reproduktion der geistigen Arbeit selbst darstellt.46 Was von der Säkularisation bleibt, ist nur ihre Fortsetzung des Anderen.

Literatur Benjamin, Walter: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. »Dichtermuth« – »Blödigkeit«, in: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, 1, S. 105-126. Binder, Wolfgang: Hölderlins Patmos-Hymne, in: ders., Hölderlin-Aufsätze, Frankfurt a.M. 1970, S. 362-402. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Kritische Schriften (III). Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. Neu hrsgg. v. Hans Brockard und Hartmut Buchner, Hamburg 1986. Hölderlin, Friedrich: sämtliche werke. Frankfurter Ausgabe, Bd. 8, Gesänge II. 45 A.a.O., S. 868, Z. 273-288. 46 Für die sich in diesem Sinne an diesen Vortrag anschliessende Diskussionen und Anregungen danke ich vor allem Elmar Kleiner (B.A.).

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Link, Jürgen: Beim zweiten mal stirbt nicht Jesus, sondern Johannes. Eine abweichende Lektüre von Hölderlins »Patmos« und was aus ihr folgt, in: hölderlin: französisch – deutsch (kultuRRevolution nr. 35 [april 1997], S. 43-52. Nägele, Rainer: Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung – »Uneßbarer Schrift gleich«, Stuttgart 1985. Roche, Charles de: Friedrich Hölderlin: Patmos. Das scheidende Erscheinen des Gedichts, München 1999. Schmidt, Jochen: Hölderlins Patmos-Hymne, Hegels Frühschriften und das Johannes-Evangelium, in: ders.: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, Darmstadt 1990, S. 185-288. Schröder, Thomas: Poetik als Naturgeschichte. Hölderlins fortgesetzte Säkularisation des Schönen, Lüneburg 1995.

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Brentanos Klingding Eine Kulturpolitik der Buchstäblichkeit in der Romantik Till Dembeck

Dieser Beitrag widmet sich einer homophonen Übersetzung, die sich in einem recht unbekannten Text Clemens Brentanos findet, und interpretiert dieses Beispiel als Umsetzung einer romantischen Kulturpolitik der Buchstäblichkeit. Auch wenn der Fall recht spezifisch gelagert ist, bietet er allgemein Aufschluss über die Relevanz des Buchstäblichen für Kultur. Homophone Übersetzung ist im deutschsprachigen Raum auch bekannt unter der Bezeichnung Oberflächenübersetzung – nach dem gleichnamigen Gedicht von Ernst Jandl, das die Übersetzung eines Wordsworth-Gedichts ›nach dem Klang‹ vorlegt. Aus dem Vers »my heart leaps up when i behold« wird dann »mai hart lieb zapfen eibe hold«, und aus »so be it when i shall grow old/or let me die!« wird »so biet wenn ärschel grollt/ohr leck mit ei!«.1 Es wird sich noch zeigen, dass die Behauptung, es werde hier ›nach dem Klang‹ übersetzt, nicht ganz präzise ist, aber fürs erste kann diese Definition genügen. Was an Jandls Gedicht schon deutlich wird, ist einerseits eine gewisse Tendenz zur Obszönität – man hört im anderssprachigen Quelltext offenbar gerne etwas, was in der eigenen Sprache nicht ausgesprochen gehört. Andererseits ist klar, dass das ganze Verfahren auf einem sehr spezifischen Verharren auf buchstäblichem Verstehen beruht: Buchstäblich ist die homophone Übersetzung, insofern sie sich weigert, allzu weit von demjenigen wegzugehen, was an Laut- und Buchstabenmaterial im Quelltext gegeben ist. Ich gebe im Folgenden zunächst einige Hinweise zur Geschichte der homophonen Übersetzung, die allerdings bislang nur sehr lückenhaft erforscht ist. Sodann ist es für das Verständnis des Textes von Brentano nötig, eine Reihe von Erläuterungen zum literaturhistorischen Kontext zu geben, auch wenn dieser Abschnitt auf den ersten Blick etwas vom Thema abführt. In einem dritten Schritt stelle ich Brentanos homophone Übersetzung ausführlich vor, um dann abschließend einige systematische Schlussfolgerungen zu ziehen. 1 Ernst Jandl, »oberflächenübersetzung«, in: ders., sprechblasen. verstreute gedichte 3. München 1997, S. 51.

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Zur Geschichte der homophonen Übersetzung Als künstlerisches, insbesondere in der Lyrik genutztes Verfahren erlebt die homophone Übersetzung seit dem Ende der 1950er Jahre eine gewisse Konjunktur, mit Höhepunkten in den späten 1960er Jahren und um die Jahrtausendwende. Allerdings ist sie der Sache nach deutlich älter. Man wird dem Prinzip der homophonen Übersetzung nachgerade sprachhistorische Relevanz zusprechen müssen: So greift es beispielsweise immer schon bei der ›Übersetzung’von Eigennamen aus fremden Sprachen, bei der Fremdwortübernahme und vor allem bei der Lehnwortbildung, die in der Regel mit der Anpassung des übernommenen Wortes an die phonologischen Regeln der Zielsprache einhergeht. Ein Beispiel hierfür ist die Akzentverschiebung, etwa die Benutzung des germanischen Initialakzents für aus dem Lateinischen ins Deutsche übernommene Wörter wie ›Fénster‹ (im Original ›fenéstra‹). Es gibt aber auch eine Reihe literarische Beispiele für die Verwendung von homophoner Übersetzung, von denen hier zumindest einige aufgezählt seien – mit sehr großer Wahrscheinlichkeit bieten die Quellen noch sehr viel mehr: In Titus Maccius Plautus’ Komödie Poenulus (um 200 v. Chr.), spricht eine Figur aus Karthago Punisch, und eine andere Figur, die vorgibt, Punisch zu verstehen, übersetzt dies dann homophonisch in Lateinische.2 Ein ähnlich gelagerter Fall findet sich in Shakespeares Love’s Labour’s Lost (1598), wo ein Charakter namens Dull das Latein des Schulmeisters Holofernes gewöhnlich als einfaches Englisch wahrnimmt.3 In Andreas Gryphius’ Komödie Horribilicribrifax Teutsch (1663) wiederum fasst eine eher einfältige Person namens Cyrille die von anderen geäußerten französischen, griechischen oder lateinischen Ausdrücke als deutsche auf. Eine Art running gag ist hier, dass Cyrille oft fälschlicherweise glaubt, als Hure beleidigt worden zu sein – beispielsweise übersetzt sie das griechisch‐latenische »αληθῶ ς, purè« als »alte Hure«4 und das französische »Bonjour, Bonjour, Madame Cyrille« als »o Hure/o Hure Mame Zyrille«.5 Es ist offenkundig, dass die homophone Übersetzung in dieser Tradition meist verwendet wird, um einen Geist zu entlarven, der in seiner Begrenztheit alles buchstäblich versteht und jede Rede, die er nicht begreifen kann, tendenziell in Begriffen interpretiert, die er bereits kennt und für selbstverständlich hält. 2 Siehe George E. Duckworth, The Nature of Roman Comedy. A Study in Popular Entertainment, Princeton 1971 [1952], S. 354. 3 Siehe Irina Dumitrescu, »Literary Multilingualism in Everyday Life. The Case of Early Modern Vulgaria«, in Till Dembeck/Anne Uhrmacher (Hg.), Das literarische Leben der Mehrsprachigkeit. Methodische Erkundungen, Heidelberg 2016, S. 95-111, hier S. 108-111. 4 Ebd., 26. 5 Ebd., 89.

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Zugleich deutet sich hier eine populärkulturelle Facette der homophonen Übersetzung an, die noch sehr viel gründlicher zu untersuchen wäre. Man kann beispielsweise vermuten, dass im Rahmen von parodistischen Adaptionen z.B. des lateinischen Messetextes oder in der frühmodernen makkaronischen Poesie weitere Beispiele für homophone Übersetzung zu finden sind – dies ist allerdings bis heute nicht systematisch erforscht. Dass dieses Verfahren eine gewisse Faszinationskraft birgt, zeigt etwa die vielverkaufte Zusammenstellung verbreiteter Missverständnisse fremdsprachiger Liedtexte von Axel Hacke und Michael Sowa.6 Ein interessantes Zeugnis bilden schließlich eine Reihe von Texten Jonathan Swifts, die in einer Art Pseudolatein geschrieben sind, wie es noch heute von Lateinschülern gepflegt wird: »No quare lingat præ senti de si re«, antwortet ein Arzt seinen streitenden Kollegen in »A Consultation of four Physicians upon a Lord that was dying« (1736, publiziert postum 1746). Das heißt: »No quarrelling at present, I desire.«7 Auch hier handelt es sich im Grunde um eine homophone Übersetzung, auch wenn das ›Original‹ erst durch Rückübersetzung erschlossen werden muss. Eine im engeren Sinne literarische Praxis der homophonen Übersetzung liegt vor, wenn das Prinzip des Verhörens systematisch zur Aneignung anderssprachiger Texte genutzt wird. Das hier behandelte Beispiel von Brentano ist dabei besonders früh, vermutlich deshalb, weil die literarische Etablierung der Muttersprachensemantik (also die Durchsetzung der Vorstellung, man könne nur in der Muttersprache wirkliche Literatur schaffen) seit dem späten 18. Jahrhundert die literarische Nutzung von Anderssprachigkeit für einige Zeit eher unwahrscheinlich gemacht hat. Ihren ersten Höhepunkt erfährt die literarische homophone Übersetzung – nach einer frühen Übersetzung von »Frère Jacques« ins Englische, die Howard L. Chace 1956 unter dem Titel »Fryer Jerker« publiziert hat8 – mit dem nahezu gleichzeitigen Erscheinen des berühmten Gedichts »oberflächenübersetzung« von Ernst Jandl, den Mots D’Heures: Gousses, Rames. The D’Antin Manuscript von Luis d’Antin van Rooten (1967)9 und schließlich der Übersetzung der Gedichte Catulls von Louis und Celia Zukofsky (1969).10 Bei den Mots D’Heures handelt es sich um homophone Übersetzungen englischer Kinderreime ins Französische – was allerdings unterschlagen wird, da der Text nur die französischen Texte liefert und sie zudem als authentische literarische Neuentdeckung mit einem reichhaltigen philologischen Kom6 Axel Hacke/Michael Sowa, Der weiße Neger Wumbaba. Kleines Handbuch des Verhörens, München 2004. 7 Zit. nach Paul William Child, »Jonathan Swift’s Latin Quacks: ›A Consultation of Four Physicians upon a Lord that Was Dying‹«, in: The Cambridge Quarterly 40.1 (2011), S. 21-35, hier S. 24. 8 Dirk Weissmann, »Stop making sense? Ernst Jandl et la traduction homophonique«, in: Ètudes Germaniques 69.2 (2014), S. 289-306, hier S. 297. 9 Luis d’Antin van Rooten, Mots D’Heures: Gousses, Rames. The D’Antin Manuscript, New York 1967. 10 Celia und Louis Zukofsky (Übers.), »Catullus (Gai Valeri Catulli Veronensis Liber)«, in: Louis Zukofsky, Complete Short Poetry, Baltimore/London 1991, S. 241-319.

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mentar versieht. Die Catull-Übersetzung von Celia und Louis Zukofsky schließlich zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar ebenfalls homophon vorgeht, aber zugleich versucht, die Bedeutung des Originals zu erhalten. Dieses Verfahren bringt die Nutzung abgelegener Teile des englischen Wortschatzes mit sich – und dementsprechend eine extreme Mischung der Sprachregister des Englischen. Seither ist die homophone Übersetzung ein zwar randständiges, aber doch durchgängig gebrauchtes Verfahren experimenteller Lyrik, besonders in den Vereinigten Staaten und hier vor allem im Kontext der Zeitschrift L = A = N = G = U = A = G = E .11 David J. Melnick hat 1983 mit Men in Aïda gar an das Projekt der Zukofskys angeschlossen – es handelt sich bei dem Buch um eine zugleich homophone und semantische Übersetzung der Illias.12 In Frankreich ist die homophone Übersetzung vor allem von Mitgliedern der literarischen Gesellschaft Oulipo betrieben worden,13 und im deutschsprachigen Raum ist in erster Linie das Oulipo-Mitglied Oskar Pastior mit homophonen Übersetzungen hervorgetreten. Weitere jüngere Beispiele haben der deutsche Lyriker Schuldt und der amerikanische Lyriker Robert Kelly mit Am Quell der Donau (1998) vorgelegt14 – einem Text, der die mehrfache abwechselnd homophone und semantische Hin- und Her-Übersetzung eines Hölderlin-Gedichts dokumentiert.15 Einen Sonderfall stellen die Oberflächenübersetzungen aus dem Deutschen ins Deutsche dar, die Felix Philipp Ingold veröffentlicht hat.16 Man wird all diese Beispiele als Momente einer kreativen literarischen Auseinandersetzung mit buchstäblichem Verstehen interpretieren können. Schon die wenigen Schlaglichter auf die Geschichte der homophonen Übersetzung lassen dabei eine doppelte Ausrichtung des Verfahrens erkennen: Einerseits steht es in seiner Buchstäblichkeit für kulturelle wie kognitive Beschränktheit – in der Komödie sind die Personen, die sich Anderssprachiges homophon übersetzen, in der Regel Gegenstand des Spotts. Andererseits aber zeigt sich schon in der Komödie, erst recht aber in der populärkulturellen Aneignung von Anderssprachigkeit durch homophone Übersetzung eine gewisse emanzipatorische Kraft des Verfahrens: Es wehrt sich dagegen, dass eine andere, vorgeblich höherwertige Sprache (meist das Lateinische), als Machtinstrument eingesetzt wird. Dem setzt sie eine aus der Be11 Siehe Weissmann, »Stop making sense?«, S. 300. 12 David J. Melnick, Men in Aïda, Den Haag 2015. 13 Siehe zum Beispiel Oulipo, La littérature potentielle (Créations Re‐créations Recréations), Paris 1973, S. 111, und Oulipo, Atlas de littérature potentielle, Paris 1981, S. 144f. 14 Schuldt/Robert Kelly/Friedrich Hölderlin, Am Quell der Donau, Göttingen 1998. 15 Siehe hierzu Monika Schmitz-Emans, »Nach-Klänge und Ent-Faltungen: Hölderlins Am Quell der Donau und seine Schallgeschwister«, in: Manfred Schmeling/dies. (Hg.), Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, Würzburg 2002, S. 68-95. 16 Felix Philipp Ingold, Fremdsprache. Gedichte aus dem Deutschen, Berlin 1984.

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schränktheit geschöpfte Form der Kreativität entgegen, die wiederum in den neueren literarischen Beispielen zum poetischen Prinzip erhoben wird.

Exkurs: Der Sonettenkrieg von 1808 Brentanos Verssatire »Der Einsiedler und das Klingding«17 ist im Rahmen einer Debatte entstenden, die die Heidelberger Romantiker mit Johann Heinrich Voß ausgefochten haben. Es ging um die Möglichkeit und Legitimität einer deutschsprachigen Sonettproduktion. Die Satire umfasst unter anderem ein griechisches Sonett, das interlinear ins Deutsche übertragen wird, und zwar größtenteils nach dem Prinzip der Homophonie. Der Text gehört nicht zu den kanonisierten Werken seines Autors, ja, er wird ihm erst seit 2009 zugerechnet. Auch die Geschichtsschreibung der homophonen Übersetzung hat bislang keinerlei Notiz von ihm genommen. Dennoch lässt sich gerade an diesem Text eine bemerkenswerte Facette des romantischen Nachdenkens über Buchstäblichkeit beleuchten. Es ist allerdings nötig, dazu zunächst den Kontext genauer zu rekonstruieren. Im Anschluss daran kann Brentanos Verssatire als Entfaltung einer anti‐philisterhaften Poetik einer Überwindung von Buchstäblichkeit durch Buchstäblichkeit gedeutet werden. Auslöser der Debatte, aus der die Klingding-Satire hervorgegangen ist, war Voß’ Publikation eines »Sprache und Dichtung« betitelten Aufsatzes in vier aufeinander folgenden Ausgaben der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (1. bis 4. Juni 1808). Der Aufsatz, der eigentlich eine Rezension der Sonette Gottfried August Bürgers sein soll, bietet umfangreiche allgemeine Überlegungen über das Sonett als Gattung. In Reaktion darauf publizierten Joseph Görres, Brentano und Achim von Arnim eine Reihe von Texten in von Arnims Zeitung für Einsiedler. Der erste dieser Texte ist Görres’ »Die Sonnettenschlacht bei Eichstädt« – Untertitel: »Jenaische Literaturzeitung. Junius 1808 Nr. 128-31« (29. Juni 1808). (»Eichstädt« spielt hier auf den Herausgeber der Allgemeinen Literatur-Zeitung an, aber natürlich zugleich auf die Schlacht bei Jena-Auerstedt, in der Napoleon zwei Jahre zuvor Preußen geschlagen hatte.) Dieselbe Ausgabe der Zeitung für Einsiedler enthielt auch Brentanos Verssatire, deren voller Titel wie folgt lautet: »Der Einsiedler und das Klingding, nach der Schlacht bei Eichstädt. Ein Clairobscür für die Lesewelt, Seitenstück zu Fritzchens Reise durchs A B C.« Als Extrablatt der Zeitung für Einsiedler publizierte 17 Es liegen aktuell zwei identische Editionen des Textes von Brentano vor: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 21.1: Satiren und Kleine Prosa, hg. v. Maximilian Bergengruen, Wolfgang Bunzel, Renate Moering, Stefan Nienhaus, Christina Sauer und Hartwig Schultz, Stuttgart 2013, S. 93-98, und Achim von Arnim, Werke und Briefwechsel. Historisch-Kritische Ausgabe (Weimarer Ausgabe), Bd. 15: Zeitung für Einsiedler, hg. v. Renate Moering, Berlin/Boston 2014, S. 321-325. Ich zitiere nach der erstgenannten Ausgabe. Bd. 15 der von Arnim-Ausgabe enthält auch die Texte von Görres (S. 318-320) und von Arnim (S. 463-521).

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von Arnim später noch die »Geschichte des Herrn Sonnet und des Fräuleins Sonete, des Herrn Ottav und des Fräulein Terzine. Eine Romanze in 90+3 Soneten«, die im Folgenden nicht Gegenstand der Betrachtungen ist.18 An den Titeln lässt sich der spielerisch‐spöttische Ton der Antwort bereits ablesen, die die drei Freunde Voß’ ausgesprochen pathetischer Attacke gaben. Die Texte sind gespickt mit Anspielungen und machen ausgiebigen Gebrauch von Parodie und Pastiche. Ihre Vorliebe für scharfe Kontraste und schneidenden Witz mag erklären, warum Brentanos Satire als »Clairobscür« bezeichnet wird. Um die Bedeutung der homophonen Übersetzung in Brentanos Text abschätzen zu können, ist es notwendig, das Argument zu rekonstruieren, gegen das er sich richtet. Voß verficht in seinem Aufsatz eine durch und durch klassizistische Auffassung des poetischen Sprachgebrauchs. Nur scheinbar suchen einige seiner Argumente die Nähe zu protoromantischen Positionen beispielsweise Johann Gottfried Herders – wenn Voß etwa behauptet, Lyrik sei zu bestimmen als Artikulation von »Naturlaut«, hervorbrechend aus der Sprache »unwiderstehlicher Lebenskraft«.19 Die Kritik an Bürgers Sonetten nämlich macht unmissverständlich klar, dass das Maß aller Dinge für Voß eine Art sorgfältig ausbalancierte Klangform ist, eine Art prästabilierte Sprachharmonie, die u.a. eine regelmäßige Verteilung der unterschiedlichen Vokale in der Rede vorsieht und umgekehrt eine ganze Reihe von Lautkombinationen als disharmonisch ausschließt. Beispielsweise beklagt sich Voß darüber, dass das moderne Deutsch zugunsten des ›e‹ stark an vokalischer Vielfalt eingebüßt habe – was den Dichter zu besonderer Sorgfalt zwingt, denn es gilt, jede Monotonie zu vermeiden.20 Ähnlicher Sorgfalt bedarf es bei der Zusammenfügung der Konsonanten.21 Gleichwohl verteidigt Voß die Fähigkeit der deutschen Sprache zu klassischem Versbau – wenn sie denn die ewigen Gesetze des »Wohlkang[s]«22 beachten, können deutsche Gedichte es mit denjenigen der griechischen Antike durchaus aufnehmen. Zugleich ist offenkundig, dass formale Neuerungen in Voß’ Poetik keinerlei Priorität genießen, und schon deshalb sind seine Verfahren zur Adaption antiker Versmaße, beispielsweise in seinen Homerübersetzungen, alles andere als romantisch. Der wesentliche Einwand, den Voß vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gegen das deutschsprachige Sonett erhebt, führt das Misslingen der Gattung auf 18 Siehe Friedrich Strack, »Clemens Brentano und das ›Klingding‹. Bemerkungen zur ›Sonnettenschlacht bei Eichstädt‹ in der ›Zeitung für Einsiedler‹«, in: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 2009, S. 253-287. 19 [Johann Heinrich] Voss, »Sprache und Dichtkunst. Göttingen, bei Bietrich: G. A. Bürgers Sonnette, in den letzten Ausgaben der Bürgerschen Gedichte. 1789, 1796 und 1803«, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung n° 128-131 (1. Juni 1808 – 4. Juni 1808), Sp. 409-440, hier: Sp. 410. 20 Ebd., Sp. 421f. 21 Ebd., Sp. 422-424. 22 Ebd., Sp. 420.

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eine fehlerhafte Übersetzung des Worts ›Sonett‹ zurück.23 Wahrscheinlich zurecht führt er dabei die Auffassung, ein Sonett sei ein Gedicht, das den Klang der Sprache in den Vordergrund rückt, auf Martin Opitz und Georg Rudolf Weckherlin zurück. Für Voß hat nun diese Fehlübersetzung dazu geführt, dass sich die Form des Sonetts im Deutschen einer Vielzahl von Experimenten mit dem Sprachklang ausgesetzt gesehen hat – missbilligend spricht er von »Pinkepank«,24 »Geklingel«25 und »Gebimmel«.26 Besonders missfallen Voß solche Sonette, die überwiegend weibliche Kadenzen benutzen – denn eine solch einseitige Bevorzugung eines einzigen Klangmusters kann seiner Ansicht nach nur »Mistöne«27 und ein Missverhältnis von Klang und Sinn erzeugen. (Das Verhältnis von Klang und Sinn steht übrigens auch mit Blick auf eine zweite Übersetzung des Worts ›Sonett‹ in Frage, die Voß im Vorübergehen erwähnt und die das Wort auf die Tatsache zurückführt, dass Sonette »so nett«28 klingen – eine Etymologie, die den unschätzbaren Vorteil hat, als homophone Übersetzung der Gattung des Klanggedichts, die es bezeichnet, optimal angepasst zu sein.) Angesichts dieser Entwicklung des Sonetts plädiert Voß aber keinesfalls für eine Erneuerung der Gattung, die dem »Geklingel« Abhilfe schaffen würde. Vielmehr hält er die Gattung angesichts ihrer vollständigen Fehlinterpretation durch ihre Befürworter für gänzlich verloren. Niemals werde sie, so heißt es in Anspielung auf eine Formulierung von Boileau, dem »Phönix«29 gleich aus der Asche aufsteigen – sie kann kein Medium der poetischen Kreativität und Erneuerung sein. Görres’ Antwort auf Voß’ bierernste Argumentation verschiebt den Ton sogleich zu Scherz und Satire. Da Voß in seinem Text mehrfach von Sonetten als »Dingern« spricht, nennt Görres das Sonett durchgängig ein »Klingding«. Seine kurze Prosaerzählung beschreibt Voß’ Attacke als Völkermord. Voß erscheint als ein »große[r] Mohrenkönig«,30 der eine Armee von »Hexametern und Pentametern, von Jamben, Trochäen und Anapästen, saphischen und alkäischen Oden, anakreontischen abgedankten Liedern und großen jonisch epischen Schweinkopfphalanxen«31 kommandiert und das Volk der Sonette brutal auslöscht. Seine von einem »Heidengott« gesandte Armee wirft den Sonetten vor, »der Vogel Phönix sey nicht unter ihnen«, und ihr Anführer ergänzt, »sie seyen alle tieckisch, und da konnte er sie in der Seele nicht leiden, weil er selbst bekanntlich antikisch ist«.32 (Man beachte, dass 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., Sp. 410-413. Ebd., Sp. 409. Ebd., Sp. 413. Ebd., Sp. 414. Ebd., Sp. 426. Ebd., Sp. 412. Ebd., Sp. 414. Görres, »Die Sonnettenschlacht«, S. 319. Ebd., S. 318f. Ebd., S. 319.

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auch das letzte Wortspiel auf einem Gleichklang aufruht – man hat es mit einer homophonen Übersetzung aus dem Deutschen ins Deutsche zu tun.) Abgesehen von diesen Stellen setzt sich Görres’ Text nur recht vage mit den Argumenten auseinander, die Voß mit Blick auf den Klang der Poesie vorbringt. Er ist aber immerhin Anlass für Brentanos Verssatire, die den von Görres gesponnenen Erzählfaden aufnimmt und von der Wiedergeburt der Sonette als Epigramme berichtet (»ein einzig Klingding hat oft tausend Stechdinger gegeben«33 ) sowie davon, ein einziges Sonett, Kind einer griechischen Vaters und einer (wahrscheinlich) deutschen Mutter, die in der Schlacht ums Leben gekommen sei, habe überlebt und sei »in einer Guitarre oder Korset glücklich durch die Vorposten gekommen«.34 Brentanos Text wechselt gegenüber Görres’ Erzählung den Stil und den kulturpolitischen Impetus. In ihrer Form ist Brentanos Satire ein Drama en miniature, das überwiegend selbst aus Sonetten besteht. Die einzigen dramatis personae sind ein Einsiedler und das einzige überlebende Sonett, das, wie sich herausstellt, zweisprachig ist. Brentanos Umgang mit der Form der Sonetts streicht in übertriebener Form gerade diejenigen Eigenschaften des Genres heraus, die Voß kritisiert. Damit greift er Voß’ eigenen Versuch auf, die Form des Sonetts in der »Klangsonate« am Ende seiner Abhandlung35 satirisch zu karikieren. Als Karikatur dieser Karikatur macht Brentanos Text deutlich, dass Voß eine eher harmlose und harmlose poetische Form verunglimpft – auch wenn Brentano selbst wohl nicht wirklich davon überzeugt war, dass das Sonett sich für poetische Innovationen besonders gut eigne.36 Bereits die Wahl des Schauplatzes artikuliert die kulturpolitische Opposition gegen fast alles, wofür der Name Voß einsteht. Der Ort des Geschehens ist eine Einsiedlerhütte in der Nähe des Schlachtfeldes, von dem das griechisch‐deutsche Sonett flieht. Indem er einen Einsiedler in den Mittelpunkt stellt, bezieht Brentano sein Werk auf die Zeitschrift, in der er die Satire veröffentlicht, die Zeitung für Einsiedler. Aus von Arnims Ankündigung der Zeitschrift und anderen satirischen Projekten von Brentano lässt sich ableiten, wofür die Figur des Einsiedlers stehen könnte. Die Ankündigung der Zeitschrift im Januar 1808 entwirft diese als »allgemeinst[e] Zeitung« und widmet sie den »viele[n] sonst unnütz beschäftigte[n] Leute[n], welche die Veränderungen der letzten Jahre aus ihrem Amte, Familien33 Ebd., S. 320. 34 Ebd. 35 Strack, »Brentano und das ›Klingding‹«, bietet einen ausführlichen Kommentar zum Text und liest Brentanos Satire als ebenso schlagenden wie schwer verständlichen Versuch, seinen Gegner in der Karikatur des Sonett-»Gebimmels« noch zu übertreffen. 36 Für einen allgemeinen Überblick über die produktive Aufnahme des Sonetts in der deutschen Romantik siehe Thomas Borgstedt, Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Tübingen 2009, S. 426-467.

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Kreise, Ueberflusse herausgerissen«.37 Diese Menschen, die von Arnim »neu[e] Einsiedler« nennt, sind sicherlich keine romantischen Partisanen, sondern Mitglieder der Bourgeoisie, die durch die Niederlage der deutschen Staaten in den vergangenen Jahren (deren Höhepunkt die Schlacht von Jena-Auerstedt war) ihrer philisterhaften Routinen enthoben wurden. Berücksichtigt man, dass vor und nach 1808 sowohl Brentano als auch von Arnim prägnante Satiren des Philisters verfasst haben, ist die implizite Identifikation der Zeitung für Einsiedler mit den »modernen Eremiten« wohl ironisch zu lesen, nach der Friedrich Schlegel’schen Definition also als Zugleich von Scherz und Ernst.38 Brentanos berühmte Rede über den Philister, die er angeblich 1799/1800 in einer ersten Fassung und dann wieder 1811 hielt, als sie dann auch veröffentlicht wurde, macht sehr deutlich, dass das Hauptmerkmal des Philisters, seine Selbstgefälligkeit, die nur durch seine Unfähigkeit, über seinen persönlichen Horizont hinauszugehen, übertroffen wird, nur durch die romantischen Phantasie überwunden werden kann – auch wenn sie zugleich Voraussetzung jedes Lebens ist.39 Damit ist es das Hauptziel der Philistersatire, das zu vollbringen, was Günter Oesterle einen »Lachexorzismus«40 nennt: Die Romantiker versuchen, die philisterhaften Aspekte ihrer eigenen Existenz zu exorzieren – obwohl sie sehr wohl wissen, dass dieser Versuch letztlich immer scheitern muss. Es ist offensichtlich, dass Voß in seiner hartnäckigen Haltung gegen poetische Innovation den Romantikern als ein exemplarischer Philister dienen konnte, und entsprechend wurde er später tatsächlich von Brentano als Lieblingsdichter der Philister angegriffen.41 Der Einsiedler in Brentanos Satire ist ebenfalls ein Philister, aber im Gegensatz zu Voß steht er kurz davor, seine philisterhafte Beschränkung zu überwinden. Er besteht, wie der Text es ausdrückt, aus Natur (»er selbst [ist] aus Natur«), aber sowohl seine Umgebung als auch seine Kleidung sind aus nichts anderem als veralteter Schrift (»Makulatur«, »Korrektur« und »Litteratur«) gefertigt – ein Hauptattribut des ausgetrockneten Philisters.42 Als er dem fliehenden Sonett begegnet, das mit ihm Griechisch spricht, hört er nur das, was er bereits kennt, 37 Achim von Arnim, »Ankündigung der allgemeinsten Zeitung. Zeitung für Einsiedler herausgegeben von einer Gesellschaft«, in: ders., Werke und Briefwechsel, Bd. 15, S. 1-3, hier S. 1. 38 Siehe Friedrich Schlegel, »Lyceums-Fragmente«, in: ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. I.2: Charakteristiken und Kritiken (1796-1801), hg. v. Hans Eichner, München u.a. 1967, S. 147-163, hier S. 160. 39 Zu Brentanos und von Arnims Philistersatiren siehe Till Dembeck, »Transzendentale Exklusionen. Philister, Juden, Zigeuner und Deutsche bei Achim von Arnim, Clemens Brentano und Johann Gottlieb Fichte«, in: Remigius Bunia/ders./Georg Stanitzek (Hg.), Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur, Berlin 2011, S. 253-283. 40 Günter Oesterle, »Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik«, in: Athenäum, Jahrbuch für Romantik 2 (1992), S. 55-89, hier S. 85. 41 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Scherzhafte Abhandlung«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 21.1, S. 113-184, hier S. 154. 42 Brentano, »Der Einsiedler und das Klingding«, S. 93.

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nämlich Deutsch. Insofern ist er in seinem Verständnis in der Tat sehr begrenzt und offensichtlich auch in hinreichendem Maße selbstzufrieden. Als Beobachter des Kampfes gegen die Sonette artikuliert der Einsiedler allerdings sein Mitgefühl für die Sonette – und zwar zunächst in einem echten Sonett und sodann in einem Gedicht mit dem Titel »Sonett«, das allerdings gar nicht die Form eines Sonetts hat. Das echte Sonett beschreibt den Kampf und die Reinkarnation der Sonette als »Stechdinger«, also Mücken, und wünscht dem Täter den Tod: »Last das Gypskrokodill [Voß] still am Idyllennile/Herodisch schlummer steif im Mückenmord erstarren«.43 Im zweiten Sonett artikuliert der Einsiedler seine Hoffnung für die Sonette – bestehe sie auch nur in der Erwartung eines Todes, der keine (kompromittierenden) Spuren hinterlässt – und beschließt, für sie ein Siegeslied zu singen. Dieses dritte Gedicht kontrastiert Zion als Braut Christi mit Babel und scheint nur lose mit der Konfrontation zwischen den Sonetten und Voß verbunden zu sein. Die ersten beiden Gedichte sind reich an Binnenreimen und Assonanzen, und sie haben fast ausschließlich weibliche Kadenzen – alles Merkmale des Sonetts, die Voß ablehnt. Nach diesem Auftakt nähert sich das flüchtende zweisprachige Sonett der Hütte des Einsiedlers und spricht ihn mit Versen an, die der Einsiedler homophonisch einzeln für sich übersetzt. Das griechische Sonett wurde nicht von Brentano geschrieben (der selbst zweisprachig war, wie das Sonett, aber kein Griechisch konnte, wie der Einsiedler). Es ist einer Sammlung griechischer Sonette entnommen, die von August Böckh unter dem Pseudonym Christian Schneider veröffentlicht wurde. Das Sonett »lacht hier über laut auf deutsch« und betritt rückwärts die Einsiedlerhütte, »während es sich selbst übersetzet«.44 Noch einmal antwortet der Einsiedler auf jede Zeile und produziert so ein weiteres Sonett. Beim Hören der Selbstübersetzung des griechischen Sonetts wird der Einsiedler zunehmend durch das Auftreten und Verhalten des Eindringlings erregt, merkt, dass es nicht männlich, sondern weiblich ist, und erkennt in ihm schließlich »seine Geliebte«45 , die das griechische Sonett von »mein[em] Christian Schneider«46 als Korsett benutzt hat, um unverletzt über das Schlachtfeld zu gelangen. Der Text endet märchenhaft mit der Ankündigung, dass der Einsiedler und seine Geliebte/das Sonett hätten nachmals geheiratet und viele Kinder gezeugt – allesamt »Vierlinge und Drillinge«,47 also Sonette. 43 44 45 46 47

Ebd., S. 94. Ebd., S. 96. Ebd., S. 98. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98.

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Philister und ihre Buchstaben Es ist offensichtlich, dass Brentano alles tut, um Voß’ ernsthaften Diskurs als philisterhaft zu verspotten und deutlich zu machen, dass der Kampf gegen die Sonette nicht nur von niederen Beweggründen getrieben ist, sondern sich überdies gegen einen Feind richtet, dessen Bedrohlichkeit nur in Voß’ Phantasie besteht. Brentanos Satire untergräbt jedoch nicht nur Voß’ Klassizismus, sondern stellt auch eine romantische Alternative dazu vor, die sich insbesondere in den homophonen Übersetzungen artikuliert.  

Die obenstehende Darstellung zeigt auf der linken Seite den ersten Teil des Gesprächs zwischen dem Einsiedler und dem Sonett (mit Transliterationen des griechischen Textes zur besseren Hervorhebung der Homophonien) und auf der

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rechten Seite den zweiten Teil, der eine semantische Übersetzung des griechischen Textes ins Deutsche beinhaltet.48 Offensichtlich sind die homophonen Übersetzungen des Einsiedlers recht tendenziös. Er ignoriert nicht nur die Fremdheit dessen, was er hört, sondern neigt auch dazu, solche Worte wahrzunehmen, die es ihm ermöglichen, das Sonett mit seinen eigenen früheren Gedanken zu verbinden. Indem er das griechische Adjektiv »κρά τιστον« (»mächtig«) als Teil des deutschen Wortes »Aristokratensohn« versteht, das natürlich von dem griechischen Wort selbst abgeleitet ist, kommt der Einsiedler zu dem Verdacht, das Sonett könne ein heidnischer Dieb sein. Die Übersetzung von »παιδιώ δους φιλτά τοθυ« durch »bei dich, o thus, viel da« führt ihn dazu, eine »Heidenbande« heraufzubeschwören – was sich auf Görres’ Beschreibung von Voß als Gesandter eines heidnischen Gottes beziehen lässt. Als der Einsiedler anschließend zu der Einsicht kommt, der Eindringling nenne sich »Herodes« (das hört er aus dem Wort »Έρωτος« heraus), macht ihn dies umso misstrauischer, als er nun den vermeintlichen Nahrungswunsch des Sonetts (aus »χαρμά των« wird »gar matt«) als den Wunsch des biblischen Kindermörders nach Menschenfleisch interpretieren kann: »Hier gibt’s kein Kind zu schmaußen«. Die homophonen Fehlinterpretationen des Einsiedlers offenbart also nicht nur seinen begrenzten kulturellen Horizont, sondern auch seine Befangenheit gegenüber denjenigen, die an dem Kampf teilnehmen, den er von seiner Hütte aus beobachtet. Ab dem zweiten Quartett des griechischen Sonetts wird der Einsiedler nun aber in den verführerischen Klang der romantischen Poesie hineingezogen, wie er laut Voß für das moderne Sonett so charakteristisch ist. Zuerst stimmt er dem angeblichen Geständnis des griechischen Sonetts zu, dass es nichts als unharmonischen Klang erzeugt: »Mißton viele matt Ton zierknarrt er im Sande« – das ist ein offensichtlicher Hinweis auf Voß’ Poetik des harmonischen Klangs. Dann aber nimmt der Einsiedler im Griechischen des Sonetts zunehmend Klangspiele wahr, wenn er Wortfolgen wie »Kleeblatt Klei« assoziiert oder »gar viel Band ohn, kahl ohn, er ist ohne«. Dieses Übergewicht von Assonanzen und Binnenreim macht die Rede des Einsiedlers gleichwohl nicht sinnlos, da seine Antworten nach wie vor eine gewisse Konsistenz aufweisen. Er verbindet Alkohol (»Prost«) und harmloses Kinderspiel mit dem, was er hört: »kindlich Eiei«, »Wei[hnacht]skuchen«, »Osterhaas«, »Maiey«. Die Erwähnung einer »Köhnigsbohne« (eine Tradition des Dreikönigstags) bezieht sich zurück auf das zweite (vermeintliche) Sonett des Einsiedlers selbst, und es findet sich auch eine Anspielung auf Voß’ eigene Dichtung (»Heuder48 Ebd., S. 96f. Die Transkription des griechischen Texts folgt dem Kommentar von Renate Moering in Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 21.1, S. 426; die Kennzeichnung der homophonen Korrespondenzen, die Moering auf der Grundlage der Arbeit von Strack vorlegt, ist leicht modifiziert.

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lei« kommt bei Voß als Interjektion vor49 ). Nach einer eher mysteriösen Anspielung auf Moses und seinen Stab – »Des Moisis Garten selbst trägt keine Wünschelruth dir« (vgl. Exodus, 17.1-6) –, erliegt der Einsiedler in der letzten Zeile des zweiten Tripletts und in der Coda des Sonetts schließlich einem scheinbar wahnsinnigen Klangspiel, indem er die homophone Übersetzung von »ματαίαις« durch »Matheis« (Matthäustag, Winterbeginn) zu einer Reihe von Binneneimen und Assonanzen erweitert: »Glatteis [….] Eisbrei sei Reisbrei! ei, Breieis reiß«. Am Ende erkennt der Einsiedler offensichtlich, dass das Sonett in Gefahr ist, setzt die griechischen Silben »Ειλη«, die er mit »Eile« übersetzt, mit den Worten »schnell von hinnen« fort und warnt das Sonett vor dem »Hempken greeper« (den ›Heimchentöter‹) – womit er erneut den Kriegsherren Voß bezeichnet, der auf dem Schlachtfeld noch immer gegen die Stechdinger kämpft. Alles in allem leistet die homophone (Fehl-)Interpretation des griechischen Sonetts durch den Einsiedler mindestens zweierlei: Zunächst integriert sie das griechische Gedicht in die Satire, obwohl es auf der Ebene seines Sinnes nichts mit dem Rest des Textes zu tun hat. (Es ist, wie die unmittelbar folgende Übersetzung zeigt, ein eher triviales Exemplar seiner Art.) Darüber hinaus aber verwandelt sie das Missverstehen des philisterhaften Einsiedlers in proto‐romantische poetische Produktivität. Im naiven malendendu des Einsiedlers vollzieht sie so schon seine Annäherung an die romantische Poesie, welche die Ehe des Einsiedlers mit seiner Geliebten, die als zweisprachiges Sonett eine recht eigenwillige Personifizierung der Poesie ist, schließlich legalisiert. Als idealer Adressat der Zeitung für Einsiedler und damit der Satire Brentanos wird der Einsiedler durch die Kraft des poetischen Klangs in die Lage versetzt, die philisterhafte Selbstbegrenzung zu überwinden, die Voß, der archetypische Philister, verkörpert. Dieses Kippen von Beschränktheit in poetische Produktivität, wie es für die literarische Verwendung der homophonen Übersetzung insgesamt charakteristisch ist, gewinnt zusätzliche Bedeutsamkeit, wenn man bedenkt, wie sich die Romantik und insbesondere die romantische Philisterkritik allgemein zu Buchstäblichkeit stellen. Denn auch hier ist eine gewisse Ambivalenz zu konstatieren. Wie bereits gesehen ist für den Philister im allgemeinen eine Art Beharren auf dem Buchstäblichen charakteristisch. Die romantische Wendung gegen diese Buchstäblichkeit beruht aber keinesfalls auf der schlichten Paulinischen Entgegensetzung von Geist und Buchstabe. (Selbst der Antisemitismus der Brentano’schen Philisterkritik, die Philister und Juden, auch wenn sie einander entgegengesetzt werden, mit Blick auf ihre Haltung zum Buchstaben in einen Topf wirft, ist so nicht zu verstehen.) Denn das Problem der Philister besteht aus romantischer Sicht nicht etwas darin, dass sie am Buchstaben kleben und nicht dazu fähig sind zum Geist vorzudringen. Es 49 Siehe ebenfalls den Kommentar von Renate Moering in Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 21.1, S. 415f.

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besteht vielmehr darin, dass sie die Identität der Buchstaben zu selbstverständlich voraussetzen. Anlass dieser Kritik ist die Verwendung der Gleichung »a=a« in Fichtes Wissenschaftslehre,50 in der die scheinbare Evidenz der Gleichung dazu dient, die Identität des erkennenden Subjekts zu begründen. Eben diese Evidenz wird nicht erst bei Brentano, sondern schon bei Novalis, Friedrich Schlegel und Jean Paul zum Gegenstand der Kritik.51 Denn jedes Urteil der Art »a=a« geht auf die Tätigkeit der Einbildungskraft zurück, und ohne die »figürliche Synthesis«, die Kant zufolge dieses Vermögen auf der Grundlage der Sinnesdaten leistet, unterscheiden sich alle Exemplare des Buchstaben A.52 Wenn sich nun der Philister gerade dadurch auszeichnet, dass er sich durch das Fichte’sche »a=a« binden lässt, so ist umgekehrt gerade die Loslösung vom »a=a« mit poetischer und kultureller Produktivität verbunden. Darin liegt letztlich die Einsicht, dass die Produktivität von Sprache und Kultur nichts anderes ist als die Entwicklung neuer Formen von Bedeutsamkeit: Nur dann, wenn man nicht an den etablierten Formen der Differenzierung des Bedeutsamen vom Nicht-Bedeutsamen festhält – man könnte auch sagen: an den etablierten Formen der figürlichen Synthesis –, ist es möglich, neu zu differenzieren und neue Formen von Bedeutsamkeit in die Welt zu setzen. Mit Blick auf die Buchstaben bedeutet dies, dass sie gerade nicht sogleich auf den Geist hin überschritten werden dürfen. Vielmehr gilt es, ihnen selbst, so wie sie gegeben sind, Beachtung zu schenken, sie dabei aber gerade nicht schon für fest konstituiert zu halten. Allgemeiner: Nur wenn schon das buchstäbliche Verstehen suspendiert wird, wenn also auf allen Ebenen die scheinbar bereits konstituierten Formen der Bedeutsamkeitserzeugung in Zweifel gezogen werden, ist überhaupt ein Fortschreiten zu neuer Bedeutsamkeit möglich. Man muss als genauer auf die Buchstaben schauen, wenn man neuen Geist erschließen will. In Brentanos Verssatire bewirkt so gerade die homophone Übersetzung, weil sie auf Buchstäblichkeit beruht, eine Art Überschießen ins poetisch Kreative.

Homophone Übersetzung als buchstäbliche Übersetzung Der spezifisch romantische Einsatz der homophonen Übersetzung in Brentanos Verssatire macht besser verständlich, wieso in jener Beschränktheit, die es zwei50 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Scherzhafte Abhandlung«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 21.1, S. 113-184, hier S. 51 Siehe Winfried Menninghaus, »Die frühromantische Theorie von Zeichen und Metapher«, in: German Quarterly 62 (1989), S. 48-58, sowie Till Dembeck, »Fichte dem Buchstaben nach auslegen: Selbst-Lektüre bei Jean Paul«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 44 (2009), S. 113-140. 52 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1995 [1781], S. 148 (B 151).

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felsfrei auch verkörpert, auch ein Potential für poetische Produktivität und politische Emanzipation gesehen werden kann. Gerade ihre Aufmerksamkeit für die Arten und Weisen, wie uns sprachliche Äußerungen gegeben sind, also ihr Kleben am Buchstaben, kann dazu genutzt werden, neue Konfigurationen von Bedeutsamkeit zu provozieren. Das ist einerseits per se kulturell produktiv, andererseits aber, weil damit auch etablierte, bereits etabliert Verfahren der Bedeutungskonstitution unterlaufen werden, auch politisch emanzipativ oder zumindest subversiv. Analytisch gesehen fügt sich die homophone Übersetzung in ein Spektrum poetischer Verfahren ein, die auf ähnliche Weise aus der (vorübergehenden) Beschränkung auf Buchstäblichkeit Gewinn ziehen. Schon die Paronomasie verfährt so, denn hier wird eine klangliche Ähnlichkeit zur Erschließung neuer Bedeutsamkeit eingesetzt. Dasselbe gilt für das Anagramm oder für das (im obigen Beispiel bei Swift zu findende) Verfahren der Erschließung neuer Bedeutsamkeit durch die Verschiebung von Wortgrenzen (oder syntaktischen Grenzen).53 In der Tat wird man zwischen diesen Phänomenen und der homophonen Übersetzung eine gewisse Übergängigkeit konstatieren müssen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich dann auch, dass eine homophone Übersetzung eben nicht nur ›dem Klang nach‹ übersetzt. Sie legt vielmehr nur einen besonderen Wert auf einen klanglichen Bezug zwischen Quelltext und Übersetzung – und kann darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Korrespondenzverhältnisse zu erzeugen versuchen. Die Beispiele der CatullÜbersetzung der Zukofskys und der Homer-Übersetzung von Melnick zeigen, dass sogar versucht werden kann, auch die semantische Dimension des Quelltextes einzubeziehen. Jenseits der Laute ist übrigens immer schon auch die Ebene der Buchstaben selbst in besonderer Weise involviert, denn eine homophone Übersetzung in eine andere Sprache muss, wenn sie schriftlich vorgeht, nicht nur eine Abbildung von einem phonemischen Raster in ein anders vornehmen, sondern auch die Abbildung von einem System von Laut-Buchstabe-Zuordnungen in ein anderes. Dabei erweisen sie oftmals die Buchstaben als recht störrisch – mit Hilfe eines größeren Korpus ließe sich leicht zeigen, dass eben nicht nur die Paronomasie, sondern auch das Anagramm ein Grundprinzip der homophonen Übersetzung ist.54 Alles in allem wird man, wenn man der kulturpolitischen Relevanz der homophonen Übersetzung und ihres spezifischen Umgangs mit Buchstäblichkeit näher kommen will, beachten müssen, dass das scheinbar so einfache Verfahren im Detail auf einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Übertragungstechniken beruht.55 Das 53 Siehe Garrett Stewart, Reading Voices: Literature and the Phonotext, Berkeley/Los Angeles1990. 54 Siehe am Beispiel von homophonen Übersetzungen Oskar Pastiors Till Dembeck, »Oberflächenübersetzung: The Poetics and Cultural Politics of Homophonic Translation«, in: Critical Multilingualism Studies 3.1 (2015), S. 7-25. 55 Siehe Till Dembeck, »Homophone Übersetzung«, in: ders./Rolf Parr (Hg.), Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch, Tübingen 2017, S. 249-256.

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ist schon insofern unmittelbar plausibel, als es ja ganz offenkundig durch den potentiellen Verzicht auf die Übertragung des Sinns bei der homophonen Übersetzung recht große Freiheitsgrade gibt. Für die Detailanalyse konkreter homophoner Übersetzungen muss man diese Freiheitsgrade genau abwägen, denn in ihrer Nutzung gibt sich nicht zuletzt die Tendenziosität der Übersetzung zu erkennen: die Art und Weise, wie der Originaltext im Übersetzungsvorgang womöglich strategisch auf eine bestimmte Bedeutung hin ›abgehört‹ wird. Bei Brentano offenbart die homophone Übersetzung des griechischen Sonetts zunächst die Borniertheit und die Vorurteile des Einsiedlers – dann aber seine Bereitschaft, sich in ein romantisches Klangspiel hineinziehen zu lassen. Auch der Einsiedler zeigt dabei zunächst die Tendenz, im fremden Sprechen ›Verbotenes‹ hören zu wollen. Für die Einschätzung der kulturpolitischen Ausrichtung der jeweiligen Texte ist es wichtig, dem Wechsel der Tendenzen, denen die Übersetzung folgt, jeweils genau nachzugehen.

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Brentanos Klingding

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»Nach dem Gesetz der Treue in der Freiheit« Über Wörtlichkeit und Buchstäblichkeit in Georges und Benjamins Übersetzungen von Baudelaires »A une passante« Eva-Maria Konrad

Seit jeher bewegen sich die Möglichkeiten des Übersetzers zwischen der »getreuen Hässlichen« und der »belle infidèle« – zwischen einer möglichst texttreuen, wörtlichen, aber unpoetischen Übersetzung einerseits und einer freien und poetischeren Übersetzung andererseits. Die zwei berühmtesten Übersetzer von Baudelaires »Fleurs du Mal« – Stefan George und Walter Benjamin – scheinen sich auf den ersten Blick sehr eindeutig im Hinblick auf diese Alternative zu verorten: George nennt seine Übersetzungen bereits im Titel »Umdichtungen« und sagt auch im Vorwort ganz explizit: »Mit diesem verehrungsbeweis möge weniger eine getreue nachbildung als ein deutsches denkmal geschaffen sein.«1 Auf der Skala zwischen Wörtlichkeit und Freiheit positioniert sich George damit ganz explizit auf Seiten der poetischen Freiheit. Benjamin dagegen scheint sich in seinem Aufsatz zur »Aufgabe des Übersetzers«, der seiner Übersetzung der »Tableaux parisiens« vorangestellt ist, klar auf das andere Ende des Spektrums festzulegen: Die »wahre Übersetzung […] vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax [zu leisten] und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.«2 Wie hinlänglich bekannt, sind Georges Übersetzungen dann aber de facto ebenso wenig »belles infidèles«, wie Benjamin das Prinzip der Wörtlichkeit konsequent umsetzt. In Bezug auf George hat etwa Willy R. Berger festgehalten, dass dieser sich – ganz entgegen dem Vorwort und dem Untertitel – sogar ziemlich eng an der französischen Vorlage orientiert habe und sich seine Übersetzung 1 Stefan George: »Baudelaire. Blumen des Bösen. Umdichtungen« (= Sämtliche Werke in 18 Bänden, Band XIII/XIV), Stuttgart 1983, S. 5. 2 Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: »Charles Baudelaire. Tableaux parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers«, Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, hg. v. Tillmann Rexroth, Frankfurt a.M. 1972, S. 9-21, hier: S. 18.

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insbesondere »durch ihre Treue zum Original [auszeichne]. Denn läßt man die klassizistische Überformung, die gewaltsamen ästhetischen und ideologischen Korrekturen, die George vorgenommen hat, läßt man auch die Übersetzungsfehler, die auf ein mangelndes Textverständnis zurückgehen, einmal beiseite, so sind seine Übertragungen von einer auffallenden Wörtlichkeit.«3 Im Gegenzug gilt aber auch für Benjamin, dass die von ihm propagierte Wörtlichkeit nur in einem sehr speziellen, nämlich weniger auf die Semantik als auf klangliche, wohl auch rhythmische Elemente ausgerichteten Sinne als leitendes Prinzip seiner Übersetzung erkannt werden kann. »Treue in der Übersetzung des einzelnen Wortes«, so heißt es ebenfalls im »Übersetzer«-Aufsatz, »kann fast nie den Sinn voll wiedergeben, den es im Original hat. Denn dieser erschöpft sich nach seiner dichterischen Bedeutung fürs Original nicht in dem Gemeinten, sondern gewinnt diese gerade dadurch, wie das Gemeinte an die Art des Meinens in dem bestimmten Worte gebunden ist. Man pflegt dies in der Formel auszudrücken, daß die Worte einen Gefühlston mit sich führen.«4 Anstatt an unterschiedlichen Enden der Skala zu verweilen, bewegen sich George und Benjamin in der Übersetzungspraxis also letztlich doch eher aufeinander zu (was aber sicher nicht heißen soll, dass sie sich am Ende in der Mitte treffen würden). Im Folgenden soll deshalb an einem konkreten Textbeispiel, nämlich dem berühmten Gedicht »A une passante«, untersucht werden, wie wörtlich oder frei die Übertragungen der beiden Übersetzer tatsächlich sind. Die dabei unumgänglich gefällten Werturteile beziehen sich dementsprechend ausschließlich auf die Frage, inwiefern das Original in seinem v.a. semantischen und klanglichen Kern getroffen – oder eben verfehlt – wurde, und nicht auf den ästhetischen Eigenwert der neu entstandenen Gedichte. Darüber hinaus wird es mir, bei aller folgenden Kritik, stets darum gehen, aufzuzeigen, wo die Übersetzungen trotz aller Verschiedenheit zum Original gelungen sind.5 Insbesondere in Bezug auf Benjamins Übersetzung, die die Forschung wiederholt als missraten abgetan hat, möchte ich zu einer Aufwertung beitragen, da ich sie insgesamt (wenngleich nicht in jedem ihrer 3 Willy R. Berger: »Walter Benjamin als Übersetzer Baudelaires«, in: Beda Allemann & Erwin Koppen (Hg.): »Teilnahme und Spiegelung. Festschrift für Horst Rüdiger«, Berlin/New York 1975, S. 634-663, hier: S. 638. Auch Thomas Keck verweist auf eine Reihe von Arbeiten, die die »erstaunliche Wörtlichkeit und rhythmische Sensibilität der Übersetzung« (Thomas Keck: »Der deutsche ›Baudelaire‹«, Band I: »Studien zur übersetzerischen Rezeption der Fleurs du Mal«, Heidelberg 1991, S. 98, Fn. 111) Georges betonen. 4 Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, S. 17. 5 Ich distanziere mich damit grundsätzlich von Bergers Kritik, der nach seinen Überlegungen zu Benjamins Übersetzung zu dem Urteil kommt, dass »A une Passante, das schon George nur ungenügend übersetzt hat, […] weiterhin auf seine angemessene Übertragung ins Deutsche [wird] warten müssen« (Berger, »Walter Benjamin als Übersetzer Baudelaires«, S. 660). Viel zu unklar ist dabei allein schon, was überhaupt unter einer »angemessenen Übertragung« zu verstehen wäre.

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Teile) sogar für gelungener halte als diejenige Georges. Natürlich gilt es dabei zu bedenken, dass Benjamins übersetzerische Entscheidungen nicht als creationes ex nihilo begriffen werden können, sondern stets vor der Folie des Georgeschen »Vorbilds« gelesen werden müssen.6 Vor diesem Hintergrund wird sich zeigen, dass Benjamin sich gerade durch seinen wiederholten Versuch, dem Original vor allem lautlich-klanglich bzw. buchstäblich zu entsprechen, immer wieder ganz bewusst von Georges Übersetzung abgrenzt. A une passante Einer Vorübergehenden Einer Dame7 Ein erstes Beispiel dafür stellt bereits der Titel des Gedichts dar. Zunächst zeigt sich hier schon im allerersten Buchstaben, wo die Grenzen einer wörtlichen bzw. einer im wahrsten Sinne des Wortes buchstäblichen Übersetzung liegen, sieht sich der deutsche Übersetzer doch gezwungen, eine Entscheidung zwischen einer präpositionalen und einer dativischen Wiedergabe des »à« zu treffen – zwei Dinge, die im Französischen aufgrund des präpositional gebildeten Dativs zusammenfallen. George und Benjamin wählen beide die dativische Wiedergabe (oder genauer: Benjamin folgt George in der dativischen Wiedergabe) – eine Entscheidung, die längst nicht alle Übersetzer so getroffen haben: In einer deutlichen Mehrzahl der 23 Übersetzungen des Gedichtes, die Thomas Keck in seinem Materialband gesichtet hat, ist der Titel präpositional übersetzt.8 Friedhelm Kemp etwa entscheidet 6 Vgl. Beryl Schlossmann: »Pariser Treiben«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): »Übersetzen: Walter Benjamin«, Frankfurt a.M. 2001, S. 280-310, hier: S. 288: »Wenn Georges ›Umdichtungen‹ auch kaum als Modell für den Übersetzer Benjamin dienten, läßt sich dennoch der Einfluß Georges auf Benjamin als Übersetzer wie auch als Kritiker keineswegs übersehen.« Auch Weidmann weist explizit darauf hin, dass »Benjamins Übersetzung gegen sie [die Übersetzung Georges] antreten und mit ihr konkurrieren mußte« (Heiner Weidmann: »›Wie Abgrunds Licht den Stürzenden beglücket‹. Zu Benjamins Baudelaire-Übersetzung«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): »Übersetzen: Walter Benjamin«, Frankfurt a.M. 2001, S. 311-324, hier: S. 314). Vgl. darüber hinaus Hermann Krapoth: »Perspektivverschiebung in Walter Benjamins Baudelaire-Übersetzungen«, in: Willi Huntemann & Lutz Rühlung (Hg.): »Fremdheit als Problem und Programm. Die literarische Übersetzung zwischen Tradition und Moderne«, Berlin 1997, S. 269-296, v.a. S. 293. 7 Die im Text zitierten Gedichtzeilen werden stets in der chronologischen Reihenfolge präsentiert (also Baudelaire – George – Benjamin) und folgen dabei diesen Ausgaben: Charles Baudelaire: »Les Fleurs du Mal«, texte établi et présenté par Yves Gérard le Dantec, Paris 1958, S. 103; Stefan George: »Baudelaire. Die Blumen des Bösen«, S. 119; Walter Benjamin: »Charles Baudelaire. Tableaux parisiens«, S. 4. Die vollständigen Gedichte sind am Ende des Beitrags abgedruckt. 8 Vgl. Thomas Keck: »Der deutsche ›Baudelaire‹«, Band II: »Materialien«, Heidelberg 1991, S. 106. Die erwähnten Übersetzungen umfassen einen Zeitraum von gut 90 Jahren, nämlich von 1891 (Stefan George) bis 1984 (Kay Borowsky).

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sich, genauso wie Wilhelm Hausenstein und Carlo Schmid, für »An eine, die vorüberging«. Die präpositionale Übersetzung wirkt insgesamt distanzierter, weniger vertraut, und betont eher den Widmungscharakter des Titels, während die dativische Variante Georges und Benjamins durch die fehlende Präposition buchstäblich näher an die Adressatin heranrückt. Liegen George und Benjamin hier also auf einer Linie, könnten sie bei der Übersetzung von »passante« kaum weiter auseinanderliegen: Der wörtlichen Übersetzung Georges, die auch insofern passend erscheint, als es sich nicht nur um eine vorübergehende Frau, sondern auch um einen schnell vorübergehenden Augenblick handelt, steht Benjamins »Dame« gegenüber – und damit eine der Stellen des Gedichts, bei der eine Erklärung der übersetzerischen Entscheidung mit am schwersten fällt. Die semantische Verschiebung ist aber so frappierend, die Übersetzung so wenig wörtlich, dass sie eine Suche nach Erklärungen herausfordert. Auszuschließen sind dabei zunächst metrische Zwänge, die vielleicht an anderen Stellen des Gedichts geltend gemacht werden könnten, beim Titel aber natürlich nicht greifen. Unwahrscheinlich ist des Weiteren, dass Benjamin die Wichtigkeit des Vorgangs des Vorübergehens nicht wahrgenommen hat, betont er doch in seiner Analyse des Gedichtes in »Charles Baudelaires. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus« wiederholt die Bewegung der Menschenmenge, die dem Flaneur die Frau erst zuträgt, dann aber notwendig auch wieder entzieht.9 Angelika Corbineau-Hoffmann versucht Benjamins Entscheidung damit zu begründen, dass er mit dem Wort »Dame« »das Ausgezeichnete der Erscheinung zum Ausdruck bringen«10 wolle und damit »den Kontext der tradierten Liebeslyrik nach Art des Petrarkismus [bewahre], der in der Tat entfernt anklingt und in welchem die Verehrte als ›donna‹ oder ›dame‹ tituliert wurde«11 . Diese Interpretation liefert zwar eine Erklärung für Benjamins Übersetzung, sie geht aber vollkommen an dem Gedicht vorbei – und damit letztlich doch wohl auch an Benjamin. Von »der tradierten Liebeslyrik« ist »A une passante« – wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird – weit entfernt. Es geht nicht um einen Verehrungsbeweis, den ein in Liebe entflammtes Subjekt seiner holden Angebeteten erbringt, sondern im Gegenteil

9 Vgl. Walter Benjamin: »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, in: »Walter Benjamin. Gesammelte Schriften«, Bd. I.2, hg. v. Rolf Tiedemann & Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S. 509-690, hier insbesondere S. 547 und 623. 10 Angelika Corbineau-Hoffmann: »Einführung in die Komparatistik«, Berlin 20133 , S. 175f. 11 Corbineau-Hoffmann: »Einführung in die Komparatistik«, S. 176. Die beiden Zitate sind bei Corbineau-Hoffmann eigentlich als Fragen formuliert. Sie schließt daran jedoch an: »Es verbietet sich, bei Benjamin an Zufälle zu glauben, und deshalb mag die Deutung, obwohl sie historisch Entferntes aufruft, nicht ohne Evidenz sein« (ebd.).

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um ein Subjekt, das blitzartig von der erotischen Ausstrahlung einer Frau in den Bann gezogen wird.12 Doch da schließlich auch der Versuch scheitern muss, Benjamins Entscheidung über den Rhythmus zu erklären – die Betonung von »Dáme« steht der »passánte« im Original diametral entgegen –, scheint die einzig verbliebene Möglichkeit, Benjamins bereits zitiertes Interesse am Ton, am Klang des Originals in den Vordergrund zu rücken. Tut man dies, so fällt auf, dass Benjamins Übersetzung mit den Vokalen »a« und »e« auf einmal wesentlich näher an »passante« heranrückt als Georges rein semantische Übersetzung »Vorübergehende«. Georges wörtlicher Übersetzung hätte Benjamin in diesem Sinne also eine »buchstäbliche« gegenübergestellt. Sicher kann auch diese Erklärung nicht vollständig befriedigen13 – und sie trifft auch keine Aussage darüber, ob die Entscheidung Benjamins, den Klang bzw. den Buchstaben über das Wort zu stellen, eine glückliche gewesen ist. Sie scheint aber doch zumindest einen gangbaren Weg aufzuzeigen, wenn man Benjamins Übersetzung an dieser Stelle nicht einfach als missraten abtun will.

I 1 La rue assourdissante autour de moi hurlait. 1 Es tost betäubend in der strassen raum. 1 Geheul der Straße dröhnte rings im Raum. Was aber hat es nun mit dieser vorübergehenden Frau auf sich? Der erste Vers des Gedichtes umreißt im Zeilenstil das Szenario: Wie so häufig in den »Tableaux parisiens« ist die Hintergrundfolie des Geschehens die Pariser Straße, die an dieser Stelle vor allem als akustisches Phänomen, als ohrenbetäubender Lärm, beschrieben wird. Baudelaire macht diese Geräuschkulisse nicht nur semantisch wahrnehmbar, sondern auch lautlich durch die wiederholten rollenden r-Laute.14 Während in Georges Übersetzung die s- und t-Laute dominieren, die der vom Original erweckten Assoziation eines konstant dröhnenden Lärmpegels die Empfindung 12 Ebenso wenig nachvollziehbar ist deshalb auch Bergers Zusammenfassung des Gedichts: »Das Gedicht ist ein Liebesgedicht; es zeigt den Dichter in der Rolle des hoffnungslosen Liebhabers, die beiden Terzette sind in der Form einer Anrede an eine geliebte, aber unerreichbare Frau gehalten« (Berger, »Walter Benjamin als Übersetzer Baudelaires«, S. 658, Fn. 83). Schon Auerbach hat festgestellt, dass in Baudelaires Gedichtsammlung »die überlieferten Motive des hohen Stiles der Liebesdichtung fast vollkommen« (Erich Auerbach: »Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene«, in: ders.: »Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung«, Bern 1951, S. 107-127, hier: S. 116) fehlen. 13 So ließe sich etwa argumentieren, dass »An eine Dame« in dieser Hinsicht noch deutlich näher am Original gewesen wäre, da der identische Anfangslaut erhalten geblieben wäre. 14 Vgl. Schlossmann, »Pariser Treiben«, S. 297.

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einzelner, eruptiv auftretender akustischer Ereignisse entgegensetzen, ahmt Benjamin den vom Original erzeugten Eindruck erneut ganz buchstäblich nach: »Geheul der Straße dröhnte rings im Raum.« Wie Benjamin festgestellt hat, kommt zu der explizit benannten akustischen Komponente bei Baudelaire zudem stets eine implizierte visuelle (und nicht zuletzt wohl auch eine haptische) hinzu: das Bild der Menschenmenge, die sich durch diese lärmende Straße wälzt und von der der Flaneur »mit Stößen bedacht«15 wird. »Die Masse ist Baudelaire derart innerlich«, schreibt Benjamin, »daß man ihre Schilderung bei ihm vergebens sucht […]; sein Paris [ist] immer ein übervölkertes.«16 Auch in »A une passante« ist von dieser die Straßen bevölkernden Menschenmasse an keiner Stelle explizit die Rede. Wie Beryl Schlossmann bemerkt, wird sie aber auf anderem Wege wahrnehmbar: »Im ersten Vers gibt ein rapider Satz die Atmosphäre dieser nie genannten Menge […]. Der Vers läuft blitzhaft ab, läßt keine Zeit für den Atemzug einer Zäsur.«17 Pausenlos, ohne Unterlass flutet der Menschenstrom durch die Straßen von Paris. Schon George hat die Zäsurlosigkeit des ersten Verses, die dies verdeutlicht, nachgeahmt, und Benjamin ist ihm darin gefolgt. Wörtlich übersetzt hat den Vers dabei aber weder George noch Benjamin, was u.a. der Tatsache geschuldet sein mag, dass beide den französischen Alexandriner in einen jambischen Fünfheber übertragen. Das um zwei Silben kürzere Versmaß führt notwendig zu Kürzungen oder zumindest Komprimierungen gegenüber dem Original.18 Im ersten Vers fällt diesem Umstand in beiden Übersetzungen das französische »autour de moi« zum Opfer: Bei George ist es spurlos verschwunden, bei Benjamin klingt es immerhin noch in dem Wort »rings« an. Dieser Verzicht auf das Ich, das damit in beiden Fällen vollständig aus dem ersten Quartett eliminiert wird, ist als massiver und keineswegs glücklicher Eingriff zu bewerten, geht dadurch doch vollkommen verloren, dass das flanierende Ich als ein Teil der die Straße bevölkernden Menschenmenge zu begreifen ist. Dass bei Benjamin wie bei George darüber hinaus das Reimwort »hurlait« vom deutschen »Raum/raum« abgelöst wird, ist nicht nur – wie Jürgen von Stackelberg betont – eine semantische Verengung der offenen Straße,19 sondern lässt in den Übersetzungen vor allem den im Original an so zentraler Stelle gesetzten Vorverweis auf das weitere Geschehen vermissen: Glaubt man Erich Auerbach, der in 15 Benjamin, »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, S. 652. 16 Ebd., S. 621. Vgl. des Weiteren: »In den ›Tableaux parisiens‹ ist fast überall die heimliche Gegenwart einer Masse nachweisbar. […] Die Masse war der bewegte Schleier; durch ihn hindurch sah Baudelaire Paris« (ebd., S. 621f.). 17 Schlossmann, »Pariser Treiben«, S. 296. 18 Vgl. zur unterschiedlichen »semantischen Dichte« des Deutschen und Französischen Berger, »Walter Benjamin als Übersetzer Baudelaires«, S. 645. 19 Vgl. Jürgen von Stackelberg: »Weltliteratur in deutscher Übersetzung. Vergleichende Analysen«, München 1978, S. 208f.

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anderem Kontext betont, dass »hurler schon vorher, seit der Romantik, im Sinne des Orgiastischen verwandt wurde«20 , ist im französischen Original – anders als in den Übersetzungen – durch die prononcierte Stellung dieses Wortes am Versende schon vorbereitet, dass aus der Menge unmittelbar im Anschluss eine Frau auftauchen wird, deren Erscheinung das lyrische Ich elektrisiert. 2 Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, 3 Une femme passa, d’une main fastueuse 4 Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;   2 Gross schmal in tiefer trauer majestätisch 3 Erschien ein weib · ihr finger gravitätisch 4 Erhob und wiegte kleidbesatz und saum ·   2 Hoch schlank tiefschwarz, in ungemeinem Leide 3 Schritt eine Frau vorbei, die Hand am Kleide 4 Hob majestätisch den gerafften Saum; Vers 2 beginnt dann im Original wie in den Übersetzungen mit der Beschreibung der außergewöhnlichen Erscheinung der Frau, die aus der Menschenmenge hervorsticht. George hat dabei die deutlich wörtlichere Übersetzung gewählt, übersetzt er doch nicht nur alle Wortarten identisch, sondern bleibt mit »majestätisch« sogar beim identischen Reimwort. Was aufgrund des kürzeren Metrums fehlt, ist lediglich das Wort »douleur«, die Alliteration, die »douleur« mit »deuil« bildet, hallt aber noch (wenngleich lautlich härter) in Georges »tiefer trauer« nach. Benjamin dagegen verdichtet »en grand deuil« zu »tiefschwarz« und übersetzt auch sonst wesentlich freier und – zumindest auf den ersten Blick – dem Original weniger angemessen: »Hoch« befindet sich klar auf einer höheren Stilebene als das französische »longue«, und das »ungemeine Leid« setzt gegenüber dem »majestueuse« des Originals einen anderen Akzent (»majestätisch« kommt bei Benjamin dann erst in Vers 4).21 Und dennoch trifft Benjamins Übersetzung den Kern des Baudelaireschen Originals insgesamt besser als die wörtliche Übersetzung von George, und zwar aus mindestens zwei Gründen: Wie Angelika Corbineau-Hoffmann völlig zu Recht feststellt, eliminiert erstens der Wegfall von »douleur« in der Georgeschen Übersetzung bzw. seine Zusammenziehung von »deuil« und »douleur« zu »Trauer« »den 20 Auerbach, »Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene«, S. 109. 21 Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass sich besonders in den ersten fünf Versen des Gedichts die von Friedrich festgestellte Neigung Baudelaires, »affektive Beiwörter zu setzen statt sachlich genauer« (Hugo Friedrich: »Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts«, Hamburg 1956, S. 53), bemerkbar macht – und dass dies grundsätzlich jede Übersetzung erschwert.

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Unterschied zwischen Trauerkleidung und Gefühl der Trauer; Baudelaire gestaltet die Frau eben nicht nur als Bild des inneren Schmerzes, sondern macht sie auch äußerlich als Trauernde erkennbar«22 . Dass die Frau nicht nur in Trauer ist, sondern auch Trauer trägt, kommt bei Benjamin mit der Kombination aus »tiefschwarz« und »in ungemeinem Leide« (bei aller Problematik des Adjektivs) dagegen sehr gut zum Ausdruck. Zweitens horcht Benjamin aber auch dem Rhythmus des französischen Originals genauer nach als George: Schon im französischen Original verlangsamt die Beschreibung der Frau in Vers 2 das »schwach betonte[…] Gleiten in sanften Kadenzen«23 , das den Alexandriner noch in Vers 1 auszeichnet. Die Erscheinung der Frau bringt dieses zunächst ereignislose Sich-Fortwälzen der Massen dagegen ins Stocken: »Longue, mince, en grand deuil« – betont wird hier jede einzelne Silbe, zusätzlich verstärkt durch die asyndetische Reihung.24 George empfindet dies bei »gross schmal in tiefer trauer« nur mit den ersten beiden Worten nach, spätestens auf das »in« fällt dann aber kein Akzent mehr. Bei Benjamin dagegen lässt sich nach »Hoch schlank« auch »tiefschwarz« nur mit annähernd gleichstarker Betonung der Silben lesen. Wie sehr sich die Frau nicht nur durch ihre Trauer, sondern auch durch ihren gemessenen Schritt von der vorüberhastenden Menge in Vers 1 abhebt, bildet Benjamins freiere Übersetzung also sehr gut ab, indem er dem Rhythmus ihrer Schritte genau nachhorcht. In Vers 3 stehen die Vorzeichen dagegen umgekehrt: Hier übersetzt Benjamin mit »schritt eine Frau vorbei« sehr wörtlich (trotz der erneuten Stilerhöhung im Gegensatz zum einfachen »passer«25 ) und hebt durch die gegenmetrische Betonung von »schritt« die Besonderheit der Erscheinung noch zusätzlich hervor. Georges Übersetzung erscheint dagegen zunächst in mehrerlei Hinsicht als unpassend: Jürgen von Stackelberg hält das »erschien« für »zu theatralisch. Um’s Vorüberge22 Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 177. Genau dies, dass nämlich mit »deuil« und »douleur« der nach außen zur Schau gestellte und der innerlich empfundene Schmerz zu Sprache kommen, verkennt dagegen von Stackelberg: »[D]as ›ungemeine Leid‹ [Benjamins] bringt eine Akzentverschiebung, insofern Baudelaires ›grand deuil‹ bereits in die Richtung der majestätischen großen Erscheinung tendiert […]: nicht um die tiefempfundene, sondern um die würdevoll zur Schau gestellte Trauer geht es. Der Betrachter sieht die Trauerkleidung, nicht den Schmerz, denn dazu paßt die Folge wenig, die hinter dem emporgehobenen Saum das Bein erblicken läßt« (»Weltliteratur in deutscher Übersetzung«, S. 209). 23 Bruno Adriani: »Baudelaire und George«, Berlin 1939, S. 47. Adriani weist dies als typische Eigenschaft des französischen Alexandriners aus. 24 Schlossmann weist darauf hin, dass auch das überlange Reimwort zu einer Verlangsamung des Geschehens beiträgt (vgl. Schlossmann, »Pariser Treiben«, S. 297). 25 Vgl. Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 276: »Die Frau geht bei Benjamins Übersetzung nicht, entsprechend dem Original, vorüber (›passer‹), sondern schreitet vorbei; das trifft den Sachverhalt, verfehlt aber den bei Baudelaire sehr schlichten und alltäglichen Wortlaut.«

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hen […] geht es, nicht um’s Erscheinen«26 . Und Angelika Corbineau-Hoffmann urteilt, dass auch bei der Übersetzung von »femme« durch »weib« »eine im allgemeinen Sprachgebrauch geläufige Bezeichnung einer gewählten [weicht] – sofern man nicht, gegen die ästhetischen Normen Georges, ›Weib‹ als despektierlich verstehen will.«27 Hinzufügen ließe sich noch, dass sich »erschien ein weib« durch das Aufeinandertreffen der Konsonanten bei »ein weib« auch lautlich und rhythmisch weit von dem durch die gesprochenen »e caduc« vollendeten Fließen des französischen Originals (»une femme passa«) entfernt. Und dennoch hat Georges Übersetzung auch sehr gelungene Aspekte, die bislang häufig übersehen wurden. Gerade in dem vielgescholtenen »erschien« steckt mehr Sinn, als auf den ersten Blick vermutet. Erstens findet George damit – anders als Benjamin – eine Entsprechung zum französischen Tempuswechsel zwischen dem imparfait von »hurlait« in Vers 1 und »passa« in Vers 3: Während die Straße »tost«, »erschien ein Weib«. Zweitens empfindet »erschien« diesen im Deutschen eigentlich kaum abbildbaren Tempuswechsel auch semantisch nach: Das passé simple in »passa« bringt im Gegensatz zum imparfait, das den permanenten Hintergrundlärm in Vers 1 verdeutlicht, das Einmalige, Punktuelle einer Handlung zum Ausdruck. Zumindest dieses plötzliche Auftauchen aus der gleichförmigen Menge ist durch das Wort »erschien«, das eben mehr den Moment des Auftretens als denjenigen des Vorübergehens betont, gut ins Deutsche transportiert. George hat an dieser Stelle also zwar semantisch frei, aber in Bezug auf das Tempus so wörtlich wie möglich übersetzt. Der Rest des ersten Quartettes wird von George – abgesehen von der Verschiebung von der Hand zum Finger in Vers 328 – ebenfalls sehr wörtlich übersetzt, bis hin zur exakten Wiedergabe des »schneider-handwerklichen Vokabulars«29 bei 26 Von Stackelberg, »Weltliteratur in deutscher Übersetzung«, S. 208. Vollständig lautet die Stelle: »Um’s Vorübergehen, rasche Vorübereilen geht es, nicht um’s Erscheinen« (ebd.). Gegen ein »rasches Vorübereilen« spricht allerdings nicht nur der eher getragene Rhythmus in Vers 2, sondern auch die Beschreibung der Bewegung als »agile et noble« in Vers 5. Zu ergänzen wäre darüber hinaus, dass der französische Bezug von »passa« zur »passante« im Titel damit weder bei Benjamin noch bei George gewahrt bleibt: Benjamin ersetzt die titelgebende Passantin durch die »Dame«, George übersetzt »passa« mit »erschien«. 27 Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 277. 28 Dieser Finger wird darüber hinaus zum Agens der Bewegung gemacht – eine Veränderung, die Benjamin (wenngleich in Bezug auf die Hand) übernimmt. Krapoth bezeichnet diese Verschiebung als »Verlagerung in die mediale Dimension« (»Perspektivverschiebung in Walter Benjamins Baudelaire-Übersetzungen«, S. 272) und erläutert dazu: »Die Frau hebt nicht mit der Hand den Saum, sondern das Medium der Hand wird selbständig.« (ebd., S. 274) 29 Von Stackelberg, »Weltliteratur in deutscher Übersetzung«, S. 207. Von Stackelberg weist darüber hinaus darauf hin, dass es sich bei den beiden Wörtern keinesfalls um einen Pleonasmus handle (vgl. ebd.).

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»le feston et l’ourlet«. Auch das elegante Schwingen, das in den Worten »soulevant, balançant« des Originals semantisch wie rhythmisch zum Ausdruck kommt, wahrt George mit der Formulierung »erhob und wiegte«. Wenn bei Benjamin dagegen »die Hand am Kleide / […] den gerafften Saum« hebt, steht diese fast schon anrüchig wirkende Geste in einem seltsamen Kontrast zu dem Adverb »majestätisch«.30 Besonders auffällig ist des Weiteren Georges Bemühen, im Bestreben nach Wörtlichkeit sogar dieselben Reimwörter wie Baudelaire zu benutzen: Die gravierende Veränderung von »hurlait« zu »raum« wurde bereits angesprochen, bei allen anderen Reimwörtern im ersten Quartett finden sich bei George aber die wörtlichen Entsprechungen. Benjamin folgt in seiner Übersetzung der Reime dagegen erneut weniger dem Prinzip der Wörtlichkeit als demjenigen der Buchstäblichkeit, da er nicht das Reimwort, sondern die Art des Reims ins Zentrum stellt. Was das französische Original prägt, ist die extreme Häufung von erweiterten Reimen, die sechs von sieben Reimpaaren betreffen (alle außer »renaître« – »peut-être«). Wenn Benjamin nun im ersten Quartett – semantisch weit entfernt von den französischen Reimwörtern – »Leide« und »Kleide« reimt, übersetzt er den Reim also nicht semantisch-wörtlich wie George, sondern lautlich-buchstäblich. Es ist die um zusätzliche identische Buchstaben vor dem letzten betonten Vokal erweiterte Lautung des Reims, die Benjamin hier ganz buchstäblich überträgt.31 Thomas A. Keck ist deshalb vollkommen zuzustimmen, wenn er in Bezug auf Benjamins Baudelaire-Übersetzung von einer »eigentümliche[n] Rückverwandlung der parole zur langue«32 spricht.

II 5 Agile et noble, avec sa jambe de statue. 5 Beschwingt und hehr mit einer statue knie. 5 Gemessen und belebt, ihr Knie gegossen. Der erste Vers des zweiten Quartetts, der die Beschreibung der Frau – konkreter: ihrer Bewegung – aus dem ersten Quartett abschließt, enthält dann eines der 30 Auch Schlossmann spricht von »einem Anhauch von Vulgarität« (»Pariser Treiben«, S. 298) und »eine[r] weit weniger majestätische[n] und um so frivolere[n] Geste« (ebd., S. 299). 31 Georges Reimpaar »majestätisch« und »gravitätisch« lässt sich dagegen nicht als erweiterter Reim im engeren Sinne verstehen, da »st« und »t« lautlich nicht als identisch zu begreifen sind. 32 Thomas A. Keck: »Der Begriff der Sprache und ihre Behandlung in Benjamins übersetzerischer Baudelaire-Rezeption«, in: Willi Huntemann & Lutz Rühlung (Hg.): »Fremdheit als Problem und Programm. Die literarische Übersetzung zwischen Tradition und Moderne«, Berlin 1997, S. 240-268, hier: S. 246.

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schwierigsten Bilder des gesamten Gedichts: »avec sa jambe de statue«. Was genau ist das Statuenhafte dieses Beines? Meines Erachtens weckt das Original mindestens zwei zentrale Assoziationen, die in den Übersetzungen unterschiedlich Niederschlag gefunden haben: Zum einen geht es natürlich darum, erfahrbar zu machen, wie dieses Bein, das offenbar unter dem hochgehobenen Saum des Kleides zu sehen ist, aussieht. »Jambe de statue« beschreibt dann sowohl die Form als auch die Farbe dieses Beines: Die gängige Darstellung weiblicher Schönheit durch marmorne Venus-Statuen lässt nicht nur an ein formvollendetes Bein, sondern ebenso an dessen makellose weiße Haut denken. Jürgen von Stackelbergs Analyse greift deshalb zu kurz, wenn er festhält: »Daß die Frau in Trauer ist, hebt sie aus der Menge der Vorübereilenden heraus, erhöht aber […] nur ihren erotischen Reiz«33 . Dass das lyrische Ich gerade in Vers 6, und damit dem auf »jambe de statue« folgenden Vers, von der erotischen Ausstrahlung der Vorübergehenden elektrisiert wird, deutet vielmehr darauf hin, dass es gerade die Verbindung aus der den Körper verhüllenden, schwarzen Trauerkleidung und dem darunter hervorblitzenden nackten, weißen Bein ist, die den Reiz ausmacht und die dazu führt, dass sich dem lyrischen Ich dieser kurze Moment wie ein Standbild einbrennt. Folgt man nun Angelika Corbineau-Hoffmanns Analyse, derzufolge Benjamins Formulierung »ihr Knie gegossen« einen »Materialwechsel« von Marmor zu Bronze impliziert,34 geht dieser extreme optische Kontrast zwischen schwarz und weiß in seiner Übersetzung verloren. Damit ist ein zentraler Aspekt des Originals nur unzureichend wiedergegeben, den George durch die wörtliche, ja buchstäbliche Übersetzung von »statue« beibehält. Zum anderen weckt »jambe de statue« aber nicht nur Assoziationen in Bezug auf die Form und Farbe des Beines, sondern auch in Bezug auf die Art der Bewegung. Cornelia Wilds Analyse, derzufolge das Bein »der bewegten Geste der den spitzenbesetzten Saum balancierenden Hand entgegengesetzt«35 ist, ist dabei nicht falsch, aber zu einseitig. Meines Erachtens vereinigt »jambe de statue« nämlich gerade das Bewegte des Beines mit dem Unbewegten, Starren der Statue – ein antithetisches Doppel, das »agile et noble« schon vorwegnimmt (eine Wendung, deren Kern Benjamin, die Wörter umkehrend, mit »gemessen und belebt« sehr gut trifft – 33 Von Stackelberg, »Weltliteratur in deutscher Übersetzung«, S. 205. 34 Vgl. Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 176. Anders als der Aspekt des Farbkontrastes bleibt derjenige der Wohlgeformtheit aber erhalten. Vgl. dazu Wuthenow, der das Gegossensein mit »Straffheit« assoziiert (Ralph-Rainer Wuthenow: »Das fremde Kunstwerk. Aspekte der literarischen Übersetzung«, Göttingen 1969, S. 146). 35 Cornelia Wild: »Poetik der Flüchtigkeit: Baudelaire, Breton, Proust«, in: Stefanie Heine & Sandro Zanetti (Hg.): »Transaktualität. Ästhetische Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit«, Paderborn 2016, S. 95-105, hier: S. 97.

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viel besser als George).36 Die Bewegung der Frau wirkt damit gleichzeitig leichtfüßig und doch (durch den Schmerz?) verlangsamt, getragen.37 Erschien Benjamins »gegossen« in Bezug auf die Farbe des Beines schlecht gewählt, bildet die Assoziation zu dem erst bewegten, gegossenen und anschließend erhärtenden Material Bronze das Zusammenspiel aus Bewegung und Stillstand sehr gut ab. Auch die Verengung von »jambe« zu Knie, die Benjamin von George übernimmt, kann in diesem Sinne als gelungen betrachtet werden, ist das Knie als Gelenk doch gerade der Inbegriff der Bewegung.38 6 Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, 7 Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,  8 La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.   6 Ich las · die hände ballend wie im wahne · 7 Aus ihrem auge (heimat der orkane): 8 Mit anmut bannt mit liebe tötet sie.   6 Und ich verfiel in Krampf und Siechtum an  7 Dies Aug’ den fahlen Himmel vorm Orkan  8 Und habe Lust zum Tode dran genossen. Die restlichen drei Verse des zweiten Quartetts lassen sich nur als die Einheit betrachten, die sie im französischen Original darstellen. Keine der beiden Übersetzungen bildet die komplexe hypotaktische Satzkonstruktion mit einer Partizipial36 Vgl. dazu Sauter, die betont, dass Baudelaires Gedicht von den »Gegensätzen von Bewegung und Erstarrung, Flüchtigkeit und Ewigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit, Tod und Geburt« (Caroline Sauter: »Die virtuelle Interlinearversion. Walter Benjamins Übersetzungstheorie und -praxis«, Heidelberg 2014, S. 175) beherrscht wird. 37 Dass es sich bei »jambe de statue« tatsächlich um eine Vereinigung von Gegensätzen handelt, wird besonders deutlich im Vergleich zu Baudelaires gegenüber der »Geliebten« »böswillig[en] und bösartig[en]« (Auerbach, »Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene«, S. 115) Gedicht »Je te donne ces vers…«, das in seinem letzten Vers ebenfalls den Vergleich der Frau mit einer Statue führt (»Statue aux yeux de jais, grand ange au front d’airain«). Hier hat die Frau tatsächlich die »rätselhafte Gestalt einer unbewegten Statue« (ebd., S. 116) – die Wirkung des »jambe de statue« ist dagegen eine andere. Vgl. in diesem Sinne auch Friedrich, der darauf hinweist, dass das Statuenhafte bei Baudelaire keineswegs immer eine negative Konnotation haben muss, im Gegenteil: »In den Augen Baudelaires erhält das Anorganische dann die höchste Bedeutung, wenn es Material künstlerischer Arbeit ist: die Statue gilt ihm mehr als der lebende Leib, die Waldkulisse der Bühne mehr als der natürliche Wald« (»Die Struktur der modernen Lyrik«, S. 55). 38 Ob das Knie den Aspekt der Formvollendung des Beines noch korrekt widerspiegelt, ließe sich dagegen diskutieren. Ist das schöne weibliche Knie als Inbegriff des schönen weiblichen Beines zu verstehen? Oder verkürzt die Konzentration auf das Knie nicht vielmehr die erotische Länge des nackten Beines?

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konstruktion, einer Apposition und drei Relativsätzen im Deutschen ab: George empfindet zwar die Konstruktion in Vers 6 und 7 relativ genau nach (abgesehen von dem fehlenden mit »où« eingeleiteten Relativsatz). Am Ende von Vers 7 setzt er aber einen Doppelpunkt, um in Vers 8 einen neuen Hauptsatz zu beginnen, der den Parallelismus des Originals beibehält, dabei aber ohne die beiden Nebensätze auskommt. Benjamin dagegen verzichtet, abgesehen von der Apposition in Vers 7, auf alle Nebensätze, zieht den Satz – dem Original vergleichbar – aber immerhin über alle drei Verse und behält, anders als George, auch in Vers 8 dasselbe Subjekt, nämlich das Ich, bei. Das Außergewöhnliche an der Reaktion, die die Frau in dem Ich hervorruft, bringt Benjamin darüber hinaus durch das harte Enjambement in Vers 6 und 7 (»ich verfiel […] an / dies Aug’«) zum Ausdruck. Grammatikalisch entfernen sich hier also beide Übersetzungen relativ weit vom Original, doch wie wörtlich oder frei verfahren sie hinsichtlich der Semantik? Willy R. Berger urteilt in Bezug auf Benjamin, dass »[i]nsbesondere das zweite Quartett und das erste der beiden Terzette […] durch allzu preziöse Stilgebung völlig mißraten«39 seien. Diese Form der Verurteilung ist sicherlich unangemessen, auch wenn natürlich nicht jede übersetzerische Entscheidung Benjamins in den Versen 6 bis 8 als gelungen bewertet werden kann (»Siechtum« etwa verfehlt den Sinn ziemlich weit). In meinen Augen ist es vielmehr George, der den Kern des französischen Originals in diesen Versen in weitaus größerem Maße verfehlt und den Sinn geradezu in sein Gegenteil verkehrt, wenn er aus der »unverhüllt dargestellten Erotik«40 bei Baudelaire mit ihren genusshaften wie ihren bedrohlichen Komponenten eine distanzierte, fast körperlose Erfahrung macht. Dies beginnt mit der Übertragung von »je buvais […] / dans son œil«41 durch »ich las […] / aus ihrem Auge« und endet mit der Übersetzung von »douceur« mit »anmut« und »plaisir« mit »liebe«. Jürgen von Stackelberg urteilt völlig zu Recht: »Dadurch verliert der erotische Vorgang an Intensität […]. Darin steckt zu wenig Gier, zu wenig Süchtigkeit«42 . Und auch Angelika Corbineau-Hoffmann liegt richtig, wenn sie behauptet, George »intellek39 Berger, »Walter Benjamin als Übersetzer Baudelaires«, S. 659. Zu einer fundamentalen Kritik an Berger vgl. Keck, »Der deutsche ›Baudelaire‹«, Band I, S. 217: »Berger […] versucht, den großen Zusammenhang der Rezeptionsgeschichte zu wahren, und wird der Benjaminschen Theorie im Kern nicht gerecht.« Vgl. auch Keck, »Der Begriff der Sprache und ihre Behandlung in Benjamins übersetzerischer Baudelaire-Rezeption«, S. 266. 40 Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 179. 41 Zur »Zerstückelung« der Frau in Hand, Bein und Auge, die »in Benjamins deutscher Übersetzung in der prägnanten Verkürzung zu abgehackten Einsilbern sinnlich erfahrbar wird« (Sauter, »Die virtuelle Interlinearversion«, S. 185), vgl. Baudelaire selbst: »[L’imagination] décompose toute la création, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant des règles dont on ne peut trouver l’origine que dans le plus profound de l’âme, elle crée un monde nouveau« (Charles Baudelaire: »Curiosités esthétiques«, Paris 1868, S. 265). 42 Von Stackelberg, »Weltliteratur in deutscher Übersetzung«, S. 208.

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tualisier[e]«43 die sehr direkte körperliche Erfahrung des Trinkens durch das Wort »lesen«. Natürlich ist die Übersetzung an dieser Stelle grundsätzlich dadurch erschwert, dass im Französischen stets »dans une tasse« getrunken wird, während der Deutsche üblicherweise »aus einer Tasse« trinkt. Der Franzose ist hier per se genießerischer, während das Deutsche eher die Bewegung, den Vorgang, nicht das Verweilen im genussvollen Moment betont. Diese grundsätzliche Differenz in der Sprache wie in der Wahrnehmung lässt sich nicht wörtlich abbilden. Umso erstaunlicher ist es, dass George selbst die Chance verstreichen lässt, wenigstens das »dans« zu erhalten, wäre »in« als auf »lesen« folgende Präposition doch naheliegend gewesen. Die »erotische Trunkenheit«44 des Originals wird auf diese Weise gleich zweifach eliminiert. Benjamin verfährt an dieser Stelle zwar auch sehr frei, erhält mit dem Verfallen-Sein an das Auge aber zumindest die leidenschaftliche Komponente des Originals.45 Problematisch ist des Weiteren auch jeder Versuch einer Übersetzung von »crispé comme un extravagant«. Wichtig ist zunächst, dass es beide Übersetzungen übersehen, den Binnenreim von »extravagant« und »soulevant, balançant« wiederzugeben. Dadurch (aber auch durch die wenig geglückte Übersetzung von »extravagant« durch »Siechtum« bzw. »wahne«) geht verloren, dass die Begegnung mit der Frau dazu führt, dass nun auch das Ich aus der Menge hervorgehoben ist: Auch das Ich wird zum »extravagant«, was – im Original durch den Binnenreim veranschaulicht – eine erste Verbindung zwischen ihm und der Frau darstellt. Was genau dabei mit dem lyrischen Ich passiert, hat Benjamin in seiner Analyse des Gedichtes besser getroffen als mit seiner Übersetzung: »Was den Körper im Krampf zusammenzieht, das ist nicht die Betroffenheit dessen, von dem ein Bild in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von dem Chock, mit dem ein gebieterisches Gelüst unvermittelt den Einsamen überkommt.«46 Diese schockartige Reaktion ist bei Benjamin immerhin durch die Worte »verfiel« und 43 Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 178. 44 Schlossmann, »Pariser Treiben«, S. 300. Wie Schlossmann weiter bemerkt, fehlen in den Übersetzungen auch die internen Verweisungszusammenhänge des Originals: »›Je buvais‹ ist Echo des ersten Reims und antizipiert den letzten des Sonetts: vais/savais« (ebd.). 45 Krapoth weist jedoch zu Recht darauf hin, dass Benjamins Formulierung das Ich in einer deutlich passiveren Rolle zeigt als das Original: »[D]as Subjekt, das bei Baudelaire als Agens mit transitivem […] Bezug steht, [wird] in die Rolle des passiv Empfangenden versetzt« (»Perspektivverschiebung in Walter Benjamins Baudelaire-Übersetzungen«, S. 272). 46 Benjamin, »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, S. 548. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch auf S. 623: »So stellt das Sonett die Figur des Chocks, ja die Figur einer Katastrophe. Sie hat aber mit dem so Ergriffenen das Wesen seines Gefühls mitbetroffen. Was den Körper im Krampf zusammenzieht – crispé comme un extravagant, heißt es – das ist nicht die Beseligung dessen, von dem der Eros in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von der sexuellen Betroffenheit, wie sie nur einen Vereinsamten überkommen kann.«

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»Krampf« erhalten geblieben, Georges »hände ballend wie im wahne« wirkt dagegen viel zu harmlos, viel zu verhalten, viel zu kontrolliert. Dies gilt noch mehr für seine Übersetzung von »ciel livide où germe l’ouragon«. Georges in Klammern gesetzte »heimat der orkane« ist alles andere als eine »präzise wie knappe Entsprechung«47 , wie Jürgen von Stackelberg urteilt. Was das lyrische Ich bei Baudelaire im Auge der Frau sieht, ist das Aufkommen eines gewaltigen Sturms. Der aschfahle Himmel kündet bereits drohend von der aufziehenden Urgewalt. Es herrscht die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm, der sich zusammenbraut – mit anderen Worten: Nicht nur in sich selbst, sondern auch in der Frau sieht das lyrische Ich die entstehende Leidenschaft. Diese enorme erotische Aufladung des Geschehens findet sich in Benjamins Übersetzung (»den fahlen Himmel vorm Orkan«) sehr gut wiedergegeben, auch wenn er die lokale Komponente (»où«) durch eine temporale (»vorm«) ersetzt. George dagegen nimmt dem Szenario mit dem Wort »heimat«, das assoziativ Vertrautheit und Geborgenheit aufruft, jede gefährliche Komponente. Eine Reduktion des Erotischen zugunsten einer stilisierten, ästhetisierten, entkörperlichten Erfahrung nimmt George schließlich auch im letzten Vers des zweiten Quartettes vor: Im Original trinkt das lyrische Ich aus dem Auge der Frau in einem Zuge Eros und Thanatos – »eine Lusthölle«48 , wie Erich Auerbach an anderer Stelle formuliert, die das Ich ebenso stark anzieht, wie sie es bedroht. Benjamin übersetzt diesen Sachverhalt zwar sehr frei – hier zeigt sich seine große Neigung zum Nominalstil49 –, letztlich aber doch treffend. George vernichtet mit »anmut« und »liebe« dagegen nicht nur jede Erotik, sondern löst durch den Subjektwechsel im letzten Vers auch die Gleichzeitigkeit und Unmittelbarkeit von Faszination und tödlicher Bedrohung im Akt des Trinkens auf. Was sich bei ihm findet, ist höchstens noch eine »Ahnung von Gefahr, die eher konstatiert als erfahren wird.«50 Zuletzt muss schließlich auch beim zweiten Quartett die Sprache auf den Reim kommen. Dabei bestätigt sich zum einen die bereits in Bezug auf das erste Quartett festgestellte Tendenz, dass George so weit wie möglich versucht, die Reimwörter des Originals beizubehalten, während Benjamin semantisch frei verfährt. 47 Von Stackelberg, »Weltliteratur in deutscher Übersetzung«, S. 208. 48 Auerbach, »Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene«, S. 114. Vgl. auch Schlossmann, »Pariser Treiben«, S. 302f.: »Das Gleichgewicht des in zwei grammatisch und rhythmisch identische Halbverse geteilten Verses [8] stellt ein Gleichgewicht zwischen der Faszination des Eros und der Fatalität des Sexus dar.« George eliminiert den Sexus und spricht nur noch von Liebe, während Benjamin Schlossmann zufolge gerade »in die Gegenrichtung [geht], um die Wirkung des Eros verschwinden zu lassen« (ebd., S. 303). 49 Berger identifiziert diesen zu Recht als eines der »kennzeichnende[n] Merkmale von Benjamins Übersetzung« (»Walter Benjamin als Übersetzer Baudelaires«, S. 650). 50 Wuthenow, »Das fremde Kunstwerk«, S. 142. Vgl. auch Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 178.

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Zum anderen zeigt das zweite Quartett aber auch noch einmal, dass Benjamin der wörtlichen Übersetzung der Reimwörter durch George eine buchstäbliche Übersetzung der Reime entgegensetzt: »genossen« – »gegossen« ahmt den erweiterten Reim des Originals durch die identische Vorsilbe nach, und auch die Abspaltung des Reimwortes »tue« aus »statue« findet bei Benjamin in »Orkan« und »an« ihre buchstäbliche Entsprechung.51 Wie wenig dagegen George an dieser buchstäblichen Ebene interessiert ist, zeigt sich daran, dass er für keinen einzigen der erweiterten Reime des Originals eine Entsprechung findet. Noch deutlicher wird dies in Anbetracht der Tatsache, dass er den das französische Gedicht so stark beherrschenden Reimen, bei denen mehr Buchstaben bzw. Laute identisch sind als vom Reim gefordert, im ersten Terzett mit »Wesenheit« und »Ewigkeit« sogar einen unreinen Reim (und damit weniger identische Buchstaben bzw. Laute als gefordert) entgegensetzt. Eine weitere Entfernung vom Original wäre in dieser Hinsicht nur durch völlige Reimlosigkeit erreichbar gewesen.

III 9 Un éclair… puis la nuit! – Fugitive beauté 10 Dont le regard m’a fait soudainement renaître, 11 Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?   9 Ein strahl … dann nacht! o schöne wesenheit 10 Die mich mit EINEM blicke neu geboren · 11 Kommst du erst wieder in der ewigkeit?   9 Ein Blitz, dann Nacht! Die Flüchtige, nicht leiht 10 Sie sich dem Werdenden an ihrem Schimmer. 11 Seh ich dich nur noch in der Ewigkeit? Wenig passend erscheint das Weiteren Georges Übersetzung von »éclair« durch »strahl« im ersten Terzett, dem der klare Bezug zum Wetterhaften bzw. konkreter: zum Orkan im zweiten Quartett fehlt, was erneut die erotische Aufladung vermissen lässt.52 Auch lautlich gehen die Helligkeit und Explosivität des Blitz51 Die wiederholte Verurteilung von Benjamins Reimwahl in der Forschung lässt sich dementsprechend auf eine Konzentration auf die Semantik zurückführen. Vgl. dazu prototypisch Berger, »Walter Benjamin als Übersetzer Baudelaires«, S. 660: »[D]as Enjambement mit dem semantisch leeren präpositionalen Reimwort (an / Dies Aug’) an Stelle des sinnbeschwerten Reims extravagant vermag nicht zu überzeugen«. 52 Vgl. dazu ausführlicher Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 178.

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einschlages, mit dem (so lässt sich hier zunächst nur vermuten) der Blickkontakt beschrieben wird, bei George verloren. Im Original macht der Binnenreim »puis la nuit!« durch die Wiederholung des hellen Diphthongs und »das Einsetzen mit dem Plosiv p in einer Reihe von Nasalen und weichen n- und l-Lauten […] die Gewalt des Blitzschlags sinnlich hörbar«53 . Bei George bleibt davon durch die Dehnung des a-Lautes in »strahl« sowie durch die Kontinuität der Vokalwiederholung, die in der Folge von »strahl … dann nacht!« entsteht, kaum etwas übrig. Bei Benjamin dagegen ergibt die Fügung »dann Nacht«, die er von George übernimmt, mehr Sinn, stellt er ihr doch den »Blitz« voran. Anders als im Original, wo die lautlich erfahrbare Helligkeit und Explosivität mit »puis la nuit« irritierenderweise erst nach dem Blitz (»éclair«) einsetzt, ruft diese Assoziationen bei Benjamin das Wort »Blitz« selbst durch den hellen i-Laut und die folgende Affrikate hervor. Wenn »dann Nacht« folgt, wo »durch die drei aufeinanderfolgenden Konsonanten n […] die Wortgrenzen«54 verschwimmen, erscheint dies insofern als konsequent, als der durch den Blitz verdeutlichte einschneidende wie flüchtige Augenblick zu einer Auflösung aller (v.a. zeitlichen) Grenzen führt. Erfahrbar wird so »ein zeitenthobener, d.h. ›erstarrter‹, ewiger Schock-Moment […]. Denn es ist der einzige verblose Satz; der einzige Satz also, der kein Tempus besitzt«55 . Die Ewigkeit, die das Terzett beschließen wird, klingt auf diese Weise bereits in der Zeitlosigkeit des Terzettbeginns an. Bei der Übersetzung von »fugitive beauté« treffen George und Benjamin anschließend gegensätzliche Entscheidungen: Georges Text gewinnt mit »o schöne wesenheit«, wie Angelika Corbineau-Hoffmann betont, »an gedanklicher Tiefe, die wiederum mit der ›ewigkeit‹ in Korrespondenz steht (nicht nur im Reim!)«56 . Misslich – und in meinen Augen entscheidender – ist aber, dass George dabei die Momente der Flüchtigkeit und Fluchthaftigkeit eliminiert, die im Original semantisch auf die Worte »passante« bzw. »passa« Rückbezug nehmen – abgesehen davon, dass es sich erneut um eine dem Original fremde Stilisierung, ja Verinnerlichung der Beschreibung des schönen Körpers handelt.57 Benjamin dagegen betont ausschließlich die Flüchtigkeit, unterschlägt dabei aber die Schönheit, die als Reimwort bei Baudelaire doch an so zentraler Stelle steht. 53 54 55 56

Sauter, »Die virtuelle Interlinearversion«, S. 181. Ebd. Ebd., S. 180. Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 178. Corbineau-Hoffmann bemängelt gleichzeitig, dass der Text dadurch »an erfahrbarer Konkretheit« (ebd.) verlöre. Dies scheint mir jedoch nicht das entscheidende Manko an dieser »Umdichtung« zu sein. 57 Vgl. dazu auch die Ausführungen Hobohms, die versucht, den diesbezüglichen Unterschied zwischen Baudelaire und George »in dem Wortpaar: Leib-Körper klar [zu] machen« (Freya Hobohm: »Die Bedeutung französischer Dichter in Werk und Weltbild Stefan Georges (Baudelaire, Verlaine, Mallarmé)«, Marburg a. Lahn 1931, S. 22).

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Was sich dann im Übergang von Vers 9 auf Vers 10 bei Benjamin anschließt, ist die dunkelste Stelle seiner Übersetzung: »nicht leiht / Sie sich dem Werdenden an ihrem Schimmer«. Diese übersetzerische Entscheidung lässt sich nicht komplett durchsichtig machen, und so scheinen die Schwierigkeiten der Formulierung die Vorteile zu überwiegen. Positiv lässt sich lediglich anführen, dass die intratextuelle Kohärenz des Gedichtes damit gewahrt, vielleicht sogar verstärkt wird, spiegelt der »Schimmer« doch sowohl die Flüchtigkeit als auch – doch noch – die wörtlich nicht übersetzte Schönheit, den Glanz der Frau wider. Problematisch ist dagegen mindestens dreierlei: Führt der Anblick der Frau im Original dazu, dass sich das lyrische Ich wie neu geboren fühlt, scheint sich die Frau in Benjamins Übersetzung jeder Einflussnahme auf das lyrische Ich vielmehr aktiv zu verweigern.58 Insbesondere das deutlich vorgezogene »nicht« in Vers 9 spricht von einer »Verneinung und Versagung«59 , die das Original in dieser Härte und Bestimmtheit nicht kennt. Zweitens sagt Benjamin mit keinem Wort, was im Original unmissverständlich klar wird: dass nicht nur das lyrische Ich die Frau anblickt, sondern dieser Blick zumindest für einen kurzen Augenblick erwidert wird. Es ist dieser blitzartige Moment, der das erste Terzett einleitet und das lyrische Ich wie vom Donner gerührt zurücklässt. Im Original wird dieser Sachverhalt zusätzlich dadurch betont, dass »le regard« das einzige Nomen im gesamten Vers ist – ein Effekt, der bei Benjamin durch den stärkeren Nominalstil ebenfalls verschwindet. Was bei Benjamin den »Blitz« auslöst, lässt sich somit nur durch Kenntnis des Originals vermuten. Drittens ist schließlich auch der »Werdende« höchstens am Rande mit dem wiedergeborenen Ich des Originals verwandt. Zumindest an dieser Stelle – dies sei zu Benjamins Verteidigung angeführt – stößt allerdings jede Übersetzung an ihre Grenzen: Das aktive »renaître« im Französischen lässt sich ins Deutsche nur entweder passivisch (als »wiedergeboren werden«) oder mit einer Bedeutungsverschiebung (wie z.B. bei »wiederbeleben«) übersetzen. Es ist eine der gelungensten Stellen in Georges Übersetzung, wenn es ihm hier durch den Subjektwechsel von »regard« zu »die« in Vers 10 gelingt, »renaître« extrem wörtlich, und zwar aktivisch und nur mit minimalem Bedeutungsunterschied, zu übersetzen – ein Kunstgriff, der fast noch klarer macht als das Original, dass die Frau und ihr Blick die aktive Ursache der Wiedergeburt sind. Wie hoch problematisch dagegen der bei Benjamin weggefallene Blickkontakt ist, zeigt sich im nächsten Vers. Im Original besteht zwischen dem Blickkontakt und der folgenden Anrede der Frau mit »te« ein unmittelbarer Zusammenhang: 58 Schon Krapoth hat darauf hingewiesen, dass ein »Modus der Negation […] gerade auch Benjamins privative Wendungen« (»Perspektivverschiebung in Walter Benjamins BaudelaireÜbersetzungen«, S. 284) kennzeichnet. Vgl. dazu ausführlicher ebd., S. 276f.: »Das Prinzip ist hier eine Art Inversion der Perspektive. Baudelaires direktem Ausdruck entspricht bei Benjamin ein Umweg über eine negative, privative Wendung«. 59 Schlossmann, »Pariser Treiben«, S. 304.

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Der Blickkontakt hat die Frau und das lyrische Ich zu Vertrauten gemacht. So spricht das lyrische Ich nun nicht mehr über die Frau, sondern zu ihr (was das »à« im Titel ja bereits angedeutet hatte). Benjamin übersetzt Vers 11 zwar so wörtlich wie möglich – also inklusive »dich« –, woher diese plötzliche persönliche Hinwendung kommt, wird aus seiner Übersetzung aber nicht ersichtlich. Doch auch George nimmt bei seiner Übertragung von Vers 11 eine massive Verschiebung vor: So stellt die Übersetzung von »ne te verrai-je« mit »kommst du« zwar einen Bezug zu der Bewegung der Frau her, die die Begegnung erst ermöglicht hat,60 sie opfert dafür aber den im ersten Terzett so zentralen Fokus auf das Sehen und den Blick. Die Veränderung des Satzsubjektes führt außerdem dazu, dass die Entscheidung über den Aufschub bis in die Ewigkeit stärker in den Händen der Frau zu liegen scheint, als dies das Original vorgibt.

IV 12 Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! 12 Verändert · fern · zu spät · auf stets verloren! 12 Weit fort von hier! zu spät! vielleicht auch nimmer? Auch im zweiten Terzett treffen George und Benjamin an unterschiedlichen Stellen übersetzerische Entscheidungen, die sich nicht nur vom Wortlaut, sondern mitunter auch vom Sinn des Originals deutlich unterscheiden. Bei George betrifft dies bereits das erste Wort: »Verändert« ist zu allgemein und bildet weder ab, dass es eine Veränderung des Ortes ist, von der im Original die Rede ist, noch bleibt die Verbindung zu »éternité« im Vorvers erhalten, die »ailleurs« im Original herstellt. Auch »fern« bleibt, aufgrund der Weglassung von »d’ici«, zu unkonkret. Benjamins Übersetzung dagegen ist nicht nur wörtlicher, sondern trifft den Sinngehalt des Originals zugleich besser: Auch wenn »ailleurs« unübersetzt bleibt, drückt »weit fort von hier« doch angemessen aus, dass die belebte, lärmende Großstadt zwar der Ort ist, der das Aufeinandertreffen erst möglich macht, dass eine echte Begegnung aber gerade nicht in dieser Umgebung, sondern nur fern von diesem Ort möglich sein könnte.61 Das zweite Hemistichion des Alexandriners wird von George dann in einer Weise vereindeutigt, die ebenfalls kaum als geglückt bewertet werden kann. »Jamais peut-être!« heißt es dort, und wenn George »auf stets verloren!« ohne einschränkendes »vielleicht« übersetzt, macht er einen Verlust zur Gewissheit, der im Original alles andere als sicher ist. Benjamin dagegen betont die Offenheit der Frage, ob, 60 Vgl. Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 178. 61 »Fort« betont darüber hinaus (im Gegensatz zu dem metrisch ebenfalls möglichen »weg«) die Bewegung, eine aktive Entfernung von dem aktuellen Ort des Geschehens.

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wann und wo eine Wiederbegegnung stattfinden könnte, sogar noch stärker als das Original, wenn er am Ende des Verses statt des Ausrufezeichens ein Fragezeichen setzt. Die Hochpunkte, die George anstelle des dreifach wiederholten Ausrufezeichens verwendet, verdeutlichen wiederum optisch sehr gut die »unsagbare, in Pausen sprechende Betroffenheit«62 , die in diesem Vers zum Ausdruck kommt. Ohne Entsprechung bleiben jedoch bei George wie bei Benjamin die lautlichen Verbindungen, die »jamais« zu einer Fülle von anderen Wörtern des Gedichtes herstellt (»hurlait«, »ourlet«, »buvais«, »fait«, »verrai«, »sais«, »vais«, »savais«). Das »Netz von inneren Echos«63 , das Baudelaire in seinem Gedicht ausgelegt hat, ist in seiner Dichte aber vermutlich schlicht unübersetzbar. 13 Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,  14 O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!   13 Du bist mir fremd · ich ward dir nie genannt · 14 Dich hätte ich geliebt · dich die’s erkannt.   13 Verborgen dir mein Weg und mir wohin du mußt  14 O du die mir bestimmt, o du die es gewußt! Vers 13 führt im Original dann zu einer ganz entscheidenden Klärung der Situation: Bisher war unklar, wie weit die Begegnung mit der Frau, von der das Ich spricht, zurückliegt. Das Präsens in Vers 13 schafft nun Klarheit: Offenbar befindet sich das Ich in genau diesem Augenblick auf der lärmenden Straße. Die Begegnung hat also nicht in einer längst entfernten Vergangenheit stattgefunden, sondern unmittelbar zuvor. »Fuis« verdeutlicht, dass die Frau gerade im Moment flieht (auch wenn zumindest das Vorbeigehen wohl schon abgeschlossen ist – dafür spricht das passé simple in »passa«), dass sich das lyrische Ich und die Frau also genau jetzt voneinander entfernen. George und Benjamin übertragen das französische Tempus beide ins Deutsche, Georges »du bist mir fremd, ich ward dir nie genannt« geht aber trotz des Präsens erneut an zentralen Aspekten des Originals vorbei: Erstens führen die veränderten Verben zu einem Verlust der Bewegung, die dem Französischen mit »fuis« und »vais« noch einmal zentral eingeschrieben ist. Dass die chiastische Struktur des Verses (»j[e] […] tu«, »tu […] je«) ganz wörtlich den »unbarmherzigen Kreuzweg«64 wahrnehmbar macht, den die Bewegung des Flaneurs und der Passantin darstellt – erst aufeinander zu, dann voneinander weg –, entgeht der Übersetzung auf diese Weise. Zweitens unterschlägt George an dieser Stelle (wie auch schon bei der zu wenig wörtlichen Übersetzung von »fugitive 62 Wuthenow, »Das fremde Kunstwerk«, S. 144. 63 Schlossmann, »Pariser Treiben«, S. 306. 64 Wuthenow, »Das fremde Kunstwerk«, S. 144.

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beauté«, auf die »fuis« Bezug nimmt) die Flucht der Frau. Das Gedicht benennt natürlich auch im Original nicht explizit, wovor die Frau flieht, wovor sie Angst hat. Vermuten lässt sich aber, dass es der emotionale Orkan ist, der im zweiten Quartett ja nur gekeimt hatte, durch den Blickkontakt im ersten Terzett dann aber tatsächlich losgebrochen sein könnte. George tilgt jedoch erneut die knisternde Atmosphäre der Erotik und führt mit »ich ward dir nie genannt« stattdessen – wie schon bei »ich las« – eine (schrift)sprachliche Komponente ein. Dies mag innerhalb von Georges Übersetzung konsequent sein, dem Original mit seinen dominanten akustischen und visuellen Eindrücken ist dieser Aspekt aber völlig fremd. Drittens und letztens vereindeutigt George die Situation abermals gegenüber dem Original, indem er festlegt, dass es sich um zwei Unbekannte handelt – eine Tatsache, die das Original bewusst offen lässt.65 Benjamins Übersetzung ist hier insofern besser gelungen, als sich in ihr zumindest die Bewegung wiederfindet. Das zentrale Moment der Flucht fehlt aber ebenso wie bei George. Die Formulierung »wohin du mußt« impliziert sogar im Gegenteil weniger die Flucht von einem Ort als vielmehr die Bewegung hin zu einem konkreten Ziel. Stilistisch erscheint darüber hinaus auch die Entscheidung für das Wort »Weg« als ein Missgriff, zeichnet sich das Original doch gerade dadurch aus, dass »éternité« das letzte Nomen des Gedichtes ist, wodurch es zusätzlich an Bedeutung gewinnt.66 Die letzte Zeile des Sonetts schließlich ist im Original sprachlich in zweierlei Hinsicht auffällig: Erstens stellt die zweifache Apostrophe »o toi« eine noch direktere, noch eindringlichere, noch persönlichere Hinwendung zur Frau dar als das »te« im letzten Vers des ersten Terzetts. Ganz buchstäblich umgesetzt hat diese intensive Zuwendung an dieser Stelle nur Benjamin, die Apostrophe bei George (»o schöne wesenheit«) kommt dagegen viel zu früh im Gedicht. Zweitens ist auch das Tempus des letzten Wortes des Gedichtes, »savais«, aufschlussreich. Das imparfait rundet das Gedicht durch den Bezug zu »hurlait« in Vers 1, der auch über den Reim hergestellt ist, nicht nur ab, sondern bringt vor allem zum Ausdruck, dass die Frau schon immer, von Anfang an, die ganze Zeit über und immer noch von der Begierde des lyrischen Ichs gewusst hat. Dass sie trotzdem vorbeigeht, könnte dafür sprechen, dass sie das lyrische Ich nicht interessiert hat, plausibler erscheint aber, dass sie nicht trotz ihres Wissens, sondern wegen ihres Wissens vorbeigeht: Es ist die Furcht vor dem eigenen Orkan, die sie vor der Begierde des lyrischen Ichs fliehen lässt. 65 Vgl. Corbineau-Hoffmann, »Einführung in die Komparatistik«, S. 178. 66 Darüber hinaus überführt Benjamin, wie Krapoth feststellt, das Aktiv des Originals (»tu ne sais…«) erneut in eine passivische Formulierung (»verborgen dir…«), vgl. »Perspektivverschiebung in Walter Benjamins Baudelaire-Übersetzungen«, S. 270.

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Diese Implikationen des französischen imparfait sind im Deutschen natürlich nur unzureichend wiederzugeben. Bei aller Schwierigkeit ist Benjamins Lösung aber trotzdem gelungener als diejenige Georges: Georges »erkannt« hat einen prozeduralen Charakter, der dem »immer schon gewusst« des Französischen gerade entgegenzulaufen scheint. »O du die es gewußt« bleibt demgegenüber näher am Original, da »wissen« das Kontinuierliche und insofern Statische des imparfait besser trifft.67 Weniger glücklich ist dagegen Benjamins »o du die mir bestimmt«, bringt sie doch eine schicksalhafte Komponente in das Gedicht, die dem Original fremd ist. Schließlich muss noch auf einen letzten zentralen Unterschied zwischen den beiden Übersetzungen hingewiesen werden: Während George den französischen Alexandriner konsequent in einen fünfhebigen Jambus verwandelt, wechselt Benjamin in den letzten zwei Versen vom fünfhebigen zum sechshebigen Jambus und damit zum deutschen Alexandriner. Willy R. Berger bemerkt, dass die letzten Verse bei Benjamin dadurch »eine gewisse abrundende Schlußbeschwerung«68 erhalten, was diese massive metrische Veränderung aber kaum zu erklären vermag. Warum sollte eine Schlussbeschwerung überhaupt sinnvoll sein? Die Wiedergabe der im Original vorgegebenen zuerst chiastischen (»j[e] […] tu«, »tu […] je«) und dann parallelistischen (»o toi que«, »o toi qui«) Struktur kann nicht der Grund dafür sein, findet diese doch auch bei George recht wörtlich ihren Niederschlag. Ausschlaggebend scheint mir vielmehr zu sein, dass die beiden Glieder des Chiasmus bzw. des Parallelismus nur im Alexandriner metrisch identisch sind. Dadurch, dass Benjamin den Alexandriner des Originals übernimmt, gelingt am Ende auch bei ihm eine vollkommene metrische Symmetrie und damit eine nicht nur durch den Blick, sondern nun auch durch den Takt der sich voneinander entfernenden Schritte hergestellte Verbindung zwischen dem lyrischen Ich und der Frau. »Buchstäblichkeit« bedeutet bei Benjamin insofern nicht nur eine Treue zum Buchstaben, sondern auch eine Treue in Klang und Rhythmik. Harmonisch wie selten in den »Fleurs du Mal« endet also dieses Gedicht. Erich Auerbach hat nicht umsonst betont, »daß alle Gedichte der Fleurs du Mal, die mit Gegenständen der erotischen Sinnlichkeit zu tun haben, entweder erfüllt sind von der grellen und quälenden Disharmonie [der Gedichte an Mme Sabatier] […] – oder aber es sind Visionen, die Betäubung und das absolute Anderswo heraufbeschwören.«69 »A une passante« jedoch tut weder das eine noch das andere und stellt inso67 Auch der Reim scheint bei Benjamin erneut genauer dem Original nachempfunden als bei George. Aus »je vais« und »savais« macht George »genannt« und »erkannt«, Benjamin dagegen übersetzt »du mußt« und »gewußt« und verwendet damit nicht nur die identische Anzahl an Buchstaben, sondern nähert sich durch die Verwendung der beiden stimmhaften Labiale »m« und »w« auch dem erweiterten Reim an. 68 Berger, »Walter Benjamin als Übersetzer Baudelaires«, S. 646 69 Auerbach, »Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene«, S. 119.

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fern ein wichtiges Gegenbeispiel dar.70 Dass hier ein harmonisches Ende möglich ist, liegt an dem »eusse« im letzten Vers, was Benjamin hellsichtig erkannt hat: Die Erfüllung der Sehnsucht und Begierde ist den Beteiligten »minder versagt als erspart geblieben.«71 Folgerichtig macht Benjamin das im Original sogar kursivierte »jamais« als »Höhepunkt der Begegnung [aus], an dem die Leidenschaft, scheinbar vereitelt, in Wahrheit erst als Flamme aus dem Poeten schlägt.«72 Paradoxerweise ist es also gerade das Nicht-Geglückte, das diese Begegnung zu einer glückhaften macht. A une passante   La rue assourdissante autour de moi hurlait. Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, Une femme passa, d’une main fastueuse Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;   Agile et noble, avec sa jambe de statue. Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.   Un éclair… puis la nuit! – Fugitive beauté Dont le regard m’a fait soudainement renaître, Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?   Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!       70 Auerbach fährt an derselben Stelle fort: »Dabei kommt fast überall das Erniedrigende und Entwürdigende zum stärksten Ausdruck. Nicht nur der Begehrende wird zum bewußten und willenlosen Sklaven, sondern auch der Gegenstand der Begierde hat keine Menschlichkeit und keine Würde; er ist fühllos, grausam durch Macht und ennui, unfruchtbar, zerstörend« (ebd.). Auch dies trifft auf »A une passante« nicht zu. 71 Benjamin, »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, S. 624. 72 Ebd., S. 548. Benjamin hat das Gedicht damit in meinen Augen besser verstanden als z.B. Wuthenow, der urteilt: »[D]ie Begegnung hat nur die Dauer eines Blitzschlags. An ihrem Ende steht Hoffnungslosigkeit« (»Das fremde Kunstwerk«, S. 141). Benjamin erkennt dagegen, dass das Ausbleiben jedes näheren Kennenlernens nicht etwa in Hoffnungslosigkeit resultiert, sondern geradezu ein Glücksfall ist.

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  Einer Vorübergehenden   Es tost betäubend in der strassen raum. Gross schmal in tiefer trauer majestätisch Erschien ein weib · ihr finger gravitätisch Erhob und wiegte kleidbesatz und saum ·   Beschwingt und hehr mit einer statue knie. Ich las · die hände ballend wie im wahne · Aus ihrem auge (heimat der orkane): Mit anmut bannt mit liebe tötet sie.   Ein strahl … dann nacht! o schöne wesenheit Die mich mit EINEM blicke neu geboren · Kommst du erst wieder in der ewigkeit?   Verändert · fern · zu spät · auf stets verloren! Du bist mir fremd · ich ward dir nie genannt · Dich hätte ich geliebt · dich die’s erkannt.   Einer Dame   Geheul der Straße dröhnte rings im Raum. Hoch schlank tiefschwarz, in ungemeinem Leide Schritt eine Frau vorbei, die Hand am Kleide Hob majestätisch den gerafften Saum;   Gemessen und belebt, ihr Knie gegossen. Und ich verfiel in Krampf und Siechtum an Dies Aug’ den fahlen Himmel vorm Orkan Und habe Lust zum Tode dran genossen.   Ein Blitz, dann Nacht! Die Flüchtige, nicht leiht Sie sich dem Werdenden an ihrem Schimmer. Seh ich dich nur noch in der Ewigkeit?   Weit fort von hier! zu spät! vielleicht auch nimmer? Verborgen dir mein Weg und mir wohin du mußt O du die mir bestimmt, o du die es gewußt!

»Nach dem Gesetz der Treue in der Freiheit«

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Buchstäblichkeit der Dinge in Balzacs La peau de chagrin Oliver Völker »es gibt keine Verfallszeiten«1

Materialität der Dinge und Medialität des Buchstabens In der Literatur des 19. Jahrhunderts bilden das Antiquariat und der Trödelladen ein merkwürdiges Zwischenreich, das sowohl Faszination als auch Unbehagen hervorruft. Im Verblassen ihrer ursprünglichen Bedeutung werden die darin verstauten, abgelebten und randständigen Dinge zum Rätsel. Aus der vormaligen Handhabe und Zirkulation herausgefallen, sind sie gleichwohl noch nicht verschwunden, bilden einen Überhang oder Rest, an dem sich die Zeit aufstaut. Gegenüber Institutionen der geordneten Sammlung markiert es einen zwielichtigen, mit dem Plunder der Geschichte überladenen, dadurch aber auch zufallsoffenen Bereich, in dem Ungleichartiges aufeinandertrifft und mitunter sinnwidrige Verbindungen eingeht. Geschichtsphilosophischen Entwürfen, die einer messianischen Zukunft verpflichtet sind, erscheint das antiquarische Wissen suspekt. Zum Einsatz kommt es insbesondere dann, so Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, wenn sich im geschichtlichen Verlauf gespenstische Anachronismen, Unzeiten und Verschiebungen bilden: Ein ganzes Volk, das sich durch eine Revolution eine beschleunigte Bewegungskraft gegeben zu haben glaubt, findet sich plötzlich in eine verstorbene Epoche zurückversetzt, und damit keine Täuschung über den Rückfall möglich ist, stehn die alten Data wieder auf, die alte Zeitrechnung, die alten Namen, die alten Edikte, die längst der antiquarischen Gelehrsamkeit verfallen, und die alten Schergen, die längt verfault schienen.2 1 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Band V 2, hg. von Frank Tiedemann. Frankfurt a.M. 1991, S. 1023. 2 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Band 8. Berlin 2009, S. 117.

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Die Beharrlichkeit dessen, was bereits abgestorben war, dem Lauf einer sich beschleunigenden, von den Schlacken der Vergangenheit lösenden Geschichte aber wieder zwischen die Füße stolpert, findet auf der Ebene der sozialen Schichtung eine Entsprechung in Marx’ Bild des vagabundierenden, potentiell reaktionären Lumpenproletariats. Gemeinsam ist beiden Bereichen eine stumpfsinnige Materialität, aus der zugleich aber eine Ortlosigkeit und nicht zu kontrollierende Beweglichkeit resultiert: Die Soldaten sind »entlaufen«3 , die Häftlinge »entlassen«4 , es handelt sich, zusammengefasst, um eine »hin und hin- und hergeworfene Masse«5 , die ihre Anbindung an den eigentlichen Lauf der Geschichte verloren hat. Marx’ weitschweifige, polemische Auflistungen, in denen er die Wiederkehr von »alten Namen«, das Sprechen in einer »erborgten Sprache«6 , das Aufführen von Politik in Kostümen und Masken beschreibt, all das umkreist einen Prozess, in dem Vergangenheit zu einem opaken, kaum mehr zu entziffernden Ding wird und sich schließlich verselbständigt. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Antiquariat noch einen weiteren Bedeutungskreis. In Bezug auf sprachliche Bedeutung wird es zur Metapher eines Vorgangs, in dem eine eigentlich lebendige Sprache erstarrt, abstirbt, sich vergegenständlicht. Drei Jahre nach dem Brumaire beschreibt Henry David Thoreau im letzten Kapitel von Walden den Arbeitsbereich der antiquaries als eine tote, den Veränderungen der lebendigen Gegenwart gegenüber verschlossene Vergangenheit, deren natürliche Medien die Schrift und das Buch sind: The earth is not a mere fragment of dead history, stratum upon stratum like the leaves of a book, to be studied by geologists and antiquaries chiefly, but living poetry like the leaves of a tree, which precede flowers and fruit, – not a fossil earth, but a living earth;7 In der Gegenüberstellung von »living poetry« und »living earth« auf der einen Seite und einer toten, sich in den Seiten des Buchs einschreibenden (Erd)-Geschichte auf der anderen, öffnet sich ein semantisches Feld, das Schrift als Resultat von Prozessen der Sedimentierung und Mortifikation begreift und dem Gegenstandsbereich des Antiquars überlässt. Medientheoretisch gewendet, werden der Buchstabe und das dazugehörige Schreibmaterial, »the leaves of a book«, zu dem Ort, an dem eine genuin lebendige, sich im Gespräch immer wieder verflüssigende Stimme kondensiert und erkaltet, zu einem Ding wird: ein tot‐starrendes, eben schlichtweg stei3 4 5 6 7

Ebd. S. 161. Ebd. S. 161. Ebd. S. 1601 Ebd. S. 115. Henry David Thoreau: Walden; or Living in the Woods. New York 1985, S. 568.

Buchstäblichkeit der Dinge in Balzacs La peau de chagrin

nernes Fossil, das, als mechanischer Abdruck eines Lebewesens, nur mehr dessen Verschwinden bezeugt.8 Vor diesem Hintergrund ist es auffällig, dass die Literatur im ungefähr gleichen Zeitrahmen eine erhöhte Aufmerksamkeit für die scheinbar zeitenthobenen Dinge aufbringt, die sich in den staubigen Räumen der Antiquariate, der Trödelläden und Tandelmärkte stapeln.9 Mit dieser Annäherung an das Abseitige und Abgetragene geht auch eine Reflektion auf das eigene Schreiben einher. Die scheinbar a‐signifikante, dem Menschen gegenüber fremde Materialität der Dinge verweist auf eine Medialität des Buchstabens und der Schrift, die ihrerseits in einer a‐mimetischen, verwitterten, dem Verstehen entzogenen Körperlichkeit gegenwärtig wird, sich als abgelebte Apparatur in verschossenen Mappen und Dachböden wiederfindet. Der folgende Text geht dieser Annäherung von Schrift und Dingen in Honoré de Balzacs Roman La peau de chagrin (1831) nach. Im Auffälligwerden der eigenen Buchstäblichkeit entfaltet Balzacs Text eine besondere Nähe zu einem Eigenleben von Dingen, die aus dem Aufmerksamkeitsbereich einer ausschließlich menschlichen Wahrnehmung fallen und eine dem Menschen gegenüber widerspenstige Handlungsmacht und Zeitlichkeit zeigen.10 Diese beschränkt sich nicht allein auf Artefakte, sondern umfasst eine Eigengeschichtlichkeit der Natur, die im Kontext der zeitgleich entstehenden Wissensfelder von Geologie und Paläontologie verstärkt in den Blick tritt.

8 Eine entsprechende Funktion bilden Figuren des Todes und Erstarrung in Friedrich Nietzsches Metapherntheorie. »Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse […] lebt er [der Mensch O.V.] mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz;« Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: ders.: Kritische Studienausgabe Band 1, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 2009, S. 883. 9 Zum Verhältnis von Literatur und Sammlung, besonders in der wechselseitigen Thematisierung von Schrift und Gegenstand vgl. Mona Körte, Sarah Schmidt: Die Beschreibbarkeit der Dinge und die Dinglichkeit der Sprache. In: Sarah Schmidt (Hg.): Sprachen des Sammelns: Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns. Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 31-41. Vgl. dazu auch Sabine Schneider: Vergessene Dinge. Plunder und Trödel in der Erzählliteratur des Realismus. In: Sabine Schneider und Barbara Hunfeld (Hg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2008, S. 157-174. 10 Zu einem solchen Verständnis von Materialität vgl. Jane Bennett: »The Force of Things: Steps Toward an Ecology of Matter.« In: Political Theory, 32 (2004), S. 347-372.

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Presque mort La peau de chagrin11 folgt einer teleologischen Struktur. Getragen von der Geschichte einer magischen Tierhaut, die ihrem Besitzer jeden Wunsch erfüllt, im gleichen Moment aber schrumpft und ihm damit das Leben entzieht, strebt die Erzählung auf einen Punkt hin, an dem das Material aufgebraucht ist und der Tod des Protagonisten mit dem Ende des Erzählens zusammenfällt. Innerhalb dieses übergreifenden Gefüges eines linearen zeitlichen Verlaufs öffnen sich zugleich unterschiedliche Momente der Abdrift, plötzliche Umwege, überraschende Verzögerungen, Doppelungen oder Zeitschleifen, die ein Eigenleben zu entwickeln scheinen, gerade dadurch aber die Erzählung am Laufen halten und die Tilgung der Schuld mit geborgten Mitteln auf den nächsten Tag verschieben. »Ohne Aufschub des Todes kein Roman.«12 Dieses Umwegige deutet sich bereits an, bevor der Roman überhaupt begonnen hat. Die als Motto zitierte Abbildung einer sich schlängelnden Linie aus Laurence Sternes Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman blättert innerhalb der Literaturgeschichte zurück und ruft einen Text auf, innerhalb dessen extrem ab- und ausschweifender Erzählstruktur selbst mehrfach vorund zurückgeblättert wird, nicht zuletzt, um dadurch dem Tod zu entkommen. Diese digressive Erzählform setzt sich, wenn auch weniger ostentativ, in La peau de chagrin fort, besonders im ersten Romankapitel Le talisman. Nachdem Raphael de Valentine direkt zu Beginn seine letzten ökonomischen Möglichkeiten am Spieltisch erschöpft hat und sich daraufhin in die Seine werfen will, stellt sich eine Verzögerung ein. De Valentine schiebt den bereits mit sich verabredeten Selbstmord auf die Nacht hinaus, sodass sich ein zeitlicher Überhang bildet, in dem er, »cet homme presque mort« (PC 67), ziellos durch die Straßen von Paris wandert. Das Antiquitätengeschäft, das er schließlich wie aus Zufall bemerkt und, um seinen überreizten Sinnen Zuflucht zu verschaffen, betritt, ist nichts anderes als die exakte Entsprechung dieses unbestimmten Zwischenbereichs von Leben und Tod. In dem magasin d’antiquités findet sich nicht allein der für Kapitel und Roman titelgebende, insgesamt handlungsbestimmende Talisman. Angefüllt mit einer fantastisch anmutenden Fülle an Dingen, scheint das mehrstöckige Gebäude den begehbaren Mikrokosmos einer Welt zu bilden, die sich nicht mehr überblicken und in das Maß einer einheitlichen Ordnung fügen lässt. In ihrer verschachtelt, unübersichtlich wirkenden Architektur realisieren die Zimmerfluchten eine geradezu enzyklopädische Sammlung, die völlig ungleichartige Gegenstände der Natur11 Honoré de Balzac: La comédie humaine. Bd.10: Études philosophiques, hg. von Pierre Georges Castex. Paris 1979 Verweise auf diese Quelle werden in der Folge durch die Sigle (PC) abgekürzt. 12 Edgar Pankow: Erschöpfende Lektüren. Wie Sigmund Freud und Honoré de Balzac die letzten Enden des Textes beschreiben. In: Figuration 16 (2015), S. 51-69, S. 59.

Buchstäblichkeit der Dinge in Balzacs La peau de chagrin

Abbildung 1: PC 57

und Kulturgeschichte, der Künste, ihrer verschiedenen Medien und Materialien, der Mythologie und Religion in ein unterschiedsloses Nebeneinander bringt: Au premier coup d’œil, les magasins lui offrirent un tableau confus, dans lequel toutes les œuvres humaines et divines se heurtaient. Des crocodiles, des singes, des boas empaillés souriaient à des vitraux d’église, semblaient vouloir mordre des bustes, courir après des laques, ou grimper sur des lustres. Un vase de Sèvres, où madame Jacotot avait peint Napoléon, se trouvait auprès d’un sphinx dédié à Sésostris. Le commencement du monde et les événements d’hier se mariaient avec une grotesque bonhomie. (69) In der sich anschließenden, über mehrere Seiten aufgebauten Beschreibung des Interieurs öffnet das Antiquariat einen verwinkelten Ort der Gleichzeitigkeit und Pluralität, ermöglicht die Nachbarschaft und Vermengung von Gegenständen, die aus unterschiedlichen Erdteilen, Zeiten und semantischen Ordnungen stammen. Unterschiedliches wird in die Simultaneität des Raums transponiert, ohne dadurch seine Widersprüchlichkeit zu verlieren. Ontologische Unterscheidungen verlieren ebenso an Eindeutigkeit, wie die zeitliche Abfolge der Erzählung in Unordnung

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gerät. Dass der Besuch des merkwürdigen Antiquariats einen Aufschub oder Umweg gegenüber dem selbstgewählten Ende hätte darstellen sollen, wird durch eine Dingwelt verunsichert, deren literarische Beschreibung im semantischen Niemandsland zwischen Tod und Leben herumgeistert und die Unterscheidung zwischen menschlichem Subjekt und materiellem Objekt undeutlich werden lässt.13 Denn einerseits ist das Interieur als ein Raum der Leblosigkeit konnotiert, der dadurch auch das Ende des Protagonisten vorwegnimmt. Weniger Institution der Verwahrung und der bewussten, Ansprüchen der Vollständigkeit und einer chronologischen, auf die Gegenwart zulaufenden Überlieferung verpflichtet, fungiert es vielmehr als Sammel- und Erscheinungsfläche von Dingen, die ihren ursprünglichen Verwendungszweck überdauert und verloren haben, in ihrer verwitterten Materialität als Trümmer verharren:14 »débris«, der fragmentarisch erhaltene Rest, das Abgetragene. »Tous les pays de la terre semblaient avoir apporté là quelque débris de leurs sciences, un échantillon de leurs arts. C’était une espèce de fumière philosophique auquel rien ne manquait.« (PC 69) Der Text inszeniert einen archäologischen Blick15 auf diese materiellen Reste einer Geschichte, die in ihrer Heterogenität und bisweilen schadhaften Gegenständlichkeit kein Ganzes bilden und sich der Annahme einer kontinuierlichen, auf ein Ziel hin verlaufenden Chronologie sperren. Der Moment des Todes, dem de Valentin zu entfliehen suchte, findet sich in Gestalt eines allgegenwärtigen »poussière obstinée« (PC 70), der sich, als Material ohne Zahl und distinkte Form, unterschiedslos über alle Dinge legt. Hierin zeigt sich auch eine Geschichtsphilosophie im Kleinen: Anstatt in der horizontalen Linie der Seine fortzutreiben, erstickt de Valentin unter den Trümmern und Resten einer sich fortlaufend ansammelnden Geschichte, die sich vertikal über ihm aufschichtet: »Il étouffait sous les débris de cinquante siècles évanouis.« (PC 74) Andererseits wirken die Stille und Bewegungslosigkeit der in den Kammern gleichgültig übereinander gehäuften Dinge wie deren kurzes, unter heimlichem Geflüster verabredetes Innehalten, ein szenisches tableau vivante, das sich jeden Moment wieder verflüchtigen und in Bewegung setzen könnte. Tatsächlich ist es die bloße Materialität des Vorhandenen, die dem Archiv eine unheimliche Lebendigkeit verleiht. Aus den ursprünglichen Zwecksetzungen und Verwendungszusammenhängen voriger Besitzverhältnisse entlassen, gerät das Gegenständliche auf Abwege, geht unerwartete Nachbarschaften und Verbindungen ein, die auch durch die Instanz des Besitzers und Sammlers nicht übersehen und abgeriegelt 13 Vgl. auch die Darstellung von Uta Schürmann: Komfortable Wüsten. Das Interieur in der Literatur des europäischen Realismus des 19. Jahrhunderts. Köln 2015, S. 127. 14 Vgl. Doerte Bischoff: Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert. München 2013, S. 238. 15 Im Avant‐propos der Comédie humaine vergleicht Balzac seine Rolle als Schriftsteller mit einem »achéologue du mobilier social«. Honoré de Balzac: La Comédie humaine. Bd. 1: Études de mœurs. Scènes de la vie privée, hg. von Pierre Georges Castex. Paris 1988, S. 7-20, S. 11.

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werden können. Dem umherwandernden Besucher ist daher keineswegs die ruhige, distanzierte Betrachtung gestattet, die er sich beim Eintritt noch erhofft hatte. Vielmehr sieht er sich von einer Dingwelt vereinnahmt, die, »animées d’un leger mouvement« (PC 68), eine Eigendynamik entwickelt, Bedeutung generiert und seine Phantasie über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg durch »des pays, des âges, des regnes« (PC 72) der Geschichte trägt. Die passive Hartnäckigkeit des Staubs steigert sich zu einer Lebendigkeit des Gegenständlichen, die den ontologischen Status des Betrachters verunsichert und mit dem Gegenstand seiner Betrachtungen zu vertauschen droht: »il était comme ces objets curieux, ni tout à fait mort, ni tout à fait vivant.« (PC 73) Das »chaos d’antiquités (69) ist dadurch weit mehr als effektvoll beleuchtete und mit dem Übermaß des Historismus ausstaffierte Hintergrundszenerie eines phantastischen Romangeschehens. Die produktive Kontaktzone unterschiedlicher Gegenstände und Zeiten, der Übergang zwischen dem toten Plunder und einer unheimlichen Lebendigkeit, weist insofern eine poetologische Ebene auf, als dass die heterogene Sammlung der Dinge in eine produktive Nähe zu dem literarischen Text gerückt wird, der ihr als mediale Erscheinungsfläche dient. Dies betrifft zunächst eine Annäherung zwischen Gegenständlichkeit und dem Medium der Schrift. Indem die Dinge der Antiqitätensammlung ihren ursprünglichen Verwendungskontext verloren haben und sich wie Strandgut im Medium der Sammlung ablagern, erinnern sie an Modelle, die, ausgehend von Platons Phaidros, die relative Zeitenthobenheit von Schrift als strukturelle Gefahr des Sinnverlusts und der Sinnverfremdung deuten. Losgelöst vom ursprünglichen Kontext einer im lebendigen Dialog sinnstiftenden Stimme wird die Schrift zu einer Waise, die in ihrer Not und Wehrlosigkeit in schlechte Gesellschaft gerät: Ist sie aber einmal niedergeschrieben, treibt sich jedes Wort allenthalben wahllos herum, in gleicher Weise bei denen, die es verstehen, wie auch genau so bei denen, die es nichts angeht, und weiß nicht zu sagen, zu wem es kommen sollte und zu wem nicht. Wenn es dann schlecht behandelt wird und ungerechterweise geschmäht wird, so bedarf es immer seines Vaters, der ihm helfen sollte: denn selbst kann es weder sich wehren noch sich helfen.16 Die der Sammlung eigene Unordnung, die Mobilität der darin enthaltenen Dinge, die aus allen Teilen der Weltgeschichte stammen, weisen auf eine solche, der Schrift inhärente Ablösung von einem einheitlichen Ursprung oder Kontext hin. Wie auch de Valentine, der erst die Mutter und dann den Vater verliert, handelt es 16 Platon: Phaidros. In: Sämtliche Werke Band 2. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 604, 605. Zu dieser Stelle und der Figur der Schrift als einer Waise vgl auch: Georg Mein: Schriftlichkeit als Schwellenraum. In: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld 2008, S. 65-96.

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sich um Waisenkinder. Daraus folgen allerdings keine Passivität und Bedürftigkeit. Genau umgekehrt wird die verzweigte Räumlichkeit des Antiquariats zum Bild einer Mehrdimensionalität der Schrift, die durch Vielgestaltigkeit und ein dynamisches Geschehen bestimmt ist. Besonders deutlich wird dies, wenn die Sammlung explizit unter der Verwendung von poetologischen Kategorien als »poème« oder »œuvre« beschrieben wird: Cet océan de meubles, d’inventions, de modes, d’œuvres, de ruines, lui composait un poème sans fin. Formes, couleurs, pensée, tout revivait là; mais rien de complet ne s’offrait à l’âme. Le poète devait achever les croquis du grand peintre qui avait fait cette immense palette où les innombrables accidents de la vie humaine étaient jetés à profusion, avec dédain. (PC 71,72) Der »océan de meubles« zitiert einen nur wenige Seiten zuvor genannten »l’océan de littératures« (PC 64) und stellt dadurch eine systematische Beziehung zwischen beiden Begriffen her. Dies bedeutet nicht allein, dass die Gegenstände der Sammlung jeweils eine komplizierte Reisegeschichte hinter sich haben, die erstmal erzählt werden muss. Der seinen Verwendungszweck überdauernde Rest, die Ruine, das Fragment (»debris«), wird zum Ausgangspunkt eines Schreibens, in dem sich diese verschiedenen Materialien ansammeln, rekombinieren und ausstellen. In ihrer Gestalt als »poème sans fin« und dem einhergehenden Mangel einer systematischen Ordnung, erscheint die Sammlung als Prozess einer nicht endenden Semiose17 und wird zur Erscheinungs- und Kontaktfläche von unterschiedlichen Gegenständen, Materialien, Semantiken und Narrativen. Die resultierende Ablösung und Verselbständigung realisiert sich auch in der sprachlichen Form der Textstelle: »Cet océan de meubles […] composait un poème sans fin.« Die Sammlung wird personalisiert, tritt als grammatisches Subjekt des Schreibens auf, das sich vom Menschen ablöst. Und auch: Die sprachlich ausufernden, sich in immer neuen Anläufen in den unterschiedlichen Oberflächen und Gegenständen verlierenden Deskriptionen nehmen in ihrer scheinbar dysfunktionalen Sperrigkeit gegenüber der Fortentwicklung eines Handlungsstrangs zugleich die Widerborstigkeit eines Gegenstandes vorweg, der das Schicksal des Protagonisten neubestimmt und sich zur treibenden Kraft des Romanverlaufs entwickelt. Genauso wie das Chagrinleder gegenüber dem menschlichen Protagonisten ein fatales Eigenleben entwickelt, so verbinden sich die in den Dingen des Antiquariats aufgestauten narrativen Ener17 In der Erläuterung seines Textbegriffs greift Roland Barthes auf eine ähnliche Figur der Räumlichkeit zurück. Text versteht er als »un espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle: le texte est un tissu des citations, issues des mille foyers de la culture.« Roland Barthes: La mort de l’auteur. In ders.: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris 1984, S. 67.

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gien für den Betrachter zu immer neuen Erzählungen, die keine finite Form erreichen und kein Ganzes bilden. Dinge werden lesbar – Schrift wird zu einem Ding.

Buchstabenfetisch Vor diesem Hintergrund ist es keine akzidentelle Eigenschaft, dass es sich bei dem magischen Talisman, auf den de Valentin im letzten Stockwerk der Sammlung schließlich trifft, um ein Schriftstück, eine mit arabischen Buchstaben beschriebene Tierhaut handelt. In Erinnerung gerufen werden dadurch Vorstellungen von magischen Praktiken, die Schrift als einen Gegenstand begreifen, der heilen oder töten kann.18 Daher verwundert es auch nicht, dass der auf seine wissenschaftliche Bildung nicht wenig stolze de Valentin den scheinbar von innen heraus strahlenden Gegenstand zunächst von allen Seiten beäugt und als Budenzauber abtut, auch wenn er seine Erklärungsversuche nach dessen materieller Beschaffenheit und handwerklichen Bearbeitung schließlich mit kleinlautem Verweis auf die »superstitions de l’Orient« (PC 82) und wundersamen Geheimnisse einer »industrie du levant« (PC 83) abbrechen muss. Gegenüber der Versicherung des greisen Besitzers, dass es sich tatsächlich um einen Allmacht verleihenden Gegenstand handelt, bleibt der Talisman für de Valentin ein von menschlichen Händen Gemachtes, das die Spuren seiner Bearbeitung lediglich geschickt getilgt hat: ein Fetisch.19 Platons Herabstufung der Schrift zu einem »Schattenbild«, der er »die lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden«20 gegenüberstellt, findet sich so in einem Modell der Materie wieder, die ihre Bedeutung oder Kraft allein durch eine menschliche Projektion erworben haben kann.21 Im Scheitern dieser kritischen Geste der Entzauberung und Distanzierung erweitert sich der Resonanzraum der Sammlung um eine räumlich und zeitlich entfernte Wirklichkeitsvorstellung und bringt die Orientierungsversuche des Besuchers zusätzlich ins Schwindeln: »Cette vision avait lieu dans Paris, sur le quai Voltaire, au dix‐neuvième siècle, temps et lieux où la magie devait être impossible.« (PC 79) Inmitten einer Stadt, deren Straßennamen 18 Zur Bedeutung von Schrift im Zusammenhang mittelalterlicher Vorstellungen der Magie vgl. Don C. Skemer: Binding Words: Textual Amulets in the Middle Ages. Pennsylvania State University Press 2006. 19 Zur Etymologie des Fetischbegriffs schreibt Hartmut Böhme: »Dem Wort fetisso lat. factitius zugrunde, das Hergestellte, im Gegensatz zum Natürlichen und Gewachsenen (terrigenus).« Hartmut Böhme: Moderne und Fetischismus. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 179. 20 Platon: Phaidros, S. 605. 21 »Was ist ein Fetisch? Etwas, das für sich genommen nichts, sondern bloß die leere Leinwand ist, auf die wir irrigerweise unsere Phantasien, unsere Arbeit, unsere Hoffnungen und Leidenschaften projiziert haben.« Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Berlin 2015, S. 331.

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die Erträge der Aufklärung bereits verbucht haben, bildet das Chagrinleder eine halb verblichene Schrift, die, wie in einem Palimpsest, durch die jüngeren Schichten an der Oberfläche hindurchscheint.22 Seiner zeitlichen Struktur nach erscheint das erste Kapitel daher als eine mise en abyme, deren unterschiedliche Ebenen zueinander im Verhältnis einer spezifischen Entsprechung stehen. Dies betrifft einerseits ein Spiel mit den literarischen Titeln: Lassen sich die »innombrables accidents de la vie humaine« als Anspielung auf den umfassenden Rahmen der Comédie humaine lesen und der »fumière philosophique« auf die »Etudes philosophiques«, deren ersten Teil La peau de chagrin bildet, dann sind diese jeweiligen Werkzusammenhänge in dem Antiquariat enthalten und, als logisch‐unlogische Folge, auch der individuelle Roman, in dem es auftritt. Tatsächlich wird die Aufmerksamkeit de Valentines schließlich auf »cette PEAU DE CHAGRIN« (PC 82) gelenkt, die im letzten Raum der Sammlung wartet – und zwar als Text. Auch auf einer zeitlichen Ebene weisen die unterschiedlichen Ebenen der Erzählung eine strukturelle Entsprechung auf. So bildet der Besuch des Antiquariats eine Unterbrechung und Verzögerung von Valentins Selbstmordplänen. Das Antiquariat wiederum verstärkt diesen Aspekt der narrativen Verzögerung durch seine weitläufige, ausführlich geschilderte Räumlichkeit. Innerhalb dieser Sammlung befindet sich ein Gegenstand, der de Valentins Ende wiederum aufschiebt (»Hé bien, votre suicide n’est que retardé.« PC 88) und durch seine magische Beschaffenheit einen beharrlichen Fremdkörper innerhalb der Geschichtsphilosophie einer linearen, auf die Zukunft hin ausgerichteten Entwicklung bildet. Schließlich realisiert sich diese undeutliche Zeitlichkeit auch auf der Ebene der konkreten Schrift. Denn die französische Übertragung des arabischen Originals bildet einerseits eine Form, die sich nach unten hin verjüngt und dadurch den Punkt des eigenen Verschwindens, der zugleich de Valentins Tod und das Ende der Erzählung sein wird, graphisch vorwegnimmt. Andererseits wird dieses Modell eines zeitlichen Fluchtpunkts insofern konterkariert, als die Verse in ihrer räumlichen Anordnung zum Dreieck ihre eigene Gegenständlichkeit und Schriftbildlichkeit betonen, in deren Simultaneität und Räumlichkeit eine klare zeitliche Zielführung aufgeho22 Diese Figur der gleichzeitigen Präsenz unterschiedlicher, miteinander in Widerspruch stehender Sinnfelder und ihre Beschreibung in der Metaphorik der Schicht findet sich ebenfalls in Böhmes Analyse zur Rolle des Fetischismus in der Moderne: »Bei Phänomenen, die so uralt sind wie der Gaben- und Warentausch, können historische Strukturen auch dann robust bleiben, wenn sie scheinbar geschichtlich erledigt oder, im Prozess der Ausdifferenzierung, subsystematisch segmentarisiert werden. Das will sagen: Wir müssen bei der Analyse der Moderne viel stärker mit unreinen Mischungszuständen, widersprüchlichen Verkoppelungen, schwer durchschaubaren Synkretismen rechnen.« Hartmut Böhme: Moderne und Fetischismus, S. 288.

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Abbildung 2: PC 84

ben ist.23 Die magische Tierhaut ist Rest oder Spur einer früheren, archaischen, scheinbar aber nicht zu tilgenden Zeitschicht, die sich in die Gegenwart der Erzählung eingeschleust hat. Das Antiquariat wird zu einem Ort, an dem sich fremd und eigen, Vergangenheit und Gegenwart, aktiv und passiv, miteinander mischen. Diese Struktur einer mise en abyme öffnet einen buchstäblichen Abgrund im zeitlichen Verlauf des Romans, der sich in der Folge noch vertieft, indem der Erzähler den Rahmen einer ausschließlich menschlichen Geschichtsschreibung übersteigt und das Wissensfeld der Geologie aufruft. Unvermittelt, so scheint es zunächst, wendet er sich an den Leser, um ihn mit einem der Gründer der Paläontologie, Georges Cuvier, vertraut zu machen: 23 Zu diesem räumlichen Verständnis von Schrift vgl. Hermann Doetsch: »Mehr noch als einzig das Sehen adressiert Schrift so den Raum: Schreiben ist eine Raumkunst, deren grundlegendes Prinzip in einem Prozess der Anordnung besteht, die Marken in bestimmte Relationen zueinander setzt und auf diese Weise stabile, reproduzierbare Zeichen ausbildet.« Hermann Doetsch: Schrifträume. In: Jörg Dünne: Handbuch Literatur und Raum. Berlin 2015, S. 73-87, S. 78.Vgl. auch Monika Schmitz-Emans: Schrift als Aufhebung der Zeit. Zu Formen der Temporalreflexion in visueller Poesie und ihren spekulativen Voraussetzungen. In: Arcadia: Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 26 (1991), S. 1-32, S. 3.

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Vous êtes‐vous jamais lancé dans l’immensité de l’espace et du temps, en lisant des œuvres de Cuvier? Emporté par son génie, avez vous plané sur l’abime sans bornes du passé comme soutenu par la main d’un enchanteur? En découvrant de tranche en tranche, de couche en couche, sous les carrières de Montmartre ou dans les schistes de l’Oural, ces animaux dont les dépouilles fossilisées appartiennent à des civilisations antédiluviennes, l’âme est effrayée d’entrevoir des milliards d’années […] Il réveille le néant sans prononcer des paroles artificiellement magiques, il fouille une parcelle de gypse, y aperçoit une empreinte et vous crie: »Voyez!« Soudain les marbres s’animalisent, la mort se vivifie, le monde se déroule! (PC 75) Der explizite Bezug auf Cuvier ist im Zusammenhang der Textstelle deshalb so bedeutsam, da sein Name für einen grundlegenden Paradigmenwechsel des Zeitund Naturverständnisses am Beginn des 19. Jahrhunderts steht. Cuviers Arbeiten zum Alter und der Entstehung von Fossilien münden in der Annahme, dass die Erde weitaus älter ist, als dies zuvor angenommen wurde und in ihrer Geschichte eine Reihe von abrupten, katastrophalen Veränderungen der Oberfläche und des Klimas durchlaufen hat. Fossilien sind demnach nichts anderes als die materiellen Abdrücke von Spezies, die in der Folge dieser Umwälzungen ausgestorben sind. Dadurch vertiefen sich nicht allein die für das Alter der Erde veranschlagten Zeiträume zu einem »abîme sans borne«, auch der Begriff von Zeit durchläuft eine Änderung.24 Einerseits wird die anorganische Natur in einer lebendigen, ereignisvollen Entwicklungsgeschichte entdeckt, die, darin der menschlichen Historie gleichend, durch Kontingenz, Umbrüche und Offenheit gekennzeichnet ist.25 Andererseits lässt der erdgeschichtliche, mit den Spuren ausgestorbener Spezies angefüllte Tiefenraum eine Zeitform absehbar werden, die den menschlichen Kategorien von Entwicklung und Kontinuität fremd ist. Der Begriff der Zeit, „ce que nous avons nommé LE TEMPS“ (PC 75), verändert sich und wird verräumlicht. Die Gegenwart bildet eine dünne Schicht von zwei Fuß, unter deren Oberfläche sich die Spuren einer Verwirrung erzeugenden Geschichte vom Entstehen und Verschwinden kompletter Ökosysteme abzeichnen. In dieser Konstellation werden eine Reihe 24 Zur Wissensgeschichte der Geologie vgl. die umfassende und einschlägige Darstellung von Martin J. Rudwick: Bursting the Limits of Time: The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution. Chicago und London2005. 25 Zum engen Verhältnis von Geologie und antiquarischem Wissen zum Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. auch David Sepkoski: The Earth as Archive: Contingency, Narrative, and the History of Life. In: Lorraine Daston (Hg.): Science in the Archive: Past, Present, Futures. Chicago und London 2017, S. 53-84, S. 57: »What was particularly significant about geology as it emerged in the late eighteenth century […] is that its practitioners began to conceive of earth’s history as a contingent sequence of events – a narrative – and that this narrative could be deciphered in much the same way that erudite historians and antiquarians reconstructed human history from the detritus left behind by civilisations.«

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an Korrespondenzen zwischen dem Antiquariat und dem Diskurs der Erdgeschichte auffällig: Der vertikale, in der Textstelle auch syntaktisch nachvollzogene Abstieg, »de tranche en tranche, de couche en couche«, in die unterhalb von Paris liegenden Erdschichten folgt einer stratigraphischen Logik, insofern er in den Abgrund einer geologischen Tiefenzeit hinabführt, die in Milliarden von Jahren zu messen ist. Die Räumlichkeit des Antiquariats öffnet sich auf eine Abfolge von übereinanderliegenden Gesteinsschichten, die das Archiv einer nicht‐menschlichen Geschichte bilden. Die Aufforderung »Voyez!« des Erzählers ist Zitat und Wiederhall des »Voyez, monsieur, voyez!« (68), mit dem der cicérone den Protagonisten beim Eintritt in das Antiquitätengeschäft begrüßt, sodass, in Folge der Parallelisierung, die unterschiedlichen Archive angenähert werden. In beiden Fällen vollzieht sich eine Verräumlichung der Zeit hin zu einer Simultaneität und Überlappung von unterschiedlichen Prozessen, die sich im Bild einer übereinanderliegenden Schichtung visualisiert.26 Beide Wahrnehmungsformen vereint dadurch einerseits, dass sie eine erhöhte Aufmerksamkeit für die genuin materiellen Spuren der Vergangenheit, ein »Aufgehaltensein bei den materialen Grundlagen aller geschichtlichen Rekonstruktion« zeigen.27 Ihnen gemein ist andererseits, dass diese Aufmerksamkeit keiner toten, rein passiven Materie gilt. Während sich de Valentin direkt zu Beginn des Romans ruiniert und die menschlichen Figuren immer wieder als seelenlose Körper thematisiert werden, wirken die Schätze und Trümmer des Antiquariats lebendig (»animées«) und der Blick des Geologen richtet sich auf die fossilen Reste einer Erdgeschichte, die belebt und dynamisch scheint. Aus einer wissensgeschichtlichen Perspektive ist hinzuzufügen, dass Balzacs Annäherung zwischen Geschichte und Geologie in den Räumlichkeiten des Antiquariats eine mitunter wörtliche Übereinstimmung mit der Metaphorik des von ihm gepriesenen Autors aufweist. Direkt zu Beginn der Recherches sur les ossemens fossiles de quadrupèdes bezeichnet Georges Cuvier seine Arbeit als die eines Philologen und Antiquars: Antiquaire d’une espèce nouvelle, il m’a fallu apprendre à déchiffrer et à restaurer ces monumens, à reconnaître et à rapprocher dans leur ordre primitif les fragment épars et mutilés dont ils se composent; à reconstruire les êtres antiques auxquels ces fragmens appartenoient;28 26 Zur Metapher der Schicht und ihrer Bedeutung im 19. Jahrhundert vgl. Peter Schnyder: »übereinander/nacheinander. Zur Metaphorologie der Schicht« In: Gunhild Berg, Martina King und Reto Rössler (Hg.): Metaphorologien der Exploration und Dynamik (1800/1900). Historische Wissenschaftsmetaphern und die Möglichkeiten ihrer Historiographie. Archiv für Begriffsgeschichte 59 (2017). Berlin 2018, S. 83-99. 27 Stephan Kammer: Überlieferung: Das philologisch‐antiquarische Wissen im frühen 18. Jahrhundert. Berlin und Boston 2017, S. 222. 28 Georges Cuvier: Recherches sur les ossemens fossiles de quadrupèdes. Paris 1812, S. 1.

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Zeit wird von Cuvier als Prozess verstanden, der sich in die Erde einschreibt, zu einer Schrift verdichtet. Die Arbeit des vergleichenden Anatomen wird dementsprechend zur Textkritik, insofern er sich mit der Entzifferung eines nur fragmentarisch erhaltenen und mit Lücken versehenen Gegenstandes auseinanderzusetzt. Durch das Verb »déchiffrer« werden die oftmals nur bruchstückhaft erhaltenen fossilen Überreste metaphorisch zu einer entstellten, von Ellipsen unterbrochenen Schrift, deren Bedeutung durch den Leser zu erschließen ist.29 Die erdgeschichtlichen Epochen bilden die Kapitel eines ursprünglich zusammenhängenden, in der erhaltenen Form jedoch lückenhaft‐unvollständigen Buches, dessen Entzifferung eine nicht‐menschliche Zeitlichkeit und Dynamik entbirgt.

Au milieu des ruines Unter den Begriffen des Rests und der Ruine vollzieht La peau de chagrin eine Engführung von geologischer Stratigraphie, den Gegenständen der Antiquitätensammlung und dem Medium der Literatur, die sich bis in die wörtliche Formulierung zurückverfolgen lässt. Während de Valentin »sous les débris de cinquante siècles« (PC 74) förmlich erstarrt, situiert sich der Mensch in einer erdgeschichtlichen Perspektive »sous tant d’univers en ruines« (PC 75), wodurch wiederum die »ruines« (PC 71) aufgerufen werden, aus denen das Antiquariat besteht. Balzacs Text bildet ein räumliches Zeitmodell, das durch die Nachbarschaft und Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen, mitunter widersprüchlichen Zeiten und Gegenständen bestimmt ist. Dadurch entsteht jedoch kein rückwärtsgewandtes und bewahrendes Geschichtsbild. Vielmehr zeichnet sich vor dem Hintergrund der Französischen Revolution eine historische Situation ab, die durch Diskontinuitäten und Widersprüche gekennzeichnet ist. Wenn Raphael de Valentin im Anschluss an seinen Besuch des Antiquariats unversehens in eine ausgelassene Abendgesellschaft gerät, welche die Gründung einer neuen Zeitung feiert, wird Geschichte erneut in der Figur einer Ruinenlandschaft gegenwärtig: Entre les tristes plaisanteries dites par ces enfants de la Révolution à la naissance d’un journal, et les propos tenus par des joyeux buveurs à la naissance de Gargantua, se trouvait tout l’abîme qui sépare le dix‐neuvième siècle du seizième. 29 Zu dieser Vorstellung von Stratigraphie als einer lesbaren Schrift vgl. Adelene Buckland: Novel Science: Fiction and the Invention of Nineteenth-Century Geology. Chicago und London,, S. 14: »It was in the nineteenth century that the strata of rocks and fossils became widely understood as chapters in a history of the earth spanning unimaginable millions of years«. Vgl. dazu auch Oliver Völker: Einschiebsel: Mediale Eigenzeiten der Erdgeschichte in Stifters Der Nachsommer. In: Friedrich Balke, Bernhardt Siegert, Joseph Vogl (Hg.): Tiefenzeit und Mikrozeit. Archiv für Mediengeschichte 18 (2019), S. 107-116.

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Celui‐ci apprêtait une destruction en riant, le nôtre riait au milieu des ruines. (PC 89,99) Die Ereignisse der Französischen Revolution markieren eine Unterbrechung geschichtlicher Kontinuität. Es ist eine Abfolge von Krisen, die insofern nicht als Ereignisse innerhalb der Zeit zu verstehen sind, als dass sich die in einer solchen Beschreibung vorausgesetzten Begriffe von zeitlicher Kontinuität radikal ändern.30 Es ist ein Abgrund, der wörtlich an den »abîme sans bornes du passé« erinnert, der sich in der Vergegenwärtigung der erdgeschichtlichen Zeitalter auftut. Dies besitzt auch eine Entsprechung auf der Ebene der literarischen Darstellungsverfahren. Über den Bezug auf Rabelais ruft Balzac eine literarische Tradition auf, zu der keine Kontinuität mehr zu bestehen scheint und die dadurch ihrerseits nur noch als ein zerstörter Rest aufgerufen und zitiert werden kann. Zusätzlich öffnet sich der Text durch das Bildzitat aus Sternes Tristram Shandy sowiedie Abbildungen des Chagrinleders und seiner Übersetzung auf bildliche Medien, die als Materialien in den Text inkorporiert werden. In der widersprüchlichen Konstellation von Kindern, die inmitten von Ruinen lachen, moduliert Balzacs Text Zeit als eine heterogene Gleichzeitigkeit, die sich an einer Vielfalt von Zeiten und Gegenständen verdichtet. Das Antiquariat verschränkt diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Zeitepochen im Bild der Schichtung. Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie sie von Reinhart Koselleck skizziert wurde.31 Die Materialität von Sedimentierung und geologischer Schichtung ist jedoch mehr als bloß der metaphorische Bildspender für eine Wiederkehr oder störrische Präsenz eines untergründig Vergangenen, das innerhalb der Gegenwart wieder auftaucht. Denn als Roman ist La peau de chagrin ebenso auf Gegenstände verwiesen, wie dies für seine menschliche Hauptfigur gilt. Während das Tierleder als magischer Gegenstand und Fetisch auf eine als fremd imaginierte Kultur weist, 30 Zu diesem Umbruch im Zeitverständnis vor dem Hintergrund der Französischen Revolution vgl. Peter Fritzsche: Stranded in the Present. Modern Time and the Melancholy of History. Cambridge, Massachusetts und London 2004. 31 Reinhart Koselleck: Zeitschichten: Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2003 »Zeitschichten« verweisen, wie ihr geologisches Vorbild, auf mehrere Zeitebenen verschiedener Dauer und unterschiedlicher Herkunft, die dennoch gleichzeitig vorhanden und wirksam sind. Auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen […] wird mit »Zeitschichten« auf den Begriff gebracht. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Frankfurt a.M. 2003, S. 9. Unter Rückgriff auf diese räumliche Vorstellung einer synchronen Präsenz unterschiedlicher Prozesse mit entwickelt Sabine Schneider ein Modell der literarischen Moderne. Vgl. Sabine Schneider, Heinz Brüggemann: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. München 2011, S. 7-35.

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fungiert das Fossil als natürliches Zeichen einer Zeit, die vor dem Menschen liegt.32 Das Chagrinleder ist kein bloßer Fetisch, der sich aus der menschlichen Projektion von Bedeutung auf eine ansonsten belanglose Oberfläche erklären ließe. Versucht de Valentin, das Chagrinleder loszuwerden, indem er es in einem Brunnen versenkt, treibt es kurze Zeit später wieder an der Oberfläche und findet seinen Weg an den morgendlichen Frühstückstisch. Der Roman handelt daher von einer nicht zu umgehenden Material- und Gegenstandsgebundenheit in der Entwicklung und Veränderung von Konzepten der Geschichte und Zeit, welche die Position des Menschen dezentralisiert. Über die Beschaffenheit des Chagrinleders und die Thematisierung der Ruine als einer poetologischen Kategorie stellt diese besondere Bedeutung von Dingen und Gegenständlichkeit auch einen Bezug zum Medium der Schrift her. Diese gewinnt an Autonomie und Eigenständigkeit, tritt als ein störrisches Material auf, und weist auf die Begriffe der Lumpen und der Ruine, den »Abfall der Geschichte«33 , wie sie Walter Benjamin als zentrale Begriffe einer Poetik der Moderne entwickelt und durchgearbeitet hat.34

Literatur Balzac, Honoré de: In: La comédie humaine. Band 10. Études philosophiques, hg. von Pierre Georges Castex. Paris 1979. Honoré de Balzac: La Comédie humaine. Bd. 1: Études de mœurs. Scènes de la vie privée, hg. von Pierre Georges Castex. Paris 1988. Barthes, Roland: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris 1984. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Band V 2, hg. von Frank Tiedemann. Frankfurt a.M. 1991. Bennett, Jane: »The Force of Things: Steps Toward an Ecology of Matter« In: Political Theory, 32 (2004), S. 347-372. Bischoff, Doerte: Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert. München2013. Böhme, Hartmut: Moderne und Fetischismus. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006. Buckland, Adelene: Novel Science: Fiction and the Invention of Nineteenth-Century Geology. Chicago und London Press 2013. Cuvier, Georges: Recherches sur les ossemens fossiles de quadrupèdes. Paris 1812. 32 Vgl. W.J.T. Mitchell: Romanticism and the Life of Things: Fossils, Totems, and Images. In: Critical Enquiry 28 (2001), S. 167-184, S. 178: »Fossil and totem are windows into deep time and dream time respectively, into the childhood of the human race and the earliest stages of its planet.« 33 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 575. 34 Zum Bild von Zeitschichten in Benjamins Geschichtsmodell vgl. auch Christian J. Emden: Walter Benjamins Archäologie der Moderne: Kulturwissenschaft um 1930. München 2006.

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Realität und Symbolfähigkeit Hanna Segals Geigenspieler und Anton Čechovs »Der schwarze Mönch« Maren Scheurer

Einleitung In ihrem einflussreichen Vortrag »Notes on Symbol Formation« (1957/1979) beschreibt die polnisch‐britische Psychoanalytikerin Hanna Segal gleich zu Beginn zwei Patienten: zwei Geigenspieler. Der erste Patient war ein Schüler Yehudi Menuhins,1 der sich wegen einer Schizophrenie in stationärer Behandlung befand. »He was once asked by his doctor why it was that since his illness he had stopped playing the violin. He replied with some violence: ›Why? do you expect me to masturbate in public?‹« Der zweite Patient, der sich bei Segal in psychoanalytische Behandlung begeben hatte, träumte eines Nachts davon, mit einem jungen Mädchen zusammen Geige zu spielen. Im Rahmen der Traumdeutung sprach er über seine Reaktion. »He had associations to fiddling, masturbating etc., from which it emerged clearly that the violin represented his genital and playing the violin represented a masturbation phantasy of a relation with the girl.«2 Segal berichtet von diesen beiden Patienten, weil sie sichtlich beide das Geigenspiel als Symbol für das Masturbieren einsetzen, doch nur der zweite Patient in der Lage ist, dies auch als Symbol zu erkennen. Für den ersten Patienten ist das Symbol dagegen identisch mit der Bedeutung, die es für ihn verkörperte – die Geige ist der Penis und repräsentiert ihn nicht nur. Segal bezeichnet dies, im Gegensatz zur reifen Symbolbildung, als »symbolic equation« oder symbolische Gleichsetzung.3 Ausgehend von diesen Beispielen und Melanie Kleins Theorien über die frühkindliche Entwicklung entwirft Segal eine psychoanalytische Symboltheorie, welche die Fähigkeit zur reifen Symbolbildung zur Voraussetzung der Erkenntnis der Wirklichkeit erklärt. 1 Vgl. M. Quinodoz: »Kreativität und Symbolbildung«, 245. 2 H. Segal: »Notes on Symbol Formation«, 391. 3 Ebd., 393.

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Das mag überraschen, verstehen wir doch gemeinhin das Symbol oder die Metapher als einen Schritt weg von der Realität. Es ist vielmehr ihr Gegenteil, das buchstäbliche Denken, das wir mit dem Realitätssinn in Verbindung bringen, wie auch Achim Geisenhanslüke feststellt: [Buchstäblichkeit] behauptet […] sich […] als ein mächtiges Phantasma, dem ein Versprechen von Stabilität, Verlässlichkeit, Realität und Körperlichkeit innewohnt – das Versprechen, dass Wirklichkeit durch Buchstaben zu bewältigen sei.4 Zu einer buchstäblichen Haltung gehört die wortwörtliche Auslegung, die ›uneigentliche‹, übertragene Bedeutungen ignoriert und am Wortlaut festhält, an dem, was ›tatsächlich‹, ›körperlich‹ auf der Seite zu finden ist – kein Wunder, dass wir mit Buchstäblichkeit etwas Förmlich-Pedantisches ebenso wie etwas VerlässlichWahres verbinden. Und doch wird bei Klein und Segal nicht das buchstäbliche, sondern das symbolische, uneigentliche Lesen der Welt der Schlüssel zu ihrer Erschließung. Damit stellt sich nicht nur die Frage, wie wir vom Symbol zur Wirklichkeit kommen, sondern auch, warum wir trotz allem am »Phantasma« der Buchstäblichkeit festhalten. Ein Blick in Jacob und Wilhelm Grimms Deutsches Wörterbuch liefert weitere Hinweise: »literalis, wörtlich«, lautet ihre Definition für das Adjektiv, »ad literam, stricte, anxie« für das Adverb.5 Hartnäckig hält die Begriffsbestimmung so am Buchstaben, »lit(t)era«, fest, und es ist bezeichnend, dass ihm das Strenge, aber auch das Sorgfältige und Ängstliche zugeordnet wird. Erzeugt das Buchstäbliche Angst und steht damit nicht nur für das Stabile und Verlässliche? Oder dient Buchstäblichkeit vielleicht sogar dazu, eine Angst zu bändigen? Den Zusammenhängen zwischen Buchstäblichkeit, Affekt, Symbolfähigkeit und Wirklichkeitserschließung soll dieser Beitrag nicht nur bei Hanna Segal und Melanie Klein nachgehen, sondern er wird ihn auch durch eine Lektüre der Erzählung »Der schwarze Mönch« (»Чёрный монах«, 1894) von Anton Čechov ergänzen. Čechovs Protagonist Kovrin, als Dozent an der Universität ein leidenschaftlicher und professioneller Leser, leidet an megalomanischen Halluzinationen, die er mit seinem stets prekären Realitätsempfinden nicht immer als solche identifizieren kann. Als er von seinen Halluzinationen jedoch befreit und gleichsam auf eine buchstäbliche Sicht der Welt reduziert wird, verliert er ebenfalls jede Verhaftung mit ihr. Über diese Konstellation verhandelt Čechovs Erzählung auch metapoetische Fragestellungen zum Verhältnis von Realität und Symbol und ihrer Vermittlung durch Literatur. Markus Dauss und Ralf Haekel stellen für das Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich eine neue Tendenz in Philosophie und Literatur fest, sich an der Frage abzuarbeiten, »wie ›buchstäblich‹ Erfahrung und 4 A. Geisenhanslüke: »Buchstäblichkeit«. 5 J. u. W. Grimm: Deutsches Wörterbuch.

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Erkenntnis im ›nervösen‹ Machinen-Zeitalter verfügbar sind«.6 So scheint es auch kein Zufall, dass die Nervenkrankheit des Protagonisten bei Čechov zentrales Medium wird, diesen sich verändernden epistemologischen Möglichkeiten nachzugehen. »Die Rolle der Sprache, des ›Sprachmaterials‹, bei der Sinngenerierung«, so Dauss und Haekel weiter, »wird in diesen Reflexionen nicht nur verstärkt, sondern radikalisiert: Zunehmend gerät nämlich die zugrunde liegende Einheit von Wort und Bedeutung auf den Prüfstand. Dabei wird einerseits die Sinnen-, Affekt- und Körpergebundenheit der menschlichen Erkenntnis stärker denn je hervorgehoben, andererseits der Abbildcharakter der Sprache hinterfragt.«7 Einen Kumulationspunkt dieser Bewegungen sehen Dauss und Haekel in der Entwicklung der Psychoanalyse. In ihrer Sprach- und Symboltheorie sind die Literatur des fin de siècle und die Psychoanalyse daher eng miteinander verbunden. Wenn Segal und Čechov im Folgenden zusammen gelesen werden, geht es deshalb nicht darum, das psychoanalytische Modell auf Čechov anzuwenden oder gar eine psychoanalytische Lesart der Erzählung vorzulegen, sondern darum, ihre Realitäts- und Symboltheorien zu vergleichen. Buchstäblichkeit – das Streben nach Eindeutigkeit und die Auseinandersetzung mit den Buchstaben selbst – führt in diesen Texten konsequent in die Irre. Aus der gemeinsamen Lektüre von Segal und Čechov ergibt sich stattdessen die paradoxe These, dass wir Symbolfähigkeit – die Fähigkeit zu uneigentlichem Denken – brauchen, um die Realität richtig zu würdigen und einzuschätzen.

Hanna Segals Geigenspieler: Zur psychoanalytischen Symboltheorie Das Symbolproblem, das sich Hanna Segal mit ihren beiden Geigenspielern stellt, erweist sich als weitreichende theoretische Herausforderung, die fundamentale Fragen wie die frühkindliche psychische Entwicklung, die Bedeutung von Subjektivität und die Grundlagen unseres Realitätsbezugs berührt. Segal schlüsselt das Problem in ihrem Essay zunächst anhand eines zusätzlichen Beispiels weiter auf. Sie berichtet von einem anderen Patienten, der in einer Werkstunde einen Stuhl gebaut hatte, von dieser Tätigkeit aber nicht berichten konnte, ohne zu erröten, zu kichern, oder zu verstummen. »For him, the wooden stool on which he was working, the word ›stool‹ which he would have to use in connexion with it, and the stool he passed in the lavatory were so completely felt as one and the same thing that he was unable to talk to me about it«.8 6 M. Dauss u. R. Haekel: »Einleitung«, 19. 7 M. Dauss u. R. Haekel: »Einleitung«, 19. 8 H. Segal: »Notes on Symbol Formation«, 391.

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Offenbar gibt es also drei Phänomene, mit denen Segal umgehen muss: Im Fall des ersten Geigenspielers mit einer Form der Symbolisierung, in der eine individuelle symbolische Verknüpfung keine Trennung zwischen Symbol und Symbolisiertem erlaubt, die individuelle Bedeutung zur absoluten Realität gemacht wird und die Eigenständigkeit des Signifikanten völlig in der Übermacht des Signifikats aufgeht. Im Fall des Stuhlbauers geht es um eine Form der Symbolisierung, bei der die in der konventionellen Wortbedeutung versteckte symbolische Verknüpfung wörtlich genommen wird, also eine Form des im engeren Sinne buchstäblichen Denkens, in dem der Signifikant das Signifikat zu beherrschen scheint. Gerade bei Schizophrenen wurde so oft festgestellt, dass »die Worte eine grössere Wichtigkeit haben als die Sachen, die sie bezeichnen«.9 Im konkreten Denken werden Worte so stets zu konkreten Dingen, Objekten oder Handlungen und erschweren die Kommunikation.10 In all diesen Fällen spricht Segal von einer »symbolic equation«, von symbolischer Gleichsetzung, denn beide unterscheiden sich in einem zentralen Punkt vom letzten Fall, dem zweiten Geigenspieler: Dieser nimmt das Symbol als Repräsentationsform wahr, kann also zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung, zwischen Signifikant und Signifikat differenzieren. Im Gegensatz zu den anderen beiden Patienten, welche die spezifischen Eigenschaften des symbolisierenden Objekts nicht mehr wahrnehmen,11 ist dem zweiten Geigenspieler bewusst, dass das Symbol sich vom Symbolisierten unterscheidet. Er betreibt damit die »echte« Symbolbildung. Freud hatte insbesondere in seinen Schriften zur Traumdeutung bereits ausführlich auf die Tendenz des Unbewussten hingewiesen, abstrakte Gedankengänge in konkretes Bildmaterial zu übersetzen. Der manifeste Traum ist dabei oft eine »plastische, konkrete Verbildlichung, die ihren Ausgang vom Wortlaute nimmt«. Diese Verbildlichung wird allerdings gerade durch ihre Buchstäblichkeit »wieder eine Entstellung«, »denn wir haben beim Wort längst vergessen, aus welchem konkreten Bild es hervorgegangen ist«.12 Über solche Feststellungen sowie die weiterführenden Überlegungen zur Darstellbarkeit im Traum deutet sich bei Freud bereits eine Symboltheorie an, die von ihm aber nicht konsequent weiterentwickelt wird. Segals Überlegungen orientieren sich an diesen Ansätzen, aber ausgehend von Melanie Kleins Weiterführung der Freud’schen Theorie erarbeitet sie einen neuen Symbolbegriff, der sich von seinen Vorstufen nicht nur durch das ergänzende Konzept der symbolischen Gleichsetzung unterscheidet. Segal baut den Symbolisierungsvorgang darüber hinaus auch als ein dreiteiliges Bedeutungsverhältnis auf, als eine Beziehung zwischen dem symbolisierten Objekt, dem Objekt, 9 M. Quinodoz: »Kreativität und Symbolbildung«, 245. 10 Vgl. H. Segal: »Notes on Symbol Formation«, 396. 11 Vgl. ebd., 395. 12 S. Freud: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, 120.

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das als Symbol fungiert, und der Person, für die dieser Repräsentationszusammenhang gilt.13 Der Eintrag des Subjekts in die symbolische Beziehung erlaubt Segal, dessen Entwicklungszustand in engsten und wechselseitigen Zusammenhang mit seiner Symbolfähigkeit zu setzen. Segal stellt fest, dass die Fähigkeit zur Symbolbildung mit der frühen Entwicklung des Ichs in Verbindung steht. Sie kann gestört werden, wenn primitive Ängste vor Zerstörung und Aggression überhandnehmen oder nicht genügend durch die Liebe der primären Beziehungsperson aufgefangen werden.14 Melanie Klein, auf die sich Segal dabei direkt bezieht, geht davon aus, dass das neugeborene Kind noch nicht in der Lage sei, Außen und Innen, Phantasie und Realität, Selbst und Objekt zu unterscheiden oder sich selbst und Objekte als Ganzheit wahrzunehmen. Es könne Erfahrungen und Eindrücke also noch nicht vollständig verarbeiten und werde folglich von unbändigen Ängsten bedrängt, die sein Ausgeliefertsein und seine Hilflosigkeit, aber auch seine eigene Aggression reflektierten. Um sich von diesen Phantasien zu befreien, halte das Kind gute und böse Objekte imaginär strikt getrennt und projiziere jegliches Schlechte in die Außenwelt, die sich dadurch mit verfolgenden Objekten fülle. Aus diesem Grund bezeichnet Klein diese Denk- und Empfindungsstruktur als paranoid‐schizoide Position. Solche Abwehrmechanismen, in denen über Spaltung, Projektion und Introjektion Bezüge zwischen Außen und Innen hergestellt werden, sind möglich, weil noch keine klare Trennung zwischen Phantasie und Realität etabliert ist; zugleich tragen sie dazu bei, die Grenzen zwischen Phantasie und Realität immer wieder neu zu destabilisieren. Klein erkennt darin eine frühe Form der Symbolbildung, in der allerdings aufgrund der noch undeutlichen Scheidung von Innen- und Außenwelt das mit symbolischer Bedeutung aufgeladene Objekt nicht als Symbol, sondern »als das ursprüngliche Objekt selbst wahrgenommen« werde.15 Thomas Ogden beschreibt diesen Zustand wie folgt: In a paranoid‐schizoid mode, there is virtually no space between symbol and symbolized; the two are emotionally equivalent. This mode of symbolization […] generates a two‐dimensional form of experience in which everything is what it is. There is almost no interpreting subject mediating between the percept (whether external or internal) and one’s thoughts and feelings about that which one is perceiving. […] In this mode, thoughts and feelings are not experienced as personal creations but as facts, things‐in-themselves, that simply exist. Perception and interpretation are experienced as one and the same. The patient is trapped in the manifest since surface and depth are indistinguishable.16 13 14 15 16

Vgl. H. Segal: »Notes on Symbol Formation«, 392. Vgl. M. Quinodoz: »Kreativität und Symbolbildung«, 243f. M. Quinodoz: »Kreativität und Symbolbildung«, 246. T. Ogden: The Primitive Edge of Experience, 20f.

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Die Möglichkeit der Interpretation einer Wahrnehmung ist in diesem Zustand noch nicht gegeben, sodass primitivere Operationen eingesetzt werden müssen, um mit Phantasiegehalten umzugehen. Gleichzeitig weist diese Erfahrungsstruktur, so macht Ogden deutlich, aber auch eine hohe Intensität und beruhigende Eindeutigkeit aus, die der mit Ambivalenzen getränkten folgenden Erfahrungsstruktur kaum mehr zugänglich sind. Buchstäblichkeit wirkt deshalb als so starkes Phantasma, weil sie das Verhältnis zwischen Welt und Bedeutung verspricht, welches die ursprünglichere Struktur herstellt: ein direktes und eindeutiges Verhältnis, eine Sicherheit versprechende Einheit von Innen und Außen, Buchstabe und Bedeutung. In dem Maße, in dem das Kind von der paranoid‐schizoiden Position in die darauffolgende, sogenannte »depressive« Position übertritt, entwickelt sich der psychoanalytischen Theorie zufolge auch diese frühe Form der symbolischen Gleichsetzung weiter zur reifen Symbolfähigkeit. In der depressiven Position lernt das Kind zwischen Selbst und Objekt und Außen- und Innenwelt zu differenzieren und kann somit auch die Unterscheidung zwischen selbst gegebener Bedeutung und dem ursprünglichen Objekt besser verarbeiten. Der Realitätssinn (»sense of reality«) des Kindes wird gestärkt, umso mehr es in der Lage ist, Ambivalenzen zu tolerieren, seine Projektionen zurückzunehmen und zwischen Selbst und anderen zu unterscheiden,17 und im Rahmen dieses »erweiterten Realitätssinns« gelingt es dem Ich, Symbole als eigene »Schöpfung« wahrzunehmen und so vom ursprünglichen Objekt zu trennen.18 Damit kann das Symbol dann auch freier und kreativer eingesetzt werden und wird zu einem zentralen Mechanismus, um mit Schuld, Angst vor Verlust und Trauer – den zentralen Emotionen der depressiven Position – umzugehen.19 The symbol is needed to displace aggression from the original object, and in that way to lessen the guilt and the fear of loss. The symbol is here not an equivalent of the original object, since the aim of the displacement is to save the object, and the guilt experienced in relation to it is far less than that due to an attack on the original object. The symbols are also created in the internal world as a means of restoring, re‐creating, recapturing and owning again the original object.20 Somit hängt für Segal ein angemessener Bezug zur Außenwelt notwendig von dieser Form reifer Symbolbildung ab, denn sie erlaubt es, überwältigende angstvolle und aggressive Affekte zu bändigen, zu bewältigen sowie kommunikativ und imaginativ zu verarbeiten. Überhaupt zeigen sich sowohl die symbolische Gleichset17 H. Segal: »Notes on Symbol Formation«, 394. 18 M. Quinodoz: »Kreativität und Symbolbildung«, 247. 19 Vgl. ebd. 20 H. Segal: »Notes on Symbol Formation«, 394.

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zung als auch die volle Symbolbildung als untrennbar an Affekte gebundene Prozesse. Angst und Schuld sind bei Klein und Segal die wesentlichen Motivationen zur Symbolbildung, die in der depressiven Position zu einer Vermittlungsform von Ambivalenz, Trauer, Liebe, Trennungsschmerz und Wiedergutmachungsimpulsen werden kann.21 Die Voraussetzung dafür ist aber, dass sich das Subjekt weit genug entwickelt hat, um zwischen Symbol und Symbolisiertem unterscheiden zu können.22 Zugleich konstituiert sich in der Symbolbildung auch ein reifes Subjekt, das sein eigenes, stets über Interpretationen vermitteltes Verhältnis zur Umwelt erkennen lernt, wie Ogden hervorhebt: It could be said that it is in the space between the symbol and the symbolized that an interpreting subject comes into being. […] The achievement of symbol formation proper allows one to experience oneself as a person thinking one’s thoughts and feeling one’s feelings. In this way, thoughts and feelings are experienced to a large degree as personal creations that can be understood (interpreted). Thus, for better or for worse, one develops a feeling of responsibility for one’s psychological actions (thoughts, feelings, and behavior).23 Es mag vielleicht nicht überraschen, dass das Symbol, das σύ μβολον, das ursprünglich als Bruchstück eines zum Erkennungszeichen deklarierten Gegenstands für einen Bedeutungszusammenhang – eine Beziehung zwischen Teilstücken – einstand, auch von Psychoanalytikern als zentrales Puzzleteil betrachtet wird, über das wir Bedeutungszusammenhänge und Beziehungen überhaupt einschätzen lernen. Ein interpretierendes Subjekt im Austausch mit einer bedeutungsreichen Umwelt ist ohne Symbolfähigkeit in dieser Theorie nicht denkbar. »For better or for worse«, schreibt Ogden nicht ohne Grund: Mit der neuen Fähigkeit ist auch Verantwortung für das eigene Handeln verbunden, ebenso wie die schmerzliche Erkenntnis der Ambivalenz alles Realen: Sichere und nicht in Frage zu stellende Eindeutigkeit – die Zuverlässigkeit des sensus litteralis – geht mit der Fähigkeit zur Symbolbildung verloren. Segal betont nun aber, dass diese Entwicklungen nicht irreversibel sind. Werden die Ängste zu stark, kann das Subjekt auf die paranoid‐schizoide Position regredieren und dann können einmal gebildete Symbole zu symbolischen Gleichsetzungen zusammenstürzen.24 Demzufolge bleiben unsere Subjektivität und unsere Realitätswahrnehmung lebenslang mit unserer Symbolfähigkeit verhaftet und stets ein Stück weit prekär. Buchstäblichkeit bleibt eine verführerische Position, 21 22 23 24

Vgl. H. Segal: Dream, Phantasy and Art, 33f., 38. Vgl. T. Ogden: The Primitive Edge of Experience, 11. T. Ogden: The Primitive Edge of Experience, 11f. Vgl. H. Segal: »Notes on Symbol Formation«, 395.

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auf die wir zurückfallen, wenn Unsicherheit und Widersprüchlichkeit uns zu sehr bedrängen. Was das bedeutet, soll nun noch ein weiteres Beispiel aus Melanie Kleins Praxis zeigen, das auch für Segal eine große Rolle spielt. In ihrem Aufsatz »On the Importance of Symbol-Formation in the Development of the Ego« von 1930 schildert Klein den Fall des vier Jahre alten, autistischen Dick, der weder reden noch spielen konnte: [H]e had almost no interests, did not play, and had no contact with his environment. For the most part he simply strung sounds together in a meaningless way, and certain noises he constantly repeated. When he did speak he generally used his meagre vocabulary incorrectly. But it was not only that he was unable to make himself intelligible: he had no wish to do so.25 Klein stellt fest, dass der Junge in einer Umwelt aufwuchs, die ungewöhnlich arm an Liebe war, was dazu geführt hatte, dass sein Ich keinerlei Angst zu ertragen gelernt und jegliches Phantasieleben und den Versuch, eine Beziehung zur Realität aufzubauen, aufgegeben hatte.26 Abgesehen von Türgriffen und Zügen interessierte sich Dick überhaupt nicht für seine Umwelt: »There he ran to and fro in an aimless, purposeless way, and several times he also ran round me«, berichtet Klein, »just as if I were a piece of furniture, but he showed no interest in any of the objects in the room. […] The expression of his eyes and face was fixed, far‐away and lacking in interest«.27 Er unterhielt, so schien es zunächst, keinerlei symbolische Beziehung zur Außenwelt: »He had not endowed the world around him with any symbolic meaning and therefore took no interest in it«, heißt es in Segals Kommentar.28 Ohne Phantasieleben und ohne Symbolfähigkeit fehlt Dick jeder Bezug zur Realität, ob über Bewegung, zwischenmenschliche Beziehungen, Interesse oder Bedeutungszuweisung. Daraus schließt Klein, dass die Entwicklung eines Realitätsbezugs allgemein von der Symbolfähigkeit abhängt: [N]ot only does symbolism come to be the foundation of all phantasy and sublimation but, more than that, upon it is built up the subject’s relation to the outside world and to reality in general. […] Upon the degree of success with which the subject passes through this phase will depend the extent to which he can subsequently acquire an external world corresponding to reality. We see then that the child’s earliest reality is wholly phantastic; he is surrounded with objects of anxiety, and in this respect excrement, organs, objects, things animate and in25 26 27 28

M. Klein: »On the Importance of Symbol-Formation«, 27. Vgl. ebd., 29. Ebd., 27. H. Segal: »Notes on Symbol Formation«, 392.

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animate are to begin with equivalent to one another. As the ego develops, a true relation to reality is gradually established out of this unreal reality.29 Eine Annäherung an den Jungen wurde erst dadurch möglich, dass Klein die wenigen Rudimente seines Phantasielebens und seiner Symbolbildung aufgriff und über diesen Weg langsam seine Ängste abtrug.30 Der Realitätsbezug wird bei Klein also nicht durch die Aufgabe der gänzlich phantastischen Welt erzeugt, sondern durch deren Stärkung und die gleichzeitige Vermittlung zwischen Ängsten und den Ansprüchen der äußeren Wirklichkeit. Ein Verhältnis zur Realität erwächst, wie sie betont, aus der irrealen Realität – aus der Phantasiewelt, die ohne die Vermittlungsfunktion der Symbolfähigkeit genauso wirklich wirkt wie die Wirklichkeit. Doch auch, wenn der Weg zur reifen Symbolbildung abgeschlossen ist, so räumt Segal letztlich ein, spielt konkretes Denken weiterhin eine Rolle. Dies scheint insbesondere dann große Bedeutung zu gewinnen, wenn Segals Patienten tatsächlich an sprachlichen Symbolen arbeiten, also mit Worten umgehen, lesen oder schreiben. So berichtete ihr eine Patientin, sie könne nicht mehr lesen, weil die Worte sie aus der Seite anspringen und ihre Augen beißen würden.31 Die konkrete Materialität der Schrift sticht hier nicht nur hervor, sie wird geradezu bedrohlich. Die potentielle Macht symbolischen Ausdrucks, unsere Sicht auf die Dinge schmerzlich zu verändern, könnte kaum bildlicher zum Ausdruck gebracht werden. Noch schlagender wirkt der Bericht einer Schriftstellerin, sie würde beim Schreiben beginnen, Worte als »broken‐up bits of things« wahrzunehmen.32 Das Wort wird hier in unbewusster Konkretisierung auf die ursprüngliche Bedeutung des Symbols zurückgeführt, gleichsam entlarvt in seiner Funktion, als bloß unvollständiger Teil des Ganzen immer nur auf etwas zu verweisen, das überhaupt nicht vorhanden oder zerstört ist. Vorhanden ist nur der Buchstabe selbst und es verlangt wiederum Symbolkompetenz, um von dort zu einem ganzheitlichen Verständnis der Textpassage zurückzukehren. Gerade das Schreiben problematisiert für Segal also einen Zusammenhang, der in der Kunst im Allgemeinen ans Licht tritt: das ihr eigene Angewiesensein auf das konkrete Hervortreten ihres Materials als Material, das aber trotzdem in einem symbolischen Zusammenhang gelesen werden und wirken soll: Any art, in particular, does embody concrete symbolic elements that give a work of art its immediate »punch«; it has a concrete impact on our experience provided it is included in an otherwise more evolved type of symbolism, without which it 29 30 31 32

M. Klein: »On the Importance of Symbol-Formation«, 26. Vgl. ebd., 33. Vgl. H. Segal: Dream, Phantasy and Art, 35. H. Segal: Dream, Phantasy and Art, 35.

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would be no more than a meaningless bombardment. One of the great achievements of the depressive position is the capacity of the individual to integrate and to contain more primitive aspects of his experience, including the primitive symbolic equations.33 Zur Aufgabe der Kunst gehört es laut Segal also auch, primitiven Aspekten der Erfahrung zum symbolischen Ausdruck zu verhelfen. Künstlerische Darstellung und Rezeption ist damit unter anderem als Möglichkeit zu verstehen, den Aushandlungsprozess zwischen Innen- und Außenwelt, Phantasie und Realität, Symbol, Welt und Subjekt zu vertiefen, aber auch immer wieder aufs Neue ins Prekäre zu holen.

Anton Čechovs »Der schwarze Mönch«: Symbol und Realität Dieser Prekarität, mit all ihrem Zauber und all ihrer Bedrohlichkeit, spürt auch Anton Čechovs Erzählung »Der schwarze Mönch« nach. Sie erschien 1894 in der Zeitschrift Artist (»Артист«)34 und zählt wegen ihrer phantastischen Elemente zu den ungewöhnlicheren Beispielen aus Čechovs hunderte von Erzählungen umfassenden Prosawerk. Aus diesem riesigen Korpus an Texten, in denen oft verstörend wenig geschieht, sticht diese Geschichte hervor,35 in welcher der Protagonist Kovrin an einem Nervenleiden erkrankt, von der Erscheinung eines schwarzen Mönchs verfolgt wird, aber dann, von der Megalomanie vermeintlich geheilt, in eine tiefe Depression versinkt und nach einer letzten Begegnung mit dem Mönch an den Folgen einer Tuberkuloseerkrankung stirbt. Was uns hier interessieren soll, ist aber nicht die in der Forschungsliteratur immer wieder diskutierte Gattungsproblematik – ob Čechovs Erzählung durch die Erscheinung des Mönchs der Phantastik, der Gothic Story, oder dem psychologischen Realismus zuzuordnen ist.36 Vielmehr stellt sich die Frage, wie, vermittelt durch die symbolische Bedeutung, die der Mönch in das Leben Kovrins einträgt, über den Realitätsbezug des Protagonisten gesprochen und damit eine allgemeine Aussage über das Verhältnis von Realität und Symbolfähigkeit und die Grenzen literarischer Vermittlungsfähigkeit getroffen wird. Čechovs Erzählung beginnt mit einer Diagnose: Der Magister Andrej Vasiljič Kovrin hatte sich überanstrengt, und seine Nerven waren zerrüttet. Er ließ sich nicht behandeln, hatte aber so nebenher, bei einer Flasche Wein, mit einem befreundeten Arzt gesprochen, und dieser gab ihm den 33 34 35 36

H. Segal: Dream, Phantasy and Art, 43. Vgl. A. Komaromi: »Unknown Force«, 257. Vgl. ebd. Siehe dazu A. Komaromi: »Unknown Force«, 257-266 und C. Whitehead: »Anton Chekhov’s The Black Monk«, 618.

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Rat, den Frühling und Sommer auf dem Lande zu verbringen. (Андрей Васильич Коврин, магистр, утомился и расстроил себе нервы. Он не лечился, но как-то вскользь, за бутылкой вина, поговорил с приятелем доктором, и тот посоветовал ему провести весну и лето в деревне.)37 So lakonisch die Fakten auch hingeworfen werden, legen diese ersten zwei Sätze doch schon den Grundstein für den Fortgang der Handlung. Denn auf dem Land wird Kovrin sich nicht nur in seine Ziehschwester Tanja Pesockaja verlieben und diese heiraten, sondern dort begegnet er auch dem schwarzen Mönch. Und dass seine Nerven durch eine Überanstrengung im Rahmen seiner wissenschaftlichen Lektüre zerrüttet wurden, wird eine große Rolle dabei spielen, wie die Erscheinung des Mönchs aufgefasst werden muss. Kovrin verbringt auch die Zeit auf dem Land vor allem mit dem intensiven Studium philosophischer und literarischer Texte, doch eines Tages erinnert er sich an eine Legende. Sie handelt von einem schwarz gekleideten Mönch, der durch die Wüste wanderte und dessen Erscheinung durch Luftspiegelungen so weit projiziert wird, dass man ihn bald nicht nur auf der ganzen Erde sehen kann, sondern er bis ins Weltall getragen wird, wo er seither umherirren und nun, nach tausend Jahren, bald wieder den Menschen erscheinen soll. Kovrin erinnert sich nicht mehr, wie er von der Legende erfahren hat – »Habe ich sie irgendwo gelesen? Habe ich sie gehört?« (»Читал где? Слышал?«)38 – doch sie fasziniert ihn, und unentwegt an sie denkend, begegnet ihm im Garten bald der schwarze Mönch. Dieser ist zunächst nur eine flüchtige Erscheinung, doch sie überzeugt Kovrin sofort: »Also ist Wahrheit in der Legende enthalten« (»Значит, в легенде правда«), und freudig erregt versucht er erst gar nicht, sich die Sichtung weiter zu erklären.39 Ausgehend von dieser ersten Begegnung mit dem Mönch ergeben sich drei Problembereiche, die im Folgenden untersucht werden sollen. Erstens stellt sich mit der Erscheinung des Mönchs sofort die Frage nach seinem Realitätsstatus – handelt es sich um eine reale Erscheinung oder ein Wahngebilde? Damit einher geht dann zweitens auch die allgemeine Frage nach Kovrins Realitätsbezug, der im Rahmen der Erzählung drittens durch die Einbindung in Kovrins Lektüretätigkeit, die schon bei der ersten Erwähnung der Legende hervorsticht, weiter problematisiert wird und uns auf die Auseinandersetzung mit Symbolen und Buchstaben zurückführt. Obwohl Kovrin sofort von der Wahrheit der Legende überzeugt ist, zweifelt er doch, ob andere ihm in diesem Glauben folgen können. Anstatt seinem Ziehvater Egor Pesockij und Tanja von der Erscheinung zu berichten, befürchtet er, »daß sie seine Worte sicher für ein Hirngespinst halten würden« (»что они наверное 37 A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 22. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 241. 38 A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 31. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 247. 39 A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 32. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 248.

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сочтут его слова за бред«).40 Aufgrund der Tatsache, dass er allein den Mönch gesehen hat, fürchtet er sogar, ableiten zu müssen, dass er krank sei und halluziniere, und der Zweifel über seinen Gesundheitszustand wird ihn weiter begleiten, sein Realitätsbezug niemals vollständig gesichert sein. Der Text selbst allerdings lässt wenig Zweifel daran, dass Kovrin unter Halluzinationen leidet. Schließlich sind die Leser bereits durch den ersten Satz angehalten, Kovrins geistige Gesundheit zu hinterfragen,41 und Čechov, der als Arzt tätig war, zeichnet sorgfältig die physischen und psychologischen Bedingungen nach, die zu Kovrins Erkrankung beitragen:42 ein nervöses Temperament, Überarbeitung, Erschöpfung und möglicherweise sogar eine zugrundeliegende organische Erkrankung (Tuberkulose). Čechov hatte die Erzählung, so schreibt er in Briefen, als ›medizinische‹ Studie angelegt, und darauf abgezielt, einen jungen Mann zu porträtieren, der an Größenwahn (»мания величия«) leidet.43 Es ist sogar wahrscheinlich, dass er dabei auf die zeitgenössische Darstellung des Krankheitsbildes aus dem psychiatrischen Lehrbuch von Sergej S. Korsakov zurückgriff.44 Somit wird einer romantischen Aufwertung von Kovrins Wahnerkrankung von vornherein jeder Boden entzogen, wie Ann Komaromi klarstellt: »Chekhov employs light irony to deflate the romantic ideology behind these elements. He also confines them largely to Kovrin’s sick perspective, which is characterised as part of a relatively objective portrait of illness and psychological pathology.«45 Dies ist besonders interessant, da Kovrin und der Mönch sich bald zu unterhalten beginnen und der Realitätsstatus der Erscheinung dabei dialogisch zur Debatte steht. Der Mönch selbst erklärt Kovrin bei ihrer zweiten Begegnung: »Die Legende, die Luftspiegelungen und ich – das alles ist ein Produkt deiner erregten Phantasie. Ich bin ein Gespenst.« (»Легенда, мираж и я – всё это продукт твоего возбужденного воображения. Я – призрак.«) Verwirrt fragt Kovrin daraufhin: »Also existierst du nicht?« (»Значит, ты не существуешь?«) Und der Mönch erwidert: »Denke, was du willst […]. Ich existiere in deiner Einbildung, deine Einbildung aber ist ein Teil der Natur, folglich existiere ich auch in der Natur.« (»Думай, как хочешь […]. Я существую в твоем воображении, а воображение твое есть часть природы, значит, я существую и в природе.«)46 Bemerkenswert ist, dass Kovrin auch während seiner Halluzinationen offenbar nicht vollständig den Bezug zur Wirklichkeit verliert, sondern den Status seiner Wahrnehmung permanent hinterfragt. Das wird durch die Wiederholung des Verbs существовaть (»existieren«) 40 A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 33. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 248. 41 C. Whitehead: »Anton Chekhov’s The Black Monk«, 609. 42 Vgl. A. Komaromi: »Unknown Force«, 273. 43 Ebd., 261. 44 Vgl. ebd., 261. 45 A. Komaromi: »Unknown Force«, 258. 46 A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 41f. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 254f.

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unterstrichen, das sich aus быть (»sein«) ableitet und sowohl auf das reine Vorhandensein wie auf die Essenz eines Wesens verweisen kann. Mit seiner Antwort eröffnet der Mönch eine Wirklichkeitsauffassung, welche die Verknüpfung dieser beiden Bedeutungen problematisiert. So suspendiert er die Frage nach seiner eigenen »Existenz«, weil er die Einbildungskraft und das Unbewusste als Teil des Wirklichen und all ihre Produkte als existierende Naturerscheinungen definiert. Er interessiert sich für eine essentielle Stufe der Existenz, die jenseits von Kovrins engerem materiellen Realitätsbegriff liegt. Während Kovrin noch besorgt ist, »Wenn du weggehst, wird mich die Frage nach deiner Wesenheit beunruhigen« (»когда ты уйдешь, меня будет беспокоить вопрос о твоей сущности«), so weist der Mönch Entscheidungen zwischen Realität und Wahn von sich: Und woher weißt du, daß die genialen Menschen, denen die ganze Welt glaubt, nicht auch Gespenster gesehen haben? Sagen doch die Gelehrten heute, daß das Genie dem Wahnsinn verwandt sei. […] Überlegungen hinsichtlich des nervösen Zeitalters, der Überanstrengung, der Entartung und dergleichen können nur solche ernstlich aufregen, die den Sinn des Lebens in der Gegenwart sehen. (А почему ты знаешь, что гениальные люди, которым верит весь свет, тоже не видели призраков? Говорят же теперь ученые, что гений сродни умопомешательству. […] Соображения насчет нервного века, переутомления, вырождения и тому подобное могут серьезно волновать только тех, кто цель жизни видит в настоящем.)47 Dem Mönch steht der Sinn nicht nach einer gegenwärtigen, sondern einer ewigen Wahrheit (»вечною правдой«).48 Ein solcher Wahrheitsanspruch ist offenbar nicht an eine von Illusionen gereinigte Wahrnehmung der Wirklichkeit gekoppelt, gibt der Mönch doch zu bedenken, dass man Genies wegen der Kraft ihrer Imagination und nicht wegen ihres Realitätsbezugs Glauben schenkt. Diese romantische Überhöhung des Wahnsinns durch den Geniediskurs wird von Čechov zwar gezielt ironisiert,49 indem er sie ausgerechnet der Wahnvorstellung selbst in den Mund legt. Allerdings werden die Realitätsebenen durch sprachliche Mittel trotzdem ins Schwanken gebracht. So stellt Kovrin zwar überrascht fest, »Merkwürdig, du wiederholst das, was mir selber häufig durch den Kopf geht […]. Es ist, als hättest du meine geheimsten Gedanken erspäht und erlauscht.« (»Странно, ты повторяешь то, что часто мне самому приходит в голову […]. Ты как будто подсмотрел и подслушал мои сокровенные мысли«).50 Das ist 47 48 49 50

A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 43. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 255f. A. Чехов: »Чёрный Монах«, 256. Vgl. A. Komaromi: »Unknown Force«, 262. A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 43f. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 256.

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schon ein Hinweis darauf, dass der Mönch Kovrins Geist entspringt, der noch dadurch unterstützt wird, dass, wie Claire Whitehead beobachtet, sich beide ähnlicher lexikalischer Felder und ähnlicher Phrasen bedienen.51 Allerdings stellt Elizabeth Geballe auch fest, dass Kovrin im Russischen durch seinen häufigen Gebrauch von Füllwörtern mehr Unsicherheit, Angst und Enthusiasmus ausdrückt als der Mönch, der einen ruhigen und autoritativen Ton anschlägt: Dadurch wirke der Mönch von Kovrin unabhängiger und bedrohlicher.52 Der Text trägt also durch stilistische Mittel und ironische Wendungen dazu bei, dass Leser dazu angehalten bleiben, den Mönch zwar nicht als Realität zu akzeptieren, seine genaue Positionierung zwischen Wirklichkeit und Phantasie jedoch weiter zu hinterfragen und zu durchdenken. Dramatisch wird so der Aushandlungsprozess zwischen dem Mönch als Repräsentationsform von Kovrins Wünschen und Phantasien (einem echten Symbol) und seiner Konkretion auf die Leser übertragen. Mit anderen Worten: Als Leser bleiben wir permanent vor die Aufgabe gestellt zu entscheiden, ob die Erscheinung des Mönchs buchstäblich zu lesen ist oder nicht. Kovrin erkennt erst wirklich, dass er unter Halluzinationen leidet, als Tanja ihm seine Selbstgespräche als psychische Krankheit auslegt und er zustimmen muss: »Für ihn stand es jetzt fest, daß er wahnsinnig war.« (»Для него теперь было ясно, что он сумасшедший.«)53 Er lässt sich auf eine Behandlung ein, die neben einer zeitweiligen Genesung auch einen vollständig anderen Realitätsbezug hervorbringt. Während er noch langsam in den Wahn sinkt, hat Kovrin einen zwar nervösen, aber doch reichen Zugang zu seiner Umwelt. Der Garten seines Ziehvaters Pesockij hinterließ in seiner Kindheit bei ihm einen »märchenhaften Eindruck« (»сказочное впечатление«),54 und noch immer ist Kovrin wie verzaubert von dieser Welt, als er auf dem Land eintrifft. Die Begegnungen mit dem Mönch erfüllen ihn wiederholt mit »unverständliche[r] Freude« (»непонятную радость«),55 er sucht in seinen Studien begeistert nach »etwas Gigantischem, Unermeßlichem, Überwältigendem« (»чего-то гигантского, необъятного, поражающего«),56 und die Gespräche geben »seiner Arbeit eine besondere, ungewöhnliche Bedeutung und [erfüllen] seine Seele mit Stolz, mit dem Bewußtsein der eigenen Größe« (»придавало его работе особенное, необыкновенное значение и наполняло его душу гордостью, сознанием собственной высоты«).57 Es ist also gerade die Bedeutung (»значение«), die Kovrin durch den Mönch gewinnt, der Sinn und der Wert, der seinem Leben durch die Erscheinung gegeben wird, von denen er 51 52 53 54 55 56 57

Vgl. C. Whitehead: »Anton Chekhov’s The Black Monk«, 618. E. Geballe: »Literary Disorders and Translation Treatment«, 260f. A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 52. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 262. A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 23. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 242. A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 37. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 252. A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 38. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 252. A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 49. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 260.

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abhängig wird. Das Wort значение selbst geht aber zurück auf знак, das Zeichen oder Symbol. Bedeutung erwächst also eigentlich aus der Zeichenhaftigkeit des Mönchs, mit der Kovrin hadert. Es scheint, als müsste Kovrin vor sich selbst verbergen, dass es sich bei seiner Bedeutungsgewinnung um eine kontingente Konstruktion handelt, um wirklich an sie glauben zu können; doch genau diese Unfähigkeit, mit Symbolen umzugehen, kennzeichnet seinen Konflikt mit seiner Umwelt und sein kompensatorisches Verhältnis zu seinem halluzinierten Gefährten. Durch eine gründliche Therapie und eine schonende Lebensweise mit viel Milch gelingt es Kovrin, den schwarzen Mönch auszutreiben,58 aber mit ihm verschwindet auch der Bedeutungszusammenhang mit der Umwelt: Ohne die prachtvollen Blumen zu bemerken, spazierte er ein bißchen im Garten umher, saß ein wenig auf einer Bank und machte dann einen Gang durch den Park; am Fluß angekommen, stieg er hinunter, und dort stand er eine Weile und blickte in Gedanken versunken auf das Wasser. Die düsteren Kiefern mit den zottigen Wurzeln, die ihn im vorigen Jahr hier so jung, freudig und munter gesehen hatten, flüsterten jetzt nicht miteinander, sondern standen unbeweglich und stumm, als hätten sie ihn nicht erkannt. (Не замечая роскошных цветов, он погулял по саду, посидел на скамье, потом прошелся по парку; дойдя до реки, он спустился вниз и тут постоял в раздумье, глядя на воду. Угрюмые сосны с мохнатыми корнями, которые в прошлом году видели его здесь таким молодым, радостным и бодрым, теперь не шептались, а стояли неподвижные и немые, точно не узнавали его.)59 Kovrin hat nicht nur seine erhebenden Größenphantasien verloren; sein Platz in der Realität hat sich auch vollkommen verändert. Er ist offenbar nicht mehr in der Lage, die Welt mit symbolischer Bedeutung anzureichern. Sie bleibt damit leer und ohne Interesse für ihn – mehr noch, sie »erkennt« ihn nicht mehr. Auch von seinen engsten Beziehungspersonen, seiner Frau Tanja und seinem Schwieger- und Ziehvater entfremdet sich Kovrin mit großer Irritation. Das Beziehungsnetz zur Realität, das über symbolische Bedeutung hergestellt worden ist, ist von beiden Seiten zusammengebrochen. »Once Kovrin is cured of his fantasy, the ›real‹ world – that is, the world that he shares with others – becomes non‐symbolic, meaningless, and dead«, stellt Yuri Corrigan fest.60 In vielen Erzählungen Čechovs ist die Natur belebt und reflektiert die Stimmung der Figuren61 und es mag scheinen, als bediene 58 Dass die »Schwärze« des Mönchs auf diese Weise symbolisch durch das »Weiße« der Milch ausgetrieben wird, verweist einmal mehr auf die untrennbare Verknüpfung zwischen Realität und Symbol in dieser Erzählung. 59 A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 53. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 263. 60 Y. Corrigan: »Čechov and the Foundations of Symbolism«, 169. 61 Vgl. C. Whitehead: »Anton Chekhov’s The Black Monk«, 613.

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er sich auch hier nur einer gebräuchlichen literarischen Technik. Doch in dieser Erzählung verstärkt sich die Wirkung nicht nur, sie wird auch selbstreflexiv: Es wird deutlich, dass die Umwelt die Stimmung von literarischen Figuren deshalb so effektiv reflektieren kann, weil von vornherein nur durch solch affektiv‐symbolische Prozesse ein Bezug zu ihr hergestellt wird. Die literarische Technik entpuppt sich als Umkehrung unserer Techniken des Weltbezugs. An dieser Stelle lohnt es sich, noch einen Blick auf einen anderen Weg zu werfen, über den Kovrin mit seiner Umwelt in Kontakt tritt – die Sprache. Geballe hat beobachtet, dass jeder Erscheinung des Mönchs ein Moment des Unverständnisses vorangeht: »It should be noted that every instance of the black monk’s appearance is as if generated by Kovrin’s inability to understand language […]. The monk’s portal into Kovrin’s world is, we discover, the ever‐widening gap in the latter’s comprehension of language.«62 Noch spezifischer kann man sogar herausarbeiten, dass Kovrin vor vielen Begegnungen mit dem Mönch etwas liest. Schon vor der ersten Sichtung des Mönchs im zweiten Kapitel finden wir Kovrin in seine Bücher vertieft. Das siebte Kapitel beginnt ebenfalls mit einer solchen Lektüresituation: Kovrin liegt im Bett und liest einen französischen Roman. Es gelingt ihm aber nicht einzuschlafen und am frühen Morgen erscheint ihm der schwarze Mönch neben seinem Lager. Auf die Frage, woran er denke, antwortet Kovrin: »An den Ruhm […]. In dem französischen Roman, den ich eben gelesen habe, wird ein Mensch geschildert, ein junger Gelehrter, der Dummheiten macht und vor Sehnsucht nach Ruhm dahinsiecht. Mir ist diese Sehnsucht unbegreiflich.« (»О славе […]. Во французском романе, который я сейчас читал, изображен человек, молодой ученый, который делает глупости и чахнет от тоски по славе. Мне эта тоска непонятна.«)63 Auf diese Weise verwickelt er den Mönch in ein Gespräch über den Roman, so als ob er dieses Ko-Interpreten bedürfte, um das Gelesene einzuordnen. Bezeichnend ist dabei aber auch Kovrins identifikatorische Lektürehaltung, die der Mönch unterstützt. Der Roman wird von den beiden nicht als unabhängiges, symbolisches Konstrukt untersucht, sondern unmittelbar auf Kovrins Situation bezogen: »Der Ruhm ist dir gleichgültig wie ein Spielzeug, das dich nicht interessiert.« (»Ты к славе относишься безразлично, как к игрушке, которая тебя не занимает.«)64 Angesichts des Größenwahns, an dem Kovrin offenbar leidet, mag man diese Deutung auch inhaltlich anzweifeln, vor allem ist sie aber aus formalen Gründen interessant, da sie die Distanz zwischen den literarischen Zeichen und Kovrins psychischer Realität zum Kollabieren bringt. Als Lektürehilfe dient der Mönch also dazu, 62 E. Geballe: »Literary Disorders and Translation Treatment«, 263. 63 A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 50. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 260. 64 A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 50. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 261.

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durch eine Art symbolische Gleichsetzung – die identifikatorische Lektüre – die Unruhe, die das Lesen in Kovrin ausgelöst hat, zu besänftigen. Ähnlich verhält es sich auch noch im letzten Kapitel. Kovrin erhält einen Brief von seiner Frau, die inzwischen getrennt von ihm lebt, und weil dieser zu viele Erinnerungen weckt, zerreißt er ihn und wirft ihn aus dem Fenster. Der Brief wird ihm durch einen Windstoß jedoch wieder zurückgetragen, während sich der Erzähltext zugleich durch zwei Reminiszenzen an die erste Begegnung mit dem Mönch verdichtet: Kovrin hört ein Musikstück, das ihm auch damals zu Ohren kam, und die Natur belebt sich wieder: »Die Bucht schaute, als wäre sie lebendig, mit zahllosen hell- und dunkelblauen, türkisfarbenen und feurigen Augen auf ihn und lockte ihn zu sich.« (»Бухта, как живая, глядела на него множеством голубых, синих, бирюзовых и огненных глаз и манила к себе.«)65 Wenig später steht der Mönch wieder vor ihm und Kovrin, der an Tuberkulose erkrankt ist, stirbt glücklich an einem Blutsturz. Es scheint, als würde das Lesen, das Verarbeiten konventioneller und zugleich mehrdeutiger und unkontrollierbarer Symbole, Kovrin nicht zu den Verbindungen führen, nach denen er sich sehnt: Der Brief seiner Frau kann weder die Beziehung zwischen ihnen wiederherstellen, noch kann sich Kovrin der unangenehmen Erinnerung entledigen. Lesen hält Ambivalenz aufrecht, anstatt sie aufzulösen. Die individuelle, weniger ambivalente, weil halluzinierte Symbolbildung – der Mönch – tritt also wieder in diese Lücke. Geballe sieht im Mönch deshalb ein Symbol für eine von Ambivalenz gereinigte Sprache: »The monk is the mystical reminder of this pure language, offering a vision of an unattainable world, a world in which signifier and signified are not inevitably divided«.66 Mit Segals Symboltheorie gesprochen scheint der Mönch tatsächlich eine Vermittlungsfunktion einzunehmen, über die Kovrin versucht, mit der Realität in ein bedeutungsvolles Verhältnis zu treten. Kovrin gelingt aber eine volle Symbolbildung, die sich des Symbols stets bewusst ist, nicht. Der Mönch ist das paradoxe Symbol einer symbol- und damit ambivalenzfreien Existenz und gerade deswegen tritt er so oft in Momente der verunsichernden Lektüre hinein. Die Sehnsucht nach einer eindeutigen Welt, in der ungemindertes Glück frei von Ambivalenz existieren kann, kommt mit dieser Figur aber nicht zustande. Kovrin kommt nie an den Punkt, an dem der Mönch als Symbol vollständig in Realität aufgelöst und damit die Trennung zwischen Signifikat und Signifikant aufgegeben würde. Eine solche »Realisierung« des Mönchs ginge zwar mit dem Versprechen einher, Kovrins Träume von Bedeutungsfülle zu verwirklichen; aber damit, so Segal und Klein, ginge letztlich der Verlust von Bedeutung als solcher einher. Weder der Verzicht auf Symbolisierung noch die Konkretisierung des Symbols können Kovrins Versuche, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, stabilisieren. Somit steht der Mönch nur für 65 A. Čechov: »Der schwarze Mönch«, 62. Original: A. Чехов: »Чёрный Монах«, 268. 66 E. Geballe: »Literary Disorders and Translation Treatment«, 264.

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eine trügerische Utopie der Sprache; das Versprechen der Buchstäblichkeit bleibt eine Illusion. Peter Rossbacher sieht in Kovrin eine Figur, anhand derer Čechov zeigen wolle, dass es in einer Welt, die Menschen Glück verwehrt, des Wahnsinns bedürfe, um Glück zu erlangen.67 Das Problem ist aber sichtlich komplizierter. Auch wenn Kovrin subjektiv glücklich stirbt, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass sein Wahn nicht den Weg zu einem glücklichen Leben ebnet. Sein selbstgeschaffener Mythos schadet ihm und seiner Familie, und er beinhaltet, wie Corrigan betont, »an active denial of, and hostility towards, any objective reality«.68 Die Erscheinung des Mönchs mag Kovrin helfen, um mit Bedeutungslosigkeit und Verzweiflung umzugehen, aber für den eminenten Realisten Čechov muss es einen anderen Weg des Weltbezugs geben als den wahnhaften. Dass die Welt symbolentleert ebenfalls nicht erfasst werden kann, zeigt Kovrins Verzweiflung nach dem Verlust des Mönchs. Auch der literarische Realismus als Versuch eines erzählerischen Weltbezugs kann, so legt die Erzählung nahe, nicht auf das Symbol verzichten: Es besteht stets die Notwendigkeit zur Vermittlung zwischen Realität und Imagination. Im Anschluss an den »schwarzen Mönch« wird Čechov Charaktere entwickeln, denen es gelingt, Realismus und Symbolismus zu verbinden: »sudden enchantment« angeregt und geprägt durch »[the] bitter experience of dissatisfaction and frustration«.69 So wird etwa Nina, die selbsternannte »Möwe« des gleichnamigen Theaterstücks, gerade im Zuge ihrer Desillusionierung eine bedeutungsreiche, symbolträchtige und ernüchtert‐bejahende Beziehung zum Leben aufbauen.70 Die Symbolfähigkeit, auf die Čechov somit verweist, liegt zwischen der kritiklosen Verzauberung der Welt und ihrer Entleerung, sie trägt die ambivalente Haltung des Realisten, der weiß, dass er nur über das Symbol zur Welt kommt, sie damit aber auch verfehlt und niemals über sie hinauskommen kann.

Fazit Melanie Klein und Hanna Segal zeigen, dass reine Buchstäblichkeit keinen Zugang zur Realität bereiten kann. Zur Außenwelt, zu anderen, zu unserem Körper können wir dieser psychoanalytischen Theorie folgend nur dann ein bedeutungsvolles Verhältnis entwickeln, wenn wir begreifen, was Bedeutung ist – und dies gelingt uns erst mit reifer Symbolfähigkeit. Gleichzeitig trägt diese Erkenntnis aber auch ein Element der Ambivalenz: Wer nicht mehr länger konkrete Symbole verwendet und 67 68 69 70

P. Rossbacher: »The Function of Insanity«, 194. Y. Corrigan: »Čechov and the Foundations of Symbolism«, 169. Ebd., 180. Vgl. A. Čechov: Die Möwe, 73. Original: A. Чехов: »Чай ка«, 154.

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nicht mehr nur buchstäblich denkt, dem geht die Ekstase, die Intensität und die Eindeutigkeit, die darin verborgen liegen, gleichermaßen verloren. Enttäuschung, Trauer, Verlustängste und Schuld hängen unmittelbar mit den Erfahrungen zusammen, die es uns ermöglichen, interpretierende Subjekte mit einem gestärkten Realitätssinn zu werden. Auch in Čechovs Erzählung wird deutlich, dass eine gänzlich symbolentleerte Sicht auf die Welt zu einem Rückzug aus dieser führt – sie kann also keine Basis für einen realistischen Weltbezug sein. Wer Realität sucht, muss nach innen gehen, darf dabei aber nicht die Verbindung zur Außenwelt verlieren – und das gilt auch für die Literatur und ihre Darstellung der Wirklichkeit. Absolutes Glück und das Gefühl totaler Signifikanz sind dadurch nicht zu haben. Durch den Einsatz von offenen, zwischen Konkretion und Repräsentation schwankenden Symbolen kann es, wie in dieser Erzählung, aber gelingen, Realitätsbezüge immer wieder neu auszuhandeln. Wo Kovrins Lektüre scheitert, weil er gierig und nervös nach Bestätigung seiner eigenen Phantasie sucht oder die Verbindung zur Wirklichkeit scheut, kurz, am liebsten selbst in der Lektüre eine halluzinatorische Erfahrung ersehnt, regt die Erzählung trotz aller phantastischer Elemente zu einer Kritik derselben an, um unseren Realitätssinn zu stärken.

Literatur Čechov, Anton. Die Möwe. Übers. v. Peter Urban. Zürich: Diogenes, 1996. Čechov, Anton. »Der schwarze Mönch.« Übers. v. Hertha von Schulz. Rothschilds Geige: Erzählungen 1893-1896. Hg. v. Peter Urban. Zürich: Diogenes, 1976. S. 22-63. Чехов, Антон. »Чайка.« Драматические Произведения, Том Второй. 1889-1904. Москва: Искусство, 1985. S. 105-56. Чехов, Антон. »Чёрный Монах.« Избранные Произведения, Том Второй. Рассказы и Повести 1888-1897. Москва: Художественная Литература, 1976. S. 241-69. Corrigan, Yuri. »Čechov and the Foundations of Symbolism« Russian Literature 66 (2009). S. 165-88. Dauss, Markus u. Ralf Haekel. »Einleitung.« Leib/Seele – Geist/Buchstabe: Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900. Hg. v. Markus Dauss u. Ralf Haekel. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009. S. 7-33. Freud, Sigmund. »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.« 1916-1917. GW XI. Hg. v. Anna Freud. Frankfurt a.M.: Fischer, 1969. S. 1-482. Geisenhanslüke, Achim. »Buchstäblichkeit. Literatur und Liminalität IV.« https:// avldigital.wordpress.com/2017/11/10/tagung‐buchstaeblichkeit-literatur‐undliminalitaet‐iv-frankfurt‐am-main-01-02-12-2017/. Geballe, Elizabeth Frances. »Literary Disorders and Translation Treatment: Curing Chekhov’s ›The Black Monk‹« Literature and Medicine 31,2 (2013). S. 256-76.

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Grimm, Jacob u. Wilhelm. Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1961. Online-Version vom 29.11.2018. http://woerterbuchnetz.de/cgi‐bin/WBNetz/wbgui_py?sigle= DWB&mode=Vernetzung&lemid=GB12675#XGB12675. Klein, Melanie. »On the Importance of Symbol-Formation in the Development of the Ego« Contributions to Psycho-Analysis  11 (1930). S. 24-39. Komaromi, Ann. »Unknown Force: Gothic Realism in Anton Chekhov’s The Black Monk« The Gothic-Fantastic in Nineteenth-Century Russian Literature. Hg. v. Neil Cornwell. Amsterdam: Rodopi, 1999. S. 257-75. Ogden, Thomas. The Primitive Edge of Experience. Lanham: Jason Aronson, 1992. Quinodoz, Michael. »Kreativität und Symbolbildung bei Hanna Segal.« Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 25,3 (2010). S. 235-50. Rossbacher, Peter. »The Function of Insanity in Čexov’s ›The Black Monk‹ and Gogol’s ›Notes of a Madman‹« Slavic and East European Journal 13 (1969). S. 191-99. Segal, Hanna. Dream, Phantasy and Art. London: Routledge, 1991. Segal, Hanna. »Notes on Symbol Formation« International Journal of Psycho-Analysis 38 (1957). S. 391-97. Whitehead, Claire. »Anton Chekhov’s The Black Monk: An Example of the Fantastic?« Slavonic and East European Review 85,4 (2007). S. 601-28.

Kafkas buchstäbliche Rhetorik Signifikantenlogik und Wörtlichkeit Claudia Liebrand

Einleitung Die rhetorischen Mechanismen in Kafkas Texten sind zu Recht als »Signifikantenlogik« beschrieben worden – als Signifikantenlogik, die gleichermaßen nach den Regeln der Psychoanalyse funktioniert wie sie sie dekonstruiert (also gewissermaßen ›nach‹ den Regeln der Psychoanalyse im doppelten Sinne von ›zufolge‹ und ›zeitlich später‹). Diesen für die Forschung so überaus fruchtbaren Zusammenhang hat wohl zuerst Adorno in seinem berühmten Diktum von der Entmetaphorisierung der Psychoanalyse in Kafkas Texten formuliert, das so als Motto der Kafka-Dekonstruktion gesehen werden kann. Als Beispiele für Kafkas Rhetorik der Buchstäblichkeit und seinen »Assoziationswitz« führt Adorno neben kürzeren Texten Kafkas vor allem das Schloß, aber auch den Proceß an. Anti‐identifikatorisch angelegt, verfahren die Texte Kafkas – so argumentiert Adorno – mit ihrem philosophischen und metaphysischen Gehalt wie mit der Psychoanalyse: »Wie in einer Versuchsanordnung studiert« Kafka, »was geschähe, wenn die Befunde der Psychoanalyse allesamt nicht metaphorisch und mental, sondern leibhaft zuträfen.«1 Kafkas Humor ergebe sich aus dem Verfahren, die ›Assoziationen‹ nicht an die Referenten, sondern ›an die Worte‹ selbst ›zu heften‹. Dabei verweist Adorno vor allem auch auf die ›Spannung‹ zwischen den beiden Ebenen: »Jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet. Beides ist nicht, wie das Symbol es möchte, verschmolzen, sondern klafft auseinander, und aus dem Abgrund dazwischen blendet der grelle Strahl der Faszination.«2 Kafkas Texte folgen dem Prinzip der Buchstäblichkeit und Wörtlichkeit. Sie, schreibt Adorno, »hüteten sich vor dem mörderischen Künstlerirrtum, die Philosophie, die der Autor ins Gebilde pumpt, sei dessen metaphysischer Gehalt. Wäre sie es, das Werk wäre totgeboren: es erschöpfte sich in dem, was es sagt, und entfaltete sich nicht in der 1 Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild (Gesammelte Schriften, Bd. 10.1). Frankfurt a.M. 1977, S. 254-287, hier S. 262. 2 Ebd., S. 255.

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Zeit. Vorm Kurzschluß auf die allzu frühe, vom Werk schon gemeinte Bedeutung vermöchte als erste Regel zu schützen: alles wörtlich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken. Die Autorität Kafkas ist die von Texten.«3 Adornos Beobachtung hat in der Kafka-Forschung Karriere gemacht. Viel beachtet worden ist etwa Hans Helmut Hiebels wirkmächtige Landarzt-Lektüre, die eben jene Strategien der Buchstäblichkeit systematisch analysiert. Kafkas Landarzt – so Hiebel – »vereinigt […] die Kafkaschen Grundfiguren: Paradox, Metapher und Ambiguität, Zirkel von Innen und Außen.«4 Mehr aber noch als bei anderen Texten Kafkas handelt es sich um einen im Sinne Roland Barthes’ „›reversiblen‹ Text’«5 , das heißt einen Text, dessen diachrone Kontiguität oder Syntagmatizität der paradigmatischen Austauschbarkeit seiner einzelnen Elemente untergeordnet ist. Das zeigt Hiebel am Beispiel des »Signifikanten ›rosa‹«, der gleichermaßen auf die »rosa Wunde« des Patienten wie auf das »Dienstmädchen ›Rosa‹«6 verweist: „›rosa‹“ und „›Rosa‹“, argumentiert Hiebel in Anlehnung an Roland Barthes’ S/Z, verhalten sich als Formel »R/r« ähnlich zueinander wie bei Lacan der Signifikant »›S‹« und das eingeklammerte Signifikat »›(s)‹«.7 Immer weiter verweisen die Signifikanten aufeinander, bis sich ihre Ketten zu Kreisen schließen, wenn Kafkas Text »Pole« einer »Opposition in paradoxer Weise« »identifiziert«.8 Solche Operationen zeigt Hiebel, auf psychoanalytische Theoreme Freuds und Lacans zurückgreifend, für eine Fülle an Textdetails. Nur unwesentlich weniger intensiv als Hiebels Text wurde Hans-Thies Lehmanns »Der buchstäbliche Körper. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Franz Kafka« von der Forschung rezipiert. Kafkas Schreiben – so Lehman, der für das monomanische Interesse an der Selbstreferenz der Literatur in den 80er Jahren steht, aus denen sein Forschungsbeitrag stammt – nimmt die erzählte oder referenzielle Realität zurück in die sprachkörperliche Realität des Erzählens, die jeden festen Textsinn verstellt. Immer wird Kafkas Leser, Leserin auf die »Körperlichkeit der Buchstaben«9 zurückgeworfen. Entzug der Referenz und Selbstbezüglichkeit der Texte Kafkas seien »zwei Aspekte seines Schreibens, die sich komplementär verhalten. Kafkas Schreiben stellt eine unaufhörliche Befragung der Sprache, der 3 Ebd., S. 257. 4 Hans H. Hiebel: Franz Kafka. Form und Bedeutung. Formanalysen und Interpretationen von Vor dem Gesetz, Das Urteil, Bericht für eine Akademie, Ein Landarzt, Der Bau, Der Steuermann, Prometheus, Der Verschollene, Der Proceß und ausgewählten Aphorismen. Würzburg 1999, S. 164-180, hier S. 172. 5 Ebd., S. 165. 6 Ebd., S. 169. 7 Ebd., S. 167. 8 Ebd., S. 174. 9 Hans-Thies Lehmann: Der buchstäbliche Körper. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Franz Kafka. In: Gerhard Kurz (Hg.): Der junge Kafka. Frankfurt a.M. 1984, S. 213-241, hier S. 217.

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Wörter, der Metaphern dar. Seine Texte verfolgen die in einem gegebenen Minimum von ›Sache‹ oder Signifikanten gelegenen Möglichkeiten mit der Folge, daß die Texte nicht als ›poetische‹ Übersetzung eines irgend vorgegebenen Sinnsubstrats betrachtet werden können.«10 Es gehe um ein »Spiel mit höchstem unabgelenkten Ernst«11 . Peter von Matts Lektüre von Kafkas Urteil, um noch einen weiteren Forschungsbeitrag aufzurufen, der an der von Adorno skizzierten Perspektivierung arbeitet, nimmt den letzten Satz dieser Erzählung unter die Lupe und zeigt, dass Georg Bendemann nicht ausdrücklich bei seinem Sprung von der Brücke stirbt. Die Erzählung endet folgendermaßen: »Noch hielt er [Georg] sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: ›Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt‹, und ließ sich hinabfallen. In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.«12 Von Matt nun versteht den Kafka’schen Satz nicht metonymisch (hinabfallen für sterben), sondern wörtlich (hinabfallen – und vielleicht danach ans Ufer schwimmen). Damit eröffnet von Matt die Perspektive, Kafkas Erzählung als rituelles Spiel zu lesen. Dieses »Spielgefüge« interpretiert er als »Initiation«13 : als eine Wiedergeburt, die traditionell mit der »Symbolkette von Wasser und Brücke, vom Gang über die ›Schwelle‹«14 verbunden ist. Kafka selbst ist es, der sich durch die ›Geburt‹ dieser Erzählung neu, nämlich als Autor schafft: »Indem er beschreibt, wie die Ordnung des briefeschreibenden Sohnes vom Vater verworfen und ausgelöscht wird, gewinnt er die eigene Ordnung als schreibender Autor.«15 Sein Selbstbild zumindest Felice Bauer gegenüber ist, anders als »im naiven [Kafka-]Biographismus«16 immer behauptet werde, das eines grandiosen Autors, der sich außerhalb des Urteils als sein Autor so selbstbewusst »ragend[]«17 präsentiert wie Georg Bendemanns Vater im Text. Seinem realen Vater gegenüber aber beharrt Kafka auf seiner Missratenheit: »Künstlich, als eine Art Spielanlage, baut und bewahrt sich Kafka die Lebenssituation des mißratenen Sohnes vis-à-vis eines richtenden Vaters von endlos kompakter Autorität.«18 10 Ebd., S. 239. 11 Ebd. 12 Franz Kafka: Das Urteil. In: Ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Hans-Gerd Koch, Wolf Kittler und Gerhard Neumann. New York City 1994, S. 41-61, hier S. 61. 13 Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München/Wien 1995, S. 278. 14 Ebd., S. 279. 15 Ebd., S. 280. 16 Ebd., S. 284. 17 Ebd., S. 283 18 Ebd., S. 287.

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Neben diesen ließen sich viele andere Studien anführen, die in ihren Analysen der Kafka’schen Texte vom Wörtlichkeitsparadigma respektive vom Buchstäblichkeitsparadigma ausgehen. Ich schließe an diese Arbeiten an und werde im Folgenden mit Blick auf Beispielkonfigurationen aus dem Œuvre nachzuzeichnen versuchen, wie sich die »Begriffe von oben«19 (um die Adorno-Formulierung aufzugreifen) und das Wörtlich-Nehmen respektive das Buchstäblich-Nehmen zueinander verhalten. Fokussiert werden soll das Geschäft des Wörtlich-, des BuchstäblichNehmens, des Konkretisierens und Entmetaphorisierens in Texten Kafkas ausgehend von der Psychoanalyse-Bemerkung Adornos: »Wie in einer Versuchsanordnung studiert« Kafka, »was geschähe, wenn die Befunde der Psychoanalyse allesamt nicht metaphorisch und mental, sondern leibhaft zuträfen.«20

Buchstäblichkeit und Signifikantenlogik als generatives Prinzip – Kafkas Chiffrierungsverfahren Was Kafkas Signifikantenlogik betrifft, soll es nicht darum gehen, einen einflussphilologischen Bezug Freuds auf Kafkas nachzuweisen. Konstatiert sei aber eine Strukturhomologie, lässt sich doch Kafkas materiale, seine buchstäbliche Poetik nach den Maßgaben einer Traum- und Signifikantenlogik, wie Freud sie in seiner Traumdeutung zu beschreiben versucht hat, skizzieren.21 Dabei ist an Kafkas Poetik nicht das Neue, dass sie der Materialität des Sprachzeichens verpflichtet ist. Findet sich ein Spiel mit der Materialität von Sprache doch auch – um ganz beliebig in die Literaturgeschichte zu greifen – bei Goethe. Zitiert sei aus dem West-östlichen Divan der Eingang des Gedichts Wink: »Und doch haben sie recht die ich schelte:/Denn daß ein Wort nicht einfach gelte/Das müßte sich wohl von selbst verstehn./Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben«.22 Das Wort ist also nicht einfach, sondern sozusagen sein eigener Komparativ: ein Fächer. Offensichtlich spielt Goethe hier mit dem Signifikantenmaterial. 19 Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, S. 257. 20 Ebd., S. 262. 21 Vgl. Hartmut Binder: Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka. Bonn 1966, S. 92-114, hier S. 98: »Es ist deshalb verkehrt, wenn A. Wegeler das Verhältnis von Kafka und Freud – ohne übrigens nach den historischen Zusammenhängen zu fragen – auf den Aspekt des Symbols und dessen Unanalysiertheit oder Reduziertheit beschränken möchte und einen Einfluß Freuds in dem technischen Moment der Verdichtung der Handlungsfäden erblicken will, die in Kafkas Werk den gleichen Gesetzen gehorchen soll, die Freud für das Traumleben erhellt hat, denn darauf konnte Kafka bei der Aufgeschlossenheit, mit der er seinem eigenen Traumleben gegenüberstand, selbst kommen.« 22 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 2.12., neubearbeitete Aufl. München 1981, S. 25.

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Was bei Kafka anders ist als etwa bei Goethe, ist, dass seine Texte nicht bloß mit Wortspielen, die bei Kafka nicht selten wie Kalauer anmuten, ornamentiert sind, sondern dass die Signifikantenlogik, das Prinzip Buchstäblichkeit, die Kafka’schen Texte – und zwar auch große narrative Texte – strukturiert. Begonnen sei mit einem Blick auf das erste Kapitel des Verschollenen, das Kafka unter dem Titel Der Heizer publiziert hat – und das mit der Schilderung einer ganzen Serie von Fehlleistungen beginnt, die auch Freud in seiner Psychopathologie des Alltagslebens nicht schöner ersonnen hat – das erste Kapitel des Verschollenen folgt jener Logik der Signifikanten, auf die hier Bezug genommen werden soll. Karl Roßmann, der – »von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte« 23 . begibt sich, als das Schiff in den Hafen New Yorks einläuft, seinen Regenschirm suchend, in das Innere seines Ozeandampfers. Es wird beschrieben, wie er in den labyrinthischen Gängen unter Deck umherirrt und auf den Heizer trifft: »[Karl] fieng [.] an ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Türe zu schlagen [.], bei der er in seinem Herumirren stockte. […] ›Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?‹ fragte ein riesiger Mann, kaum daß er nach Karl hinsah. […] ›Ich habe mich verirrt‹, sagte Karl. […] ›Aber kommen Sie doch herein […], Sie werden doch nicht draußen stehn.‹ […]. ,Sind Sie ein Deutscher?‹ suchte sich Karl noch zu versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welche besonders von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen.«24 Der irrende Karl klopft ganz verrückt, ganz irre an die Tür eines Heizers, von dem sich erweisen wird, dass der verrückt, irre ist (er kann nämlich nicht ja oder nein sagen, versagt vor den Anforderungen der symbolischen Ordnung). Der Heizer ist aber nicht nur verrückt, irre, Karl, der im Schiff herumirrende und irre an die Tür klopfende, vermutet, dass der Heizer auch Ire, Irländer sei. Hätte Kafka nicht das Herumirren beschrieben, sondern zum Beispiel die Enge der Schiffsgänge thematisiert, hätte Karl sicher vermutet, der Heizer sei Engländer – und ein engelhaftes (›englisches‹) Aussehen hätte der Heizer dann wohl auch gehabt. Der skizzierte ›Mechanismus‹ ist tatsächlich dadurch gekennzeichnet, dass, um mit Hans-Thies Lehmann zu sprechen, Sinn sich »als Effekt der Schrift«25 einstellt. Das Signifikantenmaterial macht die Vorgabe, welcher Nationalität der Heizer angehört – und sein psychisches Krankheitsbild wird generiert, weil Karl sich den rechten Weg nicht hat merken können und orientierungslos in den Gängen herumläuft. Der Text generiert Signifikantenketten, die sich unmittelbar aus den jeweils vorherigen ergeben. Wenn die Eltern von Karl Roßmann ›arm‹ genannt werden (natürlich entsenden sie ihren Sohn nach Amerika), wundert es nicht, dass im 23 Franz Kafka: Der Verschollene. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt 1983, S. 7. 24 Ebd., S. 10, Hervorhebungen von Verf. 25 Lehmann: Der buchstäbliche Körper, S. 100.

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nächsten Satz »die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht« erblickt wird – eine Freiheitsgöttin, deren »Arm […] wie neuerdings empor[ragt]«.26 Weltreferenz ergibt sich als Wirkung von Selbstreferenz. Der Kalauer wird zur Literaturgenerierungsmaschine, es sind die Zufälligkeiten der Signifikantenketten, die den Text organisieren. Und diese Signifikantenketten organisieren nicht nur den Text, sie organisieren auch den Produktionsprozess – angeführt sei ein Beispiel aus dem Proceß, der damit beginnt, dass der Protagonist sein eigenes Gericht einläutet – läutet Josef K. doch nach dem Frühstück, also dem ersten Gericht des Tages. In dem Gespräch, das Josef K. nach seiner Verhaftung mit seiner Wirtin führt, sagt er, er fühle sich durch die Verhaftung »überrumpelt«.27 Und das nächste Kapitel, das Kafka niederschreibt, bevor er das Schlusskapitel in Angriff nimmt, ist das in einer Rumpelkammer spielende Prüglerkapitel. Buchstäblichkeit fungiert bei Kafka aber nicht nur als Produktionsmaschinerie und als Generator, der Textbausteine hervorbringt, die durch die Signifikantenketten vorgegeben werden. Buchstäblichkeit ist auch die Voraussetzung für ein bestimmtes Chiffrierungsverfahren. In der Tagebucheintragung vom 11. Februar 1913, einem Dienstag, führt Kafka – die Stelle ist zu Recht berühmt – Folgendes zu seiner von Peter von Matt als ›Durchbruchstext‹ kategorisierten Erzählung Das Urteil an: »Georg hat soviel Buchstaben wie Franz. In Bendemann ist ›mann‹ nur eine für alle noch unbekannten Möglichkeiten der Geschichte vorgenommene Verstärkung von ›Bende‹. Bende aber hat ebensoviele Buchstaben wie Kafka und der Vokal e wiederholt sich an den gleichen Stellen wie der Vokal a in Kafka[.] Frieda hat ebensoviel Buchstaben wie Felice und den gleichen Anfangsbuchstaben, Brandenfeld hat den gleichen Anfangsbuchstaben wie Bauer und durch das Wort ›Feld‹ auch in der Bedeutung eine gewisse Beziehung. Vielleicht ist sogar der Gedanke an Berlin nicht ohne Einfluß gewesen und die Erinnerung an die Mark Brandenburg hat vielleicht eingewirkt.«28 Bekannt ist dieses Verfahren der buchstäblichen autobiographischen Inskription, das Kafka hier selbst im Detail aufschlüsselt, auch aus anderen Texten Kafkas – erinnert sei nur an den Protagonisten Gregor Samsa (die Buchstabenfolge ›Samsa‹ verhält sich ähnlich zu Kafka wie die Buchstabenfolge ›Bende‹). Erinnert sei auch an den kastrierten, abgekürzten Protagonistennamen im Schloß K., und an den Josef K. des Processes, der mit einem Vornamen versehen ist, der über den k.-u.-k.-Kaisernamen Franz-Joseph auf den Vornamen des Autors, Franz, verweist. 26 Kafka: Der Verschollene, S. 7. 27 Franz Kafka: Der Proceß. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt 1990, S. 34. 28 Franz Kafka: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. New York City 1990, S. 492.

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Sind die buchstäblichen, signifikantenlogischen Verfahren zu einem traumlogisch inspirierten Textgenerierungsverfahren in Bezug zu setzen, verweist die buchstäbliche Chiffriermethode, über die Kafka im Tagebucheintrag vom 11. Februar räsoniert, auf die autobiographische Referenzdimension der Texte.

Demythisierung durch Konkretisierung – Entmetaphorisierung als Verfahren Stellt das gewählte Beispiel aus dem Verschollenen das kreative, textgenerierende und auch anarchische signifikantenlogische Buchstäblichkeitsprinzip aus, geht es im Folgenden um die Konfiguration übertragene Bedeutung – wörtliche Bedeutung, um die (wie Adorno sagt) ›leibhafte‹, nicht ›mentale‹ und ›metaphorische‹ Auffassung, um das Verfahren der Entmetaphorisierung, der Konkretisierung also. Das sei zunächst aufgezeigt an einer Episode des Schloß-Romanfragments, die im Kapitel Amalias Geheimnis geschildert wird. Im Schloß lässt sich nirgends genauer als in diesem Kapitel der Mechanismus der Vergegenständlichung und der Vergötzung des – für die psychoanalytische Konstruktion nicht nur der Individuen, sondern von Gesellschaft generell – signifikanten Emblems, des Phallus, studieren. Kafka entstellt mittels trivialer Konkretisierung diese Metapher, entmythologisiert dadurch die psychoanalytische Konstruktion von Gesellschaft, die ohne Phallus-Idolatrie nicht zu denken ist, und führt jenes männliche, quasi‐göttliche phallische Prinzip als zu verlachendes vor. Das geschieht im Kapitel Amalias Geheimnis durch eine  ›plastische Darstellung‹, durch eine ›Konkretisierung‹, die an Drastik und Banalität wohl schwer zu übertreffen ist:29 In Szene gesetzt wird das phallische Prinzip als phallische Maschine: als Feuerspritze.30 Zwecks Einweihung dieser vom Schloss gespendeten ›Spritze‹ – das erzählt Olga dem Protagonisten K. – wurde, einige Jahre vor K.s Ankunft im Dorf, an einem dritten Juli (nebenbei: das Datum von Kafkas Geburtstag) ein Feuerwehrfest veranstaltet, an dem ihre Familie teilnahm: »Das Fest war auf einer Wiese vor dem Dorf am Bach, es war schon ein großes Gedränge als wir ankamen, auch aus den Nachbardörfern war viel Volk gekommen, man war ganz verwirrt von dem Lärm. Zunächst wurden wir natürlich vom Vater zur Feuerspritze geführt, er lachte vor Freude als er sie sah, eine neue Spritze machte ihn glücklich, er fing an sie zu betasten und uns zu erklären, 29 Die Konkretisierung operiert auf dem Niveau von Männerwitzen: die Gerätschaft, die allseits bewundert wird, dient dazu, ›abzuspritzen‹ und (erotisches) Feuer zu löschen. Überdies wird beim Einweihungsfest auch noch auf Trompeten geblasen. 30 Das phallische Prinzip abgebildet sieht Elizabeth Boa bereits in der Schlossarchitektur, aus der ein Turm hervorragt: Elizabeth Boa: Feminist Approaches to Kafka’s The castle. In: Richard Sheppard (Hg.): New Ways in Germanistik. New York, Oxford, München 1990, S. 112-127, hier S. 122ff.

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er duldete keinen Widerspruch und keine Zurückhaltung der andern, war etwas unter der Spritze zu besichtigen, mußten wir uns alle bücken und fast unter die Spritze kriechen, Barnabas, der sich damals wehrte, bekam deshalb Prügel«.31 Die admirative Haltung, das kindische Hingerissensein des Vaters von der ›Spritze‹ mutet eigenartig an: das (fast hysterische) Ausmaß seiner Begeisterung für diesen Gegenstand (sei er auch neu und besonders funktionstüchtig) erscheint ein wenig übertrieben. Verständlich wird die väterliche Reaktion (die die eigene »Aufmerksamkeit für die Spritze« als »Gebot«32 auch der übrigen Familie dekretiert) nur dann, wenn man das Feuerwehrfest als kultisches Ritual liest – bei dem es um die Anbetung der ›Spritze‹ geht,33 eines Gottes respektive Götzen. Aber natürlich steht die quasi‐sakrale Atmosphäre in groteskem Widerspruch zur Trivialität des Gegenstands, um dessentwillen ein solches Theater gemacht wird. Und die Aura des Komischen bleibt nicht nur auf die Spritze als solche bezogen, es gerät auch das, was die Spritze plastisch darstellt, ins satirische Visier: Dem Eindruck, dass es so lächerlich ist, die Spritze zu vergötzen wie auch den Phallus, für den die Spritze steht (das lässt sich mit Blick auf die Schlossgesellschaft und die Beziehung der Herren vom Schloss sehr konkret zeigen), wird man sich nicht entziehen können. Raffiniert und schlagend mutet Kafkas Defiguration und Demythisierung von Phallus-Idolatrie vor allem deshalb an, weil es ihm gelingt, ein zentrales Freud’sches Axiom mit Freud gegen Freud zu lesen – ein dekonstruktives Meisterstück avant la lettre. Vorgestellt sei ein zweites Beispiel für Demythisierung durch Konkretisierung. Am 27. Januar 1911 schreibt Kafka an seinen Freund Brod: »Lieber Max – ich fahre Montag nach Friedland. Heute hat sich gezeigt, daß ich morgen zum Zahnarzt muß, ich komme also kaum vor 6 zu Dir. Kleist bläst in mich, wie in eine alte Schweinsblase. Damit es nicht zu arg wird und weil ich es mir vorgenommen habe, gehe ich jetzt in die Lucerna[.]«34 Unter den zahlreichen Erwähnungen Kleists und Kleist’scher Texte, die sich in Kafkas Aufzeichnungen und Briefen finden,35 31 Franz Kafka: Das Schloß. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1983, S. 298f., Hervorhebungen von Verf. 32 Ebd., S. 299. 33 Man bückt sich und kriecht wie bei liturgischen Handlungen. 34 Franz Kafka: Briefe 1900-1912. Kritische Ausgabe. Hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.M. 1999, S. 132. Bei der »Lucerna« handelt es sich um ein bekanntes Prager Kabarett, das Brod und Kafka gern gemeinsam besuchten. 35 Vgl. Kafka: Tagebücher, S. 148f. (20.2.1911); S. 264 (23.11.1911); S. 610 (11.12.1913); Kafka: Briefe 1900-1912, S. 158 (10.7.1912); S. 167f. (7.9.1912); sowie Franz Kafka: Briefe 1913–März 1914. Kommentierte Kritische Ausgabe. Hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.M. 1999, S. 83f. (9./10.2.1913). Wenige Wochen, bevor Kafka am 27. Januar 1911 die oben zitierte Postkarte an seinen Freund Brod schreibt, berichtet er dem Adressaten von Kleistrezitationen im häuslichen Rahmen. Am 4. Januar formuliert Max Brod in seinem Tagebuch: »Kafka erzählt, daß er seinen Schwestern Kleist vorliest. Sie weinen. ›Das sind jetzt meine besten Leistungen‹« (zitiert nach Kafka: Brie-

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ist der Satz »Kleist bläst in mich, wie in eine alte Schweinsblase« nicht der berühmteste und meistzitierte, aber sicher der prägnanteste (und ›kafkaeskeste‹). Notiert ist »Kleist bläst in mich, wie in eine alte Schweinsblase« auf der Rückseite einer Postkarte, nicht in einem Brief, nicht in einer Tagebuchaufzeichnung oder etwa in einem Essay. Das ›Format‹, die Textsorte Postkarte nun stellt einen besonders beschränkten, beschnittenen ›Schreibraum‹ zur Verfügung; Postkarten werden zur informellen Kommunikation genutzt (und provozieren sowohl stereotypisierte Formulierungen als auch den Versuch, die Stereotypie qua Originalität zu durchkreuzen). Das auf ihnen Geschriebene ist nicht durch das Briefgeheimnis geschützt – ihr Text ist privat und öffentlich zugleich. Anders als der Brief, der dem Œuvre eines Autors in der Regel zugerechnet wird, steht die Postkarte für eine ›Kleinstform‹, am äußersten Rand von Dichterœuvres angesiedelt. Jedenfalls inszeniert das Medium eine – kafkaeske – Doppelbotschaft. Lese mich, denn was auf mir geschrieben ist, ist nicht durch einen Briefumschlag verdeckt und es ist auch nicht verboten, mich zu lesen – respektive: Lese mich nicht, denn Du bist nicht der Adressat und diese Nachricht ist nicht für Dich bestimmt. Dieses (durchaus obszön anmutende) Spiel der Postkarte (die als ›ausgezogener‹ Brief konzeptualisiert werden kann) ist als medialer Bezugsraum des kurzen Textes, den Kafka notiert (und der diese Obszönität auf anderer Ebene prozessiert), im Gedächtnis zu behalten. »Kafka bläst in mich, wie in eine alte Schweinsblase« nun beschreibt ganz literal die Inspiration des einen Autors durch einen anderen Autor: Der PostkartenSchreiber präsentiert sich als denjenigen, in den hineingeblasen werde. Aufgerufen wird ein etablierter biblischer Topos: in der Schöpfungsgeschichte (1. Moses 2,7) haucht Gott dem aus Erde geformten Menschen Atem ein – erst dieser ›pneumatische Akt‹ verlebendigt die vorher angefertigte Tonfigur – ›zeugt‹ aus ihr einen Menschen. In der Lutherbibel heißt es: »VND gott der HERR machet den menschen aus dem Erdenklos/Vnd er blies jm ein den lebendigen Odem in seine Nasen/Vnd also ward der Mensch eine lebendige Seele.« Kafkas Postkartentext rückt Kleist, den bewunderten Autor, an die Stelle des Schöpfergottes. Der bereits tote Autor inspiriert den (noch) lebenden im buchstäblichen Sinne: Er bläst ihm ein. Etabliert wird eine paradoxe Konfiguration: Der Tote belebt den noch nicht Gestorbenen, fe 1900-1912, Kommentar zu 178, S. 480). Diese Notiz ist bemerkenswert, weil Kafka (jedenfalls in der Äußerung, die Brod ihm in den Mund legt) sich tatsächlich zu einem ›Sprachrohr‹ Kleists macht (respektive einem Resonanzraum – ein solcher ist die Schweinsblase eben auch, das wird ausgeführt werden). In ein ambivalent ironisches Licht gerückt ist die Formulierung »Das sind jetzt meine besten Leistungen« deshalb, weil sie textlinguistisch nicht nur rückzubeziehen ist auf Kafkas überzeugende und offensichtlich anrührende Rezitation Kleists, sondern auch auf deren ›Erfolg‹, die Tränen der Schwestern (von denen der Vorleser mit ein wenig sadistischem Vergnügen zu berichten scheint: seine momentane Potenz liegt – so wird suggeriert – nicht im Schreiben eigener, sondern im Rezitieren fremder Texte. Rühren, im Innersten treffen vermag er seine Familie aber selbst auf diese Weise).

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versorgt ihn mit Lebens-Geist(ern). Mit dem Inspirationsbild aufgerufen ist aber nicht nur die biblische Tradition, sondern auch Platons Lehre vom göttlichen Ursprung der Kunst. Der Rhapsode, so die Argumentation im Ion, singt/spricht nicht aus sich selbst, sondern als von den Göttern Inspirierter, Begeisterter, Besessener.36 Egal, ob als Referenzfigur die griechische Philosophie oder die biblische Genesis aufgerufen ist, Kafka schreibt nicht (nur) »Kleist bläst in mich«, sondern »Kleist bläst in mich, wie in eine alte Schweinsblase«. Und dieser nachgestellte Vergleich kompliziert den aufgerufenen Topos ganz erheblich. Das hehre Bild des Einhauchens göttlichen Lebensodems wird kombiniert mit einem Abfallprodukt aus dem Schlachthaus: der Schweinsblase – einem Requisit, das bis ins 20. Jahrhundert als Luftballon und Kinderspielzeug diente.37 Mit Schweinsblasen wurden auch Trommeln bezogen (und nicht erst die Trommel, schon die Blase figuriert als Resonanzraum, in dem der eine Autor den anderen möglicherweise zum ›Klingen‹ bringen kann). Überdies wurden (und werden) Schweinsblasen bei Faschings- und Karnevalsbräuchen eingesetzt38 : Die Protagonisten des Karnevals selbst, die Narren, sind im Französischen und Englischen (fou, fool) abgeleitet von lateinisch »follis« – dem leeren Sack. (Nicht nur) dieser karnevalistische Kontext macht plausibel, dass die Schweinsblase für ›Fleischlichkeit‹, ›schweinische‹ Sexualität, tabuierte Ausscheidungsvorgänge steht. In Kafkas 9-Wörter-Satz wird die Schweinsblase analogisiert mit dem zu inspirierenden Körper (des Postkartenschreibers); der wird mehr oder weniger umstandslos mit dem wenig edlen Tierorgan verglichen.39 So ungeheuerlich es ist (jedenfalls auf der Folie der Autorendiskurse des 18., 19., ja auch noch des 20. Jahrhunderts): Kafka inszeniert sich als Urinbehälter. Der Autor wird zum Ausscheidungsorgan, aus dem Tinten-Urin-Ströme aufs Papier fließen werden. Der Schreibakt, das impliziert der Kafka’sche Vergleich, wird zum ›natürlichen‹ 36 Die Fähigkeit, gut zu dichten, entspringt nach Platon nicht menschlichem Vermögen und menschlicher Vernunft, sondern göttlicher Eingebung: »Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, […] aus den Strömen Milch und Honig, nur wenn sie begeistert sind, schöpfen, wenn aber ihres Bewußtseins mächtig, dann nicht«. (Platon: Ion, 534a. In: Ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Bd. 1: Ion. Hippia II. Protagoras u.a. Bearbeitet von Heinz Hofmann. Darmstadt 1977, S. 15). 37 Vgl. etwa Francisco de Goyas Kinder mit der Schweinsblase, 1778. Öl auf Leinwand, 116x124 cm. Prado, Madrid. 38 Da gibt es zunächst einmal als Schlaginstrument die Schweinsblase (›Saubloder‹), die an einem Holzstecken oder Farrenschwanz befestigt ist. Die vor der Fastenzeit reichlich anfallenden Schweinsblasen boten sich für diese Zweckentfremdung geradezu an. Mit ihnen schlägt der Narr (z.B. der Elzacher Schuttig) nach den am Rande stehenden Zuschauern, vorzugsweise natürlich den Mädchen, ohne diesen allerdings wirklich wehzutun. Dabei wird er sich in erster Linie am Gekreische der Be(Ge)troffenen erfreuen. 39 Kafka bedient sich eines Vergleichs – und schließt damit an die zahlreichen »als‐ob«- und »wie«-Strukturen an, die für Kleists Œuvre so konstitutiv sind.

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Toilettenbedürfnis (Textproduktion erleichtert, entleert den Autor), das Schreiben produziert Ausscheidungen, Abfall, litter, letter – um das berühmte Sprachspiel James Joyce’ aufzugreifen,40 der wie Kafka dezidiert körperliche Ausscheidungen und Textproduktion (sowie -rezeption41 ) analogisiert. In dem fokussierten Schweinsblasensatz werden Göttlichstes (Inspiration) und Tierischstes (Schweinsblase, Ausscheidungsvorgänge, Sexualität) übereinandergeblendet. Kafkas Gott Kleist bläst in den jüngeren Autor hinein, wie in einen schweinischen Urinbehälter; er füllt den leeren Sack mit seinem Pneuma. Es ist davon auszugehen, dass der inspirierte Autor/die bespielte Schweinsblase doppelt ›aufgeblasen‹ sind: Der Sack ist luftgefüllt – und möglicherweise ist auch der Autor ›aufgeblasen‹ (vielleicht gar mit ›heißer Luft‹), eingebildet, arrogant, weil mit Eingebungen eines besonders bewunderten Dichters versehen. Der Effekt des Entmetaphorisierungs-, des Konkretisierungsparadigmas, das sowohl für die Schloß-Episode als auch für den hier zitierten Postkartentext kennzeichnend ist, ist in erster Linie ein ideologiekritischer. Wie sagt Adorno: »Kafkas Gebilde hüteten sich vor dem mörderischen Künstlerirrtum, die Philosophie [oder 40 So heißt es in James Joyce’ Finnegans Wake: »The letter! The litter! And the soother the bitter!«. Aber auch: »One sees how he is lot stoutlier than of formerly. One would say him to hold whole a litteringture of kidlings under his aproham. Has handsome Sir Purntner always been so long married?« Und: »[C]atastrophies and eccentricities transmitted by the ancient legacy of the past; type by tope, letter from litter, word at ward, wirth sendence of sundance, since the days of Plooney and columcellas […]«. (James Joyce: Finnegans Wake. London 1960, S. 93, S. 570 und S. 615.) 41 Vgl. dazu James Joyce: Ulysses. London 1992, S. 83f.: »Quietly he read, restraining himself, the first column and, yielding but resisting, began the second. Midway, his last resistance yielding, he allowed his bowels to ease themselves quietly as he read, reading still patiently, that slight constipation of yesterday quite gone.« Ebd., S. 85: »He tore away half the prize story sharply and wiped himself with it.« Bemerkenswert am Protagonisten des Ulysses ist in diesem Zusammenhang auch seine Affinität zu Urin: »Most of all he liked grilled mutton kidneys which gave to his palate a fine tang of faintly scented urine« (ebd., S. 65). Nicht erst das 20. Jahrhundert entdeckte die ›Doppelfunktion‹ von Papier (als Schriftmedium und als Toilettenpapier), bereits Grimmelshausen expliziert diesen Zusammenhang im Simplicissimus: »Ich erwachte viel früher als die Hausgenossen selbst, konnte aber drum nicht aus der Kammer kommen, eine Last abzulegen, die zwar nicht groß, aber doch sehr beschwerlich war, sie über die bestimmte Zeit zu tragen […]; nach Erörterung der Sach, als ich eben an des Baldaners Lehr und Kunst gedachte, langte ich aus einem neben mir hangenden Garvier ein Oktav von einem Bogen Papier, an demselbigen zu exequieren wozu es, neben andern mehr seiner Kameraden, kondemniert und daselbst gefangen war. ,Ach!ʻ sagte dasselbige, ,so muß ich denn nun auch für meine treu geleisteten Dienste und lange Zeit überstandenen vielfältigen Peinigungen […], nun erst den allgemeinen Dank der ungetreuen Welt erfahren und einnehmen? ach warum hat mich nit gleich in meiner Jugend ein Fink oder Goll aufgefressen […], ehe dass ich einem solchen Landfahrer den Hintern hätt wischen und meinen Untergang im Scheißhaus nehmen müssen« (Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicius Simplicissimus. München 131995, S. 528).

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die Psychoanalyse – oder welches Gedankensystem auch immer, Anm. d. Verf.], die der Autor ins Gebilde pumpt, sei dessen metaphysischer Gehalt.«42 Selbst wenn die Texte (und bei dem zweiten Text haben wir es mit einem 9-Wörter-Satz auf einer Postkarte zu tun) in irgendeiner Weise metaphysisch aufgeladene Axiome in Szene setzen, lassen sie diese Axiomatiken kollabieren – durch Konkretisierung, durch Entmetaphorisierung. Solche Konkretisierungen, solche Entmetaphorisierungen sind für das Kafka’sche Schreiben durchgehend bestimmend. War die Rede von der Inspiration, die konkretisiert, die entmetaphorisiert wird, lässt sich auch ein Bogen zurückschlagen zur Niederschrift des Urteils  – jenes Durchbruchtextes, auf den im Kontext der autobiographischen, buchstäblichen Chiffriermethode schon die Rede war. Über das Urteil schreibt Kafka, die Geschichte sei »wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt« aus ihm »herausgekommen«.43 Nun ist es ein Topos, dass männliche künstlerische Kreativität und Produktivität nicht nur mit Zeugungs-, sondern auch Geburtsmetaphern dargestellt wird. Christian Begemann und David Wellbery beispielsweise haben davon gehandelt.44 Bei Kafka nun aber haben wir es wieder mit dem Fall zu tun, dass die ›Geburt‹ der Erzählung nicht bloßes on‐dit ist, sondern ins Regelrechte verschoben wird – er schreibt: die »Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen«. Und nicht nur den Vorgang der Geburt hat Kafka in Bezug auf das Urteil im Sinn. Max Brod gegenüber äußert er bekanntlich, er habe beim letzten Satz des Urteils, »In diesem Augenblick gieng über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr«45 , an eine »starke[.] Ejakulation« gedacht.46 Wörtlich-Nehmen, Entmetaphorisierung, Operieren mit Homonymen, das sind beliebte Deutungsverfahren der Psychoanalyse, die Kafka rekursiv (auch) auf psychoanalytische Konfigurationen anwendet. Seine Texte spielen selbstreflexiv mit ihrer Buchstäblichkeit. Dieses Verfahren erlaubt es Kafka, dessen Texte zu so großen metaphysischen Deutungen einzuladen scheinen, eben diese metaphysischen Ansätze zu unterlaufen. Die Textgebilde präsentieren sich so als anti‐idealistische und anti‐metaphysische. Die großen Erzählungen scheinen zwar angeboten zu werden, werden aber durch die skizzierten Strategien desavouiert – durchaus auch komisch desavouiert. Mittels Buchstabenspielen wird das Autobiographische inskribiert und die Signifikanten verfolgen ihre anarchische, nicht den Signifikaten verpflichteten Logiken. 42 Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, S. 257. 43 Kafka: Tagebücher, S. 491. 44 Vgl. Christian Begemann und David W. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt: Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg 2001. 45 Kafka: Tagebücher, S. 460. 46 Harmut Binder: Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1975, S. 152.

Kafkas buchstäbliche Rhetorik

Literatur Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild (Gesammelte Schriften, Bd. 10.1). Frankfurt a.M. 1977, S. 254-287. Begemann, Christian/Wellbery David W. (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt: Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg 2001. Binder, Hartmut: Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka. Bonn 1966. Binder, Harmut: Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1975. Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von: Simplicius Simplicissimus, München 13 1995. Boa, Elizabeth: Feminist Approaches to Kafka’s The castle. In: Richard Sheppard (Hg.): New Ways in Germanistik. New York, Oxford, München 1990, S. 112-127. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 2.12., neubearbeitete Aufl. München 1981. Hiebel, Hans H.: Franz Kafka. Form und Bedeutung. Formanalysen und Interpretationen von Vor dem Gesetz, Das Urteil, Bericht für eine Akademie, Ein Landarzt, Der Bau, Der Steuermann, Prometheus, Der Verschollene, Der Proceß und ausgewählten Aphorismen. Würzburg 1999. Joyce, James: Ulysses. London 1992. Joyce, James: Finnegans Wake. London 1960. Kafka, Franz: Der Verschollene. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt 1983. Kafka, Franz: Der Proceß. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt 1990. Kafka, Franz: Das Schloß. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1983. Kafka, Franz: Das Urteil. In: Ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Hans-Gerd Koch, Wolf Kittler und Gerhard Neumann. New York City 1994. Kafka, Franz: Briefe 1900-1912. Kritische Ausgabe. Hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.M. 1999. Kafka, Franz: Briefe 1913–März 1914. Kommentierte Kritische Ausgabe. Hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.M. 1999. Kafka, Franz: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. New York City 1990. Lehmann, Hans-Thies: Der buchstäbliche Körper. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Franz Kafka. In: Gerhard Kurz (Hg.): Der junge Kafka. Frankfurt a.M. 1984, S. 213-241. Matt, Peter von: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München/Wien 1995. Platon: Ion. In: Ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Bd. 1: Ion. Hippia II. Protagoras u.a. Bearbeitet von Heinz Hofmann. Darmstadt 1977.

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Autorinnen und Autoren

Katrin Becker, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Germanistik und Rechtsphilosophie an der Université du Luxembourg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte im Bereich »Recht und Kultur«, Kulturtheorie, und neue Technologien. Till Dembeck, Assoc. Professor für neuere deutsche Literatur und Mediendidaktik an der Université du Luxembourg. Arbeitsschwerpunkt: neuere deutsche Literaturgeschichte, Lyrik, literarische Mehrsprachigkeit, Text-, Kultur- und Medientheorie, Geschichte der Linguistik. Thomas Emmrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte in der Literaturtheorie, der antiken Literatur und deren Rezeption sowie der europäischen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Achim Geisenhanslüke, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte in der Literaturtheorie und der europäischen Literatur vom 17.-21. Jahrhundert. Judith Kasper, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie, Dekonstruktion und Psychoanalyse, Holocaust-Studies, Lyrik- und Übersetzungstheorie. Eva-Maria Konrad, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsund Forschungsschwerpunkte in der Literaturtheorie und der europäischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts.

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Buchstäblichkeit

Claudia Liebrand, Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft/Medientheorie am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Arbeitsund Forschungsschwerpunkte in der Literatur des 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne, Geschlechterdifferenz sowie Medien (insb. Film) und kulturelle Kommunikation. Maren Scheurer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und am Institut für England- und Amerikastudien der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsinteressen beinhalten Literatur und andere Medien vom späten 19. Jahrhundert bis zum 21. Jahrhundert, die Ränder des Realismus, die Wechselverhältnisse zwischen den Künsten und den Wissenschaften, Therapiedarstellungen, psychoanalytische Ästhetik, Serialität, Disability und Gender Studies. Thomas Schröder, Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität Frankfurt/Main und Buchhändler in Mainz. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Theorie im Anschluss an Hölderlin und Hegel bis in die aktuelle Gegenwart. Heinz Sieburg, Professor für Germanistische Mediävistik und Linguistik an der Université du Luxembourg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte im Bereich der mittelhochdeutschen Literatur, der Varietätenlinguistik und historischen Sprachwissenschaft. Oliver Völker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsund Forschungsschwerpunkte in der Literatur vom 19.-21. Jahrhundert und der Geschichte des Naturbegriffs.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Michael Basseler

An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3

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Literaturwissenschaft Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6

Laura Bieger

Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

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