Reader Superhelden: Theorie - Geschichte - Medien 9783839438695

Are super heroines feminists? How do ancient myths, the biblical story of Samson or Nietzsche's philosophy influenc

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German Pages 536 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Geleitwort
Einleitung
I. Vorläufer in der Literatur- und Kulturgeschichte
Einführung
Homer: Ilias, Gesang XXII: Der Kampf zwischen Achilles und Hektor
Bibliotheke des Apollodor, II, 74-126: Die zwölf Arbeiten des Herakles
Altes Testament, Buch der Richter, Kap. 13-16: Simson
Edda, 9: Odins Trinkgelage
Das Nibelungenlied, Str. 86-100: Siegfried
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra
II. Definitionsansätze
Einführung
Die Definition des Superhelden
Helden und Superhelden
Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics
Spider-Mans Heldenmaske. Kampf um Männlichkeit im Superheldengenre
Batman & Robin
Marvel-lous Masked Men. Doppelidentitäten in Superheldenfilmen
III. Historiographie
Einführung
Eine jüdische Geschichte der Superheldencomics
Superhelden
Hitler, Comic-Star
Eisner
IV. Frühe Stellungnahmen
IV. Frühe Stellungnahmen
Warum 100.000.000 Amerikaner Comics lesen
Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen
Ver führung der Unschuldigen
Interview mit Roy Lichtenstein
Der Mythos von Superman
V. Selbstaussagen und Selbstreflexionen im Medium des Comics
Einführung
V.1 Selbstaussagen
Unsere neue Mythologie
»Die Griechen hatten Götter, wir haben Supermänner«. Interview mit Frank Miller Interview: Nina Rehfeld
Ein Gespräch mit Alan Moore Interview: Lutz Göllner
»Ich mag Problemlöser mit Knarre«. Interview mit Mark Millar Interview: Jörg Böckem
V.2 Selbstreflexionen im Medium des Comics
Thrilling Adventure Stories
Hothead Paisan
Tell
VI. Zeitgenössische Forschung
Einführung
VI.1 Kulturelle und ethnisc he Stereot ype
»Hey, Turban-Typ«. Arabische und muslimische Superhelden in amerikanischen Comics nach 9/11
Spider-Man India. Comics und die Überset zung/Transkreation amerikanischer Narrative
»Will the ›Real‹ Black Superheroes Please Stand Up?!« Eine kritische Untersuchung der mythologischen und kulturellen Bedeutung schwarzer Superhelden
VI.2 Gender
Die Gebur t der modernen Mythologie und der Mutter aller weiblichen Superhelden
Pink Kryptonite. Das Coming-Out der Superhelden
»It’s time to be a hero«. Vom Scheitern der Gender-Parodie im Comicfilm Kick-Ass
VI.3 Medialität
Der Mythos vom Mythos von Superman
Superman. 50 Jahre här ter als Krupp-Stahl
Genealogie einer hypermedialen Poetik im Zeitalter der Kulturindustrien. Die Transmediation von Spider-Mans Ursprungsgeschichte
Auswahl-Bibliographie zu Theorie, Geschichte und Medien der Superhelden
Editorische Notiz
Quellenverzeichnis
Dank
Zu den Herausgebern
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Reader Superhelden: Theorie - Geschichte - Medien
 9783839438695

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Lukas Etter, Thomas Nehrlich, Joanna Nowotny (Hg.) Reader Superhelden

Edition Kulturwissenschaft  | Band 133

Lukas Etter, Thomas Nehrlich, Joanna Nowotny (Hg.)

Reader Superhelden Theorie – Geschichte – Medien

Gefördert mit finanziellen Mitteln der UBS Kulturstiftung, der ETH Zürich und der Universität Zürich

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Vincenzo Fagnani, Berlin Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3869-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3869-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@ transcript-verlag.de

Inhalt Geleitwor t  | 9 Einleitung  | 11

I. V orl äufer in der L iteratur - und K ulturgeschichte Einführung  | 27 Homer: Ilias, Gesang X XII: Der Kampf zwischen Achilles und Hektor  | 35 Bibliotheke des Apollodor, II, 74-126: Die zwölf Arbeiten des Herakles  | 47 Altes Testament, Buch der Richter, Kap. 13-16: Simson  | 55 Edda, 9: Odins Trinkgelage  | 61 Das Nibelungenlied, Str. 86-100: Siegfried  | 69 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra  | 71

II. D efinitionsansätze Einführung  | 79 Die Definition des Superhelden Peter Coogan | 85

Helden und Superhelden Jeph Loeb und Tom Morris | 109

Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics Stephan Ditschke und Anjin Anhut | 117

Spider-Mans Heldenmaske. Kampf um Männlichkeit im Superheldengenre Änne Söll und Friedrich Weltzien | 157

Batman & Robin Dirck Linck | 171

Mar vel-lous Masked Men. Doppelidentitäten in Superheldenfilmen Aleta-Amirée von Holzen | 191

III. H istoriographie Einführung  | 207 Eine jüdische Geschichte der Superheldencomics Jens Meinrenken | 211

Superhelden Thierry Groensteen und Harry Morgan | 229

Hitler, Comic-Star Georg Seeßlen | 241

Eisner Raymond Pettibon | 247

IV. F rühe S tellungnahmen Einführung  | 253 Warum 100.000.000 Amerikaner Comics lesen William Moulton Marston | 259

Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen Marshall McLuhan | 265

Ver führung der Unschuldigen Fredric Wertham | 271

Inter view mit Roy Lichtenstein Interview: G. R. Swenson | 273

Der Mythos von Superman Umberto Eco | 275

der geist der superhelden Oswald Wiener | 301

Zum Thema Gewalt in Superheldencomics Dagmar von Doetinchem und Klaus Hartung | 311

V. S elbstaussagen und S elbstreflexionen im M edium des C omics Einführung  | 325

V.1 S elbstaussagen Unsere neue Mythologie Stan Lee und George Mair | 335

»Die Griechen hatten Götter, wir haben Supermänner«. Inter view mit Frank Miller Interview: Nina Rehfeld | 345

Ein Gespräch mit Alan Moore Interview: Lutz Göllner | 349

»Ich mag Problemlöser mit Knarre«. Inter view mit Mark Millar Interview: Jörg Böckem | 355

V.2 S elbstreflexionen im M edium des C omics Thrilling Adventure Stories Chris Ware | 361

Hothead Paisan Diane DiMassa | 367

Tell  David Boller | 369

VI. Z eitgenössische F orschung Einführung  | 375

VI.1 K ulturelle und ethnische S tereot ype »Hey, Turban-Typ«. Arabische und muslimische Superhelden in amerikanischen Comics nach 9/11 Fredrik Strömberg | 385

Spider-Man India. Comics und die Übersetzung/Transkreation amerikanischer Narrative Shilpa Davé | 401

»Will the ›Real‹ Black Superheroes Please Stand Up?!« Eine kritische Untersuchung der mythologischen und kulturellen Bedeutung schwarzer Superhelden Kenneth Ghee | 417

VI.2 G ender Die Gebur t der modernen Mythologie und der Mutter aller weiblichen Superhelden Jennifer K. Stuller | 433

Pink Kryptonite. Das Coming-Out der Superhelden Lars Banhold | 439

»It’s time to be a hero«. Vom Scheitern der Gender-Parodie im Comicfilm Kick-Ass Véronique Sina | 445

VI.3 M edialität Der Mythos vom Mythos von Superman Ole Frahm | 467

Superman. 50 Jahre här ter als Krupp-Stahl Wolfgang J. Fuchs | 485

Genealogie einer hypermedialen Poetik im Zeitalter der Kulturindustrien. Die Transmediation von Spider-Mans Ursprungsgeschichte Désirée Lorenz | 493

Auswahl-Bibliographie zu Theorie, Geschichte und Medien der Superhelden  | 509 Editorische Notiz  | 525 Quellenverzeichnis  | 527 Dank  | 531 Zu den Herausgebern  | 533

Geleitwort

»Wer ist Ihr Lieblingssuperheld?« Diese Frage wurde Ihnen vielleicht schon häufig, ein paar Mal oder auch noch nie gestellt. Wenn Sie diese Textsammlung in den Händen halten, ist aber davon auszugehen, dass Sie sich zumindest schon einmal Gedanken darüber gemacht haben. Ich persönlich habe zwei Lieblingssuperheldenfiguren: eine zur Inspiration und eine zur Aspiration. Wonder Woman ist meine ultimative Inspiration. Als Neuauslegung griechischer Mythen ist sie eine Göttin mit endloser Geduld, Güte und Tugendhaftigkeit – und im Zweifel reicht ihr ein Hieb, um einen Schurken hinter den Mond zu befördern. Sie ist am äußersten Ende des Superhelden-Spektrums angesiedelt – eine jener Gottheiten mit grenzenlosen Kräften, die man gleichermaßen bewundert und fürchtet. Die Heldin hingegen, der ich am liebsten nachstrebe – die Figur, von der ich heimlich denke, dass ich sie sein könnte, würde ich mich jemals für ein Vigilantenleben entscheiden –, ist Spoiler. Sie ist weder die klügste noch die stärkste Heldin, aber sie hat nie aufgehört, für Gerechtigkeit zu kämpfen, nicht als Batman es ihr verboten hat, nicht als sie als Teenager schwanger wurde – und nicht einmal, nachdem sie zu Tode gequält worden ist. Sie traf sowohl in der Comicwelt als auch in der Comicindustrie auf Feindseligkeit und Widerstand, meistens aufgrund ihres Geschlechts. Und dennoch kämpfte sie weiter, bis sie schließlich zu einer Art Treffpunkt für weibliche Fans wurde, die sich von der Comicindustrie marginalisiert fühlten. Die eine meiner Lieblingsfiguren ist also eine Gottheit. Die andere ist ein Teenager ohne wirkliche Kräfte, eine Figur, die letztlich ihr Leben lassen musste, zwecks Schockeffekt und gesteigerter Auflage. Superhelden können über uns schweben und Urteil sprechen – eine bewusste Beschwörung der antiken Mythologie. Andererseits sind Superhelden auch erdgebunden aufgrund ihrer ökonomischen Bedingungen, Ideologien und sozialen Hierarchien. In beiden Erscheinungen spiegeln sie dieselben verworrenen Dialoge und Konversationen, die unser Leben bilden. Superhelden sind nicht bloß ein Phänomen der Popkultur, das uns fasziniert; wie alle Medien und Kulturen zeichnen sie sich auch dadurch aus, dass sie uns reflektieren – unsere Fantasien, unsere Ideologien. Es ist ein offenes Geheimnis: Superhelden sind eine inhärent politische Angelegenheit. Das Herausgeberteam hat eine Anthologie zusammengestellt, die die Breite der Diskurse über Superhelden wiedergibt, mit Blick auf Kulturen, Medien und Historiographie. Was diesen Reader so aufregend für mich macht, ist, dass er sich sowohl dafür interessiert, wie Superhelden Mythologie, Literatur und Kunst adap-

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Reader Superhelden

tiert haben (und im Gegenzug von Medien und Kultur adaptiert wurden), als auch dafür, wie sie durch ihr Geschlecht, ihre Ethnizität und ihre Sexualität bestimmt sind. Darüber hinaus bietet die Sammlung auch europäische Perspektiven auf die Superhelden, Überlegungen aus der Geschichte (und auch frühe Stellungnahmen zu diesem Genre) und Fragestellungen zur Form. Und sie enthält sogar Comics, um andere Comics zu kommentieren. Was will man mehr! Das Comicmedium ist sehr weit ausgedehnt und die Comicforschung immer noch relativ jung, daher gibt es fortlaufende Debatten über den Ort der Superheldencomics innerhalb dieses Gebiets. Warum noch einen weiteren Aufsatz über Superman als Symbol US-amerikanischer Ideologie lesen, wenn es andere Comickulturen gibt, die darauf warten, eingehender erforscht zu werden? Warum das Superheldengenre weiterverfolgen, wenn andere Geschichten aus der Welt der Comics eine solche Vielfalt offenbaren? In der Öffentlichkeit bleiben Superhelden allerdings beliebte Kassenschlager. Sie bilden einen wichtigen Teil der Comicproduktionen, was darauf hindeutet, dass sie nach wie vor unseren Alltag auf zugängliche und genussvolle Art mythologisieren – und wir verlangen nach mehr: mehr Frauen, mehr Superhelden unterschiedlicher Ethnizitäten und sexueller Orientierung, mehr komplexe Geschichten. Weil ich fasziniert bin von der Wechselbeziehung zwischen Superhelden und den Fragen nach Gender und Genre, scheint es mir, dass das letzte, was wir brauchen, weniger Superheldenforschung ist – nicht, solange es immer noch so viele unerforschte Figuren gibt, nicht, solange es an den unterschiedlichsten Orten der Erde Künstler gibt, die ihre eigenen, regionalen Superhelden kreieren, nicht, solange das Internet neue Möglichkeiten und Räume für die Superhelden-Fangemeinde schafft, sich mit dem Genre auseinanderzusetzen, und sicherlich nicht, solange wir noch überhaupt über das Wesen des Genres und dessen narrative Verfahren debattieren. Es gibt eindeutig einen Bedarf an mehr innovativer Superheldenforschung und dieser Reader stellt das Genre auf eine zeitgemäße, verständliche und spannende Weise vor. Ich bezweifle nicht, dass die Superheldenforschung von morgen auf den Schultern der in diesem Buch vertretenen Riesen stehen wird. Olivia Hicks

University of Dundee, im November 2017

Einleitung

Wie werden Superhelden definiert? Welche Rolle spielten antike Mythen, die jüdisch-christliche Geschichte des Simson oder Nietzsches Philosophie für die Schöpfer von Superman? Was hat die Nibelungensage mit Marvel zu tun? Wie wandelte sich das Ansehen von Superhelden im Laufe ihrer Geschichte? Welche Medien eroberten sie neben Comics und Filmen? Sind Superheldinnen feministisch? Was haben Comic-Autoren und -Zeichnerinnen zur Darstellung von Superkräften zu sagen? Und wie werden Superhelden in der zeitgenössischen Forschung reflektiert? Diese und ähnliche Fragen stellen sich den Lesern der Comics, den Zuschauerinnen der Kinofilme und TV-Serien, den Spielern der Computerspiele und den Nutzerinnen der unzähligen Merchandise-Artikel, die um die Superhelden herum produziert werden. Antworten auf diese Fragen fand man bisher nur unzusammenhängend in verstreuten Quellen. Dieses Desiderat bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Readers. Er versammelt in sechs thematischen Sektionen Texte zu Theorie, Geschichte und Medialität der Superhelden von ihren Ursprüngen und Anfängen bis zu ihrer heutigen weltweiten Allgegenwärtigkeit. Doch bevor das Konzept, die Bestandteile und die ausgewählten Texte des Readers im zweiten Teil dieser Einleitung erläutert werden, soll zunächst zum allgemeinen Verständnis die Vorfrage geklärt werden, wie die Superhelden entstanden sind: Um heutigen Leserinnen und Lesern zu vergegenwärtigen, welche Entwicklung sie durchlaufen haben, bevor sie zu den omnipräsenten Ikonen der Populärkultur wurden, als die wir sie heute kennen, beginnt diese Einführung mit einem kurzen Abriss der Geschichte der Superhelden.1

1 | Teile dieser Einleitung beruhen auf: Thomas Nehrlich: »Wenn Identität mittels einer Maske sichtbar wird. Zu Geschichte, Wesen und Ästhetik von Superhelden«, in: Nikolas Immer, Mareen van Marwyck (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden. Bielefeld 2013, S. 107-128.

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Reader Superhelden

I. G eschichte der S uperhelden Die Entwicklung der Superhelden ist eng verknüpft mit der Geschichte ihres Ursprungsmediums in den USA.2 Comics waren Ende der 1930er Jahre durch ihre Erscheinungsweise vorrangig als knappe daily comic strips oder als Sonntagsbeilage vom Zeitungswesen noch nicht emanzipiert. Im Frühling 1938 jedoch veröffentlichte der Verlag Detective Comics (später: DC) in der ersten Nummer seiner neugegründeten Heftreihe Action Comics den mehrseitigen Titel Superman von Jerry Siegel und Joe Shuster, der Medium, Verlag und Figur umgehend zum Durchbruch verhalf. Superman ist nicht die erste Figur, die superheroische Züge aufweist – dieser Titel würde möglicherweise Olga Mesmer gebühren, »the Girl with the X-Ray Eyes«.3 Doch erst mit ihm entdecken die Verlage das volle – das heißt immer auch: ökonomische – Potenzial des Superhelden als Figurentyp. Der Verkaufserfolg der ersten Superman-Geschichten war außerordentlich und der Weg geebnet für die Etablierung jener Heft-Serien, die nicht wie zuvor bloß Strips aus Zeitungen nachdruckten, sondern von eigenen Autoren und Zeichnern verantwortet wurden. Zu diesen eigenständigen Reihen gehörte auch die bereits seit 1937 erscheinende Serie Detective Comics, die ihrem Verlag den Namen gab und in deren 27. Ausgabe im Mai 1939 die erste Geschichte um den von Bob Kane und Bill Finger geschaffenen Batman erschien. Im selben Jahr wurde der Verlag Timely Comics (später Marvel) gegründet, der u.a. ab 1940/41 die Geschichten um den von Joe Simon und Jack Kirby erdachten Captain America publizierte.4 Neben einer rasch ansteigenden Anzahl ähnlicher Figuren hatte im Dezember 1941 mit der von William Moulton Marston

2 | Die Geschichte der Superheldencomics ist bereits verschiedentlich ausführlich erzählt worden, vgl. insbesondere zu Superman und Batman u.a. Wolfgang J. Fuchs: »Superman – 50 Jahre härter als Krupp-Stahl«, in: Comic Jahrbuch 1988, S. 26-37; ders.: »Superhelden im Wandel«, in: Comic Jahrbuch 1988, S. 38-50; Thomas Hausmanninger: Superman. Eine Comic-Serie und ihr Ethos. Frankfurt a.M. 1989; Uwe Anton: »50 Jahre Batman. ›Verbrecher sind ein abergläubisches, feiges Pack‹«, in: Comic Jahrbuch 1990, S. 155-159; Richard Reynolds: Super Heroes. A Modern Mythology. London 1992, S. 7-10; Les Daniels: Su­p erman – The Complete History. The Life and Times of the Man of Steel. San Francisco 1998; Will Brooker: Batman Unmasked. Analysing a Cultural Icon. London, New York 2000; Andreas Friedrich, Andreas Rauscher: »Amazing Adventures. Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.): Superhelden zwischen Comic und Film. München 2007, S. 3-10; Michael Gruteser: »Magic Marvel Moments«, in: Friedrich/Rauscher: Superhelden, S. 11-22; Andreas C.: Knigge: »ZeichenWelten. Der Kosmos der Comics«, in: Heinz Ludwig Arnold, Andreas C. Knigge (Hg.): Comics, Mangas, Graphic Novels. Göttingen 2009, S. 5-34; Andreas Platthaus: »Superman – Die Treue zur Utopie und zu Amerika«, in: Klassiker der Comic-Literatur. Bd. 1: Superman. Frankfurt a.M. 2005, S. 3-10; Dietmar Dath: »Batman oder Ich bin der Ausnahmezustand«, in: Klassiker der Comic-Literatur. Bd. 7: Batman. Frankfurt a.M. 2005, S. 3-10; Lars Banhold: Batman. Konstruktion eines Helden. Bochum 42009. 3 | Vgl. Les Daniels: Wonder Woman. The Complete History. San Francisco 2000, S. 18, der sich auf den Comic-Historiker Will Murray bezieht. 4 | Die Erstausgabe, Captain America Comics 1 (März 1941), erschien bereits im Dezember 1940.

Nehrlich/Nowotny/Etter: Einleitung

erschaffenen Wonder Woman die erste bis heute bekannte weibliche Superheldenfigur ihren Auftritt.5 Binnen kurzem waren Verlage, Heftreihen und insbesondere die Superhelden derart etabliert, dass Millionenauflagen abgesetzt wurden. Die zunehmende Emanzipation der Comics als autonomer Artefakte der sich weiter differenzierenden ›neunten Kunst‹6 und die wachsende Popularität der Superhelden leisteten einander wechselseitig Vorschub, zumal während des Zweiten Weltkriegs, als der Bedarf an patriotischen Helden, die ›truth, justice and the American way‹ 7 gegen äußere Anfechtungen verteidigten, besonders groß war. Anfang der 1940er Jahre waren über 150 verschiedene Heftreihen auf dem Markt. Die immense Nachfrage danach sicherte den Erfolg dieses bis in die frühen 1950er Jahre anhaltenden sogenannten ›Golden Age‹ des Superheldencomics und legte den Grundstein für eine ganze Industrie. Das Beispiel des 1941 erstmals auftretenden Captain America, der bereits in der ersten Ausgabe und vor Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg gegen Hitler und die Nazis zu Felde zog, illustriert zwei zusätzliche historische Aspekte des Genres. Die Schöpfer der ersten Superhelden und Pioniere des Genres waren zumeist Kinder jüdischer Immigranten (z.B. Jerry Siegel, Joe Shuster, Bob Kane, Bill Finger oder Jack Kirby, der eigentlich Jacob Kurtzberg hieß) und sensibilisiert für den entfesselten Antisemitismus in Europa. Zudem wurden Superheldencomics seit jeher zu propagandistischen Zwecken genutzt und in ideologischen Konflikten, in heißen und kalten Kriegen als patriotische Vermittlungsmedien der amerikanischen Lebensweise instrumentalisiert.8 Diese politische Funktion der Superhelden schützte sie anfangs noch vor Skepsis und diskursiven Angriffen. Zu Beginn der 1950er Jahre jedoch wurde zunehmend Kritik am populären Medium geäußert: Die Propaganda-Funktion, durch die manche Regelübertretung der Superhelden als Mittel zu übergeordneten (Kriegs-)Zwecken gerechtfertigt worden war, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg an Relevanz verloren. In der Folge verurteilten Pädagogen, Psychologen, Kirchenvertreter und Journalisten, die an der Darstellung von Gewalt und Sexualität Anstoß nahmen, den Einfluss der Superhelden-Geschichten auf die zumeist jugendliche Leserschaft als Bedrohung für deren seelische Gesundheit.9 Der einflussreichste 5 | Vgl. All Star Comics 8 (Dezember 1941); ab Sommer 1942 hatte Wonder Woman eine eigene Heftreihe. 6 | Francis Lacassin prägte diesen Begriff später in einem umfangreichen Essay zum Comic als vielfältiger Kunstform; vgl. ders.: Pour un neuvième art. La bande dessinée. Paris 1971. 7 | Zuvor auf »truth and justice« beschränkt, erhielt dieser bekannte Slogan, der Supermans Wertesystem zusammenfasst, den entscheidenden Zusatz »and the American way« nach Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. 8 | Vgl. zum Kampf der Superhelden gegen Nazis, später auch gegen Kommunisten das Kapitel »1939-1945: Origins and Wartime« in Brooker: Batman Unmasked, S. 33-100; Jason Dittmer: »Retconning America: Captain America in the Wake of World War II and the McCarthy Hearings«, in: Terrence R. Wandtke (Hg.): The Amazing Transforming Superhero! Essays on the Revision of Characters in Comic Books, Film and Television. Jefferson/London 2007, S. 35-51; Marc DiPaolo: War, Politics and Superheroes. Ethics an Propaganda in Comics and Film. Jefferson/London 2011, besonders S. 11-48. 9 | Vgl. Hausmanninger: Superman, S. 46-49.

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Reader Superhelden

Kritiker war der Psychiater Fredric Wertham, dessen Studie Seduction of the Innocent 1954 wesentliche Argumente zusammenfasste:10 Wertham behauptete eine Korrelation zwischen Comic-Lektüre und Jugendkriminalität; u.a. monierte er Gewalt- und Verbrechensdarstellung, Amoralität und sogenannte sexuelle Devianz (etwa in Form eines so erst postulierten homoerotischen Verhältnisses zwischen Batman und Robin, das aus den Comicgeschichten gelesen werden könne).11 Presse und Politik griffen die Kritik auf und machten sie zum Thema von Kampagnen und Senatssitzungen; es kam zu öffentlichen Comic-Verbrennungen. Stark unter Druck geraten, schlossen sich zahlreiche Comic-Verlage 1954 zur Comics Magazine Association of America zusammen und gründeten die Comics Code Association. Diese erließ bald darauf den Comics Code, ein Regelwerk, mit dem sich die meisten Verlage zu einer rigiden Selbstzensur verpflichteten.12 In Folge des trotzdem fortschreitenden Leserschwunds, der Einstellung zahlreicher Reihen und des Bankrotts etlicher Verlage wurde versucht, die Superhelden diesen neuen Produktionsbedingungen anzupassen, vor allem durch Vertiefung und Differenzierung der Charaktere: Nachdem DC 1956 in Ausgabe 4 der Reihe Showcase die bereits 1940 von Gardner Fox und Harry Lampert geschaffenen Figur Flash erfolgreich wieder aufgelegt hatte, lancierte ab 1958 vor allem Marvel eine Reihe innovativer Superhelden, die menschliche Makel und Zweifel kannten, ihre Kräfte unfreiwillig durch Unfälle oder Mutationen erwarben und mit ihrer Vorbildrolle haderten. Unter der konzeptionellen Leitung von Stan Lee und gezeichnet von Jack Kirby und Steve Ditko entstanden so 1961 bis 1963 in rascher Folge die Superhelden The Fantastic Four, Hulk, Thor, Spider-Man, The X-Men und Iron Man.13 Diese ›Marvel-Revolution‹ und die Dauerbrenner von DC – Superman und Batman dominierten, begünstigt durch populäre Formate in Radio, Fernsehen und Kino, auch Ende der 1960er Jahre den Comic-Markt – 14 sind bis etwa 1970 die prägenden Elemente des ›Silver Age‹ des Superheldencomics. Im anschließenden ›Bronze Age‹ führten die großen Verlage viele bestehende Tendenzen fort, versuchten, nachdem zuvor der Teenager-Superheld Spider-Man für Erfolge gesorgt hatte, jedoch wieder vermehrt, ein erwachsenes Publikum anzusprechen – unter anderem durch Lockerung und sinkende Verbindlichkeit des Comics Code. Mit personellen Veränderungen in den Verlagen – Jack Kirby wechselte zwischen 1971 und 1975 vorübergehend von Marvel zu DC, Julius Schwartz übernahm 1971 die Redaktion der Superman-Reihe – stieg das Bewusstsein für den 10 | Vgl. Fredric Wertham: Seduction of the Innocent. New York 1954. 11 | Vgl. Brooker: Batman Unmasked, S. 110-117. 12 | Der Comics Code, der die Darstellung u.a. von Kriminalität, Gewalt, Sexualität und fiktiven Figuren wie Werwölfen und Vampiren stark einschränkte, besteht nach Anpassungen vor allem in den frühen 1970er Jahren in überarbeiteter Form bis heute, hat seine Verbindlichkeit und Regulationsmacht jedoch weitestgehend eingebüßt. Für heutige Comic-Veröffentlichungen spielt er keine Rolle mehr. Vgl. Amy Kiste Nyberg: Seal of Approval. The History of the Comics Code. Jackson, 1998, besonders S. 155-183. 13 | Die Erstausgaben waren: The Fantastic Four 1 (November 1961); The Incredible Hulk 1 (Mai 1962); Thor in Journey into Mystery 83 (August 1962); Spider-Man in Amazing Fantasy 15 (August 1962); Iron Man in Tales of Suspense 39 (März 1963); The X-Men 1 (September 1963). 14 | Vgl. Reynolds: Super Heroes, S. 9.

Nehrlich/Nowotny/Etter: Einleitung

konzeptionellen Einfluss von Autoren und Zeichnern. Hatten diese ihre Urheberrechte zuvor vollständig an die Verlage abtreten müssen, wurde ihre Position nun durch neue Verträge und Namensnennung in den Heften (credits) gestärkt. Inhaltlich gewannen politische und gesellschaftlich relevante Themen an Bedeutung in den Superheldencomics, etwa Drogenkonsum, Armut und soziale Ungleichheit in Dennis O’Neils und Neal Adams’ Geschichten um DCs Green Lantern und Green Arrow,15 später außerdem Alkoholismus in David Michelinies und Bob Laytons Iron-Man-Heftfolge Demon in a bottle.16 Nachdem Marvel 1966 mit Black Panther den ersten schwarzen Superhelden eingeführt hatte, folgten – nicht zuletzt als Reaktion auf die öffentliche Thematisierung von Rassismus und Minderheitenzugehörigkeit durch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung – während der 1970er Jahre eine wachsende Zahl von minority superheroes, darunter verschiedene Mitglieder der ab 1975 wieder aufgelegten X-Men.17 Das Bemühen um soziale und politische Themen, das diese relevant comics prägte, konnte jedoch die zunehmenden narrativen Probleme vieler Reihen nicht überdecken: Durch die vielfache Variation von Ursprungsmythen und Figurenentwicklung, die stete Rekonfiguration von Allianzen und Feindschaften und die wiederholte aitiologische Neubegründung von Beweggründen und Fähigkeiten der Superhelden ergaben sich Diskrepanzen in Kohärenz und Kontinuität der Serien. Besonders betroffen waren die alten, aber nicht altern wollenden Figuren wie Superman, der inzwischen längst nicht mehr der einzige Überlebende Kryptons war und der mit immer neuen Formen des Kryptonits zu kämpfen hatte, und Batman, der mit Robin, Batgirl, Batwoman, dem Bat-Hound Ace und dem Kobold Bat-Mite zwischenzeitlich eine skurrile Bat-Familie angesammelt hatte.18 Die storylines wurden außerdem dadurch unübersichtlich, dass sich mehrere Figuren eine Superheldenidentität teilten bzw. verschiedene Versionen eines Superhelden nebeneinander in Parallelwelten existierten.19 Überdies kam es 1976 erstmals zu einem crossover zwischen den zwei großen Verlagen, in dem Su­perman und Spider-Man gegen15 | Vgl. z.B. Green Lantern/Green Arrow 85-86 (August/September–Oktober/November 1970), in der die Drogenabhängigkeit der Figur Speedy dargestellt wird. Vgl. auch Fuchs: Superhelden im Wandel, S. 43. 16 | Vgl. The Invincible Iron Man 120-128 (März–November 1979). 17 | Vgl. den ersten Auftritt des von Stan Lee und Jack Kirby geschaffenen Black Panther in Fantastic Four 52 (Juli 1966). Weitere schwarze Superhelden sind u.a. bei Marvel: Falcon ab Captain America 117 (September 1969), Luke Cage in der ersten eigenen Reihe eines schwarzen Superhelden ab Luke Cage, Hero for Hire 1 (Juni 1972) und Storm ab Giant Size X-Men 1 (Mai 1975); bei DC: John Stewart ab Green Lantern, Folge 2, 87 (Dezember 1971/ Januar 1972), Tyroc ab Superboy 216 (April 1976), Black Lightning in seiner eigenen Reihe ab April 1977. Die X-Men, denen seit ihrer Neuauflage ab Giant Size X-Men 1 (Mai 1975) auch eine afrikanische Heldin namens Storm, und ein Native American, der Apache Thunderbird, angehören, sind durch ihren Mutantenstatus seit jeher Sinnbild für gesellschaftliche Minderheiten. Vgl. Aldo Regalado: »Modernity, Race, and the American Superhero«, in: Jeff McLaughlin (Hg.): Comics as Philosophy. Jackson 2005, S. 84-99. 18 | Vgl. kritisch dazu Anton: 50 Jahre Batman, S. 157. 19 | Sowohl bei Marvel als auch bei DC gab es parallele, nummerierte Erden (»Earth-1«, »Earth-2« usw. bei DC; »Earth-616«, »Earth-1610« usw. bei Marvel) innerhalb ihrer jeweiligen multiverses.

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einander antraten und die Logik der getrennten Comic-Universen durchbrachen.20 Mitte der 1980er Jahre erkannten die Verlage, dass die widersprüchliche und verschachtelte Struktur vieler Reihen neuen Lesern den Einstieg erschwerte. Um die ausgefaserten Enden der Handlung zu verknüpfen und eine allgemeingültige continuity herzustellen, lancierten Marvel mit Secret Wars (1984/85) und DC mit Crisis on Infinite Earths (1985/86) großangelegte Vereinigungsfolgen, in denen eine Vielzahl der jeweiligen Superhelden zusammengeführt und auf einen gemeinsamen Stand gebracht wurde.21 Seit Jim Starlins prominent inszeniertem Death of Captain Marvel – erschienen 1982 als Band 1 einer großformatigen Reihe, die erstmals bei Marvel die klangvolle Bezeichnung graphic novel trug – 22 stieg zudem die Sterberate unter Superhelden stark an. Auch dies kann als Versuch verstanden werden, die Komplexität der Handlungsebenen zu re­duzieren und eine neue Phase der Superhelden-Comics einzuläuten. Die Abkehr vom ›Bronze Age‹ markieren insbesondere zwei der prägendsten Veröffentlichungen der Comic-Geschich­te: Nachdem er sich Anfang der 1980er Jahre einen Namen u.a. mit der Aktualisierung von Marvels Daredevil gemacht hatte, legte Frank Miller 1986 bei DC die hochwertig ausgestattete, aus der Batman-Reihe ausgekoppelte Folge The Dark Knight Returns vor, die stilbildend für das gesamte Genre werden sollte. Zugleich Autor und Zeichner, führt Miller darin keinen triumphalen Heros, sondern einen gealterten, traumatisierten Batman vor; die Story ist düster und die Gewaltdarstellung eindringlich, der Zeichenstil expressiv und Bat­mans dynamischer Schattenriss das häufigste Motiv. Mit Watchmen, geschrieben von Alan Moore und gezeichnet von Dave Gibbons, erschien 1986/87 ebenfalls bei DC die zweite äußerst einflussreiche graphic novel der Zeit. Visuell weniger drastisch als Millers Werk, zeichnet sich Watchmen durch eine außerordentlich elaborierte Bildkomposition aus – von Details einzelner Panels über den Auf bau der Seiten bis hin zur bild­mo­tivisch-formalen Gesamtstruktur –, deren zahlreiche subtile Stilmittel sich erst bei mehrmaligem Lesen erschließen.23 Die Handlung kreist um eine Gruppe abgehalfterter und zwielichtiger Vigilanten, deren fragwürdige Mo­ral und Taten die ehemaligen Super- nunmehr als Antihelden 20 | Gerry Conway u.a.: Superman vs. the Amazing Spider-Man. Battle of the Century. New York 1976. 21 | Vgl. Jim Shooter, Mike Leck, Bob Layton: Secret Wars. New York 1984/86; sowie Mark Wolfman, George Pérez u.a.: Crisis on Infinite Earths. New York 1985/86. Besonders nachhaltig war dieser Einschnitt bei DC, wo seither eine Trennung zwischen pre-Crisis-Produktionen und aktuelleren post-Crisis-Titeln gezogen wird. 22 | Vgl. Jim Starlin: The Death of Captain Marvel. New York 1982 (Marvel Graphic Novels 1). DC reagierte ab 1983 mit einer eigenen Prestige-Reihe: DC Graphic Novel. Der Begriff ›graphic novel‹ ist u.a. von Will Eisner bekannt gemacht worden und gilt als Gütesiegel für umfangreiche, komplexe, oft außerhalb von Reihen und als hochwertige, gebundene Ausgaben erscheinende Titel von meist renommierten Autorinnen und Zeichnern. Außerdem wird durch die Gleichstellung mit Romanen (engl. novels) eine Annäherung an traditionelle, angesehene Gattungen der Literatur beabsichtigt, nicht zuletzt im Interesse des Marketings. Ob es grundsätzlich sinnvoll ist, graphic novels von Comics abzugrenzen, ist umstritten. 23 | Vgl. dazu u.a. Stuart Moulthrop: »See the Strings. Watchmen and the Under-Language of Media«, in: Pat Harrigan, Noah Wardrip-Fruin (Hg.): Third Person. Authoring and Exploring Vast Narratives. Cambridge/London 2009, S. 287-302.

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erscheinen lassen. Gemein ist beiden Comics die Reflexion und Subversion der Bedingungen und Kon­ventionen des Genres, wodurch die Rolle der Superhelden stark in Frage gestellt wird.24 Die radikalen Darstellungen, die Morbidität und die Absage an positive Identifikation, die The Dark Knight Returns und Watchmen prägen, wurden in der Folge Kennzeichen der deshalb auch ›Dark Age‹ genannten modernen Comic-Ära. Im Zeichen von grim and gritty traten sinistre Figuren in den Vordergrund – darunter Marvels Punisher – und neugegründete Verlage konnten sich mit entsprechenden Reihen neben den beiden Marktführern etablieren.25 Als Reaktion darauf ließ DC – ein zuvor undenkbares Szenario – in der Heftfolge The Death of Superman26 (1992/93) den berühmtesten aller Superhelden sterben – nicht ohne ihn kurz darauf in neuer Gestalt und in aktualisierten Reihen wieder zum Leben zu erwecken. Der Erfolg dieser Story-Volte führt bis heute zu Tod und Auferstehung einer ganzen Reihe weiterer wichtiger Superhelden. Dennoch erreichen die Auflagenzahlen vor allem seit den 2000er Jahren nicht mehr die ehemaligen Höhen.27 DC und Marvel versuchen seither mit immer häufigeren Neustarts und Story-Events wie team-ups und Verknüpfungen eigentlich getrennter Serien, gegen diesen Trend anzukämpfen und an die Erfolge der jeweiligen filmischen Adaptionen anzuknüpfen. So hat DC, nachdem bereits 2005/06 durch Geoff Johns’ Infinite Crisis eine Revision der 1980er-Crisis erfolgt war, 2011 mit dem Programmereignis The New 52 einen vollständigen relaunch sämtlicher Superhelden-Reihen unternommen.28 2016 folgte 24 | Vgl. Geoff Klock: How to Read Superhero Comics and Why. New York/London 2002, besonders das Kapitel »The Bat and the Watchmen. Introducing the Revisionary Superhero Narrative«, S. 25-76; Aeon J. Skoble: »Superhero Revisionism in Watchmen and The Dark Knight Returns«, in: Tom Morris, Matt Morris (Hg.): Superheroes and Philosophy. Truth, Justice, and the Socratic Way. Chicago/La Salle 2005, S. 29-41; Iain Thomson: »Deconstructing the Hero«, in: McLaughlin: Comics as Philosophy, S. 100-129; Terrence R. Wandtke: »Frank Miller Strikes Again and Batman Becomes a Postmodern Anti-Hero: The Tragi(Comic) Reformulation of the Dark Knight«, in: Wandtke: Amazing Transforming Superhero, S. 87-111. 25 | Der 1986 gegründete Verlag Dark Horse Comics veröffentlichte z.B. ab der Ausgabe San Diego Comic-Con Comics 2 (August 1993) Geschichten um den von Mike Mignola kreierten Hellboy, außerdem bereits 1991/92 Frank Millers ebenfalls stilbildendes Sin City. Der seit 1993 bestehende Verlag Image Comics wartete u.a. seit der Ausgabe Malibu Sun 13 (Mai 1992) mit Todd McFarlanes Spawn auf. 26 | The Death of Superman war eine von Dan Jurgens u.a. verantwortete Heftfolge der Superman-Reihe der Jahre 1992/93; Supermans Tod erfolgt in Superman, Folge 2, 75 (Januar 1993). Kurz darauf ereilte Batman in der von Chuck Dixon und anderen konzipierten vielteiligen Heftfolge Knightfall 1993/94 ein ähnliches Schicksal, als Bane ihm in Ausgabe Batman 497 (Juli 1993) das Rückgrat brach. 27 | Bereits 1996 war Marvel durch Veränderungen der Geschäftsstruktur in große finanzielle Schwierigkeiten geraten und stand unmittelbar vor dem Bankrott. Mithilfe von Investoren und Restrukturierungen konnte der Vertrieb jedoch aufrechtgehalten und in der Folge stabilisiert werden. Vgl. James Reynolds: »›Kill Me Sentiment.‹ V For Vendetta and comic-tofilm adaptation«, in: Journal of Adaptation in Film & Performance 2,2 (2009), S. 121-136, hier S. 122f. 28 | Selbst DCs traditionsreichste Reihen Action Comics und Detective Comics, die die ersten Auftritte von Superman und Batman enthalten hatten, von 1937/38 bis 2011 un-

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als Ende der New 52-Ära der DC Rebirth-Relaunch, der besonders aufgrund des Einbezugs von Charakteren aus dem Watchmen-Comic ins reguläre Universum der DC-Superhelden große (und kontroverse) mediale Aufmerksamkeit erlangte.29 Der größte Konkurrent hat mit Marvel NOW! einen ähnlichen Neuanfang zur Jahreswende 2012/13 durchgeführt; 2015 folgte All-New, All-Different Marvel und bloß zwei Jahre später die Marvel Legacy-Initiative. Diese unterschiedlich prononcierten Neustarts sollen jeweils einen einfachen Einstiegspunkt für neue Leserinnen und Leser bieten. Ob damit das Ziel steigender Absätze langfristig zu erreichen ist, bleibt abzuwarten. Neben ihrem traditionellen Medium hatten die Superhelden frühzeitig und konstant auch Auftritte in Radio, Fernsehen, Kino und Videospielen. Kurz nach seinem ersten Erscheinen bekam Superman in New York bereits seine eigene Radioshow (The Adventures of Superman, WOR, 1940-51), die erst eingestellt wurde, als der berühmteste Superheld u.a. mit der Zeichentrickserie Superman (Fleischer Studios, 1941/42) und Realfilm-Serials in Kino (Superman, Columbia, 1948) und Fernsehen (Adventures of Superman u.a. ABC, 1952-58) landesweit in den visuellen Medien etabliert war.30 Besondere Bekanntheit haben die vier Kino-Verfilmungen der 70er und 80er Jahre mit Christopher Reeve in der Hauptrolle erlangt.31 Daneben sendete ABC 1966 bis 1968 die TV-Serie Batman, deren bunter, humoriger camp-Stil noch ein Vierteljahrhundert später in den Breitwand-Verfilmungen von Tim Burton und besonders Joel Schumacher nachwirkte.32 Eine entschiedene Rückkehr zum düsteren Charakter der Figur vollzog hingegen Christopher Nolans Batman-Triologie, die mit einem Einspielergebnis von über 2 Milliarden US-Dol-

unterbrochen erschienen waren und beide rund 900 Ausgaben erfahren hatten, blieben vom The-New-52-Neubeginn nicht ausgenommen und starteten danach in neuen Folgen wieder bei Ausgabennummer 1. 29 | Vgl. zu Rebirth und der Rolle der Watchmen-Charaktere z.B. David Barnett: »DC Rebirth. Batman, Superman and Wonder Woman get rebooted … again« [https://www.theguardian. com/books/2016/may/25/dc-comics-reboot-batman-superman-wonder-woman; Zugriff: 26.​ No​vember 2017]. 30 | Vgl. hierzu und zum Folgenden Fuchs: Superman, S. 31f.; Massimo Moscati: Comics und Film. Übersetzt von Angelika Drexel und Georg Seeßlen. Berlin 1988, S. 35-37 und 135-139; und besonders Andreas Friedrich: »Der Amerikanische Traum und sein Schatten. Superman, Batman und ihre filmischen Metamorphosen«, in: Friedrich/Rauscher: Superhelden zwischen Comic und Film, S. 23-50; sowie Andreas Rauscher: »Stadtneurotiker, Outlaws und Mutanten. Das Marvel-Universum im Film«, in: Friedrich/Rauscher: Superhelden zwischen Comic und Film, S. 51-71. 31 | Vgl. Superman: The Movie (USA 1978, R: Richard Donner), Superman II (USA 1981, R: Richard Lester), Superman III (USA 1983, R: Richard Lester), Superman IV: The Quest for Peace (USA 1987, R: Sidney J. Furie). 2006 folgte als weitere große Hollywood-Produktion Superman Returns (USA 2006, R: Bryan Singer) sowie 2013 Man of Steel und 2016 Batman v Superman: Dawn of Justice unter der Regie von Zack Snyder. 32 | Vgl. Batman (USA 1989, R: Tim Burton), Batman Returns (USA 1982, R: Tim Burton), Batman Forever (USA 1995, R: Joel Schumacher), Batman & Robin (USA 1997, R: Joel Schumacher).

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lar zu den erfolgreichsten Dreiteilern der Kinogeschichte gehört.33 Nolans Filme waren Teil einer großen, anhaltenden Welle an Comic-Verfilmungen, die seit den 2000er Jahren möglichst realitätsnahe, seriöse Leinwand-Versionen verschiedenster Superhelden in die Kinos schwemmt. Ausgelöst u.a. durch den Erfolg von Sam Raimis Spider-Man-Verfilmungen hat seither insbesondere Marvel mit umfangreichen Kino-Projekten wie der Avengers-Reihe das Franchise-Potenzial ihrer Superhelden ausgeschöpft und das Genre zu einem der lukrativsten des Filmgeschäfts gemacht.34 Mit dem sogenannten DC Extended Universe versucht der Konkurrent seit 2013 unter dem Dach von Warner Bros. Pictures, das Erfolgsrezept mit eigenen Figuren zu kopieren, mit bisher eher durchzogener Bilanz.35 Gemeinsam mit den zahllosen Videospielen und sonstigen MerchandisingProdukten wird durch diese Superhelden-Filme ein Publikum erreicht, das weit über den ursprünglichen Rezipientenkreis der Comics hinausgeht: Vielen neueren Anhängern der Superhelden sind einzelne Figuren erstmals im Film begegnet. Dadurch haben weltweit und im deutschsprachigen Raum seit der Jahrtausendwende die Superhelden und ihr Medium einen Popularisierungsschub erfahren, der nicht nur die Breite der Rezeption, sondern auch deren Höhe betrifft. Blieben hierzulande Comics im Allgemeinen und Superhelden im Besonderen lange Zeit als ›bloße Populärkultur‹ von der Literaturkritik unterschätzt, zeichnet sich seither – befördert durch die Filmerfolge – ein Wandel in den deutschsprachigen Feuilletons ab.36 Daneben sind (Superhelden-)Comics inzwischen auch Forschungsgegen33 | Vgl. Batman Begins (USA 2005, R: Christopher Nolan), The Dark Knight (USA 2008, R: Christopher Nolan), The Dark Knight Rises (USA 2012, R: Christopher Nolan). 34 | Vgl. Spiderman I–III (USA 2002, 2004, 2007, R: Sam Raimi). Zu den Superhelden, die Marvel seit 2000 verfilmt hat, gehören u.a. Daredevil, X-Men (beide ab 2003), Punisher, Elektra (beide 2004), Fantastic Four (ab 2005), Ghost Rider (2007), Deadpool (2016); Hulk (ab 2003), Iron Man (ab 2008), Thor und Captain America (beide 2011) hatten zunächst eigene Filme und wurden dann in Avengers (2012) zusammengeführt, einem TeamFranchise, dessen zweiter Teil (Avengers: Infinity War) im Jahr 2018 erwartet wird. DC hat neben Batman und Superman im gleichen Zeitraum u .a. Catwoman (2004), Spirit (2008), Watchmen (2009), Green Lantern (2011) und Wonder Woman (2017) verfilmt, außerdem die Superheldengruppe Justice League (2017) und das Superschurkenteam Suicide Squad (2016). Beide Verlage haben bereits zahlreiche weitere Verfilmungen angekündigt, darunter die ersten Solofilme mit afroamerikanischen und afrikanischen Superhelden: Black Panther wird im Jahr 2018 in die Kinos kommen, Cyborg ist für das Jahr 2020 angekündigt. 35 | Vgl. zur kritischen und finanziellen Rezeption der neueren DC-Filme Mark Hughes: »How DC Universe Movies Are More Successful Than You Think« [https://www.forbes.com/ sites/markhughes/2017/05/25/how-dcu-movies-are-more-successful-than-you-think/ #e8c681839886; Zugriff: 26. November 2017]. 36 | Seit Art Spiegelmans genreprägende Comic-Biographie Maus 1992 einen Pulitzer-Preis gewonnen hat, sind Comics in den USA regelmäßig bei wichtigen Literaturpreisen erfolgreich und schon seit längerem Gegenstand von Rezensionen in renommierten Zeitungen und Zeitschriften. In den letzten 15 Jahren ist auch in der deutschsprachigen Presse das Interesse für dieses Medium deutlich gestiegen u.a. erkennbar an der 20-bändigen Auswahl-Ausgabe der Klassiker der Comic-Literatur (2005) durch das F.A.Z.-Feuilleton. Zur Comic-Rezeption in der deutschsprachigen Presse vgl. Stephan Ditschke: »Comics als Literatur. Zur Etablierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton seit 2003«, in: Stephan Ditschke, Katerina

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stand kulturwissenschaftlicher,37 soziologischer,38 philosophischer39 sowie sogar medizinischer40 und naturwissenschaftlicher41 Untersuchungen geworden. Eine dezidierte Comic-Forschung nach US-amerikanischem Vorbild ist nun auch im deutschen Sprachraum seit einiger Zeit im Entstehen und widmet sich nicht nur den sogenannten graphic novels, die am ehesten Maßstäben des traditionellen literarischen Kanons zu entsprechen scheinen, sondern auch dem populärkulturellen Superhelden-Genre.42

II. E in R e ader zu Theorie und G eschichte der S uperhelden Anspruch und Anliegen So allgegenwärtig und multimedial die Superhelden sind, so wenig ist doch allgemein bekannt über ihre Ursprünge, ihre Schöpfer, ihre kulturhistorischen Hintergründe, ihre politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ästhetischen Implikationen, ihre intertextuellen Vorläufer und Inspirationsquellen, ihre akademische Kroucheva, Daniel Stein (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009, S. 265-280. 37 | Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive seien neben den oben erwähnten Publikationen noch genannt: Peter Coogan: Superhero. The Secret Origin of a Genre. Austin 2006; Wendy Haslem, Angela Ndalianis, Chris Mackie (Hg.): Super/Heroes. From Hercules to Superman. Washington 2007; Angela Ndalianis (Hg.): The Contemporary Comic Book Superhero. New York 2009; George Kovacs, C. W. Marshall (Hg.): Classics and Comics. Oxford 2011. 38 | Vgl. z.B. Richard J. Gray II., Betty Kaklamanidou (Hg.): The 21st Century Superhero. Essays on Gender, Genre and Globalization in Film. Jefferson 2011; Joseph J. Darowski (Hg.): The Ages of Superman. Essays on The Man of Steel in Changing Times. Jefferson 2012. 39 | Vgl. u.a. McLaughlin: Comics as Philosophy; Morris/Morris: Superheroes and Philosophy; Mark D. White, Robert Arp (Hg.): Batman and Philsophy. The Dark Knight of the Soul. Hoboken 2008; Mark D. White (Hg.): Watchmen and Philosophy. A Rorschach Test. Hoboken 2009. 40 | Vgl. z.B. Danny Fingeroth: Superman on the Couch. What Superheroes Really Tell Us about Ourselves and Our Society. New York/London 2005; Shannon Packer: Superheroes and Superegos. Analyzing the Minds behind the Masks. Santa Barbara u.a. 2010. 41 | James Kakalios: The Physics of Superheroes. London 2005 u.a. Das Interesse an Superhelden ist so groß, dass selbst skurrile Forschungsergebnisse publik werden: Im Juli 2012 meldeten verschiedene Internet-Nachrichtenportale, dass einer Studie britischer Physik-Studenten zufolge der Umhang, den der Superheld in Batman Begins trägt, aus aerodynamischen Gründen nicht ausreichen würde, um die dargestellten Flugszenen in der Wirklichkeit zu realisieren, vgl. »Batman braucht einen größeren Umhang«, in Spiegel online (10. Juli 2012) [www. spiegel.de/wissenschaft/technik/aerodynamik-batman-braucht-zum-fliegen-groesseren-umhang-a-843539.html; Zugriff: 1. August 2012], darin auch ein Link zur Studie im Online-Journal Physics Special Topics 10 (2011). 42 | Vgl. Daniel Stein: »Comics Studies in Germany. Where It’s at and Where It Might Be Heading«, in: comicsforum.org (7. November 2011) [http://comicsforum.org/2011/11/07/ comics-studies-in-germany-where-it’s-at-and-where-it-might-be-heading-by-danielstein/; Zugriff: 11. September 2012].

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Erforschung und ihre kritische Rezeption. Insbesondere in Europa finden Interessierte dazu nur verstreute Informationen. Eine deutschsprachige Überblicksdarstellung, die verschiedene Positionen aus Theorie und Geschichte der Superhelden versammelt, gliedert und mit Hintergrundinformationen versieht, gab es bisher nicht. Ziel des vorliegenden Readers ist es daher, anhand von einflussreichen Originaltexten die nötigen Kenntnisse zum besseren Verständnis der Superhelden zu vermitteln. Selbst in ihrem Mutterland, den USA, gibt es erst seit 2013 eine einzige Anthologie, die sich dezidiert den Superhelden widmet und klassische Texte der Diskursund Theoriegeschichte des Genres versammelt.43 Auch deren Herausgeber stellen fest, dass die Comicforschung die Superhelden bisher stiefmütterlich behandelt hat. Der vorliegende Reader Superhelden setzt hier an und hebt sich in doppelter Hinsicht vom amerikanischen Pendant ab: Erstens indem nicht nur akademische Forschungstexte, sondern auch literarische und historische Hintergründe, kritische Stimmen, Aussagen von Autoren und ältere Positionen aus der Diskussion um die Superhelden präsentiert werden. Und zweitens indem neben US-amerikanischen insbesondere auch europäische Forschungspositionen vertreten sind. Zum einen will der Reader Theorie und Geschichte der Superhelden für ein breites Publikum darstellen und auf bereiten. Zum anderen soll er akademischen Ansprüchen genügen und als erste Sammlung zum Thema eine Grundlage für die sich auch im deutschsprachigen Raum etablierende, transdisziplinäre Comic- und Superhelden-Forschung bilden. Diesem doppelten Anliegen trägt die Mischung aus verschiedenen Textsorten Rechnung: Während die von den Herausgebern verfassten Einführungen allgemeinverständlich und überblickshaft gehalten sind, gehen die ausgewählten Texte in stilistischer und methodischer Hinsicht weit auseinander. Sie richten sich zum Teil an die interessierte Allgemeinheit, zum Teil an ein Expertenpublikum. Und sie vertreten ganz unterschiedliche Standpunkte und Sichtweisen auf das Phänomen der Superhelden, vom Enthusiasmus einiger Comicschaffender über die nüchterne und distanzierte Analyse, die vor allem die wissenschaftlichen Beiträge prägt, bis hin zur harschen Kritik, die aus etlichen früheren Stellungnahmen spricht. Die in diesem Reader versammelten Texte sind nicht vorrangig aufgrund ihrer Qualität ausgewählt, es handelt sich dabei nicht um ein Best of. Stattdessen folgt ihre Auswahl dem Interesse, das Spektrum der Auseinandersetzung mit den Superhelden möglichst exemplarisch und differenziert auszuleuchten.

Struktur und Textauswahl Der Reader ist in sechs Sektionen unterteilt. Diese sind thematisch ausgerichtet, werden jeweils von einer Einführung der Herausgeber eröffnet und beleuchten unterschiedliche Aspekte der Superhelden und des Diskurses über sie. Die Auswahlbibliographie am Ende des Bandes verzeichnet zusätzliche Forschungsliteratur zum Thema und bietet auf diese Weise über die vorliegende Textsammlung hinaus eine Wegleitung in der wachsenden Comic- und Superheldenforschung. Eine editorische Notiz, die die Wiedergabe der Originaltexte erläutert, und ein Quellenverzeichnis, das deren Erstpublikationen nachweist, schließen den Reader ab. 43 | Charles Hatfield, Jeet Heer, Kent Worcester (Hg.): The Superhero Reader. Jackson 2014.

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Zur Orientierung werden im Folgenden die Themen und Texte der sechs Sektionen kurz angerissen; ausführlichere Kontextualisierungen finden sich in den Sektionseinführungen. Es gibt zahlreiche Inspirationstexte für das Superheldengenre – von der griechischen, römischen oder nordischen Mythologie über alttestamentarische Erzählungen bis hin zu mittelalterlichen Epen. Der Abschnitt I, Vorläufer in Literatur- und Kulturgeschichte, präsentiert in literarischen Texten der Antike und des Mittelalters die wichtigsten Vorläuferfiguren, die Modell für verschiedene Superhelden gestanden haben: Achilles, Herakles, Simson, Thor und Siegfried.44 An diesen Heldenfiguren lassen sich verschiedene Aspekte veranschaulichen, die die Superhelden wieder aufgegriffen haben: übernatürliche Kraft, einzelne Schwachstellen, episodisches Erzählen, Zweikampf-Struktur und Verhältnis zum Erzfeind. Die Sektion wird ergänzt durch einen Ausschnitt aus jenem Text, der vor der Erschaffung der Comicfigur bereits den Begriff Superman (dt. Übermensch) einführte – Nietzsches Also sprach Zarathustra. Peter Coogans grundlegender Aufsatz über das Wesen von Superhelden eröffnet den Abschnitt II Definitionsansätze. Jeph Loeb und Tom Morris führen anschließend vor, inwiefern Superhelden an antike Heldenvorstellungen und philosophische Konzepte anknüpfen. Stefan Ditschke und Anjin Anhut gehen in ihrem ausführlichen Definitionsversuch insbesondere auf die Funktionen ein, die ein Superheld in der Gesellschaft einnehmen kann, nämlich »Beschützer«, »Rächer und Jäger« oder »Zweifler«. Änne Söll und Friedrich Weltzien nehmen die Doppelidentität von Superhelden – zivil und vigilant – sowie deren »Hypermaskulinität« und prekäre Sexualität in den Blick. Diese allgemeinen Ansätze werden vertieft durch den Versuch, das Wesen eines einzelnen Helden zu bestimmen: Dirck Linck durchleuchtet die Geschichte und Psyche von Batman und untersucht, wieso und wie gerade diese Figur zur medialen Ikone werden konnte. Aleta-Amirée von Holzen schließlich fragt nach der Funktion der superheldischen Doppelidentität und greift dabei gleichzeitig vor auf das intermediale Nebeneinander von Comic und Film, welches in Sektion VI.3 ausführlich thematisiert wird. Sektion III ist der Historiographie der Superhelden gewidmet, wobei die intertextuellen Vorläufer die Chronologie des Abschnitts vorgeben. Jens Meinrenken spürt jüdischen Erzählungen z.B. aus der Thora nach, die Einfluss auf die Superheldencomics ausgeübt haben. Thierry Groensteen und Harry Morgan geben einen Überblick über die Epochen des Superhelden-Genres und knüpfen dabei Verbindungen zu antiken und judäo-christlichen Narrativen, von Achilles über Simson und Jesus bis zum Heiligen Georg. Georg Seeßlen zeichnet eine Geschichte der Superheldendarstellungen im politischen Kontext des europäischen Faschismus nach und deckt Bezüge zur totalitären Propaganda und Ästhetik auf. Ray Pettibons im Stil höchst experimenteller Essay schließlich fragt nach dem mittel- und langfristigen Einfluss von Will Eisners Werk auf die Entwicklung des SuperheldenGenres. In Abschnitt IV werden frühe Stellungnahmen der 1940er bis 1970er Jahre versammelt, die die Entwicklung einiger kontroverser Debatten um die Superhelden 44 | Zum erweiterten Kreis gehört auch die Figur des Golems, wie Jens Meinrenken in Sektion III ausführt.

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nachvollziehbar machen, wie sie bereits in der Zeit ihrer Entstehung und ihres kulturellen Aufstiegs geführt wurden. Dazu gehört die Stimme des Psychologen William Moulton Marston, der die Serie Wonder Woman etablierte und dessen wohlwollende Einstellung zum Comic-Medium unter den US-amerikanischen Intellektuellen der 1940er Jahre eine Ausnahme bildet. 1951 versuchte Marshall McLuhan, das Imaginationsspektrum von Superman zwischen extremer Virilität und mittelalterlichen Engelsvorstellungen abzustecken. In den späteren 1950ern war das Superhelden-Genre wie erwähnt zunehmender Kritik ausgesetzt: Wortführer der Comic-Gegner war wiederum ein Psychologe, Fredric Wertham. Seduction of the Innocent (1954), sein Pamphlet gegen die angeblich zu Gewalt und Kriminalität verleitenden Comics, war seinerzeit ein Bestseller und sollte weitreichenden politischen Einfluss auf die Superheldenindustrie haben. Weniger als politisches denn als ästhetisches Paradigma der Konsumgesellschaft wurden die Superhelden für die Pop Art interessant: Roy Lichtenstein erklärte 1963, dass er die »faschistischen« Superhelden inhaltlich nicht ernst nehme, sondern nur formal als Inspirationsquelle gebrauche. Der Kulturtheoretiker Umberto Eco vertrat Mitte der 1960er die These, dass die zumeist junge Leserschaft der Superheldencomics von der darin enthaltenen Ideologie so stark – und zugleich so unbewusst – beeinflusst werde, dass man von einem veritablen Mythos kleinbürgerlicher Selbstüberhöhung sprechen müsse. Ähnlich ideologiekritisch argumentiert der Theoretiker Oswald Wiener in »der geist der superhelden« (1970), dass Intelligenz nicht etwa charakteristisch für die Superhelden sei, sondern vielmehr für deren Feinde. Der letzte Text in der Sektion ist eine marxistisch-psychoanalytische Analyse, die Dagmar von Doetinchem und Klaus Hartung 1974 in Zum Thema Gewalt in SuperheldenComics (1974) vornahmen. Der Abschnitt V widmet sich Autorenstimmen, d.h. Kommentaren bedeutender Comic-Künstlerinnen und -künstler zum Genre. Den Auftakt zu Kapitel V.1, das Selbstaussagen von Autoren versammelt, bildet ein Ausschnitt aus der Autobiographie Stan Lees, der seit den 1960ern für Marvel tätig war und der in Zusammenarbeit mit Künstlern wie Jack Kirby viele der klassischen Superhelden des Verlags wie Spider-Man und Iron Man geschaffen hat. Frank Miller wurde in den 1980ern berühmt mit Batman: The Dark Knight Returns und hat in letzter Zeit durch reaktionäre politische Äußerungen Kontroversen zum Zusammenhang von Superhelden und zeitgenössischen Amerikabildern ausgelöst. Eine wichtige Gegenstimme im öffentlichen Diskurs über Superhelden ist der Brite Alan Moore, in dessen einflussreicher Serie Watchmen (1986-87, mit Dave Gibbons) die outlaw-Ethik des Superheldengenres problematisiert wird. Mark Millar wurde unter anderem für seine drastischen Gewaltdarstellungen bekannt, mit denen er die Genrekonventionen von Superheldencomics bewusst strapaziert, wie er in einem Interview von 2010 erläutert. Ergänzt wird diese Sektion in Kapitel V.2 durch mediale Selbstreflexionen in Form von Comics. Chris Wares Thrilling Adventure Stories ist ein formales Experiment, nämlich eine Mischung aus Superheldencomic und autobiographischer Erzählung. Darauf folgt ein Comic-Strip aus Diane DiMassas Serie Hothead Paisan, deren Protagonistin in Superman ein überholtes Geschlechter- und Gesellschaftsmodell sieht, das es abzuschaffen gelte. Beschlossen wird die Sektion durch Ausschnitte aus David Bollers Tell, der den Schweizer Nationalmythos in einen Superhelden-Comic übersetzt und überzeichnet.

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Schließlich werden im VI. Abschnitt exemplarische Schwerpunkte der zeitgenössischen Forschung dargestellt. Jüngere Studien interessieren sich insbesondere für die sozialen und politischen Themen, die in Superheldencomics verhandelt werden. Zuerst werden in der Sektion VI.1 kulturelle und ethnische Stereotype im Superheldencomic beleuchtet, wenn Fredrik Strömberg die Brisanz arabischmuslimischer Superhelden-Figuren nach 9/11 diskutiert und Shilpa Davé sowie Kenneth Ghee indische bzw. afroamerikanische und afrikanische Versionen von Superhelden untersuchen. Diese Aufsätze stellen die Superhelden als Produkte der US-amerikanischen Populärkultur in einen globalen und ethnisch wie kulturell diversifizierten Kontext und setzen sich dabei mit nationalen, rassistischen und religiösen Stereotypen auseinander. Anschließend kommen in Abschnitt VI.2 gendertheoretische Aspekte zur Sprache: Während Jennifer Stuller sich der wohl berühmtesten weiblichen Superheldenfigur überhaupt annimmt, Wonder Woman, stellt Lars Banhold die offene und verdeckte Homosexualität männlicher Superheroen ins Zentrum seiner Analyse. Véronique Sina schließlich widmet sich der Verhandlung von Gender und anderen Achsen der Diskriminierung (etwa Race oder Ethnicity) in den Kick-Ass-Comics und vor allem -Filmen. Sinas Aufsatz bildet damit den Übergang zur abschließenden Sektion VI.3, die Aspekte der Medialität beleuchtet: In einem poststrukturalistisch orientierten Aufsatz behandelt Ole Frahm das Radio als Verbreitungsmedium und inhaltliches Motiv in der Welt der Superheldengeschichten. Wolfgang Fuchs vollzieht am Beispiel von Superman nach, wie ein Superheld vom Comic aus zahlreiche weitere Medien erobert, u.a. Rundfunk, Fernsehen, Film. Zuletzt erörtert Désirée Lorenz die ökonomisch-politische Dimension der Superhelden-Verfilmungen bzw. der hinter ihnen stehenden Kulturindustrie. Thomas Nehrlich Joanna Nowotny Lukas Etter

Bern und Siegen im November 2017

I. Vorläufer in der Literatur- und Kulturgeschichte

Einführung Thomas Nehrlich

Superhelden sind, auch wenn die Abbildung von Vincenzo Fagnani auf dem Cover dieses Readers es vermuten lassen könnte, nicht vom Himmel gefallen. Im Gegenteil: Sie schreiben sich ein in eine der ältesten und langandauerndsten Traditionen der Literatur- und Kulturgeschichte, die des Heroismus. Heldentum ist ein wichtiger Aspekt bereits in den frühesten literarischen Zeugnissen nicht nur der europäischen Kulturen. So schilderte das assyrischbabylonische Gilgamesch-Epos schon vor rund 3500 Jahren die Heldentaten des mythischen Königs Gilgamesch und seines Freundes Enkidu. Auch im Zentrum der homerischen Epen, der Ilias und der Odyssee, stehen Helden: die griechischen und ilionischen Kämpfer im Krieg um Troja einerseits, darunter Achilles, Agamemnon, Ajax, Hektor, Menelaos, Paris und Patroklos; Odysseus und seine Begleiter andererseits, die auf der Rückkehr aus diesem Krieg in gefahrvolle Irrfahrten geraten. Die attischen Tragödien insbesondere des Aischylos, des Sophokles und des Euripides brachten im 5. Jahrhundert v. u. Z. das Schicksal weiterer Heroinnen und Heroen auf die Bühne, deren Widerfahrnisse auch davor schon lange Zeit in Form von mythischen Erzählungen weitergegeben wurden, z.B. Antigone, Elektra, Iphigenie, Medea, Ödipus, Orestes und Prometheus. Auch die mittelalterliche Literatur Europas wimmelt von Helden, von Dietrich von Bern, Hagen, Hildebrand und Siegfried über den rasenden Roland bis hin zu Artus und den Rittern der Tafelrunde, darunter Erec, Iwein, Parzival und Tristan. Daneben haben religiöse Überlieferungen heroische Ideale vermittelt und tradiert, z.B. die jüdischen und jüdisch-christlichen Erzählungen sowie Stoffkreise wie die nordische Mythologie. Durch unzählige kulturelle Adaptionen und über alle Zeiten hinweg haben diese vielfältigen Heldendarstellungen bis in unsere Gegenwart fortgewirkt: Fantasy-Epen wie J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings (1954/55) oder George R. R. Martins A Song of Ice and Fire (seit 1996, als TV-Serie seit 2011 unter dem Titel Game of Thrones) sowie ScienceFiction-Mythen wie Star Wars (seit 1977) sind in Personal, Motivik und Handlungsverlauf deutlich von diesen Traditionen beeinflusst. Auch heutige Vorstellungen von Ehre und Moral und Konzepte wie Tugendhaftigkeit und Tragik beruhen nach wie vor großteils auf klassischem und mittelalterlichem Heroismus und tragen diese weiter fort. Diese Persistenz und anhaltende produktive Rezeption des Heldischen ist seit Längerem Gegenstand kulturgeschichtlicher Forschung, am prominentesten wohl nach wie vor in Joseph Campbells 1949 erschienener komparatistischer Mythos-Studie The Hero with a Thousand Faces. Jüngst widmet sich z.B. der Sonderforschungsbereich »Helden − Heroisierungen − Heroismen« an der Universität Freiburg dem Thema. Das Fortleben des Heldentums stellt die Frage nach seinem Stellenwert in unserer Gegenwart, die kontrovers diskutiert wird. Einer bekannten These des Politologen Herfried

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I. Vorläufer in der Literatur- und Kulturgeschichte Münkler zufolge haben die sogenannten westlichen Gesellschaften seit dem Zweiten Weltkrieg einen Übergang vom heroischen zum postheroischen Zeitalter erlebt, in dem Heldenvorstellungen ihre Relevanz weitgehend eingebüßt hätten.1 Grund dafür seien die »Erosion des Religiösen«, 2 die nachlassende Unterstützung größerer Bevölkerungsteile für ›heroische Gemeinschaften‹, d.h. für Gruppen und Verbünde, die durch einen Ehrenkodex oder militärisches Ethos an Heldenvorstellungen gebunden sind, sowie die ernüchternden Erfahrungen zahlreicher Kriege, von denen nicht einmal die Sieger in erhofftem Maße profitieren konnten. Der politische, militär- und ideengeschichtliche Hintergrund, vor dem Münkler argumentiert, macht seine Auffassung plausibel. Aus kulturhistorischer Perspektive hingegen lässt sich eine andere Entwicklung beobachten: Diese hat statt zur Verabschiedung klassischen Heldentums zu dessen Potenzierung, statt zum Abbau »heroischer Dispositionen« 3 zur Verbreitung superheroischer Figurationen geführt. Tatsächlich ist der Zweite Weltkrieg als Zeitpunkt, den Münkler für die Durchsetzung postheroischer Tendenzen in Europa und den USA ansetzt, 4 zugleich Geburtsstunde eines neuen Heldentyps, der dazu in einem eigenartigen Spannungsverhältnis steht: Superhelden stammen aus dem US-amerikanischen Comic, werden inzwischen jedoch weltweit rezipiert. Ihre imaginären Kräfte, Taten und Geschichten beruhen anders als etwa bei Kriegs-, Sport-, oder Arbeitshelden nicht auf realen Leistungen; zugleich haben sie eine Popularität und mediale Präsenz erreicht, die jene lebendiger Vorbilder weit übertrifft. Wenn beides zutrifft und unsere gegenwärtige »westliche« Kultur zugleich post- und superheroisch ist, stellen sich umso dringlichere Fragen: Woher kommen die Superhelden? Wo liegen ihre Ursprünge und durch welche historischen Heldenfiguren und Heldenvorstellungen wurden sie beeinflusst? Welche Heroismus-Modelle tradieren sie fort? Sind sie tatsächlich Überbietungen der klassischen Helden? Wie haben sie sich gegen den Abbau heroischer Dispositionen nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt? Und gilt dies in allen Kulturkreisen der Welt gleichermaßen? Um diese Fragen zu beantworten, werden in dieser Sektion sechs Texte der Literaturgeschichte versammelt, die heroische Vorläuferfiguren und -konzepte der Superhelden enthalten. Indem die Auswahl Beispiele aus der griechischen Antike, der nordischen Mythologie, der Bibel, dem europäischen Mittelalter und der westlichen Philosophie umfasst, werden maßgebliche Einflusstraditionen berücksichtigt, die auf das Entstehen und die Entwicklung der Superhelden eingewirkt haben. Diese Rezeption durch Autoren und Zeichnerinnen der Superheldencomics ist nicht zwangsläufig bewusst oder absichtlich erfolgt, sondern verdankt sich der Bekanntheit und interkulturellen Allgegenwart der überlieferten Heldendarstellungen. Ob die Schöpfer der Superhelden je tatsächlich Homer, die Bibliotheke von Apollodor oder das Nibelungenlied gelesen haben, ist fraglich. Unstrittig ist hingegen, dass sie durch diverse Adaptionen die Geschichten des Herakles, des Achilles und des Odysseus gekannt haben müssen, dass ihnen die nordischen Götter wie Odin und Thor vertraut und die alttestamentlichen Figuren wie Judith und David ein Begriff waren. Die hier versammelten Texte bilden also gleichsam das Urmaterial, aus dem sich die heroischen Konzepte bis ins Superheldengenre fortgeschrieben haben. Diese Beeinflussung wird ersichtlich anhand der Gemeinsamkeiten zwischen den frühen Quellen und den Superheldencomics. Die Übereinstimmungen bestehen ganz grundsätzlich 1 | Herfried Münkler: »Heroische und postheroische Gesellschaften«, in: Merkur 61.8/9 (August/September 2007), S. 742-752. 2 | Ebd., S. 742. 3 | Ebd., S. 750 und passim. 4 | Vgl. ebd., S. 750.

Nehrlich: Einführung z.B. in den Heldeneigenschaften, sowohl den physischen (z.B. Körperstärke, Ausdauer, weitgehende Unverwundbarkeit, Kampfgeschick, Schönheit) als auch den psychischen (Mut, Ehrenhaftigkeit, Gerechtigkeit u.a.); in ästhetischen Merkmalen der Heldendarstellung, z.B. in ihrer Körperlichkeit; in narrativen Techniken, die der Konzentration auf die Heldentaten dienen; in der Figurenkonstellation, die oft um eine Rivalität zwischen Protagonist und Antagonist, Held und Schurke herum organisiert ist; in der Handlungsstruktur (episodische Gliederung durch wiederholte Aufgaben, klimaktischer Kampf mit dem Erzfeind, Untergang des Helden durch Ausnutzung seiner einzigen, oft geheimen Schwachstelle). Die alten Heroendichtungen dienen also nicht nur als Materialfundus für Fähigkeiten und Figuren (so werden z.B. Thor oder die Amazonen, zu denen Wonder Woman gehört, direkt aus der Mythologie ins Superheldengenre importiert), sondern auch als Vorlagen für Darstellungsformen und Erzählmuster (nicht zuletzt für die konstitutive Serialität des Superheldengenres). I.1 Die homerische Ilias ist einer der wirkmächtigsten Texte der Weltliteratur, nicht nur in Hinsicht auf den Heroismus, den sie transportiert. Das vor rund 2700 Jahren entstandene Epos, das von Geschehnissen aus dem bekanntesten Krieg des Altertums – der 10-jährigen Belagerung Trojas durch die Griechen – erzählt, schildert eine ganze Reihe von Kriegern und Heldentaten. Für deren Darstellung wendet sie eine eigene Erzähltechnik an: In der sogenannten Aristie greift die Erzählung aus dem weitläufigen Kampfgeschehen einen einzelnen Heroen heraus und fokussiert vollständig auf dessen Taten. Die Krieger verdienen sich diese narrative Sonderbehandlung durch außergewöhnliche Kampfesleistungen. Die Aristie schildert also immer großartige Heldentaten. Als heroisierendes Darstellungsverfahren hebt sie die Kämpfer besonders heraus und zeichnet sie vor ihren Mitstreitern aus. Heroische Leistung und heroisierende Darstellung bedingen einander also. Neben dem frühen Erzählverfahren der Aristie haben die Literatur und andere Künste zahlreiche weitere heroische Darstellungsweisen herausgebildet, nicht zuletzt – um den Bogen zum Gegenstand dieses Readers zu ziehen – die hypertrophen Muskelberge und maskierenden Kostüme der Superhelden sowie die formatfüllenden splash pages ihrer Comics. Die Entwicklungen solcher formaler Verfahren ist eine der vielen Traditionslinien künstlerischen Heroismus, die sich von den Anfängen der Kulturgeschichte bis zu den heutigen Superheroen nachzeichnen lassen. Der 22. Gesang der Ilias, den wir als Ausschnitt für diesen Reader ausgewählt haben, bildet einen späten, kriegsentscheidenden Höhepunkt des Epos. Er schildert das Aufeinandertreffen zwischen den besten Kämpfern der beiden Armeen, dem griechischen Ausnahmekrieger Achilles und dem trojanischen Prinzen und Heerführer Hektor. Durch den Beistand und die tätige Mithilfe der Götter, deren Ratschluss zugunsten der Griechen ausfällt, setzt sich Achilles letztlich im Kampf durch und tötet Hektor. Damit ist die Niederlage der Trojaner besiegelt. Das tatsächliche Ende des Krieges, das Odysseus mit der List des trojanischen Pferdes herbeiführt, erzählt die Ilias dann gar nicht mehr. Auch Achilles’ Tod, verursacht durch Paris’ Pfeilschuss in die sprichwörtliche Ferse, die einzige verwundbare Stelle des Heroen, kommt darin nicht mehr vor. In seiner Konzentration auf den Kampf zwischen Achilles und Hektor stellt der 22. Gesang gleichsam eine ausführliche Aristie für sich dar. Indem er den Zweikampf zwischen zwei erbitterten Feinden schildert, nimmt er außerdem ein wichtiges strukturelles Merkmal vieler Heroendarstellungen vorweg: Das finale Duell ist auch im Superheldencomic ein populäres und effizientes Mittel zur Spannungssteigerung und zum Abschluss aufwändig konstruierter Heldengeschichten. I.2 Herakles ist einer der berühmtesten Helden der Antike und der griechischen Mythologie. Als Sohn von Zeus und Alkmene ist er ein Halbgott mit annähernd unbegrenzter Kraft, die er in zahllosen Abenteuern und Kämpfen einsetzt. Für seine Heldentaten wird er von den Göttern mit der höchsten Ehre der Unsterblichkeit belohnt. Trotz seines Bekanntheitsgrads

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I. Vorläufer in der Literatur- und Kulturgeschichte hat sich kaum antike Literatur zu Herakles erhalten (ein Herakles-Drama von Euripides z.B. ist verschollen). Seine bedeutendste Leistung, die sprichwörtlichen zwölf Arbeiten des Herakles, ist daher nicht, wie die Heldentaten des Achilles, des Odysseus oder des Aeneas, in einem namhaften Epos überliefert. Im vorliegenden Reader sind diese Aufgaben, die Herakles von Eurystheus zur Strafe für seinen Jähzorn auferlegt werden, nachzulesen in der Fassung der Bibliotheke des Apollodor. Bei diesem griechischen Text, der vermutlich im 1. Jahrhundert unserer Zeit von einem Autor verfasst wurde, von dem nicht einmal der Name ganz gesichert ist, handelt es sich um eine Art Mythenregister, ein frühes genealogisches Handbuch, das die wichtigsten Erzählungen und Figuren der griechischen Mythologie zusammenfasst. Die Schilderungen der Bibliotheke sind, z.B. im Vergleich mit der Ilias, knapp und schmucklos und legen den Akzent eher auf Informationsvermittlung denn auf literarische Qualität. Dennoch ist die Bibliotheke als Heroismusvehikel von Bedeutung: Nicht nur ist Herakles mit seiner übermenschlichen Kraft und Ausdauer, seinem weiten Wirkungskreis von Griechenland aus bis nach Afrika, Asien und in die Unterwelt, die lange Liste seiner Gegner und Unterlegenen, seine metaphysische Abstammung und seine eindrucksvolle Statur (sichtbar z.B. in der bekannten und vielkopierten antiken Skulptur Herkules Farnese, die ihn gestützt auf seine mächtige Keule zeigt) selbst bereits eine Art Superheld des Altertums, der viele Eigenschaften mit seinen späten Nachfolgern teilt (was Gustave Doré schon 1847 in einem Comic parodiert hat). Auch die Erzählweise der Bibliotheke, wie sie besonders aus dem Bericht der zwölf Arbeiten hervorgeht, ist für das Superheldengenre richtungsweisend: In seiner sukzessiven Aufzählung einzelner Abenteuer, organisiert durch Eurystheus’ Aufträge und verknüpft durch unablässig wiederholte Floskeln (»Als nächstes trug Eurystheus Herakles auf…«), weist das Mythenregister voraus auf die episodisch-serielle Struktur der Superheldennarrative. Auch Superman, Spider-Man, die X-Men etc. handeln oftmals im Auftrag und beginnen traditionell am Anfang eines jeden Hefts ein neues Abenteuer, das sie in den Kampf gegen immer wieder die gleichen Feinde führt. Die geringfügige Variation und Wiederholung strukturanaloger Handlungsverläufe und Erzählmuster ist ein konstitutives Element des Genres, ohne das die unüberblickbare Vielzahl an Superheldengeschichten gar nicht zu produzieren wäre. Die Aufgaben der Superhelden hören nicht auf, immer von Neuem und in unendlichen Reihen heroischer Episoden stellen sie ihren Heldenstatus unter Beweis. Auf diese Weise – dies ist die ökonomische Dimension dieser Erzählform – lässt sich mit ihnen Geld verdienen. I.3 Auch der religiöse Heroismus, wie er etwa in den Erzählungen der Bibel zum Ausdruck kommt und durch unzählige Neuerzählungen und produktive künstlerische Rezeption bis heute tradiert wird, hat bis zu den Superhelden nachgewirkt. 5 So ist z.B. Superman von jüdischen Theologen wie den Rabbinern Simcha Weinstein und Avichai Apel mit Moses verglichen worden: 6 Beide Helden wurden von ihren leiblichen Eltern zu ihrem Schutz ausgesetzt (der eine im Bastkorb, der andere in einem Raumschiff) und von Zieheltern aufgezogen. Später wenden sie sich gegen Unterdrückung und fungieren als verehrte Beschützer ihrer Landsleute. Da Jerry Siegel und Joe Shuster, Supermans Schöpfer, Juden waren und die Geschichten des Tanach bzw. des Alten Testaments kannten, liegt eine solche Inspiration nahe. Auch 5 | Vgl. exemplarisch Olaf Seydel: Jüdisch-christliche Symbolik in der 70jährigen Geschichte Supermans. Jena 2009. 6 | Vgl. Simcha Weinstein: From Cleveland to Krypton. The Man of Steel’s Jewish Roots (ht tps://w w w.myjewishlearning.com/ar ticle/superman-from-cleveland-to-kr ypton/, 28.11.2017) sowie Avichai Apel: Superman. Ein Held wie Moses, Website der Jüdischen Allgemeinen, 28.08.2008 (www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/2234, 28.11.2017).

Nehrlich: Einführung mit dem Gottessohn Jesus wurde Superman in Beziehung gesetzt, insofern er als mächtiges, außer- und überirdisches Wesen auf der Erde durchaus den Status einer Gottheit hat. Die biblische Geschichte des Simson (oder Samson), die für diesen Reader ausgewählt wurde, illustriert noch ein anderes Heldencharakteristikum, das frühe Heroen mit den Superhelden teilen: Wie der Riese Antaios aus der griechischen Mythologie, der übermenschliche Kraft besitzt, solange sein Körper die Erde berührt, und den Herakles nur überwinden kann, indem er ihn in die Luft stemmt (vgl. den Auszug aus Apollodors Bibliotheke, Abschnitt 115), so hat auch Simson eine geheime, göttliche Kraftquelle: sein Haar. Solange er nicht geschoren wird, hat Simson unbändige Kräfte, denen wilde Tiere und 1000 Mann starke Armeen nicht widerstehen können. Diese Kraftquelle ist aber, wenn sie heimtückisch ausgenutzt wird, zugleich Simsons Schwachstelle. Als Delila ihm die Haare abschneidet und ihn verrät, ist Simson leichtes Opfer der Philister und kann sich erst wehren, als seine Locken wieder nachgewachsen sind. Sein Rachesuizid reißt Tausende mit in den Tod. Viele Superhelden verfügen über eine ähnliche metaphysische, magische oder technologische Machtquelle, ohne die sie machtlos sind. Iron Mans Stärke entspringt der Energiequelle in seiner Rüstung, Green Lanterns Kräfte wohnen einem Ring und einer magischen Laterne inne, Visions Macht geht in den filmischen Adaptionen von einem der Infinity-Steine aus und die X-Men beziehen ihre Fähigkeiten von einem X-Gen (das auch deaktiviert werden kann). Aus der Gefahr, ihre Kraftquelle zu verlieren, dadurch ihre Stärke einzubüßen und wie Simson auf menschliches Normalmaß reduziert zu werden, gewinnen viele Erzählungen dieser Superhelden ihre Spannung. I.4 Die auf Altisländisch verfasste (ältere) Edda, eine um 1200 entstandene Sammlung von anonymen Götter- und Heldendichtungen, ist die bedeutendste literarische und historische Quelle für die nordische Mythologie. Sie enthält eine ganze Reihe heroischer Schilderungen von Abenteuern, Wundertaten und Kriegen. In Bezug auf ihre Vorlagenschaft für das Superheldengenre sollen hier besonders zwei Aspekte hervorgehoben werden: Zum einen haben die Figuren und Stoffe der nordischen Mythen in Gestalt des Superhelden Thor und seines Comic-Universums sehr unmittelbar und unverstellt Einzug ins Superheldengenre gehalten. Die Welt der nordischen Götter samt ihren physischen und charakterlichen Eigenschaften, ihren Physiognomien und ihrer Ausrüstung findet sich in den Marvel-Comics der Reihe (und inzwischen in den Verfilmungen) wieder und bildet dort Kulisse und Schauplatz neuer und alter Abenteuer des hammerschwingenden Donnergotts Thor, seines Vaters Odin und seiner Mutter Frigga, des heimtückischen Gestaltwandlers Loki, des Wächters Heimdall etc. Dieser kulturelle Transfer ist ein Beleg dafür, wie nahtlos alter Heroismus und Superheldentum ineinander übergehen können. Eine zweite Gemeinsamkeit illustriert die für diesen Reader ausgewählte Passage der Edda, Odins Trinkgelage: Hauptfigur dieses Lieds ist nicht Thor, sondern Loki, der aus Missgunst restlos alle Anwesenden gegen sich aufbringt. Seine Schmähungen sind zugleich unverschämt und unterhaltsam, Loki macht sich vor der versammelten Götterelite lächerlich und beweist dennoch seinen überlegenen Intellekt. Niemand kann seinen Lästereien Einhalt gebieten, bis endlich Thor eingreift und Loki mehrfach mit seinem Hammer Miölnir droht. Nur vor Thor hat Loki Respekt und sucht das Weite, bevor ihn die schreckliche Rache der Götter doch erreicht. Was sich hier beobachten lässt und was auch für viele Superheldennarrative charakteristisch ist, ist die Rivalität zwischen Held und Schurke. Dieser ewige Widerstreit, der je nach Interpretation z.B. moralisch, ideologisch, politisch, soziologisch, psychologisch oder regional motiviert sein kann, ist konstitutiv für viele klassische Heldenerzählungen (er liegt z.B. auch der Zweikampfstruktur des 22. Gesangs der Ilias zugrunde) ebenso wie für das Superheldengenre. Auch dort hat Thor seinen Loki, Batman seinen Joker, Spiderman seinen Green Goblin, Superman seinen Lex Luthor und die X-Men ihren Magneto. Diese Erzfeinde und ihre Rolle als lockende und drohende

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I. Vorläufer in der Literatur- und Kulturgeschichte Antagonisten, die bis zurück zu den Ursprüngen des Heldentums reicht, tragen zum Erfolg des Superhelden noch immer erheblich bei. I.5 Das Nibelungenlied ist eine der umfangreichsten und noch heute bekanntesten Heldendichtungen des Mittelalters. Auf Mittelhochdeutsch im 13. Jahrhundert anonym verfasst, handelt es von dem durch Missgunst und Gier verursachten Untergang der mächtigen Burgunden. Ausführlich schildert es den verheerenden Konflikt zwischen Mitgliedern der Königsfamilie, dem neben ganzen Armeen schließlich auch fast alle Hauptfiguren zum Opfer fallen. Ein Auslöser des Streits ist die Tötung Siegfrieds durch Hagen, die Kriemhild, Siegfrieds Frau, grausam rächt. Siegfried ist der größte Kämpfer des Nibelungenstoffs. Die ausgewählte Passage (Strophe 86-100) entstammt dem Beginn des Nibelungenlieds. Der junge Xanthener Königssohn Siegfried kommt am Hof in Worms an. Obwohl er bereits zahlreiche Heldentaten vollbracht hat, ist er dort den meisten Burgunden unbekannt. Nur Hagen, ein erfahrener Krieger, erkennt ihn und berichtet den anderen seine Vorgeschichte. Siegfrieds Kampfleistungen machen Eindruck: Im Alleingang besiegte er eine Armee und sicherte sich den Schatz der Nibelungen. Siegfrieds Kräfte sind vollends wunderbar und übermenschlich. Der Heroismus des Nibelungenlieds hat keinen realistischen Anspruch, ist nicht buchstäblich zu verstehen, sondern beruht auf dem Verfahren der Übertreibung. In hyperbolischer Überbietung tötet Siegfried in Hagens Erzählung sogar einen Drachen und erlangt durch das Bad in dessen Blut einen undurchdringlichen Schutzpanzer, der ihn fast unverwundbar macht. Erst im späteren Handlungsverlauf, nachdem Siegfrieds Wundertaten den Neid der Burgunden geweckt haben, wird Hagen von Kriemhild durch eine List in Erfahrung bringen, dass Siegfried dort, wo ein Lindenblatt das Drachenblut von seiner Haut abhielt, doch verletzlich ist. Dieses Wissen nutzt Hagen, um ihn trotz seiner körperlichen Unterlegenheit zu töten. Solche Schwachstellen, die einen ansonsten unbesiegbaren Helden doch angreifbar machen, sind charakteristisch für viele alte und neue Helden. Bei Achilles ist es die Ferse, bei Siegfried das Lindenblatt, bei Superman das Kryptonit. Auch die übermenschlichen Kräfte teilt der Held des Nibelungenlieds mit seinen superheroischen Nachfolgern. Und noch eine Gemeinsamkeit wird in den ausgewählten Strophen ersichtlich: die magischen Gegenstände, die den Helden mit Kraft und besonderen Fähigkeiten ausstatten. Erst das Schwert Balmung macht aus Siegfried einen vollendeten Krieger, der Nibelungenhort verleiht ihm Macht und die Tarnkappe nutzt er zur Täuschung seiner Gegner. Auch Superhelden bedienen sich zahlloser Accessoires und Gadgets, um ihre Fähigkeiten zu steigern und zu erweitern, seien sie ebenfalls magisch – wie der Ring von Green Lantern, Wonder Womans Lasso, das Auge von Agamotto bei Doctor Strange oder Thors Hammer Mjölnir – oder in technologische Wunder übersetzt – wie Iron Mans Rüstung oder Cyborgs Maschinenkörper. Besonders stark abhängig von diesen Objekten sind Helden wie Batman, die keine übermenschlichen Superkräfte besitzen. I.6 Den Abschluss der Sektion bildet ein Auszug aus Friedrich Nietzsches philosophischer Dichtung Also sprach Zarathustra (veröffentlicht 1883-1885). Dieser Text ist hier nicht deshalb relevant, weil er heldische Vorläuferfiguren und Darstellungsweisen enthielte, die Eingang in Superheldencomics gefunden hätten, sondern weil er ein Konzept geprägt hat, das ihrer Entstehung den Weg geebnet hat: das des ›Übermenschen‹. Die Ursprünge dieses Begriffs gehen zurück bis in die Antike. In Nietzsches Vorstellung, wie sie aus dem ausgewählten Ausschnitt aus der Vorrede des Zarathustra hervorgeht, ist der Übermensch eine vor allem geistige, aber auch biologische Weiterentwicklung des Menschen, gleichsam dessen evolutionärer Nachfolger und Überbieter. Durch überlegene intellektuelle und physische Fähigkeiten soll Nietzsches Übermensch den Menschen überwinden. Es fällt nicht schwer, bei dieser Vision an Superhelden wie Captain America, Vision oder Superman zu denken. Tat-

Nehrlich: Einführung sächlich wird ›Übermensch‹ im Englischen mit dem Begriff ›superman‹ übersetzt und Nietzsches Werk hat stark zu dessen Verbreitung und Popularisierung beigetragen. Zwar gibt es keinen Beleg dafür, dass Jerry Siegel und Joe Shuster, die in den 1930er Jahren noch Teenager waren, Nietzsche gelesen hatten, bevor sie ihrer Heldenschöpfung den Namen Superman gaben. Dass die Bezeichnung in der englischen Sprache jedoch durch verschiedene Adaptionen sehr geläufig war, belegt z.B. das 1905 uraufgeführte, von Nietzsche beeinflusste Stück Man and Superman von George Bernard Shaw. Auch James Joyce verwendet den Begriff ›superman‹ in seinem 1922 erschienenen Welterfolg Ulysses. Selbst wenn Superman nicht direkt darauf zurückgeht, sondern sich durch sein Beharren auf traditionellen moralischen und menschlichen Werten sogar in gewisser Weise davon abgrenzt, zeugt ein Beispiel aus Siegels und Shusters Findungsphase in den frühen 1930er Jahren doch von einer deutlichen gedanklichen Nähe zu Nietzsches Konzept: In ihrer allerersten gemeinsamen Publikation, einem von Siegel verfassten und von Shuster illustrierten, im Januar 1933 im Selbstverlag gedruckten Fanzine mit dem Titel The Reign of the Superman, wird der titelgebende Superman noch als furchteinflößendes Genie dargestellt, das die Weltherrschaft an sich reißen will. Im selben Jahr brach in Deutschland eine andere Rezeptionslinie von Nietzsches Übermensch-Konzept an. Vor dem Hintergrund der Machtergreifung der Nazis, die eine arische ›Herrenrasse‹ züchten und die Juden vernichten wollten, wird vielleicht verständlich, dass die jüdischen Emigrantenkinder Jerry Siegel und Joe Shuster ihren frühen Entwurf des Superman verwarfen und den genrebegründenden Superhelden schließlich als Beschützer und Bewahrer konzipierten. Jerry Siegel erinnerte sich später so: »What led me into creating Superman in the early thirties? […] Hearing and reading of the oppression and slaughter of helpless, oppressed Jews in Nazi Germany […], seeing movies depicting the horrors of privation suffered by the downtrodden […] I had the great urge to help […], help the downtrodden masses, somehow. How could I help them when I could barely help myself? Superman was the answer.« 7 Die Züge des glatzköpfigen megalomanen ersten Superman von 1933 übertrugen Siegel und Shuster übrigens auf Supermans Erzfeind Lex Luthor. Neben formalen Kontinuitäten und Personal- und Motivübernahmen sind also auch solche ideengeschichtlichen Fort- und Umschreibungen zu berücksichtigen, wenn die Rezeption literarischer Vorläuferfiguren und klassischer heroischer Darstellungen im Superheldengenre in den Blick genommen wird.

7 | Zitiert nach: Jonas Engelmann: »Verborgene Traditionen – der Golem im Comic«, in: Ralf Palandt (Hg.): Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics. Berlin 2011, S. 316-325, hier S. 318.

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Homer: Ilias, Gesang X XII* Der Kampf zwischen Achilles und Hektor In der Übersetzung von Johann Heinrich Voß1 Den zurückkehrenden Achilleus erwartet Hektor vor der Stadt, obgleich die Eltern von der Mauer ihn jammernd hereinrufen; beim Annahn des Schrecklichen flieht er, dreimal um Ilios verfolgt. Zeus wägt Hektors Verderben, und sein Beschützer Apollon weicht. Athene in Deïphobos’ Gestalt verleitet den Hektor zu widerstehn. Achilleus fehlt, Hektors Lanze prallt ab; drauf mit dem Schwert anrennend wird er am Halse durchstochen, dann entwaffnet, und rückwärts am Wagen zu den Schiffen geschleift. Wehklage der Eltern von der Mauer, und der zukommenden Andromache. So flohn jene zur Stadt angstvoll, wie die Jungen der Hindin, Kühleten atmend den Schweiß, und tranken, den Durst sich zu löschen, Längs der Mauer gestreckt an der Brustwehr. Doch die Achaier Wandelten dicht zur Mauer, die Schilde gelehnt an die Schultern. 5  Hektorn zwang zu beharren das schreckenvolle Verhängnis, Außerhalb vor Ilios Stadt und dem skäischen Tore. Aber zum Peleionen begann itzt Phöbos Apollon: Warum doch, o Peleide, verfolgst du mich eilendes Laufes, Selbst ein Sterblicher nur den Unsterblichen? Schwerlich indes wohl 10  Kennst du den himmlischen Gott, daß sonder Rast du dich abmühst. Traun nichts gilt der Troer Gefecht dir, welche du scheuchtest: Diese flohn in die Feste gedrängt; und du wandtest dich hieher. Nie ja tötest du mich, der keinem Verhängnisse frönet. Unmutsvoll antwortete drauf der schnelle Achilleus: 15  O des Betrugs, Ferntreffer, du grausamster unter den Göttern, Dass du so weit von der Mauer mich wendetest! Wahrlich noch viele Knirschten die Zähn’ in den Staub, eh’ Ilios Stadt sie erreichet! Doch mir nimmst du den herrlichen Ruhm, und rettetest jene, Sonder Müh; denn du darfst nicht Rache scheun in der Zukunft!

*  Homer: Ilias, Gesang XXII. Aus: Homers Werke. 4 Bde. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. Altona: im Selbstverlag 1793, Bd. 1 und 2. Der Text wurde an heutige Orthographie angepasst.

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20  Traun ich rächte mich gern, wenn genug der Stärke mir wäre! Dieses gesagt, hineilt’ er voll trotzendes Muts zu der Mauer, Ungestüm, wie ein Ross, zum Siege gewöhnt, mit dem Wagen, Welches behend’ und gestreckt einhersprengt durch das Gefilde: So der Peleid’, eilfertig die Knie’ und die Schenkel bewegt’ er. 25  Priamos aber der Greis ersah ihn zuerst mit den Augen, Strahlenvoll wie der Stern, da er herflog durch das Gefilde, Welcher im Herbst aufgeht, und mit überstrahlender Klarheit Scheint vor vielen Gestirnen in dämmernder Stunde des Melkens; Welcher Orions Hund genannt wird unter den Menschen; 30  Hell zwar glänzt er hervor, doch zum schädlichen Zeichen geordnet, Denn er bringt ausdörrende Glut den elenden Menschen: So dort strahlte das Erz um die Brust des laufenden Herrschers. Laut wehklagte der Greis, und schlug sein Haupt mit den Händen, Hoch empor sie erhebend, und rief wehklagend hinunter, 35  Flehend dem lieben Sohn, der außerhalb vor dem Tore Stand, voll heißer Begier, mit dem Peleionen zu kämpfen; Diesem rief lautjammernd der Greis, und streckte die Händ’ aus: Hektor, erwarte mir nicht, mein trautester Sohn, den Verderber, Einsam, getrennt von den andern, daß nicht dich ereile das Schicksal 40  Unter Achilleus’ Hand, der weit an Stärke dir vorgeht! Möchte der Grausame doch den Unsterblichen also geliebt sein, Wie mir selbst! bald läg er, ein Raub den Hunden und Geiern Dargestreckt; dann schwände der Gram, der das Herz mir belastet! Ach, der Söhne so viel’ und so tapfere raubte mir jener, 45  Mordend teils, und verkaufend in fernentlegene Inseln! Jetzt auch zween der geliebten, Lykaon samt Polydoros, Schau’ ich nirgend im Heere der eingeschlossenen Troer, Die mir Laothoe beide gebar, die Fürstin der Weiber. Wenn sie nur noch leben im Kriegsheer, wieder hinfort dann 50  Könnt’ ich mit Erz und Gold sie befrein; denn ich habe daheim ja: Vieles ja gab der Tochter der graue gepriesene Altes. Sind sie jedoch schon tot, und in Aïdes Schattenbehausung; Gram dann füllt mir das Herz, und der Mutter, die wir sie zeugten. Aber das übrige Volk wird weniger jene betrauern, 55  Wenn nur du nicht stirbst, von Achilleus Stärke gebändigt. Komm denn herein in die Stadt, mein Trautester, daß du errettest Trojas Männer und Fraun, daß nicht mit Ruhm du verherrlichst Peleus’ Sohn, und selber dein süßes Leben verlierest! Auch erbarme dich mein, des Elenden, weil ich noch atme, 60  Ach des jammervollen, den Zeus an der Schwelle des Alters Straft zu schwinden in Gram, und unendliches Weh zu erblicken: Meine Söhn’ erwürgt, und hinweggerissen die Töchter, Ausgeplündert die Kammern der Burg, und die stammelnden Kinder Hin auf den Boden geschmettert, in schreckenvoller Entscheidung,

Homer: Ilias, Gesang X XII

65  Auch die Schnüre geschleppt von der grausamen Hand der Achaier! Selber zuletzt wohl lieg’ ich zerfleischt am Tor des Palastes Von blutgierigen Hunden, nachdem ein mordendes Erz mir, Zuckend oder geschnellt, den Geist aus den Gliedern hinwegnahm, Die ich im Hause genährt am Tisch, zu Hütern des Tores; 70  Sie dann lecken mein Blut, und wild von rasendem Wahnsinn Liegen sie vorn am Tor! Dem Jünglinge stehet es wohl an, Wenn er im Streit erschlagen, zerfleischt von der Schärfe des Erzes, Daliegt; schön ist alles im Tode noch, was auch erscheinet. Aber wird das grauende Haupt, und der grauende Bart nun, 75  Auch die Scham von Hunden entstellt dem ermordeten Greise; Das ist traun das kläglichste Leid dem elenden Menschen! Also der Greis, und raufte sich graues Haar mit den Händen Rings von dem Haupt; doch nicht war Hektors Geist zu bewegen. Auch die Mutter zunächst wehklagete, Tränen vergießend, 80  Trennte des Busens Gewand, und erhob die Brust mit der Linken; So von Tränen benetzt die geflügelten Worte begann sie: Hektor! scheue, mein Sohn, den Anblick, ach und erbarm dich Meiner selbst! Wo ich je die stillende Brust dir geboten, Denke mir des, mein Kind, und wehre dem schrecklichen Manne 85  Hier, in die Mauer gerettet; nur dort nicht stelle dich jenem! Rasender! wenn er sogar dich ermordete; nimmer beweint’ ich Dich auf Leichengewanden, du trautester Sprößling des Schoßes, Noch die reiche Gemahlin; vielmehr so entfernt von uns beiden, Dort an der Danaer Schiffen, zerfleischten dich hurtige Hunde! 90  Also weineten beide, den lieben Sohn anflehend, Laut mit Geschrei; doch nicht war Hektors Geist zu bewegen; Nein er erharrt’ Achilleus, des Ungeheuren, Herannahn. So wie ein Drach’ im Gebirge den Mann erharrt an der Felskluft, Satt des giftigen Krauts, und erfüllt von heftigem Zorne; 95  Gräßlich schaut er umher, in Ringel gedreht um die Felskluft: So unbändiges Mutes verweilt’ auch Hektor, und wich nicht, Lehnend den hellen Schild an des Turms vorragende Mauer; Tief aufseufzt’ er und sprach zu seiner erhabenen Seele: Wehe mir! wollt’ ich anjetzt in Tor und Mauer hineingehn; 100  Würde Polydamas gleich mit kränkendem Hohn mich belasten, Welcher mir riet in die Feste das Heer der Troer zu führen, Vor der verderblichen Nacht, da erstand der edle Achilleus. Aber ich hörete nicht; wie heilsam, hätt’ ich gehöret! Jetzo nachdem ich verderbte das Volk durch meine Betörung, 105  Scheu ich Trojas Männer und saumnachschleppende Weiber, Daß nicht einst mir sage der Schlechteren einer umher wo: Hektor verderbte das Volk, auf eigene Stärke vertrauend! Also spricht man hinfort; doch mir weit heilsamer wär es: Mutig entweder mit Sieg von Achilleus Morde zu kehren,

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I. Vorläufer in der Literatur- und Kulturgeschichte

110  Oder ihm selbst zu fallen im rühmlichen Kampf vor der Mauer. Aber legt’ ich zur Erde den Schild von gerundeter Wölbung, Samt dem gewichtigen Helm, und den Speer an die Mauer gelehnet, Eilt’ ich entgegen zu gehn dem tadellosen Achilleus, Und verhieß ihm Helena selbst, und ihre Besitzung 115  Alle, so viel Alexandros daher in geräumigen Schiffen Einst gen Troja geführt, was unseres Streites Beginn war, Daß er zu Atreus’ Söhnen es führt’; auch umher den Achaiern Anderes auszuteilen, wie viel die Stadt auch verschließet; Und ich nähme darauf von Trojas Fürsten den Eidschwur, 120  Nichts ingeheim zu entziehn, nein zwiefach alles zu teilen, Was an Gut die liebliche Stadt inwendig verschließet: − Aber warum bewegte das Herz mir solche Gedanken? Laß mich ja nicht flehend ihm nahn! Nein sonder Erbarmung Würd’ er, und sonder Scheu, mich niederhaun, den Entblößten, 125  Grad’ hinweg, wie ein Weib, sobald ich der Wehr mich enthüllet. Nicht fürwahr nun gilt es, vom Eichbaum oder vom Felsen Lange mit ihm zu schwatzen, wie Jungfrau traulich und Jüngling, Jungfrau traulich und Jüngling zu holdem Geschwätz sich gesellen. Besser zu feindlichem Kampfe hinangerannt! daß wir eilig 130  Sehn, wem etwa von uns der Olympier Ehre verleihe! Also dacht’ er, und blieb. Doch näher kam ihm Achilleus, Ares gleich an Gestalt, dem helmerschütternden Streiter, Pelions ragende Esch’ auf der rechten Schulter bewegend, Fürchterlich; aber das Erz umleuchtet’ ihn, ähnlich dem Schimmer 135  Lodernder Feuersbrunst, und der hellaufgehenden Sonne. Hektor, sobald er ihn sah, erzitterte; nicht auch vermocht’ er Dort zu bestehn, und er wandte vorn Tore sich, ängstlich entziehend. Hinter ihm flog der Peleide, den hurtigen Füßen vertrauend. So wie ein Falk des Gebirgs, der geschwindeste aller Gevögel, 140  Leicht mit gewaltigem Schwung nachstürmt der schüchternen Taube; Seitwärts schlüpfet sie oft; doch nah mit hellem Getön ihr Schießet er häufig daher, voll heißer Begier zu erhaschen: So drang jener im Flug gradan; doch es flüchtete Hektor Längs der troischen Mauer, die hurtigen Kniee bewegend. 145  Beid’ an der Warte vorbei und dem wehenden Feigenbaume, Immer hinweg von der Mauer, entflogen sie über den Fahrweg. Und sie erreichten die zwo schönsprudelnden Quellen, woher sich Beide Bäch’ ergießen des wirbelvollen Skamandros. Eine rinnt beständig mit warmer Flut, und umher ihr 150  Wallt aufsteigender Dampf, wie der Rauch des brennenden Feuers; Aber die andere fließt im Sommer auch kalt wie der Hagel, Oder des Winters Schnee, und gefrorene Schollen des Eises. Dort sind nahe den Quellen geräumige Gruben der Wäsche, Steinerne, schöngehaun, wo die stattlichen Feiergewande

Homer: Ilias, Gesang X XII

155  Trojas Weiber vordem und liebliche Töchter sich wuschen, Als noch blühte der Fried’, eh’ die Macht der Achaier daherkam. Hier nun rannten vorbei der Fliehende und der Verfolger. Vornan floh ein Starker, jedoch ein Stärkerer folgte Stürmendes Laufs: denn nicht um ein Weihvieh, oder ein Stierfell, 160  Strebten sie, welches man stellt zum Kampfpreis laufender Männer; Sondern es galt das Leben des gaulbezähmenden Hektors. So wie zum Siege gewöhnt um das Ziel starkhufiger Rosse Hurtiger wenden den Lauf, denn es lohnt ein köstlicher Dreifuß, Oder ein blühendes Weib, am Fest des gestorbenen Herrschers: 165  Also kreiseten sie dreimal um Priamos Feste Rings mit geflügeltem Fuß; und die Ewigen schaueten alle. Jetzo begann der Vater des Menschengeschlechts und der Götter: Wehe doch! einen Geliebten umhergejagt um die Mauer Seh’ ich dort mit den Augen; und herzlich jammert mich seiner, 170  Hektors, welcher so oft mir Schenkel der Stier’ auf dem Altar Zündete, bald auf den Höhen des vielgewundenen Ida, Bald in der oberen Burg! Nun drängt ihn der edle Achilleus, Rings um Priamos’ Stadt mit hurtigen Füßen verfolgend. Aber wohlan, ihr Götter, erwägt im Herzen den Ratschluß: 175  Ob er der Todesgefahr noch entfliehn soll, oder anitzo Fallen, wie tapfer er ist, dem Peleionen Achilleus. Drauf antwortete Zeus’ blauäugige Tochter Athene: Vater mit blendendem Strahl, Schwarzwolkiger, welcherlei Rede! Einen sterblichen Mann, längst ausersehn dem Verhängnis, 180  Denkst du anitzt von des Todes graunvoller Gewalt zu erlösen? Tu’s; doch nimmer gefällt es dem Rat der anderen Götter! Ihr antwortete drauf der Herrscher im Donnergewölk Zeus: Fasse dich, Tritogeneia, mein Töchterchen! Nicht mit des Herzens Meinung sprach ich das Wort: ich will dir freundlich gesinnt sein. 185  Tue, wie dir nun selbst es genehm ist; nicht so gezaudert. Also Zeus, und erregte die schon verlangende Göttin; Stürmendes Schwungs entflog sie den Felsenhöhn des Olympos. Hektorn drängt’ unablässig im Lauf der Verfolger Achilleus. Wie wenn den Sohn des Hirsches der Hund im Gebirge verfolget, 190  Aufgejagt aus dem Lager, durch windende Tal’ und Gebüsche; Ob auch jener sich berg’ und niederduck’ in dem Dickicht, Stets doch läuft er umher, der Spürende, bis er gefunden: So barg Hektor sich nicht dem mutigen Renner Achilleus. Wenn er auch oft ansetzte, zum hohen dardanischen Tore 195  Hinzuwenden den Lauf, und den festgebaueten Türmen, Ob vielleicht von oben der Freunde Geschoß ihn beschützte; Eilete stets der Verfolger zuvor, und wendet’ ihn abwärts Nach dem Gefild’, er selbst an der Seite der Stadt hinfliegend. Wie man im Traum umsonst den Fliehenden strebt zu verfolgen;

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200 Nicht kann dieser hinweg ihm entfliehn, noch jener verfolgen: Also ergriff nicht dieser im Lauf, noch enteilete jener. Doch wie wär’ itzt Hektor entflohn den Keren des Todes, Wenn nicht ihm noch einmal zuletzt Apollon der Herrscher Nahete, welcher ihm Kraft aufregt’ und hurtige Schenkel? 205  Aber dem Volke verbot mit winkendem Haupt der Peleide, Nicht ihm daherzuschnellen auf Hektor herbe Geschosse; Daß kein Treffender raubte den Ruhm, er der zweite dann käme. Als sie nunmehr zum vierten die sprudelnden Quellen erreichet; Jetzo streckte der Vater empor die goldene Waage, 210  Legt’ in die Schalen hinein zwei finstere Todeslose, Dieses dem Peleionen, und das dem reisigen Hektor, Faßte die Mitt’, und wog: da lastete Hektors Schicksal Schwer zum Aïdes hin; es verließ ihn Phöbos Apollon. Doch zu Achilleus kam die Herrscherin Pallas Athene; 215  Nahe trat sie hinan, und sprach die geflügelten Worte: Jetzt doch, hoff’ ich gewiß, Zeus’ Liebling, edler Achilleus, Bringen wir großen Ruhm hinab zu dem Schiffen Achaias, Hektor dort austilgend, den unersättlichen Krieger. Nun nicht mehr vermag er aus unserer Hand zu entrinnen, 220 Nein wie viel auch erdulde der treffende Phöbos Apollon, Hingewälzt vor die Kniee des ägiserschütternden Vaters. Aber wohlan nun steh und erhole dich; während ich selber Jenem genaht zurede, dir kühn entgegen zu kämpfen. Also sprach Athen’; er gehorcht’ ihr, freudiges Herzens, 225  Stand, und ruhte gelehnt auf die erzgerüstete Esche. Jene verließ ihn selbst, und erreichte den göttlichen Hektor, Ganz dem Deïphobos gleich an Wuchs und gewaltiger Stimme; Nahe trat sie hinan, und sprach die geflügelten Worte: Ach mein älterer Bruder, wie drängt dich der schnelle Achilleus, 230  Rings um Priamos’ Stadt mit hurtigen Füßen verfolgend! Aber wohlan, wir bleiben, und widerstehn unerschüttert! Ihm antwortete drauf der helmumflatterte Hektor: Stets, Deïphobos, warst du auch sonst mein trautester Bruder, Aller, die Priamos zeugt’ und Hekabe, unsere Mutter; 235  Aber noch mehr gedenk’ ich hinfort dich im Herzen zu ehren, Daß du um meinetwillen, sobald du mich sahst mit den Augen, Dich aus der Mauer gewagt, da andere drinnen beharren. Ihm antwortete Zeus’ blauäugige Tochter Athene: Bruder, mich bat der Vater mit Flehn und die würdige Mutter, 240 Die umeinander die Kniee mir rühreten, auch die Genossen Fleheten, dort zu bleiben: so sehr sind alle voll Schreckens. Doch mein Herz im Busen durchdrang der schmerzende Kummer. Nun gradan mit Begierde zum Kampf! nun unserer Lanzen Nicht geschonet annoch! damit wir sehn, ob Achilleus

Homer: Ilias, Gesang X XII

245  Uns vielleicht ermordet, und blutige Waffen hinabträgt Zu den gebogenen Schiffen; ob deiner Lanz’ er dahinsinkt! Dieses gesagt, ging jene voran, die täuschende Göttin. Als sie nunmehr sich genaht, die Eilenden gegeneinander; Jetzo begann anredend der helmumflatterte Hektor: 250  Nicht hinfort, o Peleid’, entflieh’ ich dir, so wie bis jetzo! Dreimal umlief ich die Feste des Priamos, nimmer es wagend, Deiner Gewalt zu beharren; allein nun treibt mich das Herz an, Fest dir entgegen zu stehn, ich töte dich, oder ich falle! Laß uns jetzt zu den Göttern emporschaun, welche die stärksten 255  Zeugen des Eidschwurs sind, und jegliches Bundes Bewahrer. Denn ich werde dich nimmer mit Schmach mißhandeln, verleiht mir Zeus, als Sieger zu stehn, und dir die Seele zu rauben; Sondern nachdem ich gewonnen dein schönes Geschmeid’, o Achilleus; Geb’ ich die Leiche zurück den Danaern. Tue mir Gleiches. 260 Finster schaut’ und begann der mutige Renner Achilleus: Hektor, mir nicht, unvergeßlicher Feind, von Verträgen geplaudert! Wie kein Bund die Löwen und Menschenkinder befreundet, Auch nicht Wölf’ und Lämmer in Eintracht je sich gesellen; Sondern bitterer Haß sie ewig trennt voneinander: 265  So ist nimmer für uns Vereinigung, oder ein Bündnis, Mich zu befreunden und dich, bis einer, gestürzt auf den Boden, Ares mit Blute getränkt, den unaufhaltsamen Krieger! Jeglicher Kampfeskund’ erinnre dich! Jetzo gebührt dir’s, Lanzenschwinger zu sein, und unerschrockener Krieger! 270 Nicht entrinnst du annoch; durch meine Lanze bezähmt dich Pallas Athene sofort! Nun büßest du alles auf einmal, Meiner Genossen Weh, die du Rasender schlugst mit der Lanze! Sprach’s, und im Schwung’ entsandt’ er die weithinschattende Lanze. Diese jedoch vorschauend vermied der strahlende Hektor; 275  Denn er sank in die Knie’; und es flog der eherne Wurfspieß Über ihn weg in die Erd’: ihn ergriff und reichte die Göttin Schnell dem Peleiden zurück, unbemerkt von dem streitbaren Hektor. Aber Hektor begann zu dem tadellosen Achilleus: Weit gefehlt! Wohl schwerlich, o göttergleicher Achilleus, 280 Offenbarete Zeus mein Geschick dir, wie du geredet; Sendern du warst ein gewandter und hinterlistiger Schwätzer, Daß ich vor dir hinbebend des Muts und der Stärke vergäße. Nicht mir Fliehenden soll dein Speer den Rücken durchbohren; Sondern gerad’ anstürm’ ich: wohlauf! in die Brust ihn gestoßen, 285  Wenn dir ein Gott es verlieh! Doch jetzt vermeide die Schärfe Dieses Speers! O möchte dein Leib doch ganz ihn empfangen! Leichter wäre sodann der Kampf für die Männer von Troja, Wenn du sänkst in den Staub; du bist ihr größestes Unheil! Sprach’s, und im Schwung’ entsandt’ er die weithinschattende Lanze,

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290 Traf, und verfehlete nicht, gerad’ auf den Schild des Peleiden; Doch weit prallte vom Schilde der Speer. Da zürnete Hektor, Daß sein schnelles Geschoß umsonst aus der Hand ihm entflohn war; Stand, und schaute bestürzt; denn ihm fehlt’ ein anderer Wurfspieß. Laut zu Deïphobos drauf, dem Weißgeschildeten, ruft’ er, 295  Fordernd den ragenden Speer; allein nicht nahe war jener. Hektor erkannt’ es anjetzt in seinem Geist und begann so: Wehe mir doch! nun rufen zum Tode mich wahrlich die Götter! Denn ich dachte, der Held Deïphobos wolle mir beistehn; Aber er ist in der Stadt, und es täuschte mich Pallas Athene. 300 Nun ist nahe der Tod, der schreckliche! nicht mir entfernt noch; Auch kein Entfliehn! Denn ehmals beschloß noch solches im Herzen Zeus, und des Donnerers Sohn, der Treffende, welche zuvor mich Stets willfährig geschirmt; doch jetzo erhascht mich das Schicksal! Daß nicht arbeitlos in den Staub ich sinke, noch ruhmlos, 305  Nein erst Großes vollendend, wovon auch Künftige hören! Also redete jener, und zog das geschliffene Schwert aus, Welches ihm längs der Hüfte herabhing, groß und gewaltig; An nun stürmt’ er gefaßt, wie ein hochherfliegender Adler, Welcher herab auf die Ebne gesenkt aus nächtlichen Wolken 310  Raubt den Hasen im Busch, wo der hinduckt, oder ein Lämmlein: Also stürmete Hektor, das hauende Schwert in der Rechten. Gegen ihn drang der Peleid’, und Wut erfüllte das Herz ihm Ungestüm: er streckte der Brust den gerundeten Schild vor, Schön und prangend an Kunst; und der Helm, viergipflig und strahlend, 315  Nickt’ auf dem Haupt; und die stattliche Mähn’ aus gesponnenem Golde Flatterte, welche der Gott auf dem Kegel ihm häufig geordnet. Hell wie der Stern vorstrahlet in dämmernder Stunde des Melkens, Hesperos, der am schönsten erscheint vor den Sternen des Himmels: So von der Schärfe des Speers auch strahlet’ es, welchen Achilleus 320  Schwenkt’ in der rechten Hand, wutvoll dem göttlichen Hektor, Spähend den schönen Leib, wo die Wund’ am leichtesten hafte. Rings zwar sonst umhüllt’ ihm den Leib die eherne Rüstung, Blank und schön, die er raubte, die Kraft des Patroklos ermordend; Nur wo das Schlüsselbein den Hals begrenzt und die Achsel, 325  Schien die Kehl’ ihm entblößt, die gefährlichste Stelle des Lebens: Dort mit dem Speer anstürmend durchstach ihn der edle Achilleus, Daß ihm hindurch aus dem zarten Genick die Spitze hervordrang. Doch nicht gänzlich den Schlund durchschnitt der eherne Speer ihm, Daß er noch zu reden vermocht’ im Wechselgespräche; 330  Und er entsank in den Staub; da rief frohlockend Achilleus: Hektor, du glaubtest gewiß, da Patrokleus’ Wehr du geraubet, Sicher zu sein, und achtetest nicht des entfernten Achilleus. Törichter! Jenem entfernt war ein weit machtvollerer Rächer Bei den gebogenen Schiffen, ich selbst, zurück ihm geblieben,

Homer: Ilias, Gesang X XII

335  Der dir die Kniee gelöst! Dich zerren nun Hund’ und Gevögel, Schmählich entstellt; ihn aber bestatten mit Ruhm die Achaier. Wieder begann schwachatmend der helmumflatterte Hektor: Dich beschwör’ ich beim Leben, bei deinen Knien, und den Eltern, Laß mich nicht an den Schiffen der Danaer Hunde zerreißen; 340 Sondern nimm des Erzes genug und des köstlichen Goldes Zum Geschenk, das der Vater dir beut, und die würdige Mutter. Aber den Leib entsende gen Ilios, daß in der Heimat Trojas Männer und Fraun des Feuers Ehre mir geben. Finster schaut’ und begann der mutige Renner Achilleus: 345  Nicht beschwöre mich, Hund, bei meinen Knien, und den Eltern! Daß doch Zorn und Wut mich erbitterte, roh zu verschlingen Dein zerschnittenes Fleisch, für das Unheil, das du mir brachtest! So sei fern, der die Hunde von deinem Haupt dir verscheuche! Wenn sie auch zehnmal so viel, und zwanzigfältige Sühnung, 350  Hergebracht darwögen, und mehreres noch mir verhießen! Ja wenn dich selber mit Gold auch aufzuwägen geböte Priamos, Dardano’ Sohn; auch so nicht bettet die Mutter Dich auf Leichengewand’, und wehklagt, den sie geboren; Sondern Hund’ und Gevögel umher zerreißen den Leichnam! 355  Wieder begann schon sterbend der helmumflatterte Hektor: Ach ich kenne dich wohl, und ahndete, nicht zu erweichen Wärest du mir; denn eisern ist traun dem Herz in dem Busen. Denke nunmehr, daß nicht dir Götterzorn ich erwecke, Jenes Tags, wann Paris dich dort und Phöbos Apollon 360 Töten, wie tapfer du bist, am hohen skäischen Tore! Als er dieses geredet, umschloß ihn das Ende des Todes; Aber die Seel’ aus den Gliedern entflog in die Tiefe des Aïs, Klagend ihr Jammergeschick, getrennt von Jugend und Mannkraft. Auch dem Toten erwiderte noch der edle Achilleus: 365  Stirb! mein eigenes Los, das empfang’ ich, wann es auch immer Zeus zu vollenden beschließt, und die andern unsterblichen Götter! Also sprach er und zog die eherne Lanz’ aus dem Leichnam; Sie dann legt’ er zur Seit’, und raubte die Wehr von den Schultern, Blutbefleckt. Da umliefen ihn andere Männer Achaias, 370  Die ringsher anstaunten den Wuchs und die herrliche Bildung Hektors; und auch keiner umstand ihn ohne Verwundung. Also redete mancher, gewandt zum anderen Nachbar: Wunder doch! viel sanfter fürwahr ist nun zu betasten Hektor, als da die Schiff’ in lodernder Glut er verbrannte! 375  Also redete mancher, und nahte sich, ihn zu verwunden. Aber nachdem ihn entwaffnet der mutige Renner Achilleus, Stand er in Argos Volk, und sprach die geflügelten Worte: Freund’, ihr Helden des Danaerstamms, o Genossen des Ares, Jetzo da diesen Mann mir die Götter verliehn zu bezähmen,

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380 Der viel Böses getan, weit mehr denn die anderen alle; Auf, nun laßt uns die Stadt in Rüstungen rings versuchen, Bis wir ein wenig erkannt den Sinn, den die Troer bewahren: Ob sie vielleicht uns räumen die Burg, weil dieser dahinsank; Oder zu stehn sich erkühnen, wiewohl nicht Hektor begleitet. 385  Aber warum bewegte das Herz mir solche Gedanken? Liegt doch tot bei den Schiffen, und ohne Klag’ und Bestattung, Unser Freund Patroklos, den nie ich werde vergessen, Weil ich mit Lebenden geh’, und Kraft in den Knieen sich reget! Wenn man auch der Toten vergißt in Aïdes Wohnung, 390 Dennoch werd’ ich auch dort des trautesten Freundes gedenken! Auf nun, mit Siegesgesang des Päeon, Männer Achaias, Kehren wir, Hektor führend, hinab zu den räumigen Schiffen! Groß ist der Ruhm des Sieges; uns sank der göttliche Hektor, Welchem die Troer der Stadt, wie einem Gott, sich vertrauten! 395  Sprach’s, und schändlichen Frevel ersann er dem göttlichen Hektor. Beiden Füßen nunmehr durchbohret’ er hinten die Sehnen, Zwischen Knöchel und Fers’, und durchzog sie mit Riemen von Stierhaut Band am Sessel sie fest, und ließ nachschleppen die Scheitel; Trat dann selber hinein, und erhob die prangende Rüstung; 400 Treibend schwang er die Geißel, und rasch hinflogen die Rosse. Staubgewölk umwallte den Schleppenden; rings auch zerrüttet Rollte sein finsteres Haar, da ganz sein Haupt in dem Staube Lag, so lieblich zuvor! allein nun hatt’ es den Feinden Zeus zu entstellen verliehn in seiner Väter Gefilde. 405  Also bestaubt ward jenem das Haupt ganz. Aber die Mutter Rauft’ ihr Haar, und warf den glänzenden Schleier des Hauptes Weit hinweg, und blickte mit Jammergeschrei nach dem Sohne. Kläglich weint’ auch der Vater und jammerte; doch von den Völkern Tönte Geheul ringsher und Angstgeschrei durch die Feste. 410  Weniger nicht scholl jetzo die Wehklag’, als wenn die ganze Ilios hochgetürmt in Glut hinsänke vom Gipfel. Kaum noch hielten die Völker den Greis, der in zürnender Wehmut Strebte hinauszugehn ans dem hohen dardanischen Tore. Allen fleht’ er umher, auf schmutzigem Boden sich wälzend, 415  Nannte jeglichen Mann mit seinem Namen, und sagte: Haltet, o Freund’, und laßt mich allein, wie sehr ihr besorgt seid, Gehn vor die Feste hinaus, und nahn den Schiffen Achaias! Anflehn will ich den Mann, den entsetzlichen Täter des Frevels: Ob er vielleicht mein Alter mit Ehrfurcht und mit Erbarmung 420 Anschaut; denn auch jenem ist schon grauhaarig der Vater, Peleus, der ihn erzeugt’ und nährete, ach zum Verderben Trojas; doch vor allen mir selbst bereitet’ er Jammer! Denn so viele Söhn’ erschlug er mir, blühender Jugend! Alle jedoch betraur’ ich nicht so sehr, herzlich betrübt zwar,

Homer: Ilias, Gesang X XII

425  Als ihn allein, des wütender Schmerz mich zum Aïs hinabführt, Hektor! Wär’ er doch mir in meinen Armen gestorben! Satt darin hätten wir uns das Herz geweint und gejammert, Ich, und die ihn gebar, die unglückselige Mutter! Also sprach er weinend; und ringsum seufzten die Bürger. 430  Hekabe aber erhub die Wehklag’ unter den Weibern: Sohn, was soll ich Arme hinfort noch leben in Jammer, Da du Trauter mir starbst? der mir bei Nacht und bei Tage Ruhm und Trost in Ilios war, und allen Errettung, Trojas Männern und Fraun, die dich, wie einen der Götter, 435  Achteten! Traun du würdest mit großer Ehre sie krönen, Lebtest du noch! Nun aber hat Tod und Geschick dich ereilet! Also sprach sie weinend. Doch nichts noch hörte die Gattin Hektors; denn nicht kam ihr ein Kundiger, welcher die Botschaft Meldete, daß der Gemahl ihr auswärts blieb vor dem Tore; 440 Sendern sie webt’ ein Gewand, im innern Gemach des Palastes, Doppelt und blendend weiß, und durchwirkt mit mancherlei Bildwerk. Jetzo rief sie umher den lockigen Mägden des Hauses, Eilend ein groß dreifüßig Geschirr auf Feuer zu stellen, Zum erwärmenden Bade, wann Hektor kehrt’ aus der Feldschlacht: 445  Törin! sie wußte nicht, daß weit entfernt von den Bädern Ihn durch Achilleus’ Hände besiegt Zeus’ Tochter Athene. Aber Geheul vernahm sie und Jammergeschrei von dem Turme; Und ihr erbebten die Glieder, es sank zur Erde das Webschiff, Ängstlich nunmehr in dem Kreis schönlockiger Mägde begann sie: 450  Auf, ihr zwo mir gefolgt; ich eile zu schaun, was geschehn ist! Eben vernahm ich die Stimme der Schwäherin; ich, und mir selber Schlägt das Herz im Busen zum Hals’ empor, und die Kniee Starren mir! Sicherlich naht ein Unheil Priamos’ Söhnen! Fern sei meinem Ohr die Verkündigung! aber mit Unruh 455  Sorg’ ich, den mutigen Hektor hab’ itzt der edle Achilleus Abgeschnitten allein von der Stadt, ins Gefilde verfolgend, Und wohl schon ihn gehemmt in seiner entsetzlichen Kühnheit, Welche stets ihn beseelt! Denn niemals weilt’ er im Haufen; Sondern voran flog mutig der Held, und zagte vor niemand! 460 Sprach’s, und hinweg aus der Kammer enteilte sie, gleich der Mänade, Wild ihr pochendes Herz; und es folgten ihr dienende Weiber. Aber nachdem sie den Turm und die Schar der Männer erreichet; Stand sie und blickt’ auf die Mauer umher, und schauete jenen Hingeschleift vor Ilios Stadt; und die hurtigen Rosse 465  Schleiften ihn sorglos hin zu den räumigen Schiffen Achaias. Schnell umhüllt’ ihr die Augen ein mitternächtliches Dunkel; Und sie entsank rückwärts, und lag entatmet in Ohnmacht. Weithin flog vom Haupte der köstlich prangende Haarschmuck, Vorn das Band, und die Haub’, und die schöngeflochtene Binde,

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470 Auch der Schleier, geschenkt von der goldenen Aphrodite, Jenes Tags, da sie führte der helmumflatterte Hektor Aus Eëtions Burg, nach unendlicher Bräutigamsgabe. Rings auch stunden ihr Schwestern des Manns und Frauen der Schwäger, Haltend die Atemlose, vom Kummer betäubt wie zum Tode. 475  Als sie zu atmen begann, und der Geist dem Herzen zurückkam; Jetzt mit gebrochener Klage vor Trojas Frauen begann sie: Hektor, o weh mir Armen! zu gleichem Geschick ja geboren Wurden wir einst: du selber in Priamos’ Hause zu Troja; Aber ich zu Thebe, am waldigen Hange des Plakos, 480 In Eëtions Burg; der mich erzog, da ich klein war, Elend ein elendes Kind! Ach hätt’ er mich nimmer erzeuget! Du nun gehst zu Aïdes Burg in die Tiefen der Erde, Scheidend von mir; ich bleib’, in Schmerz und Jammer verlassen, Eine Witw’ im Haus’, und das ganz unmündige Söhnlein, 485  Welches wir beide gezeugt, wir Elenden! Nimmer, o Hektor, Wirst du jenem ein Trost, da du tot bist, oder dir jener! Überlebt er auch etwa den traurigen Krieg der Achaier, Dennoch wird ja beständig ihm Sorg’ und Gram in der Zukunft Drohn; denn andere werden ihm rings abschmälern sein Erbgut. 490 Siehe der Tag der Verwaisung beraubt ein Kind der Gespielen; Immer senkt es die Augen beschämt, mit Tränen im Antlitz. Darbend gehet das Kind umher zu den Freunden des Vaters, Fleht und faßt den einen am Rock, und den andern am Mantel; Aber erbarmt sich einer, der reicht ihm das Schälchen ein wenig, 495  Daß er die Lippen ihm netz’, und nicht den Gaumen ihm netze. Oft verstößt es vom Schmaus’ ein Kind noch blühender Eltern, Das mit Fäusten es schlägt, und mit kränkenden Worten es anfährt: Hebe dich weg! dein Vater ist nicht bei unserem Gastmahl! Weinend geht von dannen das Kind zur verwitweten Mutter, 500 Unser Astyanax, der sonst auf den Knieen des Vaters Nur mit Mark sich genährt, und fettem Fleische der Lämmer; Und wann, müde des Spiels, er auszuruhen sich sehnte, Schlummert’ er süß im schönen Gestell, in den Armen der Amme, Auf sanftschwellendem Lager, das Herz mit Freude gesättigt. 505  Doch viel duldet er künftig, beraubt des liebenden Vaters, Unser Astyanax, wie Trojas Männer ihn nennen: Denn du allein beschirmtest die Tor’ und die türmenden Mauern. Nun wird dort an den Schiffen der Danaer, fern von den Eltern, Reges Gewürm dich verzehren, nachdem du die Hunde gesättigt, 510  Nackt! Doch liegen genug der Gewand’ in deinem Palaste, Fein und zierlich gewebt von künstlichen Händen der Weiber! Aber ich werde sie all’ in lodernder Flamme verbrennen! Nichts ja frommen sie dir; denn niemals ruhst du auf ihnen! Brennen sie denn vor Troern und Troerinnen zum Ruhm dir! 515  Also sprach sie weinend; und ringsum seufzten die Weiber.

Bibliotheke des Apollodor, II, 74-126 Die Zwölf Arbeiten des Herakles*

741 Nach diesem Bescheid ging Herakles nach Tiryns und erfüllte, was Eurystheus anordnete. Zunächst trug dieser ihm nun auf, das Fell des Nemeischen Löwen zu bringen. Dieses Tier war unverwundbar und stammte von Typhon ab. Auf seinem Weg zu dem Löwen kam er nach Kleonai und wird von Molorchos, einem einfachen Arbeiter, bewirtet. Der wollte gerade ein Opfer darbringen. Herakles sagte ihm, er solle dreißig Tage zuwarten. Wenn er von der Jagd wohlbehalten zurückkäme, solle er dem Retter Zeus opfern, wenn er aber umkäme, dann solle er ihm als Heroen opfern. 75 Als er nach Nemea gekommen war und den Löwen aufgespürt hatte, schoss er zunächst Pfeile auf ihn ab. Er merkte, dass er unverwundbar war und verfolgte ihn mit erhobener Keule. Als der Löwe in eine Höhle mit zwei Eingängen floh, verrammelte er den einen Eingang und ging durch den anderen gegen das Tier vor. Er legte seinen Arm um seinen Hals und hielt ihn im Würgegriff, bis er es erstickt hatte. Auf seinen Schultern brachte er ihn nach Kleonai. Er traf Molorchos am letzten Tag. Er wollte ihm gerade das Totenopfer darbringen. Nun opferte Herakles dem Retter Zeus und brachte den Löwen nach Mykene.  76 Eurystheus war von seiner Tapferkeit betroffen und verbot ihm, in Zukunft die Stadt zu betreten. Er befahl ihm, seine Trophäen vor den Toren vorzuzeigen. Man erzählt auch, er habe sich aus Furcht, um sich darin zu verstecken, unterirdisch ein ehernes Fass einrichten lassen und habe Kopreus, den Sohn des Pelops aus Elis, als Herold geschickt, um die Aufgaben anzuordnen. Dieser hatte Iphitos getötet, war nach Mykene geflohen und blieb dort wohnen, nachdem ihn Eurystheus entsühnt hatte. 77 Als zweite Aufgabe trug Eurystheus Herakles auf, die Hydra von Lerna zu töten. Sie war in dem Sumpf von Lerna groß geworden. Von dort fiel sie in die Ebene ein und verheerte Vieh und Land. Die Hydra hatte einen übergroßen Leib mit neun Köpfen: acht sterblich, der in der Mitte unsterblich. 78 Herakles bestieg mit Iolaos als Lenker einen Wagen und gelangte nach Lerna. Dort ließ er die Pferde stehen und entdeckte die Hydra auf einer Erhebung bei den *  Bibliotheke des Apollodor, II. Buch, Abschnitt V. Aus: Die griechische Sagenwelt. Apollodors Mythologische Bibliothek. Übersetzt von Chistian Gottlob Moser. Stuttgart: Metzler 1828. Der Text wurde an heutige Orthographie angepasst.

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Quellen der Amymone, wo sie ihr Lager hatte. Mit Feuerpfeilen zwang er sie hervorzukommen, da packte er sie und hielt sie fest. Sie aber wickelte sich um eines seiner Beine und hielt ebenfalls daran fest. 79 Er schlug ihr mit der Keule ihre Köpfe ab, konnte aber damit nichts erreichen; denn wurde ihr ein Kopf abgeschlagen, wuchsen zwei nach. Dabei half der Hydra ein übergroßer Krebs, der ihm in den Fuß zwickte. Deshalb tötete ihn Herakles und rief auch seinerseits Iolaos zu Hilfe. Der brannte einen Teil des Waldes in der Nähe nieder, brannte mit den Holzscheiten den Ansatz der Köpfe aus und verhinderte so, dass sie neu wuchsen. 80 So wurde er der nachwachsenden Köpfe Herr. Dann schlug er den unsterblichen ab, begrub ihn an dem Weg, der durch Lerna nach Elaius führt, und legte einen schweren Steinbrocken darauf. Er schnitt den Körper der Hydra auf und tauchte seine Pfeile in ihre Galle. Eurystheus sagte, man dürfe diese Aufgabe nicht unter die zehn zählen, denn er wäre der Hydra nicht allein, sondern nur mit Hilfe des Iolaos Herr geworden. 81 Als dritte Arbeit trug er ihm auf, die Kerynitische Hirschkuh lebendig nach Mykene zu bringen. Diese Hirschkuh hielt sich in Oinoe auf, hatte ein goldenes Geweih und war der Artemis heilig. Deswegen wollte Herakles sie auch weder töten noch verwunden und verfolgte sie ein ganzes Jahr lang. Endlich floh das Tier durch die Verfolgung ermüdet auf den sogenannten artemisischen Berg und von da zum Fluss Ladon. Als es über diesen setzen wollte, traf Herakles es mit einem Pfeil, ergriff es, legte es auf seine Schultern und eilte durch Arkadien. 82 Da begegnete ihm Artemis mit Apollon, wollte ihm die Beute entreißen und schalt ihn, dass er das ihr heilige Tier hatte töten wollen. Er schütze jedoch die Notwendigkeit vor, schob alle Schuld auf Eurystheus und besänftigte so den Zorn der Göttin. Nun brachte er das Tier lebendig nach Mykene. 83 Als seine vierte Arbeit trug ihm Eurystheus auf, den Erymanthischen Eber lebendig herbeizuschaffen. Dieses Tier trieb sein Unwesen in Psophis und war aus dem Gebirge gekommen, das Erymanthos heißt. Auf seiner Wanderung durch Pholoë fand Herakles gastfreundliche Aufnahme bei dem Kentauren Pholos, einem Sohn des Silenos und der Nymphe Melia. Dieser tischte Herakles gebratenes Fleisch auf, während er selbst es roh aß. 84 Als Herakles auch Wein verlangte, sagte jener, er trage Bedenken, das gemeinschaftliche Fass der Kentauren zu öffnen. Herakles aber sprach ihm Mut zu und öffnete das Fass. Doch bald umringten die Kentauren, die durch den Geruch angelockt wurden, die Höhle des Pholos, bewaffnet mit Felsstücken und Fichtenstämmen. Die ersten nun, die es wagten einzudringen, Anchios und Agrios, jagte Herakles zurück, indem er sie mit Feuerbränden bewarf. Die übrigen verfolgte er mit seinem Bogen bis Malea. 85 Von da flüchtete er sich zu Cheiron, der von den Lapithen vom Berg Pelion vertrieben worden war und sich bei Malea niedergelassen hatte. Als sie eben mit diesem zusammentrafen, hatte Herakles mit dem Bogen auf die Kentauren gezielt und schoss einen Pfeil ab, der durch den Arm des Elatos unglücklicherweise in Cheirons Knie fuhr und dort stecken blieb. Herakles lief bekümmert hinzu, zog den Pfeil heraus und legte ein Heilmittel auf, das Cheiron selbst dazu hergab. Da jedoch die Wunde unheilbar war, ließ er sich in die Höhle bringen und wünschte dort zu sterben. Vergeblicher Wunsch, da er unsterblich war! Erst als Prometheus

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sich selbst an seiner Statt, um unsterblich zu werden, dem Zeus als Ersatz einlöste, starb er. 86 Die übrigen Kentauren flohen, die einen dahin, die anderen dorthin. Einige von ihnen kamen zum Berg Malea, Eurythion nach Pholoë, Nessos zum Fluss Euenos; die übrigen nahm Poseidon in Eleusis auf und bedeckte sie mit einem Berg. Pholos, der den Pfeil aus einem Leichnam gezogen hatte, wunderte sich, dass ein so kleines Ding so gestandene Männer verderben könne. Da glitt er ihm aus der Hand, drang in seinen Fuß und tötete ihn auf der Stelle. 87 Herakles kam nach Pholoë zurück, sah, dass Pholos tot war, begrub ihn und begab sich dann weiter, um den Eber zu jagen. Er trieb ihn mit Geschrei aus einem Dickicht heraus und verfolgte ihn in tiefen Schnee hinein, fing das erschöpfte Tier mit einem Strick und brachte es nach Mykene. 88 Als fünfte Aufgabe trug Eurytheus ihm auf, den Mist vom Vieh des Augias in nur einem Tag aus dem Viehhof herauszuschaffen. Augias war der König von Elis und nach den verschiedenen Sagen ein Sohn des Helios, des Poseidon oder des Phorbas. Er hatte eine Menge Viehherden. Herakles kam zu ihm und versprach, ohne vom Auftrag des Eurystheus etwas zu erwähnen, den Mist in einem Tag herauszuschaffen, wenn er ihm den zehnten Teil seines Viehs überlasse. Augias, der nicht an die Möglichkeit glaubte, versprach es. 89 Herakles aber nahm den Sohn des Augias, Phyleus, zu Zeugen, riss den Grund des Viehhofs an einer Stelle auf, leitete die in der Nähe fließenden Flüsse Alpheios und Peneios durch einen Nebenkanal hinzu und ließ sie durch eine andere Öffnung ausströmen. Als aber Augias erfuhr, dass dies im Auftrag des Eurystheus geschehen war, verweigerte er den Lohn, leugnete überdies geradezu, einen Lohn versprochen zu haben, und erklärte sich bereit, die Streitsache einem Richterspruch anheimzustellen. 90 Als die Richter sich niedergelassen hatten, wurde Phyleus von Herakles aufgerufen, zeugte gegen seinen Vater und erklärte, dass er allerdings über einen Lohn mit jenem übereingekommen sei. Da ergrimmte Augias und befahl Phyleus und Herakles, ehe noch ein Spruch gefällt war, sich aus Elis fortzupacken. 91 Phyleus begab sich nun nach Dulichion und ließ sich dort nieder. Herakles aber ging nach Olenos zu Dexamenos und kam eben dazu, als dieser dem Kentauren Eurytion seine Tochter Mnesimache unter Zwang zur Frau geben sollte. Von diesem wurde er zu Hilfe gerufen und tötete Eurytion, gerade als dieser über die Jungfrau herfallen wollte. Eurystheus aber rechnete auch diese Arbeit nicht unter die vereinbarten zehn, weil sie gegen Lohn verrichtet worden sei. 92 Als sechste Arbeit trug er ihm auf, die stymphalischen Vögel zu verjagen. In der arkadischen Stadt Stymphalos lag nämlich ein Sumpf namens Stymphalis, von einem großen Wald dicht umschattet. Dorthin hatten sich unermesslich viele Vögel geflüchtet, aus Furcht von den Wölfen geraubt zu werden. 93 Da nun Herakles in Verlegenheit war, wie er die Vögel aus dem Gehölz vertreiben könne, gab ihm Athena eherne Klappern, die sie von Haephaistos bekommen hatte. Diese schlug er auf einer bei dem Sumpf liegenden Anhöhe zusammen und scheuchte so die Vögel auf. Sie hielten das Getöse nicht aus, flogen furchtsam auf und so gelang es Herakles, sie mit Pfeilen zu erlegen. 94 Als siebte Aufgabe trug Eurystheus ihm auf, den Kretischen Stier herbeizuholen. Akusilaos behauptet, dies sei derselbe, der dem Zeus die Europe über das Meer getragen hatte. Nach anderen war es der, der von Poseidon aus dem Meer

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heraufgeschickt worden war, als Minos versprochen hatte, dem Poseidon zu opfern, was zuerst aus dem Meer auftauchen würde. Als Minos damals, wie man sagt, die herrliche Gestalt des Stieres sah, habe er ihn unter seine Rinderherde gesteckt und dem Poseidon einen anderen geopfert. Im Zorn darüber habe der Gott den Stier wild werden lassen. 95 Gegen diesen zog Herakles nun aus und kam nach Kreta. Auf seine Bitte, ihn fangen zu dürfen, erklärte Minos, dass er ihn fangen könne, wenn er ihn bezwinge. Er fing ihn, setzte ihn zu Eurystheus über, zeigte ihn ihm und ließ ihn anschließend frei. Der Stier durchirrte hierauf ganz Sparta und Arkadien, streifte über den Isthmos nach Marathon in Attika und fügte den Einwohnern viel Schaden zu. 96 Als achte Aufgabe trug Eurystheus ihm auf, die Stuten des Thrakers Diomedes nach Mykene zu bringen. Dieser war ein Sohn des Ares und der Kyrene, König der Bistonen, eines sehr kriegerischen thrakischen Volkes. Er besaß Stuten, die Menschenfleisch fraßen. Herakles schiffte sich mit freiwilligen Begleitern ein, übermannte die Wächter bei den Krippen der Stuten und brachte die Pferde an die Meeresküste. 97 Als aber die Bistonen bewaffnet zu Hilfe eilten, gab er die Stuten dem Abderos zur Bewachung. Dieser war ein Sohn des Hermes, ein Lokrer aus Opus, der Liebling des Herakles, den aber die Stuten packten und zerrissen. Herakles kämpfte mit den Bistonen, tötete den Diomedes, zwang die übrigen zur Flucht und gründete beim Grabmahl des zerrissenen Abderos die Stadt Abdera. Die Stuten brachte er zu Eurystheus und übergab sie ihm. Dieser aber ließ sie frei; so kamen sie auf den Berg, der Olympos hieß, und wurden von den wilden Tieren zerrissen. 98 Als neunte Arbeit trug er Herakles auf, den Gürtel der Hippolyte zu bringen. Sie war die Königin der Amazonen, die die Gegend um den Fluß Thermodon bewohnten, ein großes Volk in kriegerischen Dingen; denn sie übten sich in männlichem Wesen. Hatten sie sich je einmal mit Männern eingelassen und geboren, so erzogen sie nur die Kinder weiblichen Geschlechts. Sie pressten auch die rechte Brust hinweg, um beim Speerwurf nicht behindert zu werden, ließen aber die linke an ihrer Stelle, um säugen zu können. Hippolyte trug als Zeichen ihrer Höherstellung über alle den Gürtel des Ares. 99 Nach diesem Gürtel wurde Herakles ausgeschickt, weil Admete, die Tochter des Eurystheus, ihn zu bekommen wünschte. Mit freiwilligen Kampfgenossen segelte er in einem Schiff und landete auf der Insel Paros. Hier wohnten die Söhne des Minos: Eurymedon, Chryses, Nephalion, Philolaos. Nun hatten zwei von der Schiffsmannschaft, als sie an Land gingen, das Unglück, durch die Söhne des Minos umzukommen. Herakles war darüber entrüstet und tötete sie sofort. Die übrigen schloss er ein und belagerte sie, bis Abgesandte mit der Bitte kamen, für die Umgekommenen die zwei zu nehmen, die immer er wolle. 100 Er hob die Belagerung auf, wählte sich Alkaios und Sthenelos aus, die Söhne des Minossohnes Androgeos, und begab sich nach Mysien zu Lykos, dem Sohn des Daskylos, der ihn gastfreundlich aufnahm. Dafür half er dem Lykos, als der Bebrykerkönig ins Land einfiel, und tötete viele; unter ihnen auch den König Mygdon, des Amykos Bruder. Er nahm den Bebrykern viel Land weg und gab es dem Lykos. Dieser nannte es insgesamt Herakleia. 101 Er lief nun in den Hafen von Themiskyra ein, wo ihm Hippolyte entgegenkam, und, nachdem sie erfahren hatte, weswegen er kam, ihm den Gürtel versprach. Doch Hera nahm die Gestalt einer Amazone an, begab sich zu der Menge

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der übrigen und sagte, Fremdlinge seien angekommen und wollten die Königin rauben. 102 Da rannten diese bewaffnet und zu Pferde gegen das Schiff an. Als Herakles sie bewaffnet sah, glaubte er, darin eine Hinterlist zu entdecken, tötete Hippolyte und nahm ihr den Gürtel ab. Nach einem Kampf mit den übrigen segelte er davon und landete in Troia. 103 Die Stadt war damals durch den Zorn des Apollon und des Poseidon in einer üblen Lage. Apollon und Poseidon wollten nämlich Laomedons frechen Übermut prüfen, und versprachen ihm in Menschengestalt, gegen Lohn Pergamos mit einer Mauer zu umgeben. Aber nach Abschluss der Arbeit verweigerte er ihnen ihren Lohn. Deshalb schickte Apollon eine Pest und Poseidon ein Meerungeheuer, das mit einer Sturmflut an Land kam und die Menschen auf dem Feld wegraubte. 104 Auf den Orakelspruch, es werde Befreiung von dem Übel erfolgen, wenn Laomedon seine Tochter Hesione dem Ungeheuer zum Fraß vorsetze, setzte er diese aus, indem er sie an die Felsen in der Nähe des Meeres fesselte. Herakles sah sie ausgesetzt und versprach, sie zu retten, wenn ihm Laomedon die Stuten gäbe, die Zeus als Ersatz für den Raub des Ganymedes gegeben hatte. Laomedon versprach es, Herakles tötete das Ungeheuer und rettete Hesione. Als Laomedon den Lohn verweigerte, fuhr Herakles unter der Drohung, gegen Troia Krieg zu führen, weg. 105 Er landete bei der Stadt Ainos, wo er von Poltys freundlich empfangen wurde. Er fuhr weiter und tötete am Strand von Ainia mit seinen Pfeilen den Sarpedon, einen Sohn des Poseidon und Bruder des Poltys, einen übermütigen Frevler. Dann gelangte er zur Insel Thasos, unterwarf ihre thrakischen Bewohner und gab die Insel den Kindern des Androgeos (Alkaios und Sthenelos) zum Bewohnen. Von Thasos brach er nach Torone auf und tötete hier im Ringkampf den Polygonos und Telegonos, Söhne des Proteus und Enkel des Poseidon, die ihn herausgefordert hatten. Jetzt brachte er den Gürtel nach Mykene und gab ihn dem Eurystheus. 106 Als zehnte Arbeit wurde ihm bestimmt, die Rinder des Geryones von Erytheia zu bringen. Erytheia war eine nahegelegene Insel des Okeanos, die jetzt Gadeira heißt. Diese bewohnte Geryones, Sohn des Chrysaor und der Kallirhoe, einer Tochter des Okeanos. Er hatte einen aus drei Männern zusammengesetzten Körper; sein Leib lief nämlich in der Gegend des Magens in einen zusammen und teilte sich von den Weichen und Lenden an wieder in drei Leiber. Er besaß rote Rinder, deren Hirte Eurytion war. Ihr Wächter war der zweiköpfigen Hund Orthros, ein Sprössling der Echidna und des Typhon. 107 Auf seinem Zug nach den Rindern des Geryones durch Europa kam Herakles bei vielen wilden Völkerschaften vorbei und betrat Libyen. Als er an Tartessos vorbeikam, errichtete er als Denkzeichen für seinen Zug auf der Grenze zwischen Europa und Libyen zwei sich gegenüberstehende Säulen. Als ihn auf seiner Reise Helios sehr brannte, spannte er den Bogen gegen den Gott. Dieser bewunderte seinen Mut und lieh ihm einen goldenen Kahn, in dem er den Okeanos überquerte. 108 Nun kam er nach Erytheia und nahm sein Lager auf dem Berg Abas. Der Hund bemerkte ihn und ging auf ihn los. Doch Herakles erschlug ihn mit seiner Keule und tötete auch den Rinderhirten Eurytion, der dem Hund zu Hilfe geeilt war. Menoites, der dort die Rinder des Hades weidete, meldete dem Geryones, was geschehen war. Dieser machte sich auf und traf den Herakles bei dem Fluss Anthemus, als er die Rinder wegtrieb. Er ließ sich mit ihm in einen Kampf ein, erlag aber seinen Pfeilschüssen.

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109 Herakles schiffte die Rinder in seinen Kahn ein, setzte nach Tartessos über und gab sodann Helios den Kahn wieder zurück. Jetzt durchzog er Abderia und kam nach Ligystine, wo Poseidons Söhne Ialebios und Derkynos ihm die Rinder rauben wollten. Er tötete sie und zog durch Tyrrhenien. 110 In Rhegion riss ein Stier aus, stürzte sich schnell ins Meer, schwamm nach Sizilien hinüber, durchquerte das nahe gelegenen Land und kam in die Ebene des Eryx, der König über die Elymer war. 111 Eryx war ein Sohn des Poseidon. Er mischte den Stier unter seine eigenen Herden. Herakles gab unterdessen seine Rinder Hephaistos zur Verwahrung und begab sich schleunigst auf die Suche. Als er ihn unter den Herden des Eryx fand, verlangte er ihn zurück. Dieser verweigerte jedoch seine Herausgabe, wenn er ihn nicht im Ringkampf besiege. Dreimal besiegte ihn Herakles im Ringkampf, tötete ihn, nahm den Stier weg und brachte ihn samt den übrigen an das Ionische Meer. 112 Als er aber zu den Buchten des Meeres gekommen war, machte Hera die Rinder wütend, so dass sie sich in die Gebirgstäler von Thrakien zerstreuten. Auf der Verfolgung trieb er einige von ihnen gegen den Hellespont hin. Die er nicht mehr erreichen konnte, blieben von da an wild. Nachdem die Rinder mühsam wieder zusammengebracht waren, verwünschte er den Fluss Strymon, füllte sein seit jeher schiff bares Bett mit Felsstücken und machte es so für Schiffe unbefahrbar. Jetzt brachte und übergab er die Rinder Eurystheus. Dieser opferte sie Hera. 113 Die Arbeiten waren nun in einem Zeitraum von acht Jahren und einem Monat vollbracht. Doch hatte Eurystheus die Arbeit mit dem Vieh des Augias und die mit der Hydra nicht gelten lassen; deswegen übertrug er dem Herakles eine elfte Arbeit, nämlich die goldenen Äpfel der Hesperiden zu bringen. Diese befanden sich nicht, wie einige gesagt haben, in Libyen, sondern auf dem Atlas bei den Hyperboreern. Ge hatte sie der Hera bei ihrer Vermählung mit Zeus zum Geschenk gemacht. Ein unsterblicher Drache mit hundert Köpfen, ein Sprössling des Typhon und der Echidna, bewachte sie; er gab sehr verschiedene und stets veränderte Stimmen von sich. 114 Mit ihm zusammen waren auch die Hesperiden Wächterinnen: Aigle, Erytheia, Hesperia und Arethusa. Herakles machte sich auf den Weg und kam zum Fluss Echedoros. Hier forderte ihn Kyknos, der Sohn des Ares und der Pyrene, zum Zweikampf heraus. Um dessen Fall zu rächen, übernahm Ares selbst den Zweikampf; aber ein Blitz, der zwischen beiden niederfuhr, trennte die Kämpfer. Er schritt nun weiter durch das Illyrische, eilte an den Fluss Eridanos und kam zu den Nymphen des Zeus und der Themis. 115 Diese verrieten ihm den Nereus. Er ergriff ihn schlafend und band ihn, obgleich er sich in mancherlei verschiedene Gestalten verwandelte. Er ließ ihn auch nicht früher los, als bis er von ihm erfahren hatte, wo die Äpfel und die Hesperiden zu finden seien. Danach durchzog er Libyen. Über dieses Land herrschte ein Sohn des Poseidon, Antaios, der die Fremden zum Ringkampf zwang und sie so umbrachte. Als Herakles gezwungen wurde, mit ihm zu ringen, umschlang er ihn mit den Armen, hob ihn auf, zerquetschete ihn frei in der Luft und tötete ihn auf diese Weise; denn wenn er die Erde berührte, bekam er jedesmal neu verstärkte Kraft, weswegen ihn auch einige für einen Sohn der Ge ausgaben. 116 Von Libyen aus durchzog er Aigypten. Über dieses Land herrschte Busiris, ein Sohn des Poseidon und der Lysianassa, der Tochter des Epaphos. Dieser opferte die Fremdlinge auf einem Altar des Zeus entsprechend einem Orakelspruch.

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Aigypten war nämlich neun Jahre lang von Unfruchtbarkeit heimgesucht worden. Da kam von Kypros der Phrasios, seiner Kunst nach ein Wahrsager, und verhieß das Ende der Unfruchtbarkeit, wenn man jährlich einen fremden Mann dem Zeus schlachten würde. 117 Busiris machte den Anfang mit jenem Wahrsager selbst, und schlachtete dann die Fremdlinge, die eintrafen. So wurde denn auch Herakles ergriffen und zu den Altären geführt. Aber er riss die Fesseln entzwei und erschlug den Busiris mitsamt seinem Sohn Amphidamas und dem Herold Chalbes. 118 Nachdem er hierauf Asien durchwandert hatte, landete er bei Thermydrai, dem Hafen der Lindier. Hier spannte er einem Ochsentreiber einen Ochsen vom Wagen ab, opferte ihn und ließ ihn sich schmecken. Der Ochsentreiber, der sich keine Hilfe zu verschaffen wusste, stellte sich auf einen Berg und verfluchte ihn von dort herab. Deswegen opfert man auch heute noch dem Herakles in Verbindung mit Verwünschungen. 119 Als er nach Arabien kam, tötete er den Emathion, den Sohn des Tithonos. Nachdem er Libyen bis zum äußersten Meer durchquert hatte, erhielt er von Helios den Kahn. Er fuhr hinüber an das jenseitige Festland und erschoss dort mit seinen Pfeilen jenen Adler, der die Leber des Prometheus fraß, einen Sprössling der Echidna und des Typhon. So befreite er den Prometheus, nahm ihm die Fesseln des Ölbaums ab und stellte dem Zeus zum Ersatz den unsterblichen Cheiron, der an seiner Statt sterben wollte. 120 Als er aber zu den Hyperboreern und bei Atlas ankam, gab ihm Prometheus den Rat, er solle sich nicht selbst nach den Äpfeln auf den Weg machen, sondern den Atlas dorthin schicken, indem er ihn einstweilen beim Tragen des Himmels ablöse. Herakles folgte ihm und löste Atlas ab. Atlas pflückte bei den Hesperiden drei Äpfel und kam zu Herakles zurück, wollte aber nun den Himmel nicht mehr tragen. Herakles sagte, als füge er sich, er wolle sich nur ein Polster von Stricken um den Kopf winden. Als Atlas dies hörte, legte er die Äpfel auf die Erde und trat unter das Himmelsgewölbe. Doch Herakles nahm die Äpfel vom Boden auf und ging davon. 121 Einige sagen, er habe sie nicht von Atlas erhalten, sondern selbst gepflückt, nachdem er den bewachenden Drachen getötet hatte. Nun brachte er die Äpfel dem Eurystheus, der sie dem Herakles als Geschenk zurückgab. Von diesem erhielt sie Athene, die sie wieder an ihren Ort zurücktrug; denn es war gegen ihre heilige Bestimmung, sie anderswo niederzulegen. 122 Als zwölfte Arbeit wurde ihm aufgetragen, den Kerberos aus dem Hades zu bringen. Dieser hatte drei Hundeköpfe, einen Drachenschwanz und auf dem Rücken die Köpfe verschiedenartiger Schlangen. Um zu ihm zu gehen, kam Herakles zu Eumolpos nach Eleusis und wünschte, in die Mysterien eingeweiht zu werden. Zwar war die Weihung von Fremden damals nach den Gesetzen nicht erlaubt; doch wurde er von Pylias an Kindesstatt angenommen und geweiht. Da er die Mysterien nicht schauen konnte, weil er noch nicht vom Mord an den Kentauren gereinigt war, wurde er von Eumolpos entsühnt und dann geweiht. 123 Nun kam er nach Tainaron in Lakonien, wo der Eingang für den Abstieg in den Hades ist; durch diesen stieg er hinab. Sobald ihn die Schatten erblickten, ergriffen sie die Flucht, außer Meleagros und die Gorgo Medusa. Gegen diese zückt er, als lebe sie, das Schwert, doch belehrt ihn Hermes, dass sie nur ein Schattenbild sei.

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124 Als er in die Nähe der Pforten des Hades gekommen war, traf er den Theseus und den Peirithoos, der sich als Freier der Persephone eingefunden hatte und deswegen gefesselt worden war. Als sie den Herakles sahen, streckten sie die Hände nach ihm aus, als könnten sie durch seine Kraft wieder auferstehen. Er ergriff den Theseus bei der Hand und richtete ihn wieder auf. Seine Absicht, auch Peirithoos aufzurichten, gab er auf, als die Erde bebte. 125 Er wälzte auch den Stein von Askalaphos ab und schlachtete eins von den Rindern des Hades, um die Seelen mit Blut zu tränken. Der Hirte dieser Rinder, Menoitios, der Sohn des Keuthonymos, forderte ihn deswegen zum Ringen heraus. Herakles aber packte ihn mitten um den Leib, zerbrach ihm die Rippen und gab ihn nur auf Bitten der Persephone frei. Jetzt bat er Pluto um den Kerberos und Pluto erlaubte, ihn wegzuführen, wenn er seiner ohne die Waffen, die er trug, Herr werde. 126 Herakles fand ihn an der Mündung des Acheron, umschlang, bloß mit seinem Brustpanzer bedeckt und in die Löwenhaut gehüllt, seinen Kopf mit den Armen und ließ ihn nicht los. Er bemächtigte sich des Tieres und würgte es, obgleich der Drachen am Schwanz des Tieres nach ihm biss. Er ergriff es und kam auf seinem Rückweg durch Troizen herauf. Den Askalaphos verwandelte jedoch Demeter nun in eine Nachteule. Herakles zeigte dem Eurystheus den Kerberos und brachte ihn dann in den Hades zurück.

Altes Testament, Buch der Richter, Kap. 13-16* Simson

S imsons G eburt1 1  Und die Israeliten taten wiederum, was dem HERRN missfiel, und der HERR gab sie in die Hände der Philister vierzig Jahre.  2 Es war aber ein Mann aus Zora vom Geschlecht der Daniter, mit Namen Manoach, und seine Frau war unfruchtbar und hatte keine Kinder.  3 Und der Engel des HERRN erschien der Frau und sprach zu ihr: Siehe, du bist unfruchtbar und hast keine Kinder, aber du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären.  4 So hüte dich nun, dass du nicht Wein oder starkes Getränk trinkst und nichts Unreines isst;  5 denn du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem kein Schermesser aufs Haupt kommen soll. Denn der Knabe wird ein Geweihter Gottes sein von Mutterleibe an; und er wird anfangen, Israel zu erretten aus der Hand der Philister.  6 Da kam die Frau und sagte es ihrem Mann und sprach: Es kam ein Mann Gottes zu mir, und seine Gestalt war anzusehen wie der Engel Gottes, zum Erschrecken, sodass ich ihn nicht fragte, woher er sei; und er sagte mir nicht, wie er hieß.  7 Er sprach aber zu mir: Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. So trinke nun keinen Wein oder starkes Getränk und iss nichts Unreines; denn der Knabe soll ein Geweihter Gottes sein von Mutterleibe an bis zum Tag seines Todes.  8 Da bat Manoach den HERRN und sprach: Bitte, mein Herr, der Mann Gottes, den du gesandt hast, komme noch einmal zu uns, dass er uns lehre, was wir mit dem Knaben tun sollen, der geboren werden soll. 9 Und Gott erhörte Manoach, und der Engel Gottes kam wieder zu der Frau. Sie saß aber auf dem Felde, und ihr Mann Manoach war nicht bei ihr.  10 Da lief sie eilends und sagte es ihrem Mann und sprach zu ihm: Siehe, der Mann ist mir erschienen, der heute zu mir kam.  11 Manoach machte sich auf und ging hinter seiner Frau her und kam zu dem Mann und sprach zu ihm: Bist du der Mann, der mit der Frau geredet hat? Er sprach: Ja.  12 Und Manoach sprach: Wenn nun eintrifft, was du gesagt hast: Wie sollen wir’s mit dem Knaben halten und tun?  13 Der Engel des HERRN sprach zu Manoach: Vor allem, was ich der Frau gesagt habe, soll sie sich hüten:  14 Sie soll nichts essen, was vom Weinstock kommt, und soll keinen Wein oder starkes Getränk trinken und nichts Unreines essen; alles, was ich *  Bibel. Altes Testament, Buch der Richter, Kap. 13-16. Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

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ihr geboten habe, soll sie halten.  15 Manoach sprach zum Engel des HERRN: Wir möchten dich gern hierbehalten und dir ein Ziegenböcklein zurichten.  16 Aber der Engel des HERRN antwortete Manoach: Wenn du mich auch hier hältst, so esse ich doch von deiner Speise nicht. Willst du aber ein Brandopfer bringen, so kannst du es dem HERRN opfern. Manoach aber wusste nicht, dass es der Engel des HERRN war.    17  Und Manoach sprach zum Engel des HERRN: Wie heißt du? Denn wir wollen dich ehren, wenn nun eintrifft, was du gesagt hast.  18 Aber der Engel des HERRN sprach zu ihm: Warum fragst du nach meinem Namen, der doch wunderbar ist?    19  Da nahm Manoach ein Ziegenböcklein und Speisopfer und brachte es auf einem Felsen dem HERRN dar. Und Wunderbares geschah; Manoach aber und seine Frau sahen zu.  20 Und als die Flamme aufloderte vom Altar gen Himmel, fuhr der Engel des HERRN auf in der Flamme des Altars. Als das Manoach und seine Frau sahen, fielen sie zur Erde auf ihr Angesicht.  21 Und der Engel des HERRN erschien Manoach und seiner Frau nicht mehr. Da erkannte Manoach, dass es der Engel des HERRN war,  22 und sprach zu seiner Frau: Wir müssen des Todes sterben, weil wir Gott gesehen haben.  23 Aber seine Frau antwortete ihm: Wenn es dem HERRN gefallen hätte, uns zu töten, so hätte er das Brandopfer und Speisopfer nicht angenommen von unsern Händen. Er hätte uns auch all das nicht sehen und jetzt nicht hören lassen. 24 Und die Frau gebar einen Sohn und nannte ihn Simson. Und der Knabe wuchs heran, und der HERR segnete ihn.  25 Und der Geist des HERRN fing an, ihn umzutreiben im Lager Dans zwischen Zora und Eschtaol.

S imsons R ätsel 1 Simson ging hinab nach Timna und sah eine Frau in Timna unter den Töchtern der Philister.  2 Und als er heraufkam, sagte er’s seinem Vater und seiner Mutter und sprach: Ich hab eine Frau gesehen in Timna unter den Töchtern der Philister; nehmt mir nun diese zur Frau.  3 Sein Vater und seine Mutter sprachen zu ihm: Ist denn nun keine Frau unter den Töchtern deiner Brüder und in deinem ganzen Volk, dass du hingehst und willst eine Frau nehmen von den Philistern, die unbeschnitten sind? Simson sprach zu seinem Vater: Nimm mir diese, denn sie gefällt meinen Augen.  4 Aber sein Vater und seine Mutter wussten nicht, dass es von dem HERRN kam; denn er suchte einen Anlass gegen die Philister. Die Philister aber herrschten zu der Zeit über Israel. 5 So ging Simson hinab mit seinem Vater und seiner Mutter nach Timna. Und als sie kamen an die Weinberge von Timna, siehe, da kam ein junger Löwe brüllend ihm entgegen.  6 Und der Geist des HERRN geriet über ihn, und er zerriss ihn, wie man ein Böcklein zerreißt, und hatte doch gar nichts in seiner Hand. Er sagte aber seinem Vater und seiner Mutter nicht, was er getan hatte.  7 Als er nun hinkam, redete er mit der Frau, und Simson hatte Gefallen an ihr.  8 Und nach einigen Tagen kam er wieder, um sie zu holen, und bog vom Wege ab, um nach dem Aas des Löwen zu sehen. Siehe, da war ein Bienenschwarm in dem Leibe des Löwen und Honig.  9 Und er nahm davon in seine Hände und aß im Gehen und kam zu seinem Vater und zu seiner Mutter und gab ihnen, dass sie auch aßen. Er sagte ihnen aber nicht, dass er den Honig aus dem Leibe des Löwen genommen hatte.

Altes Testament, Buch der Richter, Kap. 13-16

10 Und als sein Vater hinkam zu der Frau, machte Simson dort ein Hochzeitsgelage, wie es die jungen Leute zu tun pflegen.  11 Und als sie ihn sahen, gaben sie ihm dreißig Gesellen, die bei ihm sein sollten.  12 Simson aber sprach zu ihnen: Ich will euch ein Rätsel aufgeben. Wenn ihr mir das erratet und trefft in diesen sieben Tagen des Gelages, so will ich euch dreißig Hemden geben und dreißig Feierkleider.  13 Könnt ihr’s aber nicht erraten, so sollt ihr mir dreißig Hemden und dreißig Feierkleider geben. Und sie sprachen zu ihm: Gib dein Rätsel auf, lass uns hören! 14 Er sprach zu ihnen: Speise ging aus vom Fresser und Süßigkeit vom Starken. Und sie konnten in drei Tagen das Rätsel nicht erraten.  15 Am vierten Tage sprachen sie zu Simsons Frau: Überrede deinen Mann, dass er uns des Rätsels Lösung sagt, oder wir werden dich und deines Vaters Haus mit Feuer verbrennen. Habt ihr uns hierher geladen, um uns arm zu machen?  16 Da weinte Simsons Frau vor ihm und sprach: Du bist mir gram und hast mich nicht lieb. Du hast meinen Leuten ein Rätsel aufgegeben und hast mir’s nicht gesagt. Er aber sprach zu ihr: Siehe, ich hab’s meinem Vater und meiner Mutter nicht gesagt und dir sollte ich’s sagen? 17 Und sie weinte vor ihm die sieben Tage, die sie feierten; aber am siebenten Tage sagte er es ihr, denn sie drang in ihn. Sie aber sagte des Rätsels Lösung ihren Leuten weiter.  18 Da sprachen die Männer der Stadt zu ihm am siebenten Tage, ehe die Sonne unterging: Was ist süßer als Honig? Was ist stärker als der Löwe? Aber er sprach zu ihnen: Wenn ihr nicht mit meinem Kalb gepflügt hättet, so hättet ihr mein Rätsel nicht getroffen. 19 Und der Geist des HERRN geriet über ihn, und er ging hinab nach Aschkelon und erschlug dreißig Mann unter ihnen und nahm ihre Gewänder und gab Feierkleider denen, die das Rätsel erraten hatten. Und sein Zorn entbrannte und er ging hinauf in seines Vaters Haus.  20 Aber Simsons Frau wurde seinem Gesellen gegeben, der sein Brautführer gewesen war.

S imsons S treit mit den P hilistern 1  Es begab sich aber nach einigen Tagen, um die Weizenernte, dass Simson seine Frau besuchte mit einem Ziegenböcklein. Und als er sprach: Ich will zu meiner Frau in die Kammer gehen, da wollte ihn ihr Vater nicht hineinlassen  2 und sprach: Ich meinte wirklich, du wärest ihr gram, und habe sie deinem Gesellen gegeben. Sie hat aber eine jüngere Schwester, die ist schöner als sie; die nimm statt ihrer.  3 Da sprach Simson zu ihnen: Diesmal bin ich frei von Schuld, wenn ich den Philistern Böses tue.  4 Und Simson ging hin und fing dreihundert Füchse, nahm Fackeln und kehrte je einen Schwanz zum andern und tat eine Fackel je zwischen zwei Schwänze  5 und zündete die Fackeln an und ließ die Füchse in das Korn der Philister laufen und zündete so die Garben samt dem stehenden Korn an und Weinberge und Ölbäume.  6 Da sprachen die Philister: Wer hat das getan? Da sagte man: Simson, der Schwiegersohn des Timnaïters, weil er ihm seine Frau genommen und seinem Gesellen gegeben hat. Da zogen die Philister hin und verbrannten sie samt ihrem Vater mit Feuer.  7 Simson aber sprach zu ihnen: Wenn ihr das tut, so will ich nicht ruhen, bis ich mich an euch gerächt habe.  8 Und er zerschlug ihnen alle Knochen mit mächtigen Schlägen und zog hinab und wohnte in der Felsenkluft von Etam.

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9 Da zogen die Philister hinauf und lagerten sich in Juda und breiteten sich aus bei Lehi.  10 Aber die Männer von Juda sprachen: Warum seid ihr gegen uns heraufgezogen? Sie antworteten: Wir sind heraufgekommen, Simson zu binden, dass wir ihm tun, wie er uns getan hat. 11  Da zogen dreitausend Mann von Juda hinab in die Felsenkluft von Etam und sprachen zu Simson: Weißt du nicht, dass die Philister über uns herrschen? Warum hast du uns denn das angetan? Er sprach zu ihnen: Wie sie mir getan haben, so hab ich ihnen wieder getan.  12 Sie sprachen zu ihm: Wir sind herabgekommen, dich zu binden und in die Hände der Philister zu geben. Simson sprach zu ihnen: So schwört mir, dass ihr selber mir nichts antun wollt.  13 Sie antworteten ihm: Nein, sondern wir wollen dich nur binden und in ihre Hände geben und wollen dich nicht töten. Und sie banden ihn mit zwei neuen Stricken und führten ihn aus der Felsenkluft hinauf. 14 Und als er nach Lehi kam, jauchzten die Philister ihm entgegen. Aber der Geist des HERRN geriet über ihn, und die Stricke an seinen Armen wurden wie Fäden, die das Feuer versengt hat, sodass die Fesseln an seinen Händen zerschmolzen. 15 Und er fand einen frischen Eselskinnbacken. Da streckte er seine Hand aus und nahm ihn und erschlug damit tausend Mann.  16 Und Simson sprach: Mit eines Esels Kinnbacken habe ich sie über den Haufen geworfen; mit eines Esels Kinnbacken habe ich tausend Mann erschlagen. 17 Und als er das gesagt hatte, warf er den Kinnbacken aus seiner Hand, und man nannte die Stätte Ramat-Lehi.  18 Als ihn aber sehr dürstete, rief er den HERRN an und sprach: Du hast solch großen Sieg gegeben durch die Hand deines Knechts; nun aber muss ich vor Durst sterben und in die Hände der Unbeschnittenen fallen. 19 Da spaltete Gott die Höhlung im Kinnbacken, dass Wasser herausfloss. Und als er trank, kehrte sein Geist zurück, und er lebte wieder auf. Darum heißt der Ort »Quelle des Rufenden«; die ist in Lehi bis auf den heutigen Tag.  20 Und er richtete Israel zu den Zeiten der Philister zwanzig Jahre.

S imsons F all und R ache 1 Simson ging nach Gaza und sah dort eine Hure und ging zu ihr.  2 Da wurde den Leuten von Gaza gesagt: Simson ist hierher gekommen! Und sie umstellten ihn und lauerten ihm die ganze Nacht auf am Stadttor. Die ganze Nacht verhielten sie sich still und dachten: Morgen, wenn’s licht wird, wollen wir ihn umbringen. 3 Simson aber lag bis Mitternacht. Da stand er auf um Mitternacht und ergriff beide Torflügel am Stadttor samt den beiden Pfosten, hob sie heraus mit dem Riegel und legte sie auf seine Schultern und trug sie hinauf auf die Höhe des Berges vor Hebron. 4 Danach gewann er eine Frau lieb im Tal Sorek, die hieß Delila.  5 Zu der kamen die Fürsten der Philister und sprachen zu ihr: Überrede ihn und sieh, wodurch er so große Kraft hat und womit wir ihn überwältigen können, dass wir ihn binden und bezwingen, so wollen wir dir ein jeder tausendeinhundert Silberstücke geben. 6 Und Delila sprach zu Simson: Sage mir doch, worin deine große Kraft liegt und womit man dich binden muss, um dich zu bezwingen!  7 Simson sprach zu ihr: Wenn man mich bände mit sieben Seilen von frischem Bast, die noch nicht getrocknet sind, so würde ich schwach und wäre wie ein anderer Mensch.  8 Da brach-

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ten die Fürsten der Philister ihr sieben Seile von frischem Bast, die noch nicht getrocknet waren, und sie band ihn damit.  9 Man lauerte ihm aber auf bei ihr in der Kammer. Da sprach sie zu ihm: Philister über dir, Simson! Er aber zerriss die Seile, wie eine Flachsschnur zerreißt, wenn sie ans Feuer kommt. Und so wurde nicht kund, worin seine Kraft lag. 10 Da sprach Delila zu Simson: Siehe, du hast mich getäuscht und mich belogen. So sage mir nun doch, womit kann man dich binden?  11 Er antwortete ihr: Wenn sie mich bänden mit neuen Stricken, mit denen noch nie eine Arbeit getan worden ist, so würde ich schwach und wie ein anderer Mensch.  12 Da nahm Delila neue Stricke und band ihn damit und sprach: Philister über dir, Simson! – man lauerte ihm aber auf in der Kammer –, und er riss sie von seinen Armen herunter wie einen Faden. 13 Da sprach Delila zu ihm: Bisher hast du mich getäuscht und mich belogen. Sage mir doch, womit kann man dich binden? Er antwortete ihr: Wenn du die sieben Locken meines Hauptes zusammenflöchtest mit den Fäden deines Webstuhls. 14  Und sie heftete sie mit dem Pflock an und sprach zu ihm: Philister über dir, Simson! Er aber wachte auf von seinem Schlaf und riss die geflochtenen Locken mit Pflock und Gewebe heraus. 15 Da sprach sie zu ihm: Wie kannst du sagen, du habest mich lieb, wenn doch dein Herz nicht mit mir ist? Dreimal hast du mich getäuscht und mir nicht gesagt, worin deine große Kraft liegt.  16 Als sie aber mit ihren Worten alle Tage in ihn drang und ihm zusetzte, wurde seine Seele sterbensmatt,  17 und er tat ihr sein ganzes Herz auf und sprach zu ihr: Es ist nie ein Schermesser auf mein Haupt gekommen; denn ich bin ein Geweihter Gottes von Mutterleib an. Wenn ich geschoren würde, so wiche meine Kraft von mir, sodass ich schwach würde und wie alle andern Menschen.  18 Da nun Delila sah, dass er ihr sein ganzes Herz aufgetan hatte, sandte sie hin und ließ die Fürsten der Philister rufen und sagen: Kommt noch einmal her, denn er hat mir sein ganzes Herz aufgetan. Da kamen die Fürsten der Philister zu ihr und brachten das Geld in ihrer Hand mit.  19 Und sie ließ ihn einschlafen in ihrem Schoß und rief einen und schnitt ihm die sieben Locken seines Hauptes ab. Und sie fing an, ihn zu bezwingen – da war seine Kraft von ihm gewichen.  20 Und sie sprach zu ihm: Philister über dir, Simson! Als er nun von seinem Schlaf erwachte, dachte er: Ich will frei ausgehen, wie ich früher getan habe, und will mich losreißen. Aber er wusste nicht, dass der HERR von ihm gewichen war.  21 Da ergriffen ihn die Philister und stachen ihm die Augen aus, führten ihn hinab nach Gaza und legten ihn in Ketten; und er musste die Mühle drehen im Gefängnis.  22 Aber das Haar seines Hauptes fing an, wieder zu wachsen, nachdem es geschoren war. 23  Als aber die Fürsten der Philister sich versammelten, um ihrem Gott Dagon ein großes Opfer darzubringen und ein Freudenfest zu feiern, sprachen sie: Unser Gott hat uns unsern Feind Simson in unsere Hände gegeben. 24 Und als das Volk ihn sah, lobten sie ihren Gott, denn sie sprachen: Unser Gott hat uns unsern Feind in unsere Hände gegeben, der unser Land verwüstete und viele von uns erschlug. 25 Als nun ihr Herz guter Dinge war, sprachen sie: Lasst Simson holen, dass er vor uns seine Späße treibe. Da holten sie Simson aus dem Gefängnis, und er trieb seine Späße vor ihnen, und sie stellten ihn zwischen die Säulen.  26 Simson aber sprach zu dem Knaben, der ihn an der Hand führte: Lass mich los, dass ich nach den Säulen taste, auf denen das Haus steht, damit ich mich daran lehne.  27 Das Haus aber

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war voller Männer und Frauen. Es waren auch alle Fürsten der Philister da, und auf dem Dach waren etwa dreitausend Männer und Frauen, die zusahen, wie Simson seine Späße trieb.  28 Simson aber rief den HERRN an und sprach: HERR, denke an mich und gib mir Kraft, Gott, noch dies eine Mal, dass ich mich mit einem Mal für meine beiden Augen räche an den Philistern!  29 Und er umfasste die zwei Mittelsäulen, auf denen das Haus ruhte, und stemmte sich gegen sie, gegen die eine mit seiner rechten und gegen die andere mit seiner linken Hand,  30 und sprach: Ich will sterben mit den Philistern! Und er neigte sich mit aller Kraft. Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, sodass es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte. 31 Da kamen seine Brüder herab und das ganze Haus seines Vaters, und sie hoben ihn auf und brachten ihn hinauf und begruben ihn im Grab seines Vaters Manoach zwischen Zora und Eschtaol. Er hatte aber Israel zwanzig Jahre gerichtet.

Edda, 9* Odins Trinkgelage

Ögir, der mit anderm Namen Gymir und Odin hieß, bereitete den Asen ein Gastmahl, nachdem er den großen Kessel erlangt hatte, wie eben gesagt ist. Zu diesem Gastmahl kam Odin und Frigg sein Weib. Thor kam nicht, denn er war auf der Ostfahrt. Sif war zugegen, Thors Weib, desgleichen Bragi und Idun, sein Gemahl. Auch Tyr war da, der nur eine Hand hatte, denn der Fenriswolf hatte ihm die andre abgebissen, als er gebunden wurde. Da war auch Niörd und Skadi, sein Weib, Freyr und Freyja, und Widar, Odins Sohn. Auch Loki war da und Freys Diener Beyggwir und Beyla. Da waren noch viele Asen und Alfen.1 Ögir hatte zwei Diener, Funafengr und Eldir. Leuchtendes Gold diente statt brennenden Lichtes. Das Äl trug sich selber auf. Der Ort hatte sehr heiligen Frieden. Alle Gäste rühmten, wie gut Ögirs Leute sie bedienten. Loki, der das nicht hören mochte, erschlug den Funafengr. Da schüttelten die Asen ihre Schilde und rannten wider Loki und verfolgten ihn in den Wald und fuhren dann zu dem Mahl. Loki kam wieder und sprach zu Eldir, den er vor dem Saale fand: 1 Sage mir, Eldir, eh du mit einem Fuße vorwärts schreitest, Was für Tischgespräche tauschen hier innen Der Sieggötter Söhne? Eldir sprach: 2 Von Waffen reden und ruhmvollen Kämpfen Der Sieggötter Söhne. Asen und Alfen, die hier innen sind, Keiner weiß von dir ein gutes Wort. Loki: 3 Ein will ich treten in Ögis Hallen, Selber dies Gelag zu sehn. Schimpf und Schande schaff ich den Asen Und mische Gift in ihren Meth. *  Edda, 9, Odins Trinkgelage. Aus: Die Edda. Die ältere und jüngere nebst den mythischen Erzählungen der Skalda. Übersetzt von Karl Simrock. Stuttgart und Tübingen: Cotta 1851. Der Text wurde an heutige Orthographie angepasst.

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Eldir: 4 Wisse, wenn du eintrittst in Ögis Halle, Selber dies Gelag zu sehn, Und die guten Götter übergießest mit Schmach, Gib Acht, sie trocknen sie ab an dir. Loki: 5 Wisse das, Eldir, wenn mit einander wir In scharfen Worten streiten, Üppiger werd ich in Antworten sein, Was du auch zu reden weißt. Da ging Loki in die Halle. Jene aber, die darinnen waren, als sie ihn eingetreten sahen, schwiegen alle still. Loki sprach: 6 Durstig komm ich in diese Halle, Loki, den langen Weg, Die Asen zu bitten, mir Einen Trunk Zu schenken ihres süßen Meths. 7 Warum schweigt ihr still, verstockte Götter, Und erwidert nicht ein Wort? Sitz und Stelle sucht mir bei dem Mahl, Oder heißt mich hinnen weichen. Bragi: 8 Sitz und Stelle suchen dir bei dem Mahl Die Asen nun und nimmer. Die Asen wissen wohl, wem sie sollen Anteil gönnen am Gelag. Loki: 9 Gedenkt dir, Odin, wie in Urzeiten wir Das Blut mischten beide? Du gelobtest, nimmer dich zu laben mit Trank, Würd er uns beiden nicht gebracht. Odin: 10 Steh denn auf, Widar, dem Vater des Wolfs Sitz zu schaffen beim Mal, Dass länger Loki uns nicht lästere Hier in Ögis Halle. Da stand Widar auf und schenkte dem Loki. Als er aber getrunken hatte, sprach er zu den Asen: 11 Heil euch, Asen, Heil euch Asinnen, Euch hochheiligen Göttern all, Außer dem Asen allein, der da sitzt Auf Bragis Bank. Bragi: 12 Schwert und Schecken aus meinem Schatze zahl ich Und einen Baug (Ring) zur Buße, Dass du den Asen nicht Ärgernis gebest: Mache dir nicht gram die Götter.

Edda, 9

Loki: 13 Ross und Ringe, nicht allzureich doch Weiß ich dich, Bragi, der beiden! Von Asen und Alfen, die hier inne sind, Scheut Keiner so den Streit, Flieht Geschosse Keiner feiger. Bragi: 14 Ich weiß doch, war ich draußen, wie ich drinne bin Hier in Ögis Halle, Dein Haupt hätt ich in meiner Hand schon; Also lohnt’ ich dir der Lüge. Loki: 15 Sitzend bist du schnell, doch schwerlich leistest dus, Bragi, Bänkehüter! Zum Zweikampf vor, wenn du zornig bist: Der Tapfre sieht nicht um und säumt. Idun: 16 Ich bitte dich, Bragi, bei deiner Gebornen Und aller Wünschelsöhne Wohl, Sprich zu Loki nicht mit lästernden Worten Hier in Ögis Halle. Loki: 17 Schweig, Idun! Von allen Frauen Mein ich dich die Männertollste: Du legtest die Arme, die leuchtenden, gleich Um den Mörder eines Bruders. Idun: 18 Zu Loki sprech ich nicht mit lästernden Worten Hier in Ögis Halle; Den Bragi sänft ich, den bierberauschten, Dass er im Zorn den Zweikampf meide. Gefion: 19 Ihr Asen beide, was ists, dass ihr euch Mit scharfen Worten streitet? Loki träumt sich nicht, dass er betrogen ist, Ihn hier die Himmlischen hassen. Loki: 20 Schweig du, Gefion! sonst vergess ichs nicht, Wie dich zur Lust verlockte Jener weiße Knabe, der dir das Kleinod gab, Als du den Schenkel um ihn schlangst. Odin: 21 Irr bist du, Loki, und aberwitzig, Wenn du Gefion gram dir machst: Aller Lebenden Lose weiß sie Ebenwohl als ich. Loki: 22 Schweig nur, Odin, ungerecht zwischen

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Den Sterblichen teilst du den Streit: Oftmals gabst du, dem du nicht geben solltest, Dem schlechtern Manne den Sieg. Odin: 23 Weißt du, dass ich gab, dem ich nicht geben sollte, Dem schlechtern Manne den Sieg, Unter der Erde acht Winter warst du Milchende Kuh und Mutter Loki: 24 Du schlichest, sagt man, in Samsö umher Von Haus zu Haus als Wala. Vermummter Zauberer trogst du das Menschenvolk: Das dünkt mich eines Argen Art. Frigg: 25 Euer Geschicke solltet ihr nie Erwähnen vor der Welt, Was ihr Asen beide in Urzeiten triebet: Die frühsten Taten bergt dem Volk. Loki: 26 Schweig du, Frigg! Fiörgyns Tochter bist du Und den Männern allzumild, Die Wili und We als Widrirs Gemahlin Beide bargst in deinem Schoß. Frigg: 27 Wisse, hätt ich hier in den Hallen Ögirs Einen Sohn wie Baldur schnell, Nicht kämst du hinaus von den Asensöhnen, Du hättest schon zu fechten gefunden. Loki: 28 Und willst du, Frigg, dass ich ferner gedenke Meiner Meintaten, So bin ich Schuld, dass du nicht mehr schauen wirst Baldur reiten zum Rath der Götter. Freyja: 29 Irr bist du, Loki, dass du selber anführst Die schnöden Schandtaten. Wohl weiß Frigg Alles was sich begibt, Ob sie schon es nicht sagt. Loki: 30 Schweig du, Freyja, dich vollends kenn ich: Keines Makels mangelst du; Der Asen und Alfen, die hier inne sind, Bist du Jedes Buhlerin. Freyja: 31 Deine Zunge frevelt; doch fürcht ich, dass sie dir Wenig Gutes gellt. Abhold sind dir die Asen und die Asinnen, Unfröhlich fährst du nach Haus.

Edda, 9

Loki: 32 Schweig du, Freyja, Gift führst du mit dir, Bist allen Unheils voll. Vor den Göttern umarmtest du den eigenen Bruder: So böser Wind entfuhr dir, Freyja! Niördr: 33 Die Schöngeschmückten, das schadet nicht, Wählen Männer, wie sie mögen; Des Verworfnen Weilen bei den Asen wundert nur, Der Kinder konnte gebären. Loki: 34 Schweig du, Niördr, von Osten gesendet Als Geisel bist du den Göttern. Hymirs Töchter nahmen dich da zum Nachtgeschirre Und machten dir in den Mund. Niördr: 35 Des Schadens tröstet mich, seit ich gesendet ward Fernher als Geisel den Göttern, Dass mir erwuchs der Sohn, wider den Niemand ist, Der für den Ersten der Asen gilt. Loki: 36 Lass endlich, Niördr, den Übermut, Ich hab es länger nicht Hehl: Mit der eignen Schwester den Sohn erzeugtest du, Der eben so arg ist wie du. Tyr: 37 Freyr ist der beste von allen, die Bifröst Trägt zu der hohen Halle: Keine Maid betrübt er, keines Mannes Weib, Einen Jeden nimmt er aus Nöten. Loki: 38 Schweig du, Tyr! du taugst zum Kampfe nicht Zu gleicher Zeit mit Zweien. Deine rechte Hand ist dir geraubt, Fenrir fraß sie, der Wolf. Tyr: 39 Der Hand muss ich darben; so darbst du Fenrirs. Eins ist schlimm wie das andre; Auch der Wolf ist freudenlos: gefesselt erwartet er Der Asen Untergang. Loki: 40 Schweig du, Tyr! deinem Weibe geschahs, Dass sie von mir ein Kind bekam. Nicht Pfennigsbuße empfingst du für die Schmach: Habe dir das, du Hanrei! Freyr: 41 Gefesselt liegt Fenrir vor des Flusses Ursprung

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Bis die Götter vergehen. So soll auch dir geschehn, wenn du nicht schweigen wirst Endlich, Unheilschmied. Loki: 42 Mit Gold erkauftest du Gymirs Tochter Und gabst dem Skirnir dein Schwert. Wenn aber Muspels Söhne durch Myrkwidr reiten, Womit willst du streiten, Unselger? Beyggwir: 43 Wär ich so edeln Stamms als Yngwi-Freyr, Und hätte so erhabnen Sitz, Morscher als Mark malmt’ ich dich, freche Krähe, Und lähmte dir alle Gelenke. Loki: 44 Was ist Winziges dort, das ich wedeln sehen Nach Speise schnappend? Dem Freyr in die Ohren bläst es immerdar, Und müht sich mit Mägdearbeit. Beyggwir: 45 Beyggwir bin ich, bieder rühmen mich Die Asen all und Menschen. Behende helf ich hier, dass Hropts Freunde trinken Äl in Ögis Halle. Loki: 46 Schweig du, Beyggwir, übel verstehst du Der Männer Mahl zu ordnen. Unterm Bettstroh verbargst du dich feige, Wenn es zum Kampfe kam. Heimdal: 47 Trunken bist du, Loki! vertrankst den Verstand: Lass endlich ab, Loki, Denn im Rausche reden die Leute viel Und wissen nicht was. Loki: 48 Schweig du, Heimdal! In der Schöpfung Beginn Ward dir ein leidig Los. Mit feuchtem Rücken fängst du den Tau auf Und wachst der Götter Wärter! Skadi: 49 Lustig bist du, Loki; doch lange magst du nicht Spielen mit losem Schweif, Da auf die scharfe Kante des kalten Vetters bald Mit Därmen dich die Götter binden. Loki: 50 Wenn auf die scharfe Kante des reifkalten Vetters Sie mich mit Därmen binden bald, So war ich der erste und auch der eifrigste, Als es Thiassi zu töten galt.

Edda, 9

Skadi: 51 Warst du der erste und auch der eifrigste, Als es Thiassi zu töten galt, So soll aus meinem Hof und Heiligtum Immer kalter Rath dir kommen. Loki: 52 Gelinder sprachst du zu Laufeyjas Sohn, Als du mich auf dein Lager ludst. Dessen gedenk ich nun, da es genauer gilt Unsre Meintaten zu melden. Da trat Sif vor und schenkte dem Loki Meth in den Eiskelch und sprach: 53 Heil dir nun, Loki, den Eiskelch lang ich dir Firnen Methes voll, Dass du mich eine doch von den Asenkindern Ungelästert lassest. Jener nahm den Kelch, trank und sprach: 54 Du einzig bliebst verschont, wärest du immer keusch Und dem Gatten ergeben gewesen. Einen weiß ich und weiß ihn gewiss, Der auch den Hlorridi zum Hanrei machte. Beyla: 55 Alle Felsen beben, von der Bergfahrt kehrt Hlorridi heim. Zum Schweigen bringt er den, der hier mit Schmach belädt Die Götter all und Gäste. Loki: 56 Schweig du, Beyla! du bist Beyggwirs Weib Und aller Untat voll. Kein ärger Ungeheuer ist unter den Asenkindern, Ganz bist du mit Schmutz besudelt. Da kam Thor an und sprach: 57 Schweig, unreiner Wicht, sonst soll mein Hammer Miölnir den Mund dir schließen. Vom Halse hau ich dir die Schulterhügel, Dass dich das Leben lässt. Loki: 58 Der Erde Sohn ist eingetreten: Nun kannst du knirschen, Thor; Doch wenig wagst du, wenn du den Wolf bestehen sollst, Der den Siegvater schlingt. Thor: 59 Schweig, unreiner Wicht, sonst soll mein Hammer Miölnir den Mund dir schließen. Oder auf gen Osten werf ich dich, Dass kein Mann dich mehr erschaut. Loki: 60 Deine Ostfahrten würden unbesprochen

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Allzeit besser bleiben, Seit im Däumling du, Kämpe, des Handschuhs kauertest Und selbst nicht meintest Thor zu sein. Thor: 61 Schweig, unreiner Wicht, sonst soll mein Hammer Miölnir den Mund dir schließen. Mit Hrungnis Töter trifft diese Hand dich Und bricht dir alle Gebeine. Loki: 62 Noch lange Jahre zu leben denk ich Trotz deiner Hammerhiebe. Hart schienen dir Skrymis Knoten; Du musstest der Mahlzeit darben Ob du vor Heißhunger vergingst. Thor: 63 Schweig, unreiner Wicht, sonst soll mein Hammer Miölnir den Mund dir schließen. Hrungnis Töter schickt dich zu Hel hinab Hinter der Toten Gittertor. Loki: 64 Ich sang vor Asen, sang vor Asensöhnen Was ich auf dem Herzen hatte. Nun wend ich mich weg: dir weich ich allein, Denn ich zweifle nicht, dass du zuschlägst. 65 Ein Mahl gabst du, Ögir; nicht mehr hinfort Wirst du die Götter bewirten. All dein Eigentum, das hier innen ist, Frisst die Flamme Und raschelt dir über den Rücken. Darauf nahm Loki die Gestalt eines Lachses an und entsprang in den Wasserfall Franangr. Da fingen ihn die Asen und banden ihn mit den Gedärmen seines Sohnes Nari. Sein anderer Sohn Narfi aber ward in einen Wolf verwandelt. Skadi nahm eine Giftschlange und hing sie auf über Lokis Antlitz. Der Schlange entträufelte Gift. Sigyn, Lokis Weib, setzte sich neben ihn und hielt eine Schale unter die Gifttropfen. Wenn aber die Schale voll war, trug sie das Gift hinweg: unterdessen träufelte das Gift in Lokis Angesicht, wobei er sich so stark wand, dass die ganze Erde zitterte. Das wird nun Erdbeben genannt.

Das Nibelungenlied, Str. 86-100* Siegfried

Also sprach da Hagen: Soviel ich mag verstehn, 1 Hab’ ich gleich im Leben Siegfrieden nie gesehn,  So will ich doch wohl glauben wie es damit auch steht,  Daß er es sei, der Degen der so herrlich dorten geht. Er bringt neue Mären her in dieses Land:  Die kühnen Nibelungen schlug des Helden Hand,  Die reichen Königssöhne Schilbung und Nibelung;  Er wirkte große Wunder mit des starken Armes Schwung. Als der Held alleine ritt aller Hilfe bar,  Fand er an einem Berge so hört’ ich immerdar,  Bei König Niblungs Horte manchen kühnen Mann;  Sie waren ihm gar fremde bis er die Kunde hier gewann. Der Hort König Nibelungs ward hervorgetragen  Aus einem hohlen Berge nun hört Wunder sagen,  Wie ihn teilen wollten die Niblung untertan.  Das sah der Degen Siegfried den es zu wundern begann. So nah kam er ihnen daß er die Helden sah  Und ihn die Degen wieder Der eine sagte da:  Hier kommt der starke Siegfried der Held aus Niederland.  Seltsame Abenteuer er bei den Nibelungen fand. Den Recken wohl empfingen Schilbung und Nibelung.  Einhellig baten die edeln Fürsten jung,  Daß ihnen teilen möchte den Schatz der kühne Mann:  Das begehrten sie gar dringend zu geloben es der Herr begann.

*  Das Nibelungenlied, Str. 86-100. Aus: Das Nibelungenlied. Übersetzt von Karl Simrock. 20. Auflage. Stuttgart: Cotta 1869. Der Text wurde an heutige Orthographie angepasst.

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Er sah so viel Gesteines wie wir hören sagen,  Hundert Leiterwagen die möchten es nicht tragen,  Noch mehr des roten Goldes von Nibelungenland:  Das alles sollte teilen des kühnen Siegfriedes Hand. Sie gaben ihm zum Lohne König Niblungs Schwert:  Da wurden sie des Dienstes gar übel gewährt,  Den ihnen leisten sollte Siegfried der Degen gut.  Er konnt’ es nicht vollbringen sie hatten zornigen Mut. Da hatten sie zu Freunden kühne zwölf Mann,  Die starke Riesen waren was konnt’ es sie verfahn?  Die erschlug im Zorne Siegfriedens Hand,  Und siebenhundert Recken zwang er vom Nibelungenland. Mit dem guten Schwerte geheißen Balmung.  Vom Schrecken überwältigt war mancher Degen jung  Zumal vor dem Schwerte und vor dem kühnen Mann:  Das Land mit den Burgen machten sie ihm untertan. Dazu die reichen Könige die schlug er beide tot.  Er kam durch Albrichen darauf in große Not:  Der wollte seine Herren rächen allzuhand,  Eh’ er die große Stärke noch an Siegfrieden fand. Mit Streit bestehen konnt’ ihn da nicht der starke Zwerg.  Wie die wilden Leuen liefen sie an den Berg,  Wo er die Tarnkappe Albrichen abgewann:  Da war des Hortes Meister Siegfried der schreckliche Mann. Die sich getraut zu fechten die lagen all erschlagen.  Den Schatz ließ er wieder nach dem Berge tragen,  Dem ihn entnommen hatten Die Niblung untertan.  Alberich der starke das Amt des Kämmrers gewann. Er mußt’ ihm Eide schwören er dien ihm als sein Knecht,  Zu aller Art Diensten ward er ihm gerecht.  So sprach von Tronje Hagen: Das hat der Held getan;  Also große Kräfte nie mehr ein Recke gewann. Noch ein Abenteuer ist mir von ihm bekannt:  Einen Linddrachen schlug des Helden Hand;  Als er im Blut sich badete ward hörnern seine Haut.  So versehrt ihn keine Waffe das hat man oft an ihm geschaut.

Also sprach Zarathustra Ein Buch für Alle und Keinen* Friedrich Nietzsche 1

E rster Theil Z ar athustr a’s V orrede […]

3. Als Zarathustra in die Nächste Stadt kam, die an den Wäldern liegt, fand er daselbst viel Volk versammelt auf dem Markte: denn es war verheissen worden, das man einen Seiltänzer sehen solle. Und Zarathustra sprach also zum Volke: Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehen, als den Menschen zu überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe. Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden? Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!

*  Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Chemnitz und Leipzig: Schmeitzner und Naumann 1883-85. Sperrung des Originals wurde in Kursive wiedergegeben.

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I. Vorläufer in der Literatur- und Kulturgeschichte

Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren! Einst war der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb, und damit auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten, als der Sinn der Erde! Einst blickte die Seele verächtlich auf den Leib: und damals war diese Verachtung das Höchste: – sie wollte ihn mager, grässlich, verhungert. So dachte sie ihm und der Erde zu entschlüpfen. Oh diese Seele war selbst noch mager, grässlich und verhungert: und Grausamkeit war die Wollust dieser Seele! Aber auch ihr noch, meine Brüder, sprecht mir: was kündet euer Leib von eurer Seele? Ist eure Seele nicht Armuth und Schmutz und ein erbärmliches Behagen? Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu können, ohne unrein zu werden. Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist diess Meer, in ihm kann eure grosse Verachtung untergehn. Was ist das Grösste, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der grossen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend. Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meinem Glücke! Es ist Armuth und Schmutz, und ein erbärmliches Behagen. Aber mein Glück sollte das Dasein selber rechtfertigen!« Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meiner Vernunft! Begehrt sie nach Wissen wie der Löwe nach seiner Nahrung? Sie ist Armuth und Schmutz und ein erbärmliches Behagen!« Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meiner Tugend! Noch hat sie mich nicht rasen gemacht. Wie müde bin ich meines Guten und meines Bösen! Alles das ist Armuth und Schmutz und ein erbärmliches Behagen!« Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meiner Gerechtigkeit! Ich sehe nicht, dass ich Gluth und Kohle wäre. Aber der Gerechte ist Gluth und Kohle!« Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meinem Mitleiden! Ist nicht Mitleid das Kreuz, an das Der genagelt wird, der die Menschen liebt? Aber mein Mitleiden ist keine Kreuzigung.« Spracht ihr schon so? Schriet ihr schon so? Ach, dass ich euch schon so schreien gehört hätte! Nicht eure Sünde – eure Genügsamkeit schreit gen Himmel, euer Geiz selbst in eurer Sünde schreit gen Himmel! Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müsstet? Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn! – Als Zarathustra so gesprochen hatte, schrie Einer aus dem Volke: »Wir hörten nun genug von dem Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!« Und alles Volk lachte über Zarathustra. Der Seiltänzer aber, welcher glaubte, dass das Wort ihm gälte, machte sich an sein Werk.

Niet zsche: Also sprach Zarathustra

4. Zarathustra aber sahe das Volk an und wunderte sich. Dann sprach er also: Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden. Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer. Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern, dass die Erde einst der Übermenschen werde. Ich liebe Den, welcher lebt, damit er erkenne, und welcher erkennen will, damit einst der Übermensch lebe. Und so will er seinen Untergang. Ich liebe Den, welcher arbeitet und erfindet, dass er dem Übermenschen das Haus baue und zu ihm Erde, Thier und Pflanze vorbereite: denn so will er seinen Untergang. Ich liebe Den, welcher seine Tugend liebt: denn Tugend ist Wille zum Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht. Ich liebe Den, welcher nicht einen Tropfen Geist für sich zurückbehält, sondern ganz der Geist seiner Tugend sein will: so schreitet er als Geist über die Brücke. Ich liebe Den, welcher aus seiner Tugend seinen Hang und sein Verhängniss macht: so will er um seiner Tugend willen noch leben und nicht mehr leben. Ich liebe Den, welcher nicht zu viele Tugenden haben will. Eine Tugend ist mehr Tugend, als zwei, weil sie mehr Knoten ist, an den sich das Verhängniss hängt. Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren. Ich liebe Den, welcher sich schämt, wenn der Würfel zu seinem Glücke fällt und der dann fragt: bin ich denn ein falscher Spieler? – denn er will zu Grunde gehen. Ich liebe Den, welcher goldne Worte seinen Thaten voraus wirft und immer noch mehr hält, als er verspricht: denn er will seinen Untergang. Ich liebe Den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die Vergangenen erlöst: denn er will an den Gegenwärtigen zu Grunde gehen. Ich liebe Den, welcher seinen Gott züchtigt, weil er seinen Gott liebt: denn er muss am Zorne seines Gottes zu Grunde gehen. Ich liebe Den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann: so geht er gerne über die Brücke. Ich liebe Den, dessen Seele übervoll ist, so dass er sich selber vergisst, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle Dinge sein Untergang. Ich liebe Den, der freien Geistes und freien Herzes ist: so ist sein Kopf nur das Eingeweide seines Herzens, sein Herz aber treibt ihn zum Untergang.

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I. Vorläufer in der Literatur- und Kulturgeschichte

Ich liebe alle Die, welche schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen, dass der Blitz kommt, und gehn als Verkündiger zu Grunde. Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch. –

5. Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte, sahe er wieder das Volk an und schwieg. »Da stehen sie«, sprach er zu seinem Herzen, »da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen hören. Muss man rasseln gleich Pauken und Busspredigern? Oder glauben sie nur dem Stammelnden? Sie haben etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie’s, es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten. Drum hören sie ungern von sich das Wort »Verachtung«. So will ich denn zu ihrem Stolze reden. So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen: das aber ist der letzte Mensch.« Und also sprach Zarathustra zum Volke: Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze. Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Weit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann. Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. »Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern« – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt dass die Unterhaltung nicht angreife.

Niet zsche: Also sprach Zarathustra

Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. »Ehemals war alle Welt irre« – sagen die Feinsten und blinzeln. Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln. – Und hier endete die erste Rede Zarathustra’s, welche man auch »die Vorrede« heisst: denn an dieser Stelle unterbrach ihn das Geschrei und die Lust der Menge. »Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, – so riefen sie – mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!« Und alles Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge. Zarathustra aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen: Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten. Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Gebirge am Vormittag. Aber sie meinen, ich sei kalt und ein Spötter in furchtbaren Spässen. Und nun blicken sie mich an und lachen: und indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in ihrem Lachen. […]

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II. Definitionsansätze

Einführung Thomas Nehrlich

Die Fragen, die am Ausgangspunkt dieser Sektion stehen, sind vermeintlich ganz einfach: Was genau ist ein Superheld? Wodurch definiert er sich? Und was unterscheidet ihn von anderen Helden? Gibt es überhaupt Merkmale, die eine eindeutige Differenzierung ermöglichen? Bei genauerem Hinschauen entpuppen sich diese Fragen jedoch als sehr kompliziert. So ist z.B. das scheinbar grundlegendste Superheldenmerkmal, die Superkräfte, für eine eindeutige Definition nicht geeignet: Zum einen gibt es Superhelden, die nicht über übermenschliche Fähigkeiten verfügen (am berühmtesten ist wohl Batman); zum anderen besitzen auch andere Helden außergewöhnliche Fähigkeiten, wie in Sektion I zu sehen war. Einen Superhelden wie Captain America, der vor allem über eine gesteigerte Physis verfügt, typologisch trennscharf von Helden wie Herkules oder Siegfried zu unterscheiden, ist keine leichte Aufgabe. Dasselbe gilt für göttliche Superhelden wie Thor und Wonder Woman und ihre Vorbilder aus der griechischen und nordischen Mythologie sowie für magische Superhelden wie Doctor Strange, die sich nur schwerlich von nicht-superheldischen Zauberern wie Harry Potter unterscheiden lassen. Auch die Funktionen, die Superhelden in der Comic-Handlung erfüllen, teilen sie mit anderen Helden: Kampf gegen Kriminalität, Schutz der Gesellschaft, Herstellen von Gerechtigkeit etc. Es gibt zahlreiche Versuche, die Spezifik der Superhelden zu bestimmen, die sich mit diesen Schwierigkeiten je auf ihre eigene Weise auseinandersetzen. Sektion II dieses Readers versammelt solche Definitionsansätze. II.1 Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die meisten Theorien Superhelden anhand einer Reihe von Eigenschaften konzeptualisieren. Solche Definitionen, die von einem Merkmalkatalog ausgehen, um das Wesen der Superhelden zu bestimmen, können als essenzialistisch bezeichnet werden. Der vielleicht berühmteste Bestimmungsversuch dieser Art ist der Aufsatz Die Definition eines Superhelden des Comicforschers Peter Coogan, der den Auftakt dieser Sektion bildet. Coogan fragt darin zunächst nach der grundlegenden Gemeinsamkeit der Superhelden-Figuren und erklärt, diese liege im Genre selbst begründet, welches bisher aber nicht klar genug definiert sei. Deshalb arbeitet Coogan eine Reihe von Genre-Konventionen heraus, die sämtlich nicht exklusiv bei Su­p erhelden auftreten, aber insgesamt doch eine gattungsspezifische Merkmalkombination darstellen. Entscheidend sei die Trias von Mission, Kräften und Identität, also eine bestimmte Konfiguration aus altruistischer Pflichterfüllung, beträchtlichen Fähigkeiten und der Annahme einer durch Kostüm oder Beinamen symbolisierten Superhelden-Rolle. Coogan fasst seine Darlegungen in einer synthetischen Definition zusammen: Danach ist ein Superheld

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II. Definitionsansät ze [e]ine heroische Figur mit einer selbstlosen, prosozialen, universellen Mission; die übernatürliche Kräfte besitzt – außergewöhnliche Fähigkeiten, avancierte Technologie oder auch hochentwickelte körperliche und/oder mentale Leistungsfähigkeit (einschließlich mystische Fähigkeiten); deren Identität als Superheld durch einen Codenamen und ein ikonisches Kostüm symbolisiert wird, die üblicherweise ihre Biographie oder ihren Charakter, ihre Kräfte und ihren Ursprung (Verwandlung einer gewöhnlichen Person zu einem Superhelden) zum Ausdruck bringen; und die generisch markiert ist, d.h. aufgrund von Gattungskonventionen von Figuren verwandter Genres (Fantasy, Science Fiction, Krimis etc.) unterschieden werden kann. Typischerweise haben Superhelden eine doppelte Identität, deren gewöhnliche meist ein streng gehütetes Geheimnis ist. Diese Aufzählung ließe sich sogar noch erweitern: Tod oder Abwesenheit der Eltern, ein initiales, oft in der Kindheit verursachtes Trauma, Vorbildfunktion bei gleichzeitigem rollenbedingten Outlaw-Status, unverrückbare moralische Grundsätze (wie z.B. Tötungsverbot), Gottähnlichkeit, sexuelle Askese und nicht zuletzt ein perpetuierter Kampf gegen bestimmte Superschurken sind weitere Charakteristika, die zahlreiche männliche wie weibliche Superheldenfiguren kennzeichnen. Eine abschließende Definition dessen, was Superhelden sind, ist auf dem Wege eines immer weiter zu vervollständigenden Eigenschaftsverzeichnisses jedoch kaum möglich, da in Zweifelsfällen und für eng verwandte Helden-Figurationen immer wieder neue Ein- und Ausschlusskriterien aufgestellt werden müssen. II.2 Einen persönlicheren Ansatz verfolgen Jeph Loeb und Tom Morris in ihrem Aufsatz Helden und Superhelden. Thomas Morris ist Philosoph und Herausgeber eines Sammelbands zu Superhelden und Philosophie, dem der Aufsatz entnommen ist.1 Jeph Loeb hingegen ist Comic- und Drehbuchautor (u.a. für die TV-Serien Lost und Smallville), also kein Akademiker, sondern ein Praktiker und Künstler. Seine Produzentenperspektive prägt den Aufsatz, seine Erfahrungen und Einstellungen als Comic-Autor fließen direkt in die Bestimmung des Superhelden ein. Insbesondere geht er auf die von ihm verfasste vierteilige Heftreihe Superman for All Seasons (1998) ein, in der er seine Interpretation der Ursprungsgeschichte dieses berühmtesten aller Superhelden schildert. Er betont, dass es ihm wichtig war, zu vermitteln, dass Clark Kents Entscheidung, ein Held zu werden, gerade deshalb außergewöhnlich ist, weil er Superkräfte besitzt. Weil besondere Fähigkeiten denjenigen, der über sie verfügt, über andere Menschen erheben, sei es bemerkenswert, wenn sie nicht zum Schaden, sondern zum Wohl anderer eingesetzt würden. Dieser Auffassung zugrunde liegt ein Konzept von Heldentum, das den Aufwand und die Mühen valorisiert, die es kostet, gegen Widerstände etwas Gutes zu tun. Deswegen erwähnen Morris und Loeb, auch wenn sie damit Klischees bedienen, Alltagshelden wie Feuerwehrmänner und Krankenpflegerinnen, die keine Superkräfte besitzen und dennoch altruistisch handeln. Deren Heldentum sei im Grunde nur im Ausmaß, nicht aber kategorial von den öffentlichkeitswirksamen (aber natürlich fiktionalen) Heldentaten der Superhelden zu unterschieden. Der Aufsatz endet daher mit einem moralischen Appell, uns von den Superhelden zu guten Taten inspirieren zu lassen. II.3 In ihrem umfassenden kulturwissenschaftlichen Aufsatz Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics verfolgen Stephan Ditschke und Anjin Anhut zwei Ansätze zur Bestimmung des Superhelden: Im Anschluss an Juri Lotman stellen sie zunächst superheroische Narrative als eine spezifische Konstellation unter1 | Vgl. Tom Morris und Matt Morris (Hg.): Superheroes and Philosophy. Truth, Justice, and the Socratic Way. Chicago/La Salle 2005.

Nehrlich: Einführung schiedlicher semantischer Räume vor, die mit den gegensätzlichen Genre-Instanzen ›Superheld‹, ›Superschurke‹ und der ›etablierten Ordnung‹ besetzt sind, aber ineinander übergehen können und zwischen denen sich wiederkehrende Konfliktmuster bilden. Aus einer narra­ tologischen Perspektive heraus schlagen Ditschke und Anhut außerdem eine funktionelle Klassifikation der Superhelden anhand ihrer »Grund­o rientierung« vor: Diese ergibt sich primär aus dem telos der Superhelden – positiv auf die Bewahrung des Guten oder negativ auf die Beseitigung des Bösen bezogen – und aus ihrem natürlichen, affirmativen oder aversiven Verhältnis zu den eigenen Kräften und den damit verbundenen Fähigkeiten und Verpflichtungen. Daraus folgen die Grundfigurationen ›Beschützer‹, ›Rächer und Jäger‹ und ›Zweifler‹. Ditschke und Anhut entwerfen also eine Typologie, die Superhelden anhand ihrer sozialen Funktion einordnet und mit deren Hilfe insbesondere innerhalb des Genres plausibel zwischen den Helden unterschieden werden kann. II.4 Ebenfalls mit kulturwissenschaftlicher Perspektive nehmen Änne Söll und Friedrich Weltzien in ihrem Aufsatz Spider-Mans Heldenmaske. Kampf um Männlichkeit im Superheldengenre das Superheldentum in den Blick. In einem definitorischen Abschnitt identifizieren sie vier Aspekte, die charakteristisch für das Genre seien: Erstens durchliefen Superhelden immer einen Prozess der Verwandlung, der sie erst zum maskierten Helden mit einer in zivile und superheldische Rolle aufgeteilten Identität mache. Zweitens eigne Superhelden ein missionarischer Zug, oft verknüpft mit einem ausgeprägten moralischen Gerechtigkeitssinn, der sie überhaupt erst zu ihrer Tätigkeit treibe. Diese beiden Dimensionen des Superheldentums hat z.B. auch Coogan in seiner Definition erfasst. Drittens konstatieren Söll und Weltzien darüber hinaus die Hypermaskulinität der Superhelden, die zum einen im Gegensatz stehe zur schmächtigeren Erscheinung der zivilen Identitäten (Clark Kent und Peter Parker sind weit weniger imposant als Superman und Spider-Man), zum anderen als Übersteigerung der regulären Handlungsfähigkeit eine Voraussetzung für die Heldentaten der Protagonisten sei. Viertens diagnostizieren sie das »sexuelle Dilemma« der Superhelden, die in ihrer zivilen Rolle nicht mit den Frauen zusammenkommen können, die von ihrer superheldischen Identität angezogen sind. Wenngleich Söll und Weltzien in ihren Ausführungen weibliche Superheldenfiguren weitgehend außer Acht lassen, deren hypertrophe Weiblichkeit auch untersuchenswert wäre, so sind doch diese beiden letzten Aspekte das eigentliche Hauptinteresse des Aufsatzes. Die Frage, die Söll und Weltzien aufwerfen, lautet: Wenn die Aufteilung in zwei Rollen den erotischen Erfolg der Superhelden mindert, warum verbergen sie dann ihre Identität hinter einer Maske? Warum darf ihre Supervirilität nur in der Verkleidung zum Vorschein kommen? Am Beispiel von Spider-Man analysiert der Aufsatz die unterschiedlichen Funktionen der Maske, die zur Markenbildung der Superhelden maßgeblich beitragen. Und er zeigt schließlich, dass männlichen Superhelden ein affirmativer, funktionaler, heroischer Umgang mit ihrer Männlichkeit, ihre »Emanzipation und [die] autonome[] Positionierung außerhalb von Recht und Ordnung«, nur in der Maskierung und Verheimlichung möglich ist. II.5 Nachdem Söll und Weltzien sich exemplarisch einem Superhelden gewidmet haben, um allgemeine Charakteristika herauszuarbeiten, steht in Dirck Lincks Batman-Studie, von der hier der Beginn abgedruckt wird, vollends ein einzelner Protagonist im Zentrum des Interesses. Bereits mit dem ersten Satz seines Aufsatzes, der auf den berühmten Beginn der Ilias anspielt (»Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus«), und der Evokation des heldischen Zorns knüpft Linck die Verbindung zwischen dem Superhelden Batman und den griechisch-antiken Heroen wie Achilles. Und er erklärt gleich zu Beginn, dass, da Batman in der Gegenwart längst nicht mehr auf sein Ursprungsmedium Comic beschränkt, sondern zu einer »transmedialen Ikone« geworden ist, auch seine Ausführungen einen weiteren Geltungsanspruch verfolgen. So schließt er die Appropriation des Superhelden durch Fans und

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II. Definitionsansät ze Subkulturen in der Wirklichkeit in seine Überlegungen mit ein. Insbesondere zeichnet Linck nach, wie Batman zu einer Ikone einer schwulen Superhelden-Rezeption geworden ist. Und er analysiert kritisch, welche Auswirkungen diese Appropriation auf die allgemeine Wahrnehmung des Superhelden hatte. In einer konservativen, heteronormativen Perspektive, die sich u.a. von den comickritischen Werken Fredric Werthams herleitet, der in den 1950er Jahren einen Zusammenhang zwischen Superhelden und Jugendkriminalität behauptet hatte (vgl. seinen Text in Sektion IV), büßt Batman in dem Maß an Heldentum ein, wie er als schwul dargestellt oder wahrgenommen wird. II.6 In ihrem filmwissenschaftlichen Aufsatz Marvel-lous Masked Men. Doppelidentitäten in Superheldenfilmen interessiert sich Aleta-Amirée von Holzen für die Identität der Superhelden: Die besondere doppelte Identitätsform, aufgeteilt in heroische und zivile Rolle, ist in der Tat ein Charakteristikum der Superhelden, das sie von vielen anderen Helden abgrenzt. Herkules verbirgt vor niemandem seine Identität; Achilles trägt keine Maske; Siegfried führt kein Doppelleben. Aus der literarischen Tradition haben wir daher kaum Begriffe für die Identitätsmodi der Superhelden. Die behelfsmäßige Rede von einer ›dualen Identität‹ ist irreführend: Superhelden-Figuren zeichnen sich ja dadurch aus, dass bürgerliche und superheroische Gestalt zwar unterschiedliche Rollen, dabei aber Elemente einer ungeteilten Identität sind und eine Einheit bilden. So ist Superman nicht schlicht das Alter Ego von Clark Kent. Und schon gar nicht ist Iron Man die ›wahre Identität‹ von Tony Stark. Dieser Ambivalenz geht von Holzen anhand der Darstellung der Superheldenidentitäten in den Kino-Verfilmungen von Spider-Man, Iron Man und Daredevil auf den Grund. Sie zeichnet nach, wie die Superhelden in ihrer Ursprungsgeschichte zur Aufspaltung ihrer Identität kommen und welche Probleme sich dadurch ergeben, etwa wenn ihr Geheimnis von Schurken entdeckt und sie damit erpresst werden. Letztlich, so von Holzens These, ist die Doppelidentität jedoch eine dermaßen essenzielle Eigenschaft von Superhelden, dass sie trotz der drohenden Aufdeckung am Ende der Filme immer wieder gewährleistet wird. Das buchstäbliche Rollenspiel der Superhelden erweist sich dadurch als sehr stabiles Merkmal im von Variation und Serialität geprägten Erzählmodus des Superheldengenres. Was in vielen bisherigen Definitionsversuchen nicht ausreichend berücksichtigt wird, ist die spezifische Medialität und Ästhetik der Superhelden: Deren Präsenz vor allem in visuellen Medien (im Comic, im Fernsehen, im Kino und in Computerspielen) weist sie als Figuren aus, die an eine charakteristische Ikonographie gebunden sind, deren wichtigste Kennzeichen sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: 2 1.) Die Darstellung der Superhelden ist geprägt von hypertrophierter Körperlichkeit: Muskelberge bei den männlichen und starke Sexualisierung bei den weiblichen Figuren. Auf diese Weise sollen Virilität und Attraktivität zum Ausdruck gebracht, Identifikations- und Idealisierungsangebote gemacht und Wunschphantasien bedient werden. 2.) Die Superheldencomics schließen an heroische Bildtraditionen seit der Antike an. Vor allem die Mythologien und Künste stellen ein umfangreiches Repertoire an Bildmotiven zur Verfügung, das sich über Jahrhunderte hinweg für die Inszenierung von Helden bewährt hat. 3.) Zahlreiche ikonische Bildmotive des Superhelden-Genres werden immer wieder rezykliert und reinterpretiert, z.B. Spider-Mans Seilschwünge durch New Yorker Hochhausschluchten; auf Batman hereinstürzende Fledermäuse; die zerfetzende Kleidung während 2 | Vgl. zum Folgenden grundlegend Stan Lee und John Buscema: How to Draw Comics the Marvel Way. New York 1984 und Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art. New York 1993.

Nehrlich: Einführung Hulks Verwandlung; Superman beim Stemmen großer Gegenstände (so zeigt ihn bereits die Titelseite der ersten Ausgabe von Action Comics, in der er seinen ersten Auftritt hatte). Diese Motivrekurrenz dient dem Anschluss an die spezifische visuelle Tradition des Genres und seiner Figuren. Und sie sorgt für Wiedererkennungseffekte, die den Leserinnen und Lesern die Identifikation und den Nachvollzug der Handlung erleichtern. 4.) Superhelden-Darstellungen machen üppigen Gebrauch bestimmter formaler Mittel des Mediums Comic, z.B. Maskierungseffekte mittels Silhouetten und Schattenrissen sowie seitenfüllende splash pages zur Darstellung von Schlüsselmomenten der Handlung. Solche visuellen Verfahren stehen im Dienste der Psychagogie, indem durch Distanzierung oder Überwältigung emotionalisierend auf den Lesenden eingewirkt wird. 5.) Viele Superheldencomics sind in einem expressiven, tendenziell antinaturalistischen Stil gezeichnet, der sich u.a. auszeichnet durch verfremdete Anatomie, physikalische Freiheiten, die Betonung von Bewegung und extreme Sichtwinkel (z.B. starke Unter- oder Aufsicht und damit einhergehende perspektivische Verkürzungen). Auf diese Weise wird die Phantastik der actionreichen Stoffe und die Übermenschlichkeit der Protagonisten vermittelt. 6.) Die Doppelidentitäten der Superhelden werden in ein visuelles Spiel mit Mimik und Gestik, Sichtbarkeit und Maskierung übersetzt. Die beiden Rollen der Superhelden – harmlose, oft spießbürgerliche Zivilexistenz einerseits, heroisches Vigilantentum andererseits – werden voneinander unterschieden mithilfe kontrastierender Gesichtsausdrücke, Körperhaltungen, Kleidungsstile. Offensichtlichstes Merkmal dieses Gegensatzes ist das Superhelden-Kostüm, das in der Regel zugleich Maske und Erkennungszeichen des Superhelden ist. Mitunter ist der visuelle und ästhetische Kontrast zwischen den beiden Rollen einer Figur derart groß, dass die Identität nur mittels gesteigerter suspension of disbelief aufrecht erhalten werden kann (z.B. bei Bruce Banner und Hulk). Wie viele der genannten visuellen Verfahren ist auch dieses Spiel mit der Doppelidentität in Verfilmungen übernommen worden, z.B. in Christopher Reeves Darstellung von Superman und Clark Kent in den Verfilmungen der 1970er und 1980er Jahre. 7.) Der vielleicht auffälligste Aspekt der Superhelden-Ästhetik ist die Kolorierung. Die Farbgebung (oft in Primärfarben, zunächst bedingt durch die einfache Drucktechnik der Comics) gehört zu den stabilsten visuellen Merkmalen der Superhelden, man denke etwa an Supermans blau-rot-gelbe Kombination oder an Hulks grünen Hautton. Die Bedeutung der Farben lässt sich auch daran ermessen, dass manche Superhelden sie in ihrem Namen tragen, z.B. Black Panther, Black Widow, Green Lantern, Green Arrow oder Silver Surfer. Die Färbung der Superhelden-Kostüme hat nicht zuletzt eine politische Dimension, am deutlichsten ersichtlich bei Figuren wie Captain America, der seine Herkunft nicht nur im Namen trägt, sondern, in Form der Nationalflagge, auch auf seinem Anzug und seinem Schild. Es überrascht nicht, dass diese Gestaltung propagandistisch instrumentalisiert wurde, etwa indem Captain America während des Zweiten Weltkriegs in etlichen Comics gegen Hitler zu Felde geschickt wurde und auf diese Weise den Kriegseintritt der USA rechtfertigen sollte.

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Die Definition des Superhelden* Peter Coogan

Su•per•held (ˈzuːpɐˌhɛlt) Substantiv, m, pl. -en. 1. Eine heroische Figur mit einer selbstlosen, prosozialen, universellen Mission; die übernatürliche Kräfte besitzt – außergewöhnliche Fähigkeiten, avancierte Technologie oder auch hochentwickelte körperliche und/oder mentale Leistungsfähigkeit (einschließlich mystische Fähigkeiten); deren Identität als Superheld durch einen Codenamen und ein ikonisches Kostüm symbolisiert wird, die üblicherweise ihre Biographie oder ihren Charakter, ihre Kräfte und ihren Ursprung (Verwandlung einer gewöhnlichen Person in einen Superhelden) zum Ausdruck bringen; und die generisch markiert ist, d.h. aufgrund von Gattungskonventionen von Figuren verwandter Genres (Fantasy, Science Fiction, Krimis etc.) unterschieden werden kann. Typischerweise haben Superhelden eine doppelte Identität, deren gewöhnliche meist ein streng gehütetes Geheimnis ist. – superheroisch (adj.). Auch Superheldin, Super-Held.1

D ie grundlegenden K onventionen Als er in seinem Schiedsspruch urteilte, dass Wonder Man Superman kopierte und damit das Urheberrecht verletzte, lieferte der Richter Learned Hand eine prägnante Definition des Superhelden. Die Definitionscharakteristika der Mission, der Kraft und der Identität sind für Hands Entscheidung von zentraler Bedeutung und dienen als Grundlage meiner oben angeführten Definition.

*  Coogan, Peter: »The Definition of the Superhero.« In: Jeet Heer und Kent Worcester (Hg.): A Comics Studies Reader. Jackson: University Press of Mississippi 2009. S. 77-93. Übersetzt von Yvonne Knop. 1 | Eine etwas andere Version dieser Definition habe ich in meiner Dissertation verwendet: Coogan, Peter. The Secret Origin of the Superhero: The Emergence of the Superhero Genre in America from Daniel Boone to Batman. Michigan State University, 2002.

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M ission Hand bezeichnet sowohl Superman als auch Wonder Man als »Verteidiger der Unterdrückten«, die »Böses und Unrechtes« bekämpfen. Diese Beschreibung fasst den Kern der Mission des Superhelden zusammen. Die Mission des Superhelden ist prosozial, selbstlos und universell. Das bedeutet, dass sein Kampf gegen das Böse sich den vorherrschenden Sitten der Gesellschaft anpassen muss und nicht auf persönlichen Nutzen abzielen und sich zudem nicht auf ein bestimmtes Segment der Gesellschaft beschränken darf, obwohl Superhelden sich oft auf bestimmte Arten von Verbrechen oder Verbrechern spezialisieren. Die Mission ist essenziell für das Superheldengenre. Denn jemand, der in der Not nicht selbstlos handelt, um anderen zu helfen, ist nicht heroisch und somit kein Held. Das ist jedoch nicht nur in dieser Gattung so. Supermans Mission ist es, ein »Verteidiger der Unterdrückten [zu sein] …, der geschworen hat, seine Existenz jenen in Not zu widmen«, d.h. »der Menschheit zugutezukommen« (Siegel/ Shuster, Action Comics #1, Juni 1938, 1). Diese Mission ist dieselbe wie die der mysteriösen Groschenheftfigur Doc Savage, dessen »Ziel es war, überall hinzukommen, von einem Ende der Welt zum anderen, auf der Suche nach Spannung und Abenteuer, im Streben danach, jenen zu helfen, die Hilfe benötigen, und jene zu bestrafen, die es verdienen« (Robeson alias Lester Dent, Man of Bronze 4). Genauso unterscheidet sich Supermans Mission nicht wesentlich von jener der Helden von Pfennigromanen, Schundzeitschriften oder des Radios des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.2 Ohne diese Mission wäre ein Superheld bloß ein außergewöhnlich hilfsbereites Individuum in Zeiten einer Krise (wie Hugo Hercules, der superstarke Titelheld eines 1904-1905 veröffentlichten Comic Strips von J. Kroener, der einen Zug zurück auf die Gleise stellen oder einen Elefanten anheben konnte, um einer Dame zu helfen, ihr Taschentuch aufzuheben) oder jemand, der persönlich von seinen Kräften profitiert (wie Hugo Danner, der Protagonist mit Superkräften aus Philip Wylies Roman Gladiator aus dem Jahr 1930, welcher seine Superkraft benutzte, um seinen Lebensunterhalt als Kraftprotz im Zirkus zu verdienen), oder auch ein Superschurke (wenn er seine Interessen auf Kosten der rechtlichen, wirtschaftlichen und moralischen Sicherheit seiner Zeitgenossen verfolgt, wie etwa Dr. Hugo Strange, einer der ersten Feinde von Batman).

2 | Dennoch ist es die Mission des Superhelden, die ihn von anderen Helden unterscheidet. Viele der Western- und Science-Fiction-Helden verfolgen nicht die allgemeine Mission des Superhelden oder die der Helden in Pulp-Magazinen, denn sie streben nicht danach, Gutes bloß um des Guten willen zu tun. Stattdessen geraten sie eher widerwillig in die Lage, eine Gemeinschaft zu verteidigen. Superhelden dagegen suchen aktiv nach Wegen, ihre Gemeinschaft zu verteidigen, zum einen indem sie vorbeugend die Bevölkerung vor Leid beschützen, zum anderen indem sie Unrecht wettmachen, das von Kriminellen oder Schurken begangen wurde.

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K r äf te Superkräfte sind eines der prominentesten Elemente des Superheldengenres. Hand erläutert, dass Superman und Wonder Man »übernatürliche Kraft und Schnelligkeit« besitzen und »völlig immun« sind gegen jegliche Art von Verletzungen (Detective v. Bruns). Er zitiert Beispiele, in denen die beiden Handfeuerwaffen mit ihren Händen zerdrücken, Stahltüren aufreißen, Geschosse aufhalten und in Großstädten von Gebäude zu Gebäude springen. Des Weiteren merkt er an, dass jeder von ihnen je als der »stärkste Mann der Welt« bezeichnet wird. Diese Fähigkeiten machen die Kräfte eines Helden aus – oder eben die Superkräfte, um den Hang zu Übertreibungen im Superheldengenre zu unterstreichen. Sie sind der erste wirkliche Unterschied zwischen Superman und seinen Pulp- und Science-Fiction-Vorgängern. Supermans sämtliche Kräfte steigern diejenigen der bereits vor ihm existierenden Science-Fiction-›Supermänner‹. Hugo Danner aus The Gladiator konnten Schüsse nicht viel anhaben, er war zudem außergewöhnlich kräftig und auch überaus schnell. In der ersten Ausgabe von Action Comics besitzt Superman übermenschliche Kraft, außergewöhnliche Schnelligkeit, großes Sprungvermögen und Unverwundbarkeit auf nur geringfügig höherem Niveau als Danner. Im Laufe der Zeit gingen Supermans Kräfte jedoch – im Gegensatz zu den Science-FictionSupermännern – weit darüber hinaus, bloß die Stärke, Schnelligkeit und Härte von gewöhnlichen Menschen zu übertreffen.

I dentität Das Element der Identität umfasst sowohl den Codenamen als auch das Kostüm, wobei die geheime Identität üblicherweise das Pendant zum Codenamen bildet. Hand beschreibt, dass Action Comics und Wonder Comics Figuren mit heldenhaften Identitäten abbildeten – Superman und Wonder Man –, welche »hautenge Akrobatenkostüme« unter »herkömmlicher Kleidung« verbargen. Daran macht Hand die zwei Elemente fest, die die Identitätskonvention des Superhelden bilden: der heldische Codename und das Kostüm. Die Identitätskonvention unterscheidet den Superhelden am meisten von seinen Vorgängern. Figuren wie Scarlet Pimpernel und Zorro etablierten zwar heroische und geheime Identitäten, wie sie dereinst zum Kennzeichen für Superhelden werden sollten; sie externalisierten aber ihre heldenhaften Identitäten und den inneren Charakter ihres Alter Egos nicht entschieden genug. Scarlet Pimpernel entspricht nicht gerade der kleinen Blume, deren Namen er sich bedient, außer vielleicht in dem Punkt, dass er in seiner wahren Identität, der des Percy Blakeney, unentdeckt bleibt; Zorro gleicht nicht dem Fuchs, dessen spanischen Namen er trägt, außer vielleicht im Hinblick auf die Fähigkeit, seinen Verfolgern zu entkommen. Diese nur minimalen Zusammenhänge zwischen heroischem Codenamen und Figur wurden in den Abenteuern besagter Helden zwar nicht in den Vordergrund gestellt; es waren aber diese Abenteuer, die den Schöpfern von Superhelden später als Modell dienten für die Alter Egos ihrer Helden. Der Zusammenhang zwischen dem Namen und dem inneren Charakter oder der Biographie kam mit den mysteriösen Figuren in Pulp-Magazinen auf, wie zum Beispiel The Shadow und Doc Savage. The Shadow führt eine schattenhafte Existenz. Er wird niemals direkt gesehen, weder von seinen Feinden noch von denen,

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die ihm Aufträge erteilen; sein Name ist daher treffend. Der Name des Doc Savage verkörpert dessen Biographie, denn in ihm klingt das Aufwachsen in der Obhut von Wissenschaftlern mit: die Fähigkeiten und Rationalität eines Doktors und die Stärke und Kampffertigkeit eines wilden Tieres. Die heroischen Identitäten von Superman und Batman funktionieren ebenfalls auf diese Weise. Superman ist ein Übermensch, der das Beste darstellt, was ein Mensch zu erreichen hoffen kann; somit spiegelt sein Codename seinen inneren Charakter wider. Die Identität von Batman wurde durch Bruce Waynes Begegnung mit einer Fledermaus inspiriert, als er nach einer Tarnung suchte, die unter Kriminellen Furcht und Schrecken verbreiten würde; sein Codename verkörpert folglich seine Biographie.

K ostüm Der Unterschied zwischen Superman und früheren Figuren wie The Shadow und Doc Savage liegt in einem zentralen Element der Identität des Superhelden, dem Kostüm. Auch wenn Superman durchaus nicht der erste Superheld in einem Kostüm war, weicht sein Kostüm doch klar von denjenigen der Helden in Pulp-Magazinen ab. Letztere versinnbildlichen nicht die Identitäten der sie tragenden Figuren. Der Schlapphut, der schwarze Mantel und der rote Schal von The Shadow – oder auch die Maske und die Fangzähne von The Spider – verbergen zwar sein Gesicht, spiegeln aber seine Identität nicht wider. Ganz im Gegensatz zu dem Kostüm von Superman, besonders in Hinsicht auf den S-Chevron bzw. das S-Abzeichen.3 Das Gleiche gilt für Batmans Kostüm: Sein Kostüm macht ihn zum Fledermausmenschen, genauso wie Spider-Mans Kostüm ihn seinerseits zur Spinne macht. Diese Kostüme sind ikonische Repräsentationen der jeweiligen Identität der Superhelden. Die Ikonizität des Superheldenkostüms folgt Scott McClouds Theorie der »Betonung durch Vereinfachung« (38). In seinem Buch Comics richtig lesen stellt McCloud die These auf, dass Bilder sich im Abstraktionsgrad unterscheiden, von realistischen Fotografien bis hin zu sehr schematischen Strichzeichnungen. Der Prozess der Vereinfachung verläuft von realistischen Darstellungen hin zur Ab­ straktion und macht es dem Leser möglich, sich durch »die Reduktion eines Bildes auf seine wesentliche ›Information‹«, »auf bestimmte Details [zu] fokussieren« (ebd.). Diese Reduktion wertet den Informationsgehalt eines Bildes auf, indem die Aufmerksamkeit auf dessen Kerngedanken gelenkt wird. »Da er die Idee der 3 | Jim Sterenko benutzt den Begriff Chevron für das Brustabzeichen (»Foreword« 4). Ich benutze den gleichen Begriff allgemein für die Kostümabzeichen von Superhelden. Er ist prägnanter als Begriffe wie Brustabzeichen, Brustschild, Insigne, Sinnbild oder jeder andere Terminus, der zur Bezeichnung der ikonischen Symbole verwendet wird, die für die Identitäten der Superhelden stehen. Zusätzlich eröffnet dieser Begriff die Möglichkeit, Kostümabzeichen zu untersuchen, die sich nicht auf der Brust der Figur befinden, wie z.B. Phantoms Totenkopf oder Bullseyes Zielscheibe, auch wenn solche Beispiele eher selten sind. Obgleich der Begriff mit einem Symbol in V-Form assoziiert werden könnte, weist er auch allgemein auf den Dienstrang auf Militär- und Polizei-Uniformen hin. Interessanterweise stammt »Chevron«, genauso wie auch »Ägis/Ägide«, aus dem Französischen bzw. Griechischen und bedeutet in beiden Fällen Ziege – ein Hinweis auf die Ziegenhaut, die zum Bespannen von Schilden verwendet wurde.

Coogan: Die Definition des Superhelden

Form gegenüber dem Dinglichen der materiellen Welt hervorhebt«, argumentiert McCloud, »gehört der Cartoon zur Welt der Gedanken« (49). Das Superheldenkostüm überdeckt alle Details der gewöhnlichen Identität einer Figur, sodass nur eine vereinfachte Idee übrig ist, die in den Farben und in der Gestaltung des Anzugs ausgedrückt wird. Besonders der Chevron unterstreicht den Codenamen des Superhelden; er ist im Kern ein vereinfachter Ausdruck dieser Identität. Die Kostüme der Helden in Pulp-Magazinen weisen hingegen nicht auf dieselbe vereinfachte Weise auf die Identität der Figuren hin. Das Gesicht von The Shadow – anhand dessen sich die Figur auf den Titelseiten von Pulp-Magazinen am besten identifizieren lässt – zeigt zu viele spezifische Details, um das Abstraktionslevel eines Chevrons zu erreichen, obwohl es durch die hervortretende Hakennase und die glühend roten Augen auf gewisse Weise abstrakt wirkt. Farben spielen eine entscheidende Rolle für die Ikonizität von Superheldenkostümen. In seinem Kapitel zum Thema Farben legt McCloud dar, dass die Primärfarben in Superheldencomics »alles andere als expressionistisch«, aber gerade dadurch umso ikonischer seien, und zwar aufgrund ihrer Schlichtheit. Mit Blick auf die Kostüme schreibt McCloud: »Da die Kostümfarben exakt dieselben geblieben sind, von Panel zu Panel, wurden sie in den Köpfen der Leser zum Symbol der jeweiligen Figuren« (188). Zur Veranschaulichung verwendet er das Bild eines Jungen, der einen Comic liest. Über dem Kopf des Jungen prangen zwei Sprechblasen, die jeweils drei horizontale Blöcke enthalten. In der ersten Sprechblase wird Batman durch Blöcke in den Farben blau, gelb und grau schematisch dargestellt, in der zweiten Hulk durch Blöcke in den Farben lila und grün. Die Eintönigkeit der Farben in traditionellen Vierfarbdruck-Comics hat zusätzlich »den Hang dazu, die Form von Objekten zu betonen«, wodurch die Gegenstände selbst vereinfacht werden (188). Diese Vereinfachung macht Superheldenkostüme abstrakter und ikonischer und sorgt für eine noch klarere Darstellung der Identität der Figur. Helden in Pulp-Magazinen, Groschenromanen und anderen Formen von Heldengeschichten werden nicht gleichermaßen durch abstrakte und ikonische Kostüme symbolisiert. Als ein identitätsstiftendes Element grenzt das Kostüm den Superhelden von diesen älteren Heldentypen ab; es war ein wichtiges Element in der Etablierung des Superheldengenres. Manche Pulp-Magazin-Helden sind die Ausnahme, die die Regel bestätigt, derzufolge ihre Kostüme ihre Identität nicht verkörpern. Sie stellen Umwege dar; im Allgemeinen ist die Verbindung von Innenleben, Biographie und Identität im Kostüm anders als bei den Superhelden nicht zu einer eigentlichen Konvention für die Mysterymen und sonstigen Helden der Pulp-Magazine geworden. Johnston McCulleys Figur Crimson Clown (1926-31) trägt ein Clownkostüm, während er kriminelle und boshafte reiche Männer ihrer unrechtmäßig erworbenen Schätze beraubt; sein Kostüm verdeutlicht also auf gewisse Weise seine Identität. Doch der reiche Dandy Delton Prouse, alias Crimson Clown, wuchs weder in einem Zirkus auf noch sprang ein Clown durch sein Fenster, als er über eine Verkleidung für seine Umverteilung von Reichtum nachsann. Er scheint keinen guten Grund für seine Clownidentität zu haben, aber McCulleys Figuren benötigten selten einen solchen Grund. Sowohl The Bat als auch The Black Bat trugen Fledermauskostüme. The Bat (Popular Detective 1934), der wahrscheinlich auch von Johnston McCulley erschaffen wurde, war Dawson Clade, ein Privatdetektiv, der fälschlicherweise eines Mordes beschuldigt wurde. Er täuschte seinen eigenen Tod auf dem elektrischen Stuhl vor

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und nahm daraufhin eine Fledermausidentität an, um Rache an jenen zu üben, die ihn verleumdet hatten. Er trug ein Fledermauskostüm und die berühmte Schlafgaspistole, wie es viele von McCulleys Helden taten. Die Idee für seine Identität kam The Bat, als er einen Weg suchte, sich in einen Schrecken für die Unterwelt zu verwandeln, und eine Fledermaus in sein Zimmer geflogen kam, deren Silhouette sich durch das Licht einer Lampe an der Wand abzeichnete. Er sah die Fledermaus und machte sie zu seinem Totem, wie es Bruce Wayne ein paar Jahre später tun sollte. The Black Bat (Black Book Detective #1, Juli 1939), der einen Monat nach Batmans erstmaligem Auftritt debütierte, trägt einen schwarzen Ganzkörperanzug und einen Umhang mit einer Fledermaushaube. Erblindet als Folge eines von Gaunern verübten Säureattentats, nimmt Staatsanwalt Tony Quinn die Fledermausidentität an, nachdem er seinen Körper aufs äußerste trainiert und seine Sehkraft in einer geheimen Operation wiedererlangt hatte. Seine Identität geht aus seiner Biographie hervor – das Gift machte ihn blind wie eine Fledermaus und seine Fledermaushaube drückt diese Identität aus. Im Wesentlichen ist sein Kostüm das eines Superhelden. Entscheidend ist aber, dass es keinen Chevron aufweist. Die Konvention des Mysteryman-Genres sah keine Verbindung des Charakters oder der Biographie mit dem Kostüm vor. Wiewohl bei Crimson Clown, The Bat und The Black Bat ihre Kostüme ihr Innenleben, ihre Biographie oder ihre heroische Identität schon vor dem Debüt von Superman ausdrückten, stellen sie doch Ausnahmen der allgemeinen Regel der Mysteryman-Kostüme dar.4 Im Gegensatz zu den Kostümen von Pulp-Magazin-Helden versinnbildlicht Supermans Kostüm seine Identität. Der Unterschied zwischen Superhelden und Mysterymen wird auf der Titelseite von Action Comics #1 sofort ersichtlich, wenn Superman – in Primärfarben – ein Auto über seinem Kopf hält und es in eine Böschung schleudert. Die »Lächerlichkeit« dieser Szene beunruhigte den Herausgeber, Harry Donenfeld, so sehr, dass er Superman von den Action-Comics-Titelbildern verbannte. Nach fünf Ausgaben brachte er ihn jedoch wieder zurück auf die Titelseite, weil Supermans Präsenz in den Comics die Verkaufszahlen deutlich gesteigert hatte (Benton, Golden Age 17). Die Covers von Action Comics #2 bis #5 zeigen sehr actionreiche Szenen, aber keines ist mit der beeindruckenden Qualität der Titelseite der ersten Ausgabe vergleichbar. Die auf diesen späteren Covers abgebildeten Figuren können alle bereits bestehenden Abenteuergenres zugeordnet werden und keine von ihnen trägt ein so auffälliges und besonderes Kostüm wie Superman. Science-Fiction- und Pulp-Magazine enthielten häufig haarsträubende Actionszenen, was auch auf frühe Comics zutrifft. Also muss die Lächerlichkeit von Action Comics #1, die Donenfeld frappierte, in etwas liegen, das es von den fantastischen Szenen der früheren Pulp-Magazine und Comics abhob. Wahrscheinlich war dies Supermans Kostüm in Verbindung mit dem Einsatz von Superkräften in einem zeitgenössischen Umfeld. Die abgebildete Handlung wurde nicht an einen exotischen Ort versetzt, wie etwa in den afrikanischen Dschungel oder in eine außerirdische Welt. Das Kostüm war also ein entscheidendes, frühes Erkennungszeichen des Genres. 4 | Eine überwältigende Mehrheit der Black-Book-Detective-Covers zeigen bezeichnenderweise nicht Black Bats Fledermauskostüm, sondern stattdessen nur eine angedeutete Zeichnung seines behelmten Kopfes, der eine Gewaltszene im Vordergrund beobachtet. Superheldencomics rücken typischerweise den Helden und sein Kostüm in den Fokus.

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Die Bedeutung der Kostümkonvention für die Etablierung des Superheldengenres wird ersichtlich anhand von Figuren, die zuerst ohne Kostüm oder mit einem Mysteryman-Kostüm auftraten, später aber reguläre Superheldenkostüme entwickelten. 1974 gründete Martin Goodman, ehemaliger Herausgeber von Marvel Comics, zusammen mit seinem Sohn Charles die Seaboard Publications. Sie führten eine kurzlebige Comicreihe unter dem Verlagsnamen Atlas ein. Vorerst plante Atlas, sich nicht ausschließlich auf Superheldencomics zu konzentrieren, und startete mit diversen Genres: Superhelden, Krieg, Horror, Science-Fiction, Privatdetektive, Abenteuer und jugendlicher Humor. Schon bald aber wurde Atlas stärker auf das kommerziell rentable Superheldengenre ausgerichtet. The Scorpion, erschaffen von Howard Chaykin, steht für diese Umstellung. Die Abenteuer von The Scorpion spielen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg und seine Figur war ein an Groschenromane angelehnter Glücksritter mit einigen Science-Fiction-Elementen. Er trat zuerst ohne Kostüm auf, war mit Pistolen bewaffnet und trug Lederjacke, Fliegerschal und Reiterstiefel. Nach der zweiten Ausgabe schied Chaykin aus und The Scorpion wurde gänzlich neu gestaltet, so dass er in der dritten und letzten Ausgabe in einem blauorange-farbenen Anzug mit Skorpion-Chevron auftrat. Ein weiterer Atlas-Titel, Targitt, begann als eine generische Geschichte über einen Mann, der Rache an der Bande nehmen will, die seine Familie getötet hat. Er trägt zunächst herkömmliche Kleidung. In der zweiten Ausgabe wird er zu »John Targitt, dem Menschenjäger«, der einen blauen Ganzkörperanzug, eine Maske und eine rot-weiß-blaue Zielscheibe als sein Kennzeichen trägt. Die Maske, die das Gesicht vollständig bedeckt, wird in der dritten und letzten Ausgabe zu einer Haube. Im Versuch, mit Marvel zu konkurrieren, passte sich Atlas zunehmend der gängigen Superhelden-Formel an – und tat dies vor allem durch die Kostüme.5 Den Sandman und den Crimson Avenger kann man einer zweiten Kategorie zuordnen, solchen Figuren also, die in Pulp-Heldenkostümen debütierten und erst später ein Superheldenkostüm trugen. Beide Helden hatten ihren ersten Auftritt in der Zeit zwischen den Debüts von Superman und Batman, noch bevor die Konventionen des Superheldengenres sich vollständig herausgebildet hatten und allgemein anerkannt wurden.6 Der Crimson Avenger trägt zunächst ein Kostüm, das denen von The Shadow und Green Hornet ähnelt. Es besteht aus einem Schlapphut, einer großen Karnevalsmaske und einem roten Umhang. In Detective Comics #44 (Oktober 1940) verändert sich sein Kostüm: Er trägt eine rote Strumpfhose unter einer gelben Sporthose, Stiefel, eine kleinere Maske, eine Kapuze mit einem Kamm von der Stirn bis zum Hinterkopf und einen Chevron mit einer Sonnenfinsternis. Er ist bei der Gründung der Seven Soldiers of Victory in Leading Comics #1 (Winter 1942) dabei, einem Superheldenteam, das aus dem Erfolg der Justice Society of America Profit schlagen sollte (Benton, Golden Age 169). Sein Schutzbefohlener und Sidekick, Wing, trägt ein ähnliches Kostüm, jedoch mit umgekehrter Farbgebung. 5 | Für eine exzellente Aufarbeitung der Geschichte des kurzlebigen Unternehmens, inklusive einer Galerie der Titelbilder aller von Atlas publizierten Ausgaben, siehe Vaughn, »Atlas Seaboard«. Die Ausgabe von Comic Book Artist vom Dezember 2001 widmet sich ebenfalls dem Unternehmen. 6 | Der Sandman debütierte wahrscheinlich in New York World’s Fair Comics of 1939 (April 1939), veröffentlicht vor Detective Comics #27. Vgl. Gentner, »Will the Real«.

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Sandman debütierte in einem doppelreihigen grünen Anzug mit einem lila Umhang, einem orangefarbenen Fedora und einer blaugelben Gasmaske.7 Als Jack Kirby und Joe Simon die Figur für Adventure Comics #69 (Dezember 1941) übernahmen, wurde sein Outfit in einen typischen gelblila-farbenen Superheldenanzug umgewandelt. Dass beide Figuren vor der vollständigen Etablierung des Superheldengenres debütierten, beide stilistisch zunächst an Pulp-Helden angelehnt waren (Benton, Golden Age 23, 27; Goulart, Encyclopedia 13, 318) und beide ihre Kleidung zugunsten derjenigen eines Standardsuperhelden aufgaben, weist darauf hin, dass sich DC Comics bewusst wurde, dass die Figuren mit ihren Superheldenpendants mithalten mussten und dass Kostüme das Superheldentum ausmachten.

G enrekonventionen Die drei Elemente – Mission, Kraft und Identität, kurz MKI – bilden den Kern des Genres. Aber es gibt Superhelden, die diesen drei Konventionen nicht ganz entsprechen, und es gibt auch in anderen Genres Helden, welche die drei Konventionen zwar erfüllen, aber nicht als Superhelden klassifiziert werden sollten. Diese offensichtliche Unbestimmtheit liegt in der Natur des Phänomens ›Genre‹. In seinem Versuch, die Gattung der romantischen Komödien zu definieren, zitiert Brian Henderson Ludwig Wittgensteins Analyse des Spiels, um zu belegen, dass universelle Gleichheit für eine Definition nicht erforderlich ist. In Philosophische Untersuchungen schreibt Wittgenstein: Denn, wenn du [Spiele] anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften sehen, und zwar eine ganze Reihe […]. Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die in einander übergreifen und sich kreuzen: Manchmal sind es übergreifende Gemeinsamkeiten, manchmal sind es detaillierte Gemeinsamkeiten […]. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort »Familienähnlichkeiten« (zitiert nach Henderson, »Romantic« 314).

Die Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Beispielen innerhalb eines Genres sind semantischer, syntaktischer und thematischer Natur und sie gehen aus einer Konstellation von Konventionen hervor, die normalerweise in einem Genre vorliegen. Wenn eine Figur im Wesentlichen der Mission-Kraft-Identität-Definition entspricht (selbst mit gewissen Abweichungen) und aufgrund hervorstechender Merkmale des Superheldengenres keinem anderen Genre zugeordnet werden kann, dann ist diese Figur ein Superheld. Der Hulk könnte vergleichsweise als Held ohne Mission angesehen werden. Manchmal wirkt er absolut unsozial und oft steht er im Konflikt mit der US-Armee, was aber im Silver Age nicht als korrupt oder bösartig galt, sondern durch das Wohl der Bürger motiviert wurde. Stan Lee erklärt, dass Frankensteins Monster Hulk 7 | Die Gaswaffe des Sandman weist ihn als Mysteryman aus und hat eine uralte Herkunft – uralt in den Maßstäben des populären Erzählens. Sie leitet sich von Green Hornet ab, geht ursprünglich aber zurück auf Johnston McCulleys Helden Crimson Clown (als Teil seines Arsenals ab 1928) und Black Star (seit der Schöpfung 1916). Eine kurze Geschichte der Waffe bietet Sampson, Dark Side 40.

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inspiriert hat: »Er wollte niemals jemandem wehtun; er tastete sich lediglich durch ein verworrenes zweites Leben, darum bemüht, sich selber zu verteidigen gegen die, die ihn zerstören wollten.« (Lee, Origins 75) Der Hulk war Lees und Kirbys Versuch, »einen Helden aus einem Monster« zu machen (75). Die Abenteuer des grünhäutigen Goliaths entspringen nicht der Motivation, das Böse zu bekämpfen oder die Welt zu verbessern. In frühen Abenteuern entscheidet sich Bruce Banner dazu, den Metal Master und die Invasion der Toad Men zu stoppen, während er in der Rolle des Hulk anbietet, mit den Truppen des Metal Masters zu kooperieren. Als er die Kontrolle über das Raumschiff der Toad Men erlangt, denkt er: »Mit diesem fliegenden Schlachtschiff kann ich die gesamte Menschheit auslöschen.« (Lee/Kirby, Hulk 42) Schließlich verliert der Hulk seinen Verstand und irrt auf dem Planeten umher, vorrangig um einen Platz zu suchen, an dem er alleine sein kann. Dabei wird er zufällig in die Machenschaften von Superschurken hineingezogen. Der Hulk kämpft hauptsächlich für seine Selbsterhaltung und tut dabei versehentlich Gutes. Er agiert wirkungsvoll als Superheld, doch nicht mit der Mission oder Motivation, dies zu tun. Seine Geschichten allerdings sind durchzogen von den Konventionen des Superheldengenres: Superschurken – Figuren wie The Leader oder Abomination; die Physik der Superhelden – die transformative Kraft von Gammastrahlen; beschränkte Autoritäten – General Thunderbolt Ross; ein Kamerad – Rick Jones; Superheldenteams – die Avengers und die Defenders; und so weiter. Diese Konventionen binden den Hulk an das Superheldengenre.8 Mit Blick auf die Konvention der besonderen Kräfte lässt sich anmerken, dass Batman ursprünglich als Superheld ohne Superkräfte konzipiert wurde (Kane/ Andrae, Batman and Me 99). Seine Mission, sich an Kriminellen zu rächen, ist offensichtlich, und seine Identität – repräsentiert durch seinen Codenamen und sein ikonisches Kostüm – kennzeichnet ihn als Superhelden. Obwohl er keine übermenschlichen oder übernatürlichen Kräfte im eigentlichen Sinne hat, erlauben es ihm seine enorme physische Stärke und seine mentalen Fähigkeiten dennoch, an der Seite seiner mächtigeren Kameraden das Böse zu bekämpfen. Wie der Hulk agiert auch Batman in einer Welt, die vor Superhelden-Konventionen strotzt: Superschurken – der Joker, der Pinguin; der hilfreiche Vertreter der Obrigkeit – Polizeichef Gordon; der Helfer – Robin; Superheldenteams – die Justice League und die Outsiders; und so weiter. Die Fantastic Four führen vor, wie Figuren trotz nicht vorhandener oder schwach ausgeprägter Elemente der Identitätskonvention dennoch als Superhelden definiert werden können. In der ersten Ausgabe der Fantastic Four sind die Konventionen der Kraft und der Mission offensichtlich. Nachdem ihr Raumschiff außerirdischen Strahlen ausgesetzt war, entwickelt jeder der vier eine Superkraft. Der Pilot des Schiffes, Ben Grimm, verkündet ihre Mission: »Wir müssen [diese Kräfte] benutzen, um der Menschheit zu helfen, richtig?« (Lee, Origins 32) Anschließend 8 | Der Hulk hat kein Kostüm, aber diese Funktion nimmt sein Körper ein – und das war so beabsichtigt, wie Stan Lee in seiner Autobiographie Excelsior! (Lee/Mair) rückblickend festhält. In Anbetracht des berühmten Zwists bezüglich Autorschaft und Copyright, den Lee mit den anderen beteiligten Personen gehabt hat, können seine Aussagen nicht für bare Münze genommen werden. Trotzdem weisen sie auf eine Idee hin – nämlich die Idee, den Hulk im Superheldengenre zu verorten –, welche wahrscheinlich tatsächlich bereits zum Zeitpunkt der Schöpfung da war.

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legen die Superhelden ihre Hände aufeinander und verkünden ihre Superheldenidentitäten: Mr. Fantastic, Invisible Girl, The Human Torch und The Thing. Diese Codenamen passen zu ihren neuen Kräften und drücken jeweils die Persönlichkeit der Figur aus.9 Die Geheimidentität und das Kostüm waren als Elemente der Identitätskonvention beim ersten Auftreten der Fantastic Four hingegen nicht vorhanden. Stan Lee beschreibt, dass er genau diese Aspekte von Superhelden abschaffen wollte:10 Ich war absolut entschlossen, eine Superheldenserie ohne Geheimidentitäten zu entwerfen. Ich weiß ganz sicher, dass ich, wenn ich selber eine Superkraft hätte, sie niemals geheim halten würde. Dafür bin ich zu sehr Angeber. Warum also sollten unsere fiktionalen Freunde anders sein? Unter dieser Voraussetzung war es also selbstverständlich, auf den Gebrauch von Kostümen zu verzichten. Wenn unsere Helden in der wahren Welt leben sollen, dann sollen sie sich doch auch so anziehen wie wahre Menschen. (Lee, Origins 17)

Die Geheimidentität ist eine typische, aber nicht notwendige Konvention des Genres. Ihre große Wichtigkeit für das Genre zeigt sich an ihrer durchgängigen Präsenz in Superheldengeschichten. Lee und Kirby waren auf der Suche nach Innovation und ignorierten deshalb jene Aspekte des Genres, die sie ihrer Meinung nach davon abhielten. Dennoch ist die erste Ausgabe der Fantastic Four eindeutig ein Superheldencomic, vor allem wegen der Kräfte der Figuren, der Mission, der Superheldenphysik und des Superschurken Mole Man, dessen Plan es ist, »alles zu zerstören, was auf der Erde lebt« (Lee, Origins 42). Und dies alles zunächst ohne Kostüme. Bezeichnenderweise erhielten die Fantastic Four, nachdem sie erst herkömmliche Kleidung trugen, bald aber doch Kostüme. Das Titelblatt der Ausgabe #3 kündigt an: »In dieser großartigen Sammlerausgabe werden Sie zum ersten Mal zu sehen bekommen: Das verblüffende Fantasti9 | Die Frage in What If #6 (Dezember 1977) lautet: »Was wäre, wenn die Fantastic Four andere Superkräfte hätten?« Der Gastgeber der Serie, der Watcher, erklärt, dass die spezifischen Kräfte, welche die Fantastic Four bei der Konfrontation mit kosmischen Strahlen erhielten, »nicht nur Folge eines Zufalls waren. Nein, die Effekte der kosmischen Strahlen wurden beeinflusst vom tiefsten Unterbewusstsein dieser fantastischen Vier: Susan Storm, die damals im Hintergrund blieb… kurz: die sozusagen unsichtbar war… Johnny Storm, ein Hitzkopf… und mit nostalgischem Verlangen nach einer früheren Heldenfigur namens The Human Torch… Reed Richards, der auf der Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis jede Strecke zu gehen bereit war… selbst bis zu den Sternen… und Benjamin J. Grimm, der immer schon das Bild eines harten und groben Wesens abgab« (Thomas et al., What If 10). Die alternativen Kräfte, die sie erhalten, beruhen auf Sue Storms Anpassungsfähigkeit (Dehnbarkeit), Johnny Storms Liebe für alles Mechanische (Verwandlung in einen menschlichen Roboter), Reed Richards großem Intellekt (Transformation in ein schwebendes Hirn) und Ben Grimms Vorliebe fürs Fliegen (Flügel). Obwohl diese Erklärung der spezifischen Kräfte der Fantastic Four wohl von Roy Thomas für diese Ausgabe erdacht wurde, belegt sie die Konvention der Verbindung zwischen Biographie, Persönlichkeit und Kräften, die für das Superheldengenre so typisch ist. 10 | Gemäß Gerard Jones Angabe in Men of Tomorrow hat Jack Liebowitz, Verleger von National Comics und Vertriebspartner von Marvel, Martin Goodman davor gewarnt, allzu direkt mit DC in Konkurrenz zu treten (295). Lees generische Innovationen könnten also ein Resultat von wirtschaftlichen Einschränkungen von Seiten Goodmans sein.

Coogan: Die Definition des Superhelden

Car, die bunten, neuen Kostüme der Fantastic Four und andere erstaunliche Überraschungen!« Stan Lee erinnert sich: Wir erhielten eine Menge Leserpost. Die Kinder schrieben, dass sie [die Fantastic Four] liebten. Wir wussten, dass wir Erfolg hatten, und wir waren jetzt auf dem richtigen Weg. Aber in praktisch jedem Brief stand: »Wir finden, dass dies die beste Reihe ist, wir werden sie immer kaufen. Bringen Sie mehr davon heraus, aber wenn Sie den Figuren keine bunten Kostüme geben, werden wir die nächste Ausgabe nicht kaufen.«11

Wie bei Scorpion und Crimson Avenger werden Figuren oft in Kostüme gesteckt, um ihre Zugehörigkeit zum Superheldengenre zu belegen. Der Codename, das andere Element der Identitätskonvention, ist bei fast allen Superhelden allgegenwärtig. Eines der seltenen Beispiele für einen Superhelden ohne Codenamen ist Arn »Iron« Monroe, Roy Thomas’ Post-Crisis-Ersatz für Superman in den Young All Stars, da Superman nicht während des Zweiten Weltkriegs auftreten durfte. Sogar Arn bekommt eine Art Superheldennamen, er wird als »Iron« und »Ironman« bezeichnet, eine Anspielung auf Marvels gepanzerten Helden. In den X-Men verwendet Jean Gray Codenamen – Marvel Girl und Phoenix – aber nach der ursprünglichen Phoenix-Saga nutzt sie meist ihren Geburtsnamen.12 Sidekicks haben etwas häufiger keinen seperaten Codenamen. Einige Sidekicks behalten ihre gewöhnlichen Namen, eine Tradition, die sich wahrscheinlich von Tonto und Kato herleitet, Helfer des Lone Ranger bzw. der Green Hornet. Captain Americas Partner Bucky, Crimson Avengers Diener Wing, Human Torchs Begleiter Toro, Star-Spangled Kids Chauffeur Stripsey und nicht zuletzt Davey, der Junge an der Seite von Magno the Magnetic Man – alle folgen sie diesem Muster. Seit The Shadow 1931 die Solo-Held-Magazine wieder beliebt gemacht hatte, benötigten Mysterymen und Superhelden aus Marketinggründen Codenamen. Sidekicks können den gleichen Namen für ihre Taten als Helfer von Superhelden und für ihr gewöhnliches Leben behalten, weil sie sekundäre Helden sind und nur selten ihr eigenes Magazin bekommen.

L uke C age : eine F allstudie Andere Definitionen des Superhelden ignorieren das Konzept der Gattungsunterschiede, also das Zusammenspiel von Konventionen, das Henderson als ›Familienähnlichkeiten‹ bezeichnet.13 Aber Gattungsunterschiede können dazu dienen, Superhelden von Nicht-Superhelden zu unterscheiden. Grundsätzlich gilt wie gesagt, dass eine Figur ein Superheld ist, wenn er grosso modo der MKI-Konvention entspricht und nicht einfach einem anderen Genre zugeordnet werden kann. Um11 | Zitiert nach Gross. Diese Forderung weist auf Schatz’ Konzept des Feedbacksystems hin, das im Genre zwischen Produzenten und Rezipienten existiert. 12 | Im Vorspann zu X-Men. The Animated Series und X-Men. Evolution wird sie beispielsweise schlicht als »Jean Grey« aufgeführt, während bei allen anderen Figuren jeweils der Codename genannt wird. 13 | Mit der kleinen Ausnahme der von Blythe und Sweet einbezogenen »anderen konventionellen Comicarten« (Blythe/Sweets 185), in denen Superhelden vorkommen.

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gekehrt ist eine Figur kein Superheld, wenn sie zwar grob den MKI-Bedingungen entspricht, aber fest einem anderen Genre zugeordnet werden kann. Typischerweise ist die Identitätskonvention (Codename und Kostüm) das bedeutendste dieser drei Ein- und Ausschlusskriterien. Luke Cage ist ein hervorragendes Beispiel für die Bedeutung von Gattungsunterschieden für die Definition eines Superhelden und dessen Verortung innerhalb des Genres.14 Luke Cage verfügt ganz eindeutig über Superkräfte. Er ist unverwundbar und äußerst kräftig. Aber eine solche Figur könnte auch Detektiv oder Sicherheitsagent in einer Science-Fiction- oder Horrorgeschichte sein und müsste nicht unbedingt als Superheld klassifiziert werden.15 Die Redakteure und Autoren bei Marvel Comics jedoch haben viel Sorgfalt darauf verwandt, Luke Cage im Superheldengenre zu platzieren, indem sie ihn in Superheldenkonventionen einbanden und diese besonders betonten. Diese Konventionen machen Luke Cage als Superhelden und nicht als Detektiv oder Abenteuerheld mit Superkräften kenntlich. Das Cover der ersten Ausgabe kündigt diese als »Sensationelle Ursprungsgeschichte« an. Superhelden haben immer einen Ursprung, und obwohl Figuren aus anderen Genres ähnliche Verwandlungen durchmachen, würden diese nicht als Ursprungsgeschichten bezeichnet werden. Lucas ist ein zu Unrecht verurteilter Häftling des Seagate-Hochsicherheitsgefängnisses, der freiwillig an einem medizinischen Experiment teilnimmt, das in typischer Manier schiefgeht und ihm Superkräfte verleiht. Nachdem er die Kräfte genutzt hat, um aus dem Gefängnis zu entkommen, führt ihn sein Weg zurück nach New York, wo er reflexartig die Flucht eines Kriminellen verhindert, welcher gerade ein Restaurant ausgeraubt hat. Der Wirt ruft: »Du bist dem Schuss ausgewichen und hast ihn wie ein echter Superheld festgenagelt!« (Thomas, »Out of Hell« 21) Dieser Kommentar bringt ihn auf die Idee für seine künftige Lauf bahn, worauf er in ein Kostümgeschäft geht, wo er sowohl ein Captain-America-Outfit als auch ein Captain-Marvel-Outfit als zu teuer ablehnt und sich für ein offenes gelbes Hemd, eine blaue Hose, blaugelbe Stiefel, ein Metall-Haarband, Metallarmschienen und einen Kettengürtel entscheidet. Dieses Kostüm versinnbildlicht nicht ikonisch seine Identität, so wie es bei SpiderMan oder Batman der Fall ist, sondern es soll als Kostüm erkannt werden; und die Ketten verweisen auf seine Biographie als Häftling (Goodwin/Tuska 7). Nachdem er sein neues Kostüm angelegt hat, grübelt Cage: »So! Das Kostüm ist ziemlich kitschig… Aber was soll’s? Alles Teil der Superheldenszene. So wird es ganz natürlich wirken, wenn ich meine Kräfte einsetze.« (Thomas, »Out of Hell« 22) Wie auf der Titelseite und bei der Erklärung seiner Taten wird das Kostüm hier als Genrekonvention dadurch unterstrichen, dass es als solche im Text selber identifiziert wird. 14 | Luke Cage war in vielerlei Hinsicht innovativ. Er hat eine Geheimidentität, doch er verwendet sie, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Er erfindet sein Alias »Luke Cage« anhand seines richtigen Namens, Lucas, und als Erinnerung an seine Zeit im Gefängnis. Erst später wird er zu Power Man und hat selbst dann keine Geheimidentität im klassischen Sinne, denn seine Visitenkarte gibt immer noch den Namen Luke Cage an. Seine Mission ist nicht selbstlos. Er übernimmt Fälle gezielt gegen Bezahlung, anstatt nur auf Verbrecherjagd zu patrouillieren. Er ist ein armer, schwarzer Mann – kein Weißer aus der Mittel- oder Oberschicht. 15 | Wie Angel, die Spin-off-Figur aus Buffy the Vampire Slayer. Angel wird zutreffend nicht als Superheld bezeichnet.

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Cages Superkräfte ermöglichten es ihm, aus dem Gefängnis auszubrechen, in welchem er für eine Tat inhaftiert war, die er nicht begangen hatte. Sein ehemals bester Freund, Willis Stryker, hängte ihm den Mord an einer Frau an, die beim Versuch, Stryker umzubringen, von einer rivalisierenden Gang getötet wurde. Um sich an Stryker zu rächen, verdingt sich Cage als Auftragsheld und beginnt, Strykers Schergen zu bekämpfen – ein bekanntes Motiv für Rachefantasien des Action-Abenteuer-Metagenres. Jedoch entspricht Stryker eher dem Bild eines Superschurken als dem eines gewöhnlichen Gangsterbosses; wodurch abermals die Zuordnung dieser Comicreihe zum Superheldengenre unterstrichen wird. Stryker wird durchgängig in einem grünen Schlangenlederanzug mit gelbem Hemd dargestellt und er nimmt den Namen »Diamondback« an. Er hat keine expliziten Superkräfte, hat sich aber selber das Messerwerfen beigebracht und besitzt spezielle Messer, die Gas versprühen, schädliche Schallwellen aussenden oder explodieren können. Während Cage anfänglich mit Kriminellen vom Typus ›Blaxploitation‹ konfrontiert ist, befindet er sich bald im Kampf mit Gegenspielern wie Mr. Luck, Lion-Fang und Stiletto, die Kräfte, Codenamen und Kostüme haben. Kostüme treten erneut als Element des Genres in den Vordergrund, wenn zwei von Cages Freunden – »Comanche« und »Shades« – aus dem Gefängnis ausbrechen, um sich am Gefängniswächter Rackham zu rächen, der wegen seiner Brutalität gefeuert wurde. Um während des Angriffs auf Rackham nicht erkannt zu werden, stehlen die entflohenen Sträflinge Kostüme. Comanche ist maskiert und trägt ein schwarzes Muskelshirt mit einem gelben »C«-Chevron, eine Lederhose und ein bunt gestreiftes Stirnband, das jenem ähnelt, welches er im Gefängnis trug. Das Kostüm wird ergänzt durch zwei riesige Messer, einen Bogen und einen Köcher voller Pfeile. Shades trägt ein weißes Hemd mit hohem Kragen, weiße Stiefel, eine blaue Hose, eine übergroße Sonnenbrille und zwei Pistolen in großen roten Holstern. Ironischerweise erkennt sie ein Polizeispitzel namens Flea wieder, obwohl die Kostüme gerade den Zweck haben, ihre Identitäten zu verschleiern. Flea hat zuvor etwas über sie in den Notizbüchern des Wissenschaftlers gelesen, der Cage transformiert hat. So erkennt er sie problemlos, »weil der eine eine dunkle Brille trug und der andere ein großes gelbes ›C‹ auf seiner Brust hatte« (Isabella et al. 3). In keinem anderen Genre würde es entflohenen Häftlingen, die ihre Identitäten verheimlichen wollen, in den Sinn kommen, solche Kostüme zu tragen. Indem Cage mit dem restlichen Marvel-Universum interagiert, kommt Kontinuität als eine weitere Konvention des Genres ins Spiel. Bereits existierende MarvelSuperschurken wie Owl oder diejenigen aus Ringmasters Circus of Crime treten Cage entgegen. Andere Marvel-Superhelden wie Iron Man, Black Goliath und die X-Men kommen in seinen Abenteuern vor. Weil der Daily Bugle nicht ausreichend über seine Taten berichtet, sondern sich nur den Heldentaten von Spider-Man und Captain America widmet, nimmt Luke Cage ab Ausgabe #17 den Spitznamen »Power Man« an. Er fragt sich: »Warum, verdammt? Was haben die, was ich nicht habe? Superkräfte? Nein – ich habe selber welche. Ein auffälliges Kostüm? Diese Lumpen werden schon ausreichen. Einen raffinierten Namen? Einen raffinierten… Namen? Ja, vielleicht ist es das. Vielleicht ist ›Auftragsheld‹ einfach nicht genug.« (Wein, »Rich Man« 1) Er kommt auf seinen Codenamen, nachdem er in ein hochentwickeltes gepanzertes Luftschiff eines Schurken einbricht und dieser ausruft: »Die Konstruktion dieses Schiffes sollte das, was Du getan hast, eigentlich unmöglich machen!« Cage antwortet: »Das ist nun mal Black Power, Mann.«

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Er stellt fest, dass »Power Man« sich gut anhört, und wählt den Namen für seine neue Identität. Demzufolge entsteht sein Codename aus einem Ereignis in seinem Leben, drückt seine Kräfte aus und transportiert einen politischen Subtext, der von Beginn der Serie an präsent war. Tatsächlich wird er auf der Titelseite von Ausgabe #17 (Februar 1974) als der »erste und immer noch größte schwarze Superheld von allen!« bezeichnet; und das, obwohl Black Panther ihm eindeutig bei Marvel vorausging, was vielleicht der Grund war, warum die Titelzeile von Ausgabe #19 (Juni 1974) dann lautete: »Amerikas erster und verblüffendster schwarzer Superheld«.16 Wie bei vielen anderen Elementen betonte Marvel hier die Konventionen des Genres, um Luke Cage – Hero for Hire in Abgrenzung zu anderen Genres als eine Superhelden-Reihe zu profilieren.

I nklusion und E xklusion Obwohl Gattungskonventionen herangezogen werden können, um Figuren als Superhelden zu definieren, können sie gleichermaßen dazu dienen, Figuren aus dieser Bezeichnung auszuschließen. Wenn eine Figur der Definition nach in gewissem Maße den Konventionen der Mission–Kraft–Identität entspricht, aber ganz klar und sinnvollerweise einem anderen Genre zugeordnet werden kann, dann ist sie kein Superheld. Üblicherweise ist die Identitätskonvention (Codename und Kostüm) das wichtigste der drei Distinktionsmerkmale. Auch wenn das Ein- und Ausschließen etwas von einem Gesellschaftsspiel hat, ist es dennoch wichtig, um das Superheldengenre als ein eigenständiges Genre zu definieren und nicht als einen Ableger von Science-Fiction oder Fantasy. Ein Paradebeispiel für diese gattungskonventionell bedingte Exklusion ist Buffy​ the Vampire Slayer. Oberflächlich betrachtet könnte Buffy als Superheldin angesehen werden. Sie hat die prosoziale selbstlose Mission, Vampire und andere Dämonen, welche die Menschheit bedrohen, zu bekämpfen und zu töten. (Genau genommen ist ihre Mission nicht universell – Buffy jagt nur Vampire, nicht Bankräuber oder Superschurken.) Sie hat Superkräfte; sie hat sich kämpferische Fähigkeiten antrainiert, die denen Batmans ebenbürtig sind und sie ist stärker als Riley Finn – ein Agent der Initiative des U.S. Militärs zur Dämonenbekämpfung, dessen Kraft chemisch gesteigert ist –, oder als Angel, ein übernatürlich starker Vampir. Buffy hat die Identität des Slayer. Jedoch kann diese Identität, anders als im Fall von Superman oder Batman, nicht vorbehaltlos als supheroerische bezeichnet werden. Ihre Identität ist nicht auf dieselbe Weise von ihrer alltäglichen Identität getrennt wie im Fall von Superman alias Clark Kent, dessen sanftmütige Persönlichkeit sich stark von Supermans heroischer Figur unterscheidet. Slayer ist keine öffentlich auftretende Figur im Sinne eines Superhelden; sogar die finanzstarke und staatlich geförderte Initiative hält Slayer für einen Mythos – ein Schreckgespenst für Dämonen. Buffy trägt kein Kostüm; und obwohl ein Kostüm nicht notwendig ist, ist es doch üblich im Genre.

16 | Selbst diese Bezeichnung ist nicht korrekt, da sowohl John Stewart, der schwarze Green Lantern (Green Lantern #87, Januar 1972), als auch Falcon (Captain America #117, Juni 1969) Luke Cage vorausgingen.

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Letztendlich, und das ist besonders wichtig für das Vorhaben, die Bedeutung von Gattungskonventionen für das Superheldengenre zu illustrieren, gehört Buffy zu einem Superheldentypus, welcher bereits vor den eigentlichen Superhelden existierte und im weitesten Sinne im Horrorgenre und dem Vampir-Subgenre zu verorten ist. Literarisch stammt die Vampirjägerin von Dr. Van Helsing in Dracula ab. Historisch stammt diese Art von Figur von echten Vampirjägern ab, wie dhampir, der Legende nach ein männlicher Nachfahre eines Vampirs, der besonders effektiv Vampire aufspüren und vernichten kann.17 Folglich sind die Geschichten gattungsmäßig vom Superheldengenre zu trennen, obwohl die Autoren von Buffy auf Superheldenkonventionen zurückgreifen. Es kann auch gezeigt werden, dass Genre-Distinktionen eine Rolle im Selbstverständnis spielen. Die Produzenten von Buffy the Vampire Slayer scheinen die Sendung nicht als Superheldenserie anzusehen.18 Sie bedienen sich ganz klar der Elemente des Superheldengenres und nehmen auf dieses Bezug. Sie beziehen sich auch auf Scooby Doo und die Serie entspricht auch dem Scooby Doo-Schema.19 Noch bezeichnender ist vielleicht, dass Buffy eine Ursprungsgeschichte hat, die der einer Superheldin entspricht, sie aber nicht als solche bezeichnet wird, wie es in Superheldencomics üblich ist. Dieses Fehlen einer Identifikation mit dem Genre bekräftigt, dass Buffy keine Superheldin ist.20 17 | Vgl. die Lemmata dhampir und vampire hunter in J. Gordon Meltons The Vampire Book. 18 | An der San Diego Comic-Con 2010 traf ich bei der Nerd Machine Party auf Joss Whedon und fragte ihn, ob er Buffy als Superheldin bezeichnen würde. Er fragte mich nach meiner Definition, ich erklärte sie ihm kurz anhand meiner generischen Unterscheidungsdefinition gemäß der Trias Mission-Kraft-Identität und ging auf den Unterschied zwischen einem Superhelden und einem herausragenden Helden ein. Er antwortete: »Ich stimme Ihnen zu. Man kann sich nicht wie Buffy verkleiden«, womit er einräumte, dass Buffy nicht der Kostümkonvention des Superheldengenres entspricht und dass sie keine Superheldin ist, sondern eine herausragende Heldin. 19 | Vielleicht gäbe es passendere Begriffe für dieses Mystery-Schema. Es ist ein gut wiedererkennbares Schema, was sich daran zeigt, dass es parodiert wird. Parodien sind beispielsweise in Wayne’s World 2 und in der Episode »KoRn’s Groovy Pirate Ghost Mystery« von South Park zu finden. 20 | Wie mit Buffy the Vampire Slayer verhält es sich auch mit Dark Angel. Max hat eindeutig Superkräfte. Ihre Mission ist jedoch zu individualistisch und nicht prosozial genug, um als Mission einer Superheldin betrachtet zu werden. Ihr Hauptziel ist es, sich mit den anderen Transgenen zu vereinen und die genetisch optimierten Kinder, die durch das geheime Regierungsprogramm Manticore gezüchtet werden, zu beschützen. Sie unterstützt Logan in seinem Cyber-Journalismus-Projekt Eyes Only, allerdings im Gegenzug für seine Hilfe bei der Suche nach ihren Geschwistern, sowie aus romantischen und finanziellen Beweggründen. Anders als der Titel Dark Angel es vermuten lässt, hat sie keine Superidentität. Der Begriff »Dark Angel« wird nie im Laufe einer Episode erwähnt. Sie trägt eine Art Kostüm, wenn sie Einbrüche begeht, einen schwarzen Ganzkörperanzug, aber dieses Outfit spiegelt weder ihre Identität wider, noch stellt es etwas Außergewöhnliches dar. Vielmehr handelt es sich um eine praktische Entscheidung für Kleidung, die sich für Einbrüche und körperbetontes Kämpfen eignet. Außerdem: Sie wird zwar mit Manticore-Führungskräften und genetisch optimierten Agenten konfrontiert, aber einem Superschurken vom Typus ›invertierter Superheld‹, der ein explizites Kennzeichen des Superheldengenres wäre, begegnet sie nie. Und

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Aber dennoch ist Buffy eine herausragende Heldin, wie auch andere Genrefiguren mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, etwa The Shadow, Phantom, Beowulf oder Luke Skywalker. Sie sind gewöhnliche Menschen und gleichzeitig den Protagonisten von realistischeren fiktionalen Texten weit überlegen. Wenn sie als herausragende Helden, super heroes, bezeichnet werden, wird super als Adjektiv verwendet, welches das Wort hero genauer bestimmt; aber sie sind keine Superhelden, das heißt keine Protagonisten in Erzählungen des Superheldengenres. Die Abgrenzung lässt sich gut mittels Nothrop Fryes Theorie der Modi veranschaulichen. Frye beschreibt ein Klassifizierungssystem für Erzählliteratur »nach der Handlungsmacht des Helden, welche größer als, kleiner als, oder in etwa gleich groß wie die unsrige sein kann« (33). Seinem Schema zufolge ist ein Sagenheld »anderen Menschen und seiner Umwelt kategorisch überlegen« und ein göttliches Wesen. In der Romanze ist der Held »anderen Menschen und seiner Umwelt graduell überlegen«, wird aber als Mensch identifiziert und »bewegt sich in einer Welt, in welcher die Naturgesetze teilweise suspendiert sind« (33). Die anderen Kategorien sind der höchst mimetische Modus – der Held, ein Anführer, ist »anderen Menschen graduell überlegen, nicht aber seiner natürlichen Umgebung«; der geringfügig mimetische Modus – der Held ist »einer von uns« und »weder den Menschen noch seiner Umgebung überlegen«; und der paradoxe Modus – der Held ist »uns in Kraft oder Intelligenz unterlegen« (33, 34). So betrachtet sind Helden, welche ›super‹ sind – alle jene Figuren, welche als großartige Helden bezeichnet werden, aber nicht den eben ausgeführten Gattungskonventionen des Superheldengenres entsprechen – Helden von Romanzen. Aber diese Figuren als Romanzenhelden zu bezeichnen, wäre wegen der heutigen Verwendung von Romanze – Erzählungen über Paare, die in ihren Beziehungen allen möglichen Hindernissen trotzen – irreführend; stattdessen ergibt es mehr Sinn, sie als herausragende Helden zu betrachten. Eine nützliche Analogie ist, dass Held sich zu herausragender Held so verhält, wie Model zu Supermodel. Ein herausragender Held ist ein Held, welcher besser oder überlegen ist (vor allem im Hiblick auf physische Fähigkeiten), so wie ein Supermodel anderen Models überlegen ist (vor allem im Hinblick auf Attraktivität nicht zuletzt ist sie eine Science-Fiction-Superfrau in der Tradition der Sci-Fi-Superhelden, die auf Frankenstein zurückgeht. Wie die Kreatur wurde sie in einem Labor erschaffen und entkam der Kontrolle ihrer Schöpfer, um allein ein sinnstiftendes Leben zu führen. Die Staffel aus den Jahren 2001-2002 hat diese Verbindung betont, da die Transgenen, die Max aus Manticore befreit hat, zunehmend in Konflikt mit den »Normalen« geraten, die sie hassen und fürchten. Zusammen mit dem Homo Superior ficht Max einen evolutionären Kampf aus gegen den Homo Sapiens – einen Kampf, der an ähnliche Schlachten in Food of the Gods und Odd John erinnert. In Bezug auf die Genrezugehörigkeit von Dark Angel ist die Episode »I and I am a Camera« vielleicht die aufschlussreichste. Max trifft sich mit dem Street Sweeper, der sich direkt als Superheld vorstellt und eine selbstlose, prosoziale Mission, Superkräfte, eine Superidentität und eine Art Kostüm hat. Während er Hausmeister bei der NASA war, stahl der Street Sweeper ein Exoskelett, das seinen Beinen große Kraft verleiht und ihn sehr hoch springen oder sehr hart treten und Wände hochklettern lässt. Der Street Sweeper ist etwas verrückt, und Max distanziert sich von ihm und seiner Ansicht, dass mit großer Macht große Verantwortung einhergehe. Es scheint, als wollten die Produzenten mit dieser Folge explizit ihre Ablehnung einer Beschreibung von Max als Superheldin zum Ausdruck bringen.

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und Charisma).21 Die Unterscheidung von herausragender Held [super hero] und Superheld [superhero] ist im Englischen analog zu derjenigen von every day (d.h. täglich) und everyday (d.h. alltäglich). Man kann alltägliche Kleidung tatsächlich täglich tragen; die beiden Begriffe sind verwandt, aber nicht identisch. Die Unterscheidung wird schwammig, wenn es um Figuren anderer Genres geht, welche sich im Superheldenuniversum bewegen. So tut sich zum Beispiel Oberspion Nick Fury im Kampf gegen das Böse öfter mit Figuren wie Captain America, Spider-Man oder The Thing zusammen, die klar als Superhelden definiert sind. Seine Mission ist klar abgeleitet vom Namen der Spionageabwehragentur, deren Anführer er ist. Es handelt sich um S.H.I.E.L.D.: Supreme Headquarters, International Espionage Law-Enforcement Division.22 Er hat keine Superkräfte, wenngleich eine andere Figur mit Zugriff auf sein Waffendepot und derselben Ausrüstung als Superheld agieren könnte. Er hat keine Geheimidentität und kein Kostüm, welches eine solche Identität versinnbildlichen könnte. Obwohl er regelmäßig Antagonisten innerhalb des Marvel Universums bekämpft, sind diese Gegner üblicherweise traditionelle Spione, die meist ähnlich aufgebauten Organisationen angehören, etwa Hydra oder Advanced Idea Mechanics. Oft tragen diese Spione Kleidung, welche mehr derjenigen von Klan-artigen Bösewichten in Pulp-Magazinen ähnelt als derjenigen von Superschurken in Superheldengeschichten. Nick Fury passt gut in das Geheimagenten-Genre, dessen Wurzeln bis zu Figuren wie Operator #5 und die Diplomatic Free Lances im frühen 20. Jahrhundert zurückreichen. Ein drittes Beispiel ist der Raumfahrer Adam Strange von DC-Comics, welcher ins Superheldengenre zu passen scheint, da er zwar kein Mitglied, aber gelegentlich ein Verbündeter der Justice League of America ist. In dieser Hinsicht ist er verwandt mit »Kumpanen« wie Jimmy Olsen oder Snapper Carr, welche Superhelden begleiten und ihnen sogar helfen, Bösewichte zu bekämpfen, selbst aber keine Superhelden sind. Adam Stranges Mission ist es, seine Wahlheimat Rann vor außerirdischen Eindringlingen und anderen Bedrohungen zu beschützen. Sein Jetpack und seine Strahlenkanonen lassen ihn zwar besonders wehrhaft erscheinen, aber dennoch hat er keine andere Identität als jene, mit der er geboren wurde. Sein rotweißer Raumanzug spiegelt nicht seine Identität wider und fällt zwischen den futuristischen Bekleidungen der Bewohner von Rann nicht sonderlich auf. Fast noch entscheidender ist, dass Adam Strange klar dem Science-Fiction-Genre zugeordnet werden kann und von derselben Machart wie John Carter, Buck Rogers und Flash Gordon ist. Wie diese drei Helden findet sich Strange in einer seltsamen, weit entfernten Welt wieder, in welcher er überirdische Monster, Wahnsinnige und Despoten bekämpfen muss und sich in eine schöne Jungfrau verliebt. John Constantine alias Hellblazer ist ein aufrichtiger Ermittler grauenhafter, teils übernatürlicher Vorfälle und trägt einen Trenchcoat, ähnlich wie der frühere DC-Held Doctor Occult, beides Figuren aus H. P. Lovecrafts Erzählungen. Anders ausgedrückt: Er ist ein privat operierender Geheimagent. Er existiert im DC-Universum und kommt daher regelmäßig in Kontakt mit Superhelden. Wie bei Nick Fury und Adam Strange könnte John Constantines Rolle im Superheldenuniversum den Schluss nahelegen, dass er auch ein Superheld ist. Aber ihn als Super21 | Mein Dank gebührt Joseph Witek für die Idee von hero/super hero – model/supermodel. 22 | 1991 wurde das Akronym neu interpretiert als Strategic Hazard Intervention Espionage Logistics Directorate.

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helden zu bezeichnen, würde der Konvention der Kontinuität zu große Bedeutung zuschreiben und die Konventionen der Mission, Kraft und Identität unterschätzen. Anders gesagt: Ihn als Superhelden zu bezeichnen, würde die bedeutende Rolle dieser Gattungskonventionen ignorieren. Was hier übersehen wird, ist die Eigenart des Genres, Figuren mit einzubeziehen, die Genres kreuzen oder sich an der Grenze zwischen dem Superheldengenre und einem anderen Genre befinden. Man könnte argumentieren, dass man Buffy, Adam Strange und John Constantine als genreübergreifende bzw. zwischen den Genres liegende Superhelden bezeichnen müsste, da Buffys Abenteuer wesentliche Elemente des Superheldengenres aufweisen oder weil Strange und Constantine sich im DC-Universum bewegen. Man könnte aber ebenso argumentieren, dass sie wegen ihrer starken Verbindung zu anderen Genres gegen eine solche Beschreibung immun seien. Wie bereits erörtert wird die Konvention der Identität oft verwendet, um zu entscheiden, ob eine Erzählung, die Elemente des Superheldengenres enthält, dem Superheldengenre oder eben einem anderen Genre zugeordnet werden soll. Die hier genannten Helden erfüllen jedoch nicht die Konvention der Identität. Starke Identitätskennzeichen sind das aussichtsreichste Mittel, eine Erzählung dem Superheldengenre zuzuordnen, wenngleich diese Kennzeichen durch die Präsenz weiterer Genrekonventionen gestützt werden müssen. Die erfolgreichste Superheldencomicserie, die Genregrenzen überschreitet, ist Legion of Super-Heroes, welche das Superhelden- mit dem Science-Fiction-Genre vermischt. Sie spielt im dreißigsten Jahrhundert und ist ausgestattet mit futuristischen Technologien, Raumfahrt, Aliens, anderen Welten und einer Reihe weiterer Science-Fiction-Elemente. Die Häufigkeit und Prominenz dieser Elemente verortet die Serie im Science-Fiction-Genre. Sie ist aber auch ganz klar ein Superheldencomic, wie der Titel schon sagt. Die Figuren haben alle Superkräfte, tragen Kostüme, haben Codenamen; das Ziel der Gruppengründer war es, die legendären Helden des 20. Jahrhunderts, Superboy und Supergirl, zu imitieren. Der Phantom Rider (ursprünglich Ghost Rider, ein 1967 gestartetes Revival des Ghost Rider von Magazine Enterprises aus den 1950er Jahren) überschreitet die Grenze zwischen dem Superhelden- und dem Westerngenre. Er hat keine besonderen Kräfte, bekämpft aber genauso wie der Lone Ranger Verbrechen an der Grenze und trägt ein eindeutiges Superheldenkostüm, was ihn wiederum von letzterem unterscheidet. Ohne dieses Kostüm – ein weißes, lumineszierendes Outfit mit einer Maske – würde er klar als typischer Westernheld wie Ringo the Kid oder Kid Colt betrachtet. Aber gelegentlich sind seine Feinde Schurken mit Codenamen und Kostümen23 und können daher sozusagen als invertierte Superhelden gelten, eines der klarsten Kennzeichen des Superheldengenres.24 Außerdem wurden die

23 | In Ghost Rider #4 (April 1975) kommt es zum Duell zwischen Ghost Rider und StingRay, dem ortsansäßigen Apotheker, der ein blau-rotes Tenue trägt und eine Maske auf dem Gesicht. Laut dieser Geschichte war er unter dem Spitznamen The Scorpion bekannt, als er gegen Rawhide Kid kämpfte (Rawhide Kid #57). Das letzte Panel kündigt die Rückkehr der Tarantula an. Der Titelheld wurde in den 1980er Jahren in Phantom Rider umgetauft, aufgrund der potentiellen rassistischen Assoziationen mit »night rider«. 24 | Ein Superschurke vom Typus ›invertierter Superheld‹ entspricht der Definition eines Superhelden, hat aber eine umgekehrte Mission, eine, die selbstsüchtig und unsozial ist.

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Abenteuer des Phantom Riders nachträglich in das Marvel-Universum integriert – eine durch den Verlag vorgenommene Genrezuordnung. Ka-Zar ist ein etwas problematischerer Fall als Adam Strange oder Nick Fury. Obwohl er ganz klar ein Held aus dem Dschungel ist, hat er einen ähnlichen, aber noch direkteren Kontakt zu Superhelden und Bösewichten als Strange und Fury. Im Wesentlichen ist er ein verschiedene Genres überschreitender Abenteuerheld, kein Superheld. Ka-Zar wurde 1936 als eine Pulp-Kopie von Tarzan geschaffen; da Marvel aus der Zeit als Timely die Rechte an der Figur behalten hatte, konnten sie ihn später ins Marvel-Universum integrieren (X-Men #10, März, 1965). Wie der Sub-Mariner und Atlantis kämpft Ka-Zar dafür, das Savage Land von Einflüssen der Außenwelt freizuhalten. Seine physischen Fähigkeiten erlauben es ihm, auf gleicher Ebene mit Superhelden wie den X-Men, Spider-Man und Daredevil zu agieren. Ka-Zar weist Aspekte vieler Genres auf, kann aber auch an der Grenze zwischen dem Dschungel- und dem Superheldengenre verortet werden. Der Punisher begann als Ordnungshüter, der Kriminelle tötete, aber entwickelte sich nach und nach zu einem Superhelden, als er beim Publikum Anklang fand. Er passt in das Schema des »Aggressors« (Kettredge xxix).25 Anders als viele seiner Art arbeitet er nicht für eine Regierungsstelle. Mit dieser Unabhängigkeit bewegt er sich in Richtung der Superhelden. Er hat keine Superkräfte, aber seine Waffen und seine physischen Fähigkeiten lassen ihn an der Seite von Superhelden wie Spider-Man agieren. Wie im Fall von Batman entsteht der Antrieb für das Umsetzen seiner Mission daraus, dass seine Familie von Kriminellen getötet wurde. Er erfüllt die Konvention des Kostüms und hat einen Codenamen im Sinne der Identitätskonvention. Innerhalb des Marvel-Universums ist er relativ deutlich als Superheld einzuordnen, aber mit der Zugehörigkeit zum Heldentyp des »Aggressors« entfernt er sich vom Kern der Superheldenformel. Als er in den 1980er Jahren erfolgreich wurde und in mehreren Serien auftrat, wechselte er zwischen dem Aggressorenschema und dem Superheldengenre hin und her, je nachdem, ob er in seinen eigenen Comics auftrat oder einen Gastauftritt in Superheldencomics hatte. Das bedeutet, dass die in der entsprechenden Erzählung vorherrschenden Konventionen bestimmten, ob er als Superheld bezeichnet wurde oder nicht. Diese Fähigkeit, zwischen den Genres hin und her zu wechseln, kennzeichnet die jüngste Version von Shang-Chi. Ursprünglich entstanden in Master of Kung-Fu, war Shang-Shi ein Kampfsportheld, der in einem älteren Pulp-Stil-Universum als der Sohn und Feind von Dr. Fu Manchu auftrat. Als er aber für die Marvel-KnightsReihe wiederbelebt wurde, wurde er zu einem Superhelden, wenngleich er durch Diese Charaktere können sich verbessern und zu Superhelden werden, wie z.B. Hawkeye, The Scarlet Witch oder Quiksilver. 25 | Der »Aggressor« ist eine »aktive Kraft im Kampf für moralische Ordnung. Sein Kreuzzug ist nicht Resultat eines besonderen Geheimnisses, sondern der plötzlichen Wahrnehmung, dass etwas Grundlegendes mit der Gesellschaft nicht in Ordnung ist – meist ausgelöst durch die Erfahrung, Opfer einer Gewalttat geworden zu sein. Seine Antwort darauf ist, die Frage nach individueller Schuld und Unschuld beiseitezulegen und unilateral gegen die generalisierte Quelle des gesellschaftlichen Missstands anzukämpfen« (Kettredge xxix-xxx). Kettredge bezeichnet Don Pendeltons Mack Bolan als den ersten umfassend verwirklichten »Aggressor«-Detektiv in War Against the Mafia (1969). Der Punisher ist lediglich die Übertragung des Henkers ins Superheldengenre.

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die Verlagerung des Schemas wieder in sein ursprüngliches Abenteuergenre zurückgeworfen werden könnte. Shang-Chi könnte metaphorisch als Himmelskörper angesehen werden, der ein Genre wie eine Sonne umkreist. In Master of Kung-Fu war er ein Pulp-Magazinheld, aber die Anziehungskraft der Marvel Knights-Serie zog ihn näher an die Sonne des Superheldengenres heran. Ein Sonnensystem ist eine nützliche Metapher für Figuren wie den Punisher und Shang-Chi, die immer wieder das Genre wechseln. Im Zentrum des Genresystems ist das Schema am heißesten und die Gravitation am stärksten, so dass das Schema und die Formel stark und konsistent bleiben. In genügender Entfernung – wie im Fall der Erde und des Mars − schaffen das Licht und die Wärme der Sonne ein Umfeld, welches Leben und Weiterentwicklung ermöglicht. Wenn man sich weiter weg zu den Gasriesen bewegt, verändert sich die Bedeutung des Genres und hat weniger Einfluss (so wie Jupiter auf seine Monde mehr Licht wirft als die Sonne), aber die Erzählungen werden dennoch innerhalb des Genres verortet. Manche Kleinplaneten, wie Shang-Chi, befinden sich im freien Raum zwischen verschiedenen Sonnensystemen oder sind Teil eines anderen Systems, aber die Anziehungskraft von Autoren und Verlegern zieht sie aus ihren Sonnensystemen heraus in dasjenige der Superhelden.26 Man-Thing und Swamp Thing stellen eine ganz eigene Herausforderung dar, was die Definition anbelangt. Durch seine eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten hat Man-Thing ganz klar den Charakter eines Monsters, welches unwissentlich Gutes tut. Er interagiert mit Superhelden, aber es kann nicht gesagt werden, dass er dies mit viel eigenem Willen tut, so dass nicht von einer Mission gesprochen werden kann. Er hat Superkräfte, aber keine zweite Identität. Sein menschliches Ich, Ted Sallis, wurde bei der Erschaffung des Man-Things zerstört; seine Verwandlung ähnelt daher eher einer Geschichte aus dem Horrorgenre als der überirdischen Verwandlung, als die die origin story eines Superhelden verstanden werden kann. Im Wesentlichen lässt er sich aufgrund seines Mangels an Willenskraft, der sich mit Hulks Fehlen einer Mission vergleichen lässt, außerhalb des Superheldengenres verorten, aber aufgrund seiner Partizipation am Marvel-Universum könnte man ihn an dessen Grenze verorten. Swamp Thing weist ähnliche Kräfte und Identitätsmerkmale auf wie ManThing, aber seine Kräfte nahmen zu, als Alan Moore die Figur von einem Menschen, dessen Körper die Eigenschaften des Sumpfes angenommen hat, zu einer Pflanze mit der Persönlichkeit einer toten Person umwandelte. Er besitzt die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und demnach das Potenzial für eine Mission. Je nach Interesse des Autors wird Swamp Thing dem Science-Fiction/Horror-Genre oder dem Superheldengenre zugeordnet. Anfänglich konnte er ganz klar Caweltis Metagenre der alternierenden Zustände zugeordnet werden, welches Horror mit einschließt (Adventure 47-49), mit einigen Komponenten des Abenteuer-Metagenres, wie etwa Superschurken und Rachefantasien. Mit der Zeit aber wurde Swamp Thing immer mehr in das DC-Universum integriert, musste sich kostümierten Gegnern stellen und mit anderen DC-Superhelden interagieren. Alan Moore wählte eine ursprüngliche, alles umspannende Horror-Atmosphäre, behielt aber Elemente des Superheldengenres bei, da er fasziniert war von den künstlerischen und erzählerischen Möglichkeiten des DC-Universums. 26 | Die Metapher geht auf einen Vorschlag von Randy Duncan zurück.

Coogan: Die Definition des Superhelden

Eine weitere Methode, das Problem von grenzüberschreitenden bzw. an der Grenze von Genres zu verortenden Figuren anzugehen, ist, sich Figuren anzuschauen, welche klar einem anderen Genre zugeordnet oder aus anderem Grund ganz klar nicht als Superhelden definiert werden können, sich aber innerhalb eines Superheldenuniversums bewegen. Der Kriminalbeamte Harvey Bullock arbeitet im Dienst der Polizei von Gotham. Er ist ein gewöhnlicher Mensch und entspricht dem Stereotyp des Polizisten als »wandelndes Pulverfass«. Wird er etwa plötzlich zum Superhelden, wenn er Batman bei einem Überraschungsangriff begleitet oder sogar einen Superschurken wie den Pinguin auf eigene Faust aufspürt? Macht es Ben Ulrich, Reporter für den Daily Bugle, automatisch zum Superhelden, dass er Informationen an Daredevil weiterleitet, welche diesem helfen, Kingpin ausfindig zu machen? Oder Willie Lumpkin, der Postbote, dessen Route am Baxter-Gebäude entlanggeht: Zählt seine Fähigkeit, mit den Ohren zu wackeln, als Superkraft, nur weil er mit den Fantastic Four befreundet ist und hie und da beim Austragen der Post einen Superschurken sieht? Sind diese Interaktionen genauso transformativ wie der Biss einer radioaktiven Spinne? Diese Fragen können natürlich leicht mit einem »Nein« beantwortet werden. Das Gleiche gilt für Figuren aus anderen Genres wie etwa Spione, Cowboys, Ritter und Ninjas, welche ins Abenteuer-Metagenre nach John Cawelti passen (Adventure 39)27 und manchmal in Superheldencomics vorkommen.28 Mit einem präzisen Blick auf Gattungskonventionen anderer Genres können wir diese Figuren aus dem Kreis der Superhelden ausschließen, obwohl sie die Mission und die Kräfte haben mögen, die ein Superheld braucht, und vielleicht sogar Elemente der Identifikationskonvention erfüllen. 27 | Cawelti bietet einen Rahmen für die Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen der Gemeinsamkeiten von Erzählungen. Er beschreibt zwar nicht genau das Muster, das ich im Folgenden ausführen werde; dieses basiert aber auf seinen Kommentaren. Die erste und größte Ebene ist das, was Cawelti als Archetyp bezeichnet. Er listet Abenteuer, Romantik, Mysterium, Melodrama und fremde Wesen oder Staaten auf. Ich bevorzuge hier den Begriff Metagenre wegen der häufigeren Verwendungen des Wortes Archetyp, vor allem im Anschluss an Joseph Campbells Arbeiten zum Mythos. Jedes Metagenre umschließt mehrere Genres. So schließt das Abenteuer-Metagenre die Gattungen des Krieges, des Western, des Superhelden, des Spions usw. ein, also Geschichten von der »Überwindung von Hindernissen und Gefahren sowie der Erfüllung einer wichtigen moralischen Mission« (Cawelti, Adventure 39). Jedes Genre umschließt mehrere Formeln. So soll der Westen sieben grundlegende Geschichtsformeln haben: Geschichten von der Union Pacific, von Custers Last Stand oder von Rache, die Ranch- und die Empire-Geschichten, die Outlaw- und die Marshal-Geschichten (Gruber 184-186). Die meisten Western können einer dieser Kategorien zugeordnet werden; einige Geschichten wie etwa Clint Eastwoods Unforgiven (1992) können keiner dieser Kategorien zugeordnet werden, gehören aber trotzdem zum Westerngenre. Einige Genres, wie etwa das der Superhelden, haben eine einzige Grundformel (das Sechs-Schritte-Modell nach Blythe/Sweet) und viele nicht formelgemäße Geschichten, die aber dennoch in das Genre passen. Wenn man sich diese Idee bildlich vor Augen führt, heißt das: In den Metagenre-Kreis passt eine beliebige Anzahl an Genre-Kreisen und in jeden Genre-Kreis eine beliebige Anzahl an Formel-Kreisen. 28 | Das heißt nicht, dass andere Heldentypen nicht als Grundlage für Superheldenidentitäten dienen können. Der Vigilante ist an einen Cowboy angelehnt und der Shining Knight an einen Ritter, und dennoch sind diese Figuren Superhelden.

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F a zit In diesem Aufsatz habe ich eine Definition des Superhelden zu plausibilieren versucht, die die Elemente der Mission, der Kräfte, der Identität und der Gattungskonventionen umfasst. Zweifelsfrei wurde der Superheld früher bereits ohne diese Definition untersucht, was die Frage aufwirft, warum wir sie überhaupt benötigen. Die Antwort auf diese Frage lautet, dass wir die Definition bereits haben und sie bereits angewandt wird. Meine Definition legt die bisher nicht explizit erwähnten Annahmen offen, welche der Superheldenforschung wie auch der Produktion von Superheldencomics im Allgemeinen zugrundeliegen. Wie das Urteil von Richter Learned Hand zeigt, existierte die Konvention von Mission–Kraft–Identität schon in der frühen Geschichte der Superhelden als wichtiges Definitionselement. Die Unterschiede der Gattungskonventionen beziehen sich nur auf die »Familienähnlichkeiten« mit anderen Genres, welche es ermöglichen, das Superheldengenre vom Rest des Abenteuer-Metagenres abzugrenzen. Ein anderer Beweis für die hier erläuterte Definition ist die Ähnlichkeit zwischen dem Modell der Zeitalter des Superheldencomics einerseits und den Stufen der Genreentwicklung nach Thomas Schatz andererseits. Schatz stellt in Hollywood Genres einen vierstufigen evolutionären Kreislauf für jedes Genre vor: Ein Gegenstand durchläuft eine experimentelle Phase, in welcher seine Konventionen abgegrenzt und aufgebaut werden, eine klassische Phase, in welcher die Konventionen ihr »Gleichgewicht« finden und von Künstlern und Publikum gleichermaßen verstanden werden, eine Phase der Verbesserung, in welcher bestimmte formale und stilistische Details verfeinert werden, und zuletzt die barocke (oder »manieristische«, oder »selbst-reflexive«) Phase, in welcher die Form und ihre Ausschmückungen hervorgehoben werden bis zum Punkt, an dem sie selber zum »Wesen« und »Inhalt« der Arbeit werden (Schatz 37-38).

Diese Phasen ähneln denen der verschiedenen Zeitalter des Superheldencomics: Golden, Silver, Bronze und Iron Age. Die Entwicklung der verschiedenen Phasen und Zeitalter umfasst nicht die Mysterymen-Pulps, welche ihre eigenen Entwicklungsphasen hatten. Das gleiche gilt auch für Science-Fiction, Legenden, Epik oder jene anderen Genres, deren Figuren als Kandidaten für das Superheldentum in Frage kämen, die aber wegen der in diesem Kapitel vorgestellten Gattungskonventionen doch nicht dem Superheldengenre zugeordnet werden können. Die Nähe von Schatz’ Theorie der Genreentwicklung zu den verschiedenen Zeitaltern des Superheldencomics stützt die Aussage, dass das Jahr 1938 der Beginn der Superhelden und des Golden Age war und sie sich innerhalb der Superheldencomics weiterentwickelt haben, was wiederum die Mission-Kraft-Identität-Definition auf Basis von Gattungskonventionen stützt. Diese ausführliche und detailreiche Debatte ist auch mit Blick auf das Studium von Genres an sich wichtig. Genreerzählungen gehören zu den bedeutendsten kulturellen Produkten, weil sie ihre ganz eigene Art haben, kulturelle Mythologie zu verkörpern und verbreiten (Cawelti, Adventure 35-36). Genres haben Grenzen. Mancherorts wie etwa bei den Superhelden sind diese recht eng, anderswo sind sie weiter gefasst, beispielsweise im Science-Fiction- oder dem Horrorgenre. In einem gut definierten Genre kann der Zusammenhang von Kulturindustrie und Publikumsgeschmack untersucht werden. Man kann es betrachten mit Blick auf

Coogan: Die Definition des Superhelden

die Vermittlung in kulturellen Konflikten und auf Spannungen, welche der Leserschaft als lebensweltlich relevant erscheinen. Ein weniger klar umrissenes Genre hingegen, in dem Figuren anderer Genres als Superhelden behandelt werden oder in dem darauf verzichtet wird, zwischen Genredefinition und metaphorischem Gebrauch von Superheld zu unterscheiden, lässt den Begriff unbrauchbar werden für Genrekritik und -analyse.29 Wir können eine Parallele zum Westerngenre ziehen. Wenn die Definition des Western auf Caweltis man-in-the-middle-Konvention (Six-Guns 74) beschränkt ist, sind sowohl Casablanca als auch Slingblade dem Westerngenre zuzuordnen, denn beide zeigen einen Mann, welcher zwischen Barbarei und Zivilisation steht und der die Werte der Zivilisation durch barbarische Brutalität schützt und vorantreibt. Wenn diese Definition sich folglich nur auf das Westerngenre bezieht, dann sind auch The Beverly Hillbillies und Frasier Western; dazu beinhalten beide Filme Figuren, die auf der Suche nach sich selbst von Ost nach West reisen – ein typisches Western-Merkmal. Wären diese Beispiele tatsächlich Western, würde die Kulturgeschichte des Westerngenres kollabieren, denn das weite Spektrum an Beispielen würde jegliche Analyse von Gemeinsamkeiten unterwandern. Eine nachlässige Definition des Superhelden macht es schwieriger, zu untersuchen, auf welche Weise das Superheldengenre kulturelle Mythologie verkörpert und erzählerisch kulturelle Konflikte und Spannungen hervorruft oder löst. Eine präzise Definition hingegen ermöglicht es Forschern, sich explizit auf das Genre zu konzentrieren, dieses von anderen Genres abzugrenzen und es mit ihnen zu vergleichen. Dieser Text soll eine Grundlage für das Studium von Superhelden bieten und dazu beitragen, in Zukunft mehr Forschung zu diesem Thema zu ermöglichen.

B ibliogr aphie Benton, Mike. Superhero Comics of the Golden Age. Dallas 1992. Blythe, Hal/Sweet, Charlie. »Superhero. The Six-Step Progression«, in: Browne, Ray B./Fishwick, Marshall (Hg.). The Hero in Transition. Bowling Green 1983, S. 180-187. 29 | Der Begriff Superheld wird oft für alle möglichen Figuren und Menschen verwendet, von Beowulf bis Luke Skywalker und von Tiger Woods bis Michael Jackson. Dies geht auf ein metaphorisches Verständnis des Begriffs zurück, womit man ausdrücken will, dass die Figur oder Person den anderen Individuen ihrer Art einen entscheidenden Schritt voraus sei – sei es im Epos, in der Science-Fiction oder im Sport. Diese metaphorische Verwendung des Begriffs hat ihren Ursprung in den Genreerzählungen. Das gleiche gilt auch für die Verwendung des Begriffs »Cowboy« als Referenz auf George W. Bush, denn diese Verwendung von Cowboy hat mehr mit dem Westerngenre zu tun als mit den tatsächlichen Kuhhirten aus dem 19. Jahrhundert. Die meisten Leute verstehen, dass dieser Gebrauch von Cowboy als Bezeichnung für George W. Bush eine Metapher ist, aber viele verstehen nicht, dass der Gebrauch von Superheld für Tiger Woods ebenfalls eine Metapher ist. Der Unterschied zwischen dem Erkennen von Cowboy als Metapher und dem gleichen Vorgang mit Superheld rührt daher, dass das Westerngenre in der Sekundärliteratur bereits prägnant definiert wurde, das Superheldengenre hingegen bis anhin nicht.

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Helden und Superhelden* Jeph Loeb und Tom Morris 1

Viele Autoren, Künstler und andere, die sich mit Superhelden beschäftigen, haben sich dem Zusammenhang zwischen Helden und Superhelden gewidmet. Zum einen weil wir glauben, dass die Erzählungen über diese Figuren unsere tiefsten Hoffnungen, Ängste und größten Sehnsüchte und Aspirationen widerspiegeln. Zum anderen weil sie uns dabei helfen können, unsere schlimmsten Albträume zu verarbeiten. Sie legen Fragen offen, denen wir uns in der Zukunft stellen werden müssen, und sie werfen ein neues Licht auf unseren derzeitigen Zustand. Und all dies tun sie auf eine Art und Weise, welche uns in unseren eigenen Leben eine klare Richtung und mehr Durchhaltevermögen gibt.

H elden und S uperhelden definieren Beginnen wir mit einer einfachen Frage: Was ist ein Superheld? Was unterscheidet einen Superhelden von einer gewöhnlichen Person? Nun, zunächst einmal tendieren sie dazu, etwas eigenartig auszusehen. Manche tragen Umhänge, ein Kleidungsstück, das seit der Zeit von Graf Dracula nur sehr wenige getragen haben. Manche von ihnen rüsten ihre Mehrzweckgürtel mit coolen Gerätschaften aus. Einer hat Krallen aus Metall, die aus seinen Händen hervorschießen. Ein anderer ist tiefgrün und man möchte nicht in seiner Nähe sein, wenn er wütend ist. Viel Latex ist im Spiel und Fortbewegung weit über dem Erdboden ist sehr alltäglich. Mit einem Bindestrich versehene oder aus mehreren Teilen bestehende Namen, die mit »man«, »woman«, »boy« oder »girl« enden, scheinen ebenfalls ein eindeutiges Erkennungsmerkmal zu sein. In aller Regel haben Superhelden Kräfte und Fähigkeiten, welche weit über dem Niveau Normalsterblicher liegen. Und alle kämpfen sie für Gerechtigkeit, verteidigen die Schutzlosen, helfen den Hilflosen und überwinden das Böse mit der Kraft des Guten. Manche halten das Konzept des Superhelden für problematisch. Nehmen wir an, man versteht einen Helden als eine Person, die Leib und Leben für andere riskiert und das Präfix »super« im Namen hat, was auf die Existenz von besonderen *  Loeb, Jeph, und Tom Morris: »Heroes and Superheroes.« In: Tom Morris und Matt Morris (Hg.): Superheroes and Philosophy. Truth, Justice, and the Socratic Way. Chicago: Carus 2005. S. 11-20. Übersetzt von Yvonne Knop.

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Kräften hinweisen soll. Muss man dann nicht annehmen, dass ein Individuum umso weniger heroisch ist, je mehr übermenschliche Eigenschaften es hat? Und umgekehrt: Je heroischer ein Individuum ist, desto weniger »super« darf es sein. Die Argumentation ist simpel. Je stärker und übermenschlicher eine Person ist, desto weniger riskiert sie, wenn sie das Böse bekämpft oder anderen hilft. Was ist heroisch daran, einen bewaffneten Raubüberfall zu stoppen, wenn deine Haut kugelsicher ist und deine Stärke die eines gewöhnlichen oder sogar außergewöhnlichen Straßengangsters bei Weitem übertrifft? Taten sind nur heroisch, wenn man eine Menge verlieren kann, falls es schiefläuft. Das ist bei übermenschlich starken und fähigen Superhelden aber nicht der Fall. Ist dieses Argument korrekt, wäre das Konzept des Superhelden im schlimmsten Fall nicht mehr als ein Oxymoron, in sich widersprüchlich und unlogisch. Im besten Fall würde aus dem Argument folgen, dass die einzigen Individuen mit Superkräften, welche das Böse bekämpfen und im gängigen Sinne als heroisch bezeichnet werden könnten, jene sind, die sich am unteren Ende des Kräftespektrums bewegen, jene, die verletzlich, nur wenig geschützt sind. Zum Beispiel würde Superman auf Basis seiner alltäglichen Taten nicht als heroisch bezeichnet werden – es sei denn, er stößt auf Kryptonit. So verlockend diese Argumentation auch sein mag, sie ist bloß das Ergebnis eines falschen Verständnisses des Heroischen. Der Oxford English Dictionary definiert »Held« als einen aus der griechischen Antike stammenden Begriff, der einen »Menschen mit übermenschlichen Fähigkeiten, der von den Göttern bevorzugt wird«, beschreibt. Die zweite Definition ist die des »erhabenen Kriegers« und die dritte die eines »Mannes, der aufgrund seiner Leistungen und edlen Eigenschaften bewundert wird«. Diese dritte Definition ist besonders interessant. Erfolge allein genügen nicht, um jemanden zu einem Helden zu machen. Die Person muss auch edle Eigenschaften haben. Schlägt man den Begriff »edel« nach, findet man Beschreibungen wie »von vornehmem Charakter oder mit hohen Idealen« und »moralisch erhaben«. Das Konzept des Helden ist eine moralische Kategorie. Die Idee eines Superhelden ist kein Oxymoron – ein Konzept, das aus zwei unvereinbaren Begriffen besteht. Es geht nicht um ein absolut unverwundbares Individuum, das für ein höheres Wohl riskiert, verletzt zu werden (was natürlich nicht passieren kann, da es unverwundbar ist). Darum geht es überhaupt nicht. Superhelden sind außergewöhnlich mächtige Personen, die aber auch mit Schwächen versehen sind, und deren nobler Charakter sie unglaubliche Taten vollbringen lässt. Aber treten wir einmal einen Schritt zurück und betrachten wir noch weiter, was grundlegend unter einem Helden verstanden wird. In fiktionalen Werken und der realen Welt gibt es viele Helden, die keine Superkräfte haben. Die Helden, die jeden Tag unter uns leben und arbeiten, sind Feuerwehrmänner und -frauen, Polizisten und Polizistinnen, Ärzte und Ärztinnen, Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger und Lehrerinnen und Lehrer. Menschen in diesen Berufsfeldern sind oft in der Lage, ihre natürlichen, egoistischen Bedürfnisse und Interessen zurückzustecken und die Nöte anderer in den Vordergrund zu stellen. Sie kämpfen für Gesundheit, Sicherheit, Wachstum und Spitzenleistungen. Sie sind die Helden des Alltags, deren Opfer und noble Taten uns allen zugutekommen. Doch nur selten denken wir an diese Menschen als Helden. Ihr Beitrag ist so alltäglich und so normal für uns, dass wir ganz leicht dessen besondere Bedeutung übersehen. Wir beachten und erkennen diese Personen nur als heldenhaft, wenn

Loeb/Morris: Helden und Superhelden

sie etwas tun, das deutlich über ihre gewöhnlichen heroischen Taten hinausgeht und unsere Aufmerksamkeit auf besonders dramatische Weise fesselt. Hätten wir aber tiefere Einsichten, dann würden wir ihr alltägliches Handeln als die Heldentat ansehen, die es tatsächlich eigentlich oftmals ist. In einer Kultur, welche von Egoismus und Maßlosigkeit geprägt ist, wo Menschen mehr dazu geneigt sind, zuzuschauen als teilzuhaben, und wo typischerweise Bequemlichkeit größer geschrieben wird als der Wille zur Veränderung, kann es leicht passieren, dass wir vergessen, welche Motivation hinter dem steckt, was wirklich heroisch ist. Wir haben oft den Gedanken, dass »sie den Job machen, weil sie es gerne tun« und wir trösten uns damit, dass sie aus diesem Grund »nicht besser als der Rest von uns sind«. Eines der Probleme, die J. Jonah Jamison, Chefredakteur der New Yorker Boulevardzeitung Daily Bugle, mit Spider-Man hat, ist, dass die bloße Existenz eines Menschen, welcher Teile seines Privatlebens opfert, um ihm unbekannte Menschen zu retten und ihnen zu helfen, eine öffentliche Rüge für den Rest von uns ist. Eine Rüge für unsere gleichgültige Trägheit, welche uns eine Mitschuld gibt am Bösen in der Welt. In einigen bekannten Comicerzählungen heißen die gewöhnlichen Menschen die Superhelden als Retter in der Not willkommen, beginnen dann aber, sie als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten. Dies endet oft damit, dass sie ihnen ihre heroischen Taten, an denen eigentlich der Rest der Bevölkerung mitwirken sollte, übelnehmen. Superhelden fallen auf, aber nicht nur durch ihre Outfits oder Kräfte, sondern auch durch ihr selbstloses Handeln und ihren Einsatz für das Gute. Wir können und sollten unser Konzept des Heroischen über Taten hinaus erweitern, welche einen für das Wohl anderer in Gefahr bringen oder zu finanziellen Opfern für gesellschaftliche Bedürfnisse nötigen. Wir sollten uns klar werden, dass eine nicht berufstätige Mutter genauso eine Heldin sein kann wie ein Beamter, eine Ingenieurin, ein Musiker oder eine Künstlerin. All jene, die entgegen aller Widerstände für das Gute und Rechte einstehen, können als heroisch angesehen werden. Eine Person kann einen heldenhaften Kampf gegen Krebs oder jede andere schreckliche Krankheit führen. Eine junge Frau oder ein junger Mann kann furchtlos für ihre bzw. seine eigene Bildung kämpfen, trotz aller Schwierigkeiten und entgegen aller Erwartungen. Das Konzept des Heldentums sollte niemals inflationär verwendet werden, aber gleichzeitig können wir es nicht vollends verstehen, wenn wir es nicht in angemessener Weise angewendet sehen. Diese Erkenntnis hilft uns dabei, ein weiteres Problem des Begriffs »Superheld« anzugehen. Da die ursprüngliche griechische Definition eines Helden das Merkmal von »übermenschlichen Kräften« beinhaltete, sind wir vielleicht dazu verleitet, anzunehmen, dass das Wort »Superheld« eigentlich ein redundanter Begriff sei. Da aber das Grundkonzept eines Helden sich mit der Zeit von der antiken Vorstellung von Superkräften hin zu einer modernen Auffassung gewandelt hat, welche sich vor allem auf außerordentliche Leistungen und hohe moralische Werte bezieht, ist ein Begriff vonnöten, welcher die Komponente der übermenschlichen Kräfte wieder zu ihrem Recht kommen lässt. Ein Superheld ist ein Held, der übermenschliche Fähigkeiten hat oder zumindest menschliche Fähigkeiten, die so weit entwickelt sind, dass sie die gewöhnlicher Menschen in den Schatten stellen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Batman und Green Arrow ins Gefecht ziehen. Aber wenn wir das Element »super« betrachten, dann können wir niemals den

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Begriff »Held« außer Acht lassen. Vonseiten der Comicbuchautoren und Filmemacherinnen sind der Entwicklung der Psychologie der Helden Grenzen gesetzt. Figuren können Licht und Dunkelheit in sich tragen, genauso wie jeder gewöhnliche Mensch. Letztendlich muss die Finsternis aber durch das Gute und Edle im Zaum gehalten werden; ansonsten verlassen wir den Bereich des Superheldentums. Nicht jeder kostümierte Verbrechensbekämpfer ist automatisch ein Held, so wie nicht jede Person mit übermenschlichen Kräften unbedingt ein Superheld ist.

W ie man zum H elden wird In Superman for All Seasons stand die heldenhafte Entscheidung im Zentrum, die Clark Kent traf, als er Superman wurde, und immer wieder treffen muss, um der Held zu bleiben, den wir als Superman kennen. Um so vielen Menschen wie möglich helfen zu können, musste Kent sein geliebtes Zuhause, die Stadt, in der er aufgewachsen war, und die junge Frau, mit der er eine besondere Verbindung und ein Geheimnis teilte, verlassen und sich ganz alleine auf seine Mission begeben. Er musste also große Opfer bringen. Und wenn man nachdenkt, fällt einem auf, dass das Opfer und die Fähigkeit, Opfer zu bringen, in der heutigen Gesellschaft als Tugenden fast vergessen oder zumindest sehr unterschätzt scheinen. Wir neigen sogar dazu, das Opfer als etwas Negatives anzusehen, da wir uns nur darauf konzentrieren, was wir verspielen könnten, und das Ziel aus den Augen verlieren, das nicht ohne Opfer erreicht werden kann. Ein Opfer ist immer eine An- oder Vorauszahlung. Superman bringt große Opfer, um seine Heldentaten zu vollbringen. Selbiges gilt für Peter Parker alias Spider-Man. Matt Murdock gibt seine Nächte und den größten Teil seiner Freizeit auf, um die unschuldigen Menschen in Hell’s Kitchen und anderswo zu beschützen. Alle diese Opfer erfordern Selbstdisziplin, eine Fähigkeit, die heute ebenso vergessen scheint wie das Opfer. Selbstdisziplin und Aufopferung gelten nicht mehr als etwas Gutes, Wertvolles und Wichtiges oder als erstrebenswerte menschliche Eigenschaften. Große Kräfte ohne Selbstdisziplin sind entweder verschwendet − oder gefährlich. Selbstdisziplin ist eine Art Fokus oder Konzentration, die Gutes erst möglich werden lässt. Im Narrativ aus Superman for All Seasons ist Lois Lane erstaunt, dass eine übermenschlich starke Person wie Superman ihre Kräfte so einsetzt, wie der Held es tut, da dies relativ selten ist. Je mehr Kraft oder Macht wir haben, umso mehr wollen wir tendenziell uns selber und unseren eigenen Interessen dienen. Doch Superhelden sehen das anders. Sie realisieren, dass es keine Selbsterfüllung ohne Selbsthingabe gibt. Sie verstehen, dass wir unsere Talente und Kräfte haben, um sie zu nutzen, und dass wir sie sowohl für das Wohl anderer als auch für unser eigenes Wohl einsetzen müssen. Dies ist das höchste Gut, dem wir mit unseren Kräften dienen können. Das Konzept eines Helden ist ein normatives philosophisches Konstrukt. Es beschreibt nicht nur, was ist; es erlaubt uns einen Blick auf das, was sein sollte. Es fordert uns heraus und zeigt uns, nach was wir in unseren Leben streben können. Superhelden bieten großartige, fiktional-lebhafte Bilder des Heroischen; sie sind zugleich inspirierend und nachahmenswert. Wenn Superhelden richtig ausgestaltet und porträtiert werden, dann stehen sie für etwas, wonach wir alle streben

Loeb/Morris: Helden und Superhelden

sollten. Platon glaubte, dass das Gute von Natur aus erstrebenswert ist. Sofern die Sicht auf das Gute nicht verdeckt ist oder wir gehindert werden, es zu würdigen, wird es uns immer in seine Richtung treiben. Das Gute treibt uns an und weist uns den Weg. Aus diesem Grund ist die Darstellung des Heroischen in Superheldengeschichten von moralischer Kraft. Von unserer Kindheit an bis ins Erwachsenenalter können uns Superhelden an die Bedeutung von Selbstdisziplin und Selbsthingabe erinnern und daran, uns für etwas Gutes, Nobles und Wichtiges einzusetzen. Sie können unseren Horizont erweitern und uns bei moralischen Entscheidungen helfen, während sie uns gleichzeitig auch unterhalten. Wir müssen nicht behaupten, dass Superheldencomics allesamt erzieherische Ansprüche verfolgen oder dass sie von Natur aus moralisch aufgeladen sind. Manchmal machen sie einfach nur Spaß. Es ist jedoch sehr sinnvoll, zu behaupten, dass Superhelden bereits so lange existieren und schon so lange so beliebt sind, weil sie unser Innerstes ansprechen, sowohl unsere Sehnsüchte als auch unsere Ängste. Wir alle streben danach, etwas zu verändern, Einfluss auf diese Welt zu nehmen und für unsere Taten Anerkennung zu ernten. Superhelden halten diese Flamme in unseren Herzen am Leben, während wir über den Sinn ihrer Mission nachdenken und sehen, wie sie diese Mission verfolgen. Aber gleichzeitig sprechen ihre Geschichten auch unsere Ängste an, und auf nicht weniger zentrale Weise.

A ngst und S uperheldengeschichten Alle fürchten sich davor, Schaden zu nehmen. Dies ist einfach Teil der menschlichen Natur. Superheldengeschichten verbildlichen viele Formen der Gewalt, welche möglicherweise in unser Leben treten könnten. Die verrückten Forscher, die machthungrigen Politiker, die unzufriedenen Einzelgänger, das organisierte Verbrechen, Terrorismus, die Geschäftsleute, welche nichts als Profit kennen: Sie alle erinnern uns an die vielen Gefahrenquellen in unserer Welt. Darüber hinaus sind wir oft gleichermaßen fasziniert davon und auch ein bisschen besorgt darüber, was uns dort draußen erwarten mag. Viele Superheldengeschichten thematisieren diese Gefahren. Aber Superhelden zeigen uns, dass man solchen Gefahren entgegengetreten kann und dass sie bewältigt werden können. Sie versinnbildlichen Charakterstärke und Mut in schwierigen Situationen. Aus diesem Grund können sie auch dann inspirierend sein, wenn sie unsere Ängste ansprechen. Wir alle werden einmal Widerständen ins Auge sehen müssen. Dies kann entmutigend sein. Oft sind wir dazu geneigt, aufzugeben und uns einen leichteren Weg zu suchen. Aber Superhelden zeigen uns, dass nichts, was zu tun sich lohnt, einfach ist. Selbst mit ihren Superkräften schaffen es manche der größten Superhelden bloß, das Unglück durch das zu besiegen, was Philosophen als klassische – und teilweise auch neo-klassische − Tugenden beschrieben, Tugenden wie Mut, Entschlossenheit, Ausdauer, Teamfähigkeit und Kreativität. Sie akzeptieren keine Niederlagen. Sie werden niemals aufgeben. Sie glauben an sich selbst und gehen an ihre Grenzen, um ihr Ziel zu erreichen. Indem sie zeigen, dass selbst sehr mächtige Personen kämpfen, mit sich selbst ringen und weiterkämpfen müssen, um zu siegen, helfen sie uns, mit unseren Ängsten umzugehen. Es wird also schwierig werden. Na und? Wir können es schaffen.

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Es gibt noch eine weitere, weniger offensichtliche Form von Angst, die aber vielleicht ebenso bedeutend ist. Viele von uns fürchten sich vor dem, was sie vielleicht tun müssten, um sich dem Bösen in der Welt entgegenzustellen. Werden wir rohe Gewalt anwenden müssen, um die Kräfte kontrollieren oder besiegen zu können, welche uns und alle, die wir lieben, bedrohen? Superhelden gehen öfter diesen Weg, aber wissen meist, wo sie eine Grenze ziehen müssen. Werden wir es wissen? Viele der großen Philosophen haben den Menschen als Vernunftwesen angesehen. Sobald wir auf Gewalt zurückgreifen, um ein Problem zu lösen, wird es wahrscheinlicher, dass wir sie in Zukunft öfter anwenden werden, wenn es eine Situation erfordert; aber auch dann, wenn sie es nicht tut. Wir tendieren dazu, uns an Gewohnheiten zu halten und alles, was wir tun, kann eine neue Gewohnheit entstehen lassen. Wenn wir in einen Krieg in einem fremden Land geschickt würden, würden wir dann als gewaltbereitere Personen zurückkehren? Würde dies unsere Leben zerstören? Würden wir uns für immer verändern? Diese Angst ist real für jeden rechtschaffenen Menschen in der modernen Welt. Neben unserem Hang, Gewohnheiten zu entwickeln, haben wir alle so etwas wie eine immer steigende Erwartungshaltung, die sich in vielen Aspekten unserer Leben niederschlägt. Diese steigende Erwartungshaltung ist ein sehr allgemeines Phänomen. Je mehr Geld die Menschen haben, desto mehr wollen sie haben und umso mehr glauben sie, dass sie mehr bräuchten, um ein gutes Leben zu führen. Ein Glas Wein zum Abendessen kann mit der Zeit zu zwei oder drei Gläsern werden. Der Gebrauch von Macht und das Anwenden von Gewalt funktionieren auf die gleiche Weise. Was einmal vielleicht vollkommen inakzeptabel war, kann schnell zu einer bedauerlichen Notwendigkeit werden, und letztendlich vollkommen in Ordnung erscheinen, während man immer weiter geht. Wir können dies in Zeiten des Kriegs beobachten, wo Gräueltaten zunehmend zu akzeptierten Formen von Gewalt werden. Rechtschaffene Menschen fürchten aus gutem Grund die Auswirkungen, die der Gebrauch von Kraft und Gewalt auf sie selber haben könnte. Wenn es nötig ist, das Böse mit Gewalt zu bekämpfen, was passiert dann mit mir? Wenn ich das Böse mit Gewalt bekämpfe, habe ich dann letztendlich doch das Böse in meiner eigenen Seele siegen lassen, aber mit neuem Gesicht? Superhelden geben uns ein Beispiel für rechtschaffene Personen, die ihre Kräfte einzusetzen wissen, wenn es nötig ist, die sogar innerhalb gewisser Grenzen Gewalt anwenden, um das sonst unaufhaltsame Böse zu stoppen und niederzuschlagen, aber ohne je die Kontrolle zu verlieren und ohne ihren eigenen Charakter zu verderben. Batman, Spider-Man und Daredevil, desgleichen Superman und andere haben viel Selbstbeherrschung. Sie sind bedacht, eine Grenze zu ziehen, welche sie nie überschreiten dürfen. Sie sind in der Lage, das Böse zu bekämpfen, ohne selber böse zu werden. Indem sie dies tun, sprechen sie unsere allgemeine Furcht davor an, dass dies unmöglich sein könnte. Sie zeigen uns, dass wir in der Lage sind, alles Nötige zu tun, um das Böse zu besiegen, sofern wir dabei immer unsere noblen Beweggründe und unsere höchsten Werte bedenken. Das heißt aber nicht, dass es nicht gefährlich ist. Es ist sehr gefährlich. Aber das Gute kann immer noch siegen.

Loeb/Morris: Helden und Superhelden

D as B eispiel des S uperhelden Egal, ob er einen Taschendieb aufhält, einen von Lex Luthors teuflischen Plänen durchkreuzt oder sogar einen Asteroiden vor einer Kollision mit der Erde von seinem Kurs ablenkt: Superman gibt uns ein fortlaufendes Beispiel dafür, was es heißt, sich Wahrheit und Gerechtigkeit zu verschreiben. Er lebt uns vor, wie das menschliche – und nicht nur das amerikanische − Leben aussehen sollte. Auch andere Superhelden zeigen uns Ähnliches. Wir sind alle dazu bestimmt, unsere Leben aktiv zu verbessern, für uns selber und die Menschen um uns herum. Wir sollten um unsere Gemeinschaft und die ganze Welt besorgt sein. Es gibt Böses, dem entgegengewirkt werden muss, und viel Gutes ist zu tun. Superhelden arbeiten nicht nur für Menschen, welche ihre Bemühungen schätzen, sondern oft für Menschen, die sie kritisieren und beschimpfen. Sie tun dies nicht, weil es sie beliebt macht. Sie handeln so, weil es das Richtige ist. Superhelden sind offensichtlich sehr begabte Individuen. In der Antike sagte der sehr praktisch denkende Philosoph Seneca, dass »kein Mensch mit hoher Begabung mit etwas Schlechtem und Minderwertigem zufrieden ist. Die Vorstellung von großen Erfolgen fordert ihn heraus und heitert ihn auf.«1 Diese Beschreibung trifft buchstäblich auf Superman und andere zu. Aber jeder von uns ist auf irgendeine Weise begabt. Jeder von uns hat Talente und Kräfte. Wenn wir Superhelden insofern folgen, als wir nicht zulassen, dass Niederes und Schlechtes unsere Entwicklung oder den Einsatz unserer Begabungen behindern, können wir einen Teil der Superheldenmentalität in unser eigenes Leben integrieren. Seneca gab uns allen auch einen guten Ratschlag, als er schrieb: Suche dir einen moralischen Helden, dessen Leben, Gespräche und dessen ausdrucksstarkes Gesicht dir gefallen. Dann stelle ihn dir stets als deinen Beschützer und dein ethisches Vorbild vor. Wir alle benötigen jemanden, dessen Vorbild unseren Charakter formen kann. 2

Und dann wieder: Wertschätze einen Menschen von großem Charakter und behalte ihn immer in Erinnerung. Lebe dann, als ob er dich beobachten würde, und führe jede Handlung so aus, als würde er sie sehen. 3

Auch viele andere antike Philosophen mahnten uns, dies zu tun. Und es ist sehr effektiv. Manche mögen das Bild von guten Eltern oder das eines geliebten Geschwisterteils als einen Maßstab für ihre Entscheidungen und Taten im Kopf haben. Was würde mein Vater tun? Was würde meine Mutter tun? Würde ich genauso handeln, wenn mein Lehrer, meine Lehrerin, mein Bruder, oder meine Schwester es sehen könnte? So amüsant das auch klingen mag, es können Superhelden für uns die gleiche Stelle einnehmen. Sie sind moralische Vorbilder. Superman kann uns inspirieren. Batman kann uns dazu bringen, weiterzumachen, auch, wenn es schwierig wird. Spider-Man kann uns dabei helfen, zu verstehen, dass die Stimme 1 |  Vgl. Tom Morris, The Stoic Art of Living (Chicago: Open Court, 2004), S. 21. 2 |  The Stoic Art of Living, S. 55. 3 |  The Stoic Art of Living, S. 56.

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der Vernunft immer wichtiger ist als die vielen Stimmen um uns herum, die uns vielleicht verurteilen und erniedrigen oder das ablehnen, was wir als etwas sehr Wichtiges empfinden. Daredevil kann uns daran erinnern, dass unsere Einschränkungen uns nicht aufhalten müssen und dass wir alle unentdeckte Stärken haben, auf welche wir in herausfordernden Situationen zurückgreifen können. Der heroische Weg ist manchmal einsam, aber er ist immer der richtige. Mit dem Bild der Superhelden vor Augen finden wir es vielleicht einfacher, dem moralischen Weg treu zu bleiben, der uns letztendlich zur Erfüllung führen wird. Was würde Superman tun? Geh raus und tu es auf deine Art. Die Welt kann immer neue Helden gebrauchen.

Menschliches, Übermenschliches Zur narrativen Struktur von Superheldencomics* Stephan Ditschke und Anjin Anhut

250.263 Mal wurde der erfolgreichste Comic des Veröffentlichungszeitraums 2007/2008 in US-Comic-Shops verkauft. Es ist – kaum anders denkbar für das Geburtsland der Comic Books – ein Superheldencomic, das erste Heft der Reihe Secret Invasion aus dem Verlag Marvel Comics.1 Trotz dieser auf den ersten Blick hohen Zahl sinken die Verkaufszahlen der Superheldencomics in den USA,2 nicht aber die Aufmerksamkeit für die Superhelden. Dies liegt v.a. an den seit Spider-Man (2002) äußerst erfolgreichen Filmadaptationen von Superheldencomics, von denen Christopher Nolans Batman-Adaptation The Dark Knight (2008) in den USA den bislang erfolgreichsten Filmstart aller Zeiten hingelegt hat.3 Etwas fesselt die Rezipienten offenbar noch immer an Erzählungen aus dem Superheldengenre, dem ersten später auch in anderen Medien realisierten Genre, das sich im Comic herausgebildet hat und mit dem noch immer das Medium als solches assoziiert wird.4

*  Ditschke, Stephan, und Anjin Anhut: »Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics.« In: Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva und Daniel Stein (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld: transcript 2009. S. 131-178. 1 | Vgl. Christian Endres/Stefan Pannor: »Der US-Comic-Markt 2008«, in: Burkhard Ihme (Hg.): COMIC!-Jahrbuch 2009, Stuttgart: Interessenverband Comic e.V. 2008, S. 130-141, hier S. 138. 2 | Vgl. ebd., S. 137. 3 | Vgl. Box Office: »All-Time 1st Weekend« (27.6.2009), URL: http://boxoffice.com/num​ bers/numbers.php?report=weekend-1, Datum des Zugriffs: 27.6.2009. Legt man die inflationsbereinigten Daten zugrunde, liegt The Dark Knight äußerst knapp hinter einer anderen Comic-Verfilmung, nämlich Spider-Man 3 (2007). 4 | Vgl. Thomas Hausmanninger: Superman. Eine Comic-Serie und ihr Ethos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 54. Superheldencomics fungieren darüber hinaus als starker interner Bezugspunkt, von dem aus sich das Comic-Feld strukturiert. So stellt Brian Michael Bendis pointiert heraus: »In comics, if it don’t have a cape or claws or, like, really giant, perfect spherical, chronic back-pain-inducing breasts, it’s alternative.« Zit. n. Henry Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«, in: Confessions of an Aca-Fan. The Official Weblog of Henry Jen-

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Es ist müßig, darüber zu spekulieren, warum genau der Comic die erste Heimstätte für Superheldenerzählungen wurde. So behauptet z.B. Peter Coogan in seinem Buch Superhero: »Comics are the natural home for the superhero genre because of the way they can seamlessly combine intense action, ordinary daily life, and fantastic images«5 – eine Annahme, die vermutlich zu weit geht. Mit Sicherheit hat es aber etwas mit der Möglichkeit zur bildlichen Darstellung zu tun, dass das wenig intellektualistische Medium Comic Ende der 1930er Jahre geeignet schien, die zeichenhaften Körper der Superhelden und ihre actionlastigen Geschichten in Szene zu setzen und gleichzeitig die primäre Zielgruppe zu erreichen.6 Heute bietet auch die moderne Animationstechnik die Möglichkeit zur filmischen Umsetzung,7 sodass Figuren und Geschichten entweder direkt übernommen werden oder Orientierungspunkte für filmisch realisierte Superheldenerzählungen bilden. Eine inhaltsorientierte Analyse des Superheldengenres sollte deshalb auch auf filmische Narrationen übertragbar sein. Während das Superheldengenre bislang v.a. Gegenstand gesellschaftskritischer ›Forschung‹ war oder seine Entwicklung unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten chronologisch rekonstruiert wurde,8 möchten wir in diesem Aufsatz unter Herausarbeitung seiner klassifikatorischen Merkmale sowie häufig auftretender Gestaltungsweisen von Superheldenfiguren und -erzählungen den ›narrativen Kern‹ des Genres bestimmen. Es wird sich zeigen, dass diese grundlegenden Strukturen Superheldenerzählungen als Gegenstand gesellschaftskritischer Zugänge zum Medium Comic prädestinieren, ihre Erarbeitung hingegen eine systematische Rekonstruktion der Genreentwicklung ermöglicht. Unsere Zugangsweise zu Erzählungen aus dem Superheldengenre orientiert sich v.a. an Jurij M. Lotmans Entwurf einer topologischen Semantik. In seinem semiotischen Modell nimmt Lotman an, dass zur Interpretation von ›Kunstwerken‹ ein auf binären Oppositionen basierendes semantisches Raummodell zu bilden ist: In einem ersten Schritt werden alle räumlichen Oppositionen rekonstruiert, die kins (15.3.2007), URL: www.henryjenkins.org/2007/03/just_men_in_capes.html, Datum des Zugriffs: 6.6.2009. 5 | Peter Coogan: Superhero. The Secret Origin of a Genre, Austin: Monkeybrain 2006, S. 174. 6 | Vgl. Andreas Platthaus: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte, Frankfurt a.M., Leipzig (1998): Insel 2000, S. 156f. 7 | Auch Coogan fragt: »What made the change?«, um zu betonen: »Technology played an important role«. P. Coogan: Superhero, S. 2. 8 | Gesellschaftskritische Problematisierungen des Superheldengenres finden sich v.a. in der früheren Comic-Forschung, etwa bei Oswald Wiener: »der geist der superhelden«, in: Hans D. Zimmermann (Hg.): Comic Strips. Der Geist der Superhelden, Berlin: Gebr. Mann 1970, S. 93-101; Dagmar von Doetinchem/Klaus Hartung: Zum Thema Gewalt in Superhelden-Comics, Berlin: Basis 1974. Chronologische Rekonstruktionen der Entwicklung des Genres bzw. einzelner Superhelden unter verschiedenen kulturwissenschaftlichen Fragestellungen finden sich z.B. bei Th. Hausmanninger: Superman; Thomas Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden. Das Gesellschaftsbild amerikanischer Superheldencomics von 1938 bis 1998, Meitingen: Corian 1999; Will Brooker: Batman Unmasked. Analyzing a Cultural Icon, New York, London: Continuum 2000; P. Coogan: Superhero; Lars Banhold: Batman. Konstruktion eines Helden, Bochum: Bachmann 2008.

Ditschke/Anhut: Menschliches, Übermenschliches

sich aus dem betreffenden Kulturprodukt ableiten lassen.9 Hat man auf diese Weise ein Modell konstruiert, das aus voneinander aufgrund bestimmter Merkmale unterscheidbaren Räumen besteht, folgt eine weitergehende Semantisierung: Von den räumlichen Eigenschaften der »gegebene[n] Gesamtheit von Objekten«10 eines semantischen Bereichs (z.B. von der Opposition »Land – Stadt«) wird auf Begriffe abstrahiert, »die nicht an sich räumlicher Natur sind«.11 Es handelt sich dabei zumeist um Wertungsbegriffe (z.B. bei der binären Opposition »gut – schlecht«) oder Termini, die eine wertende Konnotation tragen (z.B. »natürlich – künstlich«).12 Die Handlung einer Narration resultiert nun daraus, dass eine Figur einen Weg durch einen oder mehrere Räume zurücklegt. Wenn die Figur dabei eine Grenze zwischen zwei voneinander differenzierten semantischen Räumen überquert, lässt sich Lotman zufolge von einem Sujet sprechen.13 Durch eine sujethafte Narration 9 | Es ließe sich an dieser Stelle skeptisch einwenden, dass keineswegs alle räumlichen Oppositionen explizit formuliert werden. Aus diesem Grund muss bereits ein großer Teil dieser basalen Analyse auf (hermeneutischen) Interpretationen basieren. 10 | Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte (1972), übers. v. Rolf-Dietrich Keil, 4. Aufl., München: Fink 1993, S. 312. 11 | Ebd., S. 313. 12 | Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 4. Aufl., München: Beck 2003, S. 141. Lotmans Methodik der Interpretation von Kulturprodukten weist – wie die meisten dezidiert semiotischen Ansätze – eine Lücke auf: Offensichtlich liegt Lotmans Ansatz zur Interpretation von »sekundären modellbildenden Systeme[n]« ein in hohem Maße kodebasiertes Modell des Sprachverstehens zugrunde. J.M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 22. So wird davon ausgegangen, dass sich ohne Weiteres eine Abstraktion von räumlichen Eigenschaften eines Gegenstandes auf andere, äquivalente semantische Bereiche vornehmen ließe. Deshalb gibt Lotman auch keine weiteren Regeln an, die den Schluss auf vermeintliche Äquivalenzen legitimieren bzw. anleiten würden. Solche Äquivalenzbildungen scheinen dort intuitiv plausibel, wo eine intensionale Opposition von Begriffen wie »Leben« und »Tod« o.ä. vorliegt. Zumeist muss aber auf übergeordnete Oppositionen von den Begriffen, die im Text vorkommen, erst geschlossen werden. Dabei treten ohne zusätzliche Schlussregeln bei Oppositionsbildungen besonders dann Probleme auf, wenn die syntagmatische Struktur einer Narration keine ›Suchanweisung‹ für die richtige Opposition bietet. Notwendig sind mithin »semantische Regeln«, mit deren Hilfe sich »relevante Korrelation[en] zwischen Zeichen und anderen Gegenständen« erschließen lassen. Charles W. Morris: »Grundlagen der Zeichentheorie« (1938), in: Ders.: Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik der Zeichentheorie, übers. v. Roland Posner, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1988, S. 15-88, hier S. 42. Eine übergeordnete Theorie des regelgeleiteten Schließens zur Interpretation von Kulturprodukten, wie sie z.B. Fotis Jannidis im Anschluss an die Theorie inferenzbasierter Kommunikation von Sperber/Wilson und Levinson skizziert hat, kann an dieser Stelle nicht entwickelt werden, weshalb die Begrifflichkeiten, die Lotman im Rahmen seines topologisches Modells entwickelt, lediglich als Orientierungspunkte zur Interpretation von Superheldenerzählungen genutzt werden sollen. Vgl. Fotis Jannidis: »Analytische Hermeneutik. Eine vorläufige Skizze«, in: Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn: mentis 2006, S. 131-144. 13 | Vgl. Jurij M. Lotman: »Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen« (1969), in: Ders.: Aufsätze zur Methodologie der Literatur und Kultur, hg. u. übers. v. Karl Eimermacher, Kronberg/Taunus: Scriptor 1974, 338-377, hier S. 370f.

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kann die klassifikatorische Ordnung, die sich in den oppositionellen Räumen abbildet, entweder bestätigt oder überwunden werden. Im ersten Fall kann die Grenzüberschreitung als »restitutiv« bezeichnet werden – sie wird vollzogen, scheitert aber oder wird wieder rückgängig gemacht –, im zweiten Fall als »revolutionär«.14 Es soll im Folgenden die Frage beantwortet werden, aus welchen zentralen narrativen »sinntragende[n] Elemente[n]«15 sich welche wiederkehrenden Sujets ableiten lassen – und mithilfe welcher narrativen Struktur bestimmte gesellschaftliche, politische oder moralische Ordnungen in Superheldenerzählungen bestätigt bzw. angegriffen werden. Da die Protagonisten der Erzählungen Superhelden sind und dieser Umstand Implikationen für den Verlauf der Erzählungen trägt, gehen wir zunächst auf die wesentlichen Eigenschaften der Superhelden und damit des Superheldengenres ein.

1. W as das S uperheldengenre ausmacht Superheldencomics sind nur eine mediale Form von vielen, in denen sich das Superheldengenre realisiert. Von anderen Comics unterscheiden sie sich nicht wesentlich durch die Wahl formaler narrativer oder medialer Aspekte, was den sogenannten Graphic Novels häufig zugeschrieben wird.16 Möchte man bestimmen, was das Besondere der Superheldencomics ist, muss man deshalb den Blick auf inhaltliche Aspekte des Genres und somit auf die besonderen Inhaltselemente von Erzählungen um Superhelden17 lenken. Der Kern einer Bestimmung des Superheldengenres wird bereits durch seine Bezeichnung impliziert: Die handlungstragenden Figuren des Genres sind ›Superhelden‹. Diese wiederum sind durch die Kombination der beiden in ihrer Bezeichnung angezeigten Eigenschaften von anderen Figuren unterschieden: Erstens handeln sie ›heldenhaft‹, retten also anderen das Leben, stellen ihre Grundversorgung sicher, bekämpfen die Feinde der Gesellschaft – kurz: sichern die existenziellen Bedürfnisse anderer. Zweitens sind die Protagonisten von Narrationen, die dem Genre zuzuordnen sind, ›super‹, wobei sich das Konfix »super-« nicht auf ihre Heldenhaftigkeit bezieht, sondern auf herausragende Fähigkeiten der Figuren, die normale Personen in ihrem Umfeld nicht oder nicht in diesem Maße haben. Systematisch lassen sich die beiden Bedingungen wie folgt ausformulieren: (I) (i) (ii) (a)

Mindestens ein Protagonist der Erzählung verfügt in Relation zur ihn umgebenden Umwelt über herausragende Fähigkeiten und handelt ›heldenhaft‹. D.h. er handelt in akuten Notsituationen intentional so, dass die existenziellen Bedürfnisse anderer gesichert sind.

14 | Vgl. M. Martínez/M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 142. 15 | J.M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 17. 16 | Vgl. etwa Brigitte Preissler: »Ein Genre macht ernst«, in: Die Welt, 19.2.2005; Thomas Lindemann: »Leben in dunklen Strichen«, in: Die Welt, 9.12.2007. 17 | »Protagonist«, »Superheld« usw. werden im Folgenden als grammatische Genera verwendet und schließen – soweit nicht anders markiert – Protagonistinnen, Superheldinnen usw. mit ein.

Ditschke/Anhut: Menschliches, Übermenschliches

(b.1) Dabei handelt die Figur ohne Rücksicht auf ihre eigenen existenziellen Bedürfnisse, (b.2) nicht zum Zweck der Maximierung des eigenen Nutzens und (b.3) hält es rationalerweise für möglich, dass ihr Eingreifen etwas gegen die Notsituation bewirkt. Ein Held, wie er unter (ii) bestimmt wird, hilft also nicht nur anderen, er sieht auch von seinen eigenen existenziellen Bedürfnissen ab, was in den meisten Fällen bedeutet, dass er ein Risiko auf sich nimmt. Dies macht er zudem nicht, um monetäre Gewinne zu erzielen o.Ä., auch ordnet er die Situation, in der sein Eingreifen notwendig ist, einem genussvollen Zeitvertreib vor. Helden handeln darüber hinaus weder feige noch töricht, obwohl sie für andere Risiken auf sich nehmen,18 sondern im aristotelischen Sinne mutig.19 Die Bedingung dafür ist, dass sie rationalerweise davon ausgehen, wenn auch nicht sicher sein können, ihr Eingreifen könnte an der Notsituation tatsächlich etwas ändern. Die Bedingung (i) schließt aus, dass solche Figuren als Superhelden gelten, die lediglich heldenhaft handeln, aber nicht über herausragende Fähigkeiten verfügen, etwa Menschen, die mit ihrem mutigen Eingreifen verhindern, dass jemand ausgeraubt oder getötet wird, freiwillige humanitäre Helfer in Kriegsgebieten usw. Trotzdem ist sie ›unscharf‹ formuliert, um auch eine Figur wie Batman, die das Genre maßgeblich geprägt hat, mit einzuschließen: Als herausragende Fähigkeiten können sowohl typische Superkräfte wie etwa jene gelten, über die Superman verfügt (die Fähigkeit, zu fliegen, Röntgen- und Hitzeblick usw.), aber auch übermäßige, einem Menschen theoretisch mögliche Fähigkeiten. So hat Batman seine Körperkraft, seine Kampftechniken und sein technisches Know-how durch Studien und langes Training an die Grenzen des Menschenmöglichen gebracht. Um zu bestimmen, was als herausragende Fähigkeit gilt, muss man zudem stets auf andere, ›normale‹ Figuren aus dem Kontext des potentiellen Superhelden blicken: Auf seinem Heimatplaneten Krypton hätte Superman nicht aufgrund seiner angeborenen Fähigkeiten als Superheld gelten können, da erstens alle Bewohner des Planeten die gleichen Fähigkeiten hatten und diese Fähigkeiten zweitens dazu notwendig waren, um unter den natürlichen Bedingungen leben zu können, die auf Krypton herrschten.20 18 | Heldenhaftes Handeln bedarf also einer Entscheidung dafür, anderen zu helfen. Diese Entscheidung zieht häufig Risiken für den Helden nach sich: »Risks, however, emerge only as a component of decision and action. They do not exist by themselves [im Gegensatz zur Gefahr, SD/AA]. If you refrain from action you run no risk.« Niklas Luhmann: »Familarity, Confidence, Trust: Problems and Alternatives«, in: Diego Gambetta (Hg.): Trust. Making and Breaking Cooperative Relations, Cambridge: Blackwater 1988, S. 94-107, hier S. 100. Auf die in der Entwicklung der Superheldencomics wichtige Frage, ob die Superwesen ein Risiko eingehen, das auf sich zu nehmen sie als Helden auszeichnet, oder ob sie lediglich einer Gefahr für sich selbst ausgesetzt sind, kommen wir in Abschnitt 4.3 zurück. 19 | Vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, 5. Aufl., München: dtv 2002, S. 170f. (Buch III, Kap. 12). 20 | Vgl. die Erklärung von Supermans Kräften in der ersten Ausgabe des Superman-Heftes von 1939. Wiederabdruck als Jerry Siegel/Joe Shuster: »Scientific Explanation of Superman’s Strength--!«, in: The Superman Chronicles (2001), H. 1, S. 201.

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Auch wenn die Bedingungen (i) und (ii) beide erfüllt sind, ist jedoch noch nicht gewährleistet, dass Erzählungen eindeutig dem Superheldengenre zugeordnet werden können. Ein Beispiel, das Peter Coogan in seinem Buch Superhero. The Secret Origin of a Genre hierfür nennt, ist die TV-Serie Buffy the Vampire Slayer, in der die Protagonistin sowohl herausragende ›Superfähigkeiten‹ hat als auch heldenhaft im o.g. Sinne handelt.21 Beide Bedingungen sind erfüllt, trotzdem würde man Buffy the Vampire Slayer dem Vampirgenre zuordnen. Um Erzählungen sicher dem Superheldengenre zuzuordnen, müsste also mindestens eine weitere Bedingung hinzugefügt werden, die es erlaubt, Fälle wie Buffy the Vampire Slayer aus dem Genre auszuschließen. Blickt man auf solche Narrationen, die häufig als typische Vertreter des Superheldengenres angeführt werden, so stellt man jedoch fest, dass außer den beiden angeführten Bedingungen, die auf jeden Fall für eine Genrezuordnung erfüllt sein müssen, sich lediglich Elemente von Superheldenerzählungen ausmachen lassen, die den Status von Konventionen haben. Als solche treffen sie keineswegs auf alle Vertreter des Superheldengenres zu. Hierzu zählen z.B. die Doppelidentitäten: Bruce Wayne trägt bei Nacht ein Superheldenkostüm, um seine wahre Identität nicht preisgeben zu müssen; Superman nimmt die Tarnidentität des »durch und durch bürgerlichen«22 Clark Kent an, um ein normales Leben unter Menschen führen zu können. Weitere Konventionen sind die Kostüme der Superhelden, die als ikonische Repräsentation ihre Superheldenidentität anzeigen,23 außerdem der Umstand, dass ihre zumeist selbst auferlegte moralische Verpflichtung zum Heldentum in einem traumatischen Erlebnis begründet ist.24 Als Konventionen erlauben es diese häufig auftretenden Merkmale aber, Erzählungen mit höherer Wahrscheinlichkeit dem Superheldengenre zuzuordnen. Die Bestimmung des Superheldengenrebegriffs unter (I) kann also wie folgt spezifiziert werden: (II) Eine Erzählung gehört mit höherer Wahrscheinlichkeit zum Superheldengenre, wenn der Protagonist zusätzlich zu den unter (I) angeführten Bedingungen eine oder mehrere der folgenden Konventionen erfüllt:25 (iii) Dass der Protagonist heldenhaft im Sinne von (ii) handelt, ist in einem prägenden, häufig traumatischen Erlebnis begründet.

21 | Vgl. P. Coogan: Superhero, S. 48f. 22 | Th. Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden, S. 22. 23 | Vgl. P. Coogan: Superhero, S. 33. 24 | Die Figur Bruce Wayne hat z.B. eine derartige traumatische Erfahrung machen müssen, die ihn motiviert hat, Batman zu werden: In der ersten Ausgabe von Batman (1940) erfährt der Leser, dass der Superheld deshalb Verbrecher jagt, weil er als Junge miterleben musste, wie seine Eltern bei einem Raubmord erschossen wurden. Er schwört daraufhin »by the spirits of my parents to avenge their deaths by spending the rest of my life warring on all criminals«. Bill Finger/Bob Kane: »The Legend of the Batman – Who He Is and How He Came to Be!«, in: The Batman Chronicles (2005), H. 1, S. 138f., hier S. 139. 25 | Die Liste der Konventionen ließe sich erweitern. Aufgelistet werden hier lediglich die u.E. wichtigsten.

Ditschke/Anhut: Menschliches, Übermenschliches

(iv) Der Protagonist verfügt neben der Superheldenidentität über eine zweite, die es ihm erlaubt, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren.26 (v) Der Superheld trägt bei der Ausübung seiner Taten ein Kostüm. (Bei vielen Superhelden verweist dieses ikonisch auf ihre Superheldenidentität.)27 (vi) Gibt es mehrere Protagonisten, welche die Bedingungen unter (I) erfüllen, bilden sie häufig ein Team, in dem sie gemeinsam heldenhaft handeln.28 Die Kostüm-Konvention ist von den genannten die stärkste, insofern bestimmte Formen von Kostümen – der bekannte »Bodysuit«29 mit »Strumpfhosen«30 – eindeutig auf das Superheldengenre verweisen.31 Trotz eines solchen Verweisungszusammenhangs ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es sich lediglich um einen z.B. travestitischen Bezug32 auf das Genre handelt, die betreffende Erzählung selbst aber einem anderen Genre zuzuordnen ist.33 Wie bei den meisten Genres kennzeichnen die zwei Kategorien von Merkmalen unter (I) und (II) im Fall des Superheldengenres eine Menge von Narrationen, die durch die genannten »Genresignale«34 miteinander verknüpft sind. Dabei tref26 | Das Beispiel der Marvel-Superhelden Fantastic Four verdeutlicht, dass diese Konvention nicht immer zutrifft: Die vier Wissenschaftler wurden im Weltall einer unbekannten Strahlung ausgesetzt und erlangen so ihre Superkräfte. Zurück auf der Erde nehmen sie zwar ›Superheldennamen‹ an, ihre ursprüngliche Identität und ihre richtigen Namen sind aber allen bekannt. 27 | Eine ähnliche Funktion erfüllt der Name, den der Superheld trägt, vgl. P. Coogan: Superhero, S. 33. 28 | Hierzu zählen wir auch Teams aus einem Superhelden und seinem jüngeren ›Sidekick‹, z.B. Batman und Robin. 29 | Sabine Horst: »Lasst doch einfach alles raus!«, in: Die Zeit, 10.7.2008. 30 | Frank Miller/Nina Rehfeld: »Die Griechen hatten Götter, wir haben Superhelden«, in: Spiegel online (13.8.2008), URL: www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,571473-2,00. html, Datum des Zugriffs: 13.8.2008. 31 | Einige Superhelden tragen jedoch kein Kostüm, so etwa Hulk. Um der Genre-Konvention und damit den Erwartungen der Leser an einen Superheldencomic trotzdem gerecht zu werden, entschied sich Stan Lee zu einer anderen Form, die Figur von Wesen ohne Superkräfte zu unterscheiden: »I couldn’t for the life of me find a reason for our newest monster [Hulk, SD/AA] to outfit him in a costume. Still, the readers would expect something colorful about him. Then it hit me. Instead of a colorful costume, I’d give him colorful skin«. Stan Lee/ George Mair: Excelsior! The Amazing Life of Stan Lee, New York: Fireside 2002, S. 122. 32 | »Travestitisch« sei hier im Sinne Genettes als satirische Transformation eines vorgängigen Hypotextes verstanden. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (1982), übers. v. Wolfgang Bayer/Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 44. 33 | So z.B. am Anfang von Chris Wares Jimmy Corrigan, wenn im Hintergrund gezeigt wird, wie ein als Superheld verkleideter Mann von einem Hochhaus springt, dabei jedoch stirbt. Der Fokus liegt dabei so wenig auf dem Tod des Mannes, dass die für den weiteren Handlungsverlauf in keiner Weise relevante Hintergrundhandlung wie ein Mittel zur polemischen Positionierung von Wares Comic in Opposition zum Superheldengenre wirkt. Vgl. Chris Ware: Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth, New York: Pantheon 2000, o.S. 34 | Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München: Beck 1981, S. 133.

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fen die Merkmale unter (I) auf alle Superheldenerzählungen zu, jedoch auch auf Erzählungen, die eher anderen Genres zuzuordnen sind. Letzteres gilt ebenfalls für die Merkmale unter (II), die darüber hinaus nicht auf alle Vertreter des Superheldengenres zutreffen.35 Der Begriff des Superheldengenres umfasst mithin eine Menge von Narrationen, die aufgrund von Familienähnlichkeiten zueinander in Beziehung gesetzt werden können: Sie bilden – mit Wittgenstein gesprochen – ein »kompliziertes Netz«36 bzw. einen »Faden […, in dem] viele Fasern einander übergreifen«,37 ohne dass sich alle ›Fasern‹ überschneiden.38 Dabei sind die Denotata des Begriffs der Superheldengenreerzählung zwar nur lose miteinander verknüpft, aufgrund der Bedingungen unter (I) jedoch enger als die Denotata von Begriffen wie »Kunst« oder »Literatur«: Letztere können so über Familienähnlichkeiten verknüpft sein, dass zwei ihrer Denotata keine der Merkmale teilen, die sie jeweils als Kunst oder Literatur kennzeichnen. Durch die Begriffsstruktur der Familienähnlichkeit ist trotz der unter (II) angegebenen Konventionen noch immer nicht ausgeschlossen, dass die oben genannte Serie Buffy the Vampire Slayer dem Superheldengenre zugeordnet werden kann. Es bietet sich deshalb an, die ›weiche‹ Bestimmung des Genres durch eine zusätzliche Bedingung zu ergänzen:39 (III) Eine Narration lässt sich dann mit höherer Wahrscheinlichkeit dem Superheldengenre zuordnen, wenn sie aufgrund ihrer Eigenschaften nicht eher als Vertreter eines anderen Genres angesehen werden kann.40 Zwar erlaubt auch Bedingung (III) keine eindeutige Genrezuordnung, ermöglicht es jedoch, z.B. Buffy als Vertreter des Horrorgenres bzw. des diesem untergeordneten Vampirgenres zu kategorisieren: Die Erzählungen der Serie und ihre Sujets sind Vertretern dieser Genres deutlich ähnlicher als Erzählungen aus dem Superheldengenre. Gleichzeitig belässt Bedingung (III) die Bestimmung des Superhel-

35 | Sie sollten deshalb auch nicht als Teil einer bloßen Prototypendefinition (wie z.B. in Th. Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden, S. 11) oder einer Äquivalenzdefinition in Anschlag gebracht werden. 36 | Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Ders.: Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 225-618, hier S. 277f. (§ 66). 37 | Ebd., S. 278 (§ 67). 38 | Eine präzise Rekonstruktion des Familienähnlichkeitsbegriffs findet sich bei Tadeusz Pawłowski: Begriffsbildung und Definition, übers. v. Georg Grzyb, Berlin, New York: de Gruyter 1980, S. 202. 39 | Die Bedingung (III) scheint (in einer je angepassten Form) im Allgemeinen Teil der partiellen, also vagen Definition spezifischer Genres zu sein, die durch Familienähnlichkeiten strukturiert sind. Vgl. zum Begriff der partiellen Definition ebd., S. 125-156. 40 | Peter Coogan geht bei seiner Bestimmung des Superheldengenrebegriffs ähnlich vor. Er stellt die Bedingung auf, dass der mutmaßliche Superheld »cannot be easily placed into another genre«. P. Coogan: Superhero, S. 40.

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dengenres so vage, dass sie auch Cross-Genre-Narrationen noch umfasst, etwa die Geschichten der Hellboy-Comics und -Filme.41

2. Z entr ale narr ative E lemente von S uperheldenerz ählungen Bereits der Begriff des Superhelden impliziert mehrere zentrale Elemente, die eine wichtige Rolle in Superheldenerzählungen einnehmen. (1) Ausgangspunkt der Erzählungen um Superhelden ist »der alltag, ein problemlos geordnetes dahinleben, an dem sich immer wieder erweist, daß die welt gut ist, so wie sie ist.«42 (2) Der Superheld ist zwar Teil der etablierten gesellschaftlichen Ordnung, gleichzeitig aber von den ›normalen‹ Bewohnern der fiktionalen Welt durch seine Superkräfte verschieden, und er wirkt in seinem Anderssein nicht selten »unheimlich und numinos-bedrohlich«.43 Dies führt in den meisten Fällen dazu, dass er nur aufgrund seiner zweiten Identität am sozialen Leben partizipieren kann: »This great strength of yours«, schärft Adoptivvater Jonathan Kent dem heranwachsenden Superman ein, »you’ve got to hide it from people or they’ll be scared of you«.44 Zur Tarnung erfüllt der Superheld deshalb als Clark Kent »the ultimate assimilationist fantasy«.45 Gleichzeitig ist Superman notwendig, um die bestehende Ordnung der fiktionalen Welt aufrechtzuerhalten, »to assist humanity«.46 (3) Das dritte zentrale Handlungselement von Superheldenerzählungen ist mithin ein Problem für die Ordnung, das ihr Bestehen bedroht, aber von ihren Verteidigern – der Polizei, dem Militär usw. – nicht kontrolliert werden kann. Es kann u.a. in Form von Naturkatastrophen, Verbrechen oder in Gestalt eines Superschurken auftreten, der nur vom betreffenden Superhelden besiegt werden kann. All diese Formen der Bedrohung 41 | Hellboy spielt eigentlich in einer Welt, die dem Horrorgenre entwachsen ist, wird aber in die Nähe des Superheldengenres gerückt. Dies liegt vermutlich in erster Linie am ›verlegerischen Peritext‹ (Genette): Der Publikationskontext, in dem sich Hellboy im Verlag Dark Horse Comics befindet, besteht zu einem großen Teil aus Superheldencomics. Ein weiterer Grund der Zuordnung der Hellboy-Erzählungen zum Superheldengenre besteht aber sicherlich darin, dass die mit Superkräften ausgestatteten, heldenhaft handelnden Wesen der HellboyWelt ein Team von Helfern bilden, das über eigene, uniforme Kostüme verfügt. So konstatiert etwa Michael Kohler in der Frankfurter Rundschau, ohne Argumente für diese These anzuführen und trotz des auf das Genre der Fantastik verweisenden Titels seiner Filmrezension zu Hellboy – Die goldene Armee (2008): »Nirgendwo anders als in einem Superhelden-Comic hätte die Hellboy-Figur das Licht der Welt erblicken können«. Michael Kohler: »Geschöpfe des Trollmarkts«, in: Frankfurter Rundschau, 16.10.2008. Ähnlich äußert sich Sabine Horst in »Lasst doch einfach alles raus!«. 42 | O. Wiener: »der geist der superhelden«, S. 95. 43 | Demosthenes Savramis: »Der moderne Mensch zwischen Tarzan und Superman«, in: Jutta Wermke (Hg.): Comics und Religion. Eine interdisziplinäre Diskussion, München: Fink 1976, S. 110-120, hier S. 115. 44 | Jerry Siegel/Joe Shuster: »Origin of Superman«, in: The Superman Chronicles (2001), H. 1, S. 195f., hier S. 195. (Zuerst erschienen in Superman [1939], H. 1.) 45 | Jules Feiffer: »The Minsk Theory of Krypton«, in: New York Times Magazine, 29.12.1996. 46 | Ebd.

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und Gefährdung wenden sich gegen etablierte Lebensformen, Werte- bzw. Gesellschaftsordnungen oder gegen die Existenz selbst und überschreiten dabei Gesetze, Regeln, Normen sowie Eigentums- und Körpergrenzen. Dank seiner besonderen Fähigkeiten ist der Superheld jedoch in der Lage, den Störungen der Ordnung entgegenzuwirken. Abbildung 1. Stan Lee/John Romita Sr.: »In den Klauen von Kingpin!«, S. 99

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Verdeutlichen lässt sich diese Struktur am Beispiel des ersten Aufeinandertreffens von Spider-Man und dem Kingpin, einem Gangsterboss:47 Der Zeitungsherausgeber Jonah Jameson – Peter Parkers herablassender Arbeitgeber und Verächter von Spider-Mans Taten – droht, die Verbrecherorganisation des Kingpin zu enttarnen, die New York mit einer »Verbrechenswelle«48 heimsucht. Dieser kidnappt Jameson, um ihn einzuschüchtern. Es liegt mithin ein Konflikt eines Vertreters der bestehenden Ordnung (Jameson) mit einer Instanz vor, die diese Ordnung bedroht (Kingpin). Dass beide Instanzen verschiedenen ›Räumen‹ angehören, drückt nicht zuletzt die typische Bezeichnung aus, die Jameson für Kingpin und Konsorten wählt: »Unterwelt rottet sich zusammen«,49 heißt es in einem Artikel, den der Herausgeber des Daily Bugle verfasst hat. Kingpin hingegen, Verkörperung der Unterwelt, zerschlägt mit einem Modell der Stadt symbolisch die bestehende Ordnung (Abb. 1). Jameson ist dem Kingpin unterlegen, außerdem besteht keine Möglichkeit, von der Polizei gefunden zu werden. Doch Spider-Man, der entgegen Kingpins Annahme wieder aktiv ist, entdeckt die Entführung. Im Kampf unterliegt der Superheld Kingpin zunächst: Es gelingt dem Verbrecher, Spider-Man zu überlisten und mit Betäubungsgas aus einer in der Krawattennadel versteckten Patrone auszuschalten.50 Um Jameson und Spider-Man unauffällig und ohne Blutvergießen loszuwerden, lässt der Gangster beide in einen Wassertank sperren, der anschließend geflutet wird. Spider-Man besinnt sich jedoch auf seine Fähigkeiten: Zunächst bedient er sich seiner »Spinnenkraft«,51 um die Fesseln zu sprengen. Anschließend erzeugt er mithilfe seiner selbstgebauten ›Netzdüsen‹52 einen wasserdichten Kokon, unter dem Jameson und er selbst weiterhin Luft bekommen. Als der Tank schließlich geöffnet wird, kann er Kingpins Schergen überwältigen, das Verbrechersyndikat zerschlagen und den Gangsterboss in die Flucht schlagen. Zwar bleibt Kingpin, der nun »neu planen«53 will, eine latente Bedrohung, trotzdem ist die angegriffene Ordnung erst einmal wiederhergestellt. Auch der Konflikt des Vigilanten Spider-Man mit der bestehenden Ordnung, u.a. mit Instanzen der Polizei und mit Jameson, bleibt bestehen, da Spider-Man dem vor Angst erstarrten Zeitungsherausgeber Ge47 | Vgl. Stan Lee/John Romita Sr.: »In den Klauen von Kingpin!«, in: Spider-Man. Die besten Geschichten!, übers. v. Michael Strittmatter, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2004, S. 99118; dies.: »Er stirbt als Held!«, in: Spider-Man. Die besten Geschichten!, S. 119-138. (Zuerst erschienen in The Amazing Spider-Man 1 [1967], H. 51f.) 48 | S. Lee/J. Romita Sr.: »In den Klauen von Kingpin!«, S. 107. 49 | Ebd., S. 100. 50 | Dass der Superheld im Kampf gegen seinen Gegner zunächst versagt, ist eine für Superheldenerzählungen sehr typische Form des retardierenden Moments. Vgl. auch O. Wiener: »der geist der superhelden«, S. 100. Auch die Überlistung des Superhelden ist ein häufig auftretendes Handlungselement: Zwar zeichnen sich manche Superhelden wie der frühe Batman gerade dadurch aus, dass sie nicht nur auf körperliche Kräfte zurückgreifen, sondern auch Detektivarbeit leisten; trotzdem ist in vielen Fällen »die intelligenz […] dem super-schurken überlassen, sie ist sein kennzeichen und seine waffe«. Ebd., S. 97. 51 | S. Lee/J. Romita Sr.: »Er stirbt als Held!«, S. 133. 52 | Am Anfang der Entwicklung von Spider-Man konnte er noch kein organisches Netz erzeugen, wie er es z.B. in den Filmen vermag. 53 | S. Lee/J. Romita Sr.: »Er stirbt als Held!«, S. 134.

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walt androhen musste, um ihn zur Flucht zu bewegen. Obwohl er als Spider-Man nicht in der bestehenden Ordnung akzeptiert ist, steht der Superheld zu seinem Grundsatz »Aus großer Kraft folgt große Verantwortung«:54 »Ich würde immer wieder so handeln… ganz sicher! Ich bin ihm [Jameson, SD/AA] wahrscheinlich zu ähnlich. Er ist ein zwanghafter Miesmacher-Trottel! Ich bin ein zwanghafter Superhelden-Trottel!«55

3. R äume und K onflik te Alle drei Figuren – Jameson, der Kingpin und Spider-Man – gehören, um mit Lotman zu sprechen, jeweils eigenen semantischen Räumen an (Abb. 2), die gesellschaftsstrukturelle, politische, moralische, ideologische o.ä. Konnotationen tragen: der etablierten Ordnung (A), der ›Unterwelt‹ (B), in der das Problem für die etablierte Ordnung seinen Ursprung hat, sowie einer Art ›Anderwelt‹ des Superhelden (C). Alle drei Bereiche sind im geschilderten Beispiel Teil eines sie umfassenden gesellschaftlichen Bezugsraums (H).56 Die Bewegungen der Figuren entsprechen hier zunächst dem in Superheldengeschichten üblichen narrativen Muster, das sich im sogenannten Golden Age of Comic Books herausgebildet hat (1938 bis Mitte der 1950er Jahre):57 Die Instanzen, die hier den der etablierten Ordnung gleichsam aufgepfropften Raum der Unterwelt (B) repräsentieren, dringen in den Raum der bestehenden Ordnung (A) ein und stören dessen innere Struktur durch ihre kriminellen Aktivitäten massiv. Verdeutlicht wird dieser Zustand auf der splash page der Episode »In den Klauen von Kingpin!« (Abb. 1): Kingpin als Instanz von (B) nimmt die Transformation des semantischen Raums (A) nach den Prinzipien von Raum (B) vorweg, indem er ein Modell von New York zerstört. Möglich scheint die Umsetzung seiner Pläne, weil Spider-Man Kingpins Wissen nach seine Superheldenaktivitäten eingestellt hat: »Ohne Spider-Man gehört die Stadt mir!!«, triumphiert der Verbrecherboss. Doch Spider-Man, der im vorangegangenen Heft gesehen hat, dass sein Eingreifen notwendig ist, um die etablierte Ordnung (A) aufrecht zu erhalten,58 dringt nun ebenfalls in den Raum der etablierten Ordnung ein, um sie wiederherzustellen. Dieses Standardschema wird in der Beispielgeschichte jedoch erweitert: Um den Kopf hinter den Angriffen auf die Ordnung ausfindig zu machen, muss Spider-Man in den Raum der Unterwelt (B) eindringen, wobei er entdeckt, dass der Kingpin sich Jamesons bemächtigt und aus Raum (A) in den Raum der Unterwelt (B) entführt hat. Die darauf folgende Auseinandersetzung – bestehend aus einem ersten Höhepunkt (Kampf von Spider-Man und Kingpin), einem retardierenden 54 | Stan Lee/Steve Ditko: »Spider-Man!«, in: Spider-Man. Die besten Geschichten!, übers. v. Michael Strittmatter, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2004, S. 8-18, hier S. 18. (Zuerst erschienen in Amazing Fantasy [1962], H. 15.) 55 | S. Lee/J. Romita Sr.: »Er stirbt als Held!«, S. 138. 56 | Anders verhält es sich bei Geschichten um außerirdische Invasoren u.Ä. 57 | Vgl. P. Coogan: Superhero, S. 193. 58 | Vgl. Stan Lee/John Romita Sr.: »Nie mehr Spider-Man!«, in: Spider-Man. Die besten Geschichten!, übers. v. Michael Strittmatter, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2004, S. 79-98, S. 93f. (Zuerst erschienen in The Amazing Spider-Man 1 [1967], H. 50.)

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Moment (Spider-Man und Jameson im Wassertank) sowie dem Finale (SpiderMan zerschlägt Kingpins Organisation) – führt zur Störung des inneren Raumgefüges der Unterwelt, sodass deren Elemente die etablierte Ordnung nicht mehr gefährden können. Da der Kingpin entkommen kann, bleiben alle Elemente der verschiedenen Räume jedoch erhalten und der Ausgangszustand vor dem Angriff der Unterwelt ist wiederhergestellt.59 Abbildung 2. Semantische Räume in Superheldennarrationen (Grafik: A. Anhut)

Neben den drei im Kern unterschiedlichen Räumen lassen sich in vielen Superheldenerzählungen zusätzlich Überlappungsbereiche ausmachen. Diese liegen immer dann vor, wenn die Elemente, die den einzelnen Räumen angehören, gleichzeitig Teil eines anderen Raums sind. Zum Zeitpunkt der Beispielgeschichte besteht ein (noch sehr schmaler) Überlappungsbereich (E) zwischen dem Raum des Superhelden Spider-Man und dem Raum der etablierten Ordnung. Dieser ist dadurch entstanden, dass der Superheld gelegentlich auch als Peter Parker seine Kräfte anwenden musste.60 Später wird der Überlappungsbereich (E) größer, da 59 | In Superheldenerzählungen werden zwar fast immer die Zustände vor dem Konflikt der Räume (A) und (B) durch den Superhelden wiederhergestellt, aber selbst die Superheldenserie um den häufig als »Erlösergestalt« analysierten Superman entwirft keine futuristische ›Heilszeit‹. Demosthenes Savramis: »Der moderne Mensch zwischen Tarzan und Superman«, S. 119. Vgl. auch Karl-Heinz Ohlig: »Comics und religiöse Mythen«, in: Jutta Wermke (Hg.): Comics und Religion. Eine interdisziplinäre Diskussion, München: Fink 1976, S. 121-136, hier S. 126f. 60 | So etwa in S. Lee/J. Romita Sr.: »Nie mehr Spider-Man!«, S. 93f.

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z.B. seine Freundin Mary Jane, Teil der etablierten Ordnung, von seiner zweiten Identität weiß. Der Überlappungsbereich zwischen allen drei Räumen (G) wird z.B. dann narrativ gefüllt, wenn der Grüne Kobold entdeckt, dass Peter Parker und Spider-Man dieselbe Person sind – wodurch alle Menschen in Parkers sozialem Umfeld potentiell gefährdet sind.61 Bereich (D) wird dann zur Beschreibung von Superheldenerzählungen gemäß dem entwickelten Schema notwendig, wenn das Problem für die bestehende Ordnung von dieser selbst hervorgebracht wurde. Ein Beispiel hierfür ist die rassistische Diskriminierung von Farbigen in den USA, die 1970 in Green Lantern problematisiert wurde.62 Der Bereich (F) erlaubt es, ein für Superheldengeschichten besonders in den 1980er Jahren wichtig gewordenes Thema in das Schema einzuordnen: In einigen Fällen ist der Superheld an der Genese eines Feindes mitschuldig, so etwa Batman, ohne dessen Einwirken aus dem Kleinkriminellen Red Hood nicht der Joker geworden wäre.63 Dieser Teil der Handlung des Comics Batman. The Killing Joke, von dem in Rückblenden berichtet wird,64 ist im semantischen Überlappungsbereich (F) situiert, ebenso wie der zentrale aktuelle Konflikt der Erzählung: Batman und der Joker gestehen sich ein, dass sie mehr Charaktereigenschaften und Einstellungen gemein haben, als sie dachten; die Handlung konstituiert einen semantischen Raum (F), den Raum der gemeinsamen Eigenschaften der Figuren. Am Ende der Erzählung kehren beide jedoch wieder in ihren je eigenen Raum zurück: Zwar scheint auch Batman die Welt für einen »black, awful joke«65 zu halten, er leitet im Gegensatz zum Joker daraus aber keinen moralischen Nihilismus ab, sondern folgt Commissioner Gordons Aufforderung, bei seiner Jagd nach dem Joker, »by the book«66 vorzugehen.67 61 | Vgl. Stan Lee/John Romita Sr.: »Kobold, so grün, so grün…!«, in: Spider-Man. Die besten Geschichten!, übers. v. Michael Strittmatter, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2004, S. 3958, hier S. 53f. (Zuerst erschienen in The Amazing Spider-Man 1 [1966], H. 39.) 62 | Vgl. Dennis O’Neil/Neal Adams: Green Lantern (1970), H. 76. An dieser Ausgabe von Green Lantern wird häufig der Beginn der ›sozialen Kehre‹ in den Superheldencomics festgemacht: Die Themen werden in zunehmendem Maße sozialkritisch, sprich: Die thematisierten Probleme für die etablierte Ordnung sind immer häufiger dem Überlappungsraum (D) zuzuordnen – in den Erzählungen geht es um soziale Ungerechtigkeit, Drogenkonsum u.Ä. Vgl. z.B. Stan Lee/Gil Kane: The Amazing Spider-Man 1 (1971), H. 96-98, die aufgrund des Themas Drogenkonsum kein Comics Code Authority-Siegel von der Comics Magazine Association of America erhielten. 63 | Vgl. Alan Moore/Brian Bolland: Batman: The Killing Joke, New York: DC 1988, o.S. 64 | Deutlich wird hier das Prinzip der retrospective continuity (›retcon‹): Ausgehend von bisher nicht ausgefüllten Lücken der Geschichte in ongoing series – hier die Entstehung des Jokers – wird die betreffende Comic-Tradition neu interpretiert, während sie gleichzeitig den Spielraum der Neuinterpretation durch die den Lesern bekannten, vorangegangenen Geschichten einer Serie begrenzt. Vgl. Don D. Guttenplan: »An Inky, Well-Paneled Place. Comics and the Cold War«, in: The Nation (10.9.2008), URL: www.thenation.com/doc/20080929/ guttenplan/print, Datum des Zugriffs: 6.6.2009. 65 | A. Moore/B. Bolland: Batman: The Killing Joke, o.S. 66 | Ebd. 67 | Viele Superhelden haben ›Erzfeinde‹, die fast immer auch kriminell aktiv sind und damit den o.g. Standardkonflikt in Superheldenerzählungen entstehen lassen. Häufig sind diese

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Alan Moores Watchmen geht darüber noch hinaus: Mit Ozymandias gibt es eine Figur, die in der Struktur der Geschichte dem Raum (F) zur Gänze zuzuordnen ist. Um einen Atomkrieg zu verhindern, und damit auch, dass er lediglich »der klügste Mann auf dem Aschehaufen«68 ist, täuscht Ozymandias den Angriff einer außerirdischen Macht auf die Erde vor. Dabei wird halb New York vernichtet, doch die Welt solidarisiert sich anschließend und der Konflikt zwischen den West- und Ostmächten wird beigelegt. Mithilfe verschiedener narrativer Mittel werden die Konsequenzen dieser von einer klassisch-utilitaristischen Ethik geleiteten Handlung Ozymandias’ zwischen der oben entwickelten Konzeption heldenhaften Handelns (die dem semantischen Raum [C] zuzuordnen ist) und unmoralischen Handlungsweisen, wie sie für (B) typisch sind, verortet. Gleichzeitig gibt es keine Überschneidungspunkte von Ozymandias’ Position mit Raum (A), der etablierten Ordnung, nicht zuletzt, weil seine Handlung gegen diese Ordnung selbst gerichtet ist und auf die Konstitution einer besseren zielt. Ozymandias dringt also in den Raum (A) ein und verändert ihn dabei, wodurch die oppositionelle klassifikatorische Ordnung der Räume (A) und (F) überwunden wird; es liegt mit Watchmen eine der wenigen ›revolutionären‹ Narrationen des Superheldengenres im Sinne Lotmans vor. Wie wir in Abschnitt 4.3 skizzieren werden, findet sich in Watchmen nicht nur ein ›revolutionäres‹ Sujet, die inzwischen kanonisierte Miniserie revolutionierte überdies gemeinsam mit einigen anderen Superheldencomics das Genre selbst und bildete einen vielbeachteten Höhepunkt in dessen selbstreflexiver Wende Mitte der 1980er Jahre.69

4. K onflik tmuster Mithilfe des vorgestellten Raummodells lassen sich die dominanten Konfliktmuster von Superheldenerzählungen herausarbeiten. Diese hängen von mehreren Faktoren ab: (1) Da die meisten Superheldenerzählungen durch ihren Protagonisten, den Superhelden, perspektiviert sind, beeinflussen die Eigenschaften und Ein›Superschurken‹ aber in besonderem Maße auf den betreffenden Superhelden fixiert, woraus gelegentlich Konflikte entstehen, die kaum noch die etablierte Ordnung gefährden, sondern sich fast nur noch zwischen Superheld und Superschurke abspielen (so z.B. der doppelte persönliche Konflikt beider Teile der Mensch-Symbiont-Verbindung Eddie Brock/Venom mit Spider-Man). Fast immer sind jedoch bei Konflikten zwischen Erzfeind und Superheld auch die Prinzipien der etablierten Ordnung (A) bzw. einzelne ihrer Instanzen gefährdet: In Batman: The Killing Joke entführt der Joker Commissioner Gordon zwar auch in den Raum (B), um ihn in den Wahnsinn zu treiben, v.a. jedoch, um Batman in eine Falle zu locken; während des Gewaltmarsches von Doomsday wird Superman zwar zum zentralen Ziel der künstlich erschaffenen Lebensform, doch würde der Superheld nicht eingreifen, würde Doomsday sich andere Ziele suchen, und zwar aus dem Raum der etablierten Ordnung (A). 68 | Alan Moore/Dave Gibbons: Watchmen, übers. v. Uwe Anton, Hamburg: Carlsen 2000, Kap. 11, S. 19. 69 | So wurde Watchmen z.B. als einzige ›Graphic Novel‹ in die Roman-Bestenliste der TIME aufgenommen. Vgl. Andrew Arnold: »All-TIME Graphic Novels«, in: TIME (o.D.), URL: www. time.com/time/2005/100books/0,24459,graphic_novels,00.html, Datum des Zugriffs: 9.6.2009.

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stellungen der Figur, welchen Verlauf die Handlung nimmt und wie die Oppositionen zwischen den verschiedenen Räumen inhaltlich gefüllt werden. (2) Superheldencomics fungieren fast immer »als Widerspiegelung einer gesellschaftlichen Situation« 70 der Realität. Sie referieren zwar unterschiedlich stark auf tatsächliche soziokulturelle Ereignisse und Strukturen, trotzdem kommen die »in den Comic Books dargestellten ›Wirklichkeiten‹ […] der Realität doch sehr nahe« 71 – einerseits hinsichtlich zugrunde liegender gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Strukturen, andererseits hinsichtlich spezifischer Ereignisse wie dem VietnamKrieg,72 Aktionen der Black Panther-Bewegung 73 oder der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der USA.74 Superheldenerzählungen bestätigen meistens die Ordnung des Raums (A) im o.g. Sinne restitutiv, während diese Ordnung besonders durch die dominanten Einstellungen der primären Comic-Leserschaft der jeweiligen Zeit beeinflusst scheint.75 Außerdem ist (3) die Entwicklungsstufe des Genres ein relevanter Faktor dafür, welche Konfliktmuster zu einem bestimmten Zeitpunkt dominant sind. Die Entwicklung hängt zwar immer von kontextuellen Faktoren des jeweiligen Produktionsbereichs narrativer Kulturgüter ab (u.a. im Sinne des zweiten genannten Faktors für die Herausbildung von Konfliktmustern), sie nimmt aber bei vielen Genres einen ähnlichen Verlauf.76 – Im Folgenden werden wir zunächst auf den Einfluss der verschiedenen Typen von Superhelden auf die Herausbildung bestimmter Konfliktmuster in Erzählungen des Genres eingehen, anschließend skizzieren wir die 70 | Umberto Eco: »Der Mythos von Superman«, in: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur (1964), übers. v. Max Looser, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1984, S. 187-222, hier S. 206. 71 | Th. Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden, S. 9. 72 | Vgl. z.B. Stan Lee/John Romita Sr.: The Amazing Spider-Man 1 (1972), H. 109. 73 | Vgl. Frank Robins/Irv Novick: Batman 1 (1971), H. 230. 74 | Vgl. Mark Waid/Barry Kitson: The Amazing Spider-Man 1 (2009), H. 583. 75 | Diese These können wir im aktuellen Rahmen nicht detailliert belegen. Insbesondere der Umstand, dass sich die o.g. kultur- und sozialkritischen Wissenschaftler der 68er-Generation geradezu in die systemaffirmativen Superheldenerzählungen des Golden und Silver Age ›verbissen‹ haben, spricht jedoch dafür, ebenso die Ergebnisse von Thomas Siecks nicht-evaluativer Studie Der Zeitgeist der Superhelden. Sieck stellt z.B. den Wandel der Marvel-Comics heraus, der einsetzte, nachdem festgestellt wurde, dass die älteren Leser eine eher regierungskritische Position bzgl. des Vietnam-Kriegs vertraten. Darüber hinaus ist vielfach belegt, dass sich die Produzenten von Superheldenerzählungen an Wünschen orientierten, die in Leserbriefen, Fanzines und auf ähnlichem Wege geäußert wurden. So berichtet etwa Stan Lee über Leserbriefe zur ersten Ausgabe der Fantastic Four, in denen sinngemäß gedroht wurde: »[I]f you don’t give them colorful costumes, we won’t buy the next issue.« Stan Lee zit.n. P. Coogan: Superhero, S. 43. Mit der dritten Ausgabe der Serie wurden dann tatsächlich die noch immer aktuellen Uniformen des Superheldenteams eingeführt. Im Fall des zweiten Robin, Jason Todd, haben die Leser sich sogar per Telefonabstimmung für seinen Tod ausgesprochen. Vgl. Dennis O’Neil: Introduction, in: Marv Wolfman/George Pérez/Jim Aparo: Batman: A Lonely Place of Dying (1989), New York: DC 1990, o.S. 76 | Thomas Schatz spricht in seiner Analyse von Hollywood-Genres von »generic evolution«. Th. Schatz: Hollywood Genres. Formulas, Filmmaking, and the Studio System, Philadelphia: Temple University Press 1981, S. 36.

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zentralen Konflikte im Laufe der Genreentwicklung unter Bezug auf die jeweiligen soziokulturellen Umstände der Comic-Produktion.

4.1 Typen von Superhelden Zur Kategorisierung von Superhelden sind ganz unterschiedliche Ansätze denkbar. Es ließe sich etwa eine Einteilung der Flut an Figuren aufgrund ihrer Kräfte vornehmen, was ihre Rückführung auf bestimmte kulturelle Muster ermöglichte, insbesondere auf die antike Mythologie.77 Weiterhin ließe sich eine Differenzierung nach Alter, Geschlecht u.ä. Kategorien vornehmen. Besonders bei der Untersuchung der Wirkung auf die jeweilige Leserschaft von Superheldencomics wäre ein solcher Zugang plausibel. Für den hier gewählten narratologischen Zugang erscheint eine andere Einteilung sinnvoll. Welche Konnotation der Raum des Superhelden (C) im vorgestellten Modell trägt, welche semantische Nähe er zu anderen Räumen aufweist, in welchem Maße es zu Überlappungen zwischen den verschiedenen Räumen kommt und welche Grenzen der Superheld überschreitet ist v.a. von zwei Aspekten der Figur beeinflusst: der dominanten ›Grundorientierung‹ des Helden und der Art und Weise, auf welche die Superkräfte erworben wurden (Abb. 3). Beide Faktoren sind zumeist in der origin story des Superhelden begründet.78 Insgesamt lassen sich drei Grundorientierungen der Superheldentypen ausmachen, die wir hier vereinfachend als »Beschützer«, »Rächer und Jäger« sowie »Zweifler« bezeichnen wollen – drei Rollen, die sich auch in der grafischen Realisierung der Figurenkonzepte zeigen, wie in Abb. 3 zu sehen ist.

77 | Peter Coogan stellt »two paradigms of superherodom« heraus: »the superpowered superhero and the non-superpowered superhero«, als deren typische Vertreter er Superman und Batman anführt. P. Coogan: Superhero, S. 9. Diese Einteilung der Superhelden anhand der Art ihrer Kräfte trägt jedoch kaum Implikationen und hilft wenig bei der Analyse von Superheldennarrationen. 78 | Im Folgenden werden wir nicht detailliert auf jeden der zwölf Typen eingehen, da dies den Rahmen des Aufsatzes sprengen würde, sondern nur die wesentlichen Konfliktlinien beschreiben, die aus den verschiedenen Kategorien resultieren.

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Abbildung 3. Typen von Superhelden (Montage: A. Anhut)79

79 | Namen der Figuren und Quellen der Abbildungen: (1) Superman [Mark Waid/Leinil F. Yu: Superman: Birthright (2004), H. 12], (2) Iron Man [Larry Lieber/Don Heck: Tales Of Suspense (1963), H. 39], (3) Flash [Darwyn Cooke: DC: The New Frontier (2004), H. 6], (4) Captain America [Joe Simon/Jack Kirby: Captain America Comics (1941), H. 1], (5) Hellboy [John Byrne/Mike Mignola: Hellboy: Seed Of Destruction, Milwaukie: Dark Horse 1994, o.S.], (6) Batman [Brian Azzarello/Eduardo Risso: Batman 1 (2004), H. 621], (7) Daredevil [Brian M. Bendis/Alex Maleev: Daredevil 2 (2001), H. 26], (8) Spawn [Todd McFarlane/Greg Capullo: Spawn (1996), H. 53], (9) Beast [Roy Thomas/Sal Buscema: The X-Men (1966), H. 66], (10) Night Owl [A. Moore/D. Gibbons: Watchmen, Kap. 7, S. 20], (11) Spider-Man [Roger Stern/ John Byrne: The Amazing Spider-Man 1 (1980), H. 206], (12) Wolverine [Chris Claremont/ Frank Miller: Wolverine Limited Series (1982), H. 3].

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Zwischen den drei Typen gibt es zwar immer Überschneidungen, eine der Grundorientierungen ist jedoch die wichtigste für Handlungsweise und Motivation des Superhelden: Die Gruppe der Beschützer sieht es als ihre Pflicht an, den Raum (A) gegen die Kräfte aus Raum (B) zu verteidigen und Unheil zu verhindern, was Captain Americas Schild symbolisch vor Augen führt (Abb. 3, 4). Auch die Rächer/ Jäger und Zweifler beschützen den Raum (A). Sie handeln aber nicht nur heldenhaft, um zu beschützen, sondern machen meistens gezielt Jagd auf die Instanzen des Raums (B), um diese zu bestrafen. Damit wollen sie das telos ihrer Existenz überwinden (Hellboy [Abb. 3, 5] ist ein Bote der Apokalypse; Spawns Bestimmung ist es, die Truppen der Hölle zu führen) oder sich für etwas rächen, was ihnen widerfahren ist (Batman für die Ermordung seiner Eltern, Daredevil für die seines Vaters) – und nicht selten genießen sie ihre Taten deshalb. So erfährt Daredevil – dessen ›Revier‹ bezeichnenderweise der New Yorker Stadtteil Hell’s Kitchen ist – eine Form der Befriedigung durch die Furcht, die den Mörder seines Vaters packt, als der blinde Superheld ihn verfolgt: »Ich jagte den Fixer um drei Blocks. […] Ich roch Sweeneys salzigen Schweiß. Den Urin, den seine Blase nicht mehr hielt. Es war, als sei ich in ihm.«80 Die Vertreter der Rächer und Jäger repräsentieren nicht wie die Beschützer das Gute, sondern die Heimsuchung des Bösen. Dies wirkt sich auch auf die Wahl ihres Kostüms aus: Statt der hellen, oft in kontrastreichen Primär- und Sekundärfarben gehaltenen Kostüme der Beschützer tragen sie dunkle Kostüme und wählen negativ konnotierte Symbolisierungen ihrer Grundausrichtung: Batmans Zeichen ist die Fledermaus, »a creature of the night, black, ter­ rible«81 (Abb. 3, 6); Matt Murdock wird durch ein rotes Teufelskostüm zu Daredevil (Abb. 3, 7); Spawns Maske deutet einen zornigen Gesichtsausdruck an (Abb. 3, 8). Bei ihren Taten wenden die Rächer und Jäger Methoden an, die jenen der Instanzen aus Raum (B) z.T. sehr nahe kommen, aber entweder in wichtigen Punkten von diesen verschieden bleiben (Batmans Regel, niemals zu töten) und/oder von anderen Zielvorstellungen geleitet sind und dementsprechend zu anderen Resultaten führen (Spawn tötet zwar, verteidigt damit jedoch bewusst den Raum [A], statt ihn anzugreifen) – obwohl die Rächer und Jäger dem Raum (B) recht nahe sind, gehören sie ihm doch nicht an. Trotzdem geraten sie angesichts der oft gewaltsamen Methoden leichter mit den Exekutivorganen der etablierten Ordnung in Konflikt als die anderen Typen von Superhelden. Dies ist u.a. darin begründet, dass sie sich nicht nur aufgrund einer Notsituation, sondern bewusst über die Regeln des Raums (A) hinwegsetzen, denn – wie Daredevil, dessen Alter Ego Matt Murdock als Anwalt arbeitet, bemerkt – »das Gesetz war nicht immer dasselbe wie Gerechtigkeit«.82 Die Gruppe der Zweifler wurde in den 1960er Jahren von Marvel in das Superheldengenre eingeführt. Alle ihre Vertreter haben einen Identitätskonflikt, der mit ihren Superkräften oder der origin story zusammenhängt und zu Konflikten 80 | Jeph Loeb/Tim Sale: »Mann ohne Furcht«, in: Dies.: Daredevil: Gelb, Bd. 1, übers. v. Reinhard Schweizer, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2001, S. 27-50, hier S. 38f. (Zuerst erschienen als Daredevil: Yellow [2001], H. 2.) 81 | B. Finger/B. Kane: »The Legend of the Batman«, S. 139. 82 | Jeph Loeb/Tim Sale: »Die Zeit der Champions«, in: Dies.: Daredevil: Gelb, Bd. 1, übers. v. Reinhard Schweizer, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2001, S. 3-26, hier S. 25. (Zuerst erschienen als Daredevil: Yellow [2001], H. 1.)

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zwischen den Räumen (A) und (C) führt. Nicht zuletzt haben die Verkaufserfolge von Spider-Man dazu geführt, dass die Figur (Abb. 3, 11) zu einem Standardmodell des Zweiflers avancierte und viele spätere Superhelden Spider-Man/Peter Parker und seinen inneren Konflikten nachempfunden wurden. So hat z.B. Invincible – Hauptfigur des gleichnamigen und vielgelobten »perfekten, modernen Comics« 83 von Robert Kirkman – Zweifel, die sowohl seine Superheldenaktivitäten als auch seine Partizipation an der Welt der ›normalen Menschen‹ betreffen und denen von Spider-Man gleichkommen:84 Einerseits gefällt es Marc Grayson, wie andere Teenager leben, auch er möchte seine Freunde treffen und eine Beziehung führen, wobei ihm das Gefühl der Verpflichtung zum heldenhaften Handeln im Weg steht. Andererseits weiß er um seine Verantwortung als Invincible – und genießt es zudem, seine Fähigkeiten nutzen zu können. An der Figur Invincible lässt sich darüber hinaus ein typischer Wechsel der Grundorientierung illustrieren: Je erwachsener er wird, mit umso höherer Sicherheit wählt Invincible die Rolle des Beschützers und überwindet seine Zweifel. Dass er der mächtigste Superheld auf der Erde ist, bestärkt ihn zusätzlich in seiner Wahl.85 Mit diesem Wandel ändern sich auch die Geschichten um die Figur: Das Leben als Marc Grayson wird immer seltener thematisiert, während seine Superheldenaktivitäten immer häufiger werden und globalere Dimensionen annehmen. Auch die verschiedenen Weisen, auf welche die Superhelden ihre Kräfte erworben haben (Abb. 3, vertikale Achse), ziehen bestimmte Konflikte nach sich: Mit Superkräften geboren zu sein, impliziert eine deutliche Differenz des Raums (C) und damit des Superhelden zu den ›Normalsterblichen‹ und ihrer Welt (A): Superman (Abb. 3, 1) hat nicht ohne Grund einen Rückzugsort in der Arktis, die ›Festung der Einsamkeit‹, obwohl er sich für die Werte des Raums (A) der meisten Superman-Geschichten – »truth, justice and the American way« 86 – entschieden hat; Hellboy (Abb. 3, 5) wird von den Menschen nicht akzeptiert, weil sein natürliches Erscheinungsbild ihnen trotz seiner guten Taten Angst einjagt; in den X-Men-Geschichten führen die Unterschiede zu geradezu rassistischen Ausgrenzungen der Mutanten. Diese werden entweder Superhelden, die es sich zur Aufgabe machen, die Menschen trotz deren Vorbehalte zu beschützen, oder agieren gegen den Raum (A), um die schwächeren Menschen zu unterwerfen oder eine Verfolgung der ausgegrenzten Mutanten im Voraus zu vereiteln, so z.B. Magneto. Eine weitere Gruppe Superhelden ist selbst für ihre Kräfte verantwortlich: IronMan (Abb. 3, 2) wurde zu einem »Self-Made Superhero«,87 indem er sich eine Rüstung anfertigte, die ihn nicht nur schützt, sondern stärker und schneller macht, über Waffen verfügt und ihm erlaubt, zu fliegen; Batman (Abb. 3, 6) »trains his 83 | Jörg Böckem: »Super, dieser Typ!«, in: Spiegel online (18.9.2007), URL: www.spiegel. de/kultur/literatur/0,1518,druck-505803,00.htm, Datum des Zugriffs: 27.5.2009. 84 | So zu sehen im Film Spider-Man 2 (2004) und in S. Lee/J. Romita Sr.: »Nie mehr SpiderMan!«, S. 85f. 85 | Vgl. z.B. Robert Kirkman/Ryan Ottley: Invincible (2007), H. 41, o.S. 86 | Karin Kukkonen: Neue Perspektiven auf Superhelden. Polyphonie in Alan Moores Watchmen, Marburg: Tectum 2008, S. 35. 87 | »Iron Man (Tony Stark)« (o.V.), in: Marvel Universe. The Definitive Online Source for Marvel Superhero Bios (2009), URL: www.marvel.com/universe/Iron_Man_(Anthony_Stark), Datum des Zugriffs: 30.5.2009.

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body to physical perfection«88 und »becomes a master scientist«.89 Die Wahl, ein Superheld zu werden, geht in den meisten Fällen mit einem besonderen Willen einher, die selbst gewählte Mission auch zu erfüllen (der Zweifler Night Owl aus Watchmen [Abb. 3, 10] ist eine Ausnahme). Dies kann zur Wahl rigoroser Methoden führen, um die eigenen Ziele zu erreichen, woraus wiederum Konflikte mit den Regeln und Instanzen des Raums (A) resultieren. Die Superhelden, bei denen ein »eigenartiger zufall«90 die Entwicklung ihrer Kräfte nach sich gezogen hat, hadern häufig mit ihrer neuen Identität, deren Kräfte sie befähigen, den Raum der etablierten Ordnung (A) zu beschützen: Peter Parker/ Spider-Man (Abb. 3, 11) erhält seine Kräfte durch den zufälligen Biss einer radioaktiv verseuchten Spinne. Zunächst setzt er seine Kräfte ein, um bei Schaukämpfen Geld zu gewinnen. Als er vom Veranstalter der Kämpfe um seinen Gewinn betrogen wird und dieser anschließend ausgeraubt wird, lässt Spider-Man den Dieb entkommen. Später tötet der Dieb Peter Parkers Onkel, sodass Parker erst am Ende seiner origin story »auf tragische Weise zur Erkenntnis«91 kommt: »Aus großer Kraft folgt große Verantwortung!«92 Ergebnis des Versäumnisses, den Dieb rechtzeitig festzusetzen, ist ein innerer Konflikt Spider-Mans, der seinem Handeln stets mit zugrunde liegt: »Spider-Man is seeking revenge on himself.«93 Gleichzeitig führt der zufällige Erwerb seiner Kräfte zu Problemen, seine beiden Identitäten, mit denen er jeweils unterschiedlichen Räumen angehört, miteinander zu vereinen. Dabei resultieren aus dem Wunsch, gleichzeitig der Verpflichtung zum heldenhaften Handeln nachzukommen und das Sozialleben eines ›normalen Menschen‹ zu führen, noch stärkere Konflikte als beim Spider-Man nachempfundenen Superhelden Invincible, dessen Kräfte angeboren sind. Daredevils Kräfte hingegen ermöglichen ihm erst, wie oben geschildert den inneren Konflikt zu überwinden und als Anwalt Matt Murdock das Gesetz walten zu lassen, als Daredevil jedoch jene zu bestrafen, die juristisch nicht belangt werden können (Abb. 3, 7). Die letzte Gruppe der Superhelden hat ihre Superkräfte verliehen bekommen: Steve Rogers ist durch ein Experiment der US-Armee zu Captain America geworden (Abb. 3, 4); Al Simmons wurde vom Höllenfürsten Malebolgia zum Hellspawn gemacht (Abb. 3, 8); James ›Logan‹ Howlett hat seine zweite Identität Wolverine angenommen, nachdem er im Rahmen des Weapon X-Supersoldaten-Programms für Experimente missbraucht und seine Knochen mit dem fiktiven Metall Adamantium überzogen wurden.94 Die Eingriffe einer fremden Macht konstituieren in den genannten Fällen den Raum des Superhelden (C), wodurch entweder ein besonders affirmatives oder oppositionelles Verhältnis zwischen diesem und dem Raum der fremden Macht besteht: Am Anfang der Entwicklung von Captain America unterscheiden sich beide Räume, hier (A) und (C), lediglich durch den Umstand, dass 88 | B. Finger/B. Kane: »The Legend of the Batman«, S. 139. 89 | Ebd. 90 | O. Wiener: »der geist der superhelden«, S. 94. 91 | S. Lee/S. Ditko: »Spider-Man!«, S. 18. 92 | Ebd. 93 | Danny Fingeroth: Superman on the Couch. What Superheroes Really Tell Us about Ourselves and Our Society, New York, London: Continuum 2004, S. 75. 94 | Vgl. Barry Windsor-Smith: Marvel Comics Present 1 (1991), H. 72-83. Im Film X-Men Origins: Wolverine (2009) willigt Logan hingegen in das Experiment ein.

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die Figur ein Superheld ist.95 Die Werte, die er repräsentiert, entsprechen denen der etablierten Ordnung (A), was sein Kostüm in den Farben und dem Muster der US-amerikanischen Flagge verdeutlicht: Es macht ihn zum »living symbol«,96 was auch in den Comics selbst reflektiert wird. Die frühen Erzählungen um Captain America sind mithin durchweg restitutiv: Er verteidigt die bestehende Ordnung und kämpft gegen ihre Feinde u.a. gegen Hitler.97 Spawn und Wolverine wenden sich gegen ihre Schöpfer: In Spawn liegt nicht nur ein Konflikt vor, der sich in den Räumen (B) und (C) abspielt, Spawn versucht zudem, das Eindringen der Vertreter der Hölle in Raum (A) zu verhindern; die Weapon X-Storyline um Wolverine betrifft Raum (A) hingegen nur indirekt: Indem Wolverine den Verantwortlichen für seine Misshandlungen tötet, setzt er sich zwar über die moralischen Normen der etablierten Ordnung hinweg, ihre Normen bilden im Rahmen der Narration jedoch nur einen indirekten Bezugspunkt für die Beurteilung seiner Handlungen, da die etablierte Ordnung von seinen Handlungen nicht betroffen ist.

4.2 Die ›mythische Legitimation‹ der Superhelden Wie bereits dargestellt wurde, haben die meisten Superheldengeschichten restitutive Sujets, die von der Wiederherstellung der etablierten Ordnung erzählen, in der sich die »gesellschaftliche […] Situation«98 der Zeit widerspiegelt. Dieses im Golden Age der Comic Books entwickelt Standardschema der Handlung von Superheldencomics (in Abschnitt 3 anhand der Spider-Man-Geschichte verdeutlicht) ist noch immer das am häufigsten auftretende Narrationsmuster; die Superhelden gehen »mit dem Geist der Zeit, doch sie hinterfragen diesen Zeitgeist selten«.99 Das Standardschema bildet deshalb den Hintergrund der folgenden Ausführungen. Die aus seinem Sujet ableitbare Makroproposition lautet, vereinfacht formuliert: »Sicherheit für alle«.100 Es wird jedoch nicht nur eine Bestätigung des Raums (A) auf der narrativen Ebene vorgenommen, diese Bestätigung erfährt darüber hinaus eine narrationsinterne Begründung in mehrerlei Hinsicht: Begründet werden einerseits die Struktur des Raums (A), andererseits die Handlungen und Handlungsmodi der Superhelden. Auf inhaltlicher Ebene sind es moralische, politische, ökonomische oder gesellschaftliche Konstrukte, die erhalten und durch die Handlungen der Superhelden bestätigt werden. Da diese Konstrukte aufgrund der Struktur der Superheldenerzählungen die (in ihrer Allgemeinheit unspezifische) Konnotation tragen, moralisch richtig zu sein, haben die Begründungen dieser Konstrukte meistens die Funktion von Rechtfertigungen. Ihre Rechtfertigungsfunktion erfüllen sie dabei 95 | Von den 1970er Jahren an kommt es auch zu Konflikten mit der US-Regierung, die Steve Rogers mehrmals dazu bewegen, die Captain America-Identität aufzugeben. Vgl. z.B. Steve Englehart/Sal Buscema: Captain America 1 (1974), H. 180. 96 | Stan Lee/Jim Steranko: Captain America 1 (1969), H. 113, S. 15. 97 | So zu sehen bereits auf dem Cover der ersten Ausgabe der Serie. Vgl. Joe Simon/Jack Kirby: Captain America Comics. 98 | K. Kukkonen: Neue Perspektiven auf Superhelden, S. 34. 99 | Ebd. 100 | Ulrike Drechsel/Jörg Funhoff/Michael Hoffmann: Massenzeichenware. Die gesellschaftliche und ideologische Funktion der Comics, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 80.

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ganz unabhängig davon, wie sich die »Bestätigung eines Modells«101 der Moral, der Gesellschaft, des politischen oder ökonomischen Systems und die Art der Handlungen des Helden argumentativ tatsächlich rechtfertigen lassen. Und darum soll es im Folgenden auch nicht gehen: Während die ideologiekritisch ausgerichtete Comicforschung der 1950er bis 1970er Jahre zumeist auf Grundlage psychologistischer Methoden zu dem Ergebnis kam, dass Comics eine »eskapistisch-befriedigende«102 Wirkung auf ihre Leser hätten und deshalb abzulehnen oder zumindest kritisch zu rezipieren wären, soll im Folgenden lediglich skizziert werden, welche narrativen Mechanismen den Status von Handlungen, ihrer Modi und ihrer Resultate begründen und dadurch gerechtfertigt erscheinen lassen. Wie diese scheinbare Rechtfertigung tatsächlich zu bewerten ist, ist nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen. Dass wir herausarbeiten, welche Anknüpfungspunkte Superheldenerzählungen Argumentationsstrategien wie den genannten bieten, ermöglicht jedoch ein Verständnis eben dieser evaluativen Rezeption des Genres. Wie kommt es nun zur Begründung der o.g. Konstrukte? Durch spezifische narrative Mittel und Strukturen werden insbesondere zwei Aspekte narrativ ›legitimiert‹: erstens das, was die etablierte Ordnung repräsentiert; zweitens die Wahl und Art der Handlungen des Superhelden. (1.1) Da Superheldencomics zumeist seriell angelegt sind, wird das, was der Raum (A) repräsentiert, wieder und wieder durch das Eingreifen des Superhelden bestätigt. Umberto Eco spricht in seinem berühmten Aufsatz »Der Mythos von Superman« deshalb vom »Wiederholungsschema«103 der Superheldencomics:104 Ähnlich wie typische Mythenerzählungen erzählen Superheldengeschichten von der »Erfahrung des schutzlosen Ausgeliefertseins an die Kontingenzen einer nicht beherrschten Umwelt«,105 in diesem Fall bedingt durch den Umstand, dass der ›Existenzraum‹ (H) der Instanzen von Raum (A) ebenfalls die Bedrohung durch die Instanzen des Raums (B) beinhaltet, also auch Verbrecher, Naturkatastrophen usw. Der Superheld löst diese Probleme durch sein Eingreifen, und ebenso wie in Mythenerzählungen gilt: »[T]he unintelligible – randomness – is reduced to the intelligible – a pattern«.106 Auch in Mythenerzählungen wird von der Strukturierung und Ordnung einer fiktionalen Welt erzählt,107 was 101 | Ebd., S. 206. 102 | Norbert Groeben: »Mythos contra Erklärung. Dimensionen eines psychologischen Konflikts«, in: Jutta Wermke (Hg.): Comics und Religion. Eine interdisziplinäre Diskussion, München: Fink 1976, S. 137-167, hier S. 139. 103 | U. Eco: »Der Mythos von Superman«, S. 206. 104 | Es geht hier – wie bereits angedeutet – nicht um die wiederholte Rezeption des Standardschemas durch die Leser der Serie. Vielmehr beziehen wir uns mit Ecos Begriff auf die Wiederholung von Sujets im Rahmen der sie umfassenden ›großen Erzählung‹, der Serie. Durch die ständige Wiederholung des Standardschemas erhält dieses innerhalb der narrativen Struktur der Serie eine besondere Signifikanz. 105 | Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 78. 106 | Pierre Maranda: »The Dialectic of Metaphor. An Anthropological Essay on Hermeneutics«, in: Susan R. Suleiman/Inge Crosman (Hg.): The Reader in the Text. Essays on Audience and Interpretation, Princeton: Princeton University Press 1980, S. 183-204, hier S. 192. 107 | Vgl. Michael Neumann: »Metamorphosen der Sage. Eine literaturanthropologische Skizze«, in: Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literatur-

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natürlich insbesondere für Ursprungsmythen gilt: »Zuerst nun war das Chaos«,108 heißt es am Anfang von Hesiods Theogonie; aus dem Chaos entsteht die Welt, und mit ihr werden die verschiedenen Räume zu »Zuständen, Revieren, Territorien«109 semantisiert. Es liegt also in Superheldencomics eine ähnliche Struktur wie im Mythos vor, zumal auch in Mythenerzählungen oppositionelle Strukturen wie die Räume (A) und (B) in Superheldengeschichten in Einklang miteinander gebracht, mindestens jedoch durch den Protagonisten unterworfen oder überwunden werden (so. z.B. die Anderwelten, mit denen Odysseus während seiner Irrfahrt konfrontiert ist): »Die Grundstruktur des Mythos besteht in der Vermittlung logischer Widersprüche analog der binären Opposition in der Sprache«.110 Durch die ständige Wiederholung dieser Auflösung von Konflikten zwischen den Räumen (A) und (B), indem also wie in den immer wieder transformierten oder nachgeahmten Mythenerzählungen stets derselbe »Elementargedanke«111 bestätigt wird und es zur ständig wiederholten Durchsetzung einer moralischen o.ä. Ordnung kommt, verwandeln auch Superheldenserien »Geschichte in Natur«112 und bestätigt die einzelne Superheldenerzählung »als Wiederholung die Ewigkeit des Tatsächlichen«113 in der fiktionalen Welt. Durch den narrativen Modus des Äußerungszusammenhangs gelingt es Superheldengeschichten ebenso wie Mythenerzählungen »intentionale Rechtfertigungen von ihrer Intentionalität zu entkleiden«114 – und mithin lassen sie sich mit weitestgehend beliebigen Werten verbinden.115 Durchgesetzt wird die jeweilige Ordnung von Figuren, deren Bezügen auf mythologische Figuren sich die Forschung bereits häufig gewidmet hat:116 Wie wissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn: mentis 2006, S. 193216, hier S. 204. 108 | Hesiod: Theogonie, hg. u. übers. v. Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 1999, S. 13 (V. 116). 109 | Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 38. 110 | So Christoph Jammes Rekonstruktion der zentralen These von Claude Lévi-Strauss’ Mythentheorie. Vgl. Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 120. 111 | Joseph Campbell: »Schöpferische Mythologie« (1968), übers. v. Hans U. Möring, in: Wilfried Barner/Anke Detken/Jörg Wesche (Hg.): Mythentheorie, Stuttgart: Reclam 2003, S. 164-174, hier S. 172. 112 | Barthes weist darauf hin, dass dies eine der zentralen Funktionen von Mythen ist. Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, übers. v. Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 113. 113 | Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt a.M.: S. Fischer 1969, S. 33. 114 | N. Groeben: »Mythos contra Erklärung«, S. 152. 115 | Vgl. ebd., S. 153. 116 | Vgl. exemplarisch Don LoCicero: Superheroes and Gods. A Comparative Study from Babylonia to Batman, Jefferson, London: McFarland 2008. Systematische Zugänge zur Untersuchung von Superheldenerzählungen als Mythenerzählungen finden sich z.B. bei U. Eco: »Der Mythos von Superman«; Ole Frahm: »Wer ist Superman? Mythos und Materialität einer populären Figur«, in: Stefanie Diekmann/Matthias Schneider (Hg.): Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit, Berlin: SuKuLTuR 2005, S. 145-

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die mythischen Figuren sind die Superhelden durch ihre besonderen Fähigkeiten eine prinzipiell von den Instanzen des Raums (A) verschiedene Größe, und ihre Geschichten erzählen dementsprechend auch hinsichtlich der Hauptfiguren, nicht nur hinsichtlich der ›unbeherrschten Kräfte‹ des Raums (B), »von dem ›Stärkeren‹ und seiner Macht«.117 (1.2) Dass es der Superheld ist, der die etablierte Ordnung bestätigt, legitimiert diese zusätzlich, denn die Wahl seiner Handlungen und ihrer Modi wird in den Superheldenerzählungen auf eine besondere Weise begründet: (2) Die ›Legitimation‹ der Handlungen von Superhelden basiert natürlich nicht nur auf dem bloßen Vorhandensein ihrer besonderen Fähigkeiten. Vielmehr ist sie auf den Umständen basiert, die mit dem Erwerb der Fähigkeiten einhergingen oder zu den Superkräften geführt haben: Die origin stories erzählen zwar vom Erwerb der Superkräfte, begründen aber v.a. die Motivation der Figuren, ein Leben als Superheld zu führen, ebenso wie die Entstehungsgeschichten vieler Superschurken berichten, wie diese zu Instanzen des Raums (B) geworden sind. Bruce Wayne etwa wurde zu Batman, weil er mitansehen musste, wie seine Eltern getötet wurden. Angesichts dieser Erfahrung scheint er in seinem Handeln in besonderem Maße gerechtfertigt zu sein. Jeff Brenzel weist in seinem Aufsatz »Why Are Superheroes Good?« jedoch darauf hin, dass origin stories wie jene von Batman »more as signs or interpretations of character than as explanations«118 dafür fungieren, dass Superhelden gut handeln. Noch weniger angemessen ist es, von der schicksalhaften Erfahrung der Figur darauf zu schließen, dass sie gut handelt und die richtige Ordnung bzw. die richtigen Konstrukte im o.g. Sinne mit ihrem Handeln bestätigt. Es liegt vielmehr ein Begründungszusammenhang vor, den wir »mythische Setzung« nennen möchten: Auch Mythentexte zeigen nicht in Form einer argumentativ entwickelten Theorie auf, warum etwas auf eine bestimmte Art und Weise ist. Es wird vielmehr ein begründendes Ereignis gesetzt, von dem aus die Handlungen der Mythenerzählungen ihren Lauf nehmen:119 Die vorgenommenen Setzungen des Philoktet-Dramas von Sophokles sind z.B. erstens der Umstand, dass Philoktet von einer Schlange gebissen wurde und wegen seiner übel riechenden Wunde mit seinem Bogen auf der Insel Lemnos ausgesetzt wurde, zweitens die Prophezeiung, dass der Krieg gegen Troja nur mit dem Bogen des Philoktet gewonnen werden könne. Von diesen beiden nicht weiter begründeten oder erklärten Prämissen geht die Handlung von Sophokles’ Drama und der nachfolgenden Rezeption aus. Auch die Entwicklung zum Superhelden wurde (zumindest in der Anfangszeit des Genres) nicht genauer geschildert: »[D]ie Figuren sind einfach

158; Hannes Fricke: »Batmans Metamorphosen als intermedialer Superheld in Comic, Prosa und Film: Das Überleben der mythischen Figur, die Urszene – und der Joker«, in: IASLonline (7.4.2009), URL: www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3071, Datum des Zugriffs: 10.5.2009. 117 | Walter Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, 2. Aufl., Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 44. 118 | Jeff Brenzel: »Why Are Superheroes Good? Comics and the Ring of Gyges«, in: Tom Morris/Matt Morris (Hg.): Superheroes and Philosophy. Truth, Justice and the Socratic Way, Chicago, La Salle: Open Court 2005, S. 147-160, hier S. 153. 119 | Vgl. H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 297f.

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plötzlich da; oder ihre Entwicklung wird in einem Vorspann zur gesamten Serie in Form einer Legende geschildert (Superman, Batman, Spider-Man).«120 Der Schicksalsschlag, den die meisten der späteren Superhelden in ihrer origin story erleiden müssen, fungiert als Erklärung dafür, warum die Entscheidung getroffen wurde, heldenhaft im o.g. Sinne zu handeln. Gleichzeitig fungiert diese Erklärung der origin story, auf die bei fast allen Superhelden im Laufe ihrer Serien immer wieder verwiesen wird, als Legitimation ihrer Handlungen und lässt diese in mehrfacher Weise gerechtfertigt erscheinen: So bewirkt die von der Erzählinstanz vorgenommene wiederholte Betonung seines Schicksalsschlags, dass Batmans Taten im Kontext der fiktionalen Welt durch das Leid, das er erfahren musste, in höherem Maße gerechtfertigt wirken als die der übrigen Figuren – abgesehen vielleicht vom ersten Robin, Dick Grayson, dessen Eltern ebenfalls von Verbrechern getötet wurden.121 Zwar führt Batman eine »personal vendetta«,122 um Rache für den Tod seiner Eltern zu nehmen, doch lässt der allgemeine Anspruch, »warring on all crime«,123 vermuten, dass er außerdem anderen Leid ersparen möchte – zumindest besteht eine Spannung zwischen dem gesetzten Ziel, Rache für den Tod der Eltern, und dem gewählten Mittel, um das Ziel zu erreichen, einen Krieg gegen das Verbrechen insgesamt zu führen. Zweitens dient sein Handeln einem höheren Ziel als der Durchsetzung des Gesetzes, nämlich der Realisierung »eine[r] neuen Ethik«:124 Wie in der oben erwähnten origin story der Figur Daredevil wird den unpersönlichen juristischen Regeln ein moralischer Gerechtigkeitsbegriff übergeordnet, der im Fall von Daredevil und Batman zudem durch das Schicksal der Hauptfigur affektiv aufgeladen ist. Nur das Wirksamwerden der ›neuen Ethik‹ führt in Superheldenerzählungen dazu, dass die Ordnung des Raums (A) wiederhergestellt ist. Den Vertretern des Gesetzes gelingt diese Aufgabe nicht, wodurch die Superhelden zu Repräsentanten der einzigen »überhaupt […] tragfähigen Moral«125 werden. Dementsprechend ist Batman besonders zu Beginn der Serie auch »outside of the realm of ideology, the controlling force of the State«126 zu verorten und wirkt auf einer höheren Ebene gerechtfertigt. Diese legitimatorische narrative Begründung, die sich aus den origin stories der Superhelden und der oppositionellen Raumkonstellation ableiten lässt, wurde im 120 | Hartwig Frankenberg: »Mythos als eine narrative Kategorie von Texten«, in: Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten (Hg.): Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979, Berlin: Schmidt 1983, S. 250-261, hier S. 257f. 121 | Erst später in der Entwicklung von Superheldenserien, insbesondere im Iron Age der 1980er Jahre, wurden die origin stories darüber hinaus zur radikalen Neuinterpretation der jeweiligen Superheldenfigur genutzt. So wird etwa Batman in hohem Maße ›vermenschlicht‹, seine Emotionen werden nachvollziehbarer und seine Kräfte relativiert. Vgl. etwa Frank Miller/David Mazzucchelli: Batman. Year One (1987), New York: DC 1988. 122 | W. Brooker: Batman Unmasked, S. 53. 123 | B. Finger/B. Kane: »The Legend of the Batman«, S. 139. 124 | U. Eco: »Der Mythos von Superman«, S. 216. 125 | Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008, S. 502. 126 | Jamie A. Hughes: »›Who Watches the Watchmen?‹ Ideology and ›Real World‹ Superhe­ roes«, in: Journal of Popular Culture 39 (2006), S. 546-557, hier S. 546.

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Laufe der Entwicklung des Superheldengenres umgedeutet, verstärkt jedoch seit den 1980er Jahren, insbesondere durch den Einfluss von Frank Millers Batman. The Dark Knight Returns (1986) sowie Alan Moores Watchmen (1986f.) und Batman. The Killing Joke (1988). So zeigt z.B. Martin Schüwers detaillierte narratologische Analyse der Konfrontation von Batman und Two Face in Millers Batman. The Dark Knight Returns,127 dass als Hauptmovens des Superhelden »die eigene Besessenheit«128 angeführt wird – und diese vermag kaum mehr, eine legitimatorische Funktion zu erfüllen.129

4.3 Ausblick: Dominante Konfliktlinien im Laufe der Genreentwicklung Viele wissenschaftlich ausgerichtete Betrachtungen, besonders aber solche, die ein breiteres Publikum avisieren, beschreiben die chronologische Entwicklung des Superheldengenres ohne einen systematischen Bezugsrahmen. Eine Ausnahme bildet Peter Coogans bereits erwähnte Dissertation Superhero. Coogan geht bei seiner Rekonstruktion von Thomas Schatz’ Modell der ›evolutionären Genreentwicklung‹ aus: »A genre’s progression from transparency to opacity – from straightforward storytelling to self-conscious formalism«130 – scheint der Normalfall zu sein. Erstens wird also im Laufe der Genre-Entwicklung sowohl quantitativ als auch qualitativ in zunehmendem Maße transformatorisch Bezug auf die Genre-Regeln genommen (im Sinne von Genettes Parodie, Travestie bzw. Transposition).131 Zweitens wird in zunehmendem Maße genrereflexiv erzählt. Schatz differenziert – v.a. aus heuristischen Gründen – unterschiedliche Stufen der Zunahme an Selbstreferentialität: A form passes through an experimental stage, during which its conventions are isolated and established, a classic stage, in which the conventions reach their ›equilibrium‹ and are mutually understood by artists and audience, an age of refinement, during which certain formal and stylistic details embellish the form, and finally a baroque (or ›mannerist‹ or ›self-reflexive‹) stage, when the form and its embellishments are accented to the point where they are the ›substance‹ or ›content‹ of the work.132

127 | Frank Miller: Batman. The Dark Knight Returns, New York: DC 1986, Kap. 1, S. 47. 128 | M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 504. 129 | Gleichzeitig finden sich in der späteren Entwicklung des Batman-Handlungsraums Darstellungen, die Batmans Eingreifen umso relevanter wirken lassen: Im Gegensatz zu den frühen Comics, in denen Gotham City noch nicht als von Korruption gebeutelter Moloch präsentiert wird, scheint Batmans Eingreifen notwendig zu sein, weil die Gesetzesorgane selbst zu einem großen Teil dem Einfluss aus Raum (B) erlegen oder diesem Raum zuzuordnen sind. Deutlich wird dies z.B. an der Neuausrichtung der Figur Batman in F. Miller/D. Mazzucchelli: Batman. Year One. 130 | Th. Schatz: Hollywood Genres, S. 38. 131 | Vgl. G. Genette: Palimpseste, S. 44. 132 | Th. Schatz: Hollywood Genres, S. 37f. Schatz selbst orientiert sich bei der Bezeichnung der verschiedenen Stufen der Genreentwicklung an Henri Focillon: Life of Forms in Art, New York: Wittenborn 1942.

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Diese vier Stufen lassen sich, wie Coogan herausgearbeitet hat, ebenso in der Entwicklung des Superheldencomics ausmachen: Das sogenannte Golden Age of Comic Books (1938 bis Mitte der 1950er Jahre) entspricht Schatz’ experimental stage, das Silver Age (Mitte der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre) der classic stage, das age of refinement entspricht dem Bronze Age (Anfang der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre) und Schatz’ baroque stage dem Iron Age (Anfang der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre). Coogan erweitert Schatz’ Schema richtigerweise um die »reconstructive stage«,133 was notwendig ist, um das Renaissance Age der Entwicklung des Superheldengenres zu beschreiben (Anfang der 1990er bis nach der Jahrtausendwende). In diesem, so Coogan, »the conventions of the genre are reestablished«.134 Coogan stellt im Rahmen seiner Ausführungen zum letzten angeführten Zeitalter in Aussicht, dass Genreentwicklungen zyklisch verlaufen würden und mit der reconstructive stage ein neuer Zyklus begänne.135 Diesen letzten Schritt möchten wir nicht mitgehen. Vielmehr nehmen wir einen systematischen Zusammenhang der Entwicklung von Genres und der Ausdifferenzierung eines Feldes im Sinne Bourdieus an: Wie oben bereits erwähnt wurde, geht Coogan in seiner Darstellung der Genreentwicklung nicht darauf ein, dass einer Entwicklungsstufe vorangegangene Formen der Realisierung des Genres nicht verschwinden, sondern höchstens an Relevanz für das jeweilige Feld verlieren; wahrgenommen werden zwar v.a. Traditionsbrüche, trotzdem werden Erzählformen der verschiedenen Comic Book›Zeitalter‹ weiterhin von Comic-Produzenten angewandt oder bleiben als (bewusste oder unbewusste) Bezugspunkte der Produktion und Rezeption präsent. Kurz: Aufmerksamkeit bekommen weniger bestehende, sondern neue Positionen, die im sich entwickelnden Feld eingenommen werden, da innovative Variation auch in populärkulturell geprägten Feldern einen der wichtigsten Wertmaßstäbe von Produzenten wie auch Konsumenten darstellt.136 Schatz lässt exemplarisch den Filmkritiker Robert Warshow zu Wort kommen, der feststellt: »Variation is absolutely necessary to keep the type from becoming sterile; we do not want to see the same movie over and over again, only the same form.«137 Auch der Populärkulturforscher Henry Jenkins betont die Relevanz der Variation für die Bindung der Rezipienten an Comic-Serien um Superhelden: »[T]here is a continual need to generate diversity

133 | P. Coogan: Superhero, S. 194. 134 | Ebd., S. 220. 135 | Ebd., S. 197. 136 | Ein Feld der kulturellen Produktion sei mit Bourdieu als ein nach spezifischen Regeln strukturierter wandelbarer sozialer Raum verstanden, in dem Produzenten von ästhetischen Werken unterschiedliche Positionen besetzen können. Jede Position ist durch die Relationen zwischen den im Feld insgesamt bestehenden Positionen objektiv bestimmt. Ob ein Produzent eine bestimmte distinkte Position einnehmen oder weiterhin besetzen kann, resultiert in Folge einer relevanten Äußerung (Werk, Rede, nicht sprachliche Handlung etc.) (a) aus den im Feld wirkenden Kräften, die sich wiederum aus der Relation zwischen den verschiedenen Positionen ergeben, und (b) aus den Konkurrenz- und Definitionskämpfen der Akteure, die sich als Abfolge aufeinander beziehbarer spezifischer Äußerungen realisieren. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (1992), übers. v. Bernd Schwibs/Achim Russer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 365. 137 | Robert Warshow zit.n. Th. Schatz: Hollywood Genres, S. 36.

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within the superhero genre to retain the interest of long standing readers and to capture the interest of new ones.«138 Im Laufe der Ausdifferenzierung des Feldes der Superheldenerzählungen139 werden also ausgehend von früheren Realisierungen des Genres neue Narrationen kreiert140 – und zwar nicht nur um neue Figuren, auch hinsichtlich einer Figur vollzieht sich nach und nach »a shift away from focusing primarily on building up continuity within the fictional universe and towards the development of multiple and contradictory versions of the same characters«.141 Dies spricht ebenfalls dafür, dass Genreentwicklung nicht zyklisch erfolgt. Vielmehr werden im Laufe der oben dargestellten ›Evolution‹ eines Genres immer neue, zusätzliche Positionen eingenommen, einerseits solche, die zu den bisher bestehenden antagonistisch ausgerichtet sind, andererseits solche, die etablierte Positionen lediglich variieren – und Letzteres ist im v.a. heteronom strukturierten Feld der Superheldenerzählungen der Normalfall.142 Wir nehmen an, dass – wie im Folgenden skizziert wird – durch den ›Angriff‹ des Verlags Image Comics auf den Comics Code bis Mitte der 1990er Jahre einer der letzten großen Schritte in der Ausdifferenzierung des Feldes der Superheldenerzählungen gemacht wurde. Statt eines neuen Zyklus, so macht die Entwicklung des Genres seit Ende der 1990er Jahre deutlich, liegt vor den Rezipienten von Superheldennarrationen u.E. aber ein ›pluralistisches Zeitalter‹.143 In diesem gibt es zwar ›Moden‹ und ›Trends‹, diese wechseln sich jedoch erstens schneller ab als die vorangegangenen Ages, zweitens existieren häufig mehrere Trends nebeneinander und drittens bleiben die zuvor entwickelten narrativen Muster weiterhin präsent. Warshows Rede von der ›Form‹ des Genres, welche die Ausgangsbasis und den Hintergrund von Variationen bildet, bezieht sich u.E. erstens auf die zentralen Elemente des Genres (in unserem Modell die etablierte Ordnung (A), der Raum der Ordnungsbedrohung (B) sowie Raum (C), die ›Anderwelt‹ des Superhelden), insbesondere auf jenes Element, das dem Superheldengenre seinen Namen gibt: die 138 | H. Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«. 139 | Zu untersuchen wäre die Frage, ob der mediale Produktionsbereich der Superheldencomics ein eigenes Subfeld bildet oder ob ein mehrere Formen medialer Realisierung umfassendes Feld der Produktion vorliegt. Für Letzteres spricht erstens, dass die meisten Superheldenfilme auf Comics basieren, und zweitens, dass im Diskurs über Superheldenfilme fast immer auf Comics Bezug genommen wird. So wurde etwa Christopher Nolans The Dark Knight u.a. deshalb so positiv von der Filmkritik aufgenommen, weil er eine Innovation innerhalb des Genres darstellt. Vgl. z.B. Jerome Charyn: »Amerikas Totenmaske« (2000), übers. v. Eike Schönfeld, in: Die Zeit, 14.8.2008. 140 | Vgl. Michael Chabon: »Secret Skin. An Essay in Unitard Theory«, in: The New Yorker online (10.3.2008), URL: www.newyorker.com/reporting/2008/03/10/080310fa_fact_cha​ bon?currentPage=all, Datum des Zugriffs: 6.6.2009. 141 | H. Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«. 142 | Hierdurch soll nicht impliziert werden, dass antagonistische Positionierungen im Feld der Superheldenerzählungen zwangsläufig auf Autonomie zielen. 143 | Gestützt wird diese Einschätzung auch durch Jenkins Ausführungen zum gegenwärtigen Comic-Feld, die sich insbes. auf das Prinzip der Serialität in Superheldencomics beziehen: »Today, comics have entered a period where principles of multiplicity are felt at least as powerfully as those of continuity.« H. Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«.

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Figur des Superhelden. Zweitens zielt Warshows Äußerung auf das jeweilige Standardhandlungsschema eines Genres, das wir oben für das der Superheldennarrationen herausgearbeitet haben und das den Hintergrund aller im Folgenden skizzierten Schemata bildet. Dabei lässt sich der Wechsel dominanter Schemata nicht an einzelnen Comics festmachen, was z.B. Coogan versucht.144 Er ist fließend, und »genre formulas are continually repositioned in relation to social, cultural, and economic contexts of production and reception«.145 Einzig der Beginn des Golden Age of Comic Books lässt sich klar datieren: Das Erscheinen Supermans in der ersten Ausgabe der Action Comics (1938) hat überhaupt erst dazu geführt, dass sich Comic-Hefte, und zwar in erster Linie Superheldencomics, etablieren konnten. Im Golden Age haben die Superheldengeschichten ein experimentelles Stadium durchlaufen, in dessen Entwicklung sich schon schnell das Superheldengenre herausgebildet hat – nicht zuletzt aufgrund des Verkaufserfolgs der Superman-Hefte und der damit verbundenen Vielzahl an nachahmenden Transformationen des Figurenkonzepts. Ihren Ausgangspunkt haben die Superhelden am Anfang dieser Entwicklung bei anderen Genres genommen, v.a. in den Abenteuergeschichten der Pulp-Hefte.146 Darüber hinaus wurden die Geschichten um Superman auf einem frühen Coverentwurf von Jerry Siegel und Joe Shuster 1933 als »Science Fiction Story in Cartoons«147 beschrieben, während sich die Einflüsse des Suspense- und Krimi- bzw. Detektivgenres insbesondere in den frühen Batman-Comics erkennen lassen.148 Neben der Konstellation der Elemente, die das Superheldengenre ausmachen, sowie der o.g. Genrekonventionen hat sich das bereits vorgestellte narrative Standardschema im Golden Age etabliert. Zunächst bildeten Kinder und Jugendliche die primäre Zielgruppe der Comic Books. Das war vermutlich der Grund dafür, dass die etablierte Ordnung nicht nur implizit durch die narrative Struktur, sondern auch explizit bestätigt wurde: So finden sich in den ersten Jahren der Superheldencomics häufig Lehrsätze, die z.T. in die Handlung eingebunden sind (so erklärt etwa Batman einigen Jugendlichen, dass Glücksspiel keine Beschäftigung für Her-

144 | P. Coogan: Superhero, S. 209. 145 | H. Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«. 146 | Vgl. P. Coogan: Superhero, S. 126-164. 147 | Andreas C. Knigge: Alles über Comics. Eine Entdeckungsreise von den Höhlenbildern bis zum Manga, Hamburg: Europa 2004, S. 189. 148 | Es lassen sich Einflüsse allgemeiner Art ausmachen, aber auch Parallelen zu einzelnen Werken, z.B. zu Robert Lewis Stevensons Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde in Bill Finger/Bob Kane: »Wolf, the Crime Master«, in: The Batman Chronicles (2006), H. 2, S. 5971. (Zuerst erschienen in Batman 1 [1940], H. 2.) Henry Jenkins weist darauf hin, dass das Superheldengenre trotz der Autonomisierung von anderen Genres durch Herausbildung eigener Merkmale und Konventionen stets von anderen Genres beeinflusst wurde. Anknüpfungspunkte für Cross-Genre-Narrationen wurden auch bewusst genutzt und geschaffen, um im ›Kampf‹ populärkultureller Genretraditionen um Konsumenten eine möglichst breite Leserschaft ansprechen zu können. Vgl. Henry Jenkins: »Just Men in Tights? (Part Two)«, in: Confessions of an Aca-Fan. The Official Weblog of Henry Jenkins (16.3.2007), URL: http://henry​ jenkins.org/2007/03/just_men_in_tights_part_two.html, Datum des Zugriffs: 6.6.2009.

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anwachsende ist),149 z.T. aber auch direkt an die Leser gerichtet werden (»It depends on YOU and YOU and YOU«).150 Mit dem Zweiten Weltkrieg kommt es zur Ausweitung der Erzählräume über die fiktiven Städte hinaus, in denen die Superhelden normalerweise operieren (Metropolis, Gotham City usw.): Das Standardmuster findet Anwendung auf einer globalen Ebene; die Superhelden ziehen in den Krieg, jedoch ohne dass das narrative Schema als solches verändert wird. Mit dem Silver Age (Mitte der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre) wird die classic stage der Genreentwicklung erreicht: Nachdem typische Vertreter für Genrekonventionen und -merkmale im Golden Age entwickelt worden waren, wurden diese nun stärker variiert. Auf dem Cover einer Superman-Ausgabe von 1968 wird reflektiert, was nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich zu gelten schien: »They don’t need Superman anymore… I’m through, finished«.151 Angesichts der Überwindung einer globalen Bedrohung schienen andere Konflikte unbedeutender, was ein Grund für den Einbruch der Leserzahlen nach Ende des Krieges war. Verursacht u.a. durch den in der McCarthy-Ära eingeführten Comics Code, ein Regelwerk zur freiwilligen Selbstkontrolle der Comic-Verlage, wich man auf weniger stark auf die Wirklichkeit bezogene Geschichten um Superhelden und eine grelle Pop-Art-Ästhetik aus. Den inhaltlichen Kern der Erzählungen bildete trotzdem weiterhin das ›ernsthafte‹ Standardschema. Die Form seiner Realisierung bewirkt jedoch – mit Susan Sontag gesprochen – »a seriousness that fails«.152 Auch bei vielen Superheldencomics, die um 1960 erschienen sind, ist das Misslingen des ›ernsthaft‹ gemeinten Äußerungsaktes Will Brooker zufolge als nicht-intentional anzusehen, sodass sie als »›pure‹ camp«153 gelten können. Eine Überwindung der ökonomischen Krise der Superheldencomics war vermutlich überhaupt erst einige Jahre später möglich, als Marvel Comics mit Ben Grimm/The Thing von den Fantastic Four (1961) und Peter Parker/Spider-Man (1962), also den zweifelnden Superhelden,154 eine bis heute dominante Erweiterung des Standardschemas einführte: Neben den Konflikt zwischen den Räumen (A) und (B), der durch den Superhelden gelöst wird, tritt ein Konflikt zwischen den Instanzen der Räume (A) und (C), weil Superhelden wie Spider-Man – wie oben bereits dargestellt wurde – ihre beiden Identitäten nur schwer miteinander vereinen können und unter der Ausgrenzung durch die Instanzen des Raums (A) leiden: So ist etwa The Thing durch seine neue, deformierte Gestalt sozial isoliert, wodurch Raum (A) ihm einerseits als beschützenswertes Sinnbild seines alten Lebens erscheint, andererseits immer wieder Ursache seiner inneren Konflikte ist. Gegen diese die Leser begeisternde Erweiterung des Standardschemas konnten die Comic-Produzenten mit Superhelden der ersten Generation nur anfangs noch 149 | Vgl. Bill Finger/Bob Kane: »The Case of the City of Terror«, in: The Batman Chronicles (2006), H. 2, S. 126-139, hier S. 135. (Zuerst erschienen in Detective Comics [1940], H. 43.) 150 | Whitney Ellsworth/Jerry Robinson: »The Batman Says«, in: The Batman Chronicles (2006), H. 2, S. 207. (Zuerst erschienen in Batman 1 [1940], H. 3.) 151 | Otto Binder/Ross Andru: Action Comics 1 (1968), H. 368, Titelseite. (Titelzeichnung von Carmine Infantino.) 152 | W. Brooker: Batman Unmasked, S. 221. 153 | Ebd., S. 222. 154 | Vgl. Abschnitt 4.1.

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antreten, wenig später schon machten sich die ›Zweifler‹ einerseits in Form von stetig sinkenden Verkaufszahlen der DC-Serien bemerkbar,155 andererseits in den Erzählungen um die ›altgewordenen Helden‹ selbst. So lief Ende der 1960er Jahre nicht nur ein einsamer Captain America (übrigens eine Figur aus dem Marvel-Universum) durch die Straßen und führte kritische Selbstgespräche: I’m like a dinosaur – in the cro-magnon age! An anachronism – who’s out-lived his time! This is the day of the anti-hero – the age of the rebel – and the dissenter! It isn’t hip – to defend the establishment! – Only to tear it down! And, in a world rife with injustice, greed, and endless war – who’s to say the rebels are wrong? But I’ve never learned to play by today’s new rules! I’ve spent a lifetime defending the flag – and the law! Perhaps – I should have battled less – and questioned more!156

Im age of refinement, das Coogan mit dem Bronze Age identifiziert (Anfang der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre), wird in zunehmendem Maße selbstreferentiell erzählt. Im Bronze Age beginnt, was im darauf folgenden Iron Age auf die Spitze getrieben wird: die Hinterfragung von Genrekonventionen und Erzählmustern, insbesondere des Standardschemas. Die Probleme für den Raum (A) werden in zunehmendem Maße als dessen eigenes Produkt markiert, sodass Raum (D) ein zentraler Ort der Handlung wird.157 Dabei stellt die Bekämpfung von Drogenmissbrauch, Rassismus, Armut usw. die Superhelden häufig vor die Frage, in welchem der Räume (A) und (B) sie die Ursache des Übels zu suchen haben. Bei Iron Man führt dies schließlich dazu, dass er trotz der bislang eindeutig systemaffirmativen Ausrichtung seiner Handlungen nicht gegen Studentenproteste anlässlich des Vietnam-Kriegs vorgehen kann – und sich so indirekt gegen die etablierte Ordnung stellt;158 bislang waren Batmans Gegner entweder geisteskrank oder gehörten der Unterschicht bzw. einer als dekadent und aristokratisch dargestellten Oberschicht an, nun entstammen sie auch der bürgerlichen Mittelschicht.159 Während im Bronze Age die Ordnung des Raums (A) hinterfragt wurde, gingen die Comic-Produzenten im Iron Age (Anfang der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre) darüber noch hinaus: Nun wurden auch der bislang unangetastete Heldenstatus und die Legitimationsbasis der Superhelden problematisiert. Als paradigmatische Superheldenerzählungen des Iron Age gelten die bereits genannten Comics Watchmen, Batman. The Killing Joke und Batman. The Dark Knight Returns,160 in denen Superhelden nicht mehr nur dem Raum (C) zugeordnet werden, sondern – wie der schon erwähnte Ozymandias aus Watchmen – dem bipolaren Feld (F); was Daniel Kothenschulte Nolans The Dark Knight (2008) bescheinigt – »Dieser

155 | A.C. Knigge: Alles über Comics, S. 269. 156 | Stan Lee/Gene Colan: Captain America 1 (1970), H. 122, S. 3. 157 | Vgl. Abschnitt 3. 158 | Vgl. Gary Friedrich/George Tuska: Iron Man 1 (1972), H. 45. 159 | Vgl. Th. Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden, S. 78. 160 | Die Comic-Autoren Alan Moore und Frank Miller gelten als die wichtigsten Produzenten des Iron Age und als die ersten, die das Genre von einer autonomen Position aus bearbeitet haben.

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›schwarze Ritter‹ ist so fragwürdig wie die Gesellschaft, für die er steht«161 – ist also bereits in den 1980er Jahren entwickelt worden. Coogan sieht es als eine Konsequenz dieser Problematisierung der Figuren an, dass nicht nur Rorschach aus Watchmen, der letzte Held der Erzählung mit unanfechtbaren Idealen, am Ende stirbt, sondern außerdem Superman 1992 von Doomsday getötet wird.162 Trotz und wegen der Erschütterung der eigenen Grundfesten erreichte das Superheldengenre nach der baroque stage die reconstructive stage. Dabei kam es zu mehreren Weiterentwicklungen. Erstens wurden Superheldengeschichten immer häufiger für die Zielgruppe männlicher Jugendlicher und Erwachsener konzipiert, nicht mehr für Kinder, so auch das gesamte frühe Programm des 1992 neu gegründeten Verlags Image Comics: Es kam zu einer massiven Zunahme expliziter und sexualisierter Gewaltdarstellungen; der Raum (F) wurde zum normalen ›Ort des Superhelden‹ – jedoch ohne dass die Narrationen dadurch wie Moores Watch­men durch die Figur Ozymandias genrereferentiell aufgeladen wurden. In den Mittelpunkt rückte im Rahmen dieser Neuausrichtung des Genres der Konflikt zwischen Superschurken und Superhelden, während die Auseinandersetzung der Räume (A) und (B) zunehmend in den Hintergrund geriet; in ihren Kämpfen befinden sich die Protagonisten zwar in Gefahr, jedoch häufig nicht, weil sie für andere ein Risiko auf sich nehmen – in vielen Fällen erfüllen ihre Taten die o.g. Definition heldenhaften Handelns kaum mehr. Die beiden anderen großen amerikanischen Comic-Verlage, insbesondere Marvel, passten sich dem Erzählmuster der Image-Comics an, sodass knapp bekleidete Frauen, männliche Muskelberge und überdimensionierte futuristische Schusswaffen die Superheldencomics dominierten. Reflektiert wurde dieser Wandel in der 1996 erschienenen DC-Miniserie Kingdom Come.163 Die Geschichte von Autor Mark Waid, die Alex Ross mit fotorealistischen Bildern umgesetzt hat, spielt in einer Zukunft, in der Superhelden ähnlich jenen der Image-Generation die Welt als Arena für ihre Kämpfe gegeneinander nutzen, während ihre Vorgänger, Superman, Wonder Woman, Green Lantern usw., nicht mehr aktiv sind: »Sie haben die Menschen sich selbst überlassen.« Präsent sind die alten Helden nur noch in der Erinnerung und durch die Kostüme der Kellner in den Planet Krypton-Restaurants. Die neuen, »selbsternannten ›Helden‹« sind zwar »inspiriert von den Legenden« über ihre Vorgänger, »aber nicht… von deren Moral«. Da es keine Superschurken mehr gibt, kämpfen sie gegeneinander, und zwar schon »nicht mehr aus Langeweile, sondern aus Übermut« – weshalb ihre Handlungen auch nicht mehr als heldenhaft im Sinne unserer Definition anzusehen sind. Angesichts der stetigen Verwüstung des Raums (A) durch die »Metamenschen« kehren die gealterten Superhelden zurück, um die Ordnung wiederherzustellen; zwei Generationen von Superhelden – und damit verschiedene Zeitalter und Verlage – werden als Antagonisten präsentiert. Die ›neuen Helden‹ sind dabei karikaturesk und clownhaft dargestellt, was gerade durch den Kontrast 161 | Daniel Kothenschulte: »Das Land mit der eisernen Maske«, in: Frankfurter Rundschau, 20.8.2008. 162 | Vgl. P. Coogan: Superhero, S. 217. Supermans Tod hat ebenso wie der von Captain America (2007) außerdem den Sinn, Leser zu gewinnen und die Figur gleichzeitig zu aktualisieren, also der Entwicklung des soziokulturellen und intertextuellen Kontextes anzupassen. 163 | Alle Zitate dieses und des folgenden Absatzes aus Mark Waid/Alex Ross: Kingdom Come. Die Apokalypse (1996), übers. v. Uwe Anton, 2. Aufl., Hamburg: Carlsen 1998, o.S.

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zu den ›alten Helden‹ wie eine polemische Abwertung erscheint (Abb. 4). Ohne es zu wollen, leiten Superman und seine Helfer durch ihr Eingreifen zunächst eine Katastrophe ein, besinnen sich dann aber ihrer eigentlichen Aufgabe als Beschützer der etablierten Ordnung (A) und entscheiden sich schließlich, zusammen »mit den Menschen auf das gemeinsame Wohl hinzuarbeiten«. Abbildung 4. Mark Waid/Alex Ross: Kingdom Come, o.S.

In Kingdom Come wird der Handlungsraum des Superheldengenres rekonstruiert und dadurch das Standardschema überhaupt wieder möglich: Raum (A) wird als relevanter Bezugspunkt der Superheldenhandlungen reinstalliert. Dabei kämpfen zunächst beide Generationen von Superhelden gegeneinander (von denen die neue Generation Raum [B], die alte Raum [C] zugeordnet wird). Als die Menschen –

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genauer: die den gesamten Raum (A) umfassende Institution der Vereinten Nationen – mit Atomwaffen in den Kampf eingreifen, richtet sich Superman – als erster Superheld überhaupt die repräsentative Instanz des Raums (C) – gegen die Menschen und Raum (A). Er wird jedoch daran erinnert, was ihn eigentlich ausmacht: »Von all deinen Kräften… war die größte immer dein instinktives Wissen… was Recht und Unrecht ist.« – Am Ende von Kingdom Come wird mithin sogar das Prinzip der ›mythischen Legitimation‹ wieder in Kraft gesetzt, das zuvor in Gestalt der Metamenschen dekonstruiert worden war. An das Renaissance Age schließt sich u.E. ein pluralistisches Zeitalter an: Tatsächlich ist das Standardschema wieder dominant, zumeist erweitert um den typischen Konflikt der Zweifler unter den Superhelden. Es finden sich aber außerdem sozialkritische und genrereferentielle Erzählungen, sei es in Spawn, Spider-Man, Nextwave oder The Boys, es tauchen Superheldenfiguren und -konflikte auf, wie sie in den 1990er Jahren verbreitet waren (z.B. beim Marvel-Imprint MAX) – und es gibt Serien wie Invincible, die sämtliche zuvor entwickelten Narrationsformen und -elemente des Genres verbinden. Darüber hinaus bedienen sich viele ComicAutoren des »genre mixing as a way of complicating and expanding the genre’s potential meanings«,164 nicht zuletzt in den außerhalb der continuity des Superhelden-Universums spielenden Elseworlds-Geschichten (DC-Imprint seit 1989). Trotz der Bandbreite des Genres dominieren zwar die auf dem Standardschema auf bauenden Narrationen, doch ebenso wenig wie sich »[d]as Gesellschaftsbild der Comics«165 ausmachen lässt, gibt es noch das Gesellschaftsbild der Superheldencomics.

L iter atur Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, 5. Aufl., München: dtv 2002. Arnold, Andrew: »All-TIME Graphic Novels«, in: TIME (o.D.), URL: www.time. com/time/2005/100books/0,24459,graphic_novels,00.html, Datum des Zugriffs: 9.6.2009. Azzarello, Brian/Risso, Eduardo: Batman 1 (2004), H. 621. Banhold, Lars: Batman. Konstruktion eines Helden, Bochum: Bachmann 2008. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, übers. v. Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964. Bendis, Brian M./Maleev, Alex: Daredevil 2 (2001), H. 26. Binder, Otto/Andru, Ross: Action Comics 1 (1968), H. 368. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos (1979), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Böckem, Jörg: »Super, dieser Typ!«, in: Spiegel online (18.9.2007), URL: www. spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,druck-505803,00.htm, Datum des Zugriffs: 27.5.2009.

164 | H. Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«. 165 | Wolfgang J. Fuchs/Reinhold C. Reitberger: Comics. Anatomie eines Massenmediums, München: Moos 1971, S. 145.

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Spider-Mans Heldenmaske Kampf um Männlichkeit im Superheldengenre* Änne Söll und Friedrich Weltzien

Der Film Spider-Man kann als Symptom aufgefasst werden. Einerseits lassen sich exemplarisch die Funktionsweisen des Superheldengenres ablesen, andererseits steht er für die Aktualität, die diese Gattung insbesondere im Hollywood-Mainstream zur Zeit feiert. Es ist bemerkenswert, daß diese Sparte populärkultureller Produktion sich nicht nur seit den ausgehenden 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf dem Unterhaltungsmarkt halten konnte, sondern in jüngerer Zeit wieder an Bedeutung gewinnt. Noch mehr als im Comicbereich, der allgemein eher schrumpft, gleichwohl aber ältere Serien des Mummenschanz-Genres wie The Shadow wieder aufnimmt, hat die filmische Adaption von Comicvorlagen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Neben der Fernsehserie Superman und den aufwendig produzierten Blockbustern der Batman-Filme liefen The Mask, Judge Dredd, Daredevil und weitere Superhero-Umsetzungen erfolgreich im Mainstreamkino Hollywoods.1 Als historischer Wendepunkt, der den allmählichen Niedergang des Superheldencomics beendete und Reputation wie Auflagenzahlen nachhaltig zu steigern vermochte, gilt Frank Millers Batman-Interpretation The Dark Knight Returns.2 Der Superheld erscheint nurmehr vordergründig als unerschütterlich in Moral und körperlicher Kraft. Hinter dieser Maskerade der Unverletzbarkeit zeigt Miller seinen Batman als zerrissene Figur. Unter der Fassade des Batkostüms altert der Held merklich. Im allnächtlichen Einsatz gelangt Bruce Wayne, das zivile alter ego Batmans, an seine körperlichen Grenzen. Er muss sich den Verlust seiner artistischen *  Söll, Änne, und Friedrich Weltzien: »Spider-Mans Heldenmaske. Kampf um Männlichkeit im Superhelden-Genre.« In: Claudia Benthien und Inge Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln: Böhlau 2003. S. 296-315. 1 | Hier als Beispiele die folgenden Produktionen: Daredevil, 2003, Regie: Mark Steven Johnson, Judge Dredd, 1995, Regie: Danny Cannon (Sylvester Stallone), The Mask, 1994, Regie: Charles Russell, Batman and Mr. Freeze: SubZero, 1998, Regie: Boyd Kirkland, Batman and Robin, 1997, Regie: Joel Schumacher, Batman Forever, 1995, Regie: Joel Schumacher und Superman IV: The Quest for Peace, 1987, Regie: Sidney J. Furie. 2 | Erschienen 1986 bei DC Comics.

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Überlegenheit eingestehen und mehr und mehr Zuflucht bei seinen technischen ›Gimmicks‹ und ›Gadgets‹ suchen. Gleichzeitig gerät er zunehmend in einen moralischen Konflikt, indem er sein außerhalb des geltenden Rechtes stehendes Vigilantentum nicht prinzipiell vom Handeln der Verbrecher unterscheiden kann, die er doch im Auftrag der Gerechtigkeit – wie auch aus dem Motiv persönlicher Rache für den gewaltsamen Tod seiner Eltern – zu fassen bemüht ist. Der alternde Batman wird sich des Mangels eines demokratischen Auftrags und der Selbstgerechtigkeit seines Wahrheitsbegriffes bewusst.3 Auch Superman oder der grüblerische Silver Surfer4 sind in der Folge vor körperlichen Niederlagen und existentiellen Sinnkrisen nicht mehr gefeit. Der wahre Held ist fortan nicht mehr der fraglos Überlegene, sondern der trotz eingestandener Schwächen und angesichts drohender Niederlagen dennoch Handlungsfähige. Diese Redefinierung des (Super-)Helden mag sich durch die verheerenden Anschläge des 11. September 2001 noch verstärkt haben. Die ersten Reaktionen des Genres, in denen Superman und Kollegen den realen Helden von Feuerwehr, Polizei und Rettungskräften ihren Tribut zollen, lassen zumindest eine weitere ›Vermenschlichung‹ des Superhelden erwarten. Die Problematik von Verantwortung und Pflichtgefühl gegenüber der Gemeinschaft, die vom Helden ein hohes Maß an persönlichen Opfern fordert, zeigt sich auch in Spider-Man. Auch wenn sich die Renaissance des Genres nicht ausschließlich aus Millers Saat des heroischen Selbstzweifels herleiten lässt, ist doch der Tatbestand einer neuen Wertschätzung des maskierten Helden unübersehbar. Diese Einschätzung gewinnt noch an Nachdruck, wenn das Motiv der Maskerade als leitendes Kriterium der Definition dient. Es zeigt sich dabei, dass das Genre des Superhelden durchaus unscharf begrenzt ist und zahlreiche Übergänge zu anderen Gattungen bietet. Beispielsweise findet sich mit Zorro der maskierte Rächer im Westernmillieu,5 The Shadow und The Spirit bewegen sich im Terrain des Kriminalfilms und des film noir, Swamp Thing oder The Incredible Hulk führen in den klassischen Horror- oder Monsterbereich à la Frankenstein oder Dracula, Judge Dredd oder The Fantastic Four lassen sich als Science-Fiction lesen. Elemente aus dem Agentenund Thrillerambiente finden sich ebenso durchgängig wie Comedy- und Slapstick-

3 | Die von Ines Kappert diagnostizierte »Rhetorik des Lamento« als Kennzeichen männlicher Selbstdarstellung in der jüngeren Literatur als Reaktion auf den »Widerspruch zwischen Phänotyp ›Mann‹ und Prinzip ›Männlichkeit‹« träfe damit auch auf die Superhelden zu (Kappert, Ines: »Die Figur des Mannes in der Krise«, in: Jungle World, Nr. 44/2002). Der Niedergang des Actionhelden Ende der 80er Jahre geht laut Thomas Morsch einher mit dem Ende der Reagan-Ära und hat auch Einfluss auf die Darstellung von Superhelden; vgl. Morsch, Thomas. »Muskelspiele. Männlichkeitsbilder im Actionkino«. Hg. v. Christian Hißnauer u. Thomas Klein, Männer – Machos – Memmen. Männlichkeit im Film, Mainz, 2002. 49-74. 4 | Ansätze zu Zweifel und Niederlage des Superhelden gab es auch vor The Dark Knight schon, dies ist auch ein Gebot der Suspense: Stünde der Sieg des Helden immer fraglos fest, wäre der Aufbau von Spannung unmöglich. Die andere Möglichkeit zur Suspense bietet die Installation des ›Superschurken‹, der ebenfalls über supernatürliche Kräfte verfügt. 5 | Neueste Verfilmung mit Antonio Banderas: The Mask of Zorro, 1998, Regie: Martin Campbell.

Söll/Welt zien: Spider-Mans Heldenmaske

anleihen6 oder Überschneidungen mit Martial Arts, Kriegs- und Actionmovies.7 Das neuerliche Interesse am Superheldengenre mag teilweise auch dieser formalen Idiosynkrasie geschuldet sein, die es ermöglicht, in endloser Variation Versatzstücke unterschiedlichster Narration um den Plot einer zentralen Hauptfigur zu gruppieren.

S pider -M an : der F ilm Eingebettet im Mythos des American-Dream, stellt der Film Spider-Man eine Parabel der Mannwerdung dar. Als ›Junge aus einfachen Verhältnissen‹, der als Waise bei seinem gerade arbeitslos gewordenen Onkel und seiner ihn liebevoll umsorgenden Tante aufwächst, entspricht Peter Parkers Herkunft dem Typus des Superhelden, die gemeinhin ohne leibliche Eltern aufwachsen und/oder den Verlust der Eltern rächen müssen. Sam Raimis Film nimmt Spider-Mans Origin story auf, die im Genre der Comic-Helden »eine Geburtsgeschichte mit Initiationsaura [ist] und ›lebensprägenden‹ Rang hat.« 8 Die Maskierung fungiert in diesen Erzählungen als äußeres Zeichen dieser Verwandlung; als Symbol dafür, dass der Held mit außergewöhnlichen Kräften ausgestattet ist und einer moralischen Mission folgt. So ist Peter Parker, der unscheinbare Teenager von nebenan, zwar ein intelligenter Außenseiter, der, gehänselt von seinen Mitschülern, als sozialer Versager dasteht. Er zeichnet sich jedoch durch einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit aus.9 Er schwärmt für Mary Jane, eine von ihrem Vater misshandelte Mitschülerin und gleichzeitig Nachbarin, die ihn zwar besser behandelt als die anderen, aber selbstverständlich die Freundin eines wesentlich potenteren Mitschülers ist. Bei einem Ausflug in ein Spinnenlabor der Columbia University wird Peter von einer genmanipulierten Spinne gebissen, es dauert keine 24 Stunden bis er sich in einen muskulösen, perfekt Sehenden und mit speziellen Fähigkeiten ausgestatteten Helden verwandelt hat. Langsam entdeckt und schult er seine Fähigkeiten, übt das Werfen von Spinnennetzen, Klettern an Hauswänden und schwingt von

6 | Popeye, der über die Aufnahme von Spinat zu seinen übermenschlichen Fähigkeiten gelangt, kann als Prototyp des komischen Superhelden angesehen werden. 7 | Das zeigt sich nicht zuletzt an den Besetzungslisten der Produktionen. Die wichtigsten Protagonisten des 80er-Jahre-Action Kinos, Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone, verkörpern tragende Rollen in Batman und Judge Dredd. In Spider-Man (gespielt von Tobey McGuire) und der aktuellen Verfilmung von Daredevil (gespielt von Ben Affleck) werden jedoch Schauspieler bevorzugt, deren Hauptmerkmal nicht Muskeln sind, sondern vielmehr ihr Charakter als der ›Junge von Nebenan‹. 8 | Hausmanninger, Thomas. Superman. Eine Comic-Serie und ihr Ethos. Frankfurt, 1989. 61. Wie bei Superman variiert die origin story bei Spider-Man in den unterschiedlichen Comicausgaben. 9 | Zum Klischee gehört, dass er ein ›Nerd‹ ist, d.h. sich für Naturwissenschaften interessiert und als Zeichen dafür natürlich eine Brille trägt, die ihm zur endgültigen Erniedrigung im Schulbus zertreten wird. Er ist außerdem ein Hobbyfotograf, was ihm im Verlauf des Films zum Job eines Fotoreporters verhilft: Er fotografiert sich selbst bei seinen Heldentaten.

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einem Gebäude zum nächsten.10 Peter will seine neue Potenz zunächst zum Geldverdienen, d.h. für den Erwerb eines Sportwagens, mit dem er seine Angebetete zu beeindrucken gedenkt, einsetzen, muss aber durch den Mord an seinem Onkel bald erkennen, dass er die moralische Verpflichtung hat, seine übermenschlichen Fähigkeiten in den Dienst der Menschheit zu stellen. Kurz vor seinem Tod spricht Onkel Ben dann auch die bedeutungsschwangeren Worte, die zum Motto von Spider-Man werden sollen: »These are the years when a boy changes into the man he is gonna become for the rest of his life. Just be careful who you change into. […] With great power comes great responsibility.« Spider-Mans Gegenspieler, Norman Osborn, ein ehrgeiziger Wissenschaftler, der von den Vorstandsvorsitzenden seiner Firma aufs Abstellgleis gestellt wird, verwandelt sich durch einen verantwortungslosen Selbstversuch mit genmanipulierten Substanzen zum »Grünen Kobold«, einem von Hass und Rache getriebenen fliegenden Ungeheuer.11 Osborns Mutation wird als eine schizophrene Persönlichkeitsstörung dargestellt: seine ›böse‹ Charakterseite übernimmt nicht sofort die ganze Person, so kann er auch seinen ›wahren‹ Charakter gegenüber seinem Sohn Harry verbergen. Nach dem Highschool-Abschluss zieht Peter Parker mit Harry Osborn zusammen, der mittlerweile Mary Janes Freund ist. Peter alias Spider-Man jagt weiterhin Verbrecher, darunter auch den Grünen Kobold, der ihm – ganz nach Al Capones Motto »if you can’t beat him, meet him« – ein Kooperationsangebot macht, was Spider-Man jedoch angewidert ablehnt. Zum Showdown zwischen Spider-Man und dem Grünen Kobold kommt es, als Osborn Peter als Spider-Man erkennt und klar wird, dass Mary Jane ihre Zuneigung neuerdings Peter Parker schenkt. Osborn/der Grüne Kobold will nun persönliche Rache an Peter/SpiderMan üben und bedroht zuerst Tante May, dann Mary Jane. Im finalen Faustkampf 10 | Im Unterschied zu seinem Comicvorbild produziert Peter Parker sein Netz im Film direkt aus seinem Körper heraus. Im Comic hat Spider-Man die Netzsubstanz selbst entwickelt und trägt sie in Patronen in seinem Gürtel, die dann durch einen speziellen Netzwurfmechanismus zum Einsatz kommen. Im Film übt sich der wandelnde Peter Parker im Netzewerfen in seinem Zimmer. In Kombination mit seinen Bewegungen des Handgelenks erinnert die klebrig weiße Substanz, die er mit Schwung über sein gesamtes Mobiliar verteilt, an masturbatorische Ergüsse. 11 | Beide Verwandlungen, Peter Parkers und Norman Osborns, werden durch das Eindringen genmanipulierter Stoffe in ihre Körper initiert. Osborns Selbstversuch ist allerdings durch Ehrgeiz und Selbstüberschätzung motiviert, Peters Mutation basiert auf einem ›zufälligen‹ Spinnenbiss. In den Verwandlungen mit unterschiedlichem Ausgang – Peter wird zum Retter der Menschheit, Osborn zur Bedrohung – ist auch eine moralische Metapher für die Anwendung der Genforschung enthalten. Nur Menschen, die von vornherein ein intaktes moralisches Wertesystem besitzen, werden verantwortungsvoll mit neuen bio-technischen Möglichkeiten umgehen können. Der korrupte Kapitalismus mit seinem skrupellosen Gewinnstreben, sowie der ebenso undurchschaubare Staat, symbolisiert durch die Militärs, mit denen Osborn kooperiert, werden die Möglichkeiten der Genforschung missbrauchen. Es wird also keine generelle Kritik an der (Gen-)Forschung geübt, sondern an die Verantwortung des Einzelnen appeliert. Im Original von 1963 wird Peter Parker von einer radioaktiv verstrahlten Spinne gebissen. Dass die Atomenergie von der Gentechnologie abgelöst wird, zeigt, dass die Gentechnologie mittlerweile die Technikfolgendebatte dominiert und als Bedrohung bzw. positive Möglichkeit wissenschaftlicher Forschung wahrgenommen wird.

Söll/Welt zien: Spider-Mans Heldenmaske

der beiden erkennt Spider-Man Osborn hinter der Maske des Grünen Kobolds, lässt sich aber nicht von ihm hinters Licht führen, sondern macht kurzen Prozess, indem er ihn durch sein eigenes Fluggerät aufspießen lässt. Die nächste Filmfolge vorbereitend, schwört Harry während der Beerdigung, nichts ahnend vom Doppelleben seines Vaters, Rache an Spider-Man, ohne dass er die Identität des besten Freundes erkennt. Anders Mary Jane: Sie weiß um Peters Leben als Held und gesteht ihre Liebe zu ihm, die dieser aber, wissend um seine »große Verantwortung«, nicht erwidern kann.

S uperhelden Zur Definition der Gattung sollen hier vier Aspekte hervorgehoben werden, die sich als kleinster gemeinsamer Nenner finden lassen. Zum einen zeigt sich stets ein metamorphotisches Element der Verwandlung, das den ›gewöhnlichen‹ Pro­ tagonisten in den Superhelden transformiert. Darunter lässt sich sowohl ein Initiationsereignis verstehen als auch die je aktuelle Maskierung als Superheld.12 Diese Metamorphose vermittelt zwischen zumindest zwei differenzierbaren Identitäten des Protagonisten.13 Zweiter Aspekt ist ein soziales oder gar missionarisches Element. Der Held ist nicht nur in der Lage, er ist auch stets gefordert, handgreiflich zu werden. Sei es ein penetrantes Rechtsempfinden im Sinne eines serve and protect oder ein beständiges Verlangen, erlittenes Unrecht zu kompensieren: Als Einzelgänger definiert sich der Superheld als Kämpfer für die Sache der Gerechten. Es versteht sich, dass dieser angemaßte Auftrag nur bei einer fraglosen und unproblematischen Scheidung von Gut und Böse funktioniert. Zum dritten ist die Superhelden-Identität durch eine Hypermaskulinität gekennzeichnet, die zumindest im Falle von Spider-Man und Superman in sprechendem Gegensatz zur Knabenhaftig-

12 | Im Falle von Spider-Man wäre die Initiation der Spinnenbiss, bei Batman das traumatische Erlebnis des Mordes an seinen Eltern, bei Superman die Landung des außerirdischen Kindes auf der Erde. Bei anderen Superhelden ist die Verwandlung auf missglückte biochemische Experimente, atomare Strahlung oder die Abkunft aus extraterrestrischem Genom zurückzuführen. — Die jeweilige Aktualisierung der potentiellen Superhelden-Identität im regular guy der Alltagsidentität erfolgt meist durch ein Umkleiden unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Während bei Superman oft schon die enorme Geschwindigkeit, die das menschliche Wahrnehmungsvermögen überfordert, für eine solche Privatsphäre sorgt, muss sich SpiderMan zumindest ins Nebenzimmer zurückziehen, Batman gar sein Bathöhle aufsuchen, in der er seine Montur und Waffen lagert. Bei anderen Superhelden geschieht die Verwandlung auch unwillentlich, so etwa wird The Incredible Hulk zu einem großen grünen Wesen, wenn er sich ärgert oder sonstwie unter Stress gerät. 13 | Beispiel für eine Superheldenfigur, die ohne ein ›ziviles‹ alter ego auskommt, ist der Silver Surfer. Er interagiert allerdings in einem intergalaktischen, quasi olympischen Umfeld mit anderen Extraterrestriern und besucht nur gelegentlich die Erde. Aber auch diese Figur ist mit einer schizoiden Persönlichkeit ausgestattet: So ringt er etwa mit seinem ›bösen Ich‹, um sich schließlich mit ihm zu vereinigen (Marvel Comics, Nr. 64, April 1992, The Silver Surfer. My Enemy, Myself!).

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keit der Alltagsexistenz steht.14 Diese übersteigerte Männlichkeit äußert sich nicht nur in körperlichen Attributen und athletischen Anlagen, sondern insbesondere auch in ihrer Handlungsfähigkeit: Wo dem Gewöhnlichen die Hände gebunden sind, ist der Übergewöhnliche immer in der Lage, initiativ zu werden. Schließlich findet sich als viertes stets ein Moment des sexuellen Dilemmas. Clark Kent begehrt Lois, die aber ist nur an Superman interessiert. Eine ähnliche Konstellation zeigt sich in Spider-Man.15 Batman wird gar eine homoerotische Note attestiert, die unter Hinweis auf wechselnde Freundinnen zu widerlegen gesucht wird.16 Auf unterschiedliche Weise verhindert das Doppelleben des Superhelden die harmonische, bürgerlich-familiäre Beziehung, nach der er sich gleichwohl sehnt.

M änner : O pfer – T äter – H elden Wenn sich im Superheldengenre Männlichkeit einerseits über das Verhältnis zu Frauen herstellt, dann sind es andererseits die Beziehungen der Männer untereinander, die zur Definition heldenhafter Männlichkeit beitragen. So sind im Film Spider-Man unterschiedliche Formen von Männlichkeit dargestellt, die zueinander in Konkurrenz stehen und um gesellschaftliche Geltung und Dominanz bemüht sind. Alle stehen sie in Beziehung zum neo-kapitalistischen System der Vereinigten Staaten, das durch die Institutionen des Staates, hier zum einen durch das Militär und zum anderen durch die Macht der Großkonzerne (im Film: Oscorp) geprägt ist. Hinzu kommt die Rolle der Medien, die in Form der Regenbogenpresse mit ihren korrupten Verlegern als weiterer gesellschaftlicher Machtfaktor dargestellt werden. Peter Parkers Sonderrolle als Spider-Man beruht darauf, frei von diesen Machtfaktoren agieren zu können und einem eigenen moralischen System zu folgen, dass durch seine Erziehung und Herkunft klar im Mythos des einfachen Arbeiters verankert ist. Durch den gerade arbeitslos gewordenen Onkel, der als Elektriker bei einem großen Unternehmen angestellt war, wird deutlich gemacht, auf wessen Kosten das moderne neoliberale System in Gang gehalten wird. Der »einfache Arbeiter« wird als entmachtet, d.h. als Opfer, zugleich jedoch als moralisch korrekt und vom System als nicht korrumpiert dargestellt. Ganz nach amerikanischem Mythos, der die Verantwortung in die Hände des Einzelnen legt, wird als Lösung allerdings keine Solidarisierung der Arbeiterschaft vorgeschlagen,

14 | Clark Kent, der ›zivile‹ Superman, ist ein kleiner Reporter, der seine Superkräfte hinter betonter Tollpatschigkeit verbirgt, während Peter Parker ein pubertierender, schüchterner Schüler ist. Einzig Bruce Wayne, alias Batman, gibt als millionenschwerer Playboy auch im Alltag eine vergleichsweise maskuline Erscheinung ab. 15 | Wir beziehen uns hier ausschließlich auf die Verfilmung. In den Comicvorlagen werden unterschiedliche Biographien von Peter Parker und seinem Liebesleben vorgestellt, dem es in mancher Version durchaus vergönnt ist, eine Beziehung zu Frauen zu führen. Das Gleiche gilt für Batman. 16 | Fredric Wertham macht als Erster warnend auf den Umstand aufmerksam, dass Batman und Robin eine homosexuelle Beziehung führen: Wertham, Fredric. Seduction of the Innocent. London, 1955. Vgl. auch Brooker, Will. Batman Unmasked. Analyzing a Cultural Icon. London/New York, 2000.

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sondern die Macht eines einsamen Superhelden, der die Untaten der Gesellschaft nach seinem eigenen moralischen Maßstäben richtet. Folgt man dem Modell des Soziologen Robert W. Connell, der von unterschiedlichen, mit einander konkurrierenden Formen von Männlichkeit ausgeht, dann wird gerade in Spider-Man der Kampf zwischen den sich ausdifferenzierenden hegemonialen Männlichkeitsentwürfen umso deutlicher. Beispielhaft dafür ist der Konflikt zwischen Osborn, dem Wissenschaftler und dem Militär, den man nach Connell als ein Beispiel für die »Spaltung zwischen einer Männlichkeit, die sich um interpersonale Dominanz organisiert, und einer, die sich um Wissen und Sachverstand organisiert«,17 innerhalb der hegemonialen Männlichkeit der dominanten Klassen sehen kann. Hilflose Opfer dieses Konfliktes sind, wie erwähnt, die Männer der arbeitenden Klasse, deren Werte im Kampf gegen Habgier und Ungerechtigkeit vom Superhelden verteidigt werden. Verschiedene, an unterschiedliche Klassen gebundene Modelle von Männlichkeit stehen demnach in Konkurrenz zueinander, wobei die Fiktion einer »echten«, an die Werte des kleinen Mannes gebundene Männlichkeitsform aufrecht erhalten wird.

B öse M aske – G ute M aske Die entscheidende Frage ist nun: Was macht die Maskierung des Superhelden notwendig? Weshalb kann diese hypertrophe Form von Maskulinität nicht auf andere Weise als über eine Maskierung inszeniert werden? Als Peter Parker sich zum ersten mal seine selbst gestrickte Maske überzieht, betritt er eine tobende Boxkampfarena, in der er sich mit Hilfe seiner neuerworbenen Superkräfte für 3000 Dollar gegen einen aufgepumpten Preisboxer behauptet. Das selbst entworfene Kostüm besteht aus einem rot-blauen pyjama-ähnlichen Sportanzug aus Jersey, auf das Peter alias Spider-Man mit Hilfe einer Schablone eine Spinne in ihrem Spinnennetz auf die Brust gesetzt hat. Über sein Gesicht hat er eine rote Strickmaske gezogen, aus deren ovaler Öffnung er das Geschehen beobachten kann. Im Laufe der Erzählung wird sich diese Maskerade professionalieren: Am Tag nach seinem Highschoolabschluss schlüpft Spider-Man in einen rot-blauen Ganzkörperanzug aus hautengem, mattschimmerndem Lycra. Das rote Ober- und Strumpfteil wird von einem silbernen Spinnennetz überzogen, dessen Zentrum sich zwischen seinen Augen befindet. Wie ein Relief legt es sich über Peters Körper, der durch das Kostüm vollkommen eingeschlossen ist. Die kleine Spinne sitzt nicht im Zentrum des Netzes, sondern in der Mitte seiner Brust, ein weiteres Spinnenemblem ist auf seinem Rücken zu sehen. Rechts und links vom Netzzentrum sind dreieckige, graue und undurchsichtige Augenformen angebracht, die seine eigenen Augen ersetzen und die Facettenaugen von Insekten nachahmen. Sein Gesicht wird dadurch auf die Augen reduziert, andere (menschliche) Merkmale wie Mund und Nase verschwinden hinter dem roten Stoff. Zudem verflacht das Netz die Gesichtszüge und ordnet wie ein Koordinatensystem alles andere der Vernetzung unter. So hat sich über seinen Körper eine zweite, hermetisch abgeschlossene Haut gelegt, die passend zu seinen neuen spinneninduzier17 | Connell, Robert W. »›The Big Picture‹. Formen der Männlichkeit in der neueren Weltgeschichte«. Widersprüche 56/57 (1995): 23-45, hier 37.

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ten Fähigkeiten (Springen, Klettern, Netzespinnen etc.) das tierische Vorbild aufruft. Sein jugendlicher Körper mutiert zu einer flexiblen Kampfmaschine, und das neue Kostüm verbildlicht zudem das Verlassen der jugendlichen Welt und Peters Eintritt in das Universum der Erwachsenen. Spider-Mans Gegenspieler, Norman Osborn, legt ebenfalls eine Ganzkörpermaske an. Diese schmiegt sich jedoch nicht an seinen Körper, sondern fungiert wie eine Rüstung, die seinen Körperumfang vergrößert und schützt. Der Kampfanzug besteht aus einzelnen Muskelschilden von grün schimmerndem Metallimitat und unterteilt mit Hilfe von scharnierähnlichen Verbindungsteilen den Körper in seine Glieder. Er erhält einerseits etwas Roboterhaftes, andererseits erinnert er durch seine grüne Oberfläche auch an ein (giftiges) Insekt. Der Kopf wird von einem Helm bedeckt, der am Hinterkopf aerodynamisch in die Länge gezogen ist und dessen Augenöffnungen mit gelblich-durchsichtigem Plastik besetzt sind. Im Gegenteil zu Spider-Man hat Osborns Maske eine Mundöffnung, die das Maskengesicht zu einem zähnefletschenden Ungeheuer werden lässt. Osborns Kampf mit seinem zweiten Selbst findet bezeichnenderweise vor einem Spiegel statt, der sich in seinem Appartement voller ethnologischer Masken befindet. Während ihm die Stimme des voice-overs, »power beyond your wil­ dest dream« offeriert, fungieren die ›wilden Masken‹ unterschiedlicher Herkunft als ein bedrohliches Symbol seiner Ich-Teilung. Mit Hilfe von Masken indigener Kulturen wird hier auf Vorstellungen zurückgegriffen, dass besonders ›wilde‹ Gesichtsmasken ein Eigenleben führten, welches negativ konnotiert und als Bedrohung zu werten ist. Wenn am Ende von Osborns Verwandlung die Maske seines Kampfanzuges in seine Maskensammlung eingereiht wird und direkt zu ihm zu sprechen scheint, dann ist das Urteil über die Irrationalität, Unkontrollierbarkeit und Gefährlichkeit ›fremder Kulturen‹ gleich mit gefällt. Peter Parkers hermetisch abgeschlossener Lycra-Anzug steht hingegen nicht in Verbindung mit der bedrohlichen Macht ›fremder Kulturen‹, sondern kann in die westliche Tradition athletischer Sportkleidung (z.B. Anzüge von Radrennfahrern oder Gymnastikkleidung generell) gestellt werden. Seine ›natürliche‹ Muskelkraft wird betont, der Anzug lässt ihn jedoch nicht zum bloßen Muskelmann eines mittlerweile überholten Actionkinos werden, sondern assoziiert ihn mit einem zeitgenössischen Körperideal, das Thomas Morsch so treffend als »diffuse[s] Ideal einer geschmeidigen, auf natürliche Weise gesunden ›probiotischen‹ ›Light‹-Existenz«18 beschreibt. Der Unterschied zum klassischen Actionhelden wird in Peters erstem Kampf im Wrestling-Ring durch seine selbst gemachte Verkleidung im Stile jugendlicher Protestbewegung – hierfür steht besonders die Sturmhaube mit Augenschlitz – noch ironisch betont, erfährt jedoch durch seinen späteren, eng anliegenden Ganzkörperanzug eine entscheidende, seinen Status als Superheld affirmierende Wendung. Sein Körper ist nicht wie beim Actionhelden (vgl. die Figuren von Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger) durch ›harte Arbeit‹ gestählt, sondern erfährt eine magische Wandlung, die in übernatürliche, bzw. übermenschliche/tierische Kräfte mündet. Physische, und das heißt hier: männliche Kraft wird zu etwas Symbolhaftem, das im Kampf bewiesen und moralisch verankert werden muss.

18 | Morsch (Anm. 3), 63.

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D ie M aske als M arke Wie auch beim Zweikampf handelt es sich bei der Maskierung des Superhelden um eine spezifische Form männlicher Inszenierung, was auch durch das markante Fehlen weiblicher Superheldinnen, denen auch nur annähernd eine Bedeutung wie ihren männlichen Kollegen zukäme, belegt wird.19 Die vier Aspekte der Definition des Superheldengenres – das metamorphotische Element, der Kampf für die gerechte Sache, die Hypermaskulinität und das sexuelle Dilemma – können Hinweise auf die Funktion und die Notwendigkeit der Maskierung zu Inszenierung von Männlichkeit geben, indem sie mit dem Phänomen der Verkleidung verbunden werden. Die Maske macht die Metamorphose des Helden deutlich sichtbar, wobei in der Schwebe bleibt, welche der beiden Identitäten die ›wahre‹ ist: verbirgt der ungeschickte und schüchterne Tolpatsch seine außergewöhnlichen Kräfte oder ist der Superheld nur ein gewöhnlicher Mann im Mummenschanz? Damit wird die Maskerade gewissermaßen zum Zeichen eines Dienstzustandes, so wie die Uniform20 aus einem Durchschnittsmenschen einen Polizisten mit Sonderrechten und -befugnissen machen kann. Gleich einer singulären paramilitärischen Uniform lizensiert sie ihren Träger und ermächtigt ihn zur Anwendung von legitimer Gewalt.21 Da es sich aber nicht um eine Uniform handelt, die mehrere Individuen in identische Personen des öffentlichen Rechts verwandelt, sondern um eine ›selbstgemachte‹, unikale Verkleidung, weist das Kostüm auch auf die Selbstermächtigung seines Trägers hin. Neben ihrer zeichenhaften Wiedererkennbarkeit streicht die Superheldenmaskierung auch maskuline körperliche Merkmale hervor. Wie man am Beispiel Spider-Mans erkennen kann, betont sie wie eine zweite Haut die athletische Gestalt und steht damit für ein Bild patriarchalischer Handlungsfähigkeit ein. Sie verwan19 | Es gibt zwar weibliche Protagonisten im Genre, die aber meist nur als Assistenzfiguren der männlichen Helden agieren. Supergirl dient gelegentlich als weibliche Ergänzung zu Superman, zur Schar wiederkehrender Gegner Batmans gehört Catwoman, auch bei den Fantastic Four findet sich eine Heldin. Eigene Serien um Superheldinnen haben aber offensichtlich wenig Bestand, wie beispielsweise die Einstellung von Glory aus dem Hause Awesome 1996 nach wenigen Nummern belegt. Langlebigere Heldinnen wie Barbarella oder Vampirella sind hingegen nicht ohne weiteres dem Genre zuzurechnen. Andere Figuren, etwa Elektra, erreichen bei weitem nicht die Popularität ihrer männlichen Pendants, obgleich auch sie über optimierte sexuelle Primärreize verfügen. — Eine weitere Facette ›männlicher Maskerade‹ kommt im Superheldengenre kaum zum Tragen: die Verkleidung weiblicher Protagonistinnen als männliche Figur. Zur Geschichte männlich maskierter Frauen vgl. Friedrich, Annegret. »Männliche Maskeraden in der Portraitmalerei des 18. Jahrhunderts«. Frauen Kunst Wissenschaft 33 (2002). 20 | Die Nähe der Superheldenmaskierung zur Uniform zeigt v.a. Superman, der während des Zweiten Weltkriegs in den Comics gemeinsam mit amerikanischen Soldaten kämpft oder im Anschluss an den 11. September 2001 Polizisten und Feuerwehrleuten Tribut zollt. 21 | Insbesondere im Falle Batmans dient sie zusätzlich auch als Panzerung, die ihren Träger schützt, und übernimmt damit auch die Funktion einer Rüstung. Das Vorbild römischer Prunkrüstungen, die etwa Gesicht und Muskulatur des Rumpfes idealisieren, ist deutlich erkennbar.

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delt den kontingenten realen Leib in ein idealtypisches Bild von Männlichkeit. Diese Inszenierung als ›Bild von einem Mann‹ zeitigt unterschiedliche Wirkungen. Innerhalb des narrativen Kontextes dient es der martialischen Lebensführung in ihrer apotropäischen Funktion. Als eine Art Kriegsschmuck mag die Hypertrophierung den Gegner wie den Leser bannen – oder doch zumindest beeindrucken. Gleichzeitig führt sie zu einer Erotisierung der Figur, die eine Anziehungskraft auf die übrigen, insbesondere weiblichen Protagonisten des Geschehens ausübt. Dieser Attraktivität des Super-Mannes ist nicht zuletzt das erotische Dilemma geschuldet, dem die Superhelden ausgesetzt sind. Denn einerseits können sie mit Rücksicht auf ihr Incognito keine intime Beziehung zulassen, andererseits käme ein sexueller Akt, der eine Entkleidung von der ermannenden Haut erfordern würde, einer symbolischen Kastration gleich. So bleibt es in Spider-Man beim simplen Kuss. Auch auf der Betrachterebene ist die Erotisierung durch die Maskerade von Belang. Sie bindet als Objekt der Begierde weibliche wie männliche Konsumentengruppen.22 Zusätzlich bietet sie die Möglichkeit zur Identifikation, indem in der Imagination der Selbstermächtigung Genugtuung für narzisstische Kränkungen phantasiert werden kann. Darüber hinaus garantiert das Kostüm innerhalb der seriellen Struktur von Comics wie von Filmen die Konstanz des Produktes und eröffnet über die emblematische Wirkung weitreichende Merchandisinghorizonte, wie sie in der Werbung über Signets oder Markenzeichen erreicht werden.23 Die Maske des Superhelden lässt sich zusammenfassend in dreifacher Hinsicht als ›Marke‹ verstehen. Einerseits stellt sie eine Marke im Sinne einer Lizenz dar: eine Polizeimarke, ein Badge. Zweitens markiert sie als Signifikant, als Zeichen, den ›wahren Mann‹ im Gegensatz zur kontingenten ›realen‹ Person. Marke ist hier im Sinne der Markierung eines Ortes inszenierter idealer Maskulinität gemeint. Und schließlich stellt sie eine Marke im Verständnis einer geschützten Trademark, eines Handelsproduktes dar. Die Wiedererkennbarkeit, ihre Reproduzierbarkeit, ist Merkmal aller drei Formen der ›Marke‹. Die Maske des Superhelden ist damit keine Camouflage, sie ist nicht die Tarnkappe Siegfrieds, die ihn im Kampf mit Brünhild unsichtbar macht. Sie funktioniert auch nicht wie die Verkleidung des Odysseus, der im Gewand eines Bettlers als einziger die Prüfungen besteht, um seine Frau Penelope zurückzugewinnen. Obgleich auch diese beiden Beispiele Maskierungen vorführen, die ihre Träger ermächtigen, ihre Männlichkeit performativ unter Beweis zu stellen, indem sie die Frau erringen und den Gegner vernichten, funktionieren sie über das Motiv der Verbergung.24 Vielmehr ähnelt die Larve des Helden den Maskierungen anderer klassischer ›Superhelden‹, etwa der Löwenhaut des Herkules oder der Haarpracht 22 | Zur Geschichte der ›queer readings‹ von Superhelden seit den 1950ern vgl. Brooker (Anm. 16). Hier wird auch auf die Identifizierung heterosexueller Männer mit der außergewöhnlichen Maskulinität des Helden hingewiesen. 23 | Als Gegenbeispiel kann die Serie der James Bond-Filme dienen, die mit wechselnden Schauspielern auch ohne Maskerade (vom Smoking abgesehen) einen niemals alternden Helden durchgängig installiert hat. 24 | Ein ganz anders geartetes Motiv männlicher Maskierung zeigt sich in der Episode der Ilias, während der sich Achill in Frauengewändern verkleidet vergeblich dem Kriegsdienst zu entziehen versucht. Die ›wahre‹ Männlichkeit des Helden erweist sich hier als nicht maskier-

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des Samson,25 die den Heroenstatus ihre Träger überhaupt erst enthüllen oder wie im Falle Samsons sogar begründen. Als ein weiteres historisches Beispiel der Inszenierung von Männlichkeit durch Maskerade kann der nordische Krieger-Mythos des ›Berserkers‹ gelten, der »in Ekstase mit übermenschlicher Kraft kämpft und nach Volksmeinung unverwundbar ist.«26 Die Bezeichnung ist dabei nicht seiner kriegerischen Fähigkeiten oder dem Phänomen der Unverwundbarkeit entlehnt, sondern seiner Maske: Ber-serkr bedeutet ›Der im Bärenkleid‹.27 Die Maske macht den Mann als Mann kenntlich. Sie ist dabei mehr als eine narrative Strategie der Bezeichnung, denn sie ist stets ein Kleidungsstück, ein am Körper zu tragendes Accessoire, sie funktioniert nach Maßgabe des Bildes, nicht des Begriffes. Die Maskerade der Superhelden macht nicht unsichtbar, sie macht sichtbar. Die Männlichkeit der Superhelden besteht nicht trotz oder unter der Maske – ihre ideale Maskulinität besteht in der Maske. Männlichkeit entsteht erst aus der performativen Inszenierung von Maskerade: Peter Parker ist in dem gleichen Sinne vermummter Spider-Man, wie Spider-Man der aufgeputzte Peter ist. Ohne essentielle, vorgängige, stabile Männlichkeit erzeugt sich diese in der doppelten kulturellen Praxis des Umziehens: der Loser als verkleideter Superhero, der Übermensch als maskierter Versager.28 Die zweifache Identität des Superhelden macht die Strategie der Erzeugung von Männlichkeit erkennbar.

M aske und männliche I dentität Die drei von Chris Holmlund vorgeschlagenen Differenzierungen der männlichen Maskerade scheinen auf das Genre der Superhelden nicht zu passen. »Dressing up (embellishment) – putting on (parody, critique) – stepping out (affirmation, contes-

bar. Auch der zentrale Topos der Ilias, der Einsatz des trojanischen Pferdes, wäre auf Implikationen des Maskenmotivs hin zu befragen. 25 | Auf diese beiden Vorbilder beruft sich bereits Jerry Siegel, der gemeinsam mit Joe Shuster 1938 Superman erfindet, freilich ohne dabei auf die Frage der Maskierung einzugehen; vgl. Hausmanninger (Anm. 8), S. 60. Die historischen Bedingungen im Augenblick der Erfindung der Superhelden spiegelt auch Männlichkeitsideale wieder, die im faschistischen Europa gepflegt wurden; vgl. Mosse, George L. Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt, 1997. 203ff. 26 | Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin/New York, 1989. 76, Eintrag ›Berserker‹. 27 | Die etymologische Unklarheit des ›ber‹, dessen Deutung zwischen ›Bär‹ und ›bar‹ (der des Kleides Bare = der Nackte; vgl. Kluge, Anm. 26) unentschieden ist, scheint die Ambivalenz des Superheldenkostüms zwischen Entblößung der athletischen Muskulatur und Verschleierung der bürgerlichen Identität zu reflektieren. — Auf den Zusammenhang von Tiermaske und einer archaischen Vorstellung von Männlichkeit in der modernen Gesellschaft weist hin: Faludi, Susan. Backlash. Die Männer schlagen zurück. Hamburg, 1995. 411. 28 | Als einer der ersten Autoren begreift Paul Hoch Männlichkeit als Maskerade ohne fassbare Essenz: Hoch, Paul. White Hero – Black Beast. New York, 1979. 94ff. Maske wird hier verstanden als »the pose of a socially approved white hero type masculinity«, die, in freudianischer Diktion, zum Selbstschutz vor einer feindlichen Umwelt angelegt wird.

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tation)«29 haben jeweils eine feste Referenzgröße, von der aus sich verkleidet wird. Anders als die Theorie von Weiblichkeit als Maskerade, wie sie sich bei Joan Riviere formuliert findet, ist die Maskierung der Superhelden kein Vorschützen, kein Vortäuschen einer angenommenen Persona im Sinne antiker Theatermasken. Sie ist vielmehr der Ausdruck einer tatsächlich gelebten Persönlichkeit, sie ist Zeichen einer Identität. Der Superheld ist identisch mit seiner Maskerade und geht voll in ihr auf. Das beständige Springen zwischen den möglichst kontrastreichen Identitäten von Superheld und Außenseiter macht deutlich, dass die Maskerade nicht Maskierung von etwas Darunterliegendem ist, sondern sich in jedem Zustand selbst bedeutet. Wäre die Maske stabil – wäre sie nicht je durch ein alter ego kontrastiert – bestünde nicht der aktive Aspekt des Maskierens. Anders als Hut und Stiefel im Western oder Trenchcoat und Zigarette im Krimi ist die Heldenmaske nicht nur Kostüm oder Staffage, sondern Marke als Auftrag und Rahmen. Dies wird auch durch den Umstand betont, dass Muskulatur und Maskerade in einem engen Zusammenhang stehen. Wie bei einer Verpuppung repräsentiert die zweite Haut des Heldentrikots weniger einen Überwurf als ein Körperteil. In deutlichem Kontrast zur lässigen Alltagskleidung Peter Parkers, die seinen Körper verbirgt, macht das Spider-Outfit seine athletische Konstitution nicht nur sichtbar, sondern betont sie noch durch geeignete Mittel. Ernst van Alphen macht darauf aufmerksam, dass – vergleichbar zur Konstruktion von Männlichkeit im Bodybuilding – in Werken Francis Bacons »masculinity is foregrounded as a convulsive masquerade.«30 Körper und Maske gehen ineinander über. Im Gegensatz zum anabolika-stimulierten Body als universellem Schwellkörper des Actionkinos der 80er Jahre aber wird im aktuellen Superheldenfilm die Maske zur digital designten Oberfläche des wellness-optimierten Heroenleibes. Anstelle der bis zur ›affektlosen Maske‹ hypertelisch trainierten Muskulatur definiert hier die Maskierung den männlichen Körper als Special Effect. Die Spezifika der Maskerade werden auf diese Weise zu den Bestimmungen von Männlichkeit: die Aktivität der Selbstsetzung im metamorphen Wandel zwischen Knabe und Mann, soziale Verantwortung als kämpferische, ja gewaltsame Handlung, der erotische Komplex zwischen Heterosexualität und zwischenmännlicher Konkurrenz. Innerhalb dieser Definition von Männlichkeit besetzt der Superheld einen Idealtypus. Seine Identität ist zwar durch die Initiation gerahmt, muss aber innerhalb dieser Grenzen hart errungen werden. Sein Gegenbild ist nicht das grundsätzlich Andere, etwa das Weibliche, wie es Klaus Theweleit nahegelegt hat,31 sondern – wie in Spider-Man zu erkennen – es sind alternative Entwürfe von Männlichkeit, beispielsweise die knabenhafte Verantwortungslosigkeit oder eine ›böse‹ Männlichkeit in Form gewissenloser Geschäftsmänner, Militärs oder Wissenschaftler.32 29 | Holmlund, Chris. »Masculinity as Multiple Masquerade. The ›Mature‹ Stallone and the Stallone Clone«. Screening the Male. Exploring Masculinities in Hollywood Cinema. Hg. v. Stephen Cohan u. Ina Rae Hark. London, 1993. 213-229. 30 | Alphen, Ernst van. Francis Bacon and the Loss of Self. London, 1992. 175. 31 | Theweleit, Klaus. Männerphantasien. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Bd.1. Reinbek bei Hamburg, 1980. 311ff. 32 | Norman Bryson weist in seiner Entwicklung des Begriffs der maskulinen Maskerade darauf hin, dass Männlichkeit sich nicht notwendig über den voyeuristischen Blick auf die Frau

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Der Ausweg aus dem erotischen Dilemma ist nicht der geglückte Vollzug von Sexualität, sondern Peter Parker genügt sich im Bild des begehrten Heroen. Insofern besteht die Maskulinität Spider-Mans weder in der Erfüllung der erträumten Beziehung zu Mary Jane noch in der Übernahme der Vaterrolle von seinem Onkel und auch nicht in einer Karriere nach dem Vorbild Norman Osborns, sondern im Heraustreten aus den Verhältnissen von Mann und Frau bzw. Vater und Sohn. Männlichkeit erweist sich nicht in der Erfüllung eines gesellschaftlich definierten Klischees, sondern in der Emanzipation und der autonomen Positionierung außerhalb von Recht und Ordnung – jede soziale Verpflichtung wird nur als Selbstverpflichtung übernommen. Der finale Showdown des Spider-Man-Films zeigt, dass der ›richtige‹ Mann nicht den Mechanismen institutioneller Rechtsprechung vertrauen kann, sondern nur im archaischen Ritus des »Mann gegen Mann« zur gültigen Selbstdefinition gelangt.33 Die Frage, ob denn auch ein böser Mann ein Mann sei, kann sich nur im Kampf erweisen.34 Da zeigt sich, dass die Macht des guten Mannes der Hinterhältigkeit des Verschlagenen überlegen ist: In der Identität von Person und Maske liegt die eigentliche Kraft von Spider-Man. Maskierung im Sinne des ›etwas im Schilde führen‹ schwächt die Kampfkraft seines Gegenspielers, beraubt ihn aber nicht seiner Maskulinität. Männlichkeit ist in diesem Verständnis keine absolute Größe, es gilt nicht die Alternative Mann oder Nicht-Mann, sondern ein relatives Verhältnis von besserer und schlechterer Verkörperung von Maskulinität. ›Mann’s genug sein‹ ist konstituiert, wie Laura Mulvey es darstellt hat, sondern vielmehr über zwischen-männliche Beziehungen. Bryson, Norman. »Géricault and ›Masculinity‹«. Visual Culture. Images and Interpretations. Hg. v. Norman Bryson, Michael Ann Holly u. Keith Moxey. Hanover/London, 1994. 228-259. 33 | Die latente Bewunderung, die Superheld und Superschurke im Film füreinander hegen, gemahnt an die zwischenmännliche Beziehung der ›Freundschaft‹, zu der Dietmar Kamper schreibt, dass »die Begrenztheit der griechischen Freundschaft eine starke Tendenz hat, Helden hervorzubringen«, wobei dem einzelnen die Aufgabe gebühre, »seine Kräfte zu sammeln und gerade gegen die Zumutungen dieses Allgemeinen in Staat und Kirche zu mobilisieren.« Kamper, Dietmar. »Freundschaft«. Paragrana, Themenheft »Der Mann«, 6.2 (1997): 95-103, hier 97, 99. In diesem Sinne ließe sich beider Beziehung im männlichen Modus der Freundschaft beschreiben, als singulare aber gleichwertige Gegenüber außerhalb der Allgemeinheit zu agieren. Der Umstand, dass der eine hehren, der andere niederen Idealen frönt, ist auf der Höhe maskuliner Freundschaft irrelevant. 34 | Ulrike Brunotte (»Helden, Cyborgs und Rituale. Inszenierungen der Männlichkeit jenseits der Geschlechterspannung«. Paragrana, Themenheft »Kulturen des Performativen«, 7.1 (1998): 197-214) geht auf den Aspekt des ritualisierten Kampfes als männliches Konstituendum hinsichtlich der Filme Rambo und Terminator ein. Sie verweist dabei nicht nur auf die Position des Helden als »Schwellenwesen [...] zwischen dem Status des Kindes und dem des Erwachsenen« (203), sondern bemerkt auch, dass »sein [Rambos] muskulöser Körper als Ganzer zu einer Maske geworden« ist, zu einer »affektlosen Maske des Unverwundbaren« (204). Beide Phänomene sind auch auf Spider-Man anwendbar. Die Beziehung der Maskerade zu Affektlosigkeit und Maschinenhaftigkeit gemahnt an einen futuristischen Topos von Maskulinität in historischer Nähe zur Erfindung von Superman und Batman 1938 und 1939: dem Verschwinden des Individuellen hinter dem Typus (vgl. auch Lethen, Helmut. Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt, 1994).

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hinreichendes Kriterium geglückter Selbstsetzung. Daraus folgt aber, dass ethische und soziale Orientierungen in dieser Fiktion zweitrangig sind, primäre Kennzeichen sind Autonomie und Handlungsfähigkeit. Das gilt für die guten wie die bösen, für die starken wie für die schwachen Charaktere des Films. Die Selbstsetzung ›Mann‹ erhält folglich erst Gültigkeit, wenn sie ausagiert wird, die Maske darf nicht einfach nur übergestreift werden, sondern will performativ ausgefüllt sein. Männlichkeit lässt sich nicht behaupten, sondern muss sich beweisen.35 In diesem Sinne ist die Maske mehr als ein reiner Signifikant mit Wiedererkennungswert: Sie stellt die Hülle eines Handlungsraumes.

35 | Ganz im Sinne von Harry Brod: »I believe that we are being invited to consider masculinity itself, in any and all of its forms, as a masquerade.« Brod, Harry. »Masculinity as Masquerade«. The Masculine Masquerade. Masculinity and Representation. Hg. v. Andrew Perchuk u. Helaine Posner. Cambridge, 1995. 13-20, hier 13. In diesem Sinne formulieren auch Tillner und Kaltenecker: »Männlichkeit ist der unabschließbare Prozess ihrer Herstellung«, Tillner, Georg u. Siegfried Kaltenecker. »Offensichtlich männlich. Zur aktuellen Kritik der heterosexuellen Männlichkeit«. Texte zur Kunst 5.17 (1995): 37-47, hier 45. Vgl. auch Röger, Kati u. Heike Paul (Hg.). Differenzen in der Geschlechterdifferenz – Differences within Gender Studies. Berlin, 1999; Koos, Marianne u. Mechthild Fend (Hg.). Zur Repräsentation von Männlichkeit in der Kunst und den visuellen Medien. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Köln, 2003.

Batman & Robin* Dirck Linck

I. I ndizien . – die liter arische D arstellung eines outings und eine davon eher wegführende V orgeschichte Bereits seit dem Mai 1939 ist die Göttin damit beschäftigt, den Zorn des »Dark Knight« Batman zu singen. Sie liefert in Serie: Detective Comics und Batman. Beide Reihen widmen sich dem »Caped Crusader«, dessen idée fixe die Auslöschung des Verbrechens ist. In deutscher Sprache singt die Göttin seit 1966.1 Sie teilt den Lesern das Vergnügen zu, bestimmt den Tag, an dem Batman kommt. Lang ersehnt, heiß erfleht. Das jeweils nächste Heft ist ein vorhersehbares Ereignis, von dem der Alltag unterbrochen wird. Die Regelmäßigkeit, mit der man es vorlegt, nimmt ihm zwar die Aura der Einmaligkeit, das Ereignismoment bleibt davon jedoch unberührt. Die Formel vom Heft, das »erscheint«, gibt zu erkennen, daß jedes Heft es versteht, seine Gegenwart gegen den Fluß der Zeit auffällig zu machen. Es ist Zäsur und Kontinuität, Wiederkehr und Ankunft. Jedesmal wieder Batman, doch niemals reine Wiederkehr, sondern ein Bruch mit dem Alten. Der »neue Batman« ist ein Fragment und als solches isoliert – aber gleichwohl bezogen auf alle anderen zugeteilten Hefte der Reihe und auf ein niemals zu rekonstituierendes BatmanWerk, das als Werk-Ganzes nur im Geteiltsein existiert. Die Reihung bewahrt den Comic davor, in die identische Dinghaftigkeit eines »Werkes« abzurutschen, das *  Linck, Dirck: Batman und Robin. Das »dynamic duo« und sein Weg in die deutschsprachige Popliteratur der 60er Jahre. Hamburg: Textem Verlag 2012. 1 | In den 50er Jahren blieben Versuche des Supermann-Verlags und des Aller-Verlags, Batman und Superman auf dem deutschen Markt zu lancieren, ohne Erfolg. Der »Supermann« mit Doppel-n wurde nicht zuletzt ein Opfer der Kampagnen, die Psychiater und Pädagogen gegen den Comic Strip und die mit den USA identifizierte »Kulturlosigkeit« eines Text-BildMediums führten, das als Hybrid – Zeit- und Raumkunst zugleich – die Dominanz der isolierten Textualität traditioneller Literatur in Frage stellte. Erst die kulturellen Transformationen der 60er Jahre bewirkten in Europa eine Veränderung in der Haltung zu den Produkten der US-amerikanischen Kulturindustrie und verschafften den Superhelden wenigstens bei den Jugendlichen ihre zweite Chance. Die ab 1966 vom Ehapa Verlag herausgebrachten Serien Batman und Superman fanden sofort ihr Publikum, dessen Faszination wiederum unmittelbar zum Gegenstand jener Reflexionen an der Peripherie der Künste wurde, die im Schlußkapitel meines Buches thematisiert werden.

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fertig auf seine Interpreten wartet. Jeder, der von Batman redet, redet von einem anderen Batman, von einem spezifischen Punkt auf der Serienkurve. Ein Comic-Book ist Unterbrechung und Fortsetzung des Gesangs in einem, und die Fortsetzung, die folgt, ist die Wiederkehr des Gesangs der Göttin. Ironisch genug, daß in diese Form der Erfahrung des Seriellen ausgerechnet Artefakte einüben, die sich gegen ihre Platzierung im Feld des Trivialen überhaupt nicht sperren und mit dem transzendenten Sinn des traditionellen Kunstwerks wenig am Hut haben. Ästhetische Erfahrungen mit Superhelden-Comics werden zur Mitte des 20. Jahrhunderts außerhalb des Rahmens von Kunst gemacht und damit jenseits des Bannes von Geschmack, Gottesdienst, Wahrheit und sozialer Distinktion. Sie sind – auch – Erfahrungen des Vollzugs von Ereignissen. Mehr als siebzig Jahre lang ist Batman inzwischen in Gotham City als Ausputzer unterwegs. Die schiere Dauer seiner Präsenz in der Populärkultur ist zum Teil der Legende geworden. Weil sein Bild massenhaft in Umlauf gebracht wurde und die Zirkulation des Bildes niemals angehalten werden konnte, wurde aus dem Star Batman ein Mythos. Mit 4,2 Millionen Treffern läßt er den Kollegen Superman bei Google weit hinter sich. Seine aus dem Strip herrührende und von Fernsehen und Film ständig gesteigerte Berühmtheit machte ihn interessant für die Sampling-Verfahren der (Post-)Moderne. Mit ihm läßt sich etwas anfangen, weil alle ihn kennen und wiedererkennen. Und so kommt »Batman« aus Frankreich und sucht Kontakte in einem Chatroom. Er tritt im Commercial auf, um Bohnen mit Speck zu empfehlen. Im Namen aller Väter, denen nach der Ehescheidung das Recht verwehrt wurde, ihre Kinder zu besuchen, stürmt »Batman« die Mauern von Buckingham Palace. In strammer Nacktheit flankieren Batman & Robin das »Enter« einer Gaysite im Internet (Abb.). Transformiert zu »Battyman & Ronny« sind sie als Helden des Berliner Nachtlebens unterwegs und propagieren in der Möbel Olfe den sichereren Sex.2 Batman hat sich emanzipiert von den Narrativen der Comics, die seinen Namen tragen. Er ist heute eine transmediale Ikone, ein Teil von »McWorld« (Benjamin Barber). Der Dunkle Ritter war immer schon da, sich in seiner graphischen Gestalt gelegentlich schnell verändernd, als Charakter aber so beständig wie ein guter Bekannter, der über die Jahre hinweg identifizierbar bleibt in seiner Wandlung.3 Er ist der Rächer und Richter, den man um der Fiktion willen liebt, es ließen Rächer und Richter sich denken, die es wert sind, angeschaut zu werden. Verehrt wird er nicht zuletzt als einer, der gelegentlich verschont. Der Akt des Verschonens gehört aber in dasselbe Register wie Rache und Strafe, denn die Gnadengewährung ist ein Attribut der göttlichen Helden. Was die Leser genießen, die zum Identifikationsschema stehen, ist stets der eine Entscheidung in die Wirklichkeit einführende Daumen, gleichgültig, ob er sich nun hebt oder senkt. Die raschen Stimmungswechsel des Helden erinnern sie an die als »Schicksal« begriffene Diskontinuität des eige2 | Die Comics erschienen unter URL: www.etuxx.com/diskussionen/foo285.php3 (nicht mehr gültig). 3 | »Der Amerikaner verbringt sein ganzes Leben mit denselben Helden: er kann es nach ihnen abstecken. Er verbindet sie mit seinen ältesten Erinnerungen, sie sind seine ältesten Freunde. Über Kriege, Krisen, Arbeitslosigkeit, Stellenwechsel und Scheidungen hinweg sind sie manchmal die dauerhaftesten Elemente seines Lebens.« Pierre Couperie: Mit Comics leben. Zur Soziologie der Comics. In: tendenzen, 9, 53, 1968, S. 179-180, hier S. 180.

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nen Lebens. Der Verzicht auf Gewaltausübung authentifiziert einmal mehr die souveräne Macht, die über Leben und Tod verfügt. Er sagt: Wir können auch anders.

Daß es Rache ist, was den nächtlichen Ausbrüchen Bruce Waynes die Antriebsgeschwindigkeit verschafft, unterscheidet Batman von moralischen Helden wie Superman oder Captain America, die als von außen kommende Beschützer von vornherein heillos ins Soziale verstrickt sind und in ihrem Handeln von reaktiven Mustern abhängen.4 Batman ist unerklärlicher, irrer, gewalttätiger Schöner! Ihn bewegt ein Zorn, der sich selbst bewegt. Wenn nur »The Boy Wonder« nicht wäre.

4 | Seit 1952 läßt DC Comics Superman und Batman aus Vermarktungsgründen gelegentlich gemeinsam agieren, in der Reihe World’s Finest Comics zum Beispiel. Das hat sich aber als schlechte Idee erwiesen. Unter Fans, die zum Tribalismus neigen, ist Distinktion alles. Es ist wie mit den Darstellern des James Bond – man liebt einen Superhelden. Nur diesen einen. Und kann deshalb dessen Kollegen (mitsamt ihren Fans) nicht ausstehen. – Urteile und Liebesbekundungen müssen in der Popkultur nicht dauerhaft und begründet sein, auf ihre entschiedene Setzung kommt es an.

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Mit Batman hat die Unterhaltungsindustrie das Erhabene privatisiert und popularisiert. Aus dem harmonischen Ganzen der alten Mythen schnitt sie die Action-Sequenzen heraus und klebte sie zum Endlosband. Vom alten Helden der alten Kultur, die das primäre semiologische System bildet, auf das die Welt des Comics aufgesattelt ist, blieb im sekundären System der erzählerischen Figurationen Batmans ein für die Funktion unverzichtbarer Grundbestand: weiß, groß (1,89 m), männlich, dunkelhaarig, blauäugig, muskulös (100 kg), kantig.5 Und selbstverständlich unbeweibt. Das war Old Europe und lakonisch und bewies, nach dem Ende der Götter, von denen die Harmonie der alten Mythen garantiert worden war, historische Intelligenz. Hier erschien ein Held mit einem Schatten. Spätestens seit dem hinreißenden Relaunch der Figur durch den Zeichner Frank Miller war dem Helden die Zweideutigkeit auch anzusehen. Sterblich war dieser Held, verwundbar, nicht durch Superkräfte geschützt, wütend. Batman brachte die zürnende Macht, die der Rezipient in der Erfahrung von Kunst zitternd zu genießen versteht, ins Kinderzimmer und weckte dort die Wiederholungslust.6 – Daß die Konstellation Bruce Wayne/Batman, die periodisch zu Abenteuern geplottet wurde, von den Schwierigkeiten einer ganz anderen Form des Doppellebens erzählen könnte, einer Form, von der die alten Helden sich nichts träumen ließen, spielte als Lektüremöglichkeit unter der Bettdecke (noch) keine Rolle. Doch wer sich in einem Punkt vom moralischen Helden unterschied, der mochte nach dem Gesetz der Serie wohl auch in anderen Bereichen zur Unmoral fähig sein. Vor Superman müssen Verbrecher Angst haben, Batman aber entscheidet da­ rüber, wen er als Verbrecher zu betrachten wünscht. Der Unterschied ist einer um das Ganze: Batman müssen wir uns als Dezisionisten vorstellen, der über die Kategorien verfügt. Dieser Erlöser reagiert nicht auf Probleme, er geht nachts um. »Meine Verkleidung muß sie in Angst und Schrecken versetzen. Ich muß eine Kreatur der Nacht sein, schwarz, schrecklich, eine… Fledermaus« (Bruce Wayne in Detectice Comics #33). Auch die homerischen Helden werden mit der »Nacht« verglichen, um die Plötzlichkeit ihrer Erscheinung, das Hereinbrechende ihres Schreckens 5 | Baumgärtner spricht am Beispiel Tarzans vom »Ensemble körperlicher Eigenschaften« als einem Signifikanten, der nur mehr assoziativ auf Signifikate des primären Systems bezogen ist, im sekundären System des Comics dagegen »zum bloßen Signifikanten [werde], dessen Signifikat umschrieben werden könnte als ›stärkste und klügste Gestalt, die auf jeden Fall siegen wird‹«. Alfred Clemens Baumgärtner: Die Welt der Comics als semiologisches System. Ansätze zur Decodierung eines Mythos. In: Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Vom Geist der Superhelden. Comic Strips. Colloquium zur Theorie der Bildergeschichte in der Akademie der Künste Berlin. Berlin 1970, S. 71-78, hier S. 75. 6 | Bei Lethem hinterläßt die Verschaltung von juvenilem Subjekt und ästhetischem Objekt, die auch und gerade bei der Lektüre von Comics stattfindet, ihre Spuren an der Materialität von Körpern und Heften: »They’d been tenderly handled to death, corners rounded, paper browned by hot attentive breath, pages chewed by eyes.« Die alles andere als kontemplative Lektüre entfaltet sich hier zur Erfahrung einer Intensität, die den Körper affiziert, der sich dann beim performativen Versuch, das Gelesene sich ereignen zu lassen, mit anderen Körpern verkoppelt: »Mingus read certain panels aloud, incanting them, shaping Dylan’s attention, shaping his own. Dylan felt himself permeated by some ray of attention, moved so that he felt an uncanny warmth in the half of his chest that was turned toward Mingus.« Jonathan Lethem: The Fortress of Solitude. New York 2003 (dt.: Die Festung der Einsamkeit. Köln 2004), S. 54f.

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zu charakterisieren. Weil Batman wie diese Helden ist, einigermaßen lässig und ziemlich triebhaft, wurde er zum Popstar. Weil er wie sie sein sollte, haben seine Erfinder Bob Kane und Bill Finger einen Mord an den Anfang seiner Geschichte gestellt. Sie konstruierten mit großer Intelligenz ein einziges, rasend unoriginelles Handlungsmotiv als ewige Quelle des Gewaltstroms: Bruce Wayne rächt in der Rolle des Batman den Mord an seinen Eltern, den er als Junge hilflos hat anschauen müssen, jedes neue Heft bringt neue Erscheinungen des sich entladenden Heldenzorns, in mal dunklen, mal bunten Bildern. Und auf die kommt es an. Batman-Comics zeigen die Normalmenschen nicht, die Batman zu beschützen vorgibt. Sie verbannen diese Menschen hinter die furchteinflößenden Mauern einer urbanen Architektur, die als Erlebnis-Landschaft und Raum für Größenphantasien selbst zum wesentlichen Bildinhalt wird.7 Gezeigt werden außerdem die in Gotham agierenden Helden, ein paar Polizisten (die das aufräumen, was Batman liegenläßt), vor allem aber die Verbrecher, verätzt, verstümmelt, motorisch gestört, verbrannt, verwachsen, moribund. Die Zeichnungen, die sie in die Welt holen, sind Evokationen ästhetischer Intensität, fixiert auf das Physische, Körperspezifische, Deformierte, das vom umgrenzenden Disegno leicht konsumierbar gemacht wird. Der Comic verhilft als Schauplatz des Entsublimierten dem Abhub zu seinem Auftritt: »Corrosive Man«, »The Joker«, »Mr. Zsasz«, »Two-Face«, »The Penguin«. Die spektakulären Bilder dieser Kreaturen gelten dem ästhetisch Verworfenen, Grotesken, das sich den Zeichnern dargeboten hat und mit gesteigerter Aufmerksamkeit von ihnen wahrgenommen wurde. Visuelle Entwürfe einer bizarren Welt, die sich zur Lebenswirklichkeit der Leser dysfunktional, provokativ und subversiv verhält, gestatten es all jenen, deren Wünschen nach einem anderen Leben keine Erfüllung beschieden ist, diese Batman-Welt als Potential des Imaginären in ihre realen Erfahrungsräume hineinzutragen. Warum sollte man nicht mit dem Stadtplan von Gotham in der Hand durch San Francisco laufen? Warum sollte das bunte Personal des Comics nicht beziehbar sein auf die bunten Leute in Haight Ashbury?8 Der Kosmos Batmans mochte in seiner »Tiefe« die Kodifizierungen der Realwelt teilen – seine Oberfläche aber war schöner, greller, lauter. Batman trat zeitweilig (zusammen mit anderen Zeichen der Popkultur) in eine gegenkulturelle Konstellation ein, in der die Signifikanten der Dissidenz die vagen sozialen Ziele kulturrevolutionärer Praxis zu signalisieren schienen: »Batman & Velvet Underground spannten eine irre Realität auf. […] Foreign Department inhalierte übernacht Stanniol-Atmung / & vernichtete hermeneutische Wissenschaften.«9

7 | Vgl. Mariuccia Casadio: From Gotham City to Plug-in City, from Mickey Mouse to Frank Gehry. Notes for an essay on architecture and comics. In: Giacinto Di Pietrantonio (Hg.): In Fumo. Arte, fumetto, comunicazione. Bergamo 2001, S. 134-138. 8 | In der ABC-Serie Batman, die dem Superhelden einen prominenten Platz im Pop-Diskurs zuweist, kommt es zur Engführung der Gegenwelten des Comics und der Subkultur: In Folge 101 versucht der durchgedrehte Florist »Louis the Lilac«, der durch Kleidung, Gestik und Tonfall als Schwuler markiert wurde, mit Hilfe der Blumenkinder die Macht in Gotham an sich zu reißen. Besetzt war die Rolle mit dem Schauspieler Milton Berle, der seinen Figuren regelmäßig einen ambigen sexuellen Charakter verlieh. 9 | Gerhard Hanak: Logbuch aus dem Hirnmantel. Matritzenabzug des Typoskripts, o.O.,o.J. [um 1970], ohne Paginierung. Zitiert wird aus einem Exemplar, das im »Archiv für Alternativ-

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Genossen wurden die Panels als phantasmagorische Vergegenwärtigungen von – erkannten oder unerkannten – Wünschen und Ängsten, von wenig ansehnlichen psychischen Zuständen, die in der »Hochkunst« legitim nicht zur Erscheinung gebracht werden durften.10 Vom exzessiven Genießen redet Peter Reus in seinem Gedicht Comicstrip, das die Wirkmächtigkeit des Comics aus dem präsentischen Status des Genres ableitet. Die getuschten Bilder und zu schönen Blasen transformierten Wörter bieten den Sinnen unmittelbar Erscheinungen dar, mit denen sich die Subjektivität des Betrachters ebenso umstandslos zu verkoppeln vermag wie mit dem sich aufspielenden »Jedermann«: […] Bei wolkenloser Himmelfahrt verfliegt sichs leicht zu Barbarellas abgezirkelten Brüsten. Jetzt in die Luft gehen, die Farben wie Bonbons lutschen, die Figuren auf der Zunge haben, ihre Laute zermahlen. Mit dem Frosch im Hals hinauf ins Bild geblickt, mit dem Vögelchen aus dem Kasten fliegende Perspektiven eröffnet, wenn der springende Punkt einmal sich im Raster fängt, wenn Vorbilder sich aufblättern und hängen bleiben in der Netzhaut. Screech! Von links nach rechts verfolgen – craaash! die Bilder ihre Helden – boom! hinter deren Augenmasken jedermann sich aufspielt. Der Tod wird rasch durch Mord zur Kunst. Peng! schreibt der Colt und Worte – hohohaha, Batman hats gesagt –, blasen sich auf über Monstren, die im Schlaf so aufrecht wandeln. […]11 kultur. Sammlung Josef Wintjes« am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin aufbewahrt wird. Mit Dank an die Archivmitarbeiterin Eva Kuby. 10 | Kein Zufall, daß die Artefakte der neoavantgardistischen »Anti-Kunst« und der Comic sich in ihren Fixierungen ähneln. Sie ziehen die Distanz zum Entsublimierten ein. Anders als der Comic ist die »Anti-Kunst« aber darauf bedacht, eine andere Distanz zu forcieren: die des Rezipienten zu sich selbst im Augenblick der Wahrnehmung des Entsublimierten. 11 | Peter Reus: Comic strip. In: pro. blätter für neue literatur, 11/12, 1968, ohne Paginierung. Die von Hansjürgen Bulkowski herausgegebene Zeitschrift pro war eines der originellsten Magazine der deutschen Beat- und Pop-Bewegung.

Linck: Batman & Robin

Die Schurken der Batman-Reihe (kein anderer Superheld hat ähnlich reizvolle Gegner) träumen den amerikanischen Traum. Rebellen sind sie nicht; sie sind auch keine Monstren. In ihrer Vergangenheit wollten sie meist das Beste, den gesellschaftlichen Erfolg. Nachdem sie versagten, sind sie nun bis zum Irrsinn entschlossen, sich gesellschaftlich zu rehabilitieren. Sie tun es als Verbrecher. Der Mord als Geschäftskonzept einer Ich-AG kann im Kapitalismus eine hohe Plausibilität beanspruchen, erscheint er doch als konsequente Aktualisierung der gängigen ökonomischen Praxis. Wo Erfolg alles ist, kann der besserverdienende Schurke sich endlich wieder sehen lassen. Mr. Freeze ist eine Ausnahme: Er wird aus Liebe zum Verbrecher. (Aber auch das läßt sich verstehen.) Die Comic-Gegner jener Jahre haben das Genre ganz richtig begriffen. Nur übersahen sie, als sie in distanzierter und zerstreuter Weise über den Genuß der Unkultur und die Unkultur des Genusses zu sprechen begannen, daß jeder Genuß die Kultur überrascht, in der er sich ereignet, und jede Lustempfindung die Suspendierung der signifikanten und symbolischen Ordnungen bedeutet. Batman löschte die ein Jahr ältere Figur des Superman aus. Als buchstäbliche Überzeichnung der moralistischen Vorlage befreite er die psychopathologisch begründeten Möglichkeiten eines Superhelden aus der Latenz.12 Er präsentierte sich als Gewaltmaschine. Deren diskursive Legitimation findet in den storylines und Sprechblasen statt. Die sind extra. Mit ihrer notorischen Bezugnahme auf Recht und Gerechtigkeit verhalten sie sich innerhalb der Bild-Text-Form zu Batmans ausgezeichneten Ausbrüchen wie die soldatische Rede von Ehre und Freiheit zur auf sich selbst verweisenden Anschaulichkeit des Massakers. Im Medienverbund des Comics ist die Sprache keineswegs das dominierende Medium (es gibt Comics ohne Texte, aber keine ohne Bilder), gleichwohl beziehen sich in den 50er und 60er Jahren die Kritiker des Genres in ihren Analysen gern auf die Texte, um die Simplizität und ideologische Zweifelhaftigkeit der Gattung aufzuweisen, die unablässig jene Verhältnisse reproduziere, von denen sie hervorgebracht worden sei.13 Tatsächlich konfligieren in Batman Bilder und Texte häufig miteinander, erweitert oder relativiert ein Medium die Aussagen des Konkurrenzmediums. Die fragilen Sinneinheiten entstehen durch das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der Medien in den Panels, die auch die Schrift als Linie und koloriertes Bild präsentieren und den Text vollständig einem zeichnerischen Kal12 | »Ich nahm mir Superman vor und fing an, die Figur zu überzeichnen. Zuerst nannte ich ihn Bird-Man. Er hatte Flügel wie ein Vogel, Und dann kamen mir die Fledermaus aus dem Film [gemeint ist The Bat Whispers in der Fassung von 1930, D. L.] und die Skizze von da Vinci [gemeint ist einer der zahlreichen Entwürfe da Vincis für eine Flugmaschine, D. L.] in den Sinn. Ich wußte, daß eine Fledermaus dunkel sein sollte, und meine trug eine schwarze Maske.« Bob Kane, zit.n.: Die Chronik des Dunklen Ritters, URL: www.batmans.de/news/ artide/chronik/1077926151.html. 13 | In dieser Kulturkritik artikuliert sich ein Fundamentalismus des Logos. Deshalb wird in den Gutachten über den schädlichen Einfluß der Comic-Lektüre auf die Entwicklung Heranwachsender stets die offenbar als besonders verheerend begriffene Diagnose »lineare Dyslexie« herausgestellt; Comic-Leser entziehen sich, so scheint es, auf medizinisch bedenkliche Weise dem der Gutenberg-Galaxis immanenten Zwang, den Zeilen und Wortketten zu folgen. Vgl. Heinz Demisch: Psychiatrie und Comic-Books, eine amerikanische Untersuchung. In: FAZ, 21.6.1955.

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kül unterwerfen.14 Es dominiert schließlich das Bild in seiner Vollständigkeit und Rätselhaftigkeit. Wer Batmans legalistische Rede nachvollzieht, wird verunsichert, sobald er die Aufmerksamkeit umlenkt auf die Sichtbarkeit der ekstatischen Bilder, die einen männlichen Körper zeigen, der sich nächtens mit Genuß seinen Affekten überläßt. Bild und Text verdoppeln hier einander nicht, sondern erziehen in ihrer Unterschiedenheit zum Aspektsehen. Was im Text als verdrängt erscheint, die Lust an der Gewalt und am Exzeß nämlich, das präsentieren die Bilder als entfesselt. Die Anschaulichkeit des Bildes, das Beschreibung stets im Sinne eines ästhetisch Sinnlichen leistet, verbürgt, daß Batman authentisch ist nur in der Zeichnung, die ihn als Maschine zeigt. Durch sie gehen die Subjektivitäten hindurch. Homosexuelles Begehren hat dieses Bild viriler Körperlichkeit nicht geschaffen – es vermag sich jedoch ad hoc an ihm zu entzünden, um es dann in eine Darstellung seiner selbst zu transformieren.15 Batman ist in die inneren Bild-Speicher mehrerer Generationen von Lesern eingegangen, die an ihm Eigenschaften fanden, die sich fetischistisch verehren lassen. Er gelangte ins Zentralarchiv der amerikanischen, schließlich der globalen Populärkultur. Längst reicht das Aufrufen einzelner Bildelemente aus, um den ganzen Batman vor Augen zu bringen – seine Maske, die Fledermaus auf dem Trikot und das Bat-Signal. Sie sind global kursierende und global identifizierbare Zeichen geworden, wie die Lippen der Monroe.16 Erstmals wird dieser Sachverhalt von der Pop Art in Szene gesetzt. Auf eindrucksvolle Weise speist und trägt der ursprüngliche Haß Batmans die industrielle Bilder-Produktion von Jahrzehnten. Der Mord an Waynes Eltern erschließt sich vor diesem Hintergrund als eine Motivation von hinten,17 folgt also einer der Prädestination verpflichteten Kausalitätslogik, innerhalb derer die Motivation dem Vollzug von Genreregeln dient, nicht der Konstruktion glaubwürdiger 14 | Zur Lektüre von Comics vgl. Scott McCloud: Comics richtig lesen. Hamburg 41997, zur Text-Bild-Verbindung vor allem S. 161ff. 15 | Der schwule Filmemacher Joel Schumacher hat in seinen beiden Batman-Filmen (Batman Forever [1995] und Batman and Robin [1997]) ausgiebig mit einem Kamerablick gearbeitet, der auf die in Latexhäuten vorgeführten Körper der Darsteller (George Clooney und Chris O’Donnell), vor allem auf deren »Pakete« fokussiert ist. Die »crotch shots« machten Schumacher unter den Regisseuren zum Lieblingsfeind der Fans des »alten« Batman, zeugten sie doch von der Aneignung der Figuren durch den fetischistischen Blick eines Homosexuellen, vgl.: Michael Hutchinson: The problem with Batman’s crotch. A lecture. In: Fanzing, #26, April 2000, URL: www.fanzing.com/mag/fanzing50/feature2.shtml; Thomas Austin: Men in suits: costume, performance and masculinity in the Batman films. In: Thomas Austin und Martin Barker (Hg.): Contemporary Hollywood Stardom. London 2003, S. 135-149. 16 | In der Logik des Pop sind Räume, in denen die Zeichen nicht identifiziert werden können, weil die ihnen zugeordneten Signifikate dort nicht vertraut sind, Räume ohne Schönheit, da Schönheit ganz der globalisierten Oberfläche zugehört. Warhol hat diesen Aspekt pointiert formuliert: »The most beautiful thing in Tokyo is McDonald’s. The most beautiful thing in Stockholm is McDonald’s. The most beautiful thing in Florence is McDonalds. Peking and Moscow don’t have anything beautiful yet.« Warhol, zit.n.: Klaus Honnef: Andy Warhol. 19281987. Commerce into Art. Köln 2000, S. 73. 17 | Der Begriff geht zurück auf Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung, Hildesheim, New York 1970 (zuerst 1932), S. 66ff.

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plastischer Charaktere. Motivationen von hinten lassen psychologisch argumentierende Interpretationen immer als tantenhaft erscheinen, verfehlen diese ihren Gegenstand doch mit Notwendigkeit: Sie erkunden an ihm eine Tiefe, die ihm planvoll vorenthalten wurde. Die nicht zu durchstoßende flatness der Comic-Zeichnung widersteht jeder Intention auf Tiefenhermeneutik – und trotzdem hat, was Batman betrifft, eine Lektüre Konjunktur, die davon ausgeht, daß Bruce Wayne durch den erfahrenen Mord aus der familialen Ordnung geschleudert und dann mit Alfred und Dick in einen homosozialen Verbund hineingesetzt wurde, aus dem heraus die Aktionen unternommen werden, mit denen Batman & Robin eben jene Ordnung verteidigen, der sie nicht mehr angehören können.18 Genreangemessener ist es, die Sache anders zu sehen: Nicht weil er seiner Eltern verlustig geht, bildet der Junge diese eigenartigen Persönlichkeitsanteile eines Mannes aus, der in Strumpfhosen und unter einer Fledermausmaske Verbrecher jagt – er tut es, weil Batman auf die Rampe geschoben werden soll, um dann Ausgabe für Ausgabe durchzustarten. Die Männergruppe ist ein den Märchen abgeschauter Kniff, um die Zwecke der Familie aus dem Erzählen heraushalten zu können. Die Alten müssen abgeschafft werden, damit Bruce Wayne als Batman ins Trikot schlüpfen kann. Bitte keine Fragen während des Einsatzes: Bruce Wayne muß den Mord an seinen Eltern rächen; er wird von nun an nicht mehr aufhören können, als Batman zu explodieren. Comics sind serielle, unerschöpfliche Produkte, gekennzeichnet durch ein beständiges Zerstören und Zermalmen von Möglichkeiten, zur Vollendung, zum Ende zu kommen. Sie ereignen sich als Fortsetzungen und Neueinsätze, denen alle Merkmale des Endes und damit die Anknüpfungspunkte für Psychologie fehlen. Je länger die Kette der Gewaltakte, desto mehr erscheinen das ursprüngliche Handlungsmotiv und die konkreten Opfer der fiktionalen Gewalt als entwertet. Je öfter der Batman-Erzählung die Erzählung des ursprünglichen Mordes eingeschrieben wurde (jeder neuen Lesergeneration hat man den Introitus des Epos neu erzählt), desto deutlicher wurde sie als Motivationstrick durchschaubar. Niemand, der in die Ästhetik des Helden-Comics investiert, will, daß die Sichtbarkeit eines die Gewalt feiernden Freskenbildes von psychologischer Reduktion relativiert wird. Die Fülle der Abenteuer sowie die auf Geschwindigkeit angelegte Temporalität der Bildgeschichte dementieren die Überzeugungskraft des Motivs, das die narrative Entwicklung in Gang setzte. Man kann es schon einmal vergessen, so oft wurde es erzählt. Über unzähligen verschiedenen Objekten wiederholt, ist es schließlich der schöpferische Gewaltakt selbst, der sich für die Wahrnehmung, die eine Differenz des Gleichen bemerkt, zum ästhetischen Objekt verdichtet. Ihm (und dem Subjekt, das den Akt vollzieht) wachsen gesteigerte Bedeutung und Schönheit zu. Wiederholung transformiert das Wiederholte ins Außergewöhnliche eines sich plötzlich 18 | Vgl. z.B. David Leverenz: The last real men in America: From Natty Bumppo to Batman. In: American Literary History, 3, 4, 1991, S. 753-781, und Sasha Torres: The Caped Crusader of Camp: Pop, Camp, and the ›Batman‹ Television Series. In: Fabio Cleto (Hg.): Camp. Queer aesthetics and the performing subject. Edinburgh 1999, S. 330-341. Torres schreibt: »Because the insistent repetition of the origin story in Batman representation continually reinscribes the connection between Bruce Wayne’s personal loss and his public career, it’s important to specify what exactly gets lost in this scene. Crucially, this moment marks a shift, for Bruce, out of a heterosexual nuclear family in which traditional gender arrangements still obtain, to a male parenting configuration in which he is raised by Alfred, his Butler.« (S. 331)

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und intensiv darbietenden Bekannten. An diesem Punkt entsteht Batman als Ikone und Populärmythos. Innerhalb der Ästhetik der Wiederholung, die eine Ästhetik der Reihung ist, vollzieht sich auch jene Überlagerung von Sexualität und Gewalt, auf die ideologiekritische Comic-Lektüren seit den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts aufmerksam machen. Wie der Geschlechtsakt braucht die Gewalttat ihre anschaulichen Umstände: einen Ablauf, ein Werkzeug, einen Ort, Requisiten, Opfer. Sie formieren sich zu den Bildern und der Grammatik der Gewalt und bilden das ästhetische surplus. Die traumartig deformierten, mitunter grellen, psychedelischen Bilder der drastischen Umstände eines Heldenlebens19 haben sich über die Jahrzehnte ständig verändert, die Zeichner boten immer neue Überraschungen. Diese zu Erzählungen verketteten Bilder sind die Quelle unseres Vergnügens an Batman-Comics.20 Wenn nur nicht »The Boy Wonder« wäre. Batman kennt, dem Initialmotiv zum Trotz, keine heroische Gewalt. Zur muffigen Tat aus verletzter Ehre hält er Abstand. Deshalb ist in diesen Comics auch kein Blut zu sehen. Die Würde eines gegnerischen Individuums, dem es im System der Blutrache widerfährt, intensiv gehaßt (und deshalb vernichtet) zu werden, spielt für Batman keine Rolle. Wohl aber entsteht sein eigener Glanz aus der Ehre, von der Unterwelt als einzigartiger Gegner des Verbrechens gehaßt und bekämpft zu werden. Wer haßt, der rechnet noch mit Subjekten. Batman ist ein moderner Held, dessen Ästhetik und Ethik einer Ordnung der »Nummer« verpflichtet sind. Er weiß, daß die Rache an einzelnen, konkreten Menschen (den Mördern der Eltern z.B.) nichts mehr taugt21 und schnappt sich deshalb die Leute reihenweise. Einen nach dem anderen, Nummer für Nummer. Batman macht die Welt zur Gefahrenzone. Wer sich mit ihm identifiziert, identifiziert sich mit dem Amoklauf, der avanciertesten Form, Gewalt auszuüben. Das ist eine pornographische Ästhetik: Es kommt darauf an, den Akt über so vielen unterschiedlichen Objekten wie möglich zu vollziehen. Weil es auf den Akt ankommt, auf den Zorn und auf die Macht. Leicht möglich, als Homosexueller Gefallen zu finden an dieser »Kreatur der Nacht«, deren hypnotische Leere sie zur Projektionsfläche macht für jedermann. An den Bildern, die auf Batman projiziert werden, fällt eine Verschmelzung von Gewalt und Sex auf, die phantasmatische 19 | »Wir sehen ihn in manchmal ungeheuer poetisch abstrusen Bildern im Kampf gegen die Gespenster der freien Marktwirtschaft; wir sehen immer neue Spiegelungen der Widersprüche zwischen Begehren und Rationalität, der Persönlichkeitsspaltungen und chaotisierten Wunschmaschinen, in denen alle Impulse zugleich ausgedrückt und verdrängt erscheinen.« Markus Metz und Georg Seeßlen: Das dunkle Gewissen von Gotham City. Batman. DeutschlandRadio/ Deutschlandfunk, 4. Januar 2004, zitiert wird nach dem unpaginierten Sendemanuskript. 20 | Die narrative Verknüpfung konstituiert den Comic laut Platthaus ebenso stark wie die Bild-Text-Form, vgl. Andreas Platthaus: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte. Frankfurt a.M., Leipzig 2000 (1998), S. 14ff. und passim. Kritisch dazu Jens Balzer: Enthemmung und Indifferenz. Zur Revision der Text-Bild-Beziehungen im frühen Comic. In: Dirck Linck und Stefanie Rentsch (Hg.): Bildtext — Textbild. Probleme der Rede über Text-Bild-Hybride. Freiburg, Berlin, Wien 2007, S. 117-154, hier: S. 123ff. 21 | Bruce Wayne funktioniert als weißer amerikanischer Millionär, als Geschäftsmann mit internationalen Kontakten. Der Mann ist ein »global player«, kein »Pate«. Von heroischer Gewalt erfahren wir nichts. Es mag sie geben, aber was sie sagen will, wollen Bruce Wayne und die Fans von Batman nicht hören. Sie ist genrefremd. Heroische Gewalt gehört in den Heimatfilm, wo der Gustl das Sträußchen seiner Liesl bis aufs Blut verteidigt.

Linck: Batman & Robin

Szenen ermöglicht, wie sie in der Welt der Trivialmythen vergleichbar deutlich sonst vielleicht nur noch von der Figur des Dracula stimuliert werden. Ins Bild gesetzt wird der Genuß, leidendes Opfer der (sexuellen) Gewalt Batmans zu sein.22 Die Macher Batmans vertrauten derart auf die Produktivität der menis, daß sie erneut auf sie zurückgriffen, als das Problem der Einsamkeit Batmans zu lösen war. Es stellte sich wiederum nicht als Problem der Psychologie, sondern als eines der Reihenkonstruktion: Wie läßt sich das monotone Monologisieren eines Helden vermeiden, der einsam ist, dessen Rede aber benötigt wird, um die Erzählung voranzutreiben? »Im Laufe der Zeit wurde deutlich, daß Batman einen Partner braucht, mit dem er reden kann. So entstand Robin. Bob bat mich in sein Büro, um mir zu sagen, daß er einen Jungen in die Comics einbauen wolle, der sich mit Batman identifiziert. Ich fand die Idee prima.«23 Im April 1940 ist es soweit: #38 der Detective Comics bringt Robin. Der pubertierende Zirkusakrobat Dick Grayson – laut Kane ist er fünfzehn – muß, wie einst der junge Bruce, den Mord an seinen Eltern miterleben und wird deshalb von Wayne als Mündel angenommen. Er tritt in die »väterliche« Linie ein. Eine neue Serie nimmt ihren Anfang. Der Zorn wird verdoppelt, nun zweifach verkörpert und als Funktion kenntlich gemacht. Das ist eine Möglichkeit der Lektüre. Eine andere verdankt sich dem von der Psychologie schikanierten Leser, für den der Superheld durch eine interpretationsbedürftige Lebensgemeinschaft mit Dick in Mißkredit gerät. Als Robin begleitet Dick den Batman künftig bei Tag und Nacht. (Daß auf Dick nach 1969 zwei weitere Jungs folgten, die als Robin unterwegs waren, soll hier nicht weiter interessieren, gehört aber ebenfalls zum Prinzip der Reihe, das den Comic als Form und intern strukturiert.) »The Boy Wonder« trägt den geschichtsbewegenden Zorn in die nächste Generation, endlich auch in eine weitere Comic-Reihe hinein: Nightwing. Ab 1943 agiert das Duo unter dem Markennamen »Batman & Robin«. Und die Nähe der beiden zieht Bedeutung auf sich. In einer Gesellschaft von Hermeneutikern fangen die Probleme nicht selten mit einer stabilen Konjunktion von Namen an, die zusammenbindet, was seit Adam & Eva anders sich zu verbinden hat. Zeus & Ganymed, Achilles & Patroklos, Winnetou & Old Shatterhand, Laurel & Hardy. Zaghaft werden Anzüglichkeiten über Batman & Robin geäußert, erste 22 | Stephen Winick hat die seit Jahrzehnten in New York und anderen großen Städten umgehenden Legenden von Männern gesammelt, die angaben, vergewaltigt oder sexuell belästigt worden zu sein von fremden (gern schwarzen) Männern im Batman-Kostüm (vgl. Winick: Batman in the closet: a New York legend. In: Contemporary Legend, 2, 1992, S. 1-21). In den »urban legends« kommt es durch die einigermaßen schwule Verbindung tradierter Klischees (etwa vom aggressiven und potenten Schwarzen) mit den erotisch besetzbaren Signifikanten der Batman-Figur (Maske, Cape, Stiefel etc.) zur Darstellung einer leidenschaftlichen Anbindung an den »großen Anderen«. Daß die durchweg imaginierten Übergriffe gleichwohl real zur Anzeige gebracht wurden, hängt mutmaßlich mit der Struktur des Begehrens zusammen, das von sich selbst und seiner Faszination am Opfersein abgestoßen ist und zum Schlag gegen sich selbst ausholt. Hier dürfte Žižeks mißverständliche These zutreffen: »Der Protest gegen sexuelle Belästigung, gegen gewaltsam aufgezwungenen Sex, ist somit letztlich der Protest gegen den Sex überhaupt.« Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts. Aus dem Englischen von Eva Gilmer u.a. Frankfurt a.M. 2002, S. 395. 23 | Bill Finger, zit.n.: Die Chronik des Dunklen Ritters (wie Anm. 12).

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Gerüchte gehen hin und her. Man schaut genauer hin und sucht Figuren, die ganz Oberfläche sind, nach Zeichen ab, die auf das verborgene Innere verweisen. Noch aber schweigen in der Öffentlichkeit die Fachleute für Mittelbarkeit, von denen die Welt nicht als sichtbar, sondern als lesbar begriffen wird. Noch schützt die Helden das Tabu, sich als Wissenschaftler mit Stoffen einzulassen, an denen die Massen sich erfreuen. Noch dominiert die Düsternis Batmans die Rede über Gotham City… Ein halbes Jahrhundert, mehrere wissenschaftliche Paradigmenwechsel und eine sexuelle Revolution später haben Batman & Robin deutlich an Würde verloren, an Schwulheit hinzugewonnen. Der Schriftsteller Walter Moers läßt als Mitglied der Superman-Fraktion sein »Kleines Arschloch« dafür sorgen, daß Robins Heldendress als costume erscheint, das sich als Zeichen der Wahrheit einer mannmännlichen Beziehung präsentiert und gegen die düsteren Reden durchsetzt. Dieses costume feminisiert Robin und rückt auch Batman, was Gender und sexuelle Präferenzen betrifft, ins Zwielicht des Verdachts: BATMAN war mir zu realistisch! Okay, er hatte das bessere Outfit und das Batmobil – aber er war verwundbar! Was für ein Waschlappen! Er konnte nicht mal fliegen, hatte keinen Röntgenblick und keine Superpuste – das sollte ein Superheld sein? […] Außerdem war er schwul. Man brauchte sich doch nur die Klamotten von ROBIN anzugucken – nackte Beine und Hot pants, und das bei ständigem Einsatz bei Nacht und Nebel – da war doch was oberfaul! Ein dekadenter, reicher Schwuler mit seinem minderjährigen Strichjungen – nichts für mich, Freunde – SUPERMAN FOREVER!24

Batman ist nicht schlapp und »außerdem« schwul, er ist schlapp, weil er schwul ist. Aus den Codes sinistrer Virilität, die ihre Funktion innerhalb der fiktionalen Ordnung des Comics fanden (die Couture von Gotham ist nicht die von NYC), sind in einer sexuellen Lektüre – die eben nicht nur »anguckt«, sondern Bedeutungen hervorbringt – Indizien geworden, die auf die primäre Ordnung außerhalb des Comics verweisen.25 Die Zeichen des Comics erscheinen als das Doppel der absoluten Schrift, die Batman & Robin als ihre Wahrheit ins Herz geschrieben ist. Als seien die flachen Männer Gestalten aus Fleisch und Blut. Tausendmal gesehene Einzelheiten werden aus dem Zeichenkonglomerat isoliert, in Chiffren der Homosexualität transformiert und entsprechend umbenannt: Die Hose des Trikots verwandelt sich in »Hot pants«, ein Kleidungsstück für Frauen. Was Batman in der Konkurrenz mit Superman bislang zum Vorteil gereichte, seine apparative Ausrüstung nämlich, die Superkräfte entbehrlich macht, das wird dem schwulen Batman nun angekreidet: Er kann »nicht mal fliegen«. Man hätte es vorher wissen können. Diese Lektüre erfindet Moers freilich nicht, er zitiert sie als Element eines Pop-Diskurses, dem 24 | Walter Moers: Das Kleine Arschloch, zit.n.: URL: www.kleines-arschloch.de/nf/index3. stm (die Website wurde inzwischen vom Netz genommen). 25 | Der Begriff des Indizes wird hier im kriminalistischen Sinne verwendet, nicht im Sinne der Zeichentheorie, die mit ihm das gerade für die Comic-Lektüre wichtige Phänomen eines »potentiellen Zeichens« charakterisiert, das durch Wiederholung für den Rezipienten zum Indiz wird für eine sinnstiftende Funktion innerhalb der narrativen Ordnung. Diese Indizien für Bedeutung beziehen sich nicht notwendig auf die primäre Ordnung. Vgl. Fritz Breithaupt: Das Indiz. Lessings und Goethes »Laokoon«-Texte und die Narrarivität der Bilder. In: Michael Hein u.a. (Hg.): Ästhetik des Comic. Berlin 2002, S. 37-49.

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er auch den eigenen Text integriert. Die Passage ist für Eingeweihte geschrieben, die das Zitat identifizieren. Sie setzt die Kenntnis der Ereignisse vom 21. und 22. April 1954 voraus, die nicht nur Batman-Fans erschüttert haben, sondern für alle Anhänger der neuen Kunst zur Zäsur geworden sind. Michael Chabon hat die Krise erzählt, in deren Verlauf der Dunkle Ritter sich in einen Homosexuellen verpuppte. Mit The Amazing Adventures of Kavalier and Clay hat Chabon den historischen Roman über das Golden Age des Comics geschrieben. Der großen epischen Form ordnete er einen in den Hierarchien der Höhenkammkultur ganz unten plazierten Stoff zu. Anhand der Helden Joe Kavalier und Sam Clay, die als Zeichner-TexterGespann26 den Superhelden »The Escapist« erfinden, dessen Stärke die Selbst-Entfesselung ist (man erkennt ihn am das schwule Publikum Chabons bedienenden hochsymbolischen Bild eines goldenen Schlüssels auf der Brust, ich komme darauf zurück), erzählt der Autor von amerikanischer Kultur- und Sozialgeschichte der 40er und 50er Jahre. Der Leser erfährt einiges über die Produktionsbedingungen in den Syndikaten der Comic-Branche, über das Leben jüdischer Immigranten in New York,27 die patriotische Indienstnahme von Kultur und Subkultur, über amerikanische Nazis und schwule outcomings im Zeichen des Krieges und des AntiKommunismus. Am Ende des Romans wird dem Escapist und seinem Erfinder der Prozeß gemacht. Der schwule Sam Clay steht am 22. April 1954 – es ist der zweite Tag eines legendären Hearings – vor dem »US Senate Subcommittee Investigation of Juvenile Delinquency in the United States«, das unter Leitung von Senator C. Estes Kefauver den Versuch unternimmt, den Comic zu disziplinieren, der zu dieser Zeit in den USA wöchentlich mehr als 100 Millionen Leser findet. Wir befinden uns in der Epoche der Schnüffler. Eigentlich soll das Hearing die Frage beantworten, welche Auswirkungen die Comic-Lektüre auf die Entwicklung der kriminellen Persönlichkeit hat, doch nach einem Auftritt des Psychiaters Fredric Wertham am ersten Tag nimmt die Sache eine Wendung ins Homosexuelle (das 1954 ins Register der Kriminologie gehört). Und nun kommen Batman & Robin ins Spiel:

26 | Chabons Fokussierung auf berühmte Zeichner und Texter von Comics folgt der Werkstattromantik und basiert auf einem traditionellen Kunstkonzepten verpflichteten Autorbegriff. Kane z.B. war konzeptionell stark, aber ein eher lausiger Zeichner und wurde im Syndikat häufig von talentierteren Angestellten vertreten. Das Massenprodukt Comic wird grundsätzlich stark arbeitsteilig hergestellt. Inker, Vorzeichner, Koloristen und Letterer sind Bestandteile der Autorfunktion und bestimmen wesentlich Erscheinung und Komplexität des Werks. 27 | Chabons Roman erzählt die Entwicklung des Superhelden-Genres vor allem als Ereignis in der Geschichte US-amerikanischer Juden, die den Superhelden als antifaschistische Wunschgestalt, als Negation des nationalsozialistischen »Übermenschen« entwarfen. Neuere Untersuchungen bestätigen den Autor, vgl. Arie Kaplan: How the Jews created the comic book industry; part I: The Golden Age (1933-1955), in: Reform Judaism, 32, 1, 2003, URL: http:/reformjudaismmag.net/03fall/comics.shtml. Allgemein zu jüdischen Aspekten des Comics vgl. Ausst.-Kat.: Helden, Freaks und Superrabbis. Die jüdische Farbe des Comics. Hg. vom Jüdischen Museum Berlin. Berlin 2010.

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II. Definitionsansät ze SENATOR HENDRICKSON: Mr. Clay, are you familiar with the comic book characters known as Batman and Robin? MR. CLAY: Of course, Senator. They are very well known and successful characters. HENDRICKSON: I wonder, could you attempt to characterize their relationship for us? CLAY: Characterize? I’m sorry… I don’t… HENDRICKSON: They live together, isn’t that right? In a big mansion. Alone. CLAY: I believe there is a butler. HENDRICKSON: But they are not, as I understand it, father and son, is that right? Or brothers, or an uncle and a nephew, or any relationship of that sort. SENATOR HENNINGS: Perhaps they are just good friends. CLAY: It has been some time since I read the strip, Senators, but as I recall, Dick Grayson, that is, Robin, is described as being Bruce Wayne’s, or Batman’s ward. […] HENDRICKSON: Isn’t it true that you actually have a reputation in the comic book field for being particularly partial to boy sidekicks? CLAY: I’m not aware – no one has ever – HENDRICKSON: Mr. Clay, are you familiar with Dr. Fredric Wertham’s theory, which he testified to yesterday, and to which, I must say, I am inclined to give a certain amount of credit, having paged through some of the Batman comic books in question last night, that the relationship between Batman and his ward is actually a thinly veiled allegory of pedophilic inversion? CLAY: [unintelligible] HENRICKSON: I’m sorry, sir, you’ll have to – CLAY: No, Senator, I must have missed that part of the testimony… HENDRICKSON: And you have not read the doctor’s book, I take it. CLAY: Not yet, sir. HENDRICKSON: So you have never been aware, personally, therefore, that in outfitting these muscular, strapping young fellows in tight trousers and sending them flitting around the skies together, you were in any way expressing or attempting to disseminate your own… psychological proclivities. 28

28 | Michael Chabon: The Amazing Adventures of Kavalier and Clay. London 2001 (2000), S. 614ff. – [»SENATOR HENDRICKSON: Mr. Clay, kennen Sie die Comicfiguren Batman und Robin? MR. CLAY: Natürlich, Herr Senator. Das sind sehr bekannte und erfolgreiche Figuren. HENDRICKSON: Ob Sie uns wohl deren Beziehung zueinander schildern könnten? CLAY: Beziehung? Tut mir Leid… ich weiß nicht… HENDRICKSON: Sie leben zusammen, stimmt das? In einer großen Villa. Allein. CLAY: Ich glaube, es gibt noch einen Butler. HENDRICKSON: Aber sie sind, soweit ich es verstanden habe, nicht Vater und Sohn, stimmt das? Oder Geschwister oder Onkel und Neffe oder sonst irgendwie verwandt. SENATOR HENNINGS: Vielleicht sind sie einfach gute Freunde. CLAY: Es ist schon etwas her, dass ich den Comic gelesen habe, meine Herren, aber soweit ich mich erinnere, wird Dick Grayson, also Robin, als Bruce Waynes oder Batmans Schützling beschrieben. […] HENDRICKSON: Stimmt es nicht, dass Sie in der Comicbranche den Ruf haben, eine besondere Schwäche für junge männliche Sidekicks zu hegen? CLAY: Mir ist nicht bewusst… das hat noch keiner…

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Die Senatoren wollen nicht wissen, was die Bilder zeigen, sondern was sie meinen. Das aber haben Kavalier & Clay nicht zu Papier gebracht. Es wird in die Zeichnungen hineingelegt, indem Fachleute (herbei)zitiert werden, die es aus ihnen herauslesen.29 Keiner unter den Lebenden war mehr Fachmann als Dr. Fredric Wertham (1895-1981).30 Chabon hat den ersten Tag des Hearings und Werthams Auftritt nicht erzählt, in den dokumentarischen Passagen seines Romans paraphrasiert er nur die Verlautbarungen der Beteiligten. Die Fans kennen die Abläufe des 21. April ohnehin: Wertham wurde an diesem Tag als Semiotiker tätig und bewies der Welt, daß Batman schwul ist und schwul macht. Kriminologen, Politiker, Psychiater und Vertreter der Verlage waren zusammengerufen worden, um zu erörtern, ob der Comic zu Straftaten, sexueller Perversion, gar linker Agitation verführe und ob er verdumme. William M. Gaines hatte als Herausgeber der E.C. Horror-Comics wacker alle Fragen über sich ergehen lassen, dann aber den taktischen Fehler begangen, die Fachleute zu verspotten.31 HENDRICKSON: Mr. Clay, ist Ihnen Dr. Fredric Werthams Theorie bekannt, die er hier gestern zur Aussage brachte und der ich, das muss ich sagen, gewissen Glauben zu schenken geneigt bin, nachdem ich gestern Abend einige der fraglichen Batman-Comics durchblätterte, dass nämlich die Beziehung zwischen Batman und seinem Schützling in Wirklichkeit eine nur schwach verfremdete Allegorie auf pädophile Inversion darstellt. CLAY: [unverständlich] HENDRICKSON: Entschuldigung, Sir, Sie müssen schon… CLAY: Nein, Herr Senator. Diesen Teil der Aussage Werthams muss ich verpasst haben… HENDRICKSON: Und das Buch des Doktors haben Sie nicht gelesen, nehme ich an. CLAY: Noch nicht, Sir. HENDRICKSON: Demnach ist Ihnen persönlich nie bewusst gewesen, dass Sie, indem Sie diese muskulösen, strammen jungen Burschen in enge Hosen kleideten und sie zusammen durch die Lüfte flitzen ließen, in gewisser Weise Ihre eigenen… psychologischen Vorlieben ausdrückten oder zu verbreiten versuchten?« Michael Chabon: Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay. München 2004 (2001), S. 780ff., Übersetzung leicht verändert]. 29 | Es wäre freilich einleuchtender, wenn Kavalier, der Zeichner, vorgeladen worden wäre, um die Fragen nach der homosexuellen Chiffrierung von einzelnen Bildelementent zu beantworten – aber Kavalier ist nicht schwul. Chabon hat eine emanzipatorische »Botschaft« und sich deshalb in eine Lage geschrieben, die ihn zwingt, Clay vor den Ausschuß zu bringen. 30 | Werthams Vita unter URL: http://lambiek.net/artists/w/wertham_fredric.htm. – Zur Affäre vgl. Chris York: All in the Family: Homophobia and Batman Comics in the 1950s. In: International Journal of Comic Art, 2, 2, 2000, S. 100-110. Yorks Aufsatz löste bei DC übrigens die Grundsatzentscheidung aus, keine Bildrechte zu erteilen, wenn Batman im Kontext von Homosexualität analysiert werden soll, vgl. Konrad Lischka: Bad Man. Warum den Verlag DC Comics die Frage stört, ob Batman schwul ist. In: Süddeutsche Zeitung, 12.3.2001. 31 | Er empfinde die Aufgabe, den Herren die Freuden des Horrors zu vermitteln, als »ebenso schwierig, wie einer frigiden alten Jungfrau die Freuden der Liebe zu erklären«. Gaines, zit.n. URL: www.splashcomics.de/php/specials/22. In einem Interview hat Gaines 1983 das strategisch unkluge Verhalten auf seine damalige Nervosität zurückgeführt und fand im Übrigen entspannte Worte für Wertham: »I think the man was relatively sincere in what he did.« Bill Gaines on Comics. In: The Comics Journal, 81, 1983, URL: http://classic.tcj.com/interviews/an-interview- with-william-m-gaines-part-one-of-three/.

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Gegen Wertham kam er nicht an. Der zeigte Statistiken vor und zwang auf dem Höhepunkt der Sitzung nicht nur die jüdischen Künstler in die Defensive, als er verkündete, verglichen mit dem Bösen der Comic-Industrie sei Hitler ein Anfänger gewesen. Und er konnte seine Thesen beweisen. Wertham mobilisierte Subtexte gegen die Oberfläche des Bildes. Der als Frederick Wertheimer in München geborene und in Deutschland ausgebildete Psychiater Fredric Wertham (zu seinen akademischen Lehrern gehörte Kraepelin) war 1922 in die USA ausgewandert, Anstaltsarzt geworden und hatte 1944 mit der Unterstützung von Ralph Ellison eine eigene Anstalt gegründet, die LaFargue Clinic in Harlem, in der er zusammen mit der Ärztin Hilde Mosse vor allem schwarze Jugendliche behandelte. Aus der Heimat brachte er eine stramm konservative politische Haltung mit,32 dazu die passende Hingabe an empirische Daten und die Überzeugung, daß der Mensch vor sich selbst geschützt werden müsse. Als Gattungswesen sei ihm eine Neigung zu Gewalt und Perversion mitgegeben, und Erziehung habe alles zu entmachten, was diese Neigung stimulieren könnte. Werthams Spezialgebiet war die Behandlung straffällig gewordener Jugendlicher. Die fragte er aus. Er stellte fest, daß sie – wie fast alle Leute – Comicleser waren, und zimmerte aus dieser Feststellung eine Kausalität, die überzeugte (obschon sie umgehend von skeptischen Zeitgenossen karikiert wurde).33 Für den Sexpolizisten Wertham wurde der Kampf gegen den Comic, der die Imagination aufhetze und latente Homosexualität in eine manifeste Perversion verwandeln könne, seit den 40er Jahren zu einer Mission; der Auftritt vor dem Komitee war sein Lebenshöhepunkt. Er konnte den Senatoren das rechtzeitig vor Beginn des Hearings erschienene Buch Seduction of the Innocent präsentieren, in dem er seine Forschungsergebnisse versammelt hatte. Nur auf ein paar Seiten des Buches, das heute Kultstatus genießt, widmet er sich der Homosexualität, aber die machten Furore, weil Wertham sie öffentlich vortrug. Er hatte junge Homosexuelle untersucht und dabei festgestellt, daß auch sie Comicleser waren und manche von ihnen sich obendrein der Vorstellung hingaben, mit Batman und/oder Robin Sex zu haben. Wieder zimmerte Wertham: 32 | Der Reaktionär, als den ihn etwa der schwule Kulturwissenschaftler Andy Medhurst angreift, war Wertham aber nicht, vgl. Medhurst: Batman, Deviance, and Camp. In: Roberta E. Pearson und William Uricchio (Hg.): The many lives of the Batman. Critical approaches to a superhero and his media. New York 1991, S. 149-163. Will Brooker weist darauf hin, dass Wertham in der Frage der Rassentrennung z.B. »progressive« Positionen bezog; vgl. Brooker: Batman unmasked. Analyzing a cultural icon. New York, London 2001, hier S. 112ff. Was als Mischung von reaktionären und progressiven Impulsen erscheinen kann, resultiert tatsächlich einheitlich aus Werthams mechanistischem Menschenbild: Ziel war es, das im Sinne Kraepelins als Arbeitsmaschine konzipierte Individuum möglichst von Einflüssen fernzuhalten, die seine Leistung beeinträchtigten (Drogen, Müßiggang, Massenmedien, Phantastereien). Die Rassentrennung, deren Folgen Wertham in Harlem beobachten konnte, drängte die Schwarzen in eben jene Bereiche ab, in denen ihre Arbeitsfähigkeit lahmgelegt war. 33 | Marshall McLuhan verspottet 1951 in The Mechanical Bride Wertham und den Autor Gershom Legman, die beide als Kämpfer gegen die vermeintlich medieninduzierte Gewalt in Amerika auftraten. Werthams Angriffe, so McLuhan, der wußte, daß alle schweren Zeichen metonymisch gegeneinander austauschbar sind, »ließen eine teilweise Umstellung von Tod auf Liebe als ratsam erscheinen«. McLuhan: Geld und Comics. In: Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen. Amsterdam 1996, S. 194-196, hier S. 194.

Linck: Batman & Robin Batman and Robin, the »dynamic duo«, also known as the »daring duo«, go into action in their special uniforms. They constantly rescue each other from violent attacks by an unending number of enemies. The feeling is conveyed that we men must stick together because there are so many villainous creatures who have to be exterminated. They lurk not only under every bed but also behind every star in the sky. 34

Damit war eine allemal verdächtige allgemeine Konstellation der Nähe beschrieben, soldatisches male bonding sozusagen. Aber Wertham konnte durchaus noch konkreter werden, er hatte – avant la lettre – diesen Blick für »Homotextualität«: At home they lead an idyllic life. […] They live in sumptuous quarters, with beautiful flowers in large vases, and have a butler, Alfred. Batman is sometimes shown in a dressing gown. As they sit by the fireplace the young boy sometimes worries about his partner: »Something’s wrong with Bruce. He hasn’t been himself these past few days.« It is like a wish dream of two homosexuals living together. Sometimes they are shown on a couch, Bruce reclining and Dick sitting next to him, jacket off, collar open, and his hand on his friend’s arm. […] Robin is a handsome ephebic boy, usually shown in his uniform with bare legs. He is buoyant with energy and devoted to nothing on earth or in interplanetary space as much as to Bruce Wayne. He often stands with his legs spread, the genital region discretely evident. […] The Batman type of story may stimulate children to homosexual fantasies, of the nature of which they may be unconscious. In adolescents who realize it they may be given added stimulation and reinforcement. 35

34 | Fredric Wertham: Seduction of the Innocent. New York, Toronto 1954, S. 190. [»Batman und Robin, das ›dynamische Duo‹, auch als das ›tollkühne Duo‹ bekannt, ziehen in ihrer Kampfmontur in die Schlacht. Fortwährend retten sie einander vor den gewaltsamen Anschlägen zahlloser Feinde. Es wird die Botschaft vermittelt, daß wir Männer zusammenhalten müssen, weil es so viele schurkische Kreaturen gibt, die ausgerottet werden müssen. Sie lauern nicht nur unter jedem Bett, sondern auch hinter jedem Stern am Himmel.« Übersetzung von mir, D. L.] 35 | Ebd., S. 190f. [»Zuhause führen sie ein idyllisches Leben. […] Sie leben in einem prächtigen Heim, mit schönen Blumen in großen Vasen, und haben einen Butler, Alfred. Batman wird gelegentlich in einem Morgenmantel gezeigt. Wenn sie am Kamin sitzen, sorgt sich der Junge manchmal um seinen Partner: ›Etwas stimmt nicht mit Bruce. Er war nicht er selbst in den letzten Tagen.‹ Es ist wie ein Wunschtraum von zwei Homosexuellen, die miteinander leben. Manchmal werden sie auf der Couch gezeigt, Bruce zurückgelehnt und Dick dicht bei ihm sitzend, ohne Jacke, mit offenem Kragen, und seine Hand liegt auf dem Arm des Freundes. […] Robin ist ein hübscher ephebenhafter Junge, der normalerweise nacktbeinig in seiner Uniform vorgeführt wird. Er platzt vor Energie, und nichts und niemandem auf der Erde oder im interplanetarischen Raum ist er derart ergeben wie Bruce Wayne. Oft steht er mit gespreizten Beinen da, die Schamgegend diskret darbietend. […] Diese Art von Batmangeschichten kann bei Kindern homosexuelle Phantasien stimulieren, die ihnen unbewußt bleiben. Bei Jugendlichen, denen sie bewußt werden, können sie zusätzliche Stimulation und Verstärkung bedeuten.«] – Mit dieser Argumentation steht Wertham deutlich in der Tradition von Kraepelin, der jede öffentliche Thematisierung und Darstellung von Homosexualität verdächtigte, zu »Nachahmung« zu verführen; vgl. Emil Kraepelin: Psychiatrie. Bd. 4: Klinische Psychiatrie. Leipzig 1915, S. 1971f.

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Alles ist hier beisammen, was ein »kleines Arschloch« braucht, um durchzublicken: die Vasen, die Blumen, die nackten Beine, der Dress. Die Verführung. Man muß die Homosexualität nur ontologisieren wollen. Man muß nur glauben, daß es Dinge gibt, die Homosexualität im Text oder in einer Zeichnung untrüglich anzuzeigen vermögen. Vasen, Blumen, Morgenmäntel. Neben die Ikonographie des göttlichen Helden tritt dann die des maskierten Schwulen mit einem Faible für Epheben.36 Wertham denkt Lektüre vom Werk, vom Text her. Er unterstellt Chiffren der Homosexualität, die im ruhenden Text ihrer Dechiffrierung harren.37 Deshalb kann er nicht begreifen, daß seine Lektüre sich einem fetischistisch-homosexuellen Blick verdankt, der sich den Zeichnungen anheftet. Wertham hat ihn empathisch von seinen Patienten übernommen. Lektüre ist die Benutzung von Texten durch ihre Leser, die sich dabei auch die Onaniervorlagen selbst anfertigen. Batman & Robin auf der Couch müssen durchaus nicht als schwuler Wunschtraum vom mann-männlichen Ehestand gelesen werden, können Leuten mit solchen Wunschträumen aber als die Bildwerdung ihres Traumes erscheinen. Die Bildinhalte lassen das zu. Wer­ tham hingegen halluziniert einen infektiösen Text, dessen Zeichen in den Leser eindringen und die Homosexualität aus der Virtualität in die Aktualität überführen. Die Batman-Passagen aus Seduction of the Innocent werden ein Halbjahrhundert hindurch kursieren und in den Intertext der Populärkultur eingehen.38 Kein Internetforum und kein Fanzine zu den Superhelden ohne Beiträge in Majuskeln, die Batmans Heterosexualität laut gegen Wertham und die seinen verteidigen. Kaum ein schwuler Wissenschaftler in den USA, der Werthams Klischees und die Verführungsthese nicht kritisiert hätte. Allein Will Brooker erlaubt sich in seiner vorzüglichen Studie zur Kulturgeschichte Batmans den Hinweis, daß Wertham methodisch jene Verfasser von »Homostudien« vorweggenommen habe, die sich auf ihre »Gay Sensibility« berufen, wenn sie Texte augurenhaft nach Spuren der Homosexualität ihrer Autoren durchsuchen.39 Batman, Robin, der Escapist und Clay werden im Roman Chabons wie in der Wirklichkeit von Interpreten geoutet, die einen »Text« auslegen, indem sie erklären, daß x in Wirklichkeit y bedeute. Das darzustellen hätte eine instruktive Satire auf die Gewaltförmigkeit von Interpretationen werden können – die in diesem Fall zur Comics Code Authority vom 26. Oktober 1954 führte, den gegen Drastik gerichteten 36 | Traditionalisten unter den Batman-Fans empfinden für Robin wie Beatles-Fans für Yoko Ono: Er ist schuld am Imageschaden des Helden. Bevor er da war, gab es dieses Gerede nicht. 37 | Wer den »Text« als kalkulierte »Camouflage« präsentieren wollte, dem fehlten im Falle Batmans erstens die schwulen Autoren und zweitens die »Prätexte«, die solche Lektüre stützen könnten. Zur »Camouflage« als einer Produktionsstrategie vgl. Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen 1994. 38 | So spielt Burt Ward, in der ABC-Serie Batman der Darsteller des Robin, in seiner Autobiographie, deren Titel – Boy Wonder: My Life in Tights (1995) – das Wissen um die »tight trousers« bereits voraussetzt, deutlich auf Wertham an, dessen hysterische Stillage er zugleich parodistisch steigert: »They live together in opulence befitting a baron. Exquisitely manicured grounds, a grand staircase leading to unknown rooms upstairs […], heavy bookcases in the library, an imposing bust of Shakespeare, and enormous round vases in various sizes and shapes… HOLY HOMOPHOBIA!« Ward, zit.n. Brooker (wie Anm. 32), S. 108. 39 | Brooker (wie Anm. 32), S. 128ff.

Linck: Batman & Robin

Zensurmaßnahmen, die Gewalt- und Sexualitätsdarstellungen im Comic stark verregelten und die Entwicklung des Genres in den USA für lange Zeit beeinträchtigten.40 Chabon aber setzt die Interpreten durch das Medium seines Erzählers ins Recht. Als Clay nämlich später, vor laufenden Fernsehkameras als Schwuler geoutet, seinen Kummer in einer Bar ertränkt, wird er dort von einem Kumpel aus alten Tagen, der die Übertragung ebenfalls verfolgt hat, dazu ermuntert, dem outing ein coming out folgen zu lassen: »But I wouldn’t be surprised if it turned out in the end that Senator C. Estes Kefauver and his pals just handed you your own golden key.«41 Eigentlich sollte Clay dem Gegner, der ihn unterwarf, dankbar sein. Eigentlich sollte er sich durch ein Bekenntnis noch einmal unterwerfen. Der »goldene Schlüssel« ist das Symbol des coming out, das von Chabon ein weiteres Mal (und allen Ernstes) als erstrebenswerte Initiation in ein »richtiges« Leben vermittelt wird. Chabon schreibt mit seinem Roman weiter an einem Diskurs, der jenes Bekenntnis, das von ihm doch erst abgepreßt und durchgesetzt wird, zu einer Entfesselung des Selbst verfälscht, die den Schwulen zum bewundernswerten »Escapist« macht. Vorgetragen ohne eine Spur von Ironie und von einer erzählerischen Konstellation beglaubigt, die eben jene vor dem Ausschuß verhandelte These bestätigt, die Homosexualität eines Zeichners bilde sich in dessen Zeichnungen ab, ruiniert die Rede vom »goldenen Schlüssel« den Roman von Chabon – der ignoriert, daß Kane und Finger mutmaßlich eben gerade nicht schwul waren – und macht ihn zu einer Bebilderung des hegemonialen Diskurses. Mit Gründen aber hebt Chabon hervor, daß Wertham sich in der Rezeptionsgeschichte des Comics durchgesetzt hat. Sein Auftritt hinterließ einen Fleck, den Batman & Robin nicht wieder losgeworden sind: Die zitierte Romansequenz erzählt den geschichtlichen Moment der öffentlichen Transformation Batmans in einen Homosexuellen. Das Syndikat ließ nun Catwoman und Batgirl in die Serie hineinschreiben, um den Helden zu entlastender weiblicher Gesellschaft zu verhelfen. Sogar der arme Alfred, der Robin vorzugsweise als »Master Dick« ansprach, erschien gierigen Augen schließlich verdächtig und wurde zeitweise gegen Aunt Harriet ausgetauscht – geholfen hat es nicht: Wertham und sein Buch saßen als ein neues Wissen in den Köpfen der Leser fest. Von nun an war potentiell alles geeignet, als Zeichen eines homosexuellen Subtextes gelesen zu werden: Robins Name, die Shakespearebüste in Waynes Salon, die Maske, das Doppelleben, das Leder, die Pathosformeln, das Mißlingen heterosexueller Paarbildung. Batman & Robin waren jetzt Mitglieder der gay community.42 40 | Vgl. Torsten B. Abel: Die Comics Code Authority. In: Splashcomics, Special vom 6.5.2001, URL: www.splashcomics.de/php/specials/22. 41 | Michael Chabon: The amazing adventures (wie Anm. 28), S. 623. 42 | Batmans Sexualität(en) und die mediale Inszenierung des sexualisierten Blicks auf den Helden sind in den Printmedien wie im Internet unvermindert beliebte Gegenstände der Erörterung; vgl. z.B. Alan Donald: Is Batman Gay?, URL: www.comicsbulletin.com/main/sites/ default/files/soapbox/97939152837322.htm; Justin L. Haines: Comic Cavalcade: Kweers in Comics, URL: www.lilithgallery.com/articles/gaycomicbookheroes.html; Freya Johnson: Holy Homosexuality Batman! Camp and Corporate Capitalism in »Batman Forever«. In: Bad subjects, #23, 1995, URL: www.eserver.org/bs/23/johnson.html; aktuell vgl. Matthias Heine: Batman ist schwul – und das schon seit 50 Jahren. In: Die Welt Online, 2.5.2012, URL: www.welt.de/kultur/article106252342/Batman-ist-schwul-und-das-schon-seit-60-Jahren. html.

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Marvel-lous Masked Men Doppelidentitäten in Superheldenfilmen* Aleta-Amirée von Holzen Seit Stan Lee 1962, 1963 und 1964 Spider-Man, Iron Man und Daredevil ersonnen hat, haben die drei Superhelden unzählige Abenteuer in gezeichneter Form bestanden, hauptsächlich in Comic-Heften, aber auch in Trickfilmserien.1 Doch während ihre Konkurrenten aus dem Comic-Universum von DC, allen voran Superman und Batman, den Sprung auf die Kinoleinwand schon im 20. Jahrhundert geschafft haben, schien für die Marvel-Superhelden ein Durchbruch im Kino-Realspielfilm aus verschiedenen Gründen lange eher unwahrscheinlich (vgl. Booker). Erst nachdem der Erfolg des Films X-Men im Jahr 2000 das Vertrauen in die Möglichkeiten der fotorealistischen Computeranimation gestärkt und den Weg beim Publikum gebahnt hatte, gelangten die drei berühmtesten maskierten Einzelgänger aus dem Hause Marvel zu ihren ersten Umsetzungen auf der großen Leinwand. Die Titel der Kino-Adaptionen sind dabei ebenso zweckmäßig wie simpel: Spider-Man (2002), Spider-Man 2 (2004), Spider-Man 3 (2007), Daredevil (2003) sowie Iron Man (2008) und Iron Man 2 (2010).2 Den ersten fünf dieser sechs Filme widmet sich dieser Beitrag, wobei das Hauptaugenmerk Spider-Man und Daredevil gilt. Im Mittelpunkt steht dabei die Doppelidentität des maskierten Superhelden, die besondere ›Identitätsform‹ der Protagonisten, deren Thematisierung in die*  Holzen, Aleta-Amirée von: »Marvel-lous Masked Men. Doppelidentitäten in Superheldenfilmen.« In: Lars Schmeink und Hans-Harald Müller (Hg.): Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert. Berlin/Boston: de Gruyter 2012. S. 187-202. 1 | 1978-1979 gab es zudem eine 15-teilige Live-Action-Fernsehserie mit Spider-Man (Booker 110). 2 | Aus einem geplanten vierten Teil der Spider-Man-Reihe wurde dann ein Reboot, eine eigenständige, nicht mit der bisherigen Trilogie verknüpfte Umsetzung unter dem Titel des Comic-Heftes, The Amazing Spider-Man (2012). Inzwischen (bis 2017) kamen eine Fortsetzung dazu (The Amazing Spider-Man 2, 2014) und – nach einem Verleiherwechsel – ein erneutes Reboot: Spider-Man: Homecoming (2017), das Spider-Man nun auch mit dem restlichen Marvel Cinematic Universe verknüpfte (den ersten Auftritt des neuen Spider-Mans bot schon Captain America: Civil War, 2016). Während 2013 noch Iron Man 3 erschien (wobei Iron Man auch in anderen Filmen des Marvel Cinematic Universe auftritt), kam Daredevil nicht mehr zu Kino-Ehren, erhielt aber eine eigene Netflix-Serie (Daredevil, ab 2015, bisher zwei Staffeln).

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sen Filmen unter die Lupe genommen wird. Sie wird darüber hinaus in Bezug zu (post-)modernen Identitätskonzeptionen gesetzt. Da es sich bei diesen Filmen um Adaptionen handelt, wird immer wieder auf die klassischen3 Comicversionen dieser Charaktere verwiesen, ein Vergleich zwischen Comics und Film ist jedoch nicht das hauptsächliche Ziel dieses Beitrags. Analog zu den klassischen Comics beginnen die Geschichten von Spider-Man, Iron Man und Daredevil auch bei ihrer Neuauflage im Film mit der sogenannten Origin Story, die erklärt, wie aus dem Protagonisten ein Superheld wird. Das Geschehen wurde dabei konsequenterweise in die Gegenwart versetzt, da Superheldencomics im Allgemeinen in der jeweiligen Gegenwart ihrer Entstehungszeit situiert sind. Jede der in diesen filmischen Adaptionen erzählten Origin Storys lässt sich wie folgt zusammenfassen: Nach dem Erhalt oder der Erlangung bzw. Erschaffung übernatürlicher Kräfte macht der Protagonist eine Verlusterfahrung, wenn eine väterliche Figur gewaltsam stirbt. Das dabei erlittene Ohnmachtsgefühl veranlasst ihn dazu, seine Superfähigkeiten für die Allgemeinheit einzusetzen, besonders aber gegen Superschurken, die bei Superhelden selten lange auf sich warten lassen. Die Superschurken verfügen in der Regel ähnlich wie die Helden über eine Origin Story, und es ist inzwischen eine Binsenweisheit, dass sie häufig eine ins Negative gewendete Spiegelung des Helden, einen bösen Zwilling oder, wie Tyree formuliert, »an identical – but evil – version of himself« (28), darstellen (sollen). Obwohl sich diesbezüglich ebenfalls von einer Doppelung des Helden (und einem ›maskierten Schurken‹) sprechen ließe, beschränkt sich dieser Beitrag auf die den Heldenfiguren eigenen Doppelidentitäten. Spider-Man, Iron Man und Daredevil sind nicht nur Superhelden – ihre Gestalten entsprechen auch dem maskierten Helden.4 Diesen verstehe ich als Figurentypus, der das Grundmodell für diverse populäre Heldengestalten darstellt und der nicht notwendigerweise in fantastischen Genres auftreten muss (wohl prominentestes nicht-fantastisches Beispiel ist Johnston McCulleys Zorro, der erstmals 1919 seinen Degen durch Spanisch-Kalifornien schwang). Helden und Heldinnen5 nach diesem Modell erschaffen sich mit Hilfe einer Maske, und oft eines Kostüms, eine zweite Identität,6 in der sie ihre Heldentaten vollbringen, während sie ihre heldischen Fähigkeiten in ihrem sozialen Umfeld verbergen und so gleichwohl ihre zivile Identität (im Superhelden-Fanjargon als Secret Identity bekannt) aufrechterhalten. Die Superhelden stellen weitaus die zahlreichsten Manifestationen des

3 | Als solche verstanden werden hier insbesondere die ersten Jahrgänge jener Comic-Hefte, in denen die drei Charaktere namengebend oder fester Bestandteil waren (das sind Amazing Spider-Man, Daredevil und Tales of Suspense des Marvel-Verlags), spätere Neuerzählungen und Sonderreihen wurden hier nicht berücksichtigt. 4 | Superhelden sind nicht gleichbedeutend mit maskierten Helden; es gibt durchaus Superhelden wie die Fantastic Four und viele der X-Men, die keine Maske und keine Doppelidentität haben. 5 | Im Folgenden wird nur die männliche Bezeichnung verwendet; selbstverständlich bezieht sich der Begriff des maskierten Helden ebenso auf weibliche Figuren, die diese Eigenschaften aufweisen, die aber leider stark in der Unterzahl sind. 6 | Die Begriffe Identität, Ich und Selbst werden in diesem Beitrag synonym verwendet.

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maskierten Helden. Bei ihnen wird die Doppelidentität mit Superkräften 7 kombiniert. Im Folgenden wird zunächst geklärt, welche Rolle die fantastischen Elemente für die Doppelidentität des Helden – auch im Vergleich zu den Comics – spielen.

1. F antastische F ähigkeiten als V or ausse t zung für das H eldendasein Für Superhelden sind ihre fantastischen Fähigkeiten die Voraussetzung, um als Held agieren zu können; diese sind denn auch ein Definitionskriterium des Superhelden (Coogan 30-61). Der Erhalt der Kräfte durch den schicksalhaften Spinnenbiss (Peter Parker/Spider-Man), den Unfall mit einem Chemielaster (Matt Murdock/Daredevil) oder die Fertigung einer Superrüstung (Tony Stark/Iron Man) bedeutet für die Protagonisten den Einbruch des Fantastischen in ihr bis anhin nicht-fantastisches Dasein. Sowohl für die Protagonisten als auch für die Rezipierenden manifestiert sich in den Superkräften das Fantastische als Novum bzw. mehrere Nova – wunderbare Elemente, die in der Realität des Publikums nicht existieren, also realitätsinkompatibel sind (Spiegel 42f.; unter Berufung auf Darko Suvin). Für den »fiktional-ästhetischen Modus« (ebd. 39) der Science Fiction, zu dem Superheldengeschichten gemeinhin gezählt werden, ist charakteristisch, dass stets »eine prinzipielle Vereinbarkeit ihrer Nova mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft« (ebd. 48) suggeriert wird. Dem wird auch in den hier betrachteten Filmen Rechnung getragen: So wird Peter Parker im Film, anders als bei seinem ersten Auftritt im Comic, nicht von einer radioaktiven, sondern von einer genmanipulierten Spinne gebissen – obwohl der Film abgesehen von den futuristischen Gleitern des Green Goblin, des Antagonisten, eine ›Alltagswelt‹ präsentiert, die von einer unspezifizierten, idealisierten Nostalgie geprägt ist und in welcher etwa Handys nicht zu existieren scheinen (vgl. Koh 736-739). Ebenso beruht Tony Starks geniale Rüstung, die sein Überleben nach einer unheilbaren Verwundung sichert, auf Reaktoren- statt Generatorentechnik. Da die Filme ihre Nova stark auf Superkräfte zentrieren, ist das Fantastische hier stark figurgebunden. Alle auf menschlichen Erfindungen beruhenden Nova führen in den Filmen zur fantastischen Veränderung eines Menschen oder unterstützen diese zumindest. Sogar der außerirdische Symbiont in Spider-Man 3 entfaltet seine Wirkung erst auf einem menschlichen Träger. Stellenweise bieten die Filme kleine, aber nicht unbedeutende Verschiebungen in der Ausgestaltung der Fähigkeiten. So wird Peter Parker zwar als Wissenschaftsgenie beschrieben, aber nie als solches ›bei der Arbeit‹ gezeigt. Insbesondere ist Spider-Mans Netzflüssigkeit nicht das geniale Produkt seines Erfindergeistes, sondern eine der Wirkungen, die der Spinnenbiss auf seinen Körper hatte. Im Film Daredevil bleiben die Superkräfte des Helden das einzige Novum: Zum einen fehlt der Wissenschaftsnimbus, der

7 | Als Superhelden gelten auch Figuren wie Batman, die keine körperliche Superkraft haben, sondern sich mit fantastischen Gadgets, also technischen Mitteln (z.B. Batcar, Batarang), behelfen (Coogan 41). Dazu zählt auch Tony Stark alias Iron Man mit seiner transhumanistisch anmutenden Superrüstung.

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Spider-Man und Iron Man umgibt, zum andern gibt es keine Antagonistenfiguren, die durch fantastische Elemente erklärte Superkräfte besitzen.8 Der Erhalt ihrer Kräfte bedeutet für Tony Stark, Peter Parker und Matt Murdock eine Erweiterung der Welt. Mit seinen Fähigkeiten kann sich der Held in der urbanen Situierung besondere Räume erschließen. Für Iron Man mit seinen Flugstabilisatoren ist es der freie Himmel, für Spider-Man und Daredevil sind es die Dächer New Yorks und die Häuserschluchten zwischen den Wolkenkratzern. Hier eröffnet sich ein dem Helden eigener Aktionsraum: Wo der Aufenthalt für Normalsterbliche ohne Hilfsmittel tödliche Folgen hätte, kann der Held seine ganze Agilität unter Beweis stellen. Peaslee betont die Bedeutung der Großstadt als Schauplatz der Geschichte und ihre sozialen Implikationen für Spider-Man 1, seine Ausführungen können jedoch auch für die Spider-Man-Sequels, Daredevil und teilweise Iron Man Gültigkeit beanspruchen: […] [T]he setting […] is one of extreme urbanity. […] [T]he geography of skyscrapers, subways, sewers, and compartmentalizing spaces play a constitutive role in not only the mood but also the action of the story. […] Only when he [Peter Parker] is Spider Man [sic!] is he capable of transcending the maze of urban structure, as he leaps from building to building with the aid of his webs. (39)

Ihre spezielle Fortbewegungsart ist für Spider-Man und Daredevil fester Bestandteil ihrer Ikonografie geworden; im mühelosen Schwingen zwischen den Hochhäusern wird die Freude des Helden am Heldsein, an seinen Fähigkeiten, sichtbar. Matt Murdock/Daredevil, dessen Chemielaster-Unfall im Ausgleich für Blindheit zu überscharfen restlichen Sinnen führte, formuliert dies explizit: »An acute sense of touch gave me both strength and balance until the city itself became my play­ ground« (00:12:20; meine Hervorhebung). Wie stark die Fähigkeit, durch Körperbeherrschung ungewohnte Räume durchqueren zu können, mit der Vorstellung des Superhelden verbunden ist, zeigt die komische Szene in Spider-Man 2, in der Spider-Man plötzlich seine Kräfte verliert und den Lift nehmen muss: Sein Mitfahrer hält ihn für irgendwen in einem Spider-Man-Kostüm, kommt aber nicht auf die Idee, dass das Original vor ihm steht. Freilich werden solche Räume meist schon bald auch von Superschurken wie dem Green Goblin auf seinem Gleiter (Spider-Man 1) oder Doctor Octopus mit seinen überdimensionalen Metallarmen (Spider-Man 2) beansprucht. Durch die Superkräfte wird der im Spektrum der Stadt sonst eng begrenzte Freiraum für den Helden nahezu maximiert. Im Vergleich mit den Comics wirkt die räumliche Erweiterung in den hier besprochenen Filmen allerdings ziemlich eingeschränkt. Für Iron Man und seine 8 | Der Kingpin als Drahtzieher und der Auftragskiller Bullseye als dessen Mittelsmann sind in Daredevil zwar überhöhte Gestalten, insbesondere die Agilität und Zielsicherheit Bulls­ eyes bleiben aber unerklärt. (In den Comics zählt Bullseye ebenfalls zu jenen Figuren, die keine ›eigentlichen‹ Superkräfte haben, sondern ihre Talente durch Training zu übermenschlichen Ausmaßen geformt haben.) Elektras Kampfkraft wird explizit mit jahrelangem Training begründet. Allerdings werden auch Matt Murdocks Kräfte etwas zurückgenommen: Im Film ist er auf Blindenschrift angewiesen, derweil er in den Comics mit seinen hochsensitiven Fingerspitzen die Druckerschwärze auf dem Papier erfühlen kann.

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flugfähige Rüstung wäre theoretisch der gesamte Globus ein potenzielles Aktionsfeld – der Showdown mit dem Iron Monger findet jedoch vor seiner Haustür statt. In den Comics regelmäßig erscheinende Elemente wie versunkene Welten, abgelegene Kleinreiche mit seltsamer Bevölkerung oder Eroberer aus dem Weltall übernehmen die Adaptionen sehr zögerlich. Erst in Spider-Man 3 gibt es mit dem außerirdischen Symbionten einen fantastischen Gegner, der nicht von der Erde stammt. Dies ist wohl im Anspruch der Filme begründet, die fantastischen Elemente so real wie möglich wirken zu lassen und die dargestellte Welt so nah wie möglich an jener des Kinopublikums zu orientieren (vgl. Booker 111).

2. I dentitätserweiterung mit tels M aske Diesen entgrenzten Raum nutzen die hier betrachteten drei Superhelden gewöhnlich jedoch nur mit einer besonderen Bedingung: Zwar sind seine fantastischen Fähigkeiten die Voraussetzung für das Heldentum des jeweiligen Protagonisten, dieser erlegt sich jedoch auf, seine Kräfte in der Öffentlichkeit nur dann aktiv einzusetzen, wenn er maskiert ist, d.h. wenn seine zivile Existenz aufgrund seiner äußeren Erscheinung nicht identifizierbar ist. Das Fantastische bedeutet daher nicht nur eine Erweiterung der Welt, sondern auch eine Erweiterung der Identität, die jedoch nur durch das Tragen einer Maske öffentlich sichtbar wird, der Maske, die seine Doppelidentität ermöglicht und zu seinem Markenzeichen wird. Auffallenderweise vermeiden es die Filme – anders als die klassischen Comics –, einen konkreten Grund für die Maskierung zu nennen; die Maskierung und damit die Doppelidentität wird so als gegebener Bestandteil des Heldenlebens präsentiert, was hauptsächlich damit zusammenhängen dürfte, dass das ›Schema Superheld‹ als bekannt vorausgesetzt wird.9 Allerdings hebt ein farbintensives Kostüm bzw. eine Rüstung deutlich von der Allgemeinheit ab, derweil die Superkräfte in der zivilen Identität problemlos verbergbar sind. Alle drei Superhelden erwähnen in den Filmen mindestens einmal mehr oder weniger explizit, dass der Grund, weshalb sie sich zum Heldenleben berufen bzw. verpflichtet fühlen, schlicht darin liegt, dass sie dazu in der Lage sind. Wenn Matt Murdock auf die Frage, warum gerade er derjenige ist, der ›etwas unternehmen‹ muss, knapp antwortet: »Because I can. Because I’m not afraid« (Daredevil 00:30:23), bezieht er sich in erster Linie klar auf sein übermenschliches Können, doch stellt sich die Frage, ob dieses ›Können‹ nicht auch von seiner Maske – und damit der Doppelidentität – abhängt. Bei Iron Man wird die Maske als Visier der Rüstung sogar selbst zum fantastischen Element. Die Filmversion von Iron Man, ein gekonntes Spiel mit den Genrekonventionen, ist jedoch ein Spezialfall, da der Film die typische Doppelidentität – die in den Comics allen drei Helden gemeinsam ist – verwirft.10 Ein mögliches 9 | Ein Indiz hierfür ist eine Anspielung auf den ersten aller Superhelden, wenn Tante May Peter fürsorglich ermahnt: »You do too much. […] You’re not Superman, you know« (SpiderMan 01:33:45) 10 | Fingeroth (59f.) weist darauf hin, dass die Secret Identity in den Comics im Lauf der Jahre immer mehr an Bedeutung verloren habe, aber in den Verfilmungen als wichtiges Thema vorhanden sei. Auch in den Comics ist sie nicht passé.

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Doppelleben wird zwar angesprochen, aber konsequent sabotiert, wenn Tony Stark schon beim ersten richtigen Ausflug als Iron Man erst seinen besten Freund Rhodey einweihen muss, um nicht von dessen Kampfflugzeugen abgeschossen zu werden, und bei der Rückkehr dann von seiner Sekretärin Pepper Potts ertappt wird. Als Tony Stark die Doppelidentität am Schluss des Films tatsächlich etablieren soll, gesteht er vor versammelter Presse: »I am Iron Man« (Iron Man 01:52:20).11 Ein entsprechendes Bekenntnis ist auch der Schlusssatz in Spider-Man, und ein vergleichbares Statement macht Matt Murdock in Daredevil (»This is who I am«; 01:17:30), bevor er sich noch einmal aufrappelt, um sich dem auf ihn angesetzten Killer Bullseye zu stellen. Diese Deklarationen deuten eine Tendenz an, die den Geschichten um maskierte Helden inhärent ist: Die besondere Konzeption der Heldenfigur fordert die Thematisierung von Identität heraus und bietet die Möglichkeit einer narrativen Problematisierung. Die Doppelidentität des maskierten Helden, die äußerliche Trennung in zwei Identitäten, die nur alternierend auftreten können, gewinnt ihren erzählerischen Reiz insbesondere dadurch, dass das zivile und das Helden-Ich in Kontrast stehen: Der maskierte Held spielt in seiner zivilen Identität den Unscheinbaren oder Helden-Untauglichen, im Fall von Daredevil sogar den Behinderten.12 Die Kontrastierung der beiden Helden-Ichs geschieht in den Geschichten unter anderem durch die unterschiedliche Bewertung, die das Umfeld des Protagonisten seinen beiden Ichs zukommen lässt, was sowohl komische als auch tragische Effekte haben kann. Eine dramatisch zugespitzte Repräsentation dieses Kontrasts verkörpert in der Regel eine Frauenfigur als love interest des Helden. Dies ist auch in den Filmhandlungen der Fall: Spider-Man 1 referiert die ›romantische‹ Variante, wenn Mary Jane für Spider-Man schwärmt aber Peter als Partner nicht bzw. noch nicht in Betracht zieht. Daredevil präsentiert indes eine Variante der extremen Polarisation: Elektra verliebt sich in Matt Murdock, dessen heldisches Alter Ego Daredevil dagegen soll von ihrer Hand sterben, da sie den gewaltsamen Tod ihres Vaters an dessen vermeintlichem Mörder rächen will. Doch nicht nur Frauenfiguren können die Gegensätzlichkeit der beiden äußerlichen Helden-Ichs herausstreichen, meist gibt es mehrere Figuren, die diesem Zweck dienen: In der SpiderMan-Trilogie möchte Peters bester Freund Harry Osborne Spider-Man tot sehen, da er ihn ebenfalls für den Tod seines Vaters Norman, der als Superbösewicht Green Goblin sein Unwesen getrieben hatte, verantwortlich macht. Zeitungsverleger J. Jonah Jameson sorgt für (eher komische) Kontraste, wenn er eine mediale Hetzkampagne gegen Spider-Man veranstaltet, ohne zu wissen, dass dieser ihm als Pressefotograf Peter Parker selbst die Fotos dazu liefert. Die mittels der Maske für den Blick von außen scheinbar getrennten Identitäten des Helden sind für diesen selbst und die Rezipierenden, die ja in das Geheimnis der Doppelidentität eingeweiht sind, durch ein Netz von Bezügen verbunden. In den hier betrachteten Filmen stoßen die Heldenfiguren auffallend oft mit ihrer zi11 | Die Aufhebung der Doppelidentität erklärt den Ausschluss von Iron Man 2 (2010, Regie: Jon Favreau) aus dem Korpus dieses Beitrags, und aus diesem Grund beziehen sich die folgenden Ausführungen nur noch sporadisch auf Iron Man. 12 | Der blinde Matt Murdock hat zwar eine Behinderung, doch kann er diese derart kompensieren, dass er wie ein Nichtbehinderter auftreten könnte – dennoch verschweigt er seinem Umfeld seine kompensatorischen Fähigkeiten weitgehend.

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vilen Identität auf ihre nächste Aufgabe: Iron Man hat von Anfang an vor allem den Zweck, die Verfehlungen Tony Starks als Waffenproduzent zu korrigieren, Matt Murdock verfolgt als Daredevil nachts jene Unholde, die er tagsüber als Anwalt ungestraft davonkommen sah.13 Peter Parker ist praktischerweise meist als Fotograf vor Ort, wenn ein neuer Superschurken-Charakter seinen ersten Angriff auf die Stadt und ihre Bewohner startet. Auch in eher unspektakulären Situationen nimmt Peter gelegentlich sein Helden-Ich zu Hilfe, beispielsweise zu Beginn von Spider-Man 2: Zur Erfüllung seines Pizzakurier-Jobs verwandelt er sich in SpiderMan, weil er aber unterwegs Kinder retten muss, kommt er trotzdem zu spät an seine Zieldestination und verliert so auch diesen Job. Das heldische Alter Ego kann hier das Problem nicht lösen. Typischerweise werden Bedrohungen, die den Einsatz des Helden erfordern, ausgerechnet dann akut, wenn es für das soziale Leben des zivilen Ichs äußerst ungünstig ist, z.B. bei einem wichtigen Gespräch mit der Geliebten.

3. V om › wahren ‹ I ch zum P rotean S elf Nach Tseëlon (3) bedeutet das Tragen einer Maske stets die Infragestellung der Identität. Sie führt weiter aus, dass es zwei mögliche Herangehensweisen gibt, um die Maskerade in Bezug auf die Identität zu verorten, abhängig davon, welcher der beiden Identitäts-Grundvorstellungen des 20. Jahrhunderts man folgen möchte, ob man Identität als eine feste Einheit versteht oder die Vorstellung einer grundsätzlich multiplen Identität vorzieht (ebd. 4). Geht man von Identität als einer festen Einheit aus, würde die Maske ein authentisches Ich verbergen. Hieraus erklärt sich die tendenziell negative Konnotation der Maske als Schein und Betrug, deren geistesgeschichtliche Entstehung Weihe umfassend erläutert. In den hier betrachteten Filmen referieren J. Jonah Jameson (Spider-Man) und der Kingpin (Daredevil) diese negative Konnotation beiläufig, wenn sie fragen, was der Held wohl zu verbergen hat, wenn er Angst hat, sein (›wahres‹) Gesicht zu präsentieren. Hier wird deutlich, dass die Maske eben nicht nur verbirgt, sondern auch zeigt, dass sie etwas verhüllt (Weihe 17). Da die maskierten Helden ihre Superfähigkeiten nur unter der gegenständlichen Maske einsetzen, lässt sich argumentieren, dass ihr ›wahres Ich‹ erst beim Tragen der Maske enthüllt wird, die zivile Identität aber eine metaphorische, soziale Maske bedeutet. Dieses Spiel um die Frage nach dem wahren Ich beschreibt Kniep mit anschließendem Bezug auf Batman und Superman für die Comics folgendermaßen: Sein wahres Ich ist somit das heldische Ich, das vor dem Hintergrund wechselnder Erscheinungen die Einheit und Dauer eines geschlossenen Subjekts verbürgt. Daraus folgt, dass es 13 | Zum »A lawyer during the day, and then judge and jury at night«-Motto in Daredevil, das sein Beichtvater Matt einmal vorhält (00:30:13), vgl. Rauscher (67). In Daredevil zieht auch der Journalist Ben Urich die Verbindung zwischen den beiden Identitäten des Helden; tatsächlich versucht er zu beweisen, dass das Gerücht um Daredevil wahr ist und sich hinter dessen Maske Matt verbirgt – zugleich aber gibt er Matt Informationen, in der Hoffnung, Daredevil zum Eingreifen zu bewegen (vgl. ebd. 66f.).

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II. Definitionsansät ze nicht der Mensch (Clark Kent, Bruce Wayne usw.) ist, der seine eigentliche Identität hinter der Maske eines Superhelden verbirgt, sondern umgekehrt der Held selbst, der mit Hilfe der Konstruktion einer Alltagspersona unentdeckt zu hoffen bleibt. Der zu der Aufnahme eines Doppellebens dazugehörige Vorgang der Kostümierung stellt sich dem Comic-Leser dann auch folgerichtig als ein paradoxes Wechselspiel zwischen Enthüllung und Verschleierung dar: Legt der Held die Maske ab, bleibt er als solcher unerkannt, setzt er sie aber auf, tritt er als derjenige in Erscheinung, der er in Wahrheit ist. (32f.)

Kniep scheint die ›Umkehrung‹ von authentischem und vorgegebenem Ich durch die Maskierung als Beantwortung der Frage nach der ›wahren Identität‹ als gegeben anzusehen – Fingeroth (57ff.) betont demgegenüber eher, dass die Comics vor allem immer wieder Fragen wie ›Wer bin ich?‹ stellen. Die Umkehr zwischen gegenständlicher und metaphorischer Maske wird in den klassischen Comics durchaus explizit angesprochen. Der Wechsel zwischen den Identitäten wird in den Anfangsjahren deutlich als Wechsel zwischen authentischem und vorgegebenem Ich präsentiert (z.B. Lee und Everett [Daredevil 17, Juni 1966, 4; Daredevil 25, Februar 1967, 7]). Matt Murdocks Behindertenattribut, sein Blindenstock, der in Daredevils Hand zur Waffe wird, illustriert dies auch im Film. Im Vergleich zu den Comics ist in den Filmen jedoch eine relativ subtile Verschiebung zu beobachten. Obwohl sich der Plot in den ersten beiden Spider-Man-Filmen auch darum dreht, dass sich Peter für eine seiner beiden Identitäten entscheiden muss, fehlt in allen Filmen die Komponente der ›Maskenhaftigkeit‹ der zivilen Identität. Dass das Zivil-Ich ein Meister der Verstellung und daher manchmal für den Helden nicht mehr als eine zwingende Rolle ist, die er zu erfüllen hat, die seinem Ich aber nicht entspricht, wird so gut wie gar nicht angesprochen. Wenn die Helden hier ihre fantastischen Fähigkeiten vor aller Öffentlichkeit einsetzen, bedeutet die Maskerade daher nicht die ›Umkehrung‹ von wahrem Selbst und vorgespielter sozialer Rolle, sondern stellt ›nur‹ eine Erweiterung der Identität dar, ohne aber das ›angestammte‹ Ich in Frage zu stellen. Aufgrund dieser Umwertung ist es nicht mehr so erstaunlich, dass sich die drei Heldenfiguren in ihren Filmversionen nicht übermäßig bemühen, in ihrer zivilen Identität ihre Spezialfähigkeiten nur im Geheimen zu benutzen, um niemandem Anlass zu geben, auf die Verbindung mit der Heldengestalt zu schließen. So entdeckt Peter Parker seine Spinnenkräfte im öffentlichen Raum der Schule, was für ziemlichen Aufruhr sorgt, und der blinde Matt Murdock verblüfft sein Umfeld regelmäßig mit seinen Wahrnehmungsfähigkeiten,14 bis Elektra direkt fragt: »Sure you’re blind?« (Daredevil 00:35:00). Diese ›Konstellation‹ der Doppelidentität des maskierten Helden bietet sich geradezu an, sie als Widerspiegelung jener Identitätskonzeptionen zu deuten, die Identität als von Multiplizität und Prozesshaftigkeit geprägt verstehen. Diese scheinen in Soziologie und Psychologie weitgehend anerkannt zu sein und die Vorstellung von Identität als einer fixen Entität abgelöst zu haben (vgl. Renn und Straub; Kaufmann). Insbesondere mit Blick auf Robert Jay Liftons Protean Self entfalten sich auffällige Parallelen zu den Superhelden, wie sie in den hier betrachteten Filmadaptionen porträtiert werden. Lifton entwirft sein metaphorisch gelungen benanntes Identitätskonzept als vielseitiges Selbst (5), das durch Variation geprägt 14 | Zur Umsetzung von Matts spezieller Raumwahrnehmung durch seinen Radarsinn im Film vgl. Kuppers.

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ist, aber dennoch konstante, stabile Züge hat. Grundlage für die Konstituierung des Protean Self sind unter anderem Gefühle der Vater- und Heimatlosigkeit (ebd. 74). Zumindest Erstere sind bei Peter Parker, Matt Murdock und Tony Stark nicht von der Hand zu weisen. Bedeutender ist jedoch die folgende Eigenschaft: »Central to its function is a capacity for bringing together disparate and seemingly incompatible elements of identity and involvement in […] ›odd combinations‹, and for continuous transformation of these elements« (ebd. 5). Die von Lifton erwähnte ›continuous transformation‹ kann für die maskierten Helden nicht nachgewiesen werden, sodass die Anwendung des Konzepts des Protean Self hier an ihre Grenzen stößt. Doch lassen sich die beiden Ichs des maskierten Helden – wenn auch in sehr plakativer, schematisierter Form – als solch scheinbar inkompatible Elemente verstehen; die Aufrechterhaltung zweier Identitäten ist schließlich eine Grundkompetenz für einen maskierten Helden. Obgleich die ständige Aufrechterhaltung zweier Identitäten für den maskierten Helden oft kleine und große Probleme nach sich zieht, kann die Doppelidentität auch eine Stärke sein. Es gibt immer wieder Situationen, in denen die Helden keinen Erfolg verbuchen könnten, wenn sie nicht auf die Verbindung zwischen ihren beiden Identitäten und ihre zivile Identität zurückgreifen könnten. In Spider-Man 2 beispielsweise kann angesichts der drohenden Explosion nicht Spider-Man, sondern nur Peter Dr. Octopus zur Vernunft bringen und so die Katastrophe abwenden (vgl. Booker 119). In den klassischen Comics haben Spider-Man, Daredevil und Iron Man jahrelang größte Anstrengungen unternommen, um einer Entlarvung zu entgehen. In den Filmen fällt dagegen eine hohe Zahl an Demaskierungen auf.15 Matt Murdock wird im Film insgesamt genauso oft entlarvt, wie er als Daredevil unterwegs ist. Die relative Häufigkeit der Demaskierungen in den Filmen ist in erster Linie sicher darin begründet, dass die Schauspieler ohne Maske ihr Mienenspiel besser entfalten können. Davon abgesehen bedeutet die Demaskierung die Sichtbarmachung der ›Einheit in der Zweiheit›16 und damit die (temporäre) Aufhebung der vorgegebenen Trennung in zwei Identitäten. Dies kann zusätzliche Gefahr bedeuten, wenn ein Antagonist die Identität des Helden entdeckt und so erkennt, wie er z.B. SpiderMan mit der Bedrohung von Peter Parkers Familie erpressen bzw. in ein Dilemma stürzen kann. Die Maske bietet darüberhinaus im Prinzip nicht nur Schutz vor Superschurken, sondern auch vor der meinungsmäßig oft wankelmütigen Öffentlichkeit, die bei Daredevil und in der Spider-Man-Trilogie stark durch die Presse repräsentiert wird. Eine unfreiwillige Demaskierung vor einem beschränkten Kreis der Öffentlichkeit gibt es nur in Spider-Man 2: Peter verliert im Laufe eines Kampfes mit Doctor Octopus vor einigen Stadtbahnbenutzern seine Maske, was jedoch keine negativen Folgen hat – da die New Yorker ihrem Helden dankbar sind, versprechen sie, sein Geheimnis zu wahren. In Liebesdingen führt die Demaskierung dagegen meist zur Problemlösung – so bringt Elektra Daredevil dann doch nicht 15 | Iron Man, der am Ende die unumkehrbare Demaskierung gegenüber der Öffentlichkeit vornimmt, kann von Demaskierungen ›den Zuschauenden zuliebe‹ absehen, da in einer speziellen Kameraeinstellung Tony Starks Gesicht hinter der Maske mehrmals gezeigt wird. 16 | Diese Formulierung verwende ich in Anlehnung an Weihes Auseinandersetzung mit der Denkfigur des homo duplex, deren Bezügen zum maskierten Helden hier nicht nachgegangen werden kann (vgl. 329-54).

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um, als sie sieht, dass Matt Murdock unter dessen Maske steckt. In den Spider-ManFilmen ist es eine halb zerrissene Maske, die vor allem in den Endkämpfen der drei Spider-Man-Filme – wenn Peter Parker als Spider-Man seine große Liebe Mary Jane Watson retten muss – sichtbar macht, dass Spider-Man Peter Parker ist, und immer dann, wenn die Doppelidentität bei der Kulmination handlungsbedeutsam ist, die Verbindung der beiden Identitäten eindrücklich visualisiert. Dies ist freilich auch eine Hommage an ein typisches Gestaltungselement der Spider-Man-Comics, dort ›enthüllt‹ eine über Peters Gesicht gezeichnete Halbmaske, dass Peter gerade als Spider-Man denkt (vgl. etwa Lee und Ditko [z.B. The Amazing Spider-Man 4, September 1963, 20; The Amazing Spider-Man 5, Oktober 1963, 2, 10, 11]).

4. W er die W ahl (nicht) hat… Anders als bei einer Demaskierung, die in den Filmen in der Regel unfreiwillig oder zumindest ungeplant erfolgt, können Spider-Man und Daredevil in der Regel selbst bestimmen, wann sie in welcher Identität auftreten wollen (das gilt auch für Iron Man, solange er nicht in seiner Rüstung feststeckt). Die äußerliche Trennung in zwei Identitäten stellt die Protagonisten so in gewisser Weise dauernd vor die Wahl, da sie gegen außen jeweils nur in einer ihrer Identitäten auftreten können, nicht aber in beiden gleichzeitig. Auch eine Doppelidentität ist keineswegs vor Krisen gefeit. Ein immer wieder effektvolles Mittel, den Protagonisten in ein Dilemma zu stürzen, besteht darin, ihn vor die sprichwörtliche Qual der Wahl zu stellen, sich für eine seiner beiden Identitäten entscheiden zu müssen, wie Spider-Man und Spider-Man 2 zeigen. Im ersten Film stellt der Green Goblin Spider-Man vor das Dilemma, entweder Mary Jane oder eine Gondel voller Schulkinder zu retten. Mit den Worten »We are who we choose to be. Now choose!« (01:38:02), fordert er Spider-Man auf, sich dergestalt zwischen seinen Identitäten zu entscheiden. Selbstverständlich gelingt es Peter, sowohl die Frau seines Herzens als auch die Schulkinder zu retten. Er beschließt im Anschluss jedoch, wegen der potenziellen Gefahren auf eine Beziehung mit Mary Jane zu verzichten, um Spider-Man bleiben zu können. Das finale »Who am I? I am Spider-Man« (01:50:33) lässt sich dennoch nicht nur als Bekenntnis zum Heldentum lesen, sondern auch als Entscheidung zur Erhaltung der Doppelidentität.17 Und damit startet denn auch der zweite Film, wenn der erste Satz von Peters Erzählerstimme lautet: »Who am I? I am Spider-Man, given a job to do. And I’m Peter Parker, and I, too, have a job« (00:03:10). Nach diesem Statement ist es unvermeidlich, dass die Doppelidentität im zweiten Film in die Krise gerät, bis Peter entnervt seine Kräfte nicht mehr abrufen kann und den Helden-Bettel hinschmeißt, was scheinbar den Verzicht auf sein heldisches Alter Ego bedeutet. Da er jedoch seine Heldenqualitäten nicht begraben kann (wie sich zeigt, ist er nicht aus dem Holz geschnitzt, das bei Unglücken seelenruhig zuschauen kann) und diese auch dringend gebraucht werden, als der Superschurke Dr. Octopus Mary Jane entführt, wird die Doppelidentität am Ende, 17 | Laut Kirby und Gaithner (280) unterscheidet sich Peter Parker in Spider-Man in diesem Punkt als relativ singuläres Beispiel von anderen, etwa zur gleichen Zeit produzierten Filmen, in denen Individuen durch genetische Experimente vor die Identitätsfrage gestellt werden.

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wie zu erwarten war, wieder bestätigt. Beim Happy-End wird deutlich, dass die Ausgestaltung der Identität auch vom sozialen Umfeld und den Interaktionen mit anderen abhängig ist: Peter zieht sich nämlich erneut von Mary Jane zurück, da diese aber inzwischen sein Geheimnis kennt, entscheidet sie, dass sie trotzdem mit Peter zusammen sein will. Flanagan weist darauf hin, dass die Doppelidentität dem Helden (und implizit dem Kinopublikum, das sich mit diesem identifiziert) die Möglichkeit gibt, verschiedene Rollen – er nennt jene des Verfolgten, des Retters und der Bedrohung – erfüllen zu können. Dieses Potenzial erkläre zum einen die Langlebigkeit der Secret Identity und diene zum andern der Rechtfertigung verschiedener »narratives that deal with the assumption of new identities, heroic guises, or the tempo­ rary rejection of the hero identity« (145). Dementsprechend kann Peters Identität in Spider-Man 3 ebenfalls nicht unhinterfragt bleiben, die Doppelidentität als solche steht nun aber nicht mehr zur Debatte. Insbesondere als ›Spider-Man in Black‹ – unter dem Einfluss des außerirdischen Symbionten – kann Peter Parker eine vermeintlich coolere, selbstsicherere und frechere Variante seiner selbst testen, die er zunächst begrüßt, letztlich aber wieder verwerfen muss, als er erkennt, dass diese eine gnadenlose, gewalttätige Dimension an den Tag legt, die ihm nicht geheuer ist. Peters Fazit am Schluss von Spider-Man 3 betont erneut, mit schon fast didaktischem Unterton und in fast denselben Worten wie der Goblin im ersten Teil, die Wahl: »[…] we always have a choice. […] It’s the choices that make us who we are. And we can always choose to do what’s right« (02:06:25). Der Aspekt der Wahl des Protagonisten, wer er sein will, wird vor allem in der Spider-Man-Trilogie betont. Die starke Gewichtung lässt sich dadurch erklären, dass Peter Parkers Transformation zu Spider-Man – er erhält seine Spinnenkräfte noch als Teenager – oft als Metapher für die Entwicklungen in der Pubertät gelesen wird (z.B. Flanagan 139-50; Booker 109). Dementsprechend versteht etwa Flanagan das Dilemma der Wahl zwischen zwei Identitäten in Spider-Man hauptsächlich als Form, in die das Problem der Heldwerdung bzw. der Akzeptanz des Heldenschicksals (»rising to a heroic destiny«; 148) erzählerisch eingekleidet ist. Mit dem drohenden Verzicht auf eine der beiden Identitäten geht es jeweils auch um die Frage, ob Peter ein Held mit aller Verantwortung und Entbehrungen für seine Zivilidentität sein will oder nicht. Daran schließt sich – namentlich in Gesprächen von Peter Parker mit seiner nicht eingeweihten Tante May über Spider-Man – die Frage an, was einen Helden und seine Vorbildfunktion ausmacht.18 Aber während ein Leben ohne Heldenidentität durchaus denkbar wäre – was in Spider-Man 2 temporär auch durchgespielt wird, als Peter seine Spinnenkräfte verliert –, scheint die Beibehaltung der zivilen Identität des Protagonisten unumstößlich. Auch wenn das zivile Ich durch die Heldenaktivitäten eingeschränkt wird (z.B. wenn Peter Parker auf privates Liebesglück verzichtet), scheint eine reine Heldenidentität keine Option. Die Entscheidung, wer er sein will, muss Peter Parker in den Spider-Man-Sequels immer wieder neu treffen. Das Fantastische, das die Doppelidentität erst er18 | Im Film Daredevil schwingt die ›Heldenfrage‹ in einer anderen Schattierung mit, hier befindet sich Matt im Zwiespalt, ob der stark vergeltungsorientierte Daredevil noch ein Held ist oder ob er zu weit geht und so selbst zum Problem wird – er kann dieser ›Versuchung‹ aber widerstehen und bleibt als Daredevil selbst ernannter »guardian devil« (01:32:38) seines Viertels.

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möglicht hat, dient dabei meist als Anstoß, die gewählte Identität zu hinterfragen. Namentlich in Form des außerirdischen Symbionten im dritten Teil zwingt es Peter dazu, eine andere Schattierung seiner Identität auszuprobieren, wobei Peter schließlich, wenn auch in einem Kraftakt, die etablierte Doppelidentität bestätigt. Abschließend sei ein kurzer Blick auf die Superschurken der Spider-Man-Filme geworfen, denn in Bezug auf die Wahlmöglichkeit zwischen den Identitäten ergibt sich ein wichtiger Unterschied zu den Superhelden. Wie erwähnt, verfügen Superschurken über vergleichbare Origin Storys wie die Helden (oft erhalten sie ebenfalls durch einen Unfall in wissenschaftlichem Umfeld Superkräfte). Doch haben sowohl Norman Osborn alias Green Goblin19 als auch Otto Octavius alias Doctor Octopus keine Wahl, wann sie was (respektive wer) sind, da es der Wahnsinn ist, der ihre Sinne vernebelt. In gewissem Sinn gilt das auch für Venom und Sandman in Spider-Man 3: Da Venom von dem außerirdischen Symbionten in Besitz genommen wurde, ist nicht klar, wie frei er seine Entscheidungen trifft. Der Sandman könnte theoretisch zwar wählen, da er bei Verstand ist. Doch weil ihm, dem Kriminellen, eine Rückkehr zu seiner Familie verwehrt wird, verfügt er nicht wirklich über eine zivile Identität, in die er sich zurückziehen könnte. Harry Osborn als New Green Goblin in Spider-Man 3 ist der einzige Superschurke, der in diesem Punkt eine Wahl hat, die auch eine ist; er trifft zuerst die falsche, korrigiert sie aber und darf bzw. muss schließlich den Heldentod sterben. Die Doppelidentität von Spider-Man, Daredevil und Iron Man (soweit sich das für letzteren filmischen Spezialfall bestimmen lässt) zeichnet sich dagegen in den hier betrachteten Filmen dadurch aus, dass frei zwischen zwei durchaus kontrastreichen, äußerlich getrennten Identitäten hin- und hergewechselt werden kann. Die Doppelidentität vereinigt also ständigen Wechsel auf der einen Seite und Konstanz auf der andern Seite; denn falls sie einmal etabliert ist, bleibt die Doppelidentität als solche letztlich (bei Filmende) stets intakt, was außertextuell im seriellen Charakter dieser Heldenreihen begründet ist.

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19 | Laut Flanagan, der sich auf den Green Goblin in Spider-Man bezieht, macht dieser Umstand deutlich, dass die emotionale Reife, mit der die Rolle eines Helden zu erfüllen sei, nicht von der physischen Veränderung durch den Erhalt der Kräfte abhängig ist (156). Zur ›gespaltenen Identität‹ des Green Goblin vgl. Meyer.

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III. Historiographie

Einführung Lukas Etter

Das Stichwort Historiographie ist für Superheldengeschichten mindestens in zweierlei Hinsicht interessant. Erstens betreiben diese mitunter eine alternative Historiographie, die sich trotz ihrer fiktionalen Elemente auch mannigfaltig mit lebensweltlichen Ereignissen überschneidet. Zweitens üben sich Leserinnen und Fans in einer Art Historiographie, indem sie etwa rare Hefte und anderweitige medienspezifische Devotionalien austauschen, indem sie in Online-Diskussionen Präzisierungen vornehmen oder indem sie die Geschichten bestimmter Verlage, Figuren oder Œuvres nachzeichnen. Vielleicht spiegelt sich hier die Schwierigkeit wider, in der populären Serialität scharf zwischen Produktion und Rezeption zu unterscheiden:1 Auch die beiden Formen der Historiographie sind eng miteinander verzahnt. Das hängt nicht zuletzt mit den vielen selbstreflexiven Momenten, mit den Reboots, dem Branding und den Franchises zusammen: Es ist schwierig, sich nur für die Plot-Entwicklung einer Serie über die Jahre hinweg zu interessieren, ohne dabei auch die Geschichte der Medienhäuser und der Copyrights der jeweiligen Figuren zu streifen. Und umgekehrt ist z.B. auch eine Verlagsgeschichte stets an ihre Produkte – und damit die Plots der Medienerzeugnisse – gebunden, insbesondere da schlechte oder auch besonders gute Verkaufszahlen den weiteren Plot verändern können. Die Sektion III ist dem Thema der Historiographie in Bezug auf Superhelden gewidmet, wobei die intertextuellen Vorläufer in groben Zügen die Chronologie der Sektion vorgeben. III.1 Jens Meinrenken widmet sich jüdischen Erzählungen z.B. aus der Thora, die Einfluss auf die Superheldencomics ausgeübt haben. In seinem Beitrag, einem Katalogtext, der hier in überarbeiteter Form vorliegt und durch einen Abschnitt zur Golem-Figur ergänzt wurde, setzt Meinrenken zwar dort an, wo Superhelden-Geschichtsschreibung sehr oft ansetzt, nämlich bei Action Comics #1 aus dem Jahr 1938. Unmittelbar danach aber nimmt Meinrenken die Leserschaft mit auf weniger bekannte Pfade, etwa indem er die Vorgeschichte zu besagtem Cover anspricht oder indem er den ersten Darstellungen der Gräuel der nationalsozialistischen Judenverfolgung nachspürt. Dabei streift der Autor einerseits Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert, wie etwa Frederick Burr Oppers und Joseph Kepplers politischen Cartoon »The Modern Moses« aus dem PuckMagazine, der die Vereinigten Staaten als Anlaufstelle für europäische Juden thematisierte. Die meisten Beispiele aber beziehen sich auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Nach1 | Vgl. Daniel Stein: »Superhero Comics and the Authorizing Functions of the Comic Book Paratext«, in: Ders./Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative. Berlin 2013, S. 155-189.

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III. Historiographie kriegszeit. Meinrenken geht unter anderem explizit darauf ein, welche Rolle die Superhelden in der Nazipropaganda und auch der US-amerikanischen Kriegspropaganda spielten – etwa indem er erläutert, mit welchen antisemitischen Texten die Nazi-Propaganda auf die Popularität Supermans ›reagierte‹. Und nicht zuletzt erwähnt Meinrenken das riesige Feld von Parodie und Pastiche, die das Superheldengenre stets begleitet haben. Im Medium des Comics sind die Beispiele Legion; 2 in den Bereichen von Radio, Videogames, Spielzeugen und Film sind sie nicht weniger zahlreich. 3 Oft werden ›jüdische‹ Eigenschaften in der Forschung auch auf undifferenzierte und essenzialistische Weise in die Superheldenfiguren und ihre Schöpfer hineinprojiziert; ohne eine genaue Aufschlüsselung dessen, was in den Analysen jeweils als ›jüdisch‹ verstanden wird, und ohne historische Kontextualisierungen kann ein solches Verfahren auch als heikel gewertet werden. Auf diese Problematik macht etwa eine jüngst erschienene – und in Meinrenkens Text ebenfalls referierte – Monographie von Martin Lund aufmerksam. 4 III.2 Auch Thierry Groensteen und Harry Morgan interessieren sich in ihrem Lemma »Super-héros« des Online-Wörterbuchs Dictionnaire esthétique et thématique de la bande dessinée unter anderem für die Vorgeschichte der Superhelden vor 1938. Sie liefern einen Überblick über die Epochen des Superhelden-Genres und knüpfen dabei mannigfaltigste Verbindungen zu älteren Narrativen. Einige Beispiele decken sich mit den Vorläufertexten in Sektion I dieses Readers, aber die Autoren etablieren gleichzeitig auch Bezüge zum 20. Jahrhundert – etwa zur frühen Genreliteratur, zu den Groschenromanen oder Science-Fiction-Comics. Geographische Diversifizierung erreichen die Autoren durch Verweise auf späte französische Formen des Superheldentums, beispielsweise aus der Feder von Jean-Yves Mitton alias John Milton, vor allem aber auch den Hinweis auf Japan als Herkunftsland der Helden: Sie weisen auf eine japanisch geprägte Historiographie hin, wonach mit der Figur der goldenen Fledermaus von Ichiro Suzuki bereits 1931 ein Vorläufer des Genres das Licht der Welt bzw. der Medien erblickt hat. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es ein Lexikoneintrag ist, der auf die internationale und interkulturelle Vernetztheit der nordamerikanischen Superheldenfiguren hinweist. Des Öfteren fördert gerade das Ansammeln von synoptischem und verdichtetem Wissen unerwartete Verbindungen und neue Definitionsansätze. Während der westeuropäische Diskurs den Blick oftmals ausschließlich auf den US-amerikanischen Kontext gerichtet hat, haben angelsächsische Enzyklopädien z.B. auch den französischen Astérix als Superhelden gewertet – so etwa Jeff Rovins Encyclopedia of Superheroes von 1985: 5 Die Figur des Galliers fand dort Aufnahme mit dem schlichten Hinweis, dass sie einen Superhelden ohne Alter Ego repräsentiere. 6 Verdichtete Online-Diskussionen, Internet-Listen und Web-Museen haben ähnliche Funktionen in der Historiographie. Sie können die Musealisierung fördern, erwartbare Kano2 | Nebst den von Meinrenken genannten und für seinen Fokus auf das Jüdische relevanten Beispielen finden sich derer viele in einer Monographie von Thierry Groensteen: Parodies. La bande dessinée au second degré. Paris 2010, besonders S. 70-91. 3 | Als eines der jüngsten Beispiele sei The Lego Batman Movie (USA 2017, R: Chris McKay) genannt. 4 | Martin Lund: Re-Constructing the Man of Steel. Superman 1938-1941, Jewish American History, and the Invention of the Jewish—Comics Connection. Cham 2016, z.B. S. 7-11. 5 | Jeff Rovin (Hg.): The Encyclopedia of Superheroes. New York/Oxford 1985, hier u.a. S. 385-390. 6 | Oftmals vermischt sich in dieser Perspektive die außeramerikanische Herkunft der fiktionalen Welt mit derjenigen des Comics oder deren Schöpfer; vgl. etwa auch die Liste von

Etter: Einführung nisierungsprozesse vorantreiben, der genrespezifischen »Archäologie« 7 dienen. Sie können aber auch, mit der für Geschichtsschreibung üblichen zeitlichen Verzögerung, auf weniger kanonische Projekte aufmerksam machen, wie etwa das Black Superhero Museum.8 III.3 Die europäische Rezeption US-amerikanischer Superheldenprodukte interessiert insbesondere auch Georg Seeßlen, der im vorliegenden Kapitel von Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹ unter anderem auf Superheldendarstellungen im politischen Kontext des europäischen Postfaschismus eingeht. Zum Kontext: In vorangehenden Abschnitten des Kapitels (Titel: »Der Faschismus im Reich des Normalen«) spürt Seeßlen anderen Beispielen nach, etwa einer rechtsextremen »Umdichtung« von Astérix aus der Mitte der 1960er Jahre, die später von den Astérix-Schöpfern entdeckt und unterbunden wurde. Im hier vorliegenden Abschnitt geht es um zeitlich darauf folgende Ereignisse, nämlich das Auftreten der Figur Hitlers in Comics und in der Populärkultur allgemein. In den USA kurz vor dem Jahr 1970, also der Zeit von Silver-Age-Figuren wie Thor – oder des Mächtigen Thor, wie ihn die MarvelTitelblätter ankündigten – treten Comic-Figuren namens Hitler wiederholt als Gegenspieler auf. In den deutschen Verlagshäusern tat man sich erwartungsgemäß schwer mit der Verbindung des Themas und dem Medium des Comics; und selbst ein wohlmeinender Versuch lief Gefahr, »der faschistischen Inszenierung auf den Leim zu gehen«, wie Seeßlen mit einem Fallbeispiel argumentiert. In der Monographie Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹ als solcher zeigt Seeßlen ästhetische, aber auch handfest personelle Kontinuitäten auf zwischen der populären Kultur der Nazizeit und derjenigen im Nachkriegsdeutschland. Die zunehmend von US-amerikanischen Produkten geprägte popular culture sieht er politisch als eine Art Bindeglied zwischen einer volkstümelnden Populärkultur einerseits und einer aufkeimenden gesellschaftskritischen Linken andererseits. Dabei lässt sich in der US-amerikanisch geprägten, aber danach zunehmend auch in Europa produzierten popular culture viel von der Ästhetik des Faschismus wiederfinden: Nicht nur im Antimodernen und Antielitären, sondern auch in einem ganzen Katalog anderer Charakteristika (die Suche nach ›ewig‹ überdauernden Erzähltypen; überhöhte Männlichkeitsbilder; die Konstruktion eines oft geradezu messianisch begründeten Helden oder gar ›Führers‹, und so weiter, und so fort). Zwar, so räumt Seeßlen ein, ist die Sache komplexer als die Metapher einer bloßen Parallelführung von populärer Kultur und Ästhetik des Faschismus suggeriert, schon nur deshalb, weil die Populärkultur dynamisch ist und deren Rezipienten ihre Inhalte direkt und subtil mitgestalten. Doch die formalen Ähnlichkeiten zwischen den für das »Gute« – also etwa freedom and democracy – kämpfenden Pop-Helden einerseits und faschistischer Ästhetik andererseits waren und sind dem Autor zufolge frappant; entsprechend sollten sie nicht unreflektiert bleiben. Damit steht das Buch im größeren Kontext der Schriften Seeßlens – eines Autors, der sich auch anderswo (etwa in Filmkritiken zu aktuellen Superheldenfilmen) wiederholt mit dem auseinandersetzte, was er als »Riefenstahlisierung, Brekerisierung, Speerisierung des Popcorn-Universums« wahr-

»International Heroes« (281-284) in Gina Misiroglu: The Superhero Book. The Ultimate Encyclopedia of Comic-Book Icons and Hollywood Heroes. Detroit 2004. 7 | Vgl. Karin Kukkonen: »Warren Ellis’s Planetary. The Archeology of Superheros«, in: Joyce Goggins/Dan Hassler-Forrest (Hg.): The Rise and Reason of Comics and Graphic Novels. Jefferson 2010, S. 154-167. 8 | Vgl. Omar Bilal: »The Museum of Black Superheroes«, in: Damian Duffy/John Jennings (Hg.): Black Comix. Brooklyn 2010, S. 164-165.

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III. Historiographie nimmt; ein Phänomen, das er zwar kritisch und explizit, aber trotzdem nicht ohne Humor unter die Lupe nimmt. 9 III.4 Das bereits erwähnte sprichwörtlich enzyklopädische Wissen der Superheldenfans interessierte auch den Comickünstler Will Eisner (1917-2005), und damit in jüngeren Jahren auch Ray Pettibon, der sich im hier in zwei Auszügen wiedergegebenen Text Eisner und dessen Bezug zu den Superhelden widmet. Nach Meinrenkens Katalogtext, Groensteens und Morgans Lexikoneintrag sowie Seeßlens Essay sind Pettibons Zeilen die stilistisch eigenwilligsten in dieser Sektion. Pettibon ist bekannt als zeitgenössischer bildender Künstler, der in seinen aquarellartigen und jeweils sehr dicht gehängten Bildern fast immer mit der Verbindung von Text und Bild spielt und dabei zuweilen auch Superheldenfiguren miteinbezieht.10 Dieser für eine Comics-Ausstellung zusammengestellte Text handelt von Eisners Werk und den USA unter George W. Bush. Davon abgesehen lässt er in seiner Gesamtheit keine klare Logik erkennen. Pettibon löst nicht auf, ob es sich um eine Liste von Fragen handelt, die er sich im Vorfeld der Ausstellung Masters of American Comics stellt, oder ob auch Zitate und Anleihen aus anderen Kontexten dabei sind. Zu seinen Themen gehört jedenfalls die bereits von Eisner aufgeworfene Frage nach der Literarizität von Comics bzw. graphic novels und damit die Frage, wie legitim oder sinnvoll es ist, Comics und Superheldenprodukte zu Museumsgegenständen zu machen. Damit begibt sich Pettibon auf eine Meta-Ebene, da er implizit diese konkrete – durchaus kontrovers rezipierte11 – Ausstellung mitverhandelt. »Und was ist mit Ebony?«, heißt es an anderer Stelle im vorliegenden Abschnitt, was Eisner-Kennerinnen und -Kenner als Anspielung auf die problematische Darstellung des afroamerikanischen Sidekicks von Eisners Figur The Spirit verstehen. Gleichzeitig fragt man sich unweigerlich, wer diese erste Frage überhaupt gestellt hat und wie sie in Verbindung mit den anderen Gedankenfetzen steht. An Diskussionen über die Autorschaft und die Urheberrechte an Superheldenfiguren (ein Thema, bei dem Eisner von den Autoren früher und klassischer Superheldengeschichten abgegrenzt wird) lässt sich erkennen, dass Pettibon nicht nur visuell-stilistisch mit dem späten Will Eisner viel gemein hat (man denke an die ganzseitigen, am Rand ›ausfransenden‹ Zeichnungen, die markante Schraffur und den Einbezug von Text ins Bild), sondern auch dessen Hang zur Gesellschaftsanalyse übernimmt: Mit den auch sonst im Text verteilten Wortspielereien und Doppeldeutigkeiten (etwa in der Schlusspassage das fehlende »man-date« als mögliche Anspielung auf homophobe Politik unter den US-amerikanischen sogenannten »neo-cons«) bedient er sich der Superheldenmetapher wiederholt, um seine Kritik an der Politik George W. Bushs und dem Zustand der Gesellschaft auszudrücken.

9 | Georg Seeßlen: Die Verachtung der Massen, Tages-Anzeiger 24. Juni 2013, S. 21. 10 | Vgl. Lukas Etter/Gabriele Rippl: »›Don’t laugh – this ain’t the funny pages‹. Comics und bildende Kunst (Alain Séchas, Raymond Pettibon)«, in: Guido Isekenmeier (Hg.): Interpiktorialität. Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge. Bielefeld 2013, S. 261-278. 11 | Vgl. Alisia G. Chase: »›Draws Like A Girl‹: The Necessities of Old-School Feminist Interventions in the World of Comics and Graphic Novels«, in: Alexandra M. Kokoli (Hg.): Feminism Reframed. Reflections on Art and Difference, Newcastle upon Tyne 2009, S. 61-83.

Eine jüdische Geschichte der Superheldencomics* Jens Meinrenken

E ine F r age der I dentität. D ie E ntstehung von S uperman Das Erscheinen von Superman im Juni 1938 sollte die Comicwelt für immer verändern. »Action Comics Nr. 1« gilt nicht nur als Meilenstein des Superheldengenres, es ist auch das erste Heft, das die übermenschlichen Fähigkeiten der Hauptfigur mit aller Deutlichkeit ins Bild setzt (Abb. 1). So zeigt das Cover einen unglaublichen Kraftakt, der auf den damaligen Leser eine geradezu elektrisierende Wirkung gehabt haben muss: Scheinbar mühelos wuchtet Superman ein Auto in die Höhe und lässt es wie eine Nussschale an einem Felsen zerschellen. Der Furor der gesamten Darstellung spiegelt sich in zahlreichen Details wieder. Der Himmel strahlt rot und gelb in den Farben einer feurigen Explosion und die ehemaligen Insassen des Wagens fliehen vom Schrecken gezeichnet an den Rand des Bildes. Im Zentrum erhebt sich Superman, der im Vergleich zu seiner Last deutlich kleiner gestaltet ist. Sein Körper streckt sich in einer lang gedehnten SForm nach oben, durch die Bewegung wird der Buchstabe auf seiner Brust zu einem anschaulichen, lebendigen Symbol für die Einzigartigkeit dieser Comicfigur.1 * Meinrenken, Jens: »Eine jüdische Geschichte der Superhelden-Comics.« In: Margret Kampmeyer-Käding und Cilly Kugelmann (Hg.): Helden, Freaks und Superrabbis. Die jüdische Farbe des Comics. Berlin: Jüdisches Museum Berlin 2010. S. 26-38. Ich danke dem Jüdischen Museum Berlin und namentlich Margret Kampmeyer und Cilly Kugelmann für die Erlaubnis zum Wiederabdruck des Katalogtextes in leicht ergänzter Form. 1 | Dementsprechend ließe sich das »S« auf der Brust von Superman nicht nur als Abkürzung für seinen Namen lesen, sondern auch als ein Hinweis auf das englische Wort »Strength« für Kraft und Stärke. Auf die Tradition der »Flying Men« und »Strongmen« aus der Welt des Zirkus und Jahrmarkts sei in diesem Zusammenhang nur am Rande verwiesen. Bereits am 16. November 1902 erschien in der Chicago Tribune der Zeitungsstrip »Hugo Hercules misses the football, but–«, der als ein möglicher Vorläufer für das Cover von »Action Comics Nr. 1« gewertet werden kann. Hier ist es ein ganzes Haus, das Hugo Hercules mit einem Schuss in die Luft wirbelt und schließlich wieder mit beiden Händen auffängt. Siehe: Peter Maresca (Hg.): Society Is Nix: Gleeful Anarchy at the Dawn of the American Comic Strip 1895-1915. Palo Alto CA: Sunday Press Books 2013, S. 80.

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III. Historiographie

Abbildung 1: Action Comics, Nr. 1 (Juni 1938), Titelseite von Jerry Siegel und Joe Shuster

Meinrenken: Eine jüdische Geschichte der Superheldencomics

Das Fremde, das Andersartige und das Besondere: Sie prägen Supermans Persönlichkeit von Beginn an. Die doppelte Identität als biederer Zeitungsreporter Clark Kent und beinah unbesiegbarer Superheld vom fremden Planeten Krypton hat die wissenschaftliche Diskussion um die eigentliche Bedeutung dieser Doppelgängerkonstruktion immer wieder neu beflügelt. Autoren wie Jules Feiffer, Danny Fingeroth oder Arie Kaplan haben in den letzten Jahren zunehmend auf die jüdischen Wurzeln von Superman und seinen Nachfolgern hingewiesen, ohne jedoch zu leugnen, dass es darüber hinaus eine Vielzahl von unterschiedlichen religiösen und mythologischen Einflüssen gibt, die von seinen beiden Schöpfern Jerry Siegel und Joe Shuster zu einem neuen Heldentypus verdichtet worden sind.2 Die Anfänge von Superman reichen bis in die erste Hälfte der 1930er Jahre zurück. Siegel und Shuster konzipierten ihn zunächst als einen telepathischen Bösewicht, der über der Skyline einer futuristischen Großstadt wacht. Erst in der zweiten Version zeigen sie ihn – noch ohne Kostüm – als muskulösen Helden, der gegen das Verbrechen kämpft.3 Die Anleihen an die Stummfilme von Fritz Lang und Friedrich Murnau sind in beiden Geschichten kaum zu übersehen. Vor allem das Motiv der Metropole sollte fortan zum elementaren Bestandteil des Superhelden-Genres werden. Neben der Begeisterung für Science-Fiction und utopische Stadtvisionen offenbaren die ersten Comics von Siegel und Shuster einen starken Hang zum Dämonischen und Okkulten. Unter dem Titel »Dr. Mystic« veröffentlichen die beiden in der ersten Ausgabe des »Comics Magazine« vom Mai 1936 eine zweiseitige Story, die trotz eines anderen Plots bereits viele Elemente der späteren Darstellung Supermans enthält.4 So können die beiden Hauptfiguren Dr. Mystic und Zator fliegen und sich sogar schneller als das Licht bewegen; auch trägt Letzterer bereits das typische Outfit von Superhelden, während das Gesicht von Ersterem demjenigen Supermans frappierend ähnelt. Auffallend an dieser Geschichte sind die exotisch klingenden Namen der Figuren wie Zator oder Koth und der Wechsel des Schauplatzes von der Großstadt ins Jenseits, in der verschiedene Dämonen die beiden Eindringlinge attackieren.5 Der Wunsch, einen Helden mit übermenschlichen Fähigkeiten zu kreieren, verbindet sich in »Dr. Mystic« mit mystischen und 2 | Danny Fingeroth: Jews, Comics, and the Creation of the Superhero. New York: Continuum 2007; Jules Feiffer: The Minsk Theory of Krypton, in: The New York Times Magazine, 29. Dezember 1996, S. 14-15; Arie Kaplan: From Krakow to Krypton. Jews and Comic Books. Philadelphia: The Jewish Publication Society 2008. Zum aktuellen Stand der Diskussion um die jüdische Identität Supermans vgl. Martin Lund: Re-Constructing the Man of Steel. Superman 1938-1941, Jewish American History, and the Invention of the Jewish–Comics Connection. Cham: Palgrave Macmillan 2016. 3 | Beide Versionen sind abgebildet in Les Daniels: DC Comics. Sixty Years of the World’s Favorite Comic Book Heroes. London: Bullfinch Press 1995, S. 21. 4 | Greg Sadowski (Hg.): Supermen! The First Wave of Comic Book Heroes 1936-1941. Seattle: Fantagraphics Books 2009, S. 12-13. 5 | Ob hier Jerry Siegel, dessen Eltern aus Litauen nach Amerika immigriert sind, den Namen vom ehemaligen Herzogtum Zator entliehen hat, das 1445 durch die Teilung des Herzogtums Auschwitz entstanden ist, kann vorerst nur vermutet werden. In diesem Zusammenhang ist auch auf das historische Wappen des Herzogtums Zator hinzuweisen, das ein goldenes Z auf der Brust eines Adlers zeigt und damit eine mögliche Inspiration für das rote S auf der Brust von Superman darstellt.

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III. Historiographie

magischen Elementen, die von Siegel und Shuster bis ins Übernatürliche und Esoterische gesteigert werden. Dagegen wird die Herkunftsgeschichte von Superman, deren Kurzfassung in »Action Comics Nr. 1« abgedruckt ist, zunächst stark rationalisiert und mit wissenschaftlichen Erklärungen versehen. So werden dort Supermans Fähigkeiten, Objekte von enormem Gewicht in die Luft zu heben und ganze Häuserblöcke mit einem einzigen Sprung zu überqueren, äquivalente Leistungen aus dem Insektenreich gegenübergestellt. Einen möglichen Anreiz für diesen Vergleich liefern die Trickbilder F. D. Conards, der – angeregt durch eine Heuschreckenplage in Kansas – ab 1935 fotografische Postkarten herstellte, auf denen zum Beispiel ein ins Gigantische vergrößerter Grashüpfer eine Lokomotive mit seinen bloßen Vorderbeinen zum Stehen bringt.6 In der Folgezeit ist die sogenannte »Origin Story« von Superman immer wieder neu variiert und modifiziert worden.7 Zum Kernbestand der Erzählung gehört das Bild des explodierenden Planeten Krypton und das Raumschiff, mit dem Superman als Neugeborenes von seinem Vater zur Erde gesendet wird. Auf einem Acker entdeckt ihn das Ehepaar Kent. Sie bringen das kleine Baby in ein Waisenhaus, später werden sie es adoptieren und aufziehen. In dieser längeren Fassung aus dem Comic-Heft »Superman Nr. 1« vom Sommer 1939 findet sich eine knappe inhaltliche Begründung für die doppelte Identität Supermans: Es sind seine beiden Zieheltern, die dem noch jungen Knaben raten, seine Kräfte zu verbergen, um die Menschen nicht zu verängstigen, und erst wenn die Zeit reif ist, diese in den Dienst der Menschheit zu stellen. Zum zehnjährigen Jubiläum der Serie erscheint im Sommer 1948 eine ausführliche Schilderung der Herkunft Supermans, die auf dem Cover als Titelgeschichte angekündigt wird und das tödliche Schicksal seiner leiblichen Eltern Jor-El und Lara auf mehreren Seiten porträtiert.8 Die alttestamentarischen und mosaischen Bezüge werden in dieser Darstellung durch moderne Katastrophenszenarien ergänzt: Jor-El warnt den Rat der Weisen, dass der Kern von Krypton aus reinem Uran besteht und der Planet jeden Moment wie eine gigantische Atombombe explodieren kann. Die einzige Rettung wäre die Migration der gesamten Bevölkerung zur Erde, doch Jor-Els Vorschlag wird als eine wissenschaftliche Fantasterei abgelehnt. Superman überlebt als einziger Nachfahre den prophezeiten Untergang seines Heimatplaneten. In Analogie zur Deutung der Sintflut im Neuen Testament kann man diese apokalyptische Inszenierung als Hinweis auf die plötzliche Ankunft eines göttlichen Heilbringers lesen, der vom 6 | Siehe: Ute Eskildsen (Hg.): Nützlich, süß und museal. Das fotografierte Tier. Ausstellungskatalog. Essen: Steidl 2005, S. 214. 7 | Eine Klassifizierung und vergleichende Analyse der verschiedenen Origin Stories findet sich bei Thomas Hausmanninger: Superman. Eine Comicserie und ihr Ethos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 60-70. 8 | Siehe »The Origin Of Superman«, in: Superman Comics Nr. 53, July/August 1948. Eine ausführliche Präsentation des Schicksals von Jor-El und Lara findet sich in den ersten zwölf, schwarzweißen Zeitungsstrips von Superman, die in täglicher Folge vom 16. bis zum 28. Januar 1939 erschienen sind, siehe: Superman. The Dailies. Strips 1-966, 1939-1942. New York: Sterling Publishing Co. Inc. 2006, S. 12-18. Eine weitere Variante der Herkunft Supermans ist auf den ersten beiden farbigen Sonntagsseiten aus demselben Jahr abgebildet: Superman. The Sunday Classics. Strips 1-183, 1939-1943. New York: Sterling Publishing Co. Inc. 2006, S. 2f.

Meinrenken: Eine jüdische Geschichte der Superheldencomics

Himmel auf die Erde niederkommt. Diese biblische Sichtweise wird durch Supermans kryptonischen Namen Kal-El gestützt, der sich aus dem Hebräischen mit »Stimme Gottes« übersetzen lässt.9 Superman, der schon in der ersten »Origin Story« als Verteidiger und Fürsprecher der Unterdrückten bezeichnet wird, ist Alien und Salvator in einer Person. Sein Sinn für Gerechtigkeit und die Präsenz seiner Erscheinung erhalten durch den Rückgriff auf biblische Figuren wie Moses, Samson und Jesus Christus eine theologische und sozialkritische Dimension,10 die auch die Parodie des SupermanMythos mit einschließt: »What if Superman were raised by Jewish parents?«, fragt das »MAD«-Magazin ironisch in seiner 325. Ausgabe vom Februar 1994. Die Antwort ist in Bild und Text fixiert. Statt eines Umhangs trägt er den Gebetsmantel der Juden, das S auf der Brust wird von einem Davidstern gerahmt und der Kopf ist mit einer Kippa bedeckt. Die doppelseitige Zeichnung des New Yorker Cartoonisten Mort Drucker nach dem Muster eines Starschnitts steckt voller Anspielungen auf jüdische Sitten und Gebräuche, zugleich wird in fingierten Tagebucheinträgen die Gottgleichheit Supermans parodistisch unterwandert und an der Realität eines Normalsterblichen gemessen. Ein Detail offenbart die tiefere Dialektik dieses Gedankenwitzes: Supermans bürgerlicher Vorname lautet hier Herman – ein Name, der aus dem Althochdeutschen stammt und so viel wie Krieger oder Kämpfer bedeutet. Dass dieser Name ebenfalls mitten in die (Comic-)Geschichte des Nationalsozialismus zielt, zeigen zwei weitere Beispiele. In »Superman Nr. 20« vom Januar/Februar 1943 trifft der Stählerne auf »Herman The Heroic«, der sich optisch und physisch kaum von Ersterem unterscheidet und doch dessen totales Gegenteil darstellt. In »Overseas Comics Nr. 43« von 1945 wird das karikierende Spiel mit der doppelten Identität Supermans und der Existenz vermeintlicher Doppelgänger bis zur Travestie getrieben.11 Superman folgt einer Einladung Adolf Hitlers, worauf Hermann Göring, Joseph Goebbels, der Führer und Joachim von Ribbentrop als Quartett in nachgeschneiderten Superman-Kostümen auftreten. Doch Hitlers Idee »Superman for der Supermen« scheitert an der ethischen Differenz. Es sind eben nicht – wie die Nazis betont haben – allein Supermans Muskeln, sondern ebenso dessen Vernunft und Verstand, die ihn als besonders charakterstark auszeichnen.12

9 | Simcha Weinstein: Up, Up, and Oy Vey! How Jewish History, Culture and Values Shaped the Comic Book Superhero. Baltimore: Barricade Books 2006, S. 27. Zur unterschiedlichen Schreibweise des Namens vgl. Hausmanninger 1989, S. 64. 10 | Supermans Sinn für Gerechtigkeit zeigt sich bereits in der ersten Nummer von Action Comics. Superman rettet eine unschuldige Frau vor dem Tod auf dem elektrischen Stuhl. Am Ende der Story bringt er einen Gangster auf den Drähten einer Telefonleitung vor das Kapitol in Washington, der panische Angst hat, dabei von Stromschlägen getötet zu werden. Beide Szenen setzen sich mit der Fehlbarkeit richterlicher Urteile und der Tötung durch den elektrischen Stuhl kritisch auseinander. 11 | Andreas Platthaus: Die 101 wichtigsten Fragen. Comics und Mangas. München: C.H. Beck 2008, S. 56-58. 12 | Vgl. dazu den Aufsatz von Ralf Palandt: »Blühender Blödsinn« an der Propagandafront, in: Eckart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2006, Hildesheim: Comicplus+ 2005, S. 83-91.

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Patriotismus und H olocaust. S uperhelden während des Z weiten W eltkriegs Basierend auf dem Prototyp Supermans entsteht in dessen Nachfolge ein unüberschaubares Heer amerikanischer Superhelden, die nicht nur das Motiv der doppelten Identität aufgreifen, sondern sich auch im Medium des Comics aktiv am Kampf gegen Hitler beteiligen. Noch vor dem offiziellen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten nach dem japanischen Luftangriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 sind es Superhelden, die den Krieg für sich entscheiden.13 Das bekannteste Beispiel hierfür ist die zweiseitige Superman-Story aus dem »Look«-Magazin vom 27. Februar 1940 unter dem Titel »How Superman Would End the War« (Abb. 2): Superman durchbricht den Westwall, greift sich Hitler und Stalin, um die beiden der Gerichtsbarkeit des Völkerbundes in Genf zu übergeben. Abbildung 2: Look, 27. Februar 1940, »How Superman Would End the War« von Jerry Siegel und Joe Shuster

Überraschend an dieser Episode ist die Eindeutigkeit, mit der Siegel und Shuster Supermans Status reflektieren und damit deutlich die nationalsozialistische Rassenideologie thematisieren: »I’d like to land a strictly non-Aryan sock on your jaw, but there’s no time for that!« –“Ich würde Ihnen gerne einen streng nicht-arischen Kinnschlag verpassen, aber dafür ist keine Zeit!«, sagt er zu Hitler. Kollegen des Stählernen sind da weniger zimperlich. Die Palette an körperlichen Auseinandersetzungen mit Nazis im Comic reicht von handfesten Prügeleien bis zum gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler. Einer der wohl prominentesten und schlagkräftigsten Helden aus der Ära des Zweiten Weltkriegs ist Captain America. Im März 1941

13 | Vgl.: Daniels, S. 64-65; Palandt, S. 83-85.

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erschien die erste Ausgabe dieser Serie bei Timely, aus dem später mit Marvel der bekannteste Comic-Verlag für Superhelden neben DC hervorgehen sollte (Abb. 3). Abbildung 3: Captain America, Nr. 1 (März 1941), Titelseite von Jack Kirby und Joe Simon

Das Cover ist in seiner ikonischen und dynamischen Bildsprache kaum zu übertreffen. Zum einen wird die patriotische Gesinnung der Hauptfigur durch den Bezug auf das Sternenbanner der amerikanischen Flagge deutlich visualisiert. Zum

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anderen enthält die dargestellte Szene dramatische Details, mit der die akute Bedrohung der Nazis für das eigene Volk belegt werden soll. Im Rücken Hitlers liegen auf dem Tisch eine Karte von Nordamerika und ein geheimes Dokument mit Sabotageplänen für die USA. Das mögliche Ziel dieser Anschläge zeigt der riesige Fernsehbildschirm im Hintergrund des Raumes. Mit einem gewaltigen Knall wird dort eine US-Munitionsfabrik in die Luft gejagt. Die Faustattacke von Captain America gegen Hitler und die Explosion entladen sich gleichzeitig im Moment der höchsten Spannung. Joe Simon und Jack Kirby, die beiden Erfinder dieser Comic-Serie, beweisen hier großes Gespür für ein actionreiches Bilderkino, ein Prinzip, dessen filmische und dramaturgische Effekte weit über den Comic hinausweisen und das doch das Layout der Seiten bis in die Gestaltung einzelner Panels bestimmt. Man könnte von einer Ästhetik der Überzeichnung und stilistischen Akzentuierung sprechen, die sich unter anderem im Charakterdesign der Figuren widerspiegelt. So gleichen Körperbau und Kleidung von Red Skull, dem berüchtigten Erzfeind von Captain America, exakt dem stereotypischen Ideal des sogenannten Herrenmenschen, wie er damals in der antisemitischen Wochenzeitung »Der Stürmer« abgebildet wurde.14 Gleichzeitig ist die Totenschädelmaske auf Red Skulls Kopf eine Reminiszenz an die dadaistischen Fotomontagen eines Erwin Blumenfeld und John Heartfield.15 Sie verdichtet die Vieldeutigkeit der mit den Mitteln der Überblendung und Doppelbelichtung verfremdeten Physiognomien von Hitler und Mussolini als Totenköpfe zu einer prägnanten und plakativen Bildformel. Das Gesicht des Faschismus findet in der Gestalt des Red Skull eine widersprüchliche Konnotation, die den oftmals eigentümlichen Umgang von Comics mit Stereotypen und heroischen Figuren beispielhaft darlegt.16 Auch wenn im Einzelfall sogar versucht wird, zwischen guten und bösen Deutschen zu unterscheiden, so steht das Interesse für eine möglichst dramatische und grausame Darstellung der nationalsozialistischen Gräueltaten in den Captain America-Comics an erster Stelle. Elemente des Horrors, der später in den Comics des EC-Verlags eine ganze Reihe eigenständiger Serien füllen sollte, erschaffen ein Szenarium des Schreckens, dessen motivisches Repertoire die Tradition der Kerker- und Folterbilder aus den Bereichen der Kunst und der Pulp-Literatur fortführt. Ein außergewöhnliches Beispiel für die direkte Verknüpfung dieser Bildwelten mit dem Völkermord an den Juden in den deutschen Konzentrationslagern ist das Comicheft »Daredevil Battles Hitler Nr. 1« vom Juli 1941 (Abb. 4).17 Auf dem Cover prangt unter der Titelzeile eine fotomechanische Reproduktion des Kopfes von Adolf Hitler, dessen gezeichneter Oberkörper mit den erhobenen Händen noch 14 | Vgl. Palandt, S. 85. 15 | Vgl. hierzu die Abbildungen von Blumenfeld und Heartfield in Helen Adkins: Erwin Blumenfeld – In Wahrheit war ich nur Berliner. Dada­M ontagen 1916-1933. Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 154-161. 16 | Detaillierte Analysen dieses Themenkomplexes bei Robert G. Weiner (Hg.): Captain America and the Struggle of the Superhero. Critical Essays. North Carolina: McFarland 2009. 17 | Wiederabgedruckt in Israel Escamilla (Hg.): Daredevil Battles Hitler. The Original Dare­ devil Archives, Vol. I. Milwaukie: Dark Horse Archives 2013 (5. Edition). Eine anekdotische Schilderung zur Entstehungsgeschichte dieses Comicheftes findet sich bei Gerard Jones: Men of Tomorrow. Geeks, Gangsters and the Birth of the Comic Book. New York: Basic Books 2004, S. 188-189.

Meinrenken: Eine jüdische Geschichte der Superheldencomics

entfernt an den ersten Entwurf von Superman als glatzköpfigem Bösewicht aus dem Jahr 1933 erinnert. Die Darstellung als übergroßer Riese setzt sich im Splashpanel der Titelgeschichte fort und bringt damit Hitlers gigantomanische Persönlichkeit optisch auf den Punkt (Abb. 5). Silver Streak und Daredevil attackieren den »Führer« aus der Luft, während dieser versucht, mit dem Oberarm den Angriff abzuwehren. Aktuelles Kriegsgeschehen und Fiktion vermischen sich zu einem eigenwilligen Doppelbildnis, dessen ideologischer Hintergrund erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist. So wirft Hitlers Figur den Schatten einer schwarzen Ratte auf die dahinter liegende Zeitung. Der lange Schwanz des Tieres wird dabei durch die Peitsche in Hitlers Hand vorgegeben. 1940 hatte der Regisseur Fritz Hippler in seinem nationalsozialistischen Propagandafilm »Der ewige Jude« das jüdische Volk mit Ratten verglichen. »Daredevil Battles Hitler« projiziert diese antisemitische Bildrhetorik auf den »Führer« selbst zurück. Darüber hinaus gehört das Heft wohl zu den frühesten Comics, die das Thema der Deportation und des Konzentrationslagers in aller Deutlichkeit darstellen. Die Story »The Man of Hate. Adolf Hitler – Dictator of Germany« ist weit mehr als eine visuelle Biografie des »Führers« von seinen Anfängen als Maler bis zum Kriegsangriff auf Polen.18 Sie zeigt in einer Sequenz die Einsatztruppen der Gestapo bei der Verhaftung von unschuldigen Menschen, das Fortschaffen von Personen in ein Konzentrationslager und die anschließende Folterung (Abb. 6). Abbildungen 4, 5 und 6: Daredevil Comics, Nr. 1 (Juli 1941), Titelseite von Charles Biro und Bob Wood; »Daredevil Battles Hitler« von Charles Biro; »The Man of Hate. Adolf Hitler – Dictator of Germany« von Bob Davies

Auch wenn nicht ausdrücklich von Juden die Rede ist, so gibt es doch ein Detail, das dementsprechend interpretiert werden kann: Die Folterszene mit einer mehrschwänzigen Peitsche entspricht in ihrer grundsätzlichen Motivik den mittelalterlichen Darstellungen der Geißelung Christi, dem König der Juden. In diesem Kontext lassen sich die rauchenden Schornsteine des gezeigten KZs als weiterer Hinweis auf den Holocaust lesen. Die Serie »Mystic Comics« verlagert die Darstellung des Konzentrationslagers und der Folter auf die Titelseite. So präsentieren die 18 | Escamilla S. 68-76.

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Cover Nr. 6 und Nr. 10 ihre KZs jeweils als wehrhafte Trutzburg, dessen Mauern nur schwer erobert werden können. Die These von der Präfiguration des Holocaust in den Superhelden-Comics aus der Ära des Zweiten Weltkriegs wird bestätigt durch Sam Kweskins Geschichte »The Butcher of Wulfhausen«, die 1953 zwei Jahre vor Krigsteins »Master Race« in Nr. 14 der Comic-Serie »Kent Blake of the Secret Service« erscheint. Hierbei ist zu beachten, dass nicht nur die Ikonografie und Bildsprache der früheren Comics aufgegriffen werden, sondern Sam Kweskin selbst Jude ist, der die Geschehnisse des Krieges aus eigener Anschauung kannte – u.a. hat er als Kriegszeichner für das amerikanische Militär gearbeitet, und es bliebe zu prüfen, ob er Bildmaterial aus seiner eigenen Kriegszeit als Quelle genutzt hat. Die Darstellung eines KZ-Kommandanten mit Peitsche, der das Verscharren von Leichen befiehlt, ist jedenfalls in seiner direkten Grausamkeit kaum zu überbieten.

U ncle S am . A merik anische H elden in den C omics von W ill E isner Wie Danny Fingeroth im Frankfurter Ausstellungskatalog »Superman und Golem« schreibt, sind Superhelden das Produkt jüdischer Immigranten, deren Vorfahren aus Osteuropa nach Amerika geflüchtet sind.19 Dies gilt zwar nicht für das gesamte Genre und es bleibt die Frage, inwiefern Comics generell als Medium jüdischer Erinnerung gewertet werden können. Dennoch stimmt es, dass viele der bekanntesten und erfolgreichsten Helden wie Superman, Captain America oder Batman aus der Feder von jüdischen Autoren und Zeichnern stammen. Zu ihnen gehört auch Will Eisner, der erst in den letzten Jahrzehnten in Deutschland einem größeren Publikum durch seine Graphic Novels bekannt wurde, die er ab 1978 veröffentlicht hat. Seine Figur The Spirit ist kein Superheld im klassischen Sinn. Er verfügt über keine besonderen Fähigkeiten, sondern nutzt nur seine geheime Identität als maskierter Detektiv, um aus dem Verborgenen heraus zu operieren. Die Serie erschien zunächst von 1940 bis 1952 als wöchentliche Sonntagsbeilage und wurde von Will Eisner 1972 zur Zeit des amerikanischen Underground-Comics für einen kurzen Augenblick wiederbelebt. Kurz nach dem Tode Eisners am 3. Januar 2005 veröffentlicht der Verlag Dark Horse die letzten Spirit-Seiten aus der Hand des Meisters in der sechsten Ausgabe von »Michael Chabon Presents: The Amazing Adventures of the Escapist«. Auch wenn es sich bei The Spirit um einen urbanen Charakter handelt, der ganz wie die anderen Superhelden ohne die großstädtische Kulisse seiner Umgebung kaum denkbar wäre, so ist doch der Zweite Weltkrieg auch hier ein sich wiederholendes Thema. Will Eisner verzichtet in der Spirit-Story »The Devil’s Shoes« vom 1. Februar 1942 zwar nicht vollständig auf die damals gängigen stereotypen Diffamierungen japanischer Soldaten und Machthaber, schafft es aber trotzdem, seiner Geschichte über Pearl Habor eine nachdenkliche und beinahe poetische Note zu verleihen.20 Ganz anders »The Mock Invasion« vom 22. November 19 | Danny Fingeroth: Superhelden, geheime Identitäten und Juden, in: Superman und Golem. Der Comic als Medium jüdischer Erinnerung. Frankfurt a.M. 2008, S. 9-13. 20 | Will Eisner’s Spirit Archives. January 4 to June 20, 1942. Volume 4. New York: DC Comics 2001, S. 41-48.

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1942 – hier sind die Ziele klar gesetzt.21 Der Angriff einer deutschen Luftstaffel auf die fiktive Stadt Central City, in der The Spirit lebt, dient als Aufforderung an den Leser, durch den Ankauf von Kriegsanleihen die Vereinigten Staaten finanziell zu unterstützen. Will Eisners Sicht auf die amerikanisch-jüdischen Beziehungen ist von patriotischen Gefühlen und Klischeevorstellungen durchsetzt, wie sie in der Karikatur und der politischen Satire am Ende des 19. Jahrhunderts vielfach kommentiert werden. Am 30. November 1881 veröffentlicht das »Puck«-Magazin einen Cartoon mit dem Titel »The Modern Moses« aus der Feder von Frederick Burr Opper und Joseph Keppler (Abb. 7). Abbildung 7: Puck, 30. November 1881, »The Modern Moses« von Frederick Burr Opper und Joseph Keppler

Das Bild zeigt die Figur des Uncle Sam auf dem Felsen der Erlösung bei der Teilung des Atlantiks in zwei Hälften.22 Durch den freien Weg am Grund des Meeres wandern die verfolgten Juden aus Russland in ihre neue Heimat. In der rechten unteren Bildecke liegt ein Seestern, der an einen Davidstern erinnert und darüber leuchtet die Sonne mit der Aufschrift »Western Homes«. Oppers und Kepplers Inszenierung des Uncle Sam als eine moderne Mosesfigur ist ein Paradebeispiel politischer Ikonografie, basierend auf den Themen der Flucht, Vertreibung und Migration. Knapp 60 Jahre später erklärt Will Eisner Uncle Sam zu einem nationalen Comichelden. In der Zwischenzeit hatte sich die Figur u.a. durch das berühmte Plakat von James Montgomery Flagg aus dem Jahr 1917 zur festen allegorischen Größe und erfolgreichen Werbeikone entwickelt. Der Slogan »I Want You for U.S. Army« 21 | Will Eisner’s Spirit Archives. July 5 to December 27, 1942. Volume 5. New York: DC Comics 2001, S. 171-178. 22 | Die geteilten Wassermassen sind mit den Worten »Oppression« (Unterdrückung) und »Intolerance« (Intoleranz) betitelt. Supermans Bezeichnung als »Champion of the Oppressed« (Verteidiger der Unterdrückten) erhält durch diese jüdische Perspektive einen konkreten historischen Bezugspunkt.

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und die Geste mit dem ausgestreckten Zeigefinger sollten in ihrer provokanten Direktheit zahlreiche Comics und andere Darstellungen bis heute inspirieren.23 Die Einkleidung nationaler Allegorien in die Motive und Farben ihrer Landesflagge hat auf die Gestaltung von Superhelden einen großen Einfluss gehabt. Will Eisners Präsentation von Uncle Sam ist aber mehr als eine patriotische Pflichterfüllung im Medium des Comics. In der zweiten Ausgabe des »Uncle Sam Quarterly« vom Winter 1941 findet sich eine Story mit dem Titel »The Villain Revolt or Who Swiped My Comic Book???«, die Eisners selbstironischen Umgang mit den Prinzipien der Comicindustrie aufs Vortrefflichste dokumentiert.

W ir sind alle M utanten . E in A usblick auf die neuen S uperhelden der 1960 er und 1970 er J ahre Die Beschäftigung mit dem Holocaust und der eigenen jüdischen Vergangenheit nimmt in den Comics der Nachkriegszeit einen immer größeren Spielraum ein. Dies gilt auch für das Genre der Superhelden.24 Kalter Krieg, Raumfahrt und die Gefahren des Atomzeitalters schaffen einen neuen Typus von Superhelden, deren übermenschliche Kräfte auf einer dauerhaften Veränderung ihres genetischen Erbguts basieren. Anfang der 1960er Jahre kreiert Stan Lee in Kooperation mit Jack Kirby, Steve Ditko und anderen einige der berühmtesten Helden dieser Ära: The Hulk, X-Men, Spiderman, The Avengers oder The Fantastic Four. Die Geburtsstunde der ersten Nummer von »Fantastic Four« im November 1961 fällt zusammen mit der Entstehung des Marvel-Verlags, der aus den früheren Verlagshäusern Timely Publications und Atlas Comics hervorgegangen ist. 1962 folgen die ersten Auftritte von The Hulk und Spiderman und im September 1963 erscheint die erste Ausgabe von »The X-Men« – alle bei Marvel. Dabei sind es nicht nur die Biografien einzelner Mutanten wie Magneto, die eine Brücke schlagen zwischen der fiktiven Welt der Superhelden und der realen Historie des 20. Jahrhunderts – angefangen bei seiner Kindheit im Warschauer Ghetto bis zur Flucht aus Auschwitz während des Aufstandes am 7. Oktober 1944. Figuren wie The Hulk oder The Thing sind Gefangene ihrer heroischen Verwandlung, gejagt oder ausgegrenzt von der normalen Gesellschaft aufgrund ihres Aussehens und der Macht ihrer unbezähmbaren Kräfte. Gleichzeitig wird das Thema der Vernichtung und des Genozids neu thematisiert und zum Teil auf eine überirdische Ebene verlegt. So verkündet das Cover der Jahresausgabe von »Fantastic Four« aus dem Dezember 1970 die endgültige Niederlage der menschlichen Rasse. In dieser Vision sind wir alle Opfer des Krieges und der Unterdrückung. Auch wenn solche martialischen Bilder nicht gerade sensibel agieren, so belegen sie doch das Interesse von US-amerikanischen Comickünstlern wie Stan Lee und Jack Kirby für die eigene jüdische Vergangenheit. 23 | Zur Herkunft und Rhetorik dieser Bildgeste vgl. Carlo Ginzburg: »Your Country Needs You«. Eine Fallstudie zur politischen Ikonographie, in: Hans Belting/Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation. München: Fink 2002, S. 271-294. 24 | Zum Thema Holocaust vgl. exemplarisch den Aufsatz von Cheryl Alexander Malcolm: Witness, Trauma, and Remembrance. Holocaust Representation and X-Men Comics, in: Samantha Baskind/Ranen Omer-Sherman (Hg.): The Jewish Graphic Novel. Critical Approaches. New Brunswick: Rutgers University Press 2008, S. 144-160.

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Ein Sonderfall in dieser Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und Identität ist die Figur des Golem. Wohl eine ihrer ersten Darstellungen im Medium des modernen Comics ist Joe Kuberts »The Golem« in »The Challenger Comics Nr. 3« aus dem Sommer 1946.25 Joe Kubert, der im Alter von zwei Monaten mit seinen Eltern und der Schwester Ida im Winter 1926 aus dem damaligen Polen nach Brooklyn/New York immigriert ist, verzahnt hier die retrospektivische Schilderung des Golem-Mythos mit dem Kriegsgeschehen im Prager Ghetto im Jahr 1944. Auch wenn die Deportation der Juden in die KZs von Kubert nicht explizit gezeigt wird, so ist sie doch deutlich dem Text der Geschichte zu entnehmen.26 Der Golem selbst erscheint hier als übermächtiger Riese, der nicht aus einem Klumpen Lehm geformt zu sein scheint, wie es die Legende von Rabbi Löw erzählt, sondern in seiner muskelösen Anatomie eher einem modernen Herkules oder der Comicfigur Tarzan gleicht. Wie die Alliierten selbst wird hier der Golem zum Befreier Europas von der nationalsozialistischen Besatzung. So heißt es auf der letzten Seite der Story: »The Armies of Democracy are not so far off from being the Golem of 1944« (Die Armeen der Demokratie sind nicht so weit davon entfernt, der Golem von 1944 zu sein).27 Inwiefern der Golem sich wirklich als demokratischer Heilsbringer eines modernen Europas der unmittelbaren Nachkriegszeit eignet, sei dahingestellt. Auffällig an Kuberts früher Comicversion ist die Trennung der verschiedenen Handlungsebenen; das mystische Prag des 16. Jahrhunderts unter der Herrschaft von Rudolf II. ist räumlich und örtlich kaum fassbar. Das Gleiche gilt für Kuberts Schilderung des Prager Ghettos. Im Fokus stehen die Aktionen und Dialoge der Figuren, die in geradezu kunsthistorisch manieristischer Tradition inszeniert werden. Am ausdrucksstärksten ist der »Einmarsch« des Golems in den Hof des kaiserlichen Herrschers, der schließlich von diesem in die eigene Löwengrube geworfen wird: »The Devourer Is Devoured« (Der Fresser wird bzw. ist gefressen).28 Allein mittels der Farbrhetorik wird dem Leser dabei die gemeinsame Identität vom Golem, den fressenden Löwen, den alliierten Flugzeugen und dem amerikanischen Piloten Billy Maguire vermittelt. Dieser figürliche Zusammenschluss wird durch die mythischen und alttestamentarischen Bezüge weiter differenziert. Ob mit Herkules im Kampf mit dem nemeischen Löwen oder mit der Unversehrtheit des Propheten Daniel in der Löwengrube, ganz bewusst reanimiert und rezitiert Joe Kubert hier diverse mythologische, mythische und biblische Erzählstränge, um seine Version des Golems 25 | Wiederabgedruckt in Bill Schelly (Hg.): Weird Horrors & Daring Adventures. The Joe Kubert Archives Vol. 1. Seattle: Fantagraphics Books 2013, S. 113-130. Eine kurze Beschreibung und historische Einordnung der Geschichte findet sich bei Ole Frahm: Der Golem von 1944, in: Emily D. Bilski/Martina Lüdicke (Hg.): Der Golem. Ausstellungskatalog Jüdisches Museum Berlin. Bielefeld: Kerber 2016, S. 128-129. Eine allgemeine, eher theoretisch orientierte Behandlung des Themas – allerdings ohne Verweis auf die Story von Joe Kubert – bei Jonas Engelmann: Verborgene Traditionen. Der Golem im Comic, in: Ralf Palandt (Hg.): Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics. Berlin: Archiv der Jugendkulturen, 2011, S. 316-324. 26 | Schelly S. 116. 27 | Schelly S. 130. 28 | Schelly S. 129.

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durch und über den jüdischen Kontext hinaus zu legitimieren. Das mit dem Golem-Mythos verbundene Element der Neuschöpfung und Kreation eines körperlich imposanten Riesen scheint hierbei auf die Entwicklung neuer Superheldenfiguren zu Beginn der 1960er und der 1970er Jahre eine besondere Faszination ausgeübt zu haben. So sind es nicht allein Figuren wie der Hulk, die in direkter Analogie zum Golem stehen.29 Im Dezember 1970 erscheint in »The Incredible Hulk Nr. 134« die 19-seitige Geschichte »Among Us Walks… the Golem« (Unter uns geht… der Golem), die trotz ihres fiktiven Schauplatzes ebenfalls wie bei Kubert den erfolgreichen Widerstand gegen ein diktatorisches Regime zum Thema hat. Und im Juni 1974 tritt zum ersten Mal der Golem in »The Strange Tales Nr. 174« als ein eigenständiger Charakter auf (Abb. 8).30 Der Untertitel »The thing that walks like a man« liest sich zum einen als mögliche Reminiszenz an Joe Kuberts Story, wo es heißt: »The Golem Walks Again«.31 Zum anderen ist der Satz auch ein direkter Hinweis auf die Comicfigur »The Thing« als Mitglied der »Fantastic Four«, die ähnlich wie der Hulk als eine moderne Version des Golems interpretiert wird. Und auch schon der Altmeister des DDRComics Hannes Hegen titelte Mai 1963 in »Mosaik Nr. 78« auf der Titelseite: »Der Golem ist wieder los«. Vielleicht ist es diese behäbige und zugleich kraftvolle Bewegungsenergie einer eigentlich toten Materie, die im Genre der amerikanischen Superheldencomics ihre figürliche Auferstehung feiert und damit modernen Mythen wie dem Zombie oder dem Cyborg ihre religiöse Grundlage liefert.32 Darüber hinaus sind es die erzählerischen und visuellen Möglichkeiten des künstlerischen Schaffensprozesses, die über die Figur des Golems im Medium des Comics selbstreflexiv ihre Darstellung findet. Dabei ist es weniger die anhaltende wissenschaftliche Diskussion um die vermeintlich jüdische Herkunft Supermans und dessen möglichen Bezug zum Golem-Mythos, die hier eine Rolle spielt.33 Seien es Comicfiguren wie »Conrete« von Paul Chadwick oder jüngere Graphic Novels wie James Sturms »The Golem’s Mighty Swing« (Drawn And Quarterly 2001), Joann Sfars »Le Petite Monde du Golem« (L’Association 2002) oder jüngst Benedikt Eppenbergers, Gregor Gilgs und Barbara Schrags »Golem im Emmental« (Edition Moderne 2016): Längst hat sich der Golem-Mythos von seinen jüdischen Wurzeln und amerikanischen Vorbildern gelöst und ist wie das Genre der Superhelden selbst zu einem globalen Phänomen geworden, das sich nicht mehr auf eine fixe und eindeutige, mediale Identität festlegen lässt. Vielleicht ist dies das eigentliche Verdienst des feurigen Auftretens von Superman in »Action Comics Nr. 1«. Eine Explosion der Bilder und Taten losgetreten zu haben, die unseren allzu 29 | Zu diesem Zusammenhang siehe Robert G. Weiner: Marvel Comics and the Golem Legend, in: Shofar 29, No. 2 (2011), S. 50-72. 30 | Siehe des Weiteren die Folgenummern »The Strange Tales Nr. 176« und »The Strange Tales Nr. 177«. In letzterer Ausgabe wird auf S. 1-2 die Erschaffung des Golems durch Rabbi Löw (hier »Rabbi Lowe« genannt) explizit dargestellt – u.a. mit Zitat und Quellenverweis auf das Buch des jüdischen Religionshistorikers Gersham Scholem: On the Kabbalah and Its Symbolism. New York: Schocken Books 1965. 31 | Schelly S. 126. 32 | Zu dem Zusammenhang von Cyborg, Robotik und dem Golem siehe Bilski/Lüdicke 2016. 33 | Hierzu ausführlich Lund 2016, S. 1-42.

Meinrenken: Eine jüdische Geschichte der Superheldencomics

menschlichen Wunsch nach einer besseren Welt immer wieder neu entzündet, ebenso wie die Imagination von der eigenen körperlichen und geistigen Stärke – potenziert durch persönliche und fremde Erfahrungen der Vertreibung, Unterdrückung oder gar Vernichtung. Abbildung 8: Strange Tales, Nr. 176 (Oktober 1974), Titelseite zu »Featuring the Golem. The Thing That Walks Like a Man!« von John Romita

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L iter aturverzeichnis Helen Adkins: Erwin Blumenfeld: In Wahrheit war ich nur Berliner. Dada­Montagen 1916-1933. Ostfildern: Hatje Cantz 2008. Emily D. Bilski/Martina Lüdicke (Hg.): Der Golem. Ausstellungskatalog Jüdisches Museum Berlin. Bielefeld: Kerber 2016. Les Daniels: DC Comics. Sixty Years of the World’s Favorite Comic Book Heroes. London: Bullfinch Press 1995. Jonas Engelmann: Verborgene Traditionen. Der Golem im Comic, in: Ralf Palandt (Hg.): Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics. Berlin: Archiv der Jugendkulturen, 2011, S. 316-324. Israel Escamilla (Hg.): Daredevil Battles Hitler. The Original Daredevil Archives, Vol. I. Milwaukie: Dark Horse Archives 2013 (5. Edition). Ute Eskildsen (Hg.): Nützlich, süß und museal. Das fotografierte Tier. Ausstellungskatalog. Essen: Steidl 2005. Jules Feiffer: The Minsk Theory of Krypton. In: The New York Times Magazine, 29. Dezember 1996, S. 14-15. Danny Fingeroth: Jews, Comics, and the Creation of the Superhero. New York: Continuum 2007. Danny Fingeroth: Superhelden, geheime Identitäten und Juden, in: Raphael Gross/ Erik Riedel (Hg.): Superman und Golem. Der Comic als Medium jüdischer Erinnerung. Frankfurt a.M.: Jüdisches Museum 2008. S. 9-13. Carlo Ginzburg: Your Country Needs You«. Eine Fallstudie zur politischen Ikonographie, in: Hans Belting/Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation. München: Fink 2002, S. 271-294. Thomas Hausmanninger: Superman. Eine Comicserie und ihr Ethos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Gerard Jones: Men of Tomorrow. Geeks, Gangsters and the Birth of the Comic Book. New York: Basic Books 2004. Arie Kaplan: From Krakow to Krypton: Jews and Comic Books. Philadelphia: The Jewish Publication Society 2008. Martin Lund: Re-Constructing the Man of Steel. Superman 1938-1941, Jewish American History, and the Invention of the Jewish–Comics Connection. Cham: Palgrave Macmillan 2016. Cheryl Alexander Malcolm: Witness, Trauma, and Remembrance: Holocaust Representation and X-Men Comics, in: Samantha Baskind/Ranen Omer­Sherman (Hg): The Jewish Graphic Novel: Critical Approaches. New Brunswick: Rutgers University Press 2008, S. 144-160. Peter Maresca (Hg.): Society Is Nix: Gleeful Anarchy at the Dawn of the American Comic Strip 1895-1915. Palo Alto CA: Sunday Press Books 2013, S. 80. Ralf Palandt: »Blühender Blödsinn« an der Propagandafront, in: Eckart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2006. Hildesheim: Comicplus+ 2005, S. 8391. Andreas Platthaus: Die 101 wichtigsten Fragen. Comics und Mangas. München: C.H. Beck 2008. Greg Sadowski (Hg.): Supermen! The First Wave of Comic Book Heroes 1936-1941. Seattle: Fantagraphics Books 2009. Superman. The Dailies. Strips 1-966, 1939-1942. New York: Sterling 2006.

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Superman. The Sunday Classics. Strips 1-183, 1939-1943. New York: Sterling 2006. Robert G. Weiner (Hg.): Captain America and the Struggle of the Superhero: Critical Essays. North Carolina: McFarland 2009. Simcha Weinstein: Up, Up, and Oy Vey! How Jewish History, Culture and Values Shaped the Comic Book Superhero. Baltimore: Barricade Books 2006. Will Eisner’s Spirit Archives. January 4 to June 20, 1942. Volume 4. New York: DC Comics 2001. Will Eisner’s Spirit Archives. July 5 to December 27, 1942. Volume 5. New York: DC Comics 2001. Robert G. Weiner: Marvel Comics and the Golem Legend, in: Shofar 29, Nr. 2 (2011), S. 50-72.

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Superhelden* Thierry Groensteen und Harry Morgan 1

Für die Fanwelt wird der Superheldencomic »offiziell« im Juni 1938 geboren, mit der Schöpfung Supermans in der ersten Ausgabe des Comics Action Comic, welcher von der Firma Detective Comics herausgegeben wird. Wenn man ihn also im engen Sinne betrachtet, so ist der Superheld ein »Einheimischer« der Comicwelt: Er kann nur innerhalb dieses Mediums verstanden werden, welches das Konzept des Superhelden popularisieren, graphisch verwirklichen und erblühen lassen wird, bis es schließlich zu einem seiner fruchtbarsten Genres wird. Die Idee eines Übermenschen ist in Wirklichkeit jedoch viel älter, und wenngleich der gezeichnete Superheld einige neuartige Züge aufweist (was gleichsam Thema dieses Artikels ist), so hat er seine Wurzeln doch in den verschiedensten und sehr heterogenen Traditionen, in der Mythologie und der Literatur. In diesem Sinne kann man zwischen der griechisch-römischen Mythologie, den biblischen Quellen und christlichen Wundererzählungen, und schließlich einer bis in die Vereinigten Staaten des beginnenden 20. Jahrhunderts zurückreichenden Abenteuerliteratur unterscheiden. In der griechischen Mythologie bezeichnet das Konzept des Helden – wie es beispielsweise Theseus, Odysseus, Achilles, Orpheus, Ödipus oder Iason verkörpern – nicht nur einen außergewöhnlichen Mann, einen »Seligen«, sondern auch ein Bindeglied zwischen Göttern und Menschen (Hesiod zufolge ist er göttlicher Abstammung). Er ähnelt also eher einem Superman als einem Batman, da ihn nicht nur seine körperlichen und moralischen Eigenschaften (Kraft, Agilität, Geschick im Gebrauch der Waffen, Tapferkeit usw.) zum Helden machen; es ist sein Wesen, welches ihn von den Normalsterblichen unterscheidet. Seinen Erschaffern zufolge lehnte sich Superman an Samson und Herkules an. Wonder Woman ist die Tochter der Hippolyte, Königin der Amazonen. Die mythologische Verankerung der Superhelden geht eng mit ihrer allegorischen Charakterisierung einher, welche die antike Ikonographie aufnimmt. Der erste Flash (geschaffen im Januar 1940 von Gardner Fox und Harry Lampert für All American Publications) weist als antikisierende Attribute den Helm Merkurs und Flügel an *  Groensteen, Thierry, und Harry Morgan: »Super-héros.« In: Thierry Groensteen et al. (Hg.): Dictionnaire esthétique et thématique de la bande dessinée. URL: http://neuviemeart.citebd.org/spip.php?article479 [20. April 2013]. Übersetzt von Florian Berger.

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den Knöcheln auf. Captain America besitzt seinerseits auch Flügel, während Wonder Woman auf der Insel der Amazonen den Chiton und das Diadem zur Schau trägt. Die Superhelden sind nicht erstarrte Darstellungen (»Personifikationen«) der Tugenden und Laster, oder bestimmter abstrakter Eigenschaften. Vielmehr inszenieren sie diese mittels einer Erzählung und werden somit tatsächlich zu ihrer »Inkarnation«. Die allegorischen Attribute werden gleichzeitig zu ihrem Waffenarsenal – ihrer armatura in der Bedeutung, die dieses Wort unter Gladiatoren hatte –, welches für dramatische Zwecke mobilisiert werden kann. So benutzt Wonder Woman ihre Armbänder als Schild (sie lenken Pistolenkugeln ab) und ihre Tiara als Bumerang. Der Bezug auf die Antike des Mittelmeerraums scheint das Feld der Comics vollständig zu durchdringen, denn man findet ihn selbst dort, wo man ihn am wenigsten erwartet hätte. Davon zeugt beispielsweise das griechisch-römische Pantheon in The Eternals, der für Marvel Comics im Juli 1976 geschaffenen Science-FictionSerie, welche sich an pseudo-wissenschaftliche Figuren Erich von Dänikens anlehnt und von vorsintflutlichen Astronauten handelt. Die Superheldencomics entlehnen auch ihre dramatischen Mechanismen der antiken Mythologie. So wird die »Achillesferse« (Paris’ Pfeil trifft ihn, den mutigsten Krieger in Agamemnons Armee, mitten in die einzige verletzliche Stelle seines Körpers, nämlich die Ferse; in gleicher Weise ist Siegfried, der Held der Nibelungen, nur an einer bestimmten Stelle zwischen den Schultern verwundbar) mit Kryptonit neuinterpretiert, jenem Mineral außerirdischer Herkunft, das als einziges Superman schwächen oder sogar töten kann. Und natürlich erinnern all die Szenen, in denen die Superhelden gegen wilde, abscheuliche und bösartige Bestien (Monster, wie Jack Kirby sie gern mochte) kämpfen müssen, unweigerlich an die Großtaten des Herkules, der dem Löwen von Nemea, dem Wildschwein vom Erymanthos, dem dreiköpfigen Hund Zerberus, oder der Hydra von Lerna entgegentreten musste. Die biblische Tradition und die christlichen Wundererzählungen sind nicht weniger wichtige Quellen. Die Bibel liefert ihren Anteil an »Superhelden«, wie zum Beispiel Samson, der ebenfalls einen Löwen bezwang, oder Josua, der die Mauern Jerichos mit Trompetengeschmetter zum Einsturz brachte. Sankt Georg und Michael, welche den Drachen besiegten, sind ihre Nachfolger in den christlichen Legenden. Vor allem birgt jedoch die Hagiographie (das heißt, das Leben der Heiligen) reiche Schätze an Erzählungen, in welchen Figuren vorkommen, die Wunder vollbringen und sich als unverwundbar erweisen (sie überstehen die vielen Qualen unbeschadet, die sie während ihres Martyriums auf sich nehmen). Diesbezüglich scheint es nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass das Wort Legende zuerst die Erzählung vom Leben des Heiligen des jeweiligen Tages bezeichnete, und erst später, in der erweiterten Bedeutung, für jegliche wundersam anmutende Erzählung zu stehen begann. Gewisse Erzählungen scheinen ganz klar evangelische Vorbilder zu kopieren. Die Abenteuer Superboys (Superman als Kind), welche von 1946 an in Adventure Comics publiziert wurden, zeigen ein vom Himmel gefallenes Kind, welches Wunder wirken kann und von Adoptiveltern aufgezogen wird; sie erscheinen als eine säkularisierte Version der apokryphen Evangelien über die Kindheit Jesu. In gleicher Weise scheint es, als hätten Stan Lee und John Buscema bewusst die Neben-

Groensteen/Morgan: Superhelden

einanderstellung einer christlichen Figur mit einem anderen Flüchtling aus dem Weltall, dem Silver Surfer, angestrebt. Die Glorifizierung des Heldentums steht am Anfang der Rittergeschichten, in welchen man ebenfalls Kämpfe gegen Riesen und wilde Tiere vorfindet. In jener Literatur zeigt sich die Zuhilfenahme des Übernatürlichen im Besonderen im Motiv der legendären Waffe, dem berühmten Schwert Excalibur. Gewisse Comicszenen, in deren Verlauf der Superheld seinen Decknamen erhält (zum Beispiel in Captain America), greifen im Entfernten den Ritterschlag der einstigen Helden auf. Kommen wir nun zur dritten Quelle der Superhelden, der Abenteuerliteratur in den USA des 20. Jahrhunderts. Hier gilt es zwei Einflüsse zu zitieren, welche beide unter die pulp magazines einzuordnen sind, also diese billigen Hefte, welche Abenteuer aller möglichen Genres erzählen. Der erste ist jener der in den 1910er Jahren auftretenden Figuren aus den Heften der Firma Munsey. Der zweite rührt von den adventure pulps der 1930er Jahre her, welche sich jeweils den Abenteuern einer einzigen Figur widmeten und folglich als Serie funktionierten. Die Munseyhefte der 1910er Jahre bieten uns zwei Figuren, die einen entscheidenden Einfluss auf die Superhelden haben sollten. Die erste ist Tarzan von Edgar Rice Burroughs (All-Story, Oktober 1912). Gewiss stellt diese Figur an sich schon einen Mythos dar, doch findet sie in der graphischen Literatur gleichsam ihren geeignetsten Ausdruck und begründet dort in der Folge sogar ihr eigenes Genre: Die Urwaldgeschichte. Als Vorbild der Superhelden greift Tarzan jedoch antikisierende Referenzen auf (er ist anfangs gewissermaßen ein Herkules im Pelzumhang; Jane Porter nennt ihn ihren »Gott des Waldes«); seine körperliche und geistige Tüchtigkeit und seine Ausdauer übertreffen jene eines normalen Menschen bei weitem; er kann sich im Blätterdach des Urwaldes durch die Luft bewegen und wandelt diese Methode über den Dächern von Paris dahingehend ab, dass er auf strategisch geschickte Weise um Masten herumwirbelt, wie es so mancher Superheld später machen wird. 1919, immer noch in All-Story, welches unterdessen zur Monatszeitschrift geworden ist, schafft Johnston McCulley die Figur Zorros, des maskierten Rächers mit einer Doppelidentität, die ihn in Zivil zu Don Diego Vega (später: de la Vega) werden lässt, einem vorgeblich konfliktscheuen Gebildeten. McCulley selbst ließ sich jedoch von einer europäischen Autorin inspirieren, nämlich von der Baronin Orczy und ihrer berühmten scharlachroten Blume (The Scarlet Pimpernel, 1905), welche den Decknamen Sir Percy Blakeneys lieferte, eines englischen Ritters, der sich während der Französischen Revolution als Rächer übte und seine Großtaten mit einer scharlachroten Blume signierte. In der zweiten Generation der Pulps in den 1930er Jahren gibt es zwei Helden, welche mit den Superhelden nah verwandt sind und ihnen unmittelbar vorangehen: The Shadow und Doc Savage. The Shadow (1930 fürs Radio geschaffen und vom Folgejahr an Held von 326 in The Shadow Magazine publizierten und von Walter B. Gibson geschriebenen Romanen) ist ein in Schwarz gekleidetes und mit automatischen Pistolen bewaffnetes Nachtwesen. Sein Erkennungszeichen: Er tritt in dreifacher Form auf. Er hat nämlich neben seiner Identität als The Shadow auch noch den Alias des millionenschweren Playboys Lamont Cranston und trägt in Wirklichkeit als Flieger und Spionageass den Namen Kent Allard. Doc Savage seinerseits, Held von 182 zwischen 1933 und 1949 von Kenneth Robeson (mit wirklichem Namen Lester Dent) publizierten Romanen, besitzt »die Deduktionsgabe eines Sherlock Holmes, die Kraft und Agilität eines Tarzan, den wissenschaftli-

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chen Geist Einsteins, die Güte und Menschlichkeit von Jesus Christus«. Eine wortgewaltige Aufzählung, welche sofort an jene erinnert, deren Akronym die berühmte Zauberformel Shazam ist (welche Captain Marvel herauf beschwört): Letztere macht den von Charles Clarence Beck und Bill Parker geschaffenen Superhelden nämlich gleichzeitig zum Erben von Salomon, Herkules, Atlas, Zeus, Achilles und Merkur! Der Ursprung von Doc Savage ist eine von den Herausgebern selbst verfasste Synopsis, welche ihn bereits genauso als Man of Bronze darstellte, wie Superman bald darauf The Man of Steel sein sollte. Der mit verschiedensten Wissenschaften vertraute Doc Savage ist zugleich ein außergewöhnlicher Athlet mit hochentwickelten Sinnen und ein Universalgenie. Die Werbung für die Romane bediente sich im Übrigen der Bezeichnung »Superman«. Doc Savage teilt zudem seinen Vornamen (Clark) mit Superman und hat wie dieser eine »einsame Festung« am Nordpol. Sein Hauptwohnsitz befindet sich im höchsten Wolkenkratzer New Yorks, welcher selbst ohne explizite Namensnennung eindeutig als das Empire State Building identifizierbar ist, und offensichtlich für das Baxter Building, in dem die Fantastic Four wohnen, Pate gestanden hat. Auch sollte man nicht vergessen, dass eine Figur wie The Phantom in den comic strips von Lee Falk und Phil Davis bereits ein emblematischer, maskierter Rächer war (in bereits vier Jahrhunderte währender Familientradition), und dass der vom selben Szenaristen stammende Mandrake über Kräfte wie die Telepathie und die suggestive Hypnose verfügte. Und zu guter Letzt besitzen auch grotesk anmutende Figuren wie Popeye oder Alley Oop durchaus außerordentliche Kräfte. Die Science-Fiction ist eine weitere indirekte Quelle. Wie Jerry Siegel uns in Erinnerung rief, ist eine pseudo-rationale Erklärung für die Kräfte Supermans dem Roman Gladiator (1930) von Philip Wylie entnommen: Dessen Held, Hugo Danner, ist dank eines in utero angewandten Serums mit Kräften gesegnet, die wie bei einer Ameise (die ein Vielfaches ihres Gewichtes heben kann) gegenüber seiner Körpergröße alle Proportionen sprengen; zudem kann er so weit wie eine Heuschrecke springen. Ein anderer von Burroughs Helden, der Erdling John Carter, ist auf dem Mars zu außergewöhnlich großen Sprüngen fähig, da er sich die Gravitation der Erde gewohnt ist und jene des Mars dagegen kleiner ausfällt. Dies ist sehr wahrscheinlich die Herkunft der Riesensprünge Supermans (der in seiner ursprünglichen Form noch nicht fliegen konnte); tatsächlich ist die Gravitation seines Herkunftsplaneten größer als jene der Erde. Die Figur des Unsichtbaren, welche 1897 von H. G. Wells kanonisiert wurde, findet sich bei so manchem Autor wieder. Die Imponderabilität (das heißt die Fähigkeit, feste Körper zu durchdringen), ist die Gabe, welche der Homme au corps subtil1 von Maurice Renard (1913) besitzt. L’Homme élastique 2 von Jacques Spitz (1938) kann sich willentlich kleiner machen. Andere Figuren haben hypnotische Kräfte oder erlangen sogar… die Unsterblichkeit. L’Homme qui peut vivre sous l’eau3 von Jean de la Hire (1907) kann sich, wie es der Titel zu verstehen gibt, dem Leben unter Wasser anpassen.

1 |  Frz. für »Der Mann mit dem flüchtigen Körper«, Anm. d. Übersetzers. 2 |  Frz. für »Der elastische Mann«, Anm. d. Übersetzers. 3 |  Frz. für »Der Mann, der unter Wasser leben kann«, Anm. d. Übersetzers.

Groensteen/Morgan: Superhelden

Eine letzte Tradition, deren Muster sich die Superhelden bedienen, ist jene des Zirkus und des Varietee. Sie verdanken ihre Kleiderästhetik nämlich hauptsächlich den Akrobaten, Magiern und Muskelmännern dieses Milieus, angefangen bei den Trikots, den Strumpfhosen und den Umhängen. Und die Choreographien gewisser Superhelden (namentlich während der Kampfszenen) sind den Bewegungsabläufen der Trapezkünstler, Luftakrobaten und anderer Turner nicht unähnlich. War Superman wirklich der erste authentische Superheld in der Geschichte des Comics? Die Japaner bevorzugen eine andere Theorie, und verweisen nachdrücklich auf die Figur Golden Bat (Ogon Batto im Original), diesen berühmten Helden mit Totenkopf, welcher 1931 vom Szenaristen Ichiro Suzuki (damals 25 Jahre alt) und dem Zeichner Takeo Nagamatsu (knapp 16) geschaffen wurde. Golden Bat ist anfänglich eine Figur des kamishibai, jener volkstümlichen Form des Straßentheaters, in der der Erzähler-Marktschreier Zeichnungen auf Karton hinter einem Marionettentheater vorbeiwandern lässt. Golden Bat wird erst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Eingang in die Mangas finden. Seine Popularität ist jedoch von den ersten Jahren an beachtlich. Als maskierter Rächer trägt Golden Bat einen Umhang, Stiefel und Strumpfhosen, und er hält seine wahre Identität geheim. Aus der Zukunft kommend kämpft er gegen einen Bösewicht namens Nazo, der sich selbst zum Kaiser des Universums ernannt hat. Golden Bat ist aber selber auch von westlichen Einflüssen geprägt. Er orientiert sich an The Shadow, und sein Aussehen ist inspiriert vom Plakat für den auf Le Fantôme de l’Opéra basierenden Stummfilm von Rupert Julian (1925), wo das Phantom die rote Totenmaske trägt. Dieser kurze Überblick über die vielfältigen Quellen des Superheldengenres zeigt die Schwierigkeit seiner Definition klar auf. Wie kann man den Superhelden an sich definieren? Erstens hat er, wie jeder weiß, nicht zwingend Superkräfte. Batman hat beispielsweise keine; er ist ein übertrainierter Athlet, der auf ein ganzes Arsenal an von Doc Savage entlehnten Gadgets zurückgreift und in dieser Funktionsweise später von James Bond imitiert wird. Unter den Watchmen gibt es nur einen einzigen Übermenschen, Dr. Manhattan, während die anderen Mitglieder der Gruppe Normalsterbliche sind und bis auf einige Details dieselben Eigenschaften wie Batman haben. Die Figur des Comedian gehört eher zur Familie der modernen, durchs Kino popularisierten Söldner, wie Mad Max, Dirty Harry oder auch Rambo. Was diejenigen Superhelden anbelangt, die im Besitz von Superkräften sind, könnte man zwischen den »Spezialisten« und den »Allroundern« unterscheiden. Erstere haben nur eine einzige Superkraft: Flash bewegt sich sehr schnell fort, The Hulk hat eine phänomenale Muskelkraft, Daredevil besitzt außerordentliche Sinnesschärfe, Green Lantern materialisiert seine Wünsche dank eines magischen Objektes. Die Helden, die in Teams agieren, besitzen im Allgemeinen jeweils ihre eigene Superkraft; so beispielsweise die Fantastic Four oder die X-Men. Spider-Man ist schon »multispezialisiert«: Kraft, Agilität, die Fähigkeit, an Wänden haften zu bleiben, sowie ein sechster Sinn, der ihn vor Gefahren warnt, sind seine spezifischen Eigenschaften. Die »Allrounder« haben ihrerseits eine ganze Reihe von Superkräften zu ihrer Verfügung. Thor, ein Gott der nordischen Mythologie, besitzt übermenschliche Kräfte, übernatürlich geschärfte Sinne, und sein magischer Hammer erlaubt es ihm, sowohl zu fliegen als auch den Donner zu entfesseln. (Im Gegensatz zu den anderen sind letztere Superkräfte nicht einfach auf die Spitze getriebene mensch-

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liche Fähigkeiten; vielmehr lassen sie ein Wesen erkennen, das sich grundlegend vom Menschen unterscheidet). Jedoch ist er nicht unsterblich: Einzig durch den regelmäßigen Verzehr goldener Äpfel kann er seine Existenz verlängern. Superman für seinen Teil ist ein quasi göttliches Wesen, welches Super-Kraft, Super-Sicht, Super-Schnelligkeit, Super-Gedächtnis u.v.m. auf sich vereint. Ob der Kräfte der Superhelden drängen sich zwei Fragen auf: Woraus schöpfen sie sie (also die Frage des Ursprungs)? Und wozu benutzen sie sie (also die Frage der Bestimmung)? Der Ursprung der Kräfte kann göttlicher (wie bei Thor), außerirdischer (Superman stammt vom Planeten Krypton), anthropologischer (Aquaman – die Unmenschlichen gehören hier einer besonderen Menschheit an), übernatürlicher (s. Captain Marvel, Dr. Stange oder Deadman) Natur sein, oder von genetischen Mutationen herrühren (bei den X-Men oder den New Mutants). Doch in vielen Fällen gibt es einen wissenschaftlichen oder pseudo-wissenschaftlichen Grund, wie etwa einen Laborunfall (The Flash oder Dr. Manhattan) oder eine Verstrahlung (The Fantastic Four), wenn der Superheld nicht sogar durch die Teilnahme an einem Pilotversuch, einem Programm zur Verbesserung seiner Leistungen (Captain America), zu dem geworden ist, der er ist. Gewisse Superhelden sind unförmige, schaurige Kreaturen (Ben Grimm, genannt »The Thing«, oder Hulk), deren Kräfte – die hauptsächlich aus kolossaler Muskelkraft bestehen – ihnen nur »im Austausch gegen Monstrosität, gesellschaftliche Ächtung und das Gefühl, ausgeschlossen zu sein«, verliehen werden, wie Charles Hatfield bemerkt hat. Welchen Gebrauch machen die Superhelden von ihren Kräften? In einem berühmten Artikel über Superman merkte Umberto Eco an, dass »ein mit solchen Fähigkeiten begabtes und zum Wohle der Menschheit bestimmtes Wesen […] eine unglaubliche Handelsfreiheit vor sich hätte. Seitens eines Menschen, der Arbeit und Reichtum in astronomischen Ausmaßen produzieren kann, und dies innerhalb von Sekunden, könnte man den erstaunlichsten politischen, ökonomischen und technologischen Umsturz der Weltordnung erwarten.« Aber nein, Superman schränkt sein Schaffensfeld ein, sowohl auf geographischer Ebene (die Bühne seines Handelns ist die Stadt Metropolis), als auch was seine Ambitionen anbelangt: Er kämpft lediglich gegen Bösewichte, Kriminelle, Perverse. Allzu oft ist er kaum mehr als ein Handlanger der Polizei. Welche weiteren Elemente, außer den Kräften, die er besitzt, definieren den gezeichneten Superhelden als solchen? Die Doppelidentität ist ein bestimmendes Element, auch wenn wir gesehen haben, dass sie sich diesen Wesenszug mit einer Reihe von maskierten Rächern teilen (der schon genannte Zorro bleibt der berühmteste), welche nicht direkt unter das Superheldengenre subsumierbar sind. Auch das Kostüm trägt seinen Teil zum Ganzen bei. Die »öffentliche« Identität des Superhelden, sein Deckname (oder sollte man Bühnenname sagen?), wird buchstäblich von einem bemerkenswerten Kostüm verkörpert, das den Status des maskierten Rächers signalisiert und als bleibendes Bildnis dient. Die einzigartigen Attribute eines jeden Superhelden verwandeln ihn in eine Art lebendiges Logo, in eine auf Anhieb mit einer mythischen Aura behaftete Ikone. Man muss anmerken, dass die Strumpfhose, das Basiselement des Superheldenkostüms, aus graphischer Sicht schlicht aus einer völlig flachen Farbschicht besteht. Sie schmiegt sich dem Körper so dicht an, dass nichts außer ihrer Farbe auf ihre Existenz schließen lässt.

Groensteen/Morgan: Superhelden

Ohne sie würde der Körper nackt erscheinen, und dies rechtfertigt gleichsam die Wahl der Strumpfhose als Grundbaustein des Kostüms: sie erlaubt es dem Zeichner, die Muskulatur und die Kraft dieser superathletischen Körper zur vollsten Geltung zu bringen. Man muss jedoch klarstellen, dass der Superheld nicht nur männlichen Geschlechts ist. Wonder Woman, Phantom Lady, Black Orchid, Catwoman oder SheHulk, zusammen mit Dutzenden anderen, haben das Konzept fürs Weibliche geöffnet, und – man ahnt es – das Kostüm setzt in diesen Fällen andere Vorzüge in Szene. Der Superheld ist auch nicht notwendigerweise US-Amerikaner. Es steht außer Frage, dass das Genre in der comic book-Industrie eine solche Tragweite erlangt hat, dass viele darin eine von Grund auf amerikanische Form gesehen haben und weiterhin sehen. Es ist im Übrigen die Hollywoodindustrie, welche die weltweite Verbreitung und Bewerbung der emblematischsten Superhelden übernommen hat. Allerdings, und sogar ohne Golden Bat zu erwähnen, gilt es die späteren Abwandlungen in Asien (Sailer Moon ist eine japanische Superheldin) und Europa anzuführen. In französischem Gebiet kann man außer dem parodistischen Superdupont von Lob und Gotlib die 1981 von Jean-Yves Milton unter dem Pseudonym John Milton geschaffene Serie Mikros festhalten, sowie in noch jüngerer Zeit die beiden vom Szenaristen Serge Lehman entworfenen Serien Masqué und La Brigade Chimérique. Letztere weist eine interessante, metagenerische Dimension auf: Sie erzählt, wie und warum der Zweite Weltkrieg ausgerechnet zum Verschwinden aller europäischen Superhelden geführt hat. Die Figur des Superhelden beruht auf einer gewissen Anzahl an Spannungen oder internen Konflikten, die Charles Hatfield sehr trefflich beschrieben hat. Erstens der Widerspruch zwischen einem häufig gewalttätig ausgedrückten Individualismus (dem Drang nach Macht) und einem Altruismus, der die Gewalt in den Dienst des Schutzes der Gesellschaft und der Schwachen stellt; zweitens der Widerspruch zwischen der Missachtung aller Gesetze (Selbstjustiz üben) und einer gewissen Autoritätstreue; und schließlich ein Kontrast zwischen dem Bestreben, im Hintergrund zu bleiben (Clark Kent) und der Effekthascherei (Superman) (110). Der Autor hält auch fest, dass die Zuspitzung der Männlichkeit auf Exzesse hinausläuft, die nicht weit von einer Parodie des Machismo entfernt sind. Man kann anfügen, dass der Superheld in der Fiktion eine Sonderstellung einnimmt. Er befindet sich nicht etwa deswegen im Zentrum einer Erzählung, weil diese seine Großtaten darstellt und er in die Welt zieht auf der Suche nach Abenteuern, wie es im Schelmenroman der Fall ist, sondern vielmehr deshalb, weil die Ereignisse, die sozusagen für ihn bestimmt sind, ihn in seiner Welt wie einen Sammeltrichter durchlaufen. So bestimmt ein ungeschriebenes Gesetz die Geschichten Supermans: Alles, was in der Fiktion geschieht, geschieht Superman. Der Superheld ist also genau genommen weder Herr der Geschehnisse noch ihr Spielball. Er wird von einem auslösenden Ereignis gesteuert, welches ihn gewissermaßen »abholen kommt« und dazu bringt, seine Superkräfte in den engen Grenzen seines erzählerischen Programms einzusetzen. In diesem Sinne kann man jede einzelne Geschichte als eine Art Reflexion über die Parameter lesen, die Superman definieren. Es ist die Kombination aus den verschiedenen bereits beschriebenen identitätsstiftenden Zügen, dem Spiel mit Spannungen, der Bildsprache, die eine Form

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eigenständiger Symbolik erlangt hat, und einer gewissen Anzahl Produktionsregeln, welche die Definition des Superhelden in seiner Einzigartigkeit und Komplexität erlaubt. Dabei ist die Sorte Erzählung, welcher der Superheld angehört, selbst schwierig zu definieren, denn sie überschneidet sich mit anderen Genres. Wir haben gesehen, dass der Superheld geschichtlich betrachtet durch den Bezug auf Erzählungen in pulp magazines entstanden ist. Dieser Ursprung verleitet ihn sozusagen dazu, sich massiv bei der Science-Fiction zu bedienen; man findet in den Superheldenerzählungen also verrückte Wissenschaftler vor, fabelhafte Erfindungen, umfunktionierte Fahrzeuge, übermächtige Waffen usw. Die Welt der Fiktion beschränkt sich im Allgemeinen nicht auf die Erde, sondern postuliert eine Vielzahl von bewohnten Welten sowie die Möglichkeit des interstellaren Reisens, sei es mithilfe der Raumfahrt, mithilfe von vorwissenschaftlichen Mitteln (Astralreise), oder schlicht mittels der Superkräfte der Helden. Auch das Fantastische nährt seinerseits das Superheldengenre. So werden die Fantastic Four, welche das Genre 1961 bei Marvel Editions neu ankurbelten, anfänglich als vier durch kosmische Strahlen in Monster verwandelte Menschen beschrieben, wovon einer, The Thing, in seinem monsterhaften Avatar eingesperrt bleiben wird. Ihre Gegner (der Maulwurfsmann, die Skrulls, Dr. Doom) sind genauso monsterhaft. Der Einfluss der kurzen Monstergeschichten, welche Stan Lee und Jack Kirby seit 1958 für Tales to Astonish, Tales of Suspense, Strange Tales produzierten, ist offensichtlich. Allerdings ist der Begriff fantastisch zweideutig, denn er schließt in seinen häufigsten Definitionen stillschweigend eine gewisse Unregelmäßigkeit ein, also eine Relativierung der Naturgesetze, während die Superheldengeschichten gerade auf unverrückbaren »Spielregeln« beruhen. So kommt es, dass man das Fantastische, wenn überhaupt, nur in Vampirgeschichten, Werwolfgeschichten, Zauberund Dämonengeschichten vorfindet, oder in von »psychischen Untersuchungen« inspirierten Erzählungen. All diesen Erzählungen ist die Inszenierung einer Figur gemein, welche exakt den Schlüssel zum Geheimnis besitzt, und welche die »Spielregel« verdeutlicht (es sind dies der Vampirjäger, der über den Familienfluch informierte Historiker, der Inquisitor, der Detektiv des Sonderbaren). In den Superheldengeschichten hat üblicherweise die Figur des Wissenschaftlers diese Funktion inne (Reed Richards in den Fantastic Four). Was im Besonderen die in den »psi-Fakultäten« enthüllten »geheimen Kräfte des Menschen« anbelangt, gilt es zu bemerken, dass diese dem Fantastischen abgesprochen werden, weil sie zu den Superkräften gehören und als solche durch die Genetik, ein wissenschaftliches Experiment, einen Industrieunfall usw. erklärt werden. So kommt es, dass viele Figuren – vor allem weibliche – die Gabe der Telepathie oder der Telekinese haben, oder schlicht die Fähigkeit, einen Bann auszusprechen (The Red Witch in den Comics von Marvel). Ebenso gelten spiritistische Phänomene mit materiellen Auswirkungen (Erscheinungen, Gespenster, Ektoplasmie) in den Superheldengeschichten als banal. Die Ektoplasmie verdient besondere Aufmerksamkeit, denn sie betrifft alle mit einem der vier Elemente in Verbindung stehenden Superhelden (Feuer für Human Torch, Eis für den Iceman genannten X-Man, Sand für Sandman). Diese Figuren sind befähigt, willkürlich gewählte Mengen des ihnen zugehörigen Elementes zu produzieren, zu formen und von sich zu schleudern.

Groensteen/Morgan: Superhelden

Im Angesicht des Superhelden erhebt sich die antithetische Figur des Super-Bösewichts oder Super-Verräters (englisch: supervillain). Wir werden die Genealogie dieser Figur hier auslassen und die lange Ahnenreihe der Rebellen, Despoten, verrückten Wissenschaftler, Ausgeburten des Teufels und anderen Inkarnationen des Bösen nicht nachzeichnen, deren Vertreter Texte aller Sorten ausschmücken und auch die wirkliche Geschichte bevölkern. Natürlich verleiht die Ideologie des Nazi-Regimes, welche sich zum Zeitpunkt des Aufschwungs des Superheldengenres durchsetzt, dem Archetyp der bösartigen Kreatur eine neue Relevanz; sie wird zur direkten Inspiration für mehr als einen Super-Bösewicht (Iron Jaw, The Hun oder auch The Red Skull). Die Superheldengeschichte als Textsorte wird von der Konfrontation zwischen den Kämpfern des Guten und des Bösen strukturiert, was ihr eine mythische Dimension verleiht, welche ihr im Übrigen jedoch tendenziell jegliche Glaubwürdigkeit entzieht. Es handelt sich dabei um ritualisierte Auseinandersetzungen, die sich in einer konventionalisierten Welt abspielen, in einer Art Paralleluniversum, das von einem Symmetrieprinzip regiert wird. Alles geschieht im Kreise einer »übermenschlichen Familie«, welche von einem manichäischen Kampf zwischen Gut und Böse zerrissen ist, ein Kampf, in dem »der Sieg des Guten, den man zwar am Ende jeder Geschichte erwartet und erhofft, sich als vorübergehend, provisorisch und anfällig erweist« (Hatfield: 125). Superheld und SuperBösewicht bilden im Endeffekt eine Art Paar, was im Übrigen szenisch eingesetzte Peripetien oder revisionistische Neuinterpretationen von Mythen begünstigt. Es ist schwierig, einen Gegner zu erfinden, der einem Übermenschen das Wasser reichen kann. Und wenn man einmal einen zur Hand hat, wäre es schade, vorschnell auf ihn zu verzichten. Wie im Melodrama tritt der Super-Verräter trotz aller Bemühungen, ihn unschädlich zu machen, immer wieder auf den Plan, und stellt sich immer als der Initiant sämtlicher Komplotte heraus. Da wo der volkstümliche Roman noch gewisse Vorkehrungen traf, um eine solche Begegnung zwischen Held und Verräter zu rechtfertigen, lassen die Superheldengeschichten diese unvermeidlich erscheinen. Die Konfrontationen der Superhelden mit den ihnen sozusagen zugeteilten Gegnern kommen also nie zu einem Ende: der Joker oder der Pinguin gegen Batman, Dr. Sivana gegen Captain Marvel, Lex Luthor, Darkseid oder Atomic Skull gegen Superman (Blake und Mortimer eliminieren Olrik im Übrigen auch nicht definitiv). Dies hat unweigerlich das Missfallen der Erzieher erregt. Die Tatsache, dass die Bösewichte »von den Szenaristen die Erlaubnis erhielten, ungeschoren davon zu kommen«, schrieb zum Beispiel R. Carnell im Dezember 1977 im Parents’ Magazine, stelle »für beeindruckbare Kinder eine beträchtliche Gefahr dar. Diejenigen, welche Böses tun, sollten nicht als unbezwingbar dargestellt werden.« Wenn die Auseinandersetzung sich auf ganze Teams von Superhelden und Super-Bösewichten erstreckt, wird jede Superheldenfigur häufig mehr oder weniger ausschließlich ihrem bösen Doppel gegenübergestellt. So spiegeln die Frightful Four im Großen und Ganzen symmetrisch die Fantastic Four wider: The Wizard ist die gegnerische Kopie Reed Richards, Medusa, das weibliche Element, stellt sich Sue Storm, der unsichtbaren Frau, gegenüber, die mit einem der vier Elemente assoziierte Figur des Sandman entspricht Human Torch, und Paste-Pot Pete, die sich im Gaunerslang ausdrückende Figur des Schlägertyps, ist der Zwilling von The Thing.

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Die Helden der pulp magazines überführten ihre Großtaten häufig aus exotischen Umgebungen wie dem Urwald, der Wüste, dem Orient, den südlichen Meeren usw. in den »städtischen Urwald«. Wenngleich der urbane Topos eigentlich das Genre des »hard boiled« Krimis definiert, so erlebt eine Figur aus pulps wie Doc Savage dennoch oft Abenteuer in New York, bevor sie sich an einen exotischen, tropischen oder aber polaren Ort begibt (der häufig eine mysteriöse Zivilisation beherbergt), oder auch in eine industrielle Umgebung (Fabrik, Mine, Staudamm). Auch die Superhelden widmen ihre Aufmerksamkeit sowohl ihrer Stadt als auch Expeditionen in die Ferne. In den Comics von Marvel laufen die Kämpfe des Superhelden fast ausnahmslos vor dem Hintergrund eines Wolkenkratzers ab. Jedoch besagt eine der fiktionalen Konventionen, dass diese Kämpfe niemals finanzielle Schäden hinterlassen, weshalb die in Mitleidenschaft gezogenen Wohngebäude immer schon vorab zum Abbruch bestimmt sind. Die modernen Szenaristen werden dies gewissermaßen noch übertrumpfen, ohne aber Grundlegendes zu verändern. So ist man in Warren Ellis’ Wildstorm Zeuge der Zerstörung sämtlicher großer Hauptstädte der Welt, doch bleibt diese paradoxerweise ohne Folgen für die Erzählwelt. Superman und Batman haben ihre eigene Version der wirtschaftlichen Hauptstadt der Vereinigten Staaten (Metropolis bzw. Gotham City). Im Falle der Figuren von Marvel ist die Angelegenheit komplexer, denn sie wohnen alle in New York, welches somit zur Superheldenstadt wird. Um diese Ausnahmesituation ins Rationale zu überführen, behandeln die Autoren die Superhelden, als wären sie Stars, und ihre öffentlichen Auftritte (außer den Kämpfen) ziehen folglich Menschenaufläufe und Autogrammwünsche nach sich. 1986 erschienen bei D.C. zwei Werke, die das Genre in ein dunkleres und vor allem realistischeres Register als je zuvor einzubinden schienen: The Dark Knight Returns, von Frank Miller (ein Abenteuer, das einen alternden Batman zeigt), und Watchmen, von Alan Moore und Dave Gibbons. Nebst anderen Ambitionen wollte Moore, wie es scheint, auf die Einwände Ecos antworten, indem er die Hypothese des Superhelden wirklich ernst nahm und alles daran setzte, sie glaubwürdig erscheinen zu lassen und alle Konsequenzen zu ziehen, die die Existenz eines derart überlegenen Wesens in der realen Welt unausweichlich hätte. Ein einziger der Watchmen besitzt tatsächliche Superkräfte: Doctor Manhattan. Die anderen sind Normalsterbliche, die sich zu maskierten Rächern berufen fühlen. Der Szenarist stellt im Übrigen die Beweggründe dieser Männer und Frauen, die ihr Leben verkleidet in den Dienst der Verbrechensbekämpfung gestellt haben, mit einer nie dagewesenen Sinnesschärfe und Schroff heit infrage. Einer ist ein überbegabter Utopist und Megalomane, der andere ein gefährlicher Psychopath, der dritte sichert das Fortbestehen einer Familientradition usw. Die Existenz Dr. Manhattans (der infolge eines 1959 geschehenen Laborunfalls ein quasi göttliches Wesen geworden ist; das Ereignis wird später publik gemacht und Doctor Manhattan wird von da an zur Geheimwaffe der Vereinigten Staaten) hat direkte Auswirkungen auf das geopolitische Gleichgewicht: Der Vietnamkrieg wird gewonnen und Nixon mehrmals wiedergewählt. Moore enthüllt auch die verwundbare Psyche eines in seiner Art einsamen Wesens, was zu seiner Loslösung von einer Menschheit führt, der es sich nicht mehr zugehörig fühlt. Watchmen hat die Weiterentwicklung des Genres in der jüngsten Vergangenheit maßgeblich befruchtet. Gewisse typische Zutaten von Watchmen (die Übernahme antiker Helden, der Hyperrealismus, die übersteigerte Gewalt, die Alternativwelt-

Groensteen/Morgan: Superhelden

geschichte, die Alterung der Figuren) sind inzwischen in Superheldencomics relativ üblich geworden, vor allem in anderen Werken von Moore (Supreme) und in den von Grant Morrison (All Star Superman), Mark Millar (Red Son, Ultimates) oder Warren Ellis (The Authority, Planetary, Black Summer) geschriebenen Serien. Die Szenaristen (die Szenaristen britischer eher als diejenigen amerikanischer Herkunft) treiben die Entwicklung des Genres in die Richtung des von Camille Baurin so getauften metacomic. Die Figur des Superhelden wird immer häufiger zum Objekt einer offen reflexiven Neucharakterisierung. Die wachsende Verbreitung der typischen meta-Verfahren (Intertextualität, Parodie, Polygraphie, Neuinterpretation bekannter Figuren, Metalepse usw.) zeigt an, dass das ganze Genre vielleicht in eine neue, ohne Zweifel weniger unschuldige und stärker kodierte Phase übergegangen ist, da es nunmehr gewissermaßen auf ein sachverständiges Publikum abzielt. Um eine etwas unbedarftere Version der Superhelden wiederzufinden, muss man heute wohl auf die blockbuster Hollywoods zurückgreifen, die von Batman, Spider-Man oder auch Iron-Man inspiriert sind.

B ibliogr aphie Baurin, Camille, Le Metacomic. La réflexivité dans le comic book de super-héros contemporain, Doktorarbeit in Literatur & Sprache, Université de Poitiers, Juni 2012. Eco, Umberto, »Le Mythe de Superman«, Communications, Nr. 24, 1976, S. 24-40. Groensteen, Thierry, Parodies. La bande dessinée au second degré, Kap. 3: »Quand les superhéros ne sont pas sérieux«, Flammarion 2010, S. 70-91. Hatfield, Charles, Hand of Fire. The Comics Art of Jack Kirby, University Press of Mississippi 2012. Hirtz, Manuel & Morgan, Harry, Les Apocalypses de Jack Kirby, Les Moutons électriques 2009. Nash, Eric P., Manga Kamishibai. The Art of Japanese Paper Theater, Abrams, 2009.

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Hitler, Comic-Star * Georg Seeßlen 1

Für die Kultur der Entschuldung ebenso wie für die des Bilderverbots war eine Darstellung von Adolf Hitler im Comic Strip nicht anders als blasphemisch zu denken. Er war in den amerikanischen Comics der Kriegszeit aufgetaucht, in der Superhelden und Abenteurer zu den Fahnen eilten, um den deutschen Superschurken mit dem blöden Bart und dem ständig aufgerissenen Mund und seine Vasallen zu bezwingen. Hitler entsprach hier ganz dem Bild des hysterischen Teppichbeißers, eine Mischung aus Mad Scientist und Welteroberer im Format von Ming, dem Erbarmungslosen aus Flash Gordon, die Erfüllung der Fantasie der populären Kultur vom Weltusurpatoren und zugleich seine triviale Enttäuschung. Den Verschwörungsfantasien gelang es nie so recht, ausgerechnet diesen Mann in ihr Zentrum zu rücken. Noch als furchtbare blieb er eine vor allem komische Figur, mit der sich ein Captain America eigentlich nicht abgeben würde, wenn es nicht aus Gründen der Hygiene notwendig wäre, und mit der Daredevil kurzen Prozess machte. Stets sah man die Superhelden die Diktatoren Hitler, Mussolini und Stalin behandeln wie Abfall, am liebsten packten sie sie in eine Tonne oder beutelten sie im Wind. Das Problem war nicht, wie man diese Feinde der Menschheit bezwingen sollte (natürlich genauso wie alle anderen Superschurken auch), sondern wie ihnen das Übermenschliche möglichst drastisch genommen werden konnte, ohne dass sie dabei alles Gefährliche verloren, weil man sie dann als Bedrohung und als Anlass, in den Krieg zu ziehen, nicht mehr ernst genommen hätte. Superman begründete immerhin die Totalitarismustheorie, indem er Hitler und Stalin gleichermaßen verhaftete und Seite an Seite vor das Weltgericht der Vereinten Nationen in Genf brachte, wo sie wegen »unprovoked aggression of defensiveless countries« verurteilt wurden. Die darüber hinausgehende ästhetische Identifizierung des Feindes fiel schwer. Rassische Stereotypen, wie es sie in der zum Propagandastrip gewandelten Serie Terry and the Pirates gab, ließen sich auf den deutschen Faschisten nicht übertragen. Während der Feind im Pazifik als Vertreter einer Rasse gedeutet wurde, konnte der Nazi nur als Vertreter einer Klasse gezeichnet werden. Mit Monokel und Reitstiefeln war er als preußischer Junker charakterisiert, eine Parodie auf eine Klasse, die man im eigenen Land im Süden einst besessen hatte, die nun historisch überwunden schien und auf jeden Fall das Nichtdemokratische und Nichtamerikanische zusam*  Seeßlen, Georg: Hitler. »Comic Star.« In: Ders.: Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur. Berlin: Bertz und Fischer 2013. Teil 1, S. 146-157.

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menfasste. Dieser Idealfaschist der populären Kultur schien sehr nahe dem Bild, das Erich von Stroheim in der Ikonografie hinterlassen hat, ein dekadenter, teuflisch planender Roué, fast immer adelig, wie der »von Trepp« aus der propagandistischen Blackhawk-Serie, die selbst in diesem Feindbild, der Karikatur der von den Nazis so bezeichneten »Reaktion«, noch dem bekämpften Gegenbild nahe war. Das generierte einen bizarren Umkehreffekt: Der NS war in seiner späteren Bearbeitung durch uns als eher proletarische, jedenfalls als Massenbewegung identifiziert worden, und in unseren Mythen zur Bewältigung hatten die aristokratisch-feudalistischen Altnationalen sowohl in den Kriegsfilmen als auch in den Heimatfilmen eher die Funktion der Widerparts. So wie in den amerikanischen Comics die schurkischen Deutschen aussahen, so sahen in den deutschen Trivialepen die alten, nichtkommunistischen und daher guten Widerstandskämpfer aus. Die aristokratische Attitüde, die in der amerikanischen popular culture gerade den faschistischen Deutschen charakterisierte, bewahrte in der deutschen populären Kultur den soldatischen Menschen davor, als Faschist identifiziert zu werden. In der Regel aber zeichnete der Comic allerorts den Krieg als harte aber befriedigende Männersache mit guten Kumpels auf allen Seiten, und Hitler, Roosevelt, Stalin und Churchill unterscheiden sich eher durch ihre strategischen als ihre moralischen Grundsätze. Eine eher kuriose Mischung dazu bietet das wöchentlich erscheinende englische Comic-Magazin Battle, in dem uns zum Beispiel »Young Hitler« im Ersten Weltkrieg als fanatischer und kämpferischer Soldat vorgestellt wird, der seine Kameraden zusammenschlägt, wenn sie von ihrer Sehnsucht nach Frieden sprechen, und in der gleichen Ausgabe erhalten wir die Comic-Version des »Fight for the Falklands«. Deutsche und britische Fliegerhelden gibt es als fast gleichwertige Helden auf Sammelbildern, und ein Bruce Lee nachempfundener Karatekämpfer zieht seine blutigen Bahnen. Die Geister des Soldatischen begegnen einander über alle Grenzen, und der junge Adolf Hitler ist auch nur ein Kriegsheld unter vielen anderen, die immer den wilden Mann spielen müssen. Nach Deutschland gelangten diese Comics nicht. Und wenn man doch einmal eine Serie übernehmen wollte, in der Hitler vorkam, wurde, wie beim Film, kräftig zensiert und manipuliert. In der englischen Serie Die Höllenmaschine zum Beispiel versuchen englische Exsoldaten, den Mord an einem ihrer Kameraden aus dem Weltkrieg aufzuklären – das Kriegsgeschehen ist in der deutschen Version nach Korea verlegt – und entdecken bei ihrer Suche in den österreichischen Alpen das terroristische Privatreich eines Grafen Dorade, der auch in der Bearbeitung seine Ähnlichkeit mit Adolf Hitler so wenig verbergen kann wie seine Schergen die ihre mit SS-Männern. Der also überlebende Adolf Hitler ließ den englischen Erfinder ermorden, um mit Hilfe seines Riesencomputers erneut die Möglichkeit zur Zerstörung der Welt in die Hand zu bekommen. In der deutschen Version des Jahres 1976 ist jede offensichtliche Spur eines faschistischen Hintergrunds der Story getilgt, und Hitler wurde sogar ein falscher Bart verpasst. Die Fantasie von der »Wiederkehr« des Faschismus ist die verbreitetste in der populären Kultur. In ihrer mythischen Erzählweise werden Hitler und die Seinen paradoxerweise erst in ihrer gespenstischen Wiederkehr »wirklich«. In einer Geschichte um den Mächtigen Thor aus dem Jahr 1969 bekämpft der wiedergeborene Donnergott eine Organisation, die vom »Henker« angeführt wird, und deren Soldaten deutlich an das Hakenkreuz erinnernde Armbinden tragen. Auch die Panzer erinnern an die deutsche Wehrmacht, doch zur gleichen Zeit ist auch die

Seeßlen: Hitler, Comic-Star

Identifikation als lateinamerikanische Soldaten nicht ausgeschlossen. Es handelt sich schließlich um eine »Revolutionsarmee«, die folgerichtig am Ende von der »demokratischen Armee« bezwungen wird. Die Überdeckungsarbeit ist auch hier gelungen. Was in der Bedrohung »links« und was »rechts« ist, lässt sich nicht mehr unterscheiden. Faschistische Tyrannei und sozialistische Revolution sind auch in den Bildern ineinandergestürzt, die Zeichen der Bedrohung flottieren so frei wie die Zeichen der Provokation auf der Jacke eines Rockers. »Veränderter Text«: Hitler und der II. Weltkrieg

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Die »Bändigung« des faschistischen Bildes gelang auch in den Comic-Versionen historischer Aufklärung nur sehr bedingt. In der Übernahme der franco-belgischen Serie Der Zweite Weltkrieg in Bildern von Pierre Dupuis, deren deutsche Ausgabe 1977 bezeichnenderweise mit dem Titel Hitler und der II. Weltkrieg versehen worden war, erscheint Hitler in einer Mischung aus gezeichneter Wochenschaudokumentation und Action-Comic vor allem als Stratege in einem gigantischen Reißbrettkriegsspiel. Nach dem »Wüten« der alliierten Bomber sehen wir einen »erbärmlichen Adolf Hitler« der den heroischen Jungen an der letzten Front die Wange tätschelt. »Und die Augen dieser jungen Soldaten – halbe Kinder noch – leuchteten seelig…« In dieser Version der Kriegsgeschichte erscheint der »Bombenterror« der Alliierten als das größere Verbrechen, und die einzigen menschlichen Konflikte, die geschildert werden, spielen sich bei den Bomberpiloten ab, die nicht ertragen können, gegen zivile Ziele eingesetzt zu werden. Immerhin wird im Impressum eingeräumt, dass es sich bei der deutschen Ausgabe um einen »veränderten« Text handelt. In ihm erfahren wir aus dem Mund des 1945 von seinem Posten enthobenen Generalleutnant Galland die Ursache für die deutsche Niederlage: »Göring war seinem Herrn unterwürfig ergeben. Er vergaß darüber, dass es seine Hauptaufgabe war, die deutschen Städte gegen Luftangriffe zu schützen. Politische Intrigen, Machtkämpfe und persönliche Empfindlichkeiten haben den Feldmarschall blind gemacht.« Scheitern musste auch der Versuch, Adolf Hitler in Form eines »analytischen« Comic darzustellen. Friedemann Bedürftig (Text) und Dieter Kalenbach (Zeichnungen) versuchen in ihrer zweibändigen Arbeit Hitler eine Aufklärung über zeitgeschichtliche Verhältnisse auf eine möglichst direkte Art, und gerade dabei missverstehen sie die Semiologie des Comic gründlich. Die Seiten sind aus ineinander collagierten, oft schräg montierten Bildteilen mit zum Teil offenen Rahmen gestaltet, denen durch Textblöcke Stabilität verliehen wird. Die Rhetorik ist einfach: Um in den instabilen, chaotischen und oft effekthaften Bildern Halt zu finden, bietet sich der Text als »ordnende« Hilfe an. Es ist nicht möglich, sich dagegen zur Wehr zu setzen, sich mit den wiederkehrenden Bildelementen zu identifizieren, vor allem mit der Figur Hitlers selbst, der uns mit seinen Gedanken vorgestellt wird: »Herrlich, diese wuchtigen Gewölbe. Warum nur baut niemand mehr so? Ich werde eine neue große Baukunst schaffen!« Dieser »denkende« Hitler scheint mir ein besonderes Indiz für den hier ungelösten Widerspruch zwischen der mythischen Erzählweise des Mediums und den realistischen Absichten der Autoren. Wir erhalten durch diese rhetorische Figur die Illusion, tatsächlich zu wissen, was Hitler dachte, dass dieses Denken eindeutig, in sich logisch und nicht zuletzt, dass es autonom war. Dieses »Wissen« aber wird im Comic nicht analytisch, sondern symbiotisch vermittelt. Wir können nicht anders, als für den Augenblick Hitler »sein«. Allegorie, Zitat und Comic-Szene stürzen so ineinander, dass wir den Helden, nämlich Hitler, zunächst nicht anders denn als Opfer erleben können. Er befreit sich sozusagen aus der Rolle des Opfers, indem er immer mehr aus dem Bild heraustritt, es dominiert, sich seriell über einer Seite vervielfältigt und indem seine Zeichen, das Hakenkreuz, die Fahnen, Waffen und Uniformen, immer mehr das Bild beherrschen. Im »Sturm auf die Feldherrenhalle« ist Hitler ganz und gar in heroischer Pose gezeichnet. Die Ermordung Horst Wessels ist deutlich erkennbar als die Tat der Bösewichte gegen einen Helden. Wüssten wir nicht, um wen es sich

Seeßlen: Hitler, Comic-Star

da handelt, wir müssten aus den Bildern eine origin story heraus lesen der Art, wie ein Held aus außergewöhnlichen Lebensumständen und Verlusten sein Wesen, sein Outfit und seine Zeichen formt in einem Impuls, in dem aus persönlicher Rache soziales Sendungsbewusstsein wird: Hitler ist so das Negativ eines »Superhelden«. Die Struktur des Mythos, die auch ohne konkreten Inhalt funktioniert, scheint also die Gestaltung vorzuschreiben, ohne dass sich die Erzählung dessen bewusst wird. Anders gesagt: Wie in so vielen medialen und musealen Nachinszenierungen des Faschismus schaffte es auch diese Comic-Serie, ohne auch nur einmal die Unwahrheit zu sagen, ohne die wahren Greuel zu verschweigen, der faschistischen Inszenierung auf den Leim zu gehen, indem zum einen die Grundmythen seiner Entstehung übernommen werden und zum anderen seine ästhetische Identifikation direkt wiedergegeben wird. So entsteht ein immer gleiches Bild und eine immergleiche Lesart, die freudige oder widerwillige Identifikation, das Erlernen der faschistischen Formen- und Zeichensprache bis zum Umkehrpunkt, ab dem die systematische Verfolgung und Vernichtung der Juden und der Krieg die geschaffene Identifizierung wieder abbauen sollen. Über den Massen, die oft nur als rote Kreise mit Fahnen dazwischen dargestellt werden, erheben sich immer wieder die Führer. Denunziation der Nationalsozialisten im Bild erschöpft sich zunächst in der SA, die als prügelnde Horde gezeichnet ist, und ihre Vertreter reißen die Münder besonders beim Marschieren auf. Die falsche Rhetorik lässt hakenkreuzfahnenschwingende Männer und Frauen und Hakenkreuzfahnen tragende SA-Männer gemeinsam als Schatten ein neuerliches Hakenkreuz bilden, während Hindenburg sinnierend zusieht und denkt: »Das Volk scheint diesen Hitler zu wollen. Gebe Gott, dass dies der Auf bruch zu neuen Zeiten wird und unser Volk zur Ruhe kommt.« Die Dialektik zwischen faschistischer Führung und Volk wird also in ein typisches mythisches Bild projiziert, das der weise »Vater« noch überhöht, indem er seinen Symbolgehalt aufgreift und in eine historische Dimension überführt. Hindenburg ist ein typischer »Nebenheld«. Zu Beginn des Naziterrors ist Hitler immer mehr vom Rande her im Bild. Er ist Urheber; Stacheldraht und Blut grenzen die Bildsegmente voneinander ab; nach den Terrorszenen zeigen sich die Nazikitschzitate als Erlösung. »Dies ist der schwärzeste Tag in meinem Leben, aber ich werde strenges Gericht halten über die Verräter«, sagt Hitler aus einer JU-52 heraus, die sich durch einen drohenden Himmel dem blutigen Rot der Liquidation Röhms und seiner SA nähert. Die Bilder zeigen also keinen historischen, sondern einen inneren, keinen linearen, sondern einen imaginären Zusammenhang, ausgehend von einer Figur, bei der Denken, Sprechen und Handeln so sehr identisch sind, dass die Welt sich nur aus ihrer Sicht zeigen kann: Hitler wird das Recht zugestanden, Subjekt der Erzählung zu sein. Im Krieg zeigen die deutschen Soldaten einen heroischen, die russischen einen panisch-entschlossenen Ausdruck, die Seelen fahren aus dem KZ-Ofen gen Himmel, einen Davidstern bildend. Auch hier zeigt sich das Problem des Comics, die »Lösung« in schlüssigen, alles sagenden Bildern zu suchen, zugleich verheddert sich der Stil heillos zwischen den Erfordernissen der Erzählung an sich (einschließlich der Bilder von Freund und Feind), den Zitaten faschistischer Ästhetik und anderer Bildsprachen, wie etwa die des synthetischen Dokumentarismus, und der historischen Wirklichkeit. Bedürftig und Kalenbach fallen gerade dadurch, dass sie eine Nähe zur Realität bis zum direkten Fotozitat suchen, auf die Comic-Mythologie herein. Es geht um Helden, auch wenn wir sie hassen müssen, es geht um die Schaffung einer Paral-

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lelwelt, die »in sich« stimmt und funktioniert, und es geht um die Schaffung der verlässlichen Zeichen. So ist dieses Scheitern durchaus exemplarisch. In der Dialektik von Entschuldungskultur und Bilderverbot konnte keine Methode des kritischen Umgangs mit faschistischen Bildern und Bildern des Faschismus erarbeitet werden, und als das Bilderverbot am Ende der 1970er Jahre fiel, kippte es in eine sonderbare Bildersucht, der die kritische Distanzierung nur noch Beiwerk schien. Dass so viele Versuche, sich über das Bild dem Faschismus und dem faschistischen Bild zu nähern, einen geradezu aufreizenden Mangel an ästhetischer und politischer Reflexion offenbarten – es ist, als müsse stets und augenblicklich angesichts des faschistischen Bildes der deutsche Verstand stillstehen –, zeigt das Problem der Aufklärung in ihrer doppelten Behinderung durch die Komplizenschaft von Entschuldungskultur und Bilderverbot und durch die gegenseitige Boykottierung von Kultur und populärer Kultur. Erich Kuby liefert im Vorwort des Comics eine umgekehrte Erklärung. »Die Regale füllende Hitler- und NS-Literatur, diese wissenschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus, wird gerade von der jungen Generation nicht gelesen, weil diese – woran sie nicht schuld ist! – überhaupt nichts mehr vom konzentrierten Lesen hält, nachdem sich ein optisch-bildmäßiger Konsum von ›Kultur‹ durchgesetzt hat; ganz besonders hält sie nichts vom Lesen schwieriger zeitgeschichtlicher Analysen!« Einmal ganz davon abgesehen, dass der Autor dafür jeden Beleg schuldig bleibt, wertet er dabei das Medium und die Methode auf ignorante Weise ab und verstellt den Blick dafür, dass der Comic eben keine optische Vereinfachung der Lektüre darstellt, sondern eine andere Lektüre. Seine Sprache ist so reich und komplex wie die Sprache des Romans, aber auf andere Weise. Wenn Kuby also den aufklärerisch sich verstehenden Comic als pädagogischen Trick identifiziert, einer lesefaulen Generation Grundwissen zum NS zu vermitteln, beschreibt er schon die Fatalität dieses Vorgangs. Sich durch das Wort gesichert wähnend, verzichtet die bildhafte Reaktion auf das faschistische Bild und auf die Reflexion der eigenen Produktion, sie gestattet sich eine Naivität im Umgang mit diesen Bildern, die sie zu ihrem Opfer macht und die in ihrer eigenen antimodernen Vorstellung von Realismus das faschistische Bild nicht der Erkenntnis öffnet, sondern es in seiner semiologischen Geschlossenheit inflationär über die Gesellschaft verbreitet. Nach dem schrittweisen Verlöschen des Bilderverbots leben wir nun in einer Gesellschaft, in der, so oder so, mehr faschistische Bilder im Umlauf sind als in der faschistischen Gesellschaft selber.

Eisner * Raymond Pettibon 1 […] *** Für Comicfans ist das Museum of Art ein genauso unheilschwangerer und beängstigender Ort, wie es Comicmessen für Kunstliebhaber sind. *** Ich kenne viele Künstler, von denen ich keinen als elitär bezeichnen würde (obwohl manche von ihnen »große Künstler« sind). Auch sind nicht alle Galeristen Wichtigtuer oder sich zu gut, mit einem zu reden. Größtenteils sind sie einfach nur unhöflich. *** »Was ist mit Ebony?« *** In diesen frühen Jahren – dem Golden Age der Comics, als das wir es im Gedächtnis behalten haben – leitete er seine eigene Produktionsstätte und vertrieb sein eigenes Werk The Spirit. Genau hier haben viele große Namen des Metiers angefangen – Künstler wie Jack Kirby, Joe Kubert, Jack Cole, Bob Kane und Lou Fine. Wenn du keine gerade Linie zu zeichnen imstande warst, dann hast du dich im Schreiben versucht. Wenn das auch nichts war, im Editieren. Will hatte das seltene Talent, all diese Sachen nicht nur zu erledigen, sondern auch zu beherrschen: Hintergrundzeichnungen, Beschriftungen und manchmal sogar das Nachziehen der eigenen Bleistiftzeichnungen mit Tusche. In dieser Phase hat er zu seiner unverwechselbaren Handschrift gefunden.

*  Pettibon, Raymond: »Eisner by Pettibon.« In: John Carlin, Paul Karasik und Brian Walker (Hg.): Masters of American Comics. New Haven: Yale University Press 2005. S. 246-257. Auszug. Übersetzt von Yvonne Knop.

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III. Historiographie

*** Eisner war oft frustriert angesichts einer Comicleserschaft, die alles über ein fiktionales Universum wissen wollte – die kleinsten Details, sowohl im Fall Marvels als auch im Fall DCs – ohne aber die Lebenserfahrung und das Weltwissen gesammelt zu haben, die nötig gewesen wären, um für ihn eine richtig empathiefähige Leserschaft zu bilden. Frag einen Fan alles, was du über den übernatürlich-allmächtigen Superman wissen willst, und er wird dir mit seinem (ebenso übernatürlichen) eigenen Wissen, das er als Fan und Leserbriefschreiber angesammelt hat, sämtliche Antworten liefern. *** The Spirit konnte immer wieder harte Schläge einstecken. Er tat sein Bestmögliches, nehme ich an, um die Korruption und Kriminalität in Central City aufzuhalten (trotz all seiner Bemühungen schienen sie immer mehr anzusteigen – ein Umstand, der selbst Superman an irgendeinem Punkt aufgefallen sein muss, während sich in seiner Wahlheimat heute niemand daran zu stören scheint). Stellt man sie zum Vergleich gegenüber – Siegel und Schusters Schöpfung Superman und Eisners Spirit – wird allen klar sein, wer wen übertrifft. Jack Kirby, der seine Kampfkünste auf dem Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs und in Eisners Produktionsfirma perfektioniert hatte, hätte dem Spirit eine Legion von kostümierten Schurken und Heldinnen entgegenstellen können, von denen einer bunter war als der andere und von denen jede und jeder mit seiner jeweils individuellen Superkraft protzte. Doch wie viel Schutz haben sie wirklich geboten, Jack? Wo war eigentlich Superman, als die beiden Jungen, die ihn erschaffen hatten, und die nun zu erwachsenen Männern mit erwachsenen Bedürfnissen herangewachsen waren, ihn für das brauchten, was er für sie hätte zurückerobern können? Selbst in ihren kühnsten Träumen hätten sie sich niemals ausmalen können, dass es für einen Urheber möglich sein könnte, eine solche Autonomie und kreative Kontrolle über sein Werk zu haben – eine Kontrolle, wie Will sie hatte. Und sei es nur, was die Spirit-Figur anbelangt. *** Ob Comics nun zur Belehrung oder Unterhaltung gelesen werden: Bis auf die Tatsache, dass sie jugendliche Straftaten und Analphabetismus fördern, sind sie nutzlos. Ihr akribisches Studium durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – mit weißen Handschuhen natürlich, als Schutz vor Verschmutzung oder Ansteckung – das hingegen ist für jeden empfehlenswert, der sich in den Gebieten der Kunst, Literatur oder den Kulturwissenschaften bewegen will. *** […] ***

Pettibon: Eisner

Eisners Humanismus (so »humanistisch«, wie etwas sein kann, was verspricht, sich mit der conditio humana zu beschäftigen), eine Art des »Geschichtenerzählens«, das sich in der »realen Welt« mit dem Biss städtischer Lebenswelten abspielt, erweist sich am Schluss aber als weiter entfernt von der Welt, die wir heutzutage als die unsrige, gegenwärtige anerkennen müssen, als die Superheldenuniversen von Marvel und DC. Was die Lektüre eines jeden einzelnen Comics dieses Typus (sei der Comic aus dem Jahr 1935 oder 2005) zudem verdeutlicht, ist Folgendes: Es sind nicht die Superhelden und ihre Welten, die sich verändert haben; wir sind es, beziehungsweise die Art, wie wir leben. Die Präsidentenreden von heute könnten geradewegs aus den Sprechblasen eines Captain America-Comic von 1942 geklaut sein; der einzige Unterschied ist der Kontext. Wenn man den Werbespots Glauben schenken kann, werden Kriege heute auf ganz andere Art und Weise ausgetragen. Zwischen denjenigen, die die Verlockung einer Rekrutierung hervorheben, findet man Spots für Kriegsspiele für Computer und Spielkonsolen, in denen man mit dem Daumen die neuesten und schwersten Waffen bedienen kann. Vor-geschrieben »von einem neo-con«, mit der Absicht, deren Perspektiven auf eine bzw. deren Vorstellungen von einer Sache zu schützen: die Vorstellung eines realweltlichen, instabil-multivirtuellen Universums, das sie aber nie erschaffen (aber vielleicht ist es durch over-plotting so geworden?) oder angeordnet haben – gleichzeitig aber bedürftig der Kontinuität, die mit jeder neuen Ursprungsgeschichte wieder beginnt (oder aber mit jeder alten, jeder alten, die wieder durchgekämpft wird).

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IV. Frühe Stellungnahmen

Einführung Lukas Etter

Im vorliegenden Abschnitt sind frühe Stellungnahmen der 1940er bis 1970er Jahre zum Phänomen der Superhelden versammelt. Wie im Kommentar zur Sektion I angerissen, haben heroische Konzepte und Begriffe wie der des Übermenschen eine lange und komplexe Tradition, und selbst jeder der nachfolgend versammelten Texte hätte seinerseits ungezählte Vorläufer – für William Moulton Marston beispielsweise das 1907 anonym publizierte Argument, dass Nietzsches Übermensch nicht nur den »Superman«, sondern auch die »Superwoman« hervorgebracht habe.1 Auch hier handelt es sich demnach zwangsläufig um eine begrenzte Auswahl – eine Auswahl recht verschiedener und dadurch insgesamt doch exemplarischer Positionen aus unterschiedlichen nordamerikanischen und europäischen Kontexten, angeordnet in chronologischer Reihenfolge. IV.1 Zu den wichtigen frühen Stimmen gehört die des US-amerikanischen Psychologen William Moulton Marston, der nicht nur für seine wohlwollende Einstellung zum Comic-Medium, sondern auch für die Schöpfung von Wonder Woman als weiblichem Gegenpol in der männlich dominierten Welt der Superhelden bekannt war. Der hier auszugsweise abgedruckte Essay wurde 1942 in The American Scholar veröffentlicht, also kurz nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Um Gewalt und Alternativen dazu geht es im abgedruckten Teil des Essays denn auch explizit. Zur Kontextualisierung sei kurz der Beginn des Essays zusammengefasst: Zuerst verortet Marston die visuelle Erzählform der Comics in Traditionslinien von Hans Cranach und William Hogarth, verweist aber auch auf eine außergewöhnliche Eigenschaft: ihre hohe Beliebtheit. Wenn man in den USA von 100 Millionen regelmäßigen Comicleserinnen und -lesern ausgehe, sei selbst dies immer noch eine konservative Schätzung, meint Marston und behauptet zudem provokativ, dass die Lektüre dieser Bildnarrative emsiger und genauer betrieben werde als früher bei den jungen Puritanern das Bibelstudium. Um die Brücke zum hier abgedruckten Ausschnitt zu schlagen: Marston führt aus, dass er in den vor allem von Kindern und Jugendlichen gelesenen Comics großes pädagogisches Potenzial sehe; vom Kulturpessimismus vieler seiner Zeitgenossen, der Comics als Niedergangssymptom auffasste, grenzt er sich ab. Er erläutert, dass im Gegensatz zu früheren, auf Komik ausgerichteten Comics seit 1938 die männlichen Superhelden den Markt dominiert hätten, was er als feministisch gesinnter Essayist für problematisch hält: Der Brutalität der bisherigen Helden müsse auch Empathiefähigkeit, den vielen virilen Heroen auch eine starke Frauenfigur gegenübergestellt werden. Dafür habe er sich mit seiner Superheldin Wonder 1 | Der angesprochene Text erschien 1907 anonym in Current Literature (43, S. 643f.) als »Did Nietzsche Predict the Superwoman as Well as the Superman?«

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IV. Frühe Stellungnahmen Woman eingesetzt, hält er rückblickend fest und verweist auf weitere public intellectuals, die dem Medium und diesen Ideen gegenüber ähnlich aufgeschlossen waren. Marstons Argumentation ist trotz ihrer damaligen Innovation aus heutiger Sicht nicht mehr ausschließlich als progressiv zu beurteilen, denn ganz ohne Essenzialismen kommt sie nicht aus: Weibliche Figuren entsprechen Marstons Darstellung zufolge durchaus einem kanonischen Schönheitsideal, nur sollte diese Schönheit mit Stärke statt mit Untergebenheit gepaart sein. Dass Marstons Stellungnahme und seine Schöpfung von Wonder Woman aber ein bedeutendes Kapitel im Diskurs über die Superhelden waren, dürfte unbestritten bleiben; die Lektüre seines Texts empfiehlt sich in Kombination mit gendertheoretischen Ansätzen aus der zeitgenössischen Forschung (s. Sektion VI) und mit den jüngeren Debatten über die Darstellung von Wonder Woman im Kinofilm. IV.2 Ein Essay- und Bilderbuch zugleich, welches dann seine größte Wirkung entfaltet, wenn man es nicht ausschließlich ernst nimmt – so ließe sich das Konzept von Herbert Marshall McLuhans Die mechanische Braut prägnant zusammenfassen. Es war der Text, mit welchem der kanadische Medientheoretiker und -historiker 1951 erstmals auf sich aufmerksam machte. Die mehreren Dutzend Kurzessays, die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können (McLuhan beschreibt sie als Mosaik), erklären die den Autor umgebende Welt der Werbung, des Geldes und der Medien – das Nordamerika (oder die sogenannt westliche Welt) seiner Zeit. Jeder Kurzessay basiert auf einem Schnipsel aus Werbung und Publizistik, welcher dann mit einigen assoziativen Fragen ergänzt wird. Der Rest des Eintrags ist eine kreativ-kontextualisierende Analyse des Beispiels. Das Buch basierte auf McLuhans Vorlesungen und Vorträgen in den 1940er Jahren zu konkreten Beispielen aus der Reklame. Unter anderem nennt McLuhan im Vorwort Edgar Allan Poe als Inspiration. Dessen Figur des Seemanns, der die großen Strudel beobachtet, anstatt sich davor zu retten, sei Sinnbild dafür, wie man sich der Welt der Werbung stellen solle: Sie wahrnehmen, sie kritisch beleuchten, sich aber trotz der Kritik nicht in eine moralisierenden Rückwärtsbewegung begeben. Die hier ausgewählten Essays beziehen sich beide auf Superheldencomics. Im ersten Fall wird unter dem Titel »Superman« unter anderem die rhetorische Frage aufgeworfen, ob denn die Antwort des Menschen auf die mechanisierte Welt sein sollte, sich selber zur Maschine zu machen. Stark wie eine Maschine und den menschlichen Technologien verpflichtet ist die Figur Superman sicherlich – das wird an dem Comicpanel deutlich, das den Essay begleitet und in welchem Superman in der Sprechblase expliziert, was er mit dem Hochhieven eines Pfeilers bewirken will: »No More Flood!« Für McLuhans Werk typisch ist aber, dass er in der Schlusspassage offen lässt, ob er vom träumenden Menschen oder vom imaginierten Superhelden spricht, wenn er sich den Himmel mit »unvollkommene[n]« Menschen bevölkert ausmalt. Im zweiten Essay (»Geld und Comics«) wird die wirtschaftliche Rentabilität der Superheldencomics zusammen mit Abenteuercomics, Groschenromanen und anderen populärkulturellen Erzeugnissen reflektiert. Abgebildet ist diesmal eine Ankündigung: Das Cover der Writer’s Digest-Ausgabe von November 1947, demgemäß Stan Lee in dem Heft zur Sprache kommen würde mit der Äußerung »There’s Money in Comics!« Mit wiederum betont assoziativen 2 Ausführungen stellt McLuhan Lees Verteidigungsrede der Comics zwar in ein kritisches Licht, stimmt aber grundsätzlich doch der Einschätzung zu, wonach Kunstkritik nie das Populäre und scheinbar Wertlose außer acht lassen dürfe.

2 | Wie z.B. die am Anfang des Essays eingebrachte und mit einem Wortspiel assoziierte Comicfigur Steve Canyon (Colorado und Grand Canyon) in dieser Frage zu verorten wäre, lässt McLuhan offenbar bewusst offen.

Etter: Einführung IV.3 McLuhan spricht auch ein Thema an, das nach 1951 für den nordamerikanischen Comicmarkt noch bedeutend weitere Kreise ziehen sollte: die Debatten um Gewalt in den Superheldencomics und die damit einhergehende Zensur. Bereits 1949 hatte Gershon Legman in seinem Buch Love and Death den Comics seiner Zeit ein Kapitel gewidmet und diese für das Zelebrieren von Gewalt und Brutalität gerügt. Der Deutsch-Amerikaner Fredric Wertham, der an der Ostküste der USA als Psychiater und forensischer Gutachter tätig war, hatte sich in den 1940er Jahren einen Namen gemacht mit Veröffentlichungen zu jungen Erwachsenen und Jugendlichen, die sich schwerer Gewaltdelikte schuldig gemacht hatten. Die Debatten um Legman und Wertham kommen im vorliegenden Reader an verschiedenen Stellen zur Sprache und sind auch kulturgeschichtlich ausgiebig erforscht: Wertham wurde zum Wortführer der Comicgegner, da er, insbesondere mit seinem erfolgreichen Buch Seduction of the Innocent (1954), eine beträchtliche Zahl seiner Zeitgenossen davon überzeugen konnte, dass die Jugendkriminalität in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg rapide zugenommen habe. 3 Die Gründe dafür glaubte man in den sehr beliebten Horror- und Superheldencomics zu wissen; es kam zu einer sich mit den McCarthy-Hexenjagden überschneidenden politischen Kampagne auf fast allen Ebenen der US-amerikanischen Gesellschaft, die zum Ziel hatte, die Darstellung gewisser Gegenstände in Superheldencomics (und anderen Genres) zu verbieten. Anhörungen vor dem Senat fanden ebenso statt wie Beratungen in Schulen; die National Parent Teacher Association und Pfadfinderverbände riefen zur »Säuberung« der Kinderzimmer und Haushalte auf; die Kampagne fand ihren vorläufigen Höhepunkt in einer de facto durch äußeren Druck auferlegten Selbstzensur der Verlage (dem berühmten Comics Code). Ähnliche, ebenfalls gut erforschte Diskussionen zur angeblichen Verrohung der Jugend durch Comics gab es während des Kalten Kriegs auch in Großbritannien und Kontinentaleuropa. Werthams Buch, so abstrus und zusammengewürfelt seine Ideen oftmals waren, ist ein essenzieller Teil der Diskursgeschichte über die Superhelden und liegt hier in einem kurzen Auszug vor. Der Autor benennt darin die angeblich schädlichen Komponenten: Verherrlichung von Gewalt, unkritische Darstellung kriminellen Verhaltens, Sexualisierung von Handlungssträngen und nicht zuletzt die »Schreckensgestalt« Wonder Woman. Bei solcher Lektüre verwundere es nicht, wenn Jugendliche auf die schiefe Bahn gerieten. Werthams Kritik richtete sich spezifisch gegen die Comic Books (also standardformatige, auf billigem Papier gedruckte Comichefte mit zumeist jugendlicher Leserschaft) und weniger gegen die – von Alten und Jungen gleichermaßen konsumierten – Zeitungscomics. IV.4 Wenn heute Romane geschrieben werden mit Superheldinnen und Superhelden als Hauptfiguren, scheinen die Autorinnen und Autoren die Figuren ernst zu nehmen. 4 Anders verhielt es sich in den 1960er Jahren; das Genre der Superheldenromane war noch gar nicht geboren, und auch in der bildenden Kunst, genauer unter den Pop-Art-Künstlern, war das Verhältnis zu den Superheldennarrativen ein ambivalentes – so etwa auch bei Roy Lichtenstein, einem der erfolgreichsten Vertreter der Strömung. Lichtenstein erklärte in einem Interview zum Wesen von Pop Art, dass er die »faschistischen« Comic-Helden, die seinen Bildern 3 | Vgl. Amy K. Nyberg: Seal of Approval. The History of the Comics Code, Jackson 1998; Bart Beaty: Fredric Wertham and the Critique of Mass Culture, Jackson 2005; zu explizit und implizit psychoanalytischen Komponenten des Diskurses vgl. Sharon Packer: »Sex and Superheroes. Sublimated and Subversive«, in: Dies.: Superheroes and Superegos. Analyzing the Minds behind the Masks, Santa Barbara 2010, S. 173-196. 4 | Von superheroischen Figuren und ihren Schöpfern handeln etwa Anthony McCartens Death of a Superhero (2006), Alison McGhees Falling Boy (2007) oder Marco Mancassolas La vita erotica dei superuomini (2008).

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IV. Frühe Stellungnahmen zugrunde lägen, nicht ernst nehme. Das Gespräch erschien 1963 in der November-Ausgabe von Art News, G. R. Swenson hatte hierfür längere Wortmeldungen unter anderem auch von Jim Dine und Andy Warhol aufgezeichnet. Der Einstieg in den hier abgedruckten Ausschnitt 5 ist ein Teil von Lichtensteins Antwort auf die Frage, was Pop Art denn sei. Dass die Antwort im Präteritum beginnt, hat damit zu tun, dass die Pop Art sich bereits in den 1950er Jahren formiert und einige ihrer wichtigsten Exponenten hervorgebracht hatte – im US-amerikanischen wie auch im britischen Kontext. Lichtenstein zufolge hat man in dieser Zeit fast alle Gegenstände zu Kunstobjekten machen können; selbst Gebrauchsgrafiken seien nicht auf Ablehnung gestoßen. Zu diesen Grafiken – dies wird im Verlauf des Ausschnittes klar – zählt er insbesondere auch Mainstream-Comics. Durch die Aufnahme solcher Sujets suche er gerade nicht nach konkreter Abbildung, sondern nach Vereinheitlichung – so dass die verschiedenen Genre-Comics zu dem beitrügen, was das Universelle seiner Werke ausmache, nämlich eine Art von US-amerikanischer Industrialisierung, wie sie »bald« auch Europa dominieren werde. Interessant ist dieses Interview nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die Motive von Lichtensteins Œuvre sich aus allen möglichen Genres der Mainstream-Comics speisen (sehr oft beispielsweise auch Ro­m ance-​ Comics). Lichtensteins Reflexionen können also auch so gelesen werden, dass er den alten Faschismusverdacht von Superheldencomics auf alle Mainstream-Comicfiguren ausweitet. Damit erteilt er nicht nur der ostentativ affirmativen Haltung etwa eines Andy Warhol gegenüber Superman eine Absage, 6 sondern misst auch generell den im Comic erzählten Geschichten eine untergeordnete Bedeutung zu: Was für Lichtenstein zählt, ist das Comicmagazin als Produkt einer hochkommerzialisierten Gesellschaft. IV.5 Der darauf folgende Text, »Der Mythos von Superman« von Umberto Eco, ist wieder bedeutend expliziter auf Superheldennarrative ausgerichtet. In diesem Text, den auch Ole Frahms Aufsatz in Sektion VI kritisch beleuchtet und kontextualisiert, betrachtet Eco seriell publizierte Populärkultur wie eben die Superman-Comics und setzt sich zum Ziel, einer »neuartigen Version der Mythenbildung« nachzuspüren, indem sowohl das, »was auf das Bild folgt«, als auch das, »was hinter dem Bild steckt«, analysiert werde. Als moderne Mythen fungieren die besagten Comics Eco zufolge deshalb, weil ihnen ein klares ideologisches Raster zugrunde liege, welches aber – und dies ist entscheidend – von der breiten Masse nicht als solches erkannt werde. Die ausgesprochen aktive Massenrezeption von Terry and the Pirates (ab 1934) habe schon Ähnliches gezeigt, aber bei den Superhelden komme noch das Identifikationsangebot ihrer Sidekicks hinzu: Diese Helfer und Nebenfiguren geraten auch ohne eigene Superkräfte in größte Abenteuer mit gutem Ausgang, und dies – so die Suggestion für jede Leserin, jeden Leser – könnte dem ›normalen‹ Individuum auch widerfahren. Eco machte sich als Semiotikprofessor und public intellectual insbesondere ab den frühen 1960er Jahren einen Namen, wobei Beiträge wie dieser Essay einen erheblichen Anteil 5 | Der Auszug entspricht der Form, wie er auf Deutsch in einer Materialsammlung zu Lichtensteins Gemälde Drowning Girl publiziert wurde. Er deckt etwa die Hälfte von Lichtensteins ursprünglich in Art News publizierten Statements ab und lässt die Fragen des Interviewers aus, welche aber aus den abgedruckten Antworten hervorgehen. Das Gleiche gilt für einige durch Auslassungspunkte markierte Kürzungen. 6 | Vgl. Warhols Aussagen, wonach er sein Gemälde Superman (1960) aufgrund seiner Vorliebe für die Figur erstellt habe und wonach er sich selber Anfang der 1960er, als er Kenntnis von Lichtensteins Bildmotiven hatte, vom Thema Comics abgewandt habe: Kenneth Goldsmith (Hg.): I’ll Be Your Mirror. The Selected Andy Warhol Interviews, New York 2004, S. 292, 323.

Etter: Einführung an seinem Renommee gehabt haben. »Il mito di Superman« wurde veröffentlicht in Apocalittici e integrati, einer heterogenen Essaysammlung zu ›Kitsch‹ und sogenannter Trivialliteratur. Der Titel drückt das Selbstverständnis des Autors als Vermittler aus und knüpft dabei u.a. an McLuhans Überzeugung an, dass eine kritische Bewertung der Gesellschaft mit den Methoden etwa der Kunstanalyse möglich sei. Anhänger von McLuhans optimistischer Medien- und Kommunikationstheorie bezeichnet Eco als die »Integrierten«. Mit den »Apokalyptikern« ist auf den Kulturpessimismus à la Adorno und Horkheimer verwiesen. Die Essays behandelten einige von Ecos bekanntesten Überlegungen – so diejenigen zur »Dialektik von Form und Offenheit« oder zu »Autor-« und »Werkintention«. »Der Mythos von Superman« gehört mit seinen dicht gestreuten und teilweise unerwarteten Verbindungslinien, etwa zwischen Bildnissen in der mittelalterlichen Offenbarungsreligion einerseits und den Superman-Heften der 1940er Jahre andererseits, zu Ecos wichtigsten Essays. Der Autor nahm die darin beschriebenen thematischen Fäden gegen Ende seines Lebens wieder auf, als er im Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana (2004) einen Buchantiquar mithilfe unter anderem von Superhelden- und Abenteuercomics das Leben reflektieren ließ. Ansätze wie eben McLuhans ethnographisch-essayistischer Zugang zum Kommerz und Ecos semiotisch-kulturwissenschaftliches Interesse an den populären Serien halfen später, den Weg für soziologische Studien zu Superheldennarrativen zu ebnen, etwa den Studien zu Fankultur und partizipativer Kreation. IV.6 Der Schriftsteller und Theoretiker Oswald Wiener interessiert sich ebenfalls für die Tatsache, dass sich die Leserschaft von Superheldencomics mit den Figuren identifiziert. Allerdings entwickelt er in seinem (durchgehend in Kleinbuchstaben verfassten) Text »der geist der superhelden« ein anderes Gedankenexperiment: Wie viele Superhelden könnte theoretisch jedes lesende Individuum durch Außeneinwirkung enorme Kräfte entwickeln, dabei aber eben auch eine Mutation durchlaufen: »gut die hälfte der super-helden verdankt ihre schaurige potenz […] dem eingriff eines lokal irdischen und geradezu statistischen schicksals – es könnte jeden von uns treffen!« Überhaupt interessiert sich Wiener, der auch als Künstler für innovative Ansätze und Projekte bekannt ist (als Kybernetiker, Gastronom, Theoretiker), für Umkehrungen und Gegensätze. Zuerst einmal findet der Autor es erstaunlich, dass nicht öfter die Pressetätigkeit vieler Superhelden beleuchtet wird: Ist es nicht ein Widerspruch, fragt sich Wiener, dass die Individuen, denen Geheimhaltung so wichtig ist, bei Radio und Zeitung ihr Brot verdienen? Auch das Gesamtargument des Essays ist vielleicht unerwartet: Der Intellekt, so Wiener, konzentriert sich in den Köpfen der Bösewichte. Dort finde man die Schnell- und die Andersdenkenden. Die Superhelden selber hingegen seien bedeutend plumper. Sie würden sich durch rohe Gewalt und allenfalls eine physische oder sinnliche Inselbegabung auszeichnen, während die Schurken ihnen intellektuell und organisatorisch stets zwei bis drei Schritte voraus seien. IV.7 Erwartungsgemäß waren also die Senatsanhörungen um Fredric Wertham nicht der einzige Kontext in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in welchem über das Gewaltpotenzial von ›Supermen‹ nachgedacht wurde. In deutscher Sprache hatte zum Beispiel 1954 Albert Schweitzer bei der Annahme des Friedensnobelpreises davor gewarnt, sich als »Übermensch« zu fühlen, ohne dass man auch seine eigene »Vernünftigkeit« entsprechend steigere.7 Schweitzers Kontext waren die beiden Weltkriege und nicht, oder nicht explizit, die Produkte der Unterhaltungsindustrie – ganz im Gegensatz zu deutschsprachigen Stellungnahmen zu Superheldencomics in den 1970er Jahren, von denen einige in reich bebilderten 7 | Vgl. Albert Schweitzer: Das Problem des Friedens in der heutigen Welt, München 1954, hier S. 10.

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IV. Frühe Stellungnahmen Sammelbänden und Katalogen publiziert wurden, etwa um 1970 in zwei Veröffentlichungen namens »Comic Strips«. 8 Die meisten dieser Zugänge, ja überhaupt die frühe Comicforschung zu Beginn der 1970er Jahre, wurden von Dagmar von Doetinchem und Klaus Hartung 1974 für ihre apolitische Ausrichtung kritisiert. In ihrer 200-Seiten-Studie Zum Thema Gewalt in Superhelden-Comics bieten die beiden Autoren als Alternative eine marxistisch-psychoanalytische Lesart des Phänomens der Superheldencomics an. Von Doetinchem und Hartung waren bekannt für außerparlamentarisch-politisches Engagement; ihre Schrift ist trotz einiger Redundanzen innovativ in Ansatz und Erkenntnisinteresse. Das Tabuisieren oder gar Zensieren à la Wertham wäre der denkbar schlechteste Zugang zu Comics, stellen die Autoren klar, und von einer unilateralen Beeinflussung der Massen durch die Comicindustrie könne nie die Rede sein. Ihre Lektüre von Superheldencomics ist trotzdem nicht eben eine optimistische. Weniger, weil die Darstellung von Gewalt unmittelbar die (hier suggerierte) kindliche Leserschaft beeinflussen würde, als vielmehr, weil sie Ungleichheit abbilde: Superman stehe für den »kapitalistischen Staat«, indem das Dasein seiner Kräfte gleichsam axiomatisch den Einsatz dieser Kräfte verlange. Die in diesen Produkten mitreflektierte realweltliche Gesellschaft erachten die Autoren als geprägt von sozialer Ungleichheit, von imperialistischen Kriegen wie dem in Vietnam und von der Tabuisierung von Sexualität und Geschlechterverhältnissen. Damit verbünden sich von Doetinchem und Hartung mitnichten mit denen, die dem Genre seine Existenzberechtigung absprechen wollen, bilden aber im Kontext der 1960er- und 1970er-Superhelden einen interessanten Gegenpol zu den strategisch-enthusiastischen Äußerungen etwa eines Stan Lee (vgl. Sektion V).

8 | Nebst dem Band, in welchem Wieners Text erschien, auch: Hans Dieter Zimmermann: Comic Strips. Geschichte, Struktur, Wirkung und Verbreitung der Bildergeschichten, Berlin 1969; englischsprachige Literatur aus der gleichen Zeit listet beispielsweise Charles Hatfield/Jeet Heer/Kent Worcester (Hg.): The Superhero Reader. Jackson 2013, S. xvi.

Warum 100.000.000 Amerikaner Comics lesen* William Moulton Marston 1

*  Marston, William Moulton: »Why 100,000,000 Americans Read Comics.« In: The American Scholar 13:2 (1943). S. 35-44. Auszug. Übersetzt von Yvonne Knop.

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IV. Frühe Stellungnahmen

Superman und seine unzähligen Nachfolger befriedigen die menschliche Sehnsucht danach, stärker als alle Widerstände zu sein. Sie erfüllen des Weiteren den ebenso universellen Wunsch, dass das Gute über das Böse siegen möge und Unrechtes beseitigt werde, dass Unterdrückte ihren Unterdrückern ein Schnippchen schlagen − kurz gesagt: Ihre Leserschaft fühlt mit; sie erlebt sozusagen indirekt die höchste Genugtuung des Deus ex Machina, wenn dieser monatlich solche Wunder vollbringt und das Gute über das Böse obsiegen lässt. Hier wird die homerische Tradition lebendig – der Achilles mit oder ohne verwundbare Ferse, der Hector, welcher seine Heimatstadt vor fremden Eindringlingen verteidigt, der verratene Agamemnon, welcher seine gerechtfertigte Rachsucht mit unbarmherzigem Zorn verfolgt, und der gerissene Ulysses, welcher durch den klugen Einsatz seiner übermenschlichen Vernunft den Niedergang verführerischer, doch bösartiger Feinde besiegelt. Homer hat in einem Zeitalter, in welchem Bilder nur mit der Fantasie erschaffen wurden, mit seinen Gesängen beachtliche Erfolge erzielt. Jedoch hat ihn M. C. Gaines übertroffen und seinen Partnern und Nachfolgern einen großen Dienst erwiesen, da er das homerische Erbe bei Siegel und Shuster erkannte und das Comicmagazin in ein exzellentes Vehikel für ihre wunscherfüllenden Supermangeschichten im nicht-dramatischen Format verwandelte. Jetzt, wenn dieser Artikel in den Druck geht, können kaum Zweifel daran bestehen, dass das Zeitalter des wish-fulfillment in Bildgeschichten neue Höhen der Beliebtheit, der Leserzahlen sowie des ökonomischen Profits erlebt, und – ich sage dies mit Bedacht – auch neue Höhen des moralischen Nutzens, den die jüngere Generation aus den Geschichten ziehen kann. Wenn Kinder ohnehin Comics lesen, mag dies auch die Hölle auf Erden bedeuten oder den Niedergang der Literatur einläuten, warum sollten wir ihnen dann nicht ein paar konstruktive Comics zum Lesen geben? Schließlich können 100.000.000 Amerikaner nicht falsch liegen – wenigstens nicht was ihre Vorlieben anbelangt. Aber das ausschlaggebendere Argument ist psychologisch. Welche Wünsche fürs Leben möchten Sie in Ihrem Kind wecken? Möchten Sie, dass er (oder sie) sich schwächlichen Zielen verschreibt oder zimperliches Verhalten entwickelt? Ihr Kind mag möglicherweise nicht die Muskeln haben, um 100 Yards in neun Sekunden zu laufen oder um die Position des Außenverteidigers in einer All-American-Football-Mannschaft einzunehmen. Umso mehr ist dies ein Grund dafür, dass es seinen Wunsch, Kraft zu entwickeln, in konstruktive Bahnen lenkt und im Rahmen seiner angeborenen Fähigkeiten verfolgt. Der Wunsch danach, übermenschliche Kräfte zu haben, ist ein gesunder Wunsch, ein unverzichtbares, fesselndes und inspirierendes Verlangen. Je mehr die Superman- oder Wonder Woman-Bildergeschichten diesen inneren Drang unterstützen, indem sie das natürliche Verlangen des Kindes stimulieren, zu kämpfen und Hindernisse zu überwinden, insbesondere böser Art, desto bessere Chancen hat Ihr Kind für seine eigene Entwicklung in der Welt. Es kann gewiss keinen Streit darüber geben, dass das fundamentale menschliche Verlangen – so oft begraben unter Vergnügungen, die den Geist lähmen − danach gestärkt werden sollte, das Gute über das Böse siegen zu sehen. »Happy« Ends werden in den neuen Comics als Ergebnis übermenschlicher Bemühungen dargestellt, anderen zu helfen – nicht als reine Zufälle, welche grundlos der Regel unverbesserlicher Optimisten folgen, dass »alles am Ende immer gut ausgehen wird«. Der moralische Appell dieser neuen Art des Erziehens durch Geschichten

Marston: Warum 100.000.000 Amerikaner Comics lesen

ist weitaus stärker als die alte Tendenz, aus Eigennutz zu handeln. »Sei gut und du wirst glücklich sein« ist ein Slogan, der sich nur schwer verkaufen lässt. Kinder schenken ihm keinen Glauben, nicht einmal in Erzählungen, und sie sind selbst von der gegensätzlichen Aussage nicht sonderlich beeindruckt: »Wenn du schlecht bist, wirst du bestraft werden.« Sie relativieren den letzten Satz, indem sie ein »wenn du erwischt wirst« hinzufügen. Selbst wenn ein Religionslehrer auf das Jenseits verweist, um die Unabwendbarkeit der Strafe zu illustrieren, merkt das durchschnittlich intelligente Kind in diesem zynischen Lebensalter an: »Aber woher willst du wissen, was im Jenseits passiert?« Himmel und Hölle sind psychologisch gesehen weit vom Alltag eines heutigen Kindes entfernt. Doch Heldentaten sind ihr täglich’ Brot. Sich groß, intelligent und wichtig zu fühlen und bei anderen beliebt zu sein, sind realistische Ziele, nach denen alle Kinder streben. Es ist an den Erziehern, zu entscheiden, welches Verhalten als heldenhaft angesehen werden kann. Sollten wir unseren Kindern also beibringen, dass die heroische Sache, die Tat, für welche sie Ansehen bekommen werden, darin besteht, Feinde zu töten und Nachbarn zu unterwerfen, à la Napoleon, Hitler, Dschingis Khan und andere ihrer Art? Oder sollten wir es zum Ziel der Kinder machen, die Schwachen zu beschützen und der Menschheit zu helfen? Die Schule, aus der Bildergeschichten wie die von Superman oder Wonder Woman stammen, besteht eindringlich darauf, dass Heldentum selbstlos ist. Superman tötet nie. Wonder Woman rettet ihre schlimmsten Feinde und rehabilitiert sie sogar. Wenn der unglaubliche Schwall an Comicbüchern, welcher gerade auf die amerikanischen Gemüter eindringt, diese neue Definition des Heldentums in den gedanklichen Strukturen der kommenden Generation etabliert, dann sind sie weit mehr wert als ihren Preis in Papier und farbiger Tinte. Comics haben viele Fehler. Manche ihrer eklatantesten Vergehen wurden beseitigt; andere Angriffe auf die Kultur und den guten Geschmack sind noch immer präsent. Mein erster Auftrag im Bereich der Comics versetzte mich in die Rolle eines Reformers. Ich wurde von Comic-Herausgebern als beratender Psychologe hinzugezogen, um die gegenwärtigen Mängel von monatlich erscheinenden Bildermagazinen zu analysieren und Verbesserungen vorzuschlagen. Für die »Superman-D.C.«-Publikationsgruppe wurde ein Beratergremium aus Pädagogen und Erziehern gegründet. In ihm waren herausragende Autoritäten vertreten, wie Professor W. W. D. Sones, Direktor der Curriculum Study an der Universität Pittsburgh, Professor Robert Thorndike vom Teachers College an der Columbia oder Dr. C. Bowie Millican, Professor für Englische Literatur an der Universität New York. Ihre Bemühungen und die anderer sowie die Kooperation der Herausgeber unter Leitung von M. C. Gaines haben die Standards der englischen Sprache, der Lesbarkeit, der Kunstfertigkeit und des Inhalts in etwa zwanzig Comicmagazinen, die monatlich mit 6.000.000 Ausgaben im Umlauf sind, erheblich erhöht. Bildergeschichten haben sich gut im Schulunterricht bewährt, vor allem auch im Englischunterricht, obwohl die Sprache bis vor Kurzem der häufigste Kritikpunkt an den Strips war. Wir haben die Politik eingeführt, kontinuierlich einen bestimmten Prozentsatz an solcherart Wörter in die Geschichten einzubringen, die über dem durchschnittlichen Lese- und Verständnisniveau eines Kindes liegen. Das Resultat war, dass diese Kinder sich schnell den Sinn der neuen Wörter erschlossen und sie in ihr Vokabular aufnahmen. Ausschnitte aus Superman-Comics wurden erfolgreich im Englischunterricht öffentlicher Schulen eingesetzt, insbesondere an einer

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IV. Frühe Stellungnahmen

Junior High School in Lynn, Massachusetts, wo ein progressiver junger Englischlehrer ein Supermanübungsheft erstellte. Diese Entwicklungen stecken noch in den Kinderschuhen, sie scheinen aber großes Potenzial zu haben.

Die radikalste Abweichung von zuvor anerkannten Regeln der Bildergeschichten resultierte aus einer frühen Empfehlung meinerseits an die Verleger. Aus psychologischer Sicht schien mir, dass das größte Vergehen der Comics ihr haarsträubendes Männlichkeitsbild war. Einem männlichen Helden fehlen die Eigenschaften von mütterlicher Liebe und Zärtlichkeit, welche für ein normales Kind so lebensnotwendig wie das Atmen sind. Nehmen Sie einmal an, Ihr Kind nimmt sich Superman zum Vorbild, welcher seine außerordentliche Kraft nutzt, um den Schwachen zu helfen. Dann fehlt dennoch die wichtigste Zutat für das menschliche Glück – die Liebe. Es ist gut, stark zu sein. Es ist wichtig, großzügig zu sein. Aber zärtlich, liebevoll, warmherzig und charmant zu sein, wird nach den Regeln der Männlichkeit als weibisch angesehen. »Das ist Mädchenkram!«, schnaubt unser junger Comicleser. »Wer will denn schon ein Mädchen sein?« Und das ist der Punkt: Noch nicht einmal Mädchen wollen Mädchen sein, solange es unserem Frauenbild an Macht, Kraft und Stärke fehlt. Indem sie keine Mädchen sein wollen, wollen sie nicht zärtlich, demütig und friedliebend sein, wie es gute Frauen zu sein haben. Die starken weiblichen Eigenschaften werden wegen ihrer schwachen verachtet. Das offensichtliche Gegenmittel besteht darin, einen weiblichen Charakter zu erschaffen, welcher alle Stärken von Superman vereint mit den Reizen einer guten und schönen Frau. Genau das habe ich den Comicverlegern vorgeschlagen.

Marston: Warum 100.000.000 Amerikaner Comics lesen

Mein Vorschlag traf auf Protest und Gelächter. Ob ich denn nicht wüsste, dass es bereits Versuche gegeben habe, Pulps und Comics mit weiblichen Helden zu etablieren, sie aber ausnahmslos gescheitert seien? Ja, merkte ich an, aber sie waren alle nicht Superwomen – keine war den Männern in Sachen Stärke sowie in femininer Anziehungskraft überlegen, keine triumphierte aufgrund von Eigenschaften, die Liebe inspirieren. Meine männlichen Vorgesetzten behaupteten, dass eine den Männern überlegene weibliche Heldin noch weniger Zuspruch finden würde. Jungs würden so etwas nie tolerieren; sie würden dem starken Mädchen seine Überlegenheit übelnehmen. Ich beharrte auf meinem Standpunkt, da Männer sich doch heute ohnehin den Frauen unterwerfen; sie tun es bloß heimlich und mit einem verlegenen Lächeln, weil sie sich dafür schämen, von Schwächlingen beherrscht zu werden. Gebt ihnen eine verführerische Frau, die stärker ist als sie und der sie sich unterwerfen können. Dann werden sie stolz sein, ihre willigen Sklaven zu sein!

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Die mechanische Braut Volkskultur des industriellen Menschen* Marshall McLuhan 1

S uperman

Supermensch oder Untermensch? Phantasieventil für hilflose Unfähigkeit? Die Antwort des Menschen auf die Maschinenwelt ist, eine Maschine zu werden? Glauben Sie, daß sich die Träume des modernen Laborexperten oder des Verwaltungschefs sehr von den Heldentaten Supermans unterscheiden? Hohe Tiere produzieren niedere Träume? Oder ist es genau umgekehrt? *  McLuhan, Marshall: Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen. Übersetzung, Anmerkungen, Essay von Rainer Höltschl et al. Dresden/Amsterdam: Verlag der Kunst 1996.

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IV. Frühe Stellungnahmen

»Superman« wurde etwa 1935 von zwei High-School-Jungs zusammenphantasiert. Das ist an sich schon ein Hinweis auf die »Science-fiction«-Mentalität, an die sich der Comic strip wendet. Aber dieser Strip arbeitet auf zwei Ebenen. Er bedient sich der Phantasien aus dem gängigen Sortiment der Super Science Stories, in denen der Leser Gummitwist und Bockspringen mit Jahrhunderten und Sonnensystemen spielt, wie z.B. in der Geschichte »The Voyage that Lasted 600 Years«. Aber »Superman« ist nicht nur eine Erzählung über tatsächliche oder eingebildete Eroberungen und Errungenschaften des technologischen Zeitalters; es ist für den technologisierten Menschen auch das Drama seines eigenen psychischen Scheiterns. Superman ist im Alltagsleben Clark Kent, ein Niemand. Als drittklassiger Reporter, dessen Unfähigkeit ihm das Mitleid und die Verachtung der mannhaften Lois Lane einbringt, ist sein verborgenes Super-Ich ein pubertärer Traum voller eingebildeter Triumphe. Während Clark Kent noch nicht einmal die Bewunderung von Lois Lane gewinnen kann, wird Superman von kreischenden Mannweibern bestürmt. Superman akzeptiert die selbstauferlegte Enthaltsamkeit mit der Resignation einer stampfenden Schmiede, während Kent einfach nur resigniert. Danny Kaye porträtierte diese Persönlichkeit und diese Situation in der Filmversion von Walter Mittys Geheimleben. Die Thurber-Fans beschwerten sich, daß der Film eine Travestie auf Thurbers Original Walter Mitty sei. Und es stimmt, daß Thurber selbst in der Phantasie seinem Protagonisten jeglichen Triumph verweigert. Thurber zieht es vor, Mitty in einem Zustand verbitterter Erniedrigung zu halten und erlaubt ihm gelegentlich eine verzweifelte Rachetat. Die Einstellung Supermans zu gegenwärtigen sozialen Problemen ist auch eine Widerspiegelung der muskelprotzenden totalitären Methoden eines unreifen und barbarischen Denkens. Wie Daddy Warbucks in »Annie, das Waisenkind« befindet sich Superman unbarmherzig auf einem Ein-Mann-Kreuzzug gegen Verbrecher und gesellschaftsfeindliche Kräfte. In keinem Fall wird die Gerichtsbarkeit angerufen. Gerechtigkeit präsentiert sich allein als Sache persönlicher Stärke. Jede Einschätzung der politischen Tendenzen von »Superman« (und auch seiner zahlreichen Verwandten in der Comic-Welt der gewalttätigen Abenteuer, bekannt als die »Squinky«-Abteilung der Unterhaltung) müßte das Eingeständnis enthalten, daß die Träume von Jugendlichen und Erwachsenen heute sowohl eine steigende Ungeduld mit den mühsamen Vorgehensweisen des zivilisierten Lebens als auch eine rastlose Begierde nach gewalttätigen Lösungen zu verkörpern scheinen. Denn solche Unterhaltung findet ihre Leser über alle Alters- und Erfahrungsgrenzen hinweg, genauso wie die Zwänge der technologischen Welt gleichermaßen für Kinder und Erwachsene, Trottel und Weise zu spüren sind. Wahrscheinlich hat die anonyme Unterdrückung durch unsere unpersönlichen und mechanisierten Verhältnisse unbewußt eine Verbitterung angehäuft, die sich in der Flut fiktionaler Gewalt, die zur Zeit in so vielen Formen verschlungen wird, ein Phantasieventil sucht. Vielleicht interessiert es einige Leser, inwiefern Superman den mittelalterlichen Spekulationen über die Natur der Engel entspricht. Der Wirtschaftswissenschaftler Werner Sombart stellte die These auf, daß die moderne Mathematik und Wirtschaftstheorie Umsetzungen kunstvoller Spekulationen der mittelalterlichen Philosophie auf materieller Ebene sind. Man kann also behaupten, daß Superman ein Comic-Strip-Bruder der mittelalterlichen Engel ist. Denn die Engel, wie Thomas von Aquin erklärt, sind völlig unabhängig von Zeit und Raum und können trotzdem eine räumliche und körperliche Kraft übermenschlicher Art ausüben.

McLuhan: Die mechanische Braut

Wie Superman benötigen sie weder Ausbildung noch Erfahrung, sondern finden sich mühelos in allen Dingen zurecht. Die Menschen haben lange Zeit davon geträumt, wie diese Wesen zu werden. Gefallene Engel jedoch sind bekanntermaßen Teufel. Unvollkommene Menschen, die übermenschliche körperliche Kräfte besitzen, sind mitnichten eine beruhigende Aussicht.

G eld und C omics

Neulich irgendwelche torkelnden Gestalten gesehen? Schon vom Colorado-Denkmal für Steve Canyon, den Comic-Strip-Helden von Milton Caniff, gehört? Das Wortspiel, das versteinerte? Warum sind Sie nicht am Privatleben der Comic-Zeichner und Kitschkünstler interessiert, die unsere Wüstenlandschaft dekorieren? Wird Volkskunst von Volkskünstlern gemacht?

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IV. Frühe Stellungnahmen

Im Widerspruch zu der Maxime »Verbrechen lohnt sich nicht« steht die Tatsache, daß allein Verbrechen und Gewalt in der Comic-Industrie das ganz große Geschäft garantieren. Wie straff und bürokratisch dieses Geschäft organisiert ist, wird aus der Tatsache ersichtlich, daß vor kurzem in einem Zeitraum von sechs Monaten ein großer Teil dieser Unternehmen von Mord- auf Liebescomics umgestellt wurde. Die gleichzeitigen Angriffe von Dr. Frederic Wertham, Mr. G. Legman und anderen ließen eine teilweise Umstellung von Tod auf Liebe ratsam erscheinen. Englische Zensoren hatten darauf gedrungen, daß Disneys Donald-Duck-Cartoons als schädlich verboten werden, weil sie oft voller Gemetzel und Gewalt seien. Und ein A.P.-Bericht aus Wethersfield, Connecticut (13. März 1950), berichtet von der Bestürzung und Entrüstung der Zuchthäusler des Staatsgefängnisses über die Verbreitung von Verbrechen in Radiosendungen und Schundblättern. In diesem letzten Fall schwingt wahrscheinlich der Neid darüber mit, daß ehrbare Bürger so gut dafür bezahlt werden, daß sie Verbrechen aufführen und porträtieren, für die die Berufsganoven hinter Gittern sitzen. In gleicher Weise mag ein ernsthafter Künstler, der froh sein kann, wenn er 2.500 Dollar für ein gutes Porträt bekommt, dieselbe Abneigung gegenüber Norman Rockwell hegen, der 6.000 Dollar pro Sujet erhält, oder gegen Maxfield Parrish, der 10- bis 20 000 für eine seiner Kreationen bekommt. Ein Magazin wie Writer’s Digest ist jedoch erstaunlich bescheiden. Es scheint nicht so sehr geschrieben zu sein, um das Publikum in das himmlische Know-how der Erfolgreichsten einzuweihen, sondern für diejenigen, die sich mit Groschenromanen gerade noch über Wasser halten, indem sie sechzehn Stunden am Tag auf der Schreibmaschine verhämmern. Stan Lee, der Verfasser von »There’s Money in Comics« (»Mit Comics ist Geld zu machen«), warnt die Manuskriptschreiber der Comic-Zeichner: SCHREIBE NICHT AUF DEINE LESER HERAB! Es ist allgemein bekannt, daß ein guter Teil der Comic-Leser erwachsen ist, und die übrigen Leser, die Kinder sein mögen, sind ziemlich helle Köpfe. Sie sind gewohnt, Filme zu sehen und Radioshows zu hören… eine große Menge Gedanken gehen in jede Geschichte ein; und es gibt viele technische Mätzchen, Nebenhandlungen, Gesichtspunkte von menschlichem Interesse …

Das stimmt zufällig. Hinsichtlich der intellektuellen Qualität gibt es kaum zu wählen zwischen Dare Devil Comics und Vom Winde verweht und zwischen den Anforderungen an den romantischen Film und den heutigen Roman. Genau wie bei den emotionalen Schablonen gibt es einen kleinen oder gar keinen Unterschied zwischen dem »Durchschnittskonsumenten« und dem »Billigkonsumenten«. Der Unterschied liegt großenteils im üppigeren Wortschwall und in der opulenteren Ausstattung. Es kann keine Rede sein von Einfühlung oder Geschmack im modischen Film, Roman oder Groschenheft. Aber die Überlegenheit der Groschenliteratur liegt in ihrem Verzicht auf Anmaßung, und darüber sind sich die Leser dieser Form von Unterhaltung im Klaren. Sie haben nie den Eindruck, etwas mit »Klasse« gekauft oder gelesen zu haben. Das grundlegende Kriterium für jede Art menschlicher Größe liegt in seiner Herausforderung an die Intelligenz. In welchem Umfang zieht es das ganze Bewußtsein auf sich? Legt man diesen Maßstab an, gibt es in einem Jahrhundert nur

McLuhan: Die mechanische Braut

sehr wenig Dichtung, Musik, Lyrik oder Malerei, die Aufmerksamkeit um ihrer selbst willen verdienen. Eine Aufgabe der Kritik ist es, die besten Arbeiten aus dem umgebenden Wirrwarr herauszulösen. Aber um den Geist von nervtötender Verwirrung zu befreien, genügt es nicht, dem Herausragenden einen besonderen Platz einzuräumen, ohne die große Masse des Minderwertigen zu beachten. Um mehr und mehr Aufmerksamkeit für die besten Werke zu erreichen, ist es notwendig zu zeigen, was das unvermeidliche Zweit-, Dritt- und so weiter-klassige ausmacht. Und während man das tut, findet man heraus, daß die großen Werke einer Periode sehr viel mit den armseligsten Werken gemeinsam haben. Der Hauch des Unrealistischen, der im Allgemeinen über der erlesenen Kultur kleiner Zeitschriften schwebt, beruht auf ihrer Vernachlässigung der engen Wechselbeziehungen zwischen den guten und den schlechten Machwerken derselben Periode. Das Ergebnis dieser Vernachlässigung ist letztlich das Unvermögen, das Gute an einer guten Arbeit selbst zu sehen. Der große Künstler hat seine Wurzeln notwendigerweise sehr tief in seiner eigenen Zeit – Wurzeln, die die gewöhnlichsten und alltäglichsten Phantasien und Sehnsüchte umfassen.

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Verführung der Unschuldigen* Fredric Wertham 1

Superman-Comics erfahren sehr viel Zuspruch. In einem zufällig ausgewählten Beispiel finden sich im Klappentext die Unterstützungsbekundungen zweier Psychiater, eines Pädagogen, eines Englischprofessors und eines Kinderarztes. Auf der Seite, die diesem Aufgebot folgt, ist ein Mann in der Kleidung eines Jungen dargestellt, der einem Polizisten in den Mund schießt (mit einer Spielzeugpistole). Es handelt sich dabei um einen Streich – »Des Witzbolds zweite Jugend« [»Prankster’s Second Childhood«]. Die Geschichte enthält eine Variante des Comicbuchmotivs vom Mädchen, das ins Feuer geworfen wird: »Ihr Kleid wird in null Komma nichts in Flammen stehen! Sie wird Supermans Hilfe brauchen!« In einer anderen Erzählung steht ein Wohnhaus in Flammen – um das sich nach Ausbruch des Feuers ebenfalls Superman kümmert. Bis kurz vor Ende des Comics werden Versuche, Menschen zu töten, nicht misstrauisch betrachtet, sie sollen offenbar von keinem Menschen verhindert werden, außer von einem Supermann. Die Lehre, dass man alles in allem doch nicht töten soll, wird anschließend folgendermaßen ausgedrückt: »Du hinterhältiger skrupelloser Schuft! Versuch nur, Carol zu töten, versuch’s nur!« Dies ist wohl kaum eine moralische Verurteilung. Der Anwalt, der sich nicht an einem Millionenbetrug beteiligt, wird von Superman gelobt, weil er »ehrlich geblieben ist«. In der Tat wird diese Ehrlichkeit mit einer Million Dollar belohnt! Eine Werbung für Waffen mit vier Abbildungen von Pistolen vervollständigt den Eindruck, dass man, selbst wenn man nicht Superman werden kann, sich über den Durchschnitt zu erheben vermag, indem man Gewalt ausübt. Comics mit Superman, Batman und Wonder Woman stellen eine besondere Form der Kriminal-Comics dar. Die Waffenwerbungen sind aufwendig und realistisch. In einer Geschichte initiiert ein ausländisch aussehender Forscher eine faschistische Bewegung. Etliche Jungs erzählten mir, dass sie fanden, er sehe aus wie Einstein. Kein Mensch und keine demokratische Einrichtung kann ihn stoppen. Es braucht den weiblichen Superman, Wonder Woman. Ein Bild zeigt, wie der Forscher zu einer Volksversammlung spricht:

*  Wertham, Fredric: Seduction of the Innocent. Hg. v. James E. Reibman. New York: Main Road Books 2004 [1954]. Übersetzt von Yvonne Knop.

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IV. Frühe Stellungnahmen »Meine amerikanischen Mitbürger, es ist Zeit, Amerika wieder den Amerikanern zurückzugeben! Lasst euch nicht von Ausländern eure Jobs wegnehmen!« Person im Publikum: »Er hat recht!« Ein anderer applaudiert: »Jaaa!«

Die Comics im Stil von Superman haben einen Hang zu überbordender Gewalt. Dr. Paul A. Witty, Professor für Erziehungswissenschaften an der Northwestern University, hat diese Comics sehr treffend beschrieben, als er sagte, dass sie »unsere Welt in einer Art faschistischer Version voller Gewalt, Hass und Zerstörung« darstellten. »Ich denke, es ist schlecht für Kinder,« fährt er fort, »andauernd diese Nahrung zu erhalten… [sie] heben die faschistische Gesellschaft zu sehr hervor. Daher werden die demokratischen Ideale, nach denen wir streben sollten, zu leicht übersehen.« In der Tat benötigt Superman (mit dem großen S auf seiner Uniform – wir sollten, meine ich, dankbar sein, dass es kein SS ist) einen endlosen Zufluss immer neuer Untermenschen, Krimineller und »ausländisch aussehender« Menschen, um seine Existenz nicht nur zu rechtfertigen, sondern überhaupt erst zu ermöglichen. Diese Eigenschaft löst in Kindern eine von zwei Haltungen aus: Entweder stellen sie sich vor, selbst Superman zu sein, und entwickeln die dazugehörigen Vorurteile gegen die Untermenschen, oder sie werden gefügig und empfänglich für Schmeicheleien starker Männer, die all ihre sozialen Probleme lösen werden – und das mit Gewalt. Superman überwindet nicht nur die Gesetze der Schwerkraft, was durch seine große Kraft noch vorstellbar ist; er vermittelt Kindern außerdem eine völlig falsche Vorstellung weiterer grundlegender physikalischer Gesetze. Zum Beispiel sollte nicht einmal Superman in der Lage sein, ein ganzes Haus anzuheben, wenn er nicht auf dem Boden steht, oder ein Flugzeug in der Luft aufzuhalten, während er selber fliegt. Superwoman (Wonder Woman) ist immer eine Schreckensgestalt. Sie ist körperlich sehr stark, quält Männer, hat ihre eigene weibliche Anhängerschaft und entspricht der grausamen, »phallischen« Frau. Für Jungen ist sie eine furchteinflößende Figur und zugleich für Mädchen kein wünschenswertes Ideal, denn sie ist genau das Gegenteil von dem, was Mädchen sein wollen und sein sollten.

Interview mit Roy Lichtenstein* Interview: G. R. Swenson 1

Das Einzige, was alle haßten, war Gebrauchsgraphik; aber offensichtlich haßten sie nicht einmal diese genug… Ich finde, daß die Kunst seit Cézanne außerordentlich romantisch und unrealistisch geworden ist, genährt von sich selbst; sie ist utopisch. Sie hat immer weniger mit der Welt zu tun, sie sieht nach innen – Neo-Zen und das alles. Dies ist nicht so sehr Kritik als nüchterne Beobachtung. Außen ist die Welt; sie existiert. Pop Art sieht hinaus in die Welt, sie scheint ihre Umgebung zu akzeptieren, die nicht gut oder schlecht ist, sondern anders – eine andere geistige Haltung. »Wie kann man Ausbeutung dulden?« »Wie kann man für vollständige Mechanisierung der Arbeit sein?« »Wie kann man schlechte Kunst mögen?« Ich muß darauf antworten, daß ich all dies als vorhanden akzeptiere, als in der Welt vorhanden. …ich bin auch anti-kontemplativ, gegen Nuancen, gegen das »Von-der-Tyrannei-des-Rechtecks-Wegwollen«, gegen »Bewegung und Licht«, gegen »Qualität in der Malerei«, gegen »Zen« und alle diese großartigen Ideen vorangegangener Bewegungen, die ja alle so gut verstehen. Wir finden die Industrialisierung so gerne verabscheuenswürdig. Ich weiß nicht recht, was ich von ihr halten soll. Sie hat schon etwas sehr Prosaisches an sich. Auch ich würde wahrscheinlich lieber mit einem Picknickkorb unter einem Baum als unter einer Benzinpumpe sitzen, aber Schilder und Comic Strips sind als Erscheinungen doch auch sehr interessant. Es gibt vieles in der Gebrauchsgraphik, was man benützen kann, das kraftvoll und lebendig ist. Wir gebrauchen diese Dinge – aber damit plädieren wir doch nicht für Dummheit, die internationale Teenagerbewegung oder Terror… Was man ansieht, ist unwichtig. Es ist eine Entwicklung. Es hat nichts mit der äußeren Form des Bildes zu tun, wichtig ist nur, eine Methode eines einheitlichen Sehens zu finden… Im Abstrakten Expressionismus symbolisieren die Bilder den Gedanken der Grund-Bezogenheit im Gegensatz zur Objekt-Bezogenheit… Der Unterschied ist, daß ich eher etwas tue, was aussieht, als sei es objektbezogen, als daß ich Grundbezogenheit symbolisiere… Die Grundbezogenheit ist geistig existent für den Maler und im Bild nicht unmittelbar sichtbar. Pop Art ist die Behauptung, daß diese Grundbezogenheit keine Eigenschaft ist, die das Bild hat, weil es *  Lichtenstein, Roy, und G.R. Swenson: »›Was ist Pop Art?‹ Fünf Interviews mit Roy Lichtenstein (Auszüge).« In: Roy Lichtenstein: Ertrinkendes Mädchen. Hg. v. Bernhard Kerber und übers. aus dem Englischen von Gudrun Harms. Stuttgart: Reclam 1970. S. 21-23.

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IV. Frühe Stellungnahmen

aussieht, wie es sich darstellt. Diese Spannung zwischen scheinbar grundbezogenen Entwicklungen ist eine der Stärken der Pop Art… Der Begriff »Transformation« klingt in diesem Zusammenhang merkwürdig. Er impliziert, daß Kunst verwandelt. Das tut sie nicht, sie gibt nur Gestalt. Künstler haben nie mit der Vorlage gearbeitet – nur mit dem Bild… Die Comics haben »Gestalt«, aber es wurde kein Versuch gemacht, intensiv eine Einheit aus ihnen zu machen. Die Absicht ist eine andere, man will »abbilden«, und ich möchte »vereinheitlichen«. Und meine Bilder sind wirklich anders als Comic Strips, denn bei mir ist jeder Punkt an einem anderen Platz, wie immer gering auch der Unterschied sein mag. Der Unterschied ist gering, aber er ist entscheidend. Die Leute betrachten meine Bilder als »Anti-Kunst«, wie sie auch finden, daß ich nur »abbilde«, nicht »transformiere«. Ich finde nicht, daß sie AntiKunst sind. Die in Comics abgebildeten Helden sind faschistische Typen, aber ich nehme sie doch in meinen Bildern nicht ernst. Vielleicht ist das überhaupt wichtig, auch politisch wichtig, sie nicht ernst zu nehmen. Ich nehme sie aus formalen Gründen, und dafür wurden sie doch bestimmt nicht erfunden… Pop Art hat sehr unmittelbare und momentane Bedeutungen, die verschwinden werden – wie ein Strohfeuer –, und zieht Nutzen aus seiner »Bedeutung«, die nicht lange dauern soll, um von seinem formalen Inhalt abzulenken. Ich glaube, daß die formale Aussage in meinem Werk mit der Zeit deutlich wird. Oberflächlich betrachtet scheint Pop nur dienstbar gemachte Materie, während Abstrakter Expressionismus, zum Beispiel, nur Ästhetik ist. Ich male genau – dann sagt man, es sei eine exakte Kopie, nicht Kunst, vielleicht weil es keine Perspektive und keinen Schatten gibt. Es ist nicht die Abbildung eines Gegenstandes, es ist er selbst. Statt daß es aussieht wie das Bild eines Anschlagbretts – so würde es bei einem Reginald Marsh sein –, scheint es die tatsächliche Sache zu sein. Es ist eine Intensivierung, eine stilistische Intensivierung der aufregenden Wirkung, die die Materie auf mich hat. Ein Cartoon drückt heftige Emotion und Leidenschaft in einer völlig mechanischen und distanzierten Weise aus. Dies malerisch zu versuchen, würde es abschwächen; die von mir benutzten Techniken sind nicht gebrauchsgraphisch, sie scheinen nur so – und meine Art zu sehen, zu gestalten und zu vereinen, ist anders und hat andere Ergebnisse… Jeder hat gesagt, Pop Art sei eine »amerikanische« Malerei, aber tatsächlich ist sie industrielle Malerei. Amerika wurde vom Industrialismus und Kapitalismus härter getroffen, und seine Wertmaßstäbe scheinen besonders verschoben… Ich glaube, die Bedeutung meines Werkes liegt darin, daß es industriell ist, es ist so, wie die Welt bald werden wird. Auch Europa wird sich so verändern, und dann wird meine Malerei nicht mehr amerikanisch sein; sie wird universell sein.

Der Mythos von Superman* Umberto Eco 1

I. Das Thema, mit dem wir uns befassen wollen, verlangt eine vorläufige und einigermaßen schlüssige Definition der »Mythisierung« als unbewußte Symbolisierung, als Identifikation des Objekts mit einer Gesamtheit von nicht immer bewußten Zielen, als bildliche Projektion von Neigungen, Hoffnungen und Ängsten, die wir sowohl bei Individuen als auch bei Gemeinschaften und ganzen Geschichtsepochen beobachten können. Spricht man von unserer Zeit als einer Ära der »Entmythisierung« und bringt dabei diesen Begriff mit der Krise des Sakralen und mit der Symbolverarmung jener Vorstellungen zusammen, in denen wir, gestützt auf eine feste ikonologische Überlieferung, verbindliche, geheiligte Bedeutungen zu finden gewohnt waren, so ist damit insbesondere die allmähliche Auflösung eines zur Institution gewordenen Symbolrepertoires gemeint, das für das frühe und das mittelalterliche Christentum charakteristisch war (und das vom gegenreformatorischen Katholizismus in gewissem Grade wiederholt wurde). Dieses Repertoire erlaubte es, die Begriffe einer Offenbarungsreligion ziemlich eindeutig in Bilder zu übersetzen – die begrifflichen Elemente der Religion wurden, per speculum in aenigmate, in eine Anschauungssprache übertragen, die zu verstehen auch denen möglich war, die theologisch ungeschult waren. Dies lag unstreitig im Interesse der Kirche, wie die zahlreichen Konzile bezeugen, die sich mit dem »Bilderproblem« befaßten. Halten wir fest: Die »Mythisierung« der Bilder war eine institutionelle Tatsache; sie wurde ›von oben‹ verordnet; kodifiziert wurde sie von Männern der Kirche, wie dem Abbé Suger, die sich ihrerseits auf ein in der Bibelhermeneutik seit Jahrhunderten verankertes Symbol- und Allegorierepertoire beriefen, das schließlich vulgarisiert und von den großen Enzyklopädien der Zeit, den Bestiarien und Lapidarien, verbreitet und in ein System gefaßt wurde. Zweifellos jedoch hat, wer den gesellschaftlichen Wert und die allgemeine Bedeutung bestimmter Bilder festlegte, mythenbildende Tendenzen des Volkes interpretiert, indem er die ikonische Aura archetypischer Vorstellungsgehalte ›zitierte‹ und einer umfassenden *  Eco, Umberto: »Der Mythos von Superman.« In: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Hg. und übers. v. Max Looser. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1984 [1964]. S. 187-222.

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IV. Frühe Stellungnahmen

mythologischen und ikonographischen Tradition Zeichenelemente entlieh, die in der Volksphantasie nunmehr mit bestimmten psychologischen, moralischen und übernatürlichen Konstellationen in Verbindung gebracht wurden.1 Allmählich wanderten die symbolischen Identifikationen in die Alltagserfahrung ein. Sie wurden populär: Bestandteile einer allgemeinen Gefühls- und Empfindungsweise, so daß es zunehmend schwieriger wurde, zwischen »gelenkter« und »spontaner« Mythenbildung zu unterscheiden (die Ikonographie der mittelalterlichen Kathedralen ist voll von Beispielen). Im Grunde allerdings orientierte sich diese Mythenbildung an den kulturellen Einheitskoordinaten, die auf Konzilen sowie in den summae und in den Enzyklopädien festgeschrieben worden waren (und wurden) und die durch die Hirtentätigkeit der Bischöfe und die Erziehungsanstrengungen der Klöster und Abteien verallgemeinert wurden. Die Krise dieses Amalgams aus Bildern, historischen Wahrheiten, übernatürlichen Bedeutungen, also der »Verschleiß« der sakralen Sinngehalte, deren Träger Statuen oder gemalte Figuren waren, und die Verweltlichung ikonographischer Elemente, die nach und nach zum Vorwand formaler Übungen verkamen (oder der Übermittlung anderer Bedeutungen dienten, obwohl sie scheinbar immer noch an das Zeichensystem einer Offenbarungsreligion gebunden waren), gingen einher mit der Krise einer Systematik und einer ganzen Kultur. In dem Augenblick, da neue Methodologien die traditionale Weltansicht erschüttern und eine auf Revision und Zweifel gegründete Forschung sich durchzusetzen beginnt, zerfasert die Beziehung zwischen dem Bilderrepertoire und dem Repertoire philosophischer, theologischer und historischer Bedeutungen – die festen Verbindlichkeiten erlöschen. Daß sich jedoch der Prozeß der »Mythisierung« der Bilder nicht mit dem historisch sehr begrenzten Prozeß der Gleichsetzung von Bildern und institutionalisiertem Wahrheitskorpus deckte, wird an den Versuchen der modernen Kunst augenfällig, angesichts des Zerfalls der objektiven Symbole, auf denen die klassische und die mittelalterliche Kultur beruhten, subjektive Symbole zu schaffen. Genau besehen sind Künstler immer Schöpfer symbolischer Bedeutungen gewesen. Und wo dies nicht absichtlich geschah, sind ihre Bilder oder Werke von denen, die sie anschauten oder lasen, jedenfalls mit solchen Bedeutungen versehen oder zum Symbol bestimmter Situationen und Werte erwählt worden: zu ikonischen Äquivalenten für intellektuelle oder emotionale Befindlichkeiten. So gab es, beispielsweise, Symbole der Liebe, der Leidenschaft, des Ruhms, des politischen Kampfs, der Macht, der Revolte. Insbesondere die zeitgenössische Lyrik hat die subjektive Symbolbildung weit vorangetrieben, die zu entziffern nur noch Lesern gelingt, die sich in den Imaginationsbahnen des Dichters zu bewegen imstande sind: im inneren Laboratorium des Künstlers. Symbole dieser Art sind die drei Bäume bei Proust, das Vogelmädchen bei Joyce, die Flaschenscherben bei Montale. Und selbst in den Fällen, in denen der Dichter aus einem traditionellen Symbolrepertoire schöpft (Mann, Eliot), pflanzt er den alten mythischen Bildern eine neue symbolische Substanz ein. Deren Universalisierung überläßt er den Mitteilungskräften der Poesie. Anders ausgedrückt: Er will eine bestimmte neue Weise des Empfindens und Sehens begründen, da die gewohnte, eingeschliffene ihm zerstört, ihre Universalität ihm unwiederbringlich verloren erscheint.

Eco: Der Mythos von Superman

Symbole und Massenkultur Nun gibt es heute allerdings Bereiche, in denen man eine Universalität des Empfindens und Sehens auf populären Grundlagen wiederhergestellt hat, so vor allem in den Massenmedien, wo sich ein eigentümliches Wertesystem, das hinreichend beständig und umfassend ist, durch Mythenproduktion, deren Arbeitsweise wir untersuchen wollen, in einer Reihe von Symbolen konkretisiert hat, die sowohl von der Kunst als auch von der Technik angeboten wurden. Tatsächlich können wir in der gegenwärtigen Massengesellschaft, im Zeitalter der industriellen Zivilisation Mythisierungsprozesse beobachten, die mit denen in primitiven Gesellschaften verwandt sind, obwohl sie am Anfang oft jener Mechanik der Mythenbildung folgen, welche die modernen Dichter in Gang gesetzt haben. D.h. es handelt sich um die ursprünglich private, subjektive Identifikation eines Objekts oder eines Bilds mit einem Ensemble bald bewußter, bald unbewußter Ziele, so daß Bild und Ziel zu einer Einheit verschmelzen (die an die magische Einheit erinnert, aus welcher der Primitive seine Mythen schöpfte). So wie der auf die Wand der prähistorischen Höhle gezeichnete Bison mit dem echten Bison »identisch« wurde und dem Maler den Besitz des Tieres durch den Besitz des Bildes sicherte, das Bild also eine sakrale Aura annahm, so fungiert heute das Automobil als Zeichen des ökonomischen Status, mit dem es schließlich verschmilzt. Die moderne Soziologie, von Veblen bis zu den populären Analysen von Vance Packard, hat mit guten Argumenten dargetan, daß die sogenannten »Statussymbole« in einer Industriegesellschaft mehr und mehr mit dem Status selbst gleichgesetzt werden: Einen Status erlangt haben heißt, eine bestimmte Automobilmarke, ein bestimmtes Fernsehgerät, einen bestimmten Haustypus mit einem bestimmten Typus von Swimming pool sein eigen nennen. Zugleich wird jedes der Besitzelemente – Automobil, Kühlschrank, Haus, Fernseher – zum sichtbaren, greif baren Symbol der Gesamtsituation. Der Gegenstand ist die gesellschaftliche Situation und deren Zeichen, das übrigens nicht nur für ein konkretes, erstrebenswertes Ziel steht, sondern gleichzeitig das rituelle Symbol, das mythische Bild ist, in dem sich die Hoffnungen und Wünsche verdichten2: die Projektion dessen, was wir sein möchten. Mit anderen Worten, der Gegenstand ist nicht länger Ausdruck der Persönlichkeit, sondern das Mittel ihrer Aufhebung – sie verschwindet in ihm. Deshalb sprechen wir im Zusammenhang damit von Mythenproduktion. Und sie trägt Züge der Universalität, weil an ihr die Gesellschaft insgesamt beteiligt ist. Dies gilt in doppelter Weise: Sie ist einerseits Schöpfung ›von unten‹, andererseits Suggestion ›von oben‹. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Daß ein Automobil zum Statussymbol wird, hat seinen Grund nicht allein in unbewußten mythenschaffenden Neigungen der Massen, sondern auch in den bewußten Zugriffen der Industriegesellschaft (die auf steigende Produktion und beschleunigten Konsum angewiesen ist) auf diese unbewußten Strebungen. Die Abbés Suger unserer Zeit, die mythische Bilder schaffen und zu verbreiten suchen, indem sie sie in der Sensibilität der Massen verwurzeln, sind die Forschungsbüros der Großindustrie und die Werbefachleute der Madison Avenue, denen die populäre Soziologie das vielsagende Epitheton »geheime Verführer« angeheftet hat. In Anbetracht dieser neuartigen Version der Mythenbildung erscheinen uns zwei Vorhaben als besonders dringlich: erstens Erforschung der Ziele, die das Bild verkörpert, d.h. dessen, was auf das Bild folgt; zweitens Entmystifizierung, d.h. die

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Bestimmung dessen, was hinter dem Bild steckt, also nicht nur der unbewußten Bedürfnisse, die es begünstigt haben, sondern auch der bewußten Postulate einer paternalistischen Pädagogik, einer insgeheimen Überzeugung, die mit ökonomischen Zwecken besetzt ist.3 In der Produktion der Massenmedien und insbesondere in der Industrie der Comic strips haben wir ein offenkundiges Beispiel für »Mythisierung« vor uns. Offenkundig deshalb, weil hier ein populäres mythologisches Repertoire im Spiele ist, das industriell betrieben, d.h. von einer Industriebranche erzeugt und eingesetzt wird, die im übrigen sehr empfindlich auf die Stimmungen des Publikums reagiert, dessen Nachfrage sie zu befriedigen hat. Daß diese Massenliteratur eine Überredungs- und Überzeugungskraft gewonnen hat, die nur mit jener der großen, von einer ganzen Gemeinschaft geteilten mythologischen Entwürfe vergleichbar ist, läßt sich anhand einiger höchst aufschlußreicher Episoden verdeutlichen. Dazu braucht man nicht erst an die Moden zu erinnern, die sie immer wieder ausgelöst hat, an die zahllosen gewerblichen Produkte, die sie beflügelt hat, an die Uhren, deren Zifferblätter mit dem Bild eines der geläufigen Helden geschmückt sind, an die Krawatten und an die Nippsachen; vielmehr ist an die Fälle zu denken, in denen die gesamte öffentliche Meinung sich hysterisch in imaginäre, von einem Comic-Autor inszenierte Konstellationen vertieft hat, als ob es um Tatsachen ginge, welche die Gemeinschaft unmittelbar betreffen: vom Raumflug bis zum atomaren Konflikt. Ein typisches Beispiel dafür bietet die Figur Terrys, die von Milton Caniff gezeichnet wurde. Terry, ein Abenteurer, dessen Erlebnisse 1934 begannen, mit wechselhaften Schicksalen auf den Meeren um China, war alsbald zum Idol des amerikanischen Publikums geworden. Bei Kriegsausbruch nun erschien es angebracht, ihm seine Unschuld zurückzugeben (die er niemals besessen hatte): Er wurde in einen regelrechten Frontkämpfer verwandelt und nährte so die Phantasie sowohl der Soldaten an der Front als auch der zu Hause wartenden Familien. Das Publikum identifizierte sich mit den Figuren Caniffs derart nachhaltig, daß in dem Augenblick, da er aus erzählerischen und aus politischen Gründen über das Schicksal Burmas (einer faszinierenden Abenteuerin, die sich mit den Japanern eingelassen hatte) entscheiden mußte, dies sogar die Militärbehörden interessierte. In Burma begegneten sich zwei gleichstarke Mythen – ein patriotischer und ein sexueller. Burma war schön und rätselhaft, und sie verkörperte die Verheißungen einer zweideutigen und »verfluchten« Sexualität. Ursprünglich konzipiert als Reinkarnation des Vamp, genauer: der belle dame sans merci, geriet sie jetzt in die Rolle der Feindin des Landes, das im Krieg stand und dessen positives Symbol Terry war. So wurde der Problemfall Burma zum Auslöser einer Kollektivneurose, die schwer zu heilen war. Daß Terry auf den Kriegsschauplatz befördert wurde, war sogar den seriösen Zeitungen eine Notiz wert, und der Stab der amerikanischen Luftwaffe schickte offiziell eine Karte mit einer Matrikelnummer. – Ein anderes Beispiel: Als Caniff eine Figur, die bis dahin im Hintergrund geblieben war (ein Mädchen namens Raven Sherman), mit markanten Attributen auszustatten begann, wandelte sie sich im Zusammenspiel mit den Sehnsüchten des Publikums langsam zu einem Symbol der Tugend, der Anmut und der Tapferkeit. Raven entzückte breite Leserschichten – bis Caniff sie sterben ließ. Die Reaktionen übertrafen alle Erwartungen: Die Zeitungen brachten die Trauernachricht, Studenten der Universität Loyola veranstalteten eine Schweigeminute, und am Tag der Beerdigung mußte Caniff am Radio seine Handlungs-

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weise rechtfertigen. 4 – Als Chester Gould, Autor der Figur Dick Tracy, den Gangster Flattop sterben ließ, brach ebenfalls eine öffentliche Hysterie aus – Flattop hatte die Bewunderung des Publikums in geradezu krankhafter Weise auf sich gezogen. Ganze Gemeinden brachten ihre Trauer zum Ausdruck, der Autor wurde mit Telegrammen überschwemmt, in denen er nach den Gründen für seine Entscheidung gefragt wurde. In diesen und anderen Fällen geht es nicht nur um Enttäuschung oder um anhängliche Leser, die sich einer Figur beraubt sehen, welche für sie eine Quelle des Vergnügens, der Unterhaltung und Anregung bildete. Man kennt übrigens ähnliche Beobachtungen vom letzten Jahrhundert, Briefe von Lesern an die Autoren der Zeitungsromane, etwa an Ponson du Terrail, in denen gegen den Tod einer sympathischen Figur protestiert wurde. Im Zusammenhang der Comics handelte es sich jedoch um massenhafte Reaktionen, um den Aufschrei einer Gemeinde von Gläubigen, die den Gedanken nicht ertragen konnte, daß mit einem Schlag ein Symbol verschwinden sollte, das bis zuletzt ihre Hoffnungen gebündelt hatte. Die Hysterie geht auf die Enttäuschung einer Empathiewirkung zurück, darauf, daß der physische Träger notwendiger Projektionen fehlt. Das Bild stürzt ein, und damit stürzen auch die Ziele, die das Bild symbolisierte. Die Gemeinde der Gläubigen gerät in eine Krise, die nicht nur eine religiöse, sondern auch eine psychische ist. Das Bild hatte den Individuen als seelischer Stabilisator gedient.

Der Mythos von Superman Ein symbolisches Bild von besonderem Interesse ist das von Superman. Der mit übernatürlichen Kräften ausgestattete Held ist in der populären Vorstellungswelt eine Konstante – von Herkules zu Siegfried, von Roland über Pantagruel bis zu Peter Pan. Häufig erscheinen seine übernatürlichen Kräfte als die erhabene Verwirklichung eines natürlichen Vermögens: Schlauheit, Schnelligkeit, Tüchtigkeit oder spitzfindige Intelligenz und ausgeprägter Beobachtungsgeist wie bei Sherlock Holmes. Doch in einer nivellierten Gesellschaft, in der psychische Störungen, Enttäuschungen, Minderwertigkeitsgefühle an der Tagesordnung sind, in einer Industriegesellschaft, die den Einzelnen seiner Besonderheit enteignet zugunsten einer förmlichen Organisationsgewalt, die für ihn entscheidet, und in der individuelle Kraft, wenn sie nicht im Sport geübt wird, angesichts der Kraft der Maschine, die für den Menschen handelt und die ihm sogar seine Bewegungen vorschreibt, lächerlich wird – in einer solchen Gesellschaft muß der positive Held die Selbständigkeitswünsche und Machtträume, die der einfache Bürger hegt, aber nicht befriedigen kann, geradezu exzessiv auf sich versammeln. Superman ist der geeichte Mythos für diese Bürger. Superman ist kein irdisches Wesen, er gelangte als kleines Kind vom Planeten Krypton auf die Erde. Krypton stand vor der Zerstörung durch eine kosmische Katastrophe, und Supermans Vater, ein begabter Wissenschaftler, rettete seinen Sohn, indem er ihn einem Raumschiff anvertraute. Obwohl auf der Erde herangewachsen, ist Superman mit übermenschlichen Gaben ausgestattet. Er fliegt mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum, und wenn er schneller als das Licht reist, überwindet er die Zeitmauer und vermag sich in andere Epochen zu versetzen. Mit der Kraft seiner Hände verwandelt er Kohle in Diamant. Er kann in wenigen Sekunden einen ganzen Wald abholzen, Bäume in Bretter verwandeln und daraus ein Dorf oder ein Schiff bauen;

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er kann Berge durchbohren, Ozeandampfer emporheben, Staudämme errichten oder einreißen. Sein Gesichtssinn, geschärft von X-Strahlen, erlaubt es ihm, aus fast unbegrenzter Distanz durch Körper hindurchzusehen und mit seinem Blick Metallgegenstände zum Schmelzen zu bringen. Sein hochempfindliches Gehör nimmt Gespräche von jedem beliebigen Punkt aus auf. Er ist schön, tugendhaft und hilfsbereit; sein Leben ist dem Kampf gegen das Böse geweiht, die Polizei hat in ihm einen unermüdlichen Helfer. Gleichwohl lädt das Bild von Superman die Leser zur Identifikation ein. Er lebt nämlich in Wirklichkeit als der Journalist Clark Kent unter den Menschen, und Kent ist furchtsam, schüchtern, durchschnittlich intelligent, ein wenig linkisch, kurzsichtig und der herrschsüchtigen und begierigen Kollegin Lois Lane hörig, die ihn jedoch verachtet, da sie leidenschaftlich in Superman verliebt ist. Diese Doppelidentität erlaubt, die Erzählung der Abenteuer, die Zweideutigkeiten, die Theatercoups, einen gewissen suspense des Kriminalromans vielfältig zu variieren. Zugleich begünstigt und befördert sie die Mythenbildung, denn Clark Kent personifiziert hinreichend typisch den durchschnittlichen Leser, er ist diesem ähnlich und nährt dessen geheime Hoffnung, eines Tages die Fesseln der Mittelmäßigkeit, die ihn an seine Lebensverhältnisse binden, abstreifen zu können: von einem Biedermann zu einem Weltbeweger zu werden.

Mythenstruktur und Romankultur Die mythologische Konnotation der Person steht also fest. Betrachten wir nun die Erzählstrukturen, mit denen der »Mythos« täglich oder wöchentlich dem Publikum dargeboten wird. Es gibt nämlich einen grundlegenden Unterschied zwischen einer Gestalt wie Superman und, beispielsweise, den Helden der klassischen oder der nordischen Mythologie oder den Leitfiguren der Offenbarungsreligionen. Das traditionelle religiöse Bild war das einer Person göttlicher oder menschlicher Herkunft, die in ihren zeitlosen Eigenschaften und in einem unumkehrbaren Ereignisablauf festgehalten blieb. Zwar mochte es hinter der Person, außerhalb des Ensembles von charakteristischen Merkmalen und Eigenschaften, auch noch eine Geschichte geben; aber diese Geschichte war einer bestimmten Entwicklung gemäß definiert und legte die Physiognomie der Person in einer endgültigen Weise fest. Wählen wir als Beispiel eine griechische Herkulesstatue. Ob sie nun Herkules darstellt oder eine Szene der Herkulesarbeiten, in beiden Fällen – im zweiten noch mehr als im ersten – erschien Herkules als jemand, der eine Geschichte besaß, und diese Geschichte prägte seine göttliche Physiognomie. Jedenfalls hatte sich die Geschichte ereignet. Herkules hatte sich zwar in einer zeitlichen Entwicklung von Ereignissen »konkretisiert«, aber diese Entwicklung war zu einem Abschluß gelangt, und die Statue symbolisierte mit der Person die Geschichte ihrer Entwicklung, im Sinne definitiver Aufzeichnung und Bewertung. Dies konnte durchaus in erzählerischer Form geschehen – man denke etwa an die Fresken über die Auffindung des Kreuzes oder an Skulpturen über die Erlebnisse Theophils, der seine Seele dem Teufel verkaufte und von der Heiligen Jungfrau gerettet wurde (auf dem Tympanum von Souillac). Das sakrale Bild schloß die Erzählung nicht aus, doch sie folgte dem Weg, den die sakrale Person gegangen war, wobei sie sich eindeutig bestimmt hatte.

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Das Personal des Comic hingegen ist ein Geschöpf der Romankultur. Die in antiken Kulturen beliebte Erzählung berichtete fast immer von abgeschlossenen, geschlossenen Geschehnissen; sie waren dem Publikum bereits bekannt. Mochten die Prüfungen und Abenteuer des Ritters Roland noch so oft variiert werden, das Publikum war eingeweiht in die Leiden und Freuden des Helden. (Pulci, der in Morgante maggiore den karolingischen Zyklus wieder aufgriff, teilt am Ende keine überraschende Pointe, sondern eine altvertraute Tatsache mit: daß Roland in Roncevaux stirbt.) Anders ausgedrückt: Nicht die Neuigkeit, sondern die gefällige Darstellung bereits vertrauter Ereignisse und Erfahrungen zeichnete die Berichte aus und nahm für sie ein. Wohl waren Zusätze, Abschweifungen und Ausschmückungen erlaubt, doch sie waren Beiwerk und tasteten die strenge und genaue Linienführung des erzählten Mythos nicht an. Das belegen noch die bildhauerischen und malerischen »Erzählungen« in den gotischen Kathedralen oder in den Kirchen der Renaissance und der Gegenreformation. In oft dramatischer und bewegter Weise wurde erzählt, was bereits geschehen war. Ganz anders die romantische Tradition (dabei ist gleichgültig, ob deren Wurzeln weit vor der Romantik liegen): Sie begründet und gebraucht ein Erzählmuster, das die Unvorhersehbarkeit dessen, was künftig geschehen wird, und damit die Erfindung der Erzählhandlung (plot) in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt. Das Ereignis hat sich nicht vor der Erzählung abgespielt; es entsteht und findet statt, während erzählt wird. Der Theatercoup des Ödipus, der sich nach der Enthüllung Tiresias schuldig erkennt, »funktionierte« nicht deshalb, weil er die des Mythos unkundigen Zuhörer überraschte, sondern weil der Mechanismus der Fabel, wie in den aristotelischen Regeln vorgesehen, das Ereignis wiederholte: mittels Furcht und Schrecken, und das Publikum veranlaßte, sich in die Situation und in die Figur zu versetzen. Wenn dagegen Julien Sorel auf Madame de Renal schießt, wenn Poes Detektiv den Verantwortlichen für den Doppelmord in der Rue Morgue entdeckt, wenn Javert seine Dankesschuld bei Jean Valjean begleicht, dann wohnen wir einem Theatercoup bei, dessen Unvorhersehbarkeit zur Erfindung gehört und im Kontext einer neuen narrativen Poetik ästhetische Bedeutung gewinnt – unabhängig vom sprachlichen Ausdruck, mittels dessen das Faktum mitgeteilt wird. Dies wird um so wichtiger, je populärer der Roman konzipiert ist: Der Zeitungsroman für die Massen – das Abenteuer von Rocambole oder von Arsène Lupin – hat keinen anderen handwerklichen Wert als den der einfallsreichen Erfindung unerwarteter Begebenheiten.5 Diese innerliche Offenheit der Erzählung wird mit einer geringeren »Mythisierbarkeit« der Person bezahlt. Die Person des Mythos verkörpert ein Gesetz, eine universale Forderung, und muß deshalb in ihrer Entwicklung vorhersehbar sein; sie darf sich keine Überraschungen vorbehalten. Die Person des Romans jedoch handelt unter Bedingungen der Ungewißheit, wie wir alle, und was ihr zustoßen kann, ist ebenso unvorhersehbar wie das, was uns zustoßen könnte. Daher rührt, was wir ihre »ästhetische Allgemeinheit« nennen; sie ist verfügbar für unsere Anteilnahme, ein Partner unserer wandelbaren Verhaltensweisen und Gefühle und gerade deshalb nicht wie der Mythos die Hieroglyphe oder das Emblem einer übernatürlichen Wirklichkeit, Verallgemeinerung des Besonderen. Vielmehr stützt sich die Ästhetik des Romans auf ein Gestaltungs- und Erfahrungsmodell, dessen Anspruch gerade dort laut wird, wo die Kunst den Bereich des Mythos verläßt: das »Typische«.

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Die mythologische Person des Comic nun befindet sich in einer einzigartigen Lage: Sie muß einerseits archetypisch sein, bestimmte kollektive Hoffnungen zusammenfassen und deshalb emblematisch in einer Weise fixiert sein, die sie leicht wiedererkennbar macht (eben dies geschieht mit Superman); da sie aber als »romanhaftes« Produkt für ein Publikum gehandelt wird, das »Romane« konsumiert, muß sie andererseits einer Entwicklung unterzogen werden, wie sie für die Person des Romans charakteristisch ist. Um einer solch zwieschlächtigen Konstellation gerecht zu werden, gibt es Kompromisse, und eine Untersuchung der Ereignisabläufe in den Comics unter diesem Gesichtspunkte wäre vermutlich höchst lehrreich. Wir werden uns auf eine Analyse Supermans beschränken, weil er einen interessanten Grenzfall bezeichnet: Der Protagonist besitzt alle Eigenschaften des mythischen Helden, zugleich ist er in eine romanhafte Situation im heutigen Verstande eingelassen.

Die Verknüpfung der Begebenheit und die Abnutzung der Person Nach den Bestimmungen des Aristoteles liegt eine tragische Handlung dann vor, wenn die Person plötzlichen Schicksalswechseln (Erkennungen, Erfahrungen von Mitleid und Furcht) ausgesetzt ist, die in einer Katastrophe gipfeln; eine romanhafte Handlung, so fügen wir hinzu, liegt dann vor, wenn diese dramatischen Wendepunkte in eine kontinuierliche und gegliederte Entwicklung eingebaut sind, die im populären Roman zum Selbstzweck wird und ad infinitum fortzuwuchern droht. Die drei Musketiere, deren Abenteuer sich in Zwanzig Jahre später fortsetzen und in Vicomte de Bragelonne mit Mühe zu einem Abschluß gelangen (doch greifen hier parasitäre Erzähler ein), sind ein Beispiel für eine Fabelkonstruktion, die sich wie ein Bandwurm verlängert und die um so lebendiger erscheint, je häufiger sie sich in Gegensätzen, Krisen und Lösungen zu behaupten weiß. Superman indes befindet sich in der bedenklichen narrativen Situation, ein Held ohne Gegner und damit ohne Entwicklungsmöglichkeiten zu sein. Hinzu kommt, daß seine Abenteuer einem trägen Publikum vorgesetzt und verkauft werden, das durch eine unbegrenzte Entfaltung und Auffächerung von Begebenheiten, die das Gedächtnis über Wochen hinweg belasteten, abgeschreckt würde. So kommt denn jede der Geschichten nach wenigen Seiten zum Abschluß, jedes Einzelheft besteht aus zwei oder drei vollständigen Episoden, von denen jede einen einzigen Handlungsknoten schürzt und auflöst. Da ihm ästhetisch und kommerziell die elementaren Gelegenheiten zu einer erzählerischen Entwicklung entzogen sind, stellt Superman seine Autoren immer wieder vor ernste Probleme. Nach und nach werden verschiedene Formeln ins Auge gefaßt, um Kontraste zu erzeugen und zu rechtfertigen: Superman hat, zum Beispiel, eine Schwäche; er ist gegenüber den Strahlungen des Kryptonits wehrlos, eines von Meteoriten stammenden Metalls, das sich seine Gegner beschafft haben, um ihren Richter außer Gefecht zu setzen. Doch seine ungewöhnlichen körperlichen und intellektuellen Kräfte lassen ihn nicht im Stich. Er weiß sich zu helfen und geht aus den Fährnissen, Bedrohungen und Anfechtungen als Sieger hervor. Mit welchen Hindernissen immer Superman sich konfrontiert sieht – und mögen sie noch so gewaltig und unkalkulierbar erscheinen –, er wird ihrer Herr werden. Dieses Kompositionsverfahren arbeitet mit zwei Wirkungen: Zunächst wird der Leser durch die Fremdartigkeit des Hindernisses gefesselt; es werden teuflische Erfindungen ins Spiel ge-

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bracht, merkwürdig ausgerüstete Weltraumwesen, Zeitmaschinen, Mißbildungen als Resultate ungewöhnlicher Experimente, Ränke schmiedende Wissenschaftler, die Superman mit Hilfe des Kryptonits besiegen wollen, Konflikte Supermans mit Geschöpfen, die gleiche oder den seinen ebenbürtige Fähigkeiten besitzen, wie der Gnom Mxyzptlk, der aus der fünften Dimension kommt und der nur zu bezwingen ist, wenn Superman ihn dazu bewegen kann, seinen Namen rückwärts zu buchstabieren (Kltpzyxm), und so fort; sodann wird die Krise dank der fintenreichen Überlegenheit des Helden rasch behoben: im Rahmen der short story. Aber damit ist das Problem keineswegs gelöst. Denn indem er das Hindernis (eine innerlich von den kommerziellen Kriterien des Genres gezogene Grenze) überwunden hat, hat Superman immerhin etwas vollbracht; die Person hat eine Handlung vollzogen, die sich in ihre Vergangenheit einschreibt und die nun auf ihrer Zukunft lastet; sie hat, mit anderen Worten, einen Schritt auf den Tod hin gemacht, und selbst wenn sie nur eine einzige Stunde gealtert ist, hat sie, handelnd, den Bestand ihrer Erfahrungen in nicht umkehrbarer Weise angereichert. Handeln bedeutet für Superman wie für jede andere Gestalt (und wie für uns alle), sich abzunutzen. Nun kann Superman sich aber nicht abnutzen, weil ein Mythos nicht abnutzbar ist. Wie wir gesehen haben, ist die Person des klassischen Mythos gegen Verschleiß gefeit – zum Wesen der mythologischen Fabel gehört, daß die Person sich bereits in einer beispielhaften Aktion verbraucht hat; doch ebenso wesentlich ist für sie die Möglichkeit ständiger Wiedergeburt, die den Vegetationszyklus oder den Kreislauf der Ereignisse und des Lebens symbolisiert. Superman ist jedoch unter der Voraussetzung ein Mythos, daß er ins Alltagsleben der Gegenwart eingelassen, scheinbar an unser aller Lebens- und Todesbedingungen gebunden, obwohl mit höheren Fähigkeiten ausgestattet ist. Ein unsterblicher Superman wäre kein Mensch, sondern ein Gott, und die Identifikation des Publikums mit seiner doppelten Persönlichkeit (jene Identifikation, derentwegen die doppelte Identität ausgeheckt wurde) ginge ins Leere. Deshalb muß Superman resistent bleiben und sich gleichwohl nach den Mustern der Alltagsexistenz verschleißen. Er besitzt zwar die Eigenschaften des zeitlosen Mythos, wird aber nur in dem Maße akzeptiert, wie sich sein Handeln in der Ordnung der Zeitlichkeit abspielt. Das erzählerische Problem, das seine Textund Bildautoren daher lösen müssen, ob sie sich dessen nun bewußt sind oder nicht, ist das der Paradoxie der Dauer in der Welt der Vergänglichkeit.

Abnutzung und Zeitlichkeit Nun impliziert, wie man weiß, der Begriff der Zeit seit der aristotelischen Lehre den Begriff der Sukzession, und Kant hat unzweideutig dargelegt, daß dieser Begriff mit dem der Kausalität (»reiner Verstandesbegriff«) in Verbindung gebracht werden muß: »Wenn es nun ein notwendiges Gesetz unserer Sinnlichkeit mithin eine formale Bedingung aller Wahrnehmungen ist: daß die vorige Zeit die folgende notwendig bestimmt (indem ich zur folgenden nicht anders gelangen kann, als durch die vorhergehende): so ist es auch ein unentbehrliches Gesetz der empirischen Vorstellung der Zeitreihe, daß die Erscheinungen der vergangenen Zeit jedes Dasein in der folgenden bestimmen, und daß diese, als Begebenheiten, nicht stattfinden, als so fern jene ihnen ihr Dasein in der Zeit bestimmen, d. i. nach einer Regel festsetzen.«6 Daran hat auch die relativistische Physik festgehalten – nicht bei der Untersuchung der transzendentalen Bedingungen der Wahrnehmung,

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wohl aber bei der Bestimmung der kosmologischen Objektivität des Wesens der Zeit: Die Zeit erscheint als die Ordnung der Kausalketten. Unter Berufung auf diese Einsteinschen Auffassungen hat neuerdings Reichenbach die Ordnung der Zeit als Ordnung der offenen Kausalketten und die Richtung der Zeit in Begriffen einer zunehmenden Entropie formuliert (indem er, auch im informationstheoretischen Sinn, Erklärungen der Thermodynamik wiederaufnahm, die die Philosophen schon mehrfach interessiert hatten und die sie sich bei der Rede über die Unumkehrbarkeit der Zeit zu eigen gemacht hatten).7 Das Vorher bestimmt kausal das Nachher, und die Reihenfolge dieser Bestimmungen kann nicht rückgängig gemacht werden, zumindest nicht in unserem Universum (nach dem epistemologischen Modell, mit dem wir uns die Welt erklären, in der wir leben), sie ist vielmehr unumkehrbar. Es ist bekannt, daß andere kosmologische Modelle andere Lösungen für dieses Problem vorsehen; im Umkreis unseres Alltagsverständnisses von Ereignissen (folglich auch der Strukturierung einer narrativen Figur) ist dies jedoch eine Lösung, die uns erlaubt, uns zu bewegen und sowohl die Ereignisse als auch ihre Richtung zu erkennen. Existentialismus und Phänomenologie haben, wiewohl in unterschiedlicher Terminologie, auf der Basis der Ordnung von Vorher und Nachher und der kausalen Wirkung des Vorher auf das Nachher (mit jeweils unterschiedlicher Betonung der Determination) das Problem der Zeit auf das Feld der Subjektivität verschoben und das Denken über Praxis, Möglichkeit, Entwurf und Freiheit auf deren Zeitverhältnis gestützt – Zeit als Struktur der Möglichkeit, Bewegung auf eine Zukunft hin, mit der Vergangenheit im Rücken. Unabhängig davon, ob die Vergangenheit nun als Schranke unserer Freiheit zum Entwurf aufgefaßt wird (einem Entwurf, der uns schließlich zwingt, zu wählen, was wir schon gewesen sind), oder als Rohstoff künftiger Möglichkeiten, der Möglichkeit sowohl der Erhaltung wie der Veränderung dessen, was man gewesen ist (allerdings stets in Begriffen eines Prozesses und fortschreitenden Einwirkens, wobei einerseits an Heideggers Sein und Zeit zu erinnern ist, andererseits an Abbagnano), es sind jedenfalls die Bedingung und die Koordinaten unserer Entscheidungen in den drei Ausdehnungen der Zeitlichkeit und in einem gegliederten Verhältnis zwischen ihnen bestimmt. Wenn, wie Sartre sagt, »die Vergangenheit die ständig wachsende Totalität des An-sich [ist], das wir sind«, wenn ich diese Vergangenheit sein will und sie nicht sein kann, dann hängen meine Möglichkeiten, eine Zukunft zu wählen oder nicht zu wählen, in jedem Falle von den Handlungen ab, die ich vollzogen habe und die mich zum Ausgangspunkt meiner möglichen Entscheidungen gemacht haben. Doch kaum ist sie getroffen, modifiziert meine Entscheidung, da sie sich in der Vergangenheit begründet, sogleich das, was ich bin, und verändert die Ausgangslage für die nachfolgenden Entwürfe. Das Problem der Freiheit und der Verantwortlichkeit in philosophischen Termini zu formulieren erscheint nur dann aussichtsreich und sinnvoll, wenn es, unter dem Siegel einer Phänomenologie dieser Akte, in der Struktur der Zeitlichkeit verankert wird.8 Für Husserl gilt: »Das Ich ist frei als Vergangenes. In der Tat, die Vergangenheit bestimmt mich und damit auch meine Zukunft, aber diese wiederum ›befreit‹ die Vergangenheit. […] In meiner Zeitlichkeit liegt meine Freiheit und in meiner Freiheit liegt es, daß meine Gewordenheit mich zwar bestimmt, doch nie ganz, weil sie in kontinuierlicher Synthesis mit der Zukunft erst von dieser her ihren Gehalt erhält.«9 Wenn es nun zutrifft, daß das Ich frei ist »als schon-bestimmtes und sein-

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sollendes in eins«, dann liegt in dieser von Bedingungen, vom Gewesenen und unwiderruflich Bleibenden so belasteten Freiheit eine »Schmerzhaftigkeit«, »die Husserl ›Faktizität‹ nennt«.10 Jedesmal, wenn ich auf die Zukunft hin entwerfe, gewahre ich die Tragik meiner Befindlichkeit, ohne sie verlassen zu können; gleichwohl mache ich Pläne, weil ich dieser Tragik die Möglichkeit der Veränderung dessen, was ist, entgegensetzen will, eine Veränderung, die ich auf die Zukunft hin einleite. Entwurf, Freiheit und Befindlichkeit bilden also einen Zusammenhang, den ich in meinem Handeln im Zeichen der Verantwortlichkeit wahrnehme. Husserl meint dies, wenn er sagt: »Dieses Gerichtetsein als kontinuierliches kommt zur kontinuierlichen Erfüllung im einzelnen; alle einzelnen Ziele stehen in Horizonten möglicher Ziele, aber unbekannter, noch unerschlossener; das Gerichtetsein kommt aber nicht zu einem letzten Ende; jedes Ende, jede Erfüllung ist Durchgang, Korrektur und neue Wahl, aber in dieser kontinuierlichen ›Verendlichung‹ lebt eine ideale ›Teleologie‹, ein kontinuierliches Streben zu einem universalen Lebensmodus der Echtheit in wahrer relativer Ver-Endlichung.«11

Ein Handlungsverlauf ohne Abnutzung In den Geschichten von Superman zerfällt freilich die Zeitauffassung, die wir soeben erörtert haben, ja, es löst sich die Zeitstruktur selbst auf. Dies geschieht nicht im Bereich der Zeit, von der erzählt wird, sondern im Bereich der Zeit, in der erzählt wird. Das heißt, obwohl in den Geschichten unseres Helden von phantastischen Exkursionen in die Zeit und die Zeitalter berichtet wird, obwohl er in die Zukunft und in die Vergangenheit reist, bleibt er jener Entwicklung und jener Abnutzung unterworfen, von denen wir erkannt haben, daß sie für ihn als mythische Figur tödlich sind. Kurz, in den Geschichten von Superman ist es die Zeit der Erzählung, die in eine Krise gerät, d.h. der Begriff der Zeit, die eine Erzählung mit der anderen verknüpft. Innerhalb einer Geschichte vollbringt Superman eine bestimmte Tat (er zerschlägt zum Beispiel eine Gangsterbande), und an diesem Punkt hört die Geschichte auf. Im selben comic book, oder in der folgenden Woche, beginnt eine neue Geschichte. Nähme er die Handlung an der Stelle wieder auf, wo er sie verlassen, sie unterbrochen hat, so hätte er einen Schritt auf den Tod hin gemacht. Eine Geschichte anzufangen, ohne zu zeigen, daß ihr eine andere vorangegangen war, entzöge zwar den Helden eine Zeitlang dem Gesetz der Abnutzung; doch eines Tages (Superman »läuft« seit 1938) würde das Publikum die Absicht bemerken und die Komik der Situation wahrnehmen, so wie es mit der Heldin von Little Orphan Annie geschehen ist, deren von Unglücksfällen überschattete Mädchenzeit seit Jahrzehnten andauert und die deswegen zur Zielscheibe satirischer Kommentare geworden ist, wie sie auch heute gelegentlich in humoristischen Zeitschriften, z.B. in Mad, erscheinen. Die Bild- und Textautoren Supermans haben freilich eine klügere und zweifellos originelle Lösung ausgeheckt. Die Geschichten spielen sich in einer Art Traumsphäre ab – vom Leser unbemerkt –, in der ganz und gar undeutlich bleibt, was vorher und was nachher passiert ist, und der Erzähler nimmt den Faden der Ereignisse immer wieder auf, als ob er etwas zu sagen vergessen hätte oder dem bereits Berichteten zusätzliche Lichter aufstecken wollte.

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So kommt es, daß neben den Geschichten von Superman die Geschichten von Superboy erzählt werden, d.h. von Superman als Knaben, oder die von Superbaby, d.h. von Superman als Kleinkind. Und daß an einem bestimmten Punkt unvermutet Supergirl die Bühne betritt, eine Cousine von Superman (auch sie der Zerstörung Kryptons entronnen), so daß sämtliche Ereignisse, die mit Superman zu tun haben, in gewisser Weise »wiedererzählt« werden, um die Anwesenheit dieser neuen Figur zu untermauern (die, wie es heißt, deshalb bisher nicht erwähnt wurde, weil sie unter falschem Namen in einem Mädchenpensionat lebte; es wird jedoch berichtet, in welchen und wie vielen Fällen sie, von der bislang nicht die Rede gewesen war, an Abenteuern teilhatte, in die wir ausschließlich Superman verwickelt wähnten). Man stelle sich vor, wie, mittels der Erfindung der »Zeitreisen«, Supergirl, als Zeitgenossin von Superman, in der Vergangenheit mit Superboy zusammentrifft und mit ihm spielt, oder wie Superboy, der zufällig die Zeitgrenze überschritten hat, Superman begegnet, d.h. sich selbst, so wie er viele Jahre später sein wird. Da nun aber in solchen Phantasmagorien die Figur von Entwicklungen kompromittiert werden könnte, die ihre späteren Handlungen beeinflussen müßten, wecken die Autoren am Ende einer derartigen Geschichte den Verdacht, Superboy habe geträumt – und heben die Zustimmung zu ihr auf. Das originellste Verfahren dieser Art ist zweifellos das der imaginary tales. Tatsächlich kommt es vor, daß das Publikum in Leserbriefen von den Autoren unterhaltsame erzählerische Wendungen verlangt; daß, zum Beispiel, gefragt wird, warum Superman denn nicht die Journalistin Lois Lane heirate, die ihn schon so lange liebe. Doch wenn Superman Lois Lane heiratete, würde für den Fortgang des Comic ein irreversibles Schema eingeführt. Gleichwohl müssen immer wieder neue erzählerische Anreize entfaltet und die »romanhaften« Ansinnen des Publikums beachtet werden. So wird denn beispielsweise erzählt, »was geschehen wäre, wenn Superman Lois Lane geheiratet hätte«. Diese Annahme wird in vielfältigen dramatischen Verwicklungen durchgespielt. Am Ende jedoch heißt es: Wohlgemerkt, das war nur eine »phantasierte« Geschichte, die sich in Wahrheit gar nicht zugetragen hat.12 Die imaginary tales kommen häufig vor, ebenso die untold tales, d.h. Erzählungen, die bereits dargestellte Vorfälle betreffen, in denen aber »etwas zu sagen versäumt wurde«, das nun, in einer veränderten Konstellation, nachgetragen wird. Angesichts dieses massiven Bombardements mit Geschehnissen, die kein logischer Faden mehr zusammenhält und die wechselseitig durch keinerlei Notwendigkeit mehr ausgezeichnet sind, verliert der Leser den Sinn für zeitliche Ordnung, natürlich ohne sich dessen bewußt zu werden. Plötzlich findet er sich in einem imaginären Universum wieder, in welchem, im Unterschied zum unsrigen, die Kausalketten nicht offen sind (A ruft B hervor, B ruft C hervor, C ruft D hervor usw., bis ins Unendliche), sondern geschlossen (A ruft B hervor, B ruft C hervor, C ruft D hervor und D ruft A hervor), und wo es deshalb unsinnig wird, sich auf jene Zeitordnung zu berufen, auf deren Basis wir gewöhnlich die Prozesse im Makrokosmos beschreiben.13 Es scheint, daß – abgesehen von den zugleich mythenbildnerischen und kommerziellen Zwängen, die hierbei am Werk sind – die strukturelle Bilanz der Superman-Geschichten Überzeugungen zum Vorschein bringt, wenn auch auf niedrigem Niveau, die in unserer Kultur hinsichtlich der Begriffe Kausalität, Zeitlichkeit, Unumkehrbarkeit der Ereignisfolge verbreitet sind. Und fraglos spiegelt ein Großteil der zeitgenössischen Kunst, von Joyce bis Robbe-Grillet und zu einem Film wie

Eco: Der Mythos von Superman

Letztes Jahr in Marienbad, paradoxe Zeitsituationen, deren Muster in den gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Diskussionen vorgebildet sind. Tatsache ist aber auch, daß in Werken wie Finnegans Wake oder Dans le labyrinthe der Bruch mit den geläufigen Zeitverhältnissen bewußt vollzogen wird, sei es vom Autor, sei es von demjenigen, der aus einem solchen Eingriff ästhetischen Genuß zieht. Es hat also die Krise der Zeitlichkeitsbestimmung sowohl eine Forschungs- als auch eine Indikatorfunktion; sie liefert dem Leser Phantasiemodelle, die ihn mit Fragestellungen der zeitgenössischen Wissenschaft vertraut machen können und die die Tätigkeit einer Einbildungskraft, die noch auf traditionelle Bestände eingeschworen ist, mit der Tätigkeit eines Verstandes versöhnen, der es wagt, Universen hypothetisch darzustellen oder zu beschreiben, die nicht auf Bilder oder auf gewohnte Muster zurückführbar sind. Folglich haben diese Werke eine eigentümliche mythenbildende Kraft (hier beginnt jedoch eine andere Diskussion), da sie dem Bewohner der gegenwärtigen Welt eine Art von symbolischer Andeutung oder ein allegorisches Diagramm jenes Absoluten vorschlagen, das die Wissenschaft nicht in einer metaphysischen Bestimmung der Wirklichkeit aufgelöst hat, sondern in einer Möglichkeit, unser Verhältnis zur Realität zu definieren und damit die Realität zu beschreiben.14 Die Abenteuer Supermans besitzen jedoch diese kritische Kraft keinesfalls, und das zeitliche Paradoxon, auf dem sie aufgebaut sind, muß dem Leser zwangsläufig entgehen (ebenso wie es vermutlich den Autoren entgeht), weil die verworrene Auffassung der Zeit, an die sie geknüpft sind, die einzige Bedingung der Glaubwürdigkeit der Erzählung ist. Superman kann sich als Mythos nur halten, wenn der Leser die Kontrolle über die zeitlichen Verhältnisse verliert und darauf verzichtet, auf ihrer Grundlage zu denken, sich also dem stetigen Sog der Geschichten hingibt, die ihm berichtet werden, und sich in der Illusion einer unbeweglichen Gegenwart behauptet. In der Gewöhnung an diese unablässige Vergegenwärtigung der Geschehnisse schwindet sein Bewußtsein davon, daß das Geschehen sich in den Koordinaten der drei Zeitformen vollziehen muß. Und damit schwindet auch das Gespür für die Probleme, die in diesen Zeitformen gestellt sind: das Problem der Freiheit (die Möglichkeit des Projekts, die Pflicht dazu, der Schmerz, den es mit sich führt), das Problem der Verantwortung, die sich daraus ergibt, und das Problem menschlicher Gemeinschaft, deren Entwicklung an den individuellen Entwurf gekoppelt ist.

Superman als Modell der Außensteuerung Die von uns angeregte Analyse bliebe ziemlich abstrakt und könnte als apokalyptisch erscheinen, wäre derjenige, der Superman liest und für den Superman produziert wird, nicht eben derselbe, von dem in soziologischen Untersuchungen als dem »außengesteuerten« (oder »außengeleiteten«) Individuum die Rede war und ist. Außengeleitet ist, wem in einer Gesellschaft mit hohem technischen Standard und einer konsumorientierten Wirtschaft mittels Werbung, Fernsehsendungen und Überredungskampagnen suggeriert wird, was er zu wünschen hat und wie er es über festgefügte Kanäle erlangen kann, die ihn riskanter und verantwortlicher Entscheidungen entheben. In einer solchen Gesellschaft wird sogar Politik vermittels umsichtiger Verwaltung der Gefühlsressourcen des Wählers »betrieben«, nicht durch Anstöße zum Nachdenken und zu rationaler Bewertung. Ein Motto

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wie I like Ike ist dafür charakteristisch. Es wird dem Wähler nicht gesagt: »Du sollst aus folgenden Gründen, die wir Dir zum Nachdenken unterbreiten, für diese Person stimmen«, sondern es wird gesagt: »Du mußt darauf Lust haben«. Er wird also nicht zu einem Projekt eingeladen; vielmehr legt man ihm nahe, etwas zu wünschen, das andere für ihn projektiert haben.15 In der Werbung und ebenso in der Propaganda und in den Praktiken der human relations ist die Abwesenheit des »Entwurfs« ausschlaggebend. Nur so kann der Paternalismus der heimlichen Überredung wirksam werden, die Einflüsterung, das Subjekt sei weder für seine Vergangenheit verantwortlich noch Herr seiner Zukunft, noch den Gesetzen der Zeitlichkeit unterworfen. Statt dessen werden ihm »Fertigwaren« angeboten – angeblich um seinen Wünschen zu entsprechen, in Wahrheit jedoch, um in ihm Wünsche zu erzeugen oder zu befestigen, die ihn das Angebotene als etwas verkennen lassen, das er selbst gewollt und entworfen habe. Die Analyse der Zeitstrukturen im Superman-Comic hat das Bild einer Erzählweise ergeben, die fundamental an die pädagogischen Prinzipien gebunden zu sein scheint, welche eine Gesellschaft dieser Art leiten. Lassen sich zwischen den beiden Bereichen Zusammenhänge nachweisen, etwa mittels der These, Superman sei nichts anderes als eines der pädagogischen Werkzeuge dieser Gesellschaft, und die Zerstörung der Zeit, die er betreibt, sei Teil ihrer Programmatik, um von dem Gedanken eines Programms der Selbstverantwortung abzulenken? Dazu befragt, würden die Autoren wohl mit Nein antworten, und sie wären darin wahrscheinlich ehrlich. Aber auch ein primitiver Stamm, wenn man ihn über eine bestimmte rituelle Gewohnheit oder über ein Tabu befragte, wäre außerstande, den Zusammenhang zu erkennen, der die singuläre traditionelle Handlung mit dem allgemeinen Korpus der Glaubensansichten verbindet, den die Gemeinschaft vertritt: mit dem Kern des Mythos, auf dem die Gesellschaft beruht. Nach den Gründen befragt, warum er beim Behauen eines Kathedralenportals bestimmte Proportionen einhalte, hätte ein mittelalterlicher Meister sicherlich verschiedene ästhetische und technische Hinweise, doch niemals die Auskunft gegeben, daß er sich durch Beachtung dieser Norm und die Bekundung des Geschmacks für Proportionen an eine Thematik der Ordnung band, welche die Struktur der summae, der juristischen Kodizes, die Hierarchie des Imperiums und die der Kirche lenkte, und daß sich dies alles wie eine ständige, gelegentlich zur Theorie erhobene, häufig jedoch unbewußte Bekräftigung einer radikalen Überzeugung, d.h. der Idee behauptete, die Welt sei eine göttliche Schöpfung, Gott habe nach einer bestimmten Regel gehandelt und diese Regel müsse in jedem menschlichen Werk wiederholt und bestätigt werden. Der mittelalterliche Handwerker, der den Bart eines Propheten mit symmetrisch angeordneten Kehlen meißelte, gab auf diese Weise unbewußt seine Zustimmung zum Schöpfungs-»Mythos«. Heute sehen wir in seiner Handlung den Ausdruck eines einheitlichen Kulturmodells, das sich noch in den kleinsten Konfigurationen zu wiederholen vermochte. Nachdem uns die moderne Geschichtsschreibung derlei Einblicke eröffnet hat, können wir die kulturanthropologische Hypothese wagen, die uns die Comics von Superman als Widerspiegelung einer gesellschaftlichen Situation, als marginale Bestätigung eines Modells zu lesen erlaubt.

Eco: Der Mythos von Superman

II. Verteidigung des Wiederholungsschemas Die Wiederholung von Ereignissen nach einem festen Muster (regelmäßig wiederkehrend, so daß jedes von einem scheinbaren Anfang ausgeht, wobei es den Endpunkt des vorangegangenen Ereignisses außer acht läßt) sei, so ließe sich einwenden, in der populären Erzählweise nicht neu, sondern eines ihrer charakteristischen Merkmale. Man könnte dazu, beispielshalber, auf die Geschichten über Signor Bonaventura verweisen, wo der Erwerb der Million am Schluß die Lage des Protagonisten keineswegs ändert, den der Autor uns pünktlich zu Beginn jeder nachfolgenden Episode wieder vorstellt, als ob vorher nichts geschehen wäre, folglich als ob die Zeit von neuem begonnen hätte. (Es handelt sich hier um einen berühmten italienischen Comic strip aus den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts, U. E.) Wir haben bewußt ein Beispiel gewählt, das jeder Leser in dankbarer Erinnerung behält, gerade um die Anwendungsmöglichkeiten des »Wiederholungsschemas« in angenehmen Weisen ins Licht zu rücken. Man kann die heiteren Zeichnungen von Sergio Tofano wohl kaum einer verborgenen paternalistischen Strategie verdächtigen – selbst wenn man in der Person Bonaventuras das Spiegelbild eines notleidenden, attentistischen, unterentwickelten Italiens erblickt, das zuversichtlich an die Vorsehung glaubt. Der Mechanismus, auf dem der Genuß an der Wiederholung beruht, ist für die Kindheit typisch – Kinder wollen keine neue Geschichte hören, sondern immer wieder die Geschichte, die sie bereits kennen und die ihnen schon häufig erzählt wurde. Man mag nun einen Mechanismus der Zerstreuung, der die Regression auf die Kindheit inszeniert, mit Nachsicht betrachten und sich fragen, ob wir, wenn wir ihn unter Anklage stellen, nicht Banalitäten und Selbstverständlichkeiten schwindelerregende Bedeutungen unterschieben. Denn schließlich haben wir ja in der Lust an der Wiederholung eine der Quellen der Zerstreuung und des Spiels erkannt. Und niemand wird die heilsame Wirkung des Spiels und der Zerstreuung leugnen wollen. Beobachten wir, um uns dem Problem weiter zu nähern, die Einstellung des Fernsehzuschauers zu einem Kriminalfilm mit Perry Mason. Die Geschicklichkeit des Autors und des Drehbuchautors ist in jeder »Folge« darauf gerichtet, eine Situation zu erfinden, die sich von den vorangegangenen unterscheidet; doch unser Vergnügen wurzelt nur in ganz geringem Maße in der Wahrnehmung dieser Verschiedenheiten. In Wirklichkeit genießen wir die Wiederholung des Grundschemas: »Verbrechen – Anklage gegen den Unschuldigen – Eingriff von Mason – Prozeßphasen – Zeugenbefragung – Boshaftigkeit des Staatsanwalts – der Trumpf in der Hand des Anwalts, der sich für eine scheinbar verlorene Sache engagiert – glückliche Auflösung, mit einem Theatercoup zum Schluß.« Eine Perry-MasonEpisode ist kein Werbespot, dem wir zerstreut folgen, sondern etwas, das wir uns anzusehen entschließen und wozu wir eigens das Fernsehgerät einschalten. Was ist das wirkliche Motiv dieses Entschlusses? Es ist der intensive Wunsch, ein Schema wiederzuerleben, es wiederzuerkennen. Diese Haltung ist nicht lediglich die des Fernsehzuschauers. Sie leitet auch den Kriminalroman-Leser. Die Lektüre von Kriminalromanen, zumindest des herkömmlichen Typs, gleicht dem genüßlichen Kosten eines Schemas: vom Verbre-

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chen über die Kette der Ermittlungen zur Aufdeckung. Das Schema ist so wichtig, daß selbst berühmte Autoren ihren Erfolg auf seine Unveränderlichkeit gegründet haben. Gemeint ist nicht allein ein Schematismus in der Ordnung des plot, sondern auch einer der Gefühle und der psychischen Einstellungen. Bei Simenons Maigret oder bei Agatha Christies Poirot gibt es die ständig wiederaufflackernde Regung des Mitleids; sie geht einher mit der Enthüllung der Fakten durch den Detektiv, d.h. mit der Einfühlung in die Beweggründe des Schuldigen: ein Akt der caritas, der sich mit dem Akt der aufdeckenden und verurteilenden Gerechtigkeit vermischt. Doch weil er damit noch nicht zufrieden ist, führt der Autor des Kriminalromans eine Reihe von Konnotationen ein (zum Beispiel besondere Merkmale des Polizisten und seiner unmittelbaren Umgebung); ihre Wiederholung in jeder Geschichte bildet die entscheidende Voraussetzung für den Erfolg, das unverwechselbare Identitätszeichen: die »Tics« von Sherlock Holmes, die eigensinnigen Eitelkeiten von Hercule Poirot, die Pfeife und das familiäre Leid Maigrets, das Kölnisch Wasser und die Players Nr. 6 des Slim Callaghan von Peter Cheney, das Glas Cognac mit Eiswasser des Michael Shayne von Brett Halliday – Laster, Gesten, enervierende schlechte Angewohnheiten, die uns einen vertrauten Freund wiedererkennen lassen und die gleichsam der Schlüssel zum »Eintritt« in die Handlung sind. Der Beweis dafür: Hat unser Lieblings-Kriminalautor eine Geschichte geschrieben, in der nicht der eingeprägte Held agiert, bemerken wir nicht einmal, daß das Grundschema dasselbe geblieben ist – wir lesen das Buch mit einer gewissen Distanziertheit und neigen rasch dazu, es als »minderes« Werk, als einen »Ausrutscher« einzustufen. Ganz deutlich zeigt sich dies, wenn wir eine inzwischen berühmt gewordene Figur betrachten: den von Rex Stout unsterblich gemachten Nero Wolfe. Nur provisorisch – eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß es unter den Lesern jemanden gibt, der ausschließlich hochrangige Literatur liest, dieser Figur daher noch nie begegnet ist – will ich kurz die Elemente in Erinnerung rufen, die der Konstruktion des »Typus« Nero Wolfe und seiner Umwelt zugrunde liegen. Nero Wolfe, ein Montenegriner, ist ein seit unvordenklichen Zeiten naturalisierter Amerikaner. Er ist außergewöhnlich schwergewichtig, benötigt deshalb einen eigens für ihn gebauten Sessel; er leidet an schlimmen Faulheitsanfällen. Tatsächlich geht er niemals aus dem Haus (die Ausnahmen von dieser Regel sind, wie seine treuen Anhänger wissen, so selten, daß sie als bibliophile Rarität gehandelt werden) und bedient sich bei seinen Ermittlungen der Hilfe des unbefangenen Archie Goodwin, mit dem er in einer angespannten und kontinuierlichen Auseinandersetzung steht, die einzig beider »sense of humour« mildert. Nero Wolfe ist ein ausgefuchster Feinschmecker, und Fritz, der Koch, ist vollauf damit beschäftigt, Wolfes raffinierten Geschmackswünschen zu genügen, die mit Unersättlichkeit innig gepaart sind. Neben den Tafelfreuden pflegt Wolfe eine zeitraubende und exlusive Leidenschaft für Orchideen, von denen er im obersten Stockwerk des Hauses, das er bewohnt, eine Sammlung von unschätzbarem Wert unterhält. Von der Feinschmeckerei und den Blumen vielfältig beansprucht und geplagt von ausgeprägten Tics (einer Vorliebe für gelehrsame Lektüre, einer Aversion gegen Frauen, einer unersättlichen Geldgier), folgt Nero Wolfe seinen detektivischen Neigungen – die ein meisterlicher psychologischer Scharfsinn befeuert –, indem er, in seinem Büro sitzend, die von seinem unternehmungslustigen Archie gelieferten Daten abwägt, die Verdäch-

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tigen und die Zeugen befragt, welche allesamt gezwungen werden, ihn in seinem Büro aufzusuchen. Häufig sowohl mit Inspektor Cramer (Achtung: er trägt immer eine erkaltete Zigarre im Mund) als auch mit dem verhaßten Sergeanten Purley Stebbins im Streit, führt er schließlich in einer festgelegten Inszenierung, von der kaum einmal abgewichen wird, die Hauptbeteiligten in seinem Büro zusammen (gewöhnlich abends), wo er mit geschickten Winkelzügen, fast immer bevor er im Besitz der vollständigen Wahrheit ist, den Schuldigen, der sich dabei entlarvt, in einen Anfall von Hysterie treibt. Kenner von Rex Stouts Geschichten wissen, daß mit diesen Einzelheiten das Repertoire der topoi, der feststehenden und regelmäßig wiederkehrenden Muster, die diese Handlungsabläufe beleben, keineswegs zureichend beschrieben ist. Die Kasuistik ist weit umfassender: die fast übliche Verhaftung Archies wegen des Verdachts der Verheimlichung oder Fälschung von Beweisen; die juristischen Diatriben über die Art und Weise, wie Wolfe von einem Klienten beauftragt wird; die Anstellung von Gehilfen (Saul Panzer oder Orrie Carther); das Bild an der Bürowand, mit einem Guckloch, durch das entweder Archie oder Wolfe Verhalten und Reaktionen eines Verdächtigen im Büro beobachten können; die Szene zwischen Wolfe und dem unaufrichtigen Klienten… Man könnte mit der Aufzählung beliebig fortfahren, denn die Liste dieser »Örter« ist so lang, daß sie praktisch alle Handlungsmöglichkeiten einschließt, die jede dieser Geschichten zuläßt. Gleichwohl sind die Variationen über das Thema unerschöpflich. Jedes Verbrechen hat eigentümliche psychologische und ökonomische Motive, jedesmal heckt der Autor eine scheinbar neue Situation aus. Scheinbar. Denn tatsächlich wird der Leser nie veranlaßt, zu überprüfen, ob und in welchem Grade ihm etwas bislang Unbekanntes erzählt wird. Die starken Seiten der Erzählung sind daher auch nicht jene, die etwas Unerwartetes präsentieren; das sind bloß Vorwände. Die starken Seiten sind jene, auf denen Wolfe seine üblichen Gesten wiederholt, sich seinen Orchideen zuwendet, während die Handlung den dramatischen Höhepunkt erreicht, auf dem Inspektor Cramer drohend eintritt, den Fuß in die Tür stellt, Goodwin beiseite schiebt und mit erhobenem Zeigefinger Wolfe warnt, diesmal werde er nicht ungeschoren davonkommen. Die Anziehungskraft des Buches, das Gefühl der Erholung und der psychischen Entspannung, das es zu vermitteln vermag, rühren daher, daß der Leser, in seinen Sessel oder in den Sitz des Eisenbahnabteils zurückgelehnt, Punkt für Punkt wiederfindet, was er schon weiß, was er noch einmal wissen will und wofür er sein Geld ausgegeben hat: das Vergnügen an einer Nicht-Geschichte (sofern denn eine Geschichte die Entwicklung von Ereignissen ist, die uns von einem Ausgangspunkt zu einem Endpunkt führt, an dem anzukommen wir nicht einmal im Traum gedacht hätten). Ein Vergnügen, bei dem die Zerstreuung darin besteht, daß die Entwicklung von Ereignissen verweigert wird, daß die Spannung von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft von uns genommen wird, damit wir uns auf einen Augenblick zurückziehen können, den wir lieben, weil er regelmäßig wiederkehrt.

Das Wiederholungsschema als redundante Botschaft Zweifellos werden diese Mechanismen in der zeitgenössischen Konsumliteratur beharrlicher realisiert als im Zeitungsroman des 19. Jahrhunderts, dessen Handlung – wie wir gesehen haben – auf einer Entwicklung gründete und der von der

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Person verlangte, daß sie sich bis zum letzten, bis zum Tode auf brauchte (vielleicht eine der ersten unverbrauchbaren Personen beim Niedergang des Zeitungsromans um die Jahrhundertwende, als die Belle Epoque verblühte, war Fantômas16; mit ihm geht eine Epoche zu Ende). Dennoch bleibt zu fragen, ob die modernen Wiederholungsmechanismen nicht einem fundamentalen Interesse der heutigen Menschen entsprechen und ob es deshalb nicht gewichtigere Gründe und bessere Rechtfertigungen für sie gibt, als man auf den ersten Blick zuzugeben bereit wäre. Betrachten wir das Wiederholungsschema unter dem Struktur-Gesichtspunkt, so stellen wir fest, daß wir es dabei mit einer typischen Botschaft mit hoher Re­ dundanz zu tun haben. Ein Roman von Pierre Souvestre und Marcel Allain, den Autoren von Fantômas, oder von Rex Stout ist eine Botschaft, die zwar kaum Informationen transportiert, aber dank der Verwendung redundanter Elemente ein Signifikat bestätigt, das wir bei der Lektüre des ersten Werks der Reihe in Ruhe aufgenommen haben (im vorliegenden Fall ist das Signifikat ein bestimmter Handlungsmechanismus, der auf das Eingreifen »topischer« Personen zurückgeht). Der Geschmack am Wiederholungsschema stellt sich somit als Geschmack an der Redundanz dar. Der Hunger nach Unterhaltungsliteratur, die auf diesen Mechanismen beruht, ist ein Hunger nach Redundanz. So gesehen besteht der größte Teil der Massenerzählungen aus Redundanzerzählungen. Paradoxerweise wird also ausgerechnet der Kriminalroman, den man gern jenen Produkten zurechnen möchte, die den Geschmack am Unvorhergesehenen und Sensationellen befriedigen, aus den entgegengesetzten Gründen konsumiert, nämlich aus Neigung zu dem, was friedlich, erwartet, vertraut und vorhersehbar ist. Daß wir den Schuldigen nicht kennen, ist ein eher beiläufiges Moment, fast schon ein Vorwand. Dafür spricht, daß im Action-Krimi (wo die Wiederholung des Schemas ähnliche Triumphe feiert wie im Detektivroman) die Spannung, endlich zu erfahren, wer denn nun der Schuldige ist, oft gar nicht aufrechterhalten bleibt; es geht nicht darum zu entdecken, wer ein Verbrechen begangen hat, sondern darum, gewisse »topische« Gesten von »topischen« Personen zu verfolgen, an denen wir mittlerweile die feststehenden Verhaltensweisen lieben. Um diesen »Hunger nach Redundanz« zu erklären, bedarf es keiner sonderlich subtilen Hypothesen. Der Fortsetzungsroman, der auf dem Triumph der Information gründet, war die bevorzugte Nahrung einer Gesellschaft, die inmitten von redundanzgesättigten Botschaften lebte. Der Sinn für die Tradition, die Normen der Geselligkeit, die Moralprinzipien, die einschlägigen Verhaltensregeln, welche in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bei jenem Publikum galten, das die Konsumenten des Fortsetzungsromans stellte – alles dies bildete ein Ensemble voraussehbarer Mitteilungen, die das soziale System an seine Mitglieder richtete und die gewährleisteten, daß das Leben ohne abrupte Zäsuren, ohne Umsturz der Wertetafeln vonstatten ging. In dieser Welt gewann die »informative« Erschütterung, die eine Novelle von Poe oder ein Theatercoup von Ponson du Terrail auszulösen vermochte, eine genaue Bedeutung. In der modernen Industriegesellschaft dagegen bündeln sich die Ablösung der Parameter, der Zerfall der Überlieferungen, die gesellschaftliche Mobilität, der Verschleiß der kulturellen Muster und der moralischen Grundsätze zu einem Informationsaufgebot, das ständig Neuanpassung der Sensibilität, raschen Wandel der psychologischen Annahmen und gravierende Umorientierungen der Intelligenz erheischt. Unter diesen Verhältnissen erscheint die Redundanzliteratur als ein milder Anreiz zum Ausruhen, als einzigartige Gelegenheit

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der Entspannung, während die »hohe« Kunst, die sich unablässig in Bewegung befindet, angestrengte Aufmerksamkeit erfordert und nichts als Irritation anbietet: Grammatiken, die sich gegenseitig eliminieren; dauernd wechselnde Kodes.17 Liegt es da nicht nahe, daß auch der Gebildete, der in Augenblicken intellektueller Anspannung vom informellen Bild oder vom seriellen Musikstück Ansporn seines Verstands und seiner Phantasie verlangt, in (willkommenen und unentbehrlichen) Momenten der Entspannung und Zerstreuung sich wieder dem arglosen, kindlichen Nichtstun zuwendet und vom Konsumprodukt erwartet, daß es ihn mit dem Überschwang der Redundanz zufriedenstelle? Sobald man das Problem unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist man versucht, den Phänomenen der ablenkenden Unterhaltung (zu denen auch der Mythos von Superman zählt) mit Nachsicht zu begegnen, ja sich selbst eines allzu hartnäckigen und von Sophistereien durchsetzten Moralismus zu bezichtigen. Das Problem ändert jedoch sein Erscheinungsbild in dem Maße, wie das Vergnügen an der Redundanz von einer erholsamen Entlastung, von einer Unterbrechung des konvulsivischen Rhythmus der in der Informationsverarbeitung engagierten Intellektuellenexistenz zur Norm jeder Phantasietätigkeit wird. Mit anderen Worten: Für wen stellt die Redundanzliteratur eine Alternative zu etwas anderem dar, und für wen ist sie die ausschließliche Impulsquelle? Hinzu kommt folgendes: Wie sehr verstärkt innerhalb derselben Wiederholungsschemata eine jeweils andere Dosierung der Inhalte und Sujets die negative Funktion des Schemas? Das Problem liegt nicht in der Frage, ob unterschiedliche ideologische »Inhalte«, die durch dasselbe Erzählschema übermittelt werden, unterschiedliche Wirkungen erzielen können. Ein Wiederholungsschema ist und bleibt ein solches nur, insoweit es semantische Bezüge aufrechterhält und ausdrückt, die ihrerseits ohne jede Entwicklung sind. Anders ausgedrückt: Eine Erzählstruktur drückt eine Welt aus. Genauer: Wir werden an ihr gewahr, daß die Welt dieselbe Konfiguration besitzt wie die Struktur, in der sie zum Ausdruck kommt. Der Fall Superman bestätigt diese Hypothese. Achten wir auf die ideologischen »Inhalte« der Superman-Geschichten, so zeigt sich, daß sie kommunikativ aufgrund der Struktur der Erzählserie Bestand haben und funktionieren; doch zugleich legen sie die Struktur, die die ideologischen Gehalte zum Ausdruck bringt, als ein zirkuläres und statisches Gefüge, als Träger einer ihrem Wesen nach starren pädagogischen Botschaft fest.

Staatsbürgerliches und politisches Bewußtsein Die Superman-Geschichten haben eine Eigenschaft mit anderen, auf Helden mit »Superkräften« gegründeten Abenteuern gemeinsam. Aber da die verschiedenartigen Bauelemente dieses Genres hier zu einem homogenen Ganzen verschmelzen, ist unsere besondere Aufmerksamkeit gerechtfertigt. Im übrigen ist es kein Zufall, wenn Superman, alles in allem, der populärste der Helden ist, von denen wir sprechen werden: Er ist nicht nur der Stammvater der Gruppe (Dienstantritt 1938), sondern von allen diesen Figuren auch die am ausführlichsten charakterisierte; er besitzt eine wiedererkennbare Persönlichkeit, die auf einer langjährigen Sammlung von Anekdoten beruht. Und obwohl er aus den geschilderten Gründen – und, wie wir sehen werden, aus anderen mehr – nicht als Typus bezeichnet werden kann, hätte er unter seinesgleichen fraglos den größten Anspruch auf einen solchen Titel.

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Ferner darf nicht verschwiegen werden, daß in seinen Geschichten eine gewisse Ironie, eine wohlwollende Nachsicht der Autoren steckt, die zwar die Person und ihre Handlungen zeichnen, aber sich bei alledem einigermaßen bewußt sind, letztlich eine »Komödie«, kein »Drama« oder keinen »Abenteuerroman« zu montieren. Eben diese Bewußtheit bei der Dosierung romanhafter Effekte, die Präsentation der Figur im Flackerlicht der Selbstironie, rettet Superman, jedenfalls teilweise, vor der Banalität des niederen Kommerz und macht ihn zu einem »Fall«. Seine Verwandten sind ihm unterlegen, es sind Phantome, die sich von einem Einzelbild zum anderen fortbewegen und die so austauschbar sind, daß man unmöglich mit ihnen sympathisieren oder sie gar lieben kann. Doch gehen wir der Reihe nach vor. Bei den Superhelden könnten wir unterscheiden zwischen solchen, die mit übermenschlichen Kräften ausgestattet sind, und den anderen, die nur über – wiewohl höchst gesteigerte – irdische Gaben verfügen. Zu den ersten gehören Superman und die Hauptfigur in The Manhunter from Mars (Der Spürhund vom Mars). Superman kennen wir bereits. Der Spürhund ist ein Marsbewohner, der auf der Erde in einer Polizeimission unterwegs ist und sich unter dem Decknamen des Detektivs John Jones verbirgt. Charakteristisch für den Spürhund vom Mars (dessen wahrer Name J’onn J’onnz lautet) ist seine Fähigkeit, das Aussehen jedes beliebigen Individuums annehmen sowie sich entmaterialisieren und somit feste Körper durchdringen zu können. Sein einziger Feind ist das Feuer (das hier die Funktion des Kryptonits bei Superman wahrnimmt). Sein pet (Haustier, Liebling) ist Zuk, ein Tier aus dem Weltraum, das mit gewissen Superkräften ausgestattet ist und das Pendant zum Hund Krypto, dem pet von Superman, darstellt.18 Zu den Helden, die nur menschliche Vermögen haben, zählt das Paar Batman und Robin. Auch hier zwei Individuen, die sich gewöhnlich unter einem Decknamen verbergen (das Thema der Doppelidentität ist eine regulative Idee des Genres) und die im Gefolge der Polizei an den Ort der Verbrechen eilen, in einem Kostüm, das der Gestalt einer Fledermaus ähnelt. Ebenso wie bei Superman und dem Spürhund vom Mars (und, wie wir sehen werden, auch bei anderen) ist das Kostüm ein enganliegendes elastisches Trikot, was die Hypothesen jener Interpreten bestätigt, die, wie der schon zitierte Giammanco, in diesen Figuren und in ihren an Männerbünde erinnernden Lebensbedingungen Elemente von Homosexualität erkennen wollen. Eine Spezialität von Batman und Robin besteht darin, sich mittels passender langer Seile von einem Gebäude zum anderen zu schwingen oder aus dem Helikopter abzusteigen (auch er hat die Gestalt einer Fledermaus, wie ihr Automobil und ihr Motorboot – und tatsächlich tragen die Bezeichnungen dieser Transportmittel das Präfix bat-). Nahe Verwandte von Batman und Robin sind Green Arrow und Speedy. Das enganliegende Trikot ist hier um einige weitere Kleidungsstücke ergänzt: ein Paar Stiefel und Handschuhe. Ihr Kostüm gleicht dem von Robin Hood. In der Tat sind diese beiden Figuren dessen späte, technisch hochgetrimmte Wiederverkörperung, insofern sie ausschließlich mit Pfeilen arbeiten. Diese Pfeile sind in einer höchst ausgeklügelten Weise ausgedacht und erlauben den unterschiedlichsten Gebrauch als Wind-Pfeile, Treppen-Pfeile, Raketen-Pfeile, Faust-Pfeile, Netz-Pfeile, Wurfanker-Pfeile, Bolas-Pfeile, bengalische Feuer-Pfeile, und so fort. Anstelle einer Spitze haben sie hochpräzise Apparate, die, wenn sie mit dem Ziel in Berührung kommen, die seltsamsten Wirkungen entfalten – je nach Anlaß und Bedarf werden

Eco: Der Mythos von Superman

sie zur Leuchtrakete, zur Wurfschlinge, zum Kletterhaken, zum Betäubungsstab usw. Die verblüffende Anwendung dieses technischen Geräts garantiert, daß die Kräfte der beiden Helden ebenso effektiv sind wie die akrobatische Geschicklichkeit von Batman und Robin oder, wenn auch nicht immer, wie die Superkräfte von Superman und J’onn J’onnz. Zu ihnen gesellt sich Flash. Seine Grundausstattung ist die gleiche; die geschniegelte Kleidung, die Gabe rascher Verwandlung, die Doppelidentität (im Alltag ist er Polizeichemiker, seine Verlobte ist Journalistin, und er ist für die Reize der jungen Frau nicht unempfänglich, gelegentlich gibt er ihr einen Kuß). Auch er gebietet über Superkräfte: die Fähigkeit, sich mit Lichtgeschwindigkeit fortzubewegen, mithin die Fähigkeit, den Erdball in kürzester Zeit zu umkreisen; die Fähigkeit, feste Körper zu durchdringen, aufgrund eines nicht genauer beschriebenen Gesetzes, das, im Photonenbereich, die Beschleunigung der »Teilchen« gestattet, aus denen sein Organismus besteht. Man könnte die Aufzählung zwar fortsetzen,19 aber ich glaube, hiermit die charakteristischsten Figuren gekennzeichnet zu haben. Daß sie allesamt nach einem gemeinsamen Bauplan konstruiert sind, ist unverkennbar. Doch erst bei genauer Lektüre fällt die einheitliche pädagogische Botschaft auf, die sie miteinander verbindet. Jede von ihnen verfügt über solch erhebliche Fertigkeiten und Gaben, daß sie die Regierungsgewalt an sich ziehen, ein Heer aufstellen und das planetarische Gleichgewicht umstoßen könnte. Ist da bei Batman und Green Arrow noch ein gewisser Zweifel angebracht, so steht bei den drei anderen die immense Reichweite ihrer operativen Fähigkeiten außer Frage. Im übrigen ist jede dieser Figuren im Innersten gut, moralisch und den Idealen der Menschheit verpflichtet, und deshalb ist es nur natürlich (und schön), daß sie ihre Kräfte ausschließlich zu guten Zwecken gebrauchen. So gesehen erscheint die »Lehre«, die diese Geschichten verbreiten, jedenfalls unter dem Aspekt der Jugendliteratur, unbedenklich, zumal die Gewaltszenen, mit denen sie gespickt sind, dazu tendieren, das Böse am Ende unterliegen und die Ehrbarkeit siegen zu lassen.20 Die Zweideutigkeit der Moral offenbart sich allerdings in dem Augenblick, in dem man die Frage stellt, was denn das Gute sei. An dieser Stelle begnügen wir uns mit einem neuerlichen Blick auf Superman, da er die Grundzüge solcher Helden in sich vereint. Superman ist praktisch omnipotent; von seinen körperlichen, geistigen und technischen Fähigkeiten war ja schon mehrfach die Rede. Ein Wesen, das über derartige Fähigkeiten verfügt und das sich für das Wohl der Menschheit engagiert (wir wollen hier das Problem in aller Offenheit stellen, aber mit der größten Verantwortung, indem wir alles für wahrscheinlich erachten), hätte, in der Tat, ein unermeßliches Betätigungsfeld vor sich. Von einem Menschen, der, in wenigen Sekunden, Arbeit und Reichtum astronomischen Ausmaßes bewirken kann, könnte man wohl die Umwälzung der politischen, ökonomischen und technologischen Ordnung der Welt erwarten, die Abschaffung des Hungers ebenso wie die Urbarmachung der Wüsten. (Superman »von rechts« gelesen: Warum geht er nicht hin und befreit sechshundert Millionen Chinesen vom Joch Maos?) Kurz, Superman vermöchte, aufgrund seiner großen Talente, das Gute in geradezu kosmischen, ja galaktischen Dimensionen durchzusetzen und gleichzeitig einer neuen Ethik zum Zuge zu verhelfen. Statt dessen geht er seiner Tätigkeit in einer kleinen Gemeinde nach, in der er lebt (Smallville in der Kindheit, Metropolis im Erwachsenen-

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alter). Und so wie es dem mittelalterlichen Landmann widerfahren konnte, daß er zwar das Heilige Land kennenlernte, nicht aber die fünfzig Kilometer entfernte Nachbargemeinde, so bleibt Superman, der ungehindert Reisen in ferne Galaxien unternimmt, vielleicht nicht »die Welt«, jedoch die »Welt der Vereinigten Staaten« unbekannt.21 In seiner little town tritt das Böse, das es zu bekämpfen gilt, in Gestalt von Verbrechern auf, die sich weder mit Drogenschmuggel noch mit der Bestechung von Behörden und Politikern beschäftigen, sondern mit dem Ausrauben von Banken und Postwagen. Mit anderen Worten: Die einzige sichtbare Form, die das Böse annimmt, ist der Anschlag auf das Privateigentum. Das Böse im Weltraum ist ein nebensächliches Ingrediens, es ist zufällig; die Unterwelt hingegen ist ein endemisches Übel, eine Art Strang der Verdammnis, der die menschliche Geschichte durchzieht, die klar und manichäisch gegliedert ist: Jede Autorität ist von Grund auf gut und unverdorben, jeder Bösewicht ohne Aussicht auf Rettung. Man hat, mit Gründen, gesagt, Superman sei das eklatante Beispiel eines staatsbürgerlichen Bewußtseins, das vom politischen Bewußtsein abgetrennt ist. Sein Bürgersinn ist durchaus perfekt, doch er bewegt und bekundet sich in den Grenzen einer kleinen geschlossenen Gemeinschaft.22 Kennzeichnend dafür ist, wie Superman enorme Energien für spektakuläre Wohltätigkeitsveranstaltungen verausgabt, um Geld für Waisenkinder und Arme zu sammeln. Diese paradoxe Verschwendung von Mitteln (dieselbe Energie könnte direkt zur Erzeugung von allgemeinem Wohlstand oder zur radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse eingesetzt werden) fällt dem Leser immer wieder auf. Ebenso wie das Böse allein unter dem Aspekt des Angriffs auf das Privateigentum erscheint, tritt das Gute allein in der Gestalt der Wohltätigkeit hervor.23 Diese schlichte Gleichung scheint Supermans Moral hinreichend auszudrücken. Doch es ist noch ein weiterer Sachverhalt zu bedenken. Daß Superman ausschließlich im Rahmen bescheidener reformerischer Zielvorstellungen agiert, hängt mit der statischen Metaphysik zusammen, die der Handlung zugrunde liegt, und ist die unmittelbare und ungewollte Folge des erzählerischen Strukturmechanismus, der allein, wie es scheint, die Botschaft, um die es geht, zu übermitteln imstande ist. Die Geschichte ist statisch und muß Entwicklung vermeiden. Sie zwingt Superman, so zu handeln, wie er handelt: Das, was man seine Tugend nennen könnte, setzt sich aus lauter kleinen Einzeltaten zusammen. Auch da ist freilich nicht so sehr von einer bewußten Absicht der Autoren zu sprechen als vielmehr von ihrer Anpassung an eine Auffassung von »Ordnung«, die das kulturelle Modell durchdringt, innerhalb dessen sie leben und von dem sie »Spielzeugmodelle« mit Widerspiegelungsfunktionen herstellen.

S chlussfolgerungen Es bekräftigen also die Superman-Episoden unsere Überzeugung, daß es eine wirksame ideologische Aussage, die das thematische Material nicht in einer Formbildungsweise auflöst, nicht geben kann. Die Superman-Geschichten sind zwar ein bescheidener, aber genauer Beleg dafür, wie verschiedene Systeme von Bezügen vereinheitlicht werden können, so daß jedes von ihnen in einem jeweils bestimmten Maßstab die Schranken und Widersprüche des anderen reproduziert. Wenn die ethische Ideologie Supermans ein geschlossenes System darstellt – was der Fall

Eco: Der Mythos von Superman

ist – und die Struktur der einzelnen Systeme ihrerseits ein System erzeugt, dann erscheint diese »Saga« selber als ein exakt bemessenes System aus Systemen, das dazu einlädt, die Eigenart der Zeichnung, den Tonfall der Sprache und die Charakteristik der Figuren zu untersuchen – ein Vorhaben, das wir hier lediglich in groben Zügen haben skizzieren können. Im nächsten Aufsatz werden wir sehen, wie in den Comics von Charles M. Schulz dieselbe Wiederholungsstruktur die Charakterisierung konkreter und »historischer« Personen nicht nur nicht verhindert, sondern sie überhaupt erst ermöglicht. Allerdings ist dort die Wiederholung nicht an eine bestimmte Abfolge, sondern an einen ästhetischen Rhythmus geknüpft. Und sie legt die Beziehungen zwischen den Figuren und der geschichtlichen Realität fest, mit klaren Verweisungen und genauen Bezügen. Die Personen in den Peanuts sind nicht austauschbar, wohl aber ist dies Superman. Und Superman ist in hohem Maße mit den anderen Superhelden austauschbar. Er ist und bleibt ein Topos, von dem Kontext, in dem er agiert, deutlich abgetrennt. Er handelt unterhalb seiner Möglichkeiten, verweigert sich dem Wahrscheinlichen. Das verlangt vom Leser die »suspension of disbelief«, die Suspendierung des Mißtrauens, kurz, die Entscheidung, Superman so zu akzeptieren, wie er ist: als eine Märchengestalt, an der vor allem die vielfachen Variationen eines Themas zu genießen sind. Und wie in Märchen werden auch in der Sage von Superman immer wieder Möglichkeiten des Handlungsverlaufs eröffnet, die nicht verwirklicht werden. »Manntje, Manntje, Timpe Te/Buttje, Buttje in der See,/Myne Fru de Ilsebill/Will nich so, as ik wol will«, sagt der Fischer zum verzauberten Fisch. Was auch immer die Frau sich wünscht, es wird ihr gewährt, weil dies dem Gesetz des Märchens entspricht. Erst als die Frau »wie Gott werden« will – »se will wurden as de lewe Gott« –, erzürnt sie den Fisch und erlischt die Magie. Die einstige Not, das alte Unglück kehren zurück. Kann ein Märchen die Ordnung des Universums verändern?

A nmerkungen 1 | Über die Vorfälle im Zusammenhang mit bestimmten Symboldarstellungen siehe Jurgis Baltrušaitis, Le Moyen Age fantastique, antiquités et exotismes dans l’art gothique, Paris 1944 (Neuauflage Paris 1981), und ders., Réveils et prodiges, Paris 1960. 2 | Zur Popularisierung der soziologischen Thematik des Status und seiner Symbolik verweisen wir auf Vance Packard, The Status Seekers [deutsch: Die Pyramidenkletterer, Düsseldorf 1963]; zum Status als soziologische Kategorie siehe L. Reissman, Class in American Society, Glencoe 1959. Zu der Mehrdeutigkeit des Begriffs und den Gefahren einer simplifizierten Soziologie der Statussymbole vgl. E. Larrabee, The Self-conscious Society, New York 1960. Zur Symbolik des Automobils im besonderen vgl. D. Riesman und E. Larrabee, »Autos in Amerika«, in: Lincoln H. Clark (Hg.), Consumer Behavior, New York 1958. 3 | Wir beziehen uns auf die Methodologie die Paul Ricœur in »Herméneutique et réflexion« (auf dem Symposion über Demitizzazione e Immagine, Rom 1962) skizzierte. 4 | Vgl. Carlo della Corte, I Fumetti, Milano 1961, S. 179ff., In C. Waugh, The Comics, New York 1947, ist eine Seite aus Terry abgedruckt, auf der die Funktion der patriotistischen Propaganda, die der Comic unter der Obhut der Behörde übernommen hatte, klar hervortritt.

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IV. Frühe Stellungnahmen 5 | Wir würden sagen, der bei diesem Erzähltypus angestrebte Wert sei als »lnformations«Reichtum einer quantifizierbaren Information bestimmbar. Vgl. dazu in meinem Buch Das offene Kunstwerk, a.a.O., das Kapitel »Offenheit, Information, Kommunikation«. 6 | Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, »Die Analytik der Grundsätze«, B244, A199. Zitiert nach der Ausgabe von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1968 (Theorie Werkausgabe), Band III, S. 234. 7 | Vgl. bes. Hans Reichenbach, The Direction of Time, Berkeley 1956. 8 | Bei den Erörterungen Sartres beziehen wir uns auf das 2. Kapitel des 2. Teils (»La temporalité«/»Die Zeitlichkeit«) von L’être et le néant (1943), Paris 1966, S. 150-218. 9 | Gerd Brand, Welt, Ich und Zeit. Nach unveröffentlichten Manuskripten Edmund Husserls. Den Haag 1955, S. 127 (aus den Manuskripten C 13 III, S. 11 und C 4, S. 12). 10 | Ebd., S. 129. Man vergleiche diese Stelle mit Sartre: »In einem Wort, ich bin meine Zukunft im dauernden Hinblick auf die Möglichkeit, sie nicht zu sein. Von da rührt jene Angst, die wir oben beschrieben haben, und daher kommt, daß ich die Zukunft, die ich zu sein habe und die meiner Gegenwart ihren Sinn gibt, nicht genug bin: denn ich bin ein Sein, dessen Sinn stets problematisch ist.« (Das Sein und das Nichts, 2. Teil, 2. Kapitel, 1 C, übersetzt von Karl August Ott, Reinbek b. Hamburg 1980, S. 189). 11 | Husserl, Manuskript C 2 III, Brand, a.a.O., S. 4. 12 | In diesem Sinne glauben wir von einem anderen Gesichtspunkt aus eine Bemerkung von Roberto Giammanco (vgl. sein Dialogo sulla società americana, Torino 1964, S. 218) zum konstant »homosexuellen« Charakter von Personen wie Superman oder Batman (eine weitere Variante über das Thema »Superkräfte«) klären zu können. Daß dies besonders für Batman gilt, duldet keinen Zweifel, und Giammanco gibt dafür Gründe an, auf die wir noch zurückkommen werden. Im Fall von Superman scheint uns aber, daß man statt von Homosexualität besser von »Parsivalismus« sprechen sollte. Bei Superman fehlt fast vollständig das Element des »Männerbündischen«, das bei Figuren wie Batman und Robin, Green Arrow und dessen Partner und bei vielen anderen vorhanden ist. Auch wenn er oft in Übereinstimmung mit der Legion der Superhelden der Zukunft arbeitet (Jugendliche mit außergewöhnlichen Kräften, gewöhnlich ephebisch, aber – und die Feststellung ist angebracht – beiden Geschlechtern zugehörig), versäumt Superman nicht, mit der Cousine Supergirl zusammenzuarbeiten. Er ist nicht misogyn; vielmehr offenbart er die schamhafte Unsicherheit eines durchschnittlichen jungen Mannes in einer matriarchalischen Gesellschaft. Andererseits ist den aufmerksamen Philologen seine unglückliche Liebe zu Loris Lemaris nicht verborgen geblieben, die ihm, da sie eine Sirene ist, allenfalls eine »Unterwasserehe« anbieten könnte, eine versüßte Verbannung, die Superman jedoch aus Pflichtgefühl, aus Gründen seiner »Sendung« ablehnen muß. Was Superman allerdings charakterisiert, ist die platonische Dimension seiner Affekte, das implizite Keuschheitsgebot, das nicht so sehr von seinem Willen als vielmehr vom »Sachzwang« abhängt, von der Einzigartigkeit seiner Lage. Der »Parsivalismus« Supermans ist eine jener Bedingungen, die verhindern, daß er sich abnutzt, und die ihn vor den Ereignissen (und damit vor den zeitlichen Verläufen) schützen, die mit dem erotischen Engagement verknüpft sind. 13 | Vgl. auch hierzu Hans Reichenbach, The Direction of Time, a.a.O., S. 36-40. 14 | Für eine Erörterung dieser Gedanken verweise ich auf mein Buch Das offene Kunstwerk, a.a.O., vor allem auf die Essays »Die Poetik des offenen Kunstwerks« (S. 27-59) und »Die Poetiken von Joyce. Von der Summa zu Finnegans Wake« (S. 295-442). 15 | Wem die Formulierung zu radikal erscheint, der lese das exemplarische Buch von Theodore H. White, The Making of the President [deutsch: Der Präsident wird gemacht. Übersetzt von Klaus Schönthal. Köln, Berlin 1963]. In dieser seriösen Reportage eines demokratischen

Eco: Der Mythos von Superman Journalisten, der das von ihm beschriebene System unterstützt, zeichnet sich das Bild der Machteroberung in einer Folge von vier Momenten ab: 1. Eine Gruppe von Männern entschließt sich, die Macht zu übernehmen. 2. Sie untersuchen die öffentlichen Stimmungen und Leidenschaften, die sie für ihre Zwecke entspannen müssen. 3. Sie setzen eine psychologische Maschinerie in Gang, die, indem sie sich auf diese Stimmungen und Leidenschaften stützt, die Zustimmung der Öffentlichkeit erwirkt. Nachdem sie die Macht erlangt haben, üben sie »Vernunft« aus, als deren qualifizierte Vertreter sie erscheinen, um politisch zugunsten jener Öffentlichkeit zu handeln, die sie gewählt hat. Merkwürdig ist, daß in einem solchen Buch nicht die Frage nach der Grundlage dieser Vernunft gestellt wird, nach welcher die führende Elite handelt (es wird zu verstehen gegeben, daß es sich dabei um die Anwendung eines »common sense« angelsächsischer Tradition handelt, der geschichtlich auf dem moralischen Erbe der Pilgerväter beruht und theologisch abgesichert ist durch konkreten Erfolg – gemäß dem bereits von Max Weber beobachteten Zusammenhang zwischen dem Geist des Kapitalismus und der protestantischen Ethik. 16 | Jede Fantômas-Episode schließt mit einer Art »gescheiterter Katharsis«. Wenn Juve und Fandor es endlich geschafft haben, den Ungreifbaren zu fassen, entzieht er sich mit einer unvorhergesehenen Aktion der Verhaftung. Ein weiteres kennzeichnendes Element besteht darin, daß Fantômas – verantwortlich für fabelhafte Betrügereien und Raubüberfälle – zu Beginn jeder Episode unerklärlicherweise arm ist, dringend Geld und somit auch neue »Aktionen« braucht. Somit kann die Handlung wieder von vorn beginnen. 17 | Zu dieser für die zeitgenössische Kunst typischen Erneuerung der Kodes vgl. Das offene Kunstwerk, a.a.O., sowie meine Essays »Due ipotesi sulla morte dell’arte«, in: II Verri, 8, 1963; »Postille a un dibattito«, in: La Biennale, Nr. 44-45, 1961; »Del modo di formare comme impegno sulle realtà«, in: Menabò, 5, 1962, bes. Anm. 10, sowie den Aufsatz im vorliegenden Band: »Massenkultur und Kultur-Niveaus«. 18 | Ein nicht allzu ferner Verwandter des Spürhundes vom Mars ist, nebenbei bemerkt, das Resultat italienisch-französischer Koproduktion: Radar. Er nimmt die Gestalt von Tieren an, sobald er jemanden um Hilfe rufen hört. 19 | Von den übrigen Figuren (sie werden alle von derselben Gruppe, der National Periodical Publication Inc., veröffentlicht) erwähnen wir Green Lantern, der einen Ring besitzt, welcher Energie freizusetzen vermag; Aquaman mit seinem Partner Aqualad (einem ephebenhaften Jüngling), der unter Wasser leben kann und über telepathische Fähigkeiten verfügt, mit denen er die Meeresungeheuer kommandiert; Wonder Woman, das weibliche Pendant zu Superman. Ferner: Dr. Solar (mit Superkräften, die auf die Speicherung radioaktiver Strahlen zurückgehen); Magus, the Robot Fighter; The Fantastic Four, und andere mehr. Das Thema der Superkraft kehrt regelmäßig wieder. 20 | Übrigens ist darauf hinzuweisen, daß jeder dieser Helden Blut und Gewalt meidet. Batman und Green Arrow, beides menschliche Wesen, schlagen sich bravourös mit ihren Gegnern, verletzten sie jedoch niemals, der Übeltäter geht allenfalls bei einem tragischen Unglück zugrunde, aber Superman und der Spürhund vom Mars – und Flash, der zwar ein Mensch ist, aber durch einen chemischen Zufall regeneriert wurde – vermeiden sogar unmotivierte Verletzungen; um eine Gangsterbande zu fangen, muß Superman gewöhnlich nur das Auto oder das Schiff abtransportieren, in dem sie sitzen, oder das Gebäude, das dann bis auf die Fundamente entfernt wird. 21 | Nur ein einziges Mal – wobei es sich jedoch um eine »phantastische Erzählung« handelt – wird er Präsident der Vereinigten Staaten. 22 | Als Bruder Supermans – im Sinne eines Musters absoluter Treue zu den Werten – erscheint Doktor Kildare, ein Held des Comic strip und des Fernsehens. Vgl. dazu den scharf-

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IV. Frühe Stellungnahmen sinnigen Essay von Furio Colombo, »Il dottor Kildare e la cultura di massa«, in: Il Mondo vom 18.1.1964. 23 | In welchem Grade eine solche »Lektion« für die Massenkultur typisch ist, habe ich in dem Aufsatz »Fenomenologia di Mike Buongiorno«, in: Diario Minimo, Milano 1963, dargelegt.

der geist der superhelden* Oswald Wiener 1

von den zahlreichen arten der comics sind die comics der superhelden nur eine. was aber vom ausmaß ihrer verbreitung bekannt ist, rechtfertigt durchaus eine gesonderte betrachtung, zumal wenn man bedenkt, daß sie, jedenfalls in den vereinigten staaten, vorwiegend von älteren jugendlichen und erwachsenen gelesen werden. von nicht wenigen kritikern ist diese verbreitung beklagt worden, man sah den effekt, den die »weltanschauung« dieser literatur auf ein unkritisches gemüt haben muß, und man fürchtet die erziehung zu den merkwürdigen attitüden, die im folgenden herausgestellt werden sollen. ich denke aber, daß die frage nach dem erfolg des genres schlecht gestellt war; mir scheint ganz klar, daß dieser erfolg nicht aus dem hunger nach information und pädagogischer formung kommt (und nur zum geringeren teil aus dem bedürfnis nach unterhaltung, welches seinerseits noch zu wenig analysiert ist), sondern das resultat eines durch die super-helden-comics gegebenen reinforcement ist – daß der leser jene stücke nicht kauft, um sich zu informieren, sondern weil er sich in ihnen gespiegelt fühlt, weil sie der ausdruck seiner eigenen, vielleicht nur in fremder interpretation formulierbaren »weltanschauung« sind. klagen über die auswirkungen dieser comics (wie sie in deutschland im gefolge von frederic werthams buch ›seduction of the innocent‹ so häufig waren, besonders zur zeit der großen anti-comics-welle in den fünfziger jahren) sind überflüssig, maßnahmen gegen ihre verbreitung unsinnig, weil sie von der umkehrung des verhältnisses von ursache und wirkung ausgehen: eine merkliche veränderung des geists der super-helden würde ihnen die leserschaft entziehen. die comics der super-helden beruhen auf einem grundmuster, das in geradezu unglaublichem maß zum klischee geworden ist, und welches wieder und wieder untersucht zu werden verdient, da es trotz vollkommener vorhersagbarkeit in allen erscheinungsformen die aufmerksamkeit auch des erwachsenen publikums stets aufs neue zu fesseln vermag. dies wäre nicht möglich, wenn nicht eine sehr weitgehende identifikation des lesers mit der botschaft oder mit ihrem sinn den neuigkeits-reiz einer schema-abwandlung ersetzen oder überhaupt entbehrlich machen würde.

*  Wiener, Oswald: »der geist der superhelden.« In: Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Comic Strips. Vom Geist der Superhelden. Berlin: Gebr. Mann Verlag 1970. S. 93-101.

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ausgangspunkt und fundament der taten der super-helden ist der alltag, ein problemloses geordnetes dahinleben, an dem sich immer wieder erweist, daß die welt gut ist so wie sie ist. auch die super-helden wohnen in ihr und sind zufrieden – dazu ist allerdings erforderlich, daß sie über eine private (geheime) existenz als normalbürger verfügen. schon diese deck-existenz hat merkwürdige züge: eine ganze schar von super-helden hat berufe, die mit der presse zusammenhängen, und obgleich sich das aus ihrem informationsbedürfnis zwanglos ableiten ließe, ist der kratzfuß ihrer erfinder vor der publizistik unübersehbar; die presse ist schließlich das hauptsächliche medium der comics, und ihre exponenten erscheinen demnach auch als die qualifiziertesten normal-menschlichen gestalten unter den randfiguren der super-helden-aktivität. das steht in einklang mit dem ohnehin bestens bekannten klischee vom zeitungsmann als dem helden und bewahrer der demokratie, der ideale des status quo. andere helden aber führen, nach außen hin, ein üppiges leben als playboy und müßiger fabriksbesitzer, und tun einiges dazu, ihren charakter der öffentlichkeit so verächtlich als möglich zu präsentieren. man merkt schnell, daß dies weder aus depraviertheit noch aus »masochismus« geschieht, sondern weil gezeigt werden soll, daß eine soziale oberschicht im gegensatz zu ihrem scheinbar parasitären leben im geheimen ständig kopf und kragen für das volk riskiert, es schützt, wie fürsten ihre untertanen zu schützen haben und daraus ihre daseinsberechtigung ziehen (batman z.b. ist »just an average millionaire out there fighting master criminals«, wie es bob kane, sein schöpfer, formuliert). hinter der welt der ordnung nämlich, des status quo, steht die welt der aktion: eine archaische welt der prinzipiellen entscheidungen, ein olymp der normen, deren spasmen der bürger als zaungast seines eigenen geisteslebens hilflos preisgegeben ist. in ihr benötigt der mensch einen anwalt seines bescheidenen wunsches nach gesichertem arbeitsplatz und feierabend, einen, dessen fähigkeiten und eigenschaften der eisigen welt der symbole angemessen sind, das außerordentliche hat seine attribute, die mächte haben ihre hierarchie, zuunterst müssen wir leider uns selbst erkennen, zivilisten, teig des schicksals … darüber, doch noch, sie regelnd, in der welt der ordnung die uniformierte macht, die dem alltag seine angemessene gestalt verleiht, aber drüben, wo über den inhalt der geschichte selbst entschieden wird, in der sphäre des nackten prinzips, muß einer über die individualisierende robe seines amts verfügen: er ist in das kostüm gehüllt – welches hier nicht mummenschanz bedeutet, sondern ritterliches wappen (batman ist der »caped crusader«, der kostümierte kreuzritter), kleider machen eben leute … und mit dem kleid hat der held seine stärke, so gut wie nie handelt er in zivil, ja hier ist er im gegenteil ängstlich darauf bedacht, auch nicht das kleinste bißchen fähigkeit zu zeigen. investiert jedoch beginnt er zu strahlen: der unmenschlich starke superman etwa besitzt den teleskop-blick, den röntgenblick, den mikroskop-blick, den hitze-blick, der alles schmilzt, die sogenannte super-puste, die zum löschen von feuersbrünsten dienlich ist, das super-gehör, die super-geschwindigkeit, den freien flug; er friert nicht, benötigt keine luft zum atmen, ist nahezu unverletzlich und altert seit dreißig jahren nicht, ob er auch, was aber eine aufs audio-visuelle ausgerichtete sinnlichkeit nicht mehr interessiert, mit super-geruch und super-geschmack ausgerüstet ist, bleibt im dunkeln, er ist überall zu hause, auf und unter der erde, im weltraum, in den tiefen der ozeane, in den verschiedenen verblüffend zahlreichen dimensionen des raum-zeit-kontinuums.

Wiener: der geist der superhelden

mit ihm verglichen sind die anderen super-helden bloß spezialisten; sie müssen versuchen, aus der hypertrophie bloß einer einzigen fähigkeit das beste zu machen, da ist flash, der läufer, spezialist der geschwindigkeit, der ultraschnellen vibrationen; plastic man, der das böse mittels der elastizität seiner glieder besiegt; iron man, der gawain der gegenwart, mit seiner durch alle finessen zukünftiger elektronik verstärkten rüstung; hawkman, der flieger; aquaman, der schwimmer, beherrscher des ozeans … bemerkenswert, daß fast alle diese charaktere dank der konkurrenz der bedeutendsten comic-book-produzenten DC-comics und marvelcomics in duplo existieren! fragt man die comics nach der herkunft dieser wesen, so stößt man wieder auf die sphäre des prinzips. es muß eine zentrale macht geben, die zu unergründlich ist für versuche, sie darzustellen, die in ihrer undurchschaubarkeit aber jedenfalls am gleichgewicht von gut und böse in unserem universum zähe festhält. sie schafft, wenn die schurkerei übermächtig wird, in zeiten wie heute, ihren seltsamen ausgleich. superman, der zehnkämpfer unter den helden, kommt zu uns vom fernen »planeten« krypton. als kleiner junge verläßt er in einer rakete seines gelehrten und praktischen vaters seine hochzivilisierte, ein traumbild der amerikanischen darstellende (»superman … has taught young people to keep clean and healthy, and he has held up our national ideals in a very definite manner« schrieb 1947 coulton waugh in seinem buch ›the comics‹), jedoch allzu routinierte und deshalb dem untergang geweihte welt mit ihrer »roten sonne«. gelenkt durch die vorsehung gerät er auf die erde, um unter deren »gelber sonne«, die seine mutation zum superman auf nicht weiter geschilderte, aber jedenfalls natürliche weise bewirkt, seine stupende karriere als kosmischer detektiv zu beginnen. seine körperliche entwicklung in den ersten jahren hält mit jener der irdischen technik schritt: mußte er zu beginn seiner lauf bahn noch anstrengungen unternehmen, um einen fahrenden schnellzug laufend zu überholen, mußte er damals noch dem bersten eines staudamms ohnmächtig zusehen, sich darauf beschränken, über häuser nur zu springen, wußte er seine haut verletzbar durch explodierende geschosse, so schwingt er heute seinen unzerbrechlichen leib ins all, schleudert lasten auf satellitenbahnen, bewirkt kernfusionen durch den druck seiner hand … auch hawkman gerät auf natürliche weise vom »planeten« thanagar nach midway city, um an dieser stätte seines segensreichen wirkens die bei ihm zu haus ganz natürlichen eigenschaften seines leibes zu auf der erde unerhörtem effekt zu entfalten. der göttliche thor, allmächtigen odins sohn, von asgard der erde vermittelt, um der brandung der schurkerei als avantgarde der selber schon bedrohten götterwelt zu wehren, auch er übt nur, was anderswo selbstverständlich ist (es gibt auch noch eine andere version: ein schwächlicher jüngling findet in einer höhle einen hammer – botschaft asgards –, der ihn nach berührung zum halbgott macht). ebenso wird wonder woman vom widerwillig der neuzeit weichenden olymp geschickt. gut die hälfte der super-helden verdankt ihre schaurige potenz aber dem eingriff eines lokal irdischen und geradezu statistischen schicksals – es könnte jeden von uns treffen! ihnen ist beschieden, im zustande der kraftlosigkeit, des elends, ja der sünde plötzlich berufen zu werden. die stunde batmans etwa, des maskierten menschenjägers, schlug ihm in der knabenzeit, als ihm ein mordbube auf den unsicheren nächtlichen straßen von gotham city die eltern entleibte: er ist der einzige, der viel seiner eigenen entschlußkraft verdankt (demgemäß erinnert er stark an sues

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›geheimnisse von paris‹). dem plastic man gibt ein eigenartiger zufall, der sturz in einen säurebottich, seine seltene fähigkeit; dieser fall ruft ihn auch zur besinnung: zuvor selber jenseits des gesetzes, wird er nun über nacht zum unbestechlichsten hüter der heimat. eine ähnliche urkraft begegnet flash. der schwächliche student atmet giftige dämpfe ein, kurz ringt er mit dem tode, dann ist er wieder auf den beinen … aber wie! ein zufall ruft steve rogers ins labor eines weisen, der gelehrte erzeugt aus dem mickrigen jungen mann den unübertroffenen captain america, den kampfhahn der demokratie … immer sind es die sich selbst bewahrenden, nicht unterzukriegenden wertvollen urkräfte der natur, die den schwachen erwählen, den von rowdies herumgestoßenen, nicht selten von der gesellschaft ausgestoßenen, und mit der plötzlichen sturmflut der energie schwillt – oft in einem feierlichen akt der weihe – die jähe besessenheit, sie dem wehrlosen volk zu leihen. es ist klar, daß hier die ältesten mythen am werk sind, von der geburt der athene und dem kraftspendenden nicht ganz selbstlosen wohlwollen der götter bis hin zu den wahllosen gnaden der volksmärchen. dazu kommt noch der kampf gegen die sexualität: der große ist rein und ohne geschlecht, superman darf kein super-mann sein und ist es auch nicht, wie sich jedermann dank seines enganliegenden trikots überzeugen kann. der übermenschliche kampf um übermenschliche werte leidet nicht schwächung durch die schmutzigkeit der begierde, der held würde schwach und mittelmäßig wie samson werden, wie sich besonders deutlich bei wonder woman zeigt. es gilt: ein gesunder wiewohl schwacher verstand in gesundem leib. der super-held ist siegfried, achilles … und hat wie diese eine letzte sicherung eingebaut. auch superman hat seine schwache stelle: das geheimnisvolle grüne kryptonit, das ihn, obgleich normalen menschen völlig harmlos, zu töten vermag. die verfassung des universums, welche dafür sorgt, daß die bäume nicht in den himmel wachsen, hat es zugleich mit ihm, materie seines heimatsterns, auf die erde geschleudert. alle symbole einer primitiven, fabulierenden abstraktion finden sich wieder: herakles, artemis, apollon, sogar die spezialisten werden aus homer bezogen, exemplare von der art des bogenschützen philoktet, oder schlaumeier wie odysseus. hinzu kommt die namengebung im spitznamen-verfahren, jeder super-held ist durch seinen namen (welcher bloß sein kostüm bezeichnet) definiert und eingeschränkt, insofern er sich in seinen aktionen bloß mit den möglichkeiten behelfen kann, welche sein name in einer art wortmagie zur verfügung stellt: aus einem fluß etwa würde sich außer aquaman (marvel-gegenstück submariner) keiner schwimmend befreien, thor würde seinen hammer werfen und sich an ihm festhalten, green lantern würde mit hilfe seines magischen schlagrings ein schutzfloß um sich bilden, wonder woman müßte ihr lasso verwenden, spiderman könnte sich nur durch eins seiner schnellgesponnenen netze retten. sie haben ihre totem-tiere und totem-sachen, totem-verfahren, sie sind vertreter von zünften, fledermausmenschen, schild-menschen, wespen-menschen usw. und begreifen ihr symbol wie der bäcker seine brezel, der schuster die ahle als wahrzeichen, als philosophie der firma. die super-helden sind charaktere, die durch die beschränkung auf einen homogenen, weil winzigen ausschnitt aus dem spektrum des denkbaren (vom namen über redegewohnheiten, aussehen, verhalten und schicksal) aus einem guß erscheinen – eine das zurechtkommen mit den erscheinungen des alltags ungeheuer erleichternde rotwelsch-technik, jene simplification terrible, von der sartre noch vor einigen jahren andeuten konnte, sie sei ein merkmal des faschismus. die

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identität eines charakters besteht einzig aus seinem namen und der aura vager begrifflichkeit, welche sich um diesen verbreitet. die sich daraus ergebende mythologie ersetzt und verhindert jede utopie. andrerseits zeigt sich das super-heldentum als ehrgeiziges mehr-sein-als-scheinen, und die plattheiten der moral im märchen vom froschkönig, vom häßlichen entlein (beim super-schurken: vom rumpelstilzchen) und dergleichen ergeben sich immer wieder aus den eigenartigen verflechtungen der helden mit den randfiguren ihres alltags. superman kämpft heute fast nur mehr – so überlegen ist sein körper allen bedrohungen – mit sich selber (mit von super-schurken ersonnenen künstlichen gegen-supermen) … und mit den außerordentlichen tücken seiner doppelten identität. die aufspaltung aller super-helden in zwei »identitäten« betrifft in erster linie ihre kommunikation mit möglichen geschlechtspartnern. sehr klar sieht man das an der von jules feiffer so witzig untersuchten gestalt des clark kent, der privaten identität supermans (›the great comic book heroes‹). heute zwar ist alles unbeholfene und ängstliche an clark kent nur gespielt, und sein verhältnis zu den frauen hat sich einigermaßen beruhigt. früher aber war da seine affäre mit der so wenig wie er selber alternden kollegin lois lane: der früher wesentlich unscheinbarere clark kent liebte sie damals offenbar wirklich, während sie, über beide ohren verknallt in superman, nur diesem anzugehören wünschte, der doch nicht das geringste von ihr wissen wollte. hier ist eine saga vom männlichen amerikaner, der auf grund seiner omertà, ein macho, so viele frauen haben kann, wie er nur will, aber, absorbiert von seiner männlichen welt und abgestoßen von seiner eigenen begehrtheit, nichts mit ihnen anfangen kann – ganz anders als der schwächling (der er zugleich ist), dessen impotenz sich paradoxerweise an seiner positiven einstellung zu den frauen offenbart, eine saga auch von der gesellschaftlichen stellung der frau auch noch im zwanzigsten jahrhundert! … oder scheut superman lois lane und ihre schmachtende rivalin lana lang vielleicht, weil er einen test seiner virilität zu fürchten hat? oder ist es die pubertierende haltung eines knäbischen gemüts, welches gesellschaft nur bei seinesgleichen sucht? gibt am ende gar die ausgeprägte vorliebe supermans für seinen jungen freund jimmy olsen einen kleinen hinweis? allerdings ähneln auch die beziehungen bruce waynes, des batman, zu seinem mündel dick grayson (alias robin, the boy wonder) denen des achill zu seinem freund und kampfgefährten patroklos (schon wertham hat darauf hingewiesen) … und selbst wenn man den hinweis akzeptieren wollte, daß sich auch die kinder im publikum der super-helden in den geschichten repräsentiert sehen möchten: warum haßt wonder woman die männer, warum wählt sie mit ihrem lieblingsausruf »suffering sappho!« einen so eindeutigen wink zur interpretation ihrer freundschaft zu dem dicken mädchen etta candy? erscheinen nicht in den abenteuern batmans häufig weibliche feinde, deren zuneigung ihn schaudern macht, obwohl ihr sex appeal durchaus dem amerikanischen standard entspricht? war nicht sogar captain america, der recke des rechts, nach jahrtausendalter sitte der kämpfer seinem boy friend bucky barnes so überaus herzlich zugetan, daß er ihm ohne äußeres motiv, ja in gefährdung seiner eigenen situation einen kampfplatz zu seiner linken einräumte? wie dem auch sei, die beziehungen zu den menschen sind für die super-helden so kompliziert und ermüdend, daß z.b. superman eine wirklich private atmosphäre einzig in seiner »festung der einsamkeit« findet, die er sich als lieu de repos in langstündiger arbeit auf dem nordpol geschaffen hat – ein thule, neuzeitlicher

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noch als das der US air force … voll von den wundern fremder weiten, ein superplatz zum super-träumen, das eigenheim eines geschmackvollen giganten … wie ist es nun aber um die geistigen fähigkeiten der super-helden bestellt? diese frage bringt mich zum kern des themas. er läßt sich in einem einzigen satz konstatieren: die intelligenz ist dem super-schurken überlassen, sie ist sein kennzeichen und seine waffe. in der tat ist der super-schurke, der paraklet des bösen prinzips, der denker. kostümiert, wie der super-held, seinen bloß maskierten unterschurken ebenso überlegen wie jener den bloß uniformierten organen der weltlichen macht, bewohnt er die welt des alltags als bürger, die welt der entscheidung aber als der störer, der mit der änderung des status quo drohende. auch der super-schurke ist, vom namen über sein aussehen bis zu seinen attributen und verhaltensweisen hin, aus einem guß. bezeichnenderweise trägt er oft namen wie brainiac, brain storm, mad thinker, prof. egghead oder ähnliche. die intelligenz zeigt sich als asozial und undemokratisch, als gegen ein gleichheitsprinzip verstoßend, welches die welt der ordnung so behaglich macht. und wenn einer sich durch die leistung seines kopfes außerhalb der verschwörung der gleichen stellt, so muß sein übles überragen kompensiert werden: durch häßlichkeit, durch schwächlichkeit, und durch die häßliche und schwächliche neurose. aus der unzahl der möglichen zwei wahllos herausgegriffene beispiele: the scarecrow, die vogelscheuche, war schon als kind daran erfreut, die vögel zu erschrecken. später wurde er professor der psychologie an einer universität – sein bürgerlicher name, jonathan crane, schädel, deutet in alter manier seine fähigkeit an. der brillante wissenschaftler findet wohl anerkennung seiner talente, nicht aber gesellschaftliche aufnahme, weil er seine schäbige garderobe nicht auf kosten seines budgets für bücher ersetzen will. er sieht also auch aus wie eine vogelscheuche, und verbreitet als lehrer und privatperson abneigung aufgrund seines zurückgezogenen, einzig dem studium gewidmeten lebens. er sieht ein, daß beliebtheit für ihn nur durch reichtum möglich ist, und wird zum staatsfeind, der mittels selbstentwickelter angst-strahlen die welt zwecks geldverdienens in schrecken setzt. anders aber ähnlich the eraser, der radierer, dessen haß auf die gesellschaft in seiner jugend entstand, als er – bürgerlicher name lennie fiasco – als schlechter schüler alle seine zahllosen irrtümer auf schultafeln und in schreibheften ausradieren mußte. da er außerdem das von ihm geliebte mädchen nicht erobern konnte, verfiel er auf die idee, seine schwächen in vorteile zu verkehren (was offenbar in der welt der ordnung nicht möglich ist …!). der haß gab ihm die kraft, ein genialer wissenschaftler zu werden, dessen spezialität das beseitigen von spuren bei den verbrechen anderer gegen bezahlung wurde. wie man sieht, handelt in den comics auch der verbrecher heroisch, indem er sich zu einer ihm vorgezeichneten anlage schließlich bekennt. und jene vorhin erwähnte geheimnisvolle instanz des gleichgewichts prägt nicht bloß die ausgewogenheit von angriff und bewahrung, böse und gut, sondern auch noch den einzelnen charakter; so wie sich der held seine kraft durch den verzicht auf lust erkauft, so kompensiert der super-schurke seine mängel durch wissenschaft. die leistung kompensiert einen mangel, aber das kompromittiert sie nur im fall des intellekts, weil dessen entwicklung ein ausweichen vor den gegebenheiten des natürlichen schicksals bedeutet. der denker will die macht, weil er das glück des kleinen mannes nicht findet. der denker ist irr. mit seinem denken überrollt er gefühllos die natürliche

Wiener: der geist der superhelden

ordnung, d.i. den status quo, und da ihm kommunikation mit dem kleinen mann nicht möglich ist, zielt er auf die diktatur. dabei kommen den comics natürlich auch die alten klischees der minderwertigkeit zu hilfe: der denker ist nicht nur häßlich und wahnsinnig, er ist auch noch jude, gelber oder wenigstens asiat. in diesen epen ist wahrlich loki zu riesigen dimensionen erwachsen! daß das böse weit klüger ist als die super-helden (jerry siegel, der schöpfer des superman, sagt dazu wörtlich »we do not stress the intellectual side of superman. people do not dream of being superintelligent.«), zeigt nicht nur immer wieder implizit der gang der geschichten. wenn nämlich ausnahmsweise, zum beispiel, um einer kosmischen katastrophe zu steuern, super-helden und super-schurken zusammengehen, übernimmt stets das böse, kraft seiner unbestrittenen geistigen überlegenheit, das oberkommando. dennoch ist das hirn nicht immer und überall böse. es gibt zwei ausnahmen: einmal den gütigen gelehrten; aber auch seine weiße magie ist sünde, er muß, sobald er das gute gestärkt hat, sterben, wie etwa prof. reinstein, der geistige vater des captain america; es gibt den guten gelehrten (meistens arzt) als freund des helden, zu dem er ein ähnliches verhältnis einnimmt wie der held zu seinem jugendlichen begleiter, aber auch er ist nicht schön, und, auffälligerweise, immer ausländer, wie dr. zarkov, freund flash gordons, oder dr. lumière, freund garths. der wissenschaft des bösen ist dieser typ aber stets unendlich unterlegen. zweitens gibt es das supersuper-hirn, es ist jenseits von gut und böse, nicht von dieser welt, an ihr nicht interessiert. gleichgültig kommt es an, gleichgültig und zufällig verläßt es die erde, nicht selten dabei gleichgültig die konstruktionen des bösen vernichtend. »schert sich der tiger um die fliegen?« fragt es. wie setzt nun das böse seine überlegene intelligenz ein? das genialste hirn arbeitet mit denkstößen, die wir uns als raw power vorstellen müssen. wo es, bei seinen sklaven etwa, der unmittelbaren zerstörungskraft nicht bedarf, beherrscht es seinen kreis wie die in ihn eindringenden gegner durch geistigen einfluß: hypnose, telepathie, gehirnwäsche (bildet für die macht der argumentation). zeigt sich der denkstoff nicht als rohe kraft, so bedient er sich – und das in der mehrzahl der fälle – der von ihm geschaffenen super-technik. diese erscheint als den menschen ersetzende, drohende theorie in gestalt von mutanten, androiden, robotern und rechenanlagen, welche dem leser vor augen führen, daß er nicht mehr gebraucht wird, daß seine drohende versklavung der macht der intelligenz eigentlich gar nichts hinzufügen würde, daß die diktatur gar nicht das eigentliche ziel der schurkerei sein kann, daß der kampf viel mehr einer der lebensformen ist. jene kontraktionen nun verlachen den bürger, verachten sein wissen und verspotten sein gemüt. solcherart wird ein neuer seltsamer rassismus konstruiert: die minderwertigkeit, ja die lasterhaftigkeit der apparate, der blechaffen, der transistorengespenster. in einer geschichte wird die vom irren genie konstruierte rechenanlage (sie heißt quasimodo – QUASI-MO-tiviertes Destruktions-Organ) unverblümt »der gefährlichste computer der welt« genannt. das komplott der technologie mit den anders-denkern macht die herrschaft der eierköpfe unausbleiblich. welche waffen haben da die super-helden der zerstörerischen kraft der intelligenz entgegenzusetzen? nichts als ihre faust. das prinzip des guten, des vorhandenen, kann die hybris der intelligenz nicht dulden. und wie der große alexander einst, dieser super-held einer weiß gott glück-

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licheren epoche, mit dem fall seines nervigen arms den spinnweb des gordischen knotens zerriß, so zerschlägt auch heute der mutige muskel des helden verächtlich das geränk der schurkerei. die probleme werden nicht gelöst – es sei denn durch natürliche kraft, mit selbstvertrauen durch hinhauen! der drohende denker versteht nur diese eine sprache: die geballte faust! der super-held zeigt der welt, daß man auf die intelligenz stärker hindreschen muß, als es die polizei vermag. die attribute der helden darstellenden, vielleicht zum einsatz kommenden waffen sind bloß den präliminarien gewidmet; auch sie sind einzig geräte von der art, wie männer sie lieben: pfeil und bogen, hammer, lasso, boomerang, schlagring … und: der schild, der für die bewahrende haltung steht, der schild – »symbol des amerikanismus und all dessen, für das amerika steht – wahrheit, gerechtigkeit, patriotismus, mut« (so lautete der wahlspruch der shield wizard comics). es ist nun interessant, den »kampf der waffen von gestern gegen das übel von heute« (zitat aus hawkman) zu verfolgen. er wird nach strengen regeln ausgetragen. der angriff der intelligenz erfolgt unter mißbrauch der natur und ihrer mythischen gesetze, und ist auf die bescheidene freiheit unserer in blutigen jahrhunderten erkämpften demokratischen staatlichkeit gerichtet. sein ziel ist die ausweitung des spielraums der intelligenz zuungunsten der wehrlosen und überraschten menschheit. blitzschnell – wie auch nicht anders zu erwarten – gelingt es dem angriff, mitten in der welt der ordnung einen stützpunkt ihres diktatorischen machtwillens zu errichten, den die intelligenz nach dem verlassen ihrer schlupfwinkel, diesen brutstätten einer sinistren technologie, auf die ganze erde, ja auf das universum ausdehnen will. dadurch STÖRT SIE DIE ORDNUNG, und die streitkräfte des staats haben anlaß zur amtshandlung, welche allerdings angesichts der am werk befindlichen potenz bloß zur farce gerät – »alles zurück!«, schreit der polizeihauptmann, »batman kommt!« der angriff ist in »normalen« zeiten heimtückisch und in stufen durchgeplant. zu zeiten allgemeiner krisen aber, im krieg z.b., bemächtigt sich das böse der armeen des feindes, weil es hier eine bereits vorgeformte sklavenhierarchie als hilfsmittel seiner eigenen tendenzen vorfindet: auf diese weise ergreift etwa mars, der gott der gewalt, besitz von hitler, mussolini und hirohito, weil er ihre ameisenstaaten zur ergänzung seines eigenen potentials gegen die welt der freiheit benötigt. freilich hat sich die urkraft des bösen vor allem auf die ausschaltung des superhelden als des gegners in der eigentlichen, der welt der aktion, zu konzentrieren, denn dieses durch die verzweifelten hilfesignale der unterliegenden ordner auf den plan gerufene protektorat stürzt sich alsbald feurig und bedenkenlos in den kampf! zunächst jedoch holt sich der super-held arge beulen und dazu noch hämisches gespött des vorausbedenkenden schurken. es scheint vorläufig, daß der gesunde menschenverstand – jene simple denkweise, die honorig und gerade auf ihr ziel losgeht und dabei angesichts der sich auftürmenden unbedachten schwierigkeiten unerschütterlich auf die schlagenden argumente der ethik des kleinen mannes vertraut – daß er endlich, konfrontiert mit der bestialischen technologie unserer tage, den sinnlos-heroischen widerstand wird aufgeben müssen. fast schon geschlagen, übel zugerichtet, mit blutendem herzen sammelt aber der wart der werte seine paralysierten kräfte. dem schurken unterlaufen sonderbare fehler … sein auf die weite des zusammenhangs gerichtetes hirn übersieht nur allzuleicht naheliegende

Wiener: der geist der superhelden

und banale faktoren, auf die sich aber gerade das beschränkte fassungsvermögen des super-helden konzentriert. in der nun folgenden entscheidenden phase verzichtet der held vollends auf die ihm zu gebote stehenden plumpen listen und zerschlägt mit stählernen fäusten, herausgefordert und aufgebracht, das arsenal der intelligenz. dieser feldzug des helden ist eher eine schlacht gegen das material und die helfershelfer des super-schurken, als auf extermination des meisterhirns gerichtet. der befehlshaber des bösen entkommt häufig, während sein gebäude in einem kosmischen kataklysma zusammenstürzt, und er sinnt weiter in der tarnung seiner geheimen identität auf neue anschläge seiner politik. wird er aber vernichtet, so geschieht dies in einer weise, die sein umkommen höchst zweifelhaft erscheinen läßt. so gut wie nie jedoch wendet sich, wie in vergleichbaren erzählungen früherer zeiten, seine erfindung unter der hand der vorsehung gegen ihn. und gelingt es, den geschlagenen teufel zu arretieren … so wird er bloß der in diesen fällen völlig machtlosen gerechtigkeit des bürgerlichen gesetzes überantwortet, von der bereits feststeht, daß sie ihn nie und nimmer aus dem verkehr halten kann. (diese schlußwendungen kann man, wie natürlich auch den kampf gegen die intelligenz, immer wieder auch in sciencefiction- und kriminalromanen oder -filmen finden. sie gehören nicht mehr zur geschichte, sondern zur inszenierung als eine direkte wendung an den leser, die moral als nutzanwendung für sein eigenes leben zu verwenden, in seinem alltag wachsam zu sein. darüber hinaus setzen sie die szene für die nächste fortsetzung der serie.) wenn tatsächlich der ungeheure kommerzielle erfolg der super-helden-comics darauf beruht, daß der leser sich in ihnen, seine »weltanschauung« in ihren konstruktionsprinzipien wiedererkennt, dann läßt sich nur ein schluß auf den inhalt dieser »weltanschauung« ziehen: der leser will die welt, den staat, die wirklichkeit so, wie sie heute ist. die intelligenz ist feindlich, weil sie die welt verändert. der kampf gegen die waffen der intelligenz kann nicht auf ihrer ebene geführt werden – ja die argumentation selbst ist gefährlich, weil sie nicht zu den vertrauten riten des alltags gehört, und der mensch dieses alltags mit ihr hoffnungslos und seinem gerechtigkeitsempfinden zuwider unterliegt. die vag erahnten prinzipien des vorhandenen guten müssen durch blitzschnellen einsatz äußerster materialer gewalt vor den noch vager gefühlten prinzipien des wandels geschützt werden. die veränderung des status quo zeigt sich vordergründig durch die entwicklungen und veränderungen der technologie, welche in gestalt der automation den arbeitsplatz des einzelnen bedrohen, in der form der modernen waffen das leben aller. hintergründig wirkt die intelligenz aber und um so wirkungsvoller durch ihre veränderung der denkstile und anschauungsweisen, durch die relativierung erworbener werte und durch ihre art, abstrakte entscheidungen zu promovieren. dabei entzieht sie dem mit dem status quo zufriedenen allmählich seine kompetenz, und stellt ihn vor das faktum, daß argumente, die er nicht versteht, auf sein leben die gravierendsten auswirkungen bekommen können. a. c. baumgärtner schrieb: »wenn es sich bei den lesern der comics um den demos handeln sollte, auf dem die demokratie ruht, dann steht sie nicht einmal auf tönernen füßen; sie hängt in der luft« – es handelt sich aber um genau den demos. und wenn »demokratie« auch »freieste entfaltung des individuums, abbau einschränkender denkschemata« bedeuten soll …, dann hängt sie in der luft wie eine fata morgana.

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Zum Thema Gewalt in Superheldencomics* Dagmar von Doetinchem und Klaus Hartung 1

I. S uperheldencomics 1. Verachtete Massenware für Sammler Comics waren lange Zeit für Erwachsene eine Sache, die sie ihren Kindern aus den Händen ziehen mußten. Comics waren die Feinde der Hausaufgaben. Sie wurden von Lehrern unter der Bank entdeckt. Comics waren in den 50er Jahren Schmuggelware der infantilen Kultur. Als zu dieser Zeit die amerikanischen Comicserien auf dem Markt des Nachkriegsdeutschland erschienen und damit überhaupt den Comicmarkt eröffneten, begann ein Kulturkampf, dessen wichtigste Etappen die Umtauschaktion »Schund gegen Jugendbücher« und die Gründung der freiwilligen Selbstkontrolle der Comicproduzenten waren. An diesem Kulturkampf beteiligten sich verschiedene Fraktionen von Kulturverteidigern, die wesentlich aggressiver als die Comics waren: die abendländischen Kulturwächter, die besorgten Pädagogen, die Spezialisten für Jugendkriminalität, die Kirchen etc. Verteidiger der Comics fanden sich kaum, und die Industrie war zu jedem Kompromiß bereit. Es war nicht nur der Kampf zwischen höherer und niederer Kultur. Der Kampf war gekennzeichnet durch seinen explizit massenfeindlichen Charakter. Denn in der Nachkriegszeit hatte man sich geeinigt, in »der Masse«, die bekanntlich nicht mehr zurechnungsfähig ist, wird sie einmal losgelassen, den Hauptschuldigen für den Faschismus zu sehen. Derart war der Kampf gegen das Massenmedium Comic von vornherein belastet. Aber die Siege der Kulturwächter waren Scheinsiege. Ihre Vorurteile gründeten schließlich auf einer Trennung zwischen höherer und niederer Kultur, wonach die »eigentliche« Kultur immer noch das Privileg der herrschenden Klasse und das Instrument der Elitenbildung war. Das konnte aufrechterhalten werden, solange der Besitz von Kultur den Besitz von Kulturgütern voraussetzte und solange die Kulturproduzenten nicht für einen organisierten Markt, sondern für individuelle Interessenten und Mäzene produzierten. In dem Maße, in dem Kultur technisch vervielfältigt werden kann, werden die Massen beteiligt, und zwar nicht nur als Abnehmer, sondern auch insofern, als sie die Inhalte langfristig bestimmen. Gegenwärtig ist es nur noch Untermietern des Elfenbein*  Doetinchem, Dagmar von, und Klaus Hartung: Zum Thema Gewalt in Superhelden-Comics. Berlin: Basis Verlag 1974.

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turmes, d.h. Germanisten, Deutschlehrern etc., erlaubt, an die »eigentliche« Kultur fern von den Massen und den Massenmedien zu glauben. Wenn auch das Vorurteil gegen die Comics ständig an Argumenten verlor, blieb es dennoch virulent. Wurden die Comics in den 50er Jahren aus den Gefilden der Kultur vertrieben, so kehrten sie zehn Jahre später als etwas problematische Kunst mit einem würdigen Stammbaum von Höhlenzeichnungen, ägyptischen Reliefs, mittelalterlichen Bildteppichen zurück. Seit der großen Pariser Ausstellung »Bande Dessinée et Figuration Narrative« (1967) gibt es in Europa endgültig die Comicforschung als anerkannte Richtung der Kunstwissenschaft. Allerdings wird man von den Spezialisten vertröstet: »In 20 Jahren etwa werden alle Comic-Forscher von Kindheit an mit den Comics vertraut sein, so daß sie über die gleiche Sachkenntnis wie die amerikanischen Forscher verfügen. Dann wird die Forschung ein höheres Niveau erreichen.«1 Es fragt sich, was der Sinn dieser Forschung sein soll. Schon jetzt macht sich ein narzißtisches Spezialistentum breit, das wiederum nur für Spezialisten schreibt. Es gehört zu den Aufnahmebedingungen in die Gilde der Comicwissenschaftler, auf Anhieb erkennen zu können, welcher Zeichner zu welcher Zeit welchen Serienstrip gezeichnet hat. Wenig Erkenntnisse sind entwickelt worden über die wirkliche Bedeutung dieses Massenmediums für die Massen selber. Zwar sind allzu grobe Anschuldigungen, wonach beispielsweise die Comics verantwortlich sein sollten für die Zunahme der Jugendkriminalität, zurückgewiesen worden. Aber immer noch werden die Comics in harmlose und weniger harmlose Comics unterteilt. Superheldencomics gelten als weniger harmlos. Bezieht man das altersspezifische Interesse an den Comics mit ein, so heißt das lediglich: harmlos ist, was Kinder bis zum Alter von etwa neun Jahren lesen, weniger harmlos, was ab neun Jahren gelesen wird. An der Sekundärliteratur wird deutlich, wie sehr hier ein positiver Begriff von Massenmedien fehlt. Wir meinen damit eine Theorie, die das Interesse der Massen verständlich macht. Insbesondere kritische Analysen der Comics sind auf diesem Gebiet ziemlich unfruchtbar geblieben. Sie konnten die Konsumenten der Comics nur als Opfer einer zweifelhaften Industrie verstehen, die sich hinterrücks über ihre Bedürfnisse hermache. Wenn sie von Massenmedien sprechen, imaginieren sie ein Röhrensystem, durch das ununterbrochen faschistische ldeologeme, autoritäre Strukturen und kapitalistische Vorurteile ins Unterbewußtsein fließen. Aus solchen Analysen ergibt sich im Grunde nur, daß die Analytiker sich als unabhängig von den Einflüssen der Massenkultur verstehen, daß sie sich frei glauben von den Suggestionen der Comics. Wir glauben nicht, daß es sich so verhält. Wir glauben vielmehr, daß das Interesse der Sammler und Spezialisten durchaus ambivalenten Charakter hat. Es sind nicht nur Trophäen der Massenkultur im Haushalt des Intellektuellen. Sondern der Intellektuelle versucht auch, die Verzichte der bürgerlichen Erziehung wieder wettzumachen. Die Comics galten schließlich als vulgär. Nur lesefaule Kinder griffen danach. Sie waren das »billige« Vergnügen. – Man hat nicht gefragt, was an dem Vergnügen billig ist und was an dem Billigen Vergnügen. Man hat auch nicht gefragt, warum lesekundige Kinder Comics lesen, die – wie wir sehen werden – weitaus schwieriger zu lesen sind als das »gute Jugendbuch«. Mit anderen Worten: ohne einen Begriff von der Situation der Kinder unter kapitalistischen Bedingungen und ihren Bedürfnissen läßt sich über Comics überhaupt nichts aussagen.

von Doetinchem/Har tung: Zum Thema Gewalt in Superheldencomics

Wenn Fuchs/Reitberger ihre Analyse2 mit einer Hoffnung beschließen, weil »auch die Comic-Books-Industrie ihren Akademie-Preis (hat), den Shazam, der dazu beitragen könnte, daß in den Comics noch stärker als bisher auf Qualität geachtet wird«, so geht die Hoffnung genau in die falsche Richtung. Bedenkt man, welchen Umfang der Comicmarkt angenommen hat, so muß die Qualitätsforderung anachronistisch anmuten: die monatliche Auflage für den deutschen Markt kommt etwa auf 10 Millionen Exemplare. Davon hat der EHAPA Verlag etwa 3 Millionen, der Bastei Verlag 2,6 Millionen, der Kauka Verlag 1,3 Millionen und der Bildschriften Verlag 0,8 Millionen. Da die Hefte zirkulieren, haben sie mindestens die dreifache Anzahl von Lesern. Die Gesamtauflage übertrifft im Monat etwa die Anzahl der Kinder um das Zehnfache, denn die Rückläufer werden noch in Sammelbände zusammengefaßt und erneut auf den Markt gebracht. Bei einem Geschäft in diesem Umfang ist der Ruf nach Qualität nicht nur sinnlos, sondern auch elitär. Die Comics sind als ein realer Bestandteil des Alltagslebens der Massen zu analysieren und insbesondere als ein Teil der infantilen Kultur. Wir konzentrieren uns bei dieser Analyse fast vollständig auf diejenigen Produkte der Comicindustrie, die allgemein als weniger harmlos, als vulgär, faschistisch, autoritär und manipulativ gelten. Uns interessiert, worin das Interesse der Leser bestehen könnte, unter der Voraussetzung, daß die Leser kein naturwüchsiges Interesse an vulgären, faschistischen, autoritären und manipulativen Inhalten haben. Für uns sind die Superheldencomics um so interessanter, weil sie auf den ersten Blick als besonders öde, unruhig, unangenehm und frustrierend erscheinen, weil wir annehmen, daß diese Comics Inhalte ansprechen, die unterhalb der Reaktionsschwelle des kulturellen Geschmacksurteils liegen.

2. Einige Bemerkungen zur Sexualität der Superhelden Das Thema der Superheldencomics ist Gewalt. Es geht um den Besitz und die Anwendung von Kräften. Damit ist die Sexualität von vornherein verdrängt. Denn sie ist keine Kraft, die sich als Besitz darstellen läßt. So abstrakte Figuren wie Superhelden können nicht lieben. Auch lassen sich Superkräfte nicht gegen Frauen anwenden, nicht nur, weil sie als schwächer gelten, sondern weil sie auch die Kräfte lahm werden lassen können. Sexualität ist viel zu beunruhigend, als daß sie derart zur Serienware gemacht werden könnte, wie es mit der männlichen Angst möglich ist. So ist nicht weiter verwunderlich, daß es verschiedene Formen der Zensur sexueller Motive gibt. Da sind zunächst einmal die Kostüme. Die Kostüme der Superhelden haben den Vorteil, daß die Superhelden gänzlich auf den männlichen Körper reduziert werden und das Geschlechtsteil ohne jede Andeutung im Kostüm verschwindet. Superman mit einer sichtbaren Erektion würde schließlich unendlich viel kraftloser wirken als der geschlechtslose Superman. Folglich sind die Beziehungen der Superhelden zu den Frauen auf eine asexuelle Weise »normal«. Superman hat eine »ständige« Freundin, die ihn ständig runtermacht. Die Fantastischen Vier sind zum Teil verheiratet, zum Teil haben sie auch »ständige« Freundinnen. Die Spinne hegt eine scheue Liebe, die eher schüchtern als sexuell erscheint. Rebellisch-schizophrene Superhelden wie der Halk oder das Känguruh etc. haben ohnehin keine Chance, eine Frau zu finden. Im übrigen sind die intensivsten Beziehungen der Superhelden Freundesbeziehungen: Superman und Jimmy, Batman und Robin bilden ein Herz und eine Seele.

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Diese »Verhältnisse« hatten Ende der 50er Jahre die amerikanischen Frauenverbände wachgerufen. Sie vermuteten nicht zu Unrecht, daß die Freundesbeziehungen stark homosexuellen Charakter besäßen. Insbesondere erregte das Verhältnis von Batman und Robin ihren Verdacht, zumal Robin in der Millionärsvilla von Batman ständig wohnte. Die Comic-Industrie, opportunistisch, wie sie nun einmal sein muß, unterwarf sich dieser Kritik und entwickelte flugs Batgirl und Supergirl. Diese beiden Mädchen machten dann dasselbe, was ihre Superheldenkollegen zu tun hatten: Verbrecher fangen und Katastrophen abwenden. Sie waren so emanzipiert wie die Politessen, die neuerdings an die Seite der Polizisten gestellt werden. Die Frauen tauchten erst wirklich Ende der 60er Jahre in den Superheldencomics auf. Das heißt, erst seit einer Zeit, seit der es eine politische Frauenbewegung gibt. Wenn sie auftauchen, vermitteln sie die Atmosphäre einer latenten sexuellen Aggression. Vor allem machen sie das Superheldenimage lächerlich und rücken damit Superman in die Situation vieler Männer seiner Generation (der Nachkriegsgeneration), für die die Frauenbewegung nur einen Angstfaktor darstellt. Selbstverständlich zahlt es sich für die Mädchen nicht aus, Superman arrogant zu behandeln. Superman muß im Recht bleiben, denn er soll sich ja weiter verkaufen. Immerhin macht er zunehmend eine dümmere Figur. Die Superheldenproduzenten versuchen dabei doch, auch die Frauenbewegung zu verwerten. So haben sie neuerdings die Serie Rose und die Rächerin entwickelt, in der eine nachtwandelnde Schönheit unbewußt zur Superheldin wird, die in einem Kostüm, das an die Unterwäsche der 50er Jahre bzw. an die Berufskleidung von Striptease-Tänzerinnen erinnert, sich auf Verbrecherjagd begibt. Aber ob derartigen Versuchen der Industrie der Erfolg beschieden ist, muß man in Frage stellen. Denn mit dem Befreiungskampf der Frauen wird kein Zeitalter der Superheldinnen heraufziehen, sondern das der Superhelden zu Ende gehen.

A nmerkungen 1 | Couperie, P., und Moliterni, C., Zur internationalen Forschungssituation, in: Vom Geist der Superhelden, Comic strips, Hrsg.: Hans Dieter Zimmermann, Berlin 1970 2 | Fuchs, Wolfgang J., und Reitberger, Reinhold C., Comics, Anatomie eines Massenmediums, Hamburg 1973

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V. G e walt in S uperheldencomics 1. Gewalt und Kräfte Unter Gewalt wird hier nicht die bloße Anwendung von Gewalt, also der »reine« Gewaltakt verstanden, sondern die Kategorie menschlicher Verhältnisse. In diesem Zusammenhang kann Gewalt nicht als inhaltloses, neutrales Mittel verstanden werden, das angewandt oder nicht angewandt wird. Solange die Klassengesellschaft existiert, hat Gewalt eine inhaltliche Bedeutung: entweder steht sie für das Recht der Unterdrückten oder – latent oder manifest – für die Interessen der

von Doetinchem/Har tung: Zum Thema Gewalt in Superheldencomics

Unterdrücker. Wenn Gewalt angewendet wird, muß sie legitimiert werden. Oder anders ausgedrückt: die bloß zufällige, unbegründete Gewaltanwendung wird in fast allen Fällen als »sinnlos« angesehen. – Es wäre die Vorstellung der bürgerlichen Ideologie, wollte man einen Trennungsstrich zwischen Gewalt und Vernunft ziehen. Vielmehr verlangt jeder Gewaltakt gebieterisch nach Aufklärung der ihm innewohnenden Vernunft. Kann diese Aufklärung nicht gegeben werden, so ist der Gewaltakt unmenschlich. Wie verhält sich das bei den Comics? Man kann sagen, daß insbesondere bei den Superheldencomics Gewalt ständig thematisch ist, aber genaugenommen handelt es sich dabei mehr um Gewaltakte denn um Gewalt, d.h., in den seltensten Fällen wird die Frage der Gewalt erörtert, vielmehr gehört es gewissermaßen zu den »Lebensäußerungen« der Superhelden, Gewaltakte zu produzieren. Die Unterscheidung Gewalt–Gewaltakte ist keineswegs spitzfindig. In unserer Gesellschaft wird ganz selbstverständlich von richterlicher Gewalt gesprochen, bzw. Polizisten gehen ganz selbstverständlich mit Gewalt gegen Gesetzesbrecher vor. Das gilt aber keineswegs als gewalttätig, schon gar nicht als ein Ausdruck gewalttätiger Unterdrückung, sondern als dessen Gegenteil, als gesetzlich legitimiertes Handeln. In diesem generellen Sinne sind die Hefte voll von Gewaltakten. Die Frage ist, welche Legitimationsweisen die Superheldencomics für Gewaltakte entwickelt haben. Zunächst einmal gibt es da eine generelle Rechtfertigung für die Gewalttätigkeit der Superhelden: Kräfte haben! Die Helden sind – den Comics zufolge – nicht gewalttätig, sondern bedienen sich ihrer Kräfte. Sie sind gewissermaßen ihrer Natur nach gerechtfertigt. Diese Scheinlegitimation ist nicht verstehbar; sie muß akzeptiert werden. Darüber hinaus sind die Kräfte völlig depersonalisiert. Ihre Erscheinung hat nichts mit dem Wesen ihrer Träger zu tun: sie sind entweder durch Strahlung entstanden oder schlicht relative Kräfte – Superman z.B. besitzt seine Superkräfte allein dadurch, daß im Bereich »gelber Sonnen« die Schwerkraft geringer ist. Seine »Kräfte« haben also keine spezifische Qualität, sondern sind bloß relativ. Was auf Supermans Heimatplaneten normal ist, ist im irdischen Bereich super. Die Grüne Laterne muß sich ständig mit Energie aufladen, um seinen Leistungsstandard zu halten. Es ist ja das Charakteristische der Superhelden, daß sie keine andere menschliche Qualität darstellen, sondern als das reine abstrakte Überlegensein nichts mehr sind als die vielfache Potenz der Normalität. Das wird noch dadurch verstärkt, daß ihre Normalexistenz bzw. »Geheimidentität« auf eine fast komische Weise überangepaßt ist. Clark Kent (Superman) ist ein völlig unspontaner, einfallsloser Angestellter, ohne Interessen, von dem tiefen Bedürfnis erfüllt, den Anforderungen seines Amtes gerecht zu werden. Der allseits überlegene Superman erscheint so als die Projektion des ohnmächtigen Bürgers, der er ist. Da aber der Besitz von Superkräften schließlich unendliche Möglichkeiten suggerieren könnte, wie man sich der wirklichen Glücksgüter dieser Welt bemächtigen könnte, werden die Superkräfte von vornherein als Pflicht definiert. Wer Superkräfte hat, ist dem schwachsinnigen kosmischen Code, der sehr dem Comics Code ähnelt, zufolge verpflichtet, ein braver Bürger zu sein und die Menschheit monoton zu retten. Die enormen Kräfte produzieren gewissermaßen ein enormes schlechtes Gewissen. Schlechthin böse ist es dementsprechend, die Kräfte im eigenen Interesse anzuwenden. (Die ständige – in der Jahresfolge der Serie – Wiederkehr der »bösen« Verdoppelungen des Superhelden machen genau dieses.) Superman ist

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dabei auf die langweiligste Weise selbstlos, seine Vorstellungswelt so aufregend wie die der freiwilligen Feuerwehr. Freilich ist Superman diejenige Figur, die am vollständigsten der Mittelklassenmoral unterliegt, folglich am meisten normengerecht und damit am unpersönlichsten ist. Wäre sie nicht schon im Jahre 1938 geschaffen, so müßte man fast annehmen, daß sie ein Produkt des Codes der amerikanischen Comicselbstkontrolle von 1954 ist. Wie wir gesehen haben, ist das Verhältnis der anderen Superhelden zu ihren Kräften weitaus problematischer und damit psychologisch »realistischer«. Was uns hier interessiert, ist, wie eine Comicserie, deren Held nichts bieten kann außer einer faden Angestelltenexistenz und einem ebenso faden »Supersein«, über 30 Jahre lang seinen Marktanteil halten konnte. Mit anderen Worten, welche reale Situation entspricht der Superheldenexistenz? Wenn die Superkräfte im Dienste der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung stehen, dann ist die öffentliche Ordnung gewissermaßen der permanente Notstand und braucht in der Fantasie der Comicleser Superkräfte, um aufrechterhalten zu werden. Wenn Superman der »Überangepaßte« ist, kann dies für einen Leser nur dann suggestiv sein, wenn er in einer Welt lebt, deren Anpassungszwänge übermäßig viele Kräfte abzuverlangen scheinen, wo quasi die angepaßte Existenz »über die Kräfte« zu gehen scheint. Anpassung wird gemeinhin als eine bestimmte politische Haltung verstanden, als ein bewußter Vorgang. In Wahrheit ist sie natürlich das Ergebnis einer ständigen Selbstunterdrückung, der Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse, des Verzichts auf die persönlichen Lebensziele. Ein Zustand also, in dem das Individuum ständig Kraft braucht, und zwar in zunehmendem Maße, um ihn aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten, Anpassung ist kein Zustand, in dem jemand zur Ruhe kommt oder in dem jemand sich einrichten kann, sondern ein ständiger unbewußt erlebter Kampf, ein langfristiger Prozeß der Selbstzerstörung. Die psychischen Energien, die das Individuum zur Aufrechterhaltung der Anpassungsmechanismen selber braucht, müssen gewissermaßen abgespalten werden und stehen damit nicht zur Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse zur Verfügung. Wenn der Alltag nur noch von der Reproduktion der Arbeitskraft bestimmt wird, wenn die Freizeit nur noch dazu dient, »Kräfte« zu schöpfen, wenn man sich erholen muß, um weiterzumachen, so kommt in den meisten Fällen die Erschöpfung der Kräfte nicht von der unmittelbaren Anstrengung bei der Arbeit selber, sondern von den psychischen Anforderungen, diesen Zustand auch durchzuhalten. Dies ist die Situation der meisten Menschen in dieser Gesellschaft, folglich wird es auch von den meisten Kindern als Wirklichkeit erlebt. Der Wunsch, Kräfte zu haben, also quasi qualitätslose Energie, die sich nie erschöpfen, ist die Kehrseite der Angst, nicht mehr genug Kräfte zu haben für die Bewältigung der Alltagsexistenz. Diese Angst muß notwendig alle beherrschen, solange sich die Einzelnen ihre gesellschaftliche Stellung in der Konkurrenz mit anderen Einzelwesen erobern müssen. Wie tödlich muß diese Angst sein, daß selbst eine so fade Tröstung wie Superman ihren Markt hat! Insofern ist »Kraft« auch ein Grundelement aller Werbungskampagnen. Denn es ist das Gesetz der kapitalistischen Gesellschaft, daß die Tages- bzw. Lebenszeit, die nicht von der Arbeitssphäre bestimmt wird, keineswegs der Selbstverwirklichung und der Verwirklichung der eigentlichen Bedürfnisse dient, sondern dem Wiedergewinn der Kräfte, d.h. der Arbeitskraft zu dienen hat. Politische Ansprüche, Ansprüche auf solidarische Unterstützung anderer, Interesse an den Schwie-

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rigkeiten des anderen werden nicht abgewehrt, weil die Massen inhuman sind, sondern weil die Angst da ist, es könnten die Kräfte nicht reichen. Superman mit seinen Superkräften ist gewissermaßen der zum Leitbild erhobene Stoßseufzer der bedrängten Existenz. Seine Suggestion liegt darin, daß man in der Wirklichkeit eigentlich Superkräfte brauchte, um mit »allem« fertigzuwerden. Damit drücken aber die Superhelden-Serien ein Gefühl von der Wirklichkeit aus, wonach die Wirklichkeit (d.i. die Gesellschaft) so krisenhaft ist, daß sie den Menschen zuviel kostet, übermenschliche Kräfte verlangt, also unmenschlich ist. Berücksichtigt man diesen Gesichtspunkt, so zeigt sich, daß die fadeste und reizloseste Figur der Superheldenserien durchaus eine ambivalente Struktur hat. Einerseits ist er der Held der Anpassung. Aber seine unvorstellbaren Superkräfte bewirken etwas, was niemandem sonst möglich ist: er kann sich die Anpassung »leisten«, sie ist aufgehoben und gegenstandslos. Nach den herrschenden Normen zu leben, kostet ihn keine »Kraft«. Insofern drückt Superman auch das Bedürfnis nach Freiheit aus, nach einer Existenz, der alles leicht ist, für die jeder Realwiderstand sich verflüchtigt, für die die Handlungen so leicht und schnell wie Wünsche sind. Die Ambivalenz der Superman-Imago hat seinen Grund in den Widersprüchen der bürgerlichen Existenz. Das »Real-Ich« von Superman ist der Angestellte (Reporter) Clark Kent, der wegen seiner Angepaßtheit, wegen seiner mangelnden Energie gedemütigt wird und ständig in der hoffnungslosen Konkurrenz mit seinem »Traum-Ich«, Superman, unterliegt, das für seine Mitwelt zugleich das amerikanische Idol darstellt. Ebenso verhält es sich mit Superboy, der in der »Realität« ein frustrierter, nicht anerkannter Primus zwischen lauter Ersatzsupermännern darstellt. Dieser Konflikt zwischen dem frustrierten »Real-Ich« und dem allmächtigen »Traum-Ich« wird in der Mittelklasse gemeinhin durch die Identifikation mit dem Staat bzw. dessen Organen (Polizei, Armee etc.) gelöst bzw. abgemildert, d.h., solange diese Organe der frustrierten Normalexistenz Sicherheit und Rechtfertigung versprechen, solange kann auch das »Traum-Ich« Superman als Superpolizist durch die Gegend fliegen. Spätestens seit den 6oer Jahren in den USA und dementsprechend auch in den anderen kapitalistischen Ländern ist diese Lebenslüge der silent majority brüchig geworden. Entscheidende gesellschaftliche Prozesse wie die Jugendrevolte, die Bürgerrechtsbewegung, die Organisation der Minderheiten sind nicht mehr mit dem Stichwort der Verbrechensbekämpfung zu unterdrücken. Die Gewaltapparate des Staates garantieren nicht mehr die herrschende Ordnung, sondern werden ganz offensichtlich als Teil der krisenhaften Prozesse innerhalb der Gesellschaft verstanden, da ihre Handlungsweise immer mehr als politische Unterdrückung erkannt wird. Diese Entwicklung ist den Produzenten der Superheldenserien durchaus bewußt. Sie lassen Superman entweder in die Vergangenheit seines Heimatplaneten »Krypton« ausweichen oder versuchen es mit einer vorsichtigen Kritik an der bisherigen Tätigkeit Supermans. So muß sich Superboy plötzlich die Frage stellen, ob er nicht allzu gedankenlos seiner Lieblingstätigkeit, Verbrecher ins Gefängnis zu fliegen, nachgegangen ist. Er wird vorübergehend zum Do-it-yourself-Soziologen und überlegt sich, warum Menschen zu Verbrechern gestempelt werden und welche Konsequenzen die Gefängnisstrafe für die Gesellschaft hat. Es zeigt sich, daß Supermans Kräfte gesellschaftlich so wirkungsvoll sind wie Weihnachtspäckchen für Gefängnisinsassen. Folgerichtig gerät Superman in psychische Pseudokrisen, die nach dem Mechanismus der Potenzangst geschneidert werden: in einem Heft

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IV. Frühe Stellungnahmen

bewegt sich Superman nur noch im Rollstuhl, weil er spürt, daß er nicht mehr gebraucht wird. Er ist gewissermaßen impotent geworden. Die wichtigste Legitimation für Gewaltanwendung war der Besitz der Kräfte selber. Ein Rechtfertigungsmodell, dem wir alltäglich begegnen: die herrschende Ordnung ist so lange auch die richtige Ordnung, solange sie weitgehend unwidersprochen herrscht. Folglich zeigen die zunehmenden Krisen Supermans die sich verschärfenden Legitimationskrisen des Staates. So erfährt Superman bei dem Neurologen: »Kopf hoch, Superman! Die Instrumente zeigen an, daß du deine Kräfte nie verloren hast! Alle deine Superfähigkeiten sind noch voll da! Aber du leidest an einer Zwangsvorstellung, die deine Kräfte lähmt. Es ist… eine Art Panikhysterie, die sich einstellte, als du fürchtetest, die Welt braucht dich nicht mehr!« (Aus: Superman und Batman, Heft 2, 1971.) Derart fällt Superman selbst dem Schicksal anheim, das im Kapitalismus schon immer der ausgebrannten Ware Arbeitskraft droht: nämlich in ein »wert«loses Rentnerdasein abgeschoben zu werden oder Opfer psychiatrischer Anstalten zu sein. Wenn auch bei der Comicproduktion der Hauptteil ihres Zynismus sich aus der Routine des Seriengeschäftes ergibt, so wissen die Autoren in diesem Heft, welche Ängste sie antippen: sie kennzeichnen diese Geschichte als eine ausdrücklich hypothetische Geschichte.

2. Superheld als Bestandteil des Staatsapparates Wird mit den oben benannten Legitimationssystemen die Frage nach den Gewaltakten nur stillgestellt, so gibt es darüber hinaus auch eine inhaltliche Rechtfertigung für Gewalt. Die einzig wirkliche Vorstellung für die Abfuhr aggressiver Bedürfnisse – als Alternative zur Selbstzerstörung –, die die Comics bieten können, ist die Indienstnahme der Kräfte für den Staatsapparat. Die Superhelden treten entweder dort auf, wo Polizeikräfte versagen, oder sie sind selbst ein Bestandteil des militärischen Apparates, oder sie sind direkte Untergebene des Polizeichefs (wie etwa Batman). Sie werden eingesetzt gegen Katastrophen und Verbrecher. Ihr Einsatz gegen Katastrophen rationalisiert gewissermaßen ihre Gnadenlosigkeit gegen Verbrecher. Der ganze Komplex der Superhelden ähnelt sehr den Rechtfertigungssystemen faschistischer Staatsgewalt. Das Dasein des Superhelden ist gewissermaßen der Ausdruck von Notstand. Sobald der Superheld auftritt, kommen die Verbrecher aus den Tiefen der Gesellschaft und wollen die Herrschaft übernehmen. Zugleich beschwören die Kräfte, die sie besitzen, die absolute, durch keine Gesetze beschränkte Staatsgewalt. Mit Röntgenblick und Fernblick, Supergeschwindigkeit und Supergehör gibt es für Superman weder Brief- noch Telephongeheimnis. In der Gestalt der Superhelden findet gewissermaßen eine gesellschaftliche Projektion absoluter staatlicher Unterdrückung statt. Es ist nur zu folgerichtig, daß Superman sich in seinen Taten gewissermaßen selbst zensiert. Seine ganze Gewalt zeigt er, wenn er das Erdreich aufwirbelt, durch Mauern saust, Metall verdampft. Erreicht er sein Ziel, fallen ihm die Verbrecher wie reife Früchte anheim. Wenn seine Gewalttätigkeit zur Auseinandersetzung mit dem Widerstand lebloser Materie verdrängt wird, so kehrt sie doch in einem gewissermaßen spielerischen Sadismus wieder. Es kann nicht als eine Zufälligkeit einiger Superman-Geschichten angesehen werden, wenn Superman Verbrecher

von Doetinchem/Har tung: Zum Thema Gewalt in Superheldencomics

nach der Gefangennahme in der Luft umherwirbelt oder wie ein Raubvogel mit seiner Beute mit ihnen über der Stadt dahinfliegt. Die absolute Ohnmacht gegenüber der Supergewalt ist zugleich die absolute Ohnmacht gegenüber dem Staat, in dessen Diensten der Superman steht. Noch deutlicher wird das Verhältnis Superman–Staatsapparat, wenn man untersucht, an welchem Punkt die Macht des Superman seine Grenze findet: Es ist das Privateigentum. Superman und Batman, Zähmung eines Vulkans, Heft 12, 1971: Superman entdeckt, daß auf einer Insel ein Vulkan vor dem Ausbruch steht. Seiner Pflicht gemäß muß er die Arbeiter vor dem Ausbruch retten. Allein, die Insel ist Privateigentum, und der Besitzer will seine Arbeiter behalten. Superman hat zwar Superkräfte, aber sie scheitern am Privateigentum. Superman-Lösung: er wühlt sich attraktiv durch das Erdreich, taucht gewissermaßen unter dem Privateigentum weg und löscht den Vulkan. Gegenüber den Verbrechern ist Superman Polizist, gegenüber dem Privateigentum Reformist. Daß hier der kapitalistische Staatsapparat gemeint ist, zeigt am besten die Gestalt des Ironman, Der Eiserne, in den Hit-Comics. Stark (!), der Chef der StarkIndustries, hat sich eine zweite Hülle verschafft, in der die ganze technologische Macht seiner Industrien versammelt ist. Wenn er sie anzieht, wird er zum Ironman und verjagt die »Feinde der Gesellschaft«. Diese Feinde richten aber ihre Feindschaft gegen die Expansion seiner Unternehmen.

3. Waffen und die gewalttätigen Verhältnisse Je unproblematischer die Superkräfte für den Superhelden sind, desto enger stehen die Superhelden im Dienste des Staatsapparates. Protagonisten für diese Richtung sind Superman, Batman, Captain America etc. Ihre Kräfte gleichen folglich Waffensystemen. Je problematischer die Superkräfte sind, je mehr die Superhelden von ihnen beherrscht und in ihrer Identität bedroht werden, desto menschlicher sind sie und desto unfähiger sind sie, dem Staatsapparat zu dienen. Protagonist dieser Richtung ist der Halk von den Marvel Comics. Er ist als schizophrener Superheld ständiger Gegner des Staates. – Neuerdings geht aber durch alle Superheldenserien eine Tendenz, die Superhelden aus ihrer Komplizenschaft mit den staatlichen Unterdrückungsorganen vorsichtig zu lösen. Folgerichtig nehmen bei ihnen die psychischen Störungen zu. Selbst Superman hat zur Zeit seine Seelenkrisen, wie wir sahen. Allerdings ist nach wie vor der Waffencharakter der Superkräfte vorherrschend. Die Einzelhelden oder Superkampfgruppen sind immer noch Waffensysteme, die die »Ordnung« aufrechterhalten. Für sich selbst haben sie dann kein Ziel. Der Entmenschlichung der Superhelden entspricht so die Vermenschlichung der imperialistischen Waffensysteme, daß z.B. Raketen »Honest John« oder »Minuteman« genannt werden, als befinde ihre Zerstörungskraft sich noch innerhalb der menschlichen Vorstellungsfähigkeit. Die Möglichkeit der Massenvernichtung wird in den Comics zu einer Realität des Alltags. Die Massen erscheinen in den Comics im Zustand vollständiger Ohnmacht: nämlich als Objekt von Massenvernichtungskräften. In den Hit-Comics wiederholt sich regelmäßig die Szene, wie Passanten angstvoll in den Himmel starren, wo der Vernichtungskampf der menschlichen

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IV. Frühe Stellungnahmen

Waffensysteme über Bestand oder Untergang der Zivilisation entscheidet. Die da angstvoll nach oben starren, sind unfähig, einzugreifen. Die »Ordnungskräfte« sind der »Gesellschaft« unendlich überlegen – die Massen äußern sich kollektiv nur insofern, als sie von namenlosem Schrecken erfaßt werden. Panisches Sichin-Sicherheit-Bringen ist quasi die einzig mögliche Reaktion, wenn die Kräfte auftreten. Alltägliches Leben und das Dasein der Massen erscheinen in den Comics lediglich als Objekt gewalttätiger Verhältnisse. Die »Ordnungskräfte« verändern nicht die Verhältnisse, ihr Sieg bringt keinen Frieden, ist nur ein Glied in der Kette endloser Gewalttat. Die Comics sind auf diese Weise fast realistisch, sie beschönigen oder verschleiern den Katastrophencharakter des Kapitalismus durchaus nicht. In ihnen stellt sich die gesellschaftliche Existenz als etwas dar, in der zwanghaft sich die totale Katastrophe ankündigt. Die Comics sagen: leben ist nur Aufschub von Untergang! Derart verknüpft sich in der Bewegung des Superhelden das imperialistische Zerstörungspotential mit infantilen Ängsten und Wünschen. Verhöhnt wird jede Vorstellung einer heilen Welt des Kindes. Auf perverse Weise tragen die Comics der realen Ohnmacht des Ichs mehr Rechnung als alle Kinderbücher zusammen, deren konstruierte Geschichten über freundliche Drachen und humoristische Zauberer die tödlichen Ängste der Kinder nicht beschwichtigen können. Vielmehr ist zu vermuten, daß sie sich von den Comics Aufklärung über eine bedrohliche Realität erhoffen. Wenn in den Comics der Alltag als etwas erscheint, das nicht mehr bedeutet als die abgewendete Katastrophe, so ist zu fragen, worin nun eigentlich die Katastrophe besteht. In den gewalttätigen Vorgängen erscheinen – wenn auch verdreht und deformiert – die Kategorien des Klassenkampfes. Die Feinde, wie schon erwähnt, kommen von unten. Getrieben werden sie von wirklichen Schicksalen, sie sind geschlagene, um ihren Lebenseifolg gebrachte Existenzen, die nunmehr die Welt als Beute ihrer Anstrengungen haben wollen. Ihrer äußeren Erscheinung nach sind sie Angehörige des Lumpenproletariates: schmutzig, unrasiert, in Winkeln und Hinterhöfen hausend. Oder sie gehören zu den wahnsinnigen Intelligenzen. Je mehr nun im alltäglichen Leben Gewalttätigkeit manifest wird – vor allem in den amerikanischen Verhältnissen –, desto mehr tauchen Bruchstücke realer Klassenkampfsituationen in den Comics auf. So versuchen vornehmlich die Hit-Comics, aber auch schon die Superman-Hefte den Vietnamkrieg und den Befreiungskampf der Black Panther Party hineinzunehmen. Diese Tatsache wird nicht erklärt, sondern allenfalls beschrieben mit dem Schwammcharakter der Comics, die alle Inhalte aufsaugen können und in »reinen« Bewegungsabläufen verflüchtigen lassen. Es läßt sich hingegen vermuten, daß die Comics nicht ohne weiteres hinter dem Erscheinen manifester gesellschaftlicher Gewalt zurückbleiben können, ohne ihren Markt zu verlieren. Hit-Comics, Die Nacht der Stahlklaue, 205, 1971: Die Stahlklaue ist ein junger, fantasievoller Afroamerikaner, der von seinem weißen Chef verachtet wird. Als Fensterputzer hat er eine Erfindung entwickelt, die die Gefahren des Berufes mindert; da die Erfindung mit dem Profittrieb des Chefs kollidiert, wird er entlassen. Er wird zur Stahlklaue, schmiedet sich Krallen und bewaffnet sich mit Raketen. Als nächtlich erscheinendes Monstrum findet er sinnbildlich den Weg nach oben: er steigt die Fassaden hinauf, um an die Lebensgüter zu gelangen. Im Gegensatz zu dieser Geschichte, in der die rebellische Natur der Unterdrückten auf fantastische Weise zu ihrem Recht kommt, erscheint in einer Bat-

von Doetinchem/Har tung: Zum Thema Gewalt in Superheldencomics

man-Geschichte die faschistische Gewalt, die der Vietnamkrieg produziert hat: ein Unternehmer verschafft sich einen Spekulationserfolg, indem er die Sprengtechnik anwendet, die er als Sergeant im Vietnamkrieg gelernt hat (Superman und Batman, Heft 24, 1970). In den gewalttätigen Verhältnissen, wie sie in den Comics erscheinen, stehen aber Unten und Oben nicht als bewegungsloser Gegensatz zueinander. Die »Ordnungskräfte« selbst sind ambivalent. Zwar geschieht ihre Bändigung durch die Zerstörung der Feinde. Ihre Ambivalenz liegt aber gerade darin, daß sie »reine« Zerstörung sind und daher außerhalb der gesellschaftlichen Lebensweise stehen. Sind die Feinde nicht da, ruhen sie. Aber gibt das Sicherheit? Was können sie eigentlich alles zerstören, wenn sie keine Feinde zerstören? Die Kräfte sind ihrer inneren Natur nach unsozial, sperren sich der »sozialen Verwertung«. Über allen Superheldengeschichten liegt ein »Was wäre, wenn«: Was wäre, wenn die Superhelden wirklich ihre Kräfte gegen die Verhältnisse richten würden, in denen sie Katastropheneinsatz und Schülerlotse zugleich spielen? Mit dieser Ambivalenz spielen viele Comic-Geschichten: sobald die Superkräfte einmal rebellisch werden, richten sie sich sofort gegen die Staatsgewalt. Sie werden dadurch zugleich Objekt staatlicher Verfolgung. So wird Superman durch eine geheimnisvolle Substanz zu dem Riesenaffen King Kong und reißt grunzend Häuser ein und zerschlägt eine ganze Polizeiarmada. Am Schluß sieht man ihn gekreuzigt vor dem Capitol. Am häufigsten ist in diesem Zusammenhang die böse Verdopplung des Superhelden, die das ganze Machtgleichgewicht, das der Superheld bedeutet, aufhebt. Was Superman oder Die Fantastischen Vier wirklich tun würden, ist nicht auszudenken. Die Ambivalenz der Kräfte muß in den Comics immer wieder unterdrückt werden. Nichts wird gnadenloser vernichtet als die »böse« Verdopplung des Superhelden. [...]

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V. Selbstaussagen und Selbstreflexionen im Medium des Comics

Einführung Joanna Nowotny

Nicht nur Psychologen, Philosophinnen und Kulturkritiker diskutieren seit Jahrzehnten über Superheldencomics. Wichtige Stimmen im Diskurs sind die Künstler und Künstlerinnen selber, die in Interviews, Büchern und im Medium Comic über die Potenziale und Gefahren von Superhelden sowie über die Machart von Comics, Filmen und anderen Adaptionen reflektieren. Aus einer Innenperspektive präsentiert sich das Superheldengenre noch einmal neu: als (oft kollaboratives) künstlerisches Unternehmen, als Erzeugnis, das ökonomischen Bedürfnissen genügen muss, oder auch als hegemoniales, patriarchalisches Narrativ, das alternative Erzählmuster vom Markt zu verdrängen droht und überwunden werden muss. V.1.1 Den Auftakt zu Kapitel V.1, das Selbstaussagen von Comickünstlern und -künstlerinnen versammelt, bildet ein Ausschnitt aus der Autobiographie Stan Lees. Lee war seit den 1960ern als Autor für Marvel tätig und hat viele der klassischen Superhelden des Verlags wie Spider-Man und Iron Man miterschaffen, oft in Kollaboration mit Künstlern wie Jack Kirby. Heute ist Lee zu einer transmedialen Ikone geworden – in den filmischen Adaptionen aus dem Hause Marvel hat er jeweils Gastauftritte, die ihn, Mitschöpfer der meisten Charaktere wie Doctor Strange oder Thor, erfolgreich als Schöpfer des Marvel-Universums überhaupt kanonisieren. Die meisterhafte mediale Selbstinszenierung Lees erstreckt sich auf zahlreiche Auftritte an Comic-Cons und auf Interviews, in denen er seine Meinung zu vergangenen und gegenwärtigen Entscheidungen über die Marvel-Helden kundtut.1 Lees strahlende Prominenz hat jedoch ihre problematische und kontroverse Seite, was sich zum Beispiel dann zeigt, wenn Kirbys Erben finanzielle Entschädigungen für die Filmlizenzen verlangen und vor Gericht geltend machen, dass Kirbys Beitrag zu den Figuren nicht genug gewürdigt worden sei. 2 In seiner Autobiographie Excelsior! gibt Lee Auskunft darüber, wie er – nicht zuletzt inspiriert durch seine Ehefrau, Joanie − das Heldenteam der Fantastic Four erschuf, als letzten Vorstoß im Superheldengenre, bevor er die Comicbranche überhaupt verlassen wollte. Die Fantastic Four-Comics wurden schnell erfolgreich, da sich das Team von allen anderen 1 | Vgl. z.B. »Stan Lee Talks About New Bi-Racial Marvel Spider-Man Miles Morales« [https:// www.bustle.com/articles/92555-stan-lee-talks-about-new-bi-racial-marvel-spider-manmiles-morales; Zugriff: 9. Oktober 2017]; »Stan Lee Reveals His Thoughts on Iceman Being Gay« [https://moviepilot.com/posts/3648522; Zugriff: 9. Oktober 2017]. 2 | Vgl. z.B. Brian Cronin: »Depositions Reveal Glimpse of Kirby/Marvel Copyright Lawsuit« [www.cbr.com/depositions-reveal-glimpse-of-kirbymarvel-copyright-lawsuit/; Zugriff: 9. Oktober 2017].

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V. Selbstaussagen und Selbstreflexionen im Medium des Comics Superhelden auf dem Markt abhob: Bezeichnend war eine familiäre Dynamik zwischen den einzelnen Figuren, die den Bildgeschichten eine Portion Realismus und Humor verlieh. Dieses Rezept variierte Lee in der Folge immer wieder und in Zusammenarbeit mit zahlreichen Künstlern, sei es in den Hulk- oder den X-Men-Comics. Superhelden wurden und werden seither auch als verletzliche Menschen dargestellt, die mit alltäglichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Einer der berühmtesten Helden, Spider-Man, erschaffen von Lee und Steve Ditko, unterschied sich beispielsweise von seinen Berufskollegen, da er in seiner zivilen Identität mit den Problemen eines durchschnittlichen amerikanischen Teenagers zu kämpfen hatte. Marvels neuer Erzählstil, der auf Lees – und Kirbys, und Ditkos usw. − Innovationen zurückgeht, läutete das sogenannte Silver Age of Comics ein, die ökonomische und kreative Renaissance des Mediums in den 1960ern. Lee gibt in seiner salopp und teilweise witzig formulierten Autobiographie einen Einblick in die Funktionsweise der Comicbranche und erwähnt zahlreiche Mitarbeiter, die einen mehr oder weniger großen Einfluss auf diejenigen Helden hatten, welche das Haus Marvel nach einer kreativen und ökonomischen Stagnationsphase wieder höchst erfolgreich machen sollten. Auch Kirbys Beitrag und seine Transformation der Ideen Lees in der visuellen Umsetzung wird gewürdigt. Wie genau solche Kooperationen funktionieren konnten, wird in den Passagen ersichtlich, in denen Lee auf den kollaborativen Entstehungsprozess der Comics und damit auf die sogenannte Marvel Method zu sprechen kommt. Die berühmte Method war im Kern ein relativ offenes Comicscript, das in Zusammenarbeit mit den Künstlern zum finalen Produkt verarbeitet wird. Das kollaborative Arbeitsmodell hat sich in der amerikanischen Superheldenbranche bis heute gehalten. 3 V.1.2 Nach dem sogenannten Silver Age of Comics wendet sich der nächste Textausschnitt einem Künstler zu, der sich gut zwanzig Jahre später einen Ruf machen sollte. In den innovativen 1980ern verschiebt sich einiges im Feld der Comics allgemein und der Superheldencomics im Speziellen. Eine Reihe stilistisch und narrativ avancierter Comics erscheint, an erster Stelle wohl Art Spiegelmans Maus (Band 1, 1986; Band 2, 1991), gefolgt etwa von den Werken Alison Bechdels (Dykes to Watch Out For, 1983-2008) oder Neil Gaimans (Sandman, 1988-1996). Die Rezeption dehnt sich in den Folgejahren aus; Comics werden zum ersten Mal von breiten Bevölkerungsschichten als potenziell ›seriöses‹ Medium wahrgenommen, in dem ernsthafte Themen und tiefschürfende Fragen behandelt werden können. Auch die Superheldencomics werden gemäß verbreiteter Ansicht in dieser Dekade, den 1980ern, ›erwachsen‹, da sie ihre (politische und sexuelle) Unschuld verlieren. Neben Alan Moores Watchmen (1986/87) und The Killing Joke (1988) sind vor allem Frank Millers Werke wie Ronin (1983/84), Daredevil. Born Again (1986) und Batman. The Dark Knight Returns (1986) verantwortlich für diesen Umschwung. Millers radikal andere Version eines alternden, desillusionierten Batman, dessen verquere Vorstellung von Heldentum das Verbrechen überhaupt erst nährt, übte großen Einfluss auf die erfolgreiche Nolan-Filmtrilogie der jüngeren Vergangenheit aus (Batman Begins, 2005; The Dark Knight, 2008; The Dark Knight Rises, 2012). Miller, der hier durch ein Interview vertreten ist, hat durch reaktionäre und rechtsgerichtete politische Äußerungen Kontroversen ausgelöst, die den Zusammenhang von Superhelden und zeitgenössischen Amerikabildern betreffen. Er äußerte sich wiederholt islamophob und militaristisch und zog damit auch den Unmut anderer Comickünstler auf sich, darunter 3 | Einen Einblick in die heutige Funktionsweise der Comic- und vor allem Superheldencomicbranche gibt Brian Michael Bendis: Words for Pictures. The Art and Business of Writing Comics and Graphic Novels. New York 2014.

Nowotny: Einführung Alan Moore, der Millers Ansichten als misogyn, homophob und »just completely misguided« verurteilte. 4 Diese außerfiktionalen Ansichten färben das Werk: In Holy Terror (2001) lässt Miller beispielsweise den Superhelden The Fixer auftreten, dessen Mission schlicht darin besteht, Al-Qaida zu bekämpfen. Der Superheld steht so im Dienste einer politischen Mission der USA, die in der Bevölkerung alles andere als unhinterfragt bleibt. Ursprünglich als Batman-Geschichte und »piece of propaganda« für die amerikanische Jugend geplant, 5 wurde Holy Terror zuletzt als eigenständige graphic novel veröffentlicht. Im hier abgedruckten Spiegel-Interview spricht Miller über die Männlichkeitsbilder, die durch das Superheldengenre vermittelt werden. Ein großer Teil seines Schaffens stellt männliche Helden in sein Zentrum, Einzelgänger, die das Gesetz in die eigene Hand nehmen und der Welt mittels Gewalt ihren Stempel aufdrücken wollen. Es liegt auf der Hand, dass somit auch gerade Millers Superhelden sich für eine Dekonstruktion von und Kritik an toxischen Männlichkeitsbildern anbieten, wie sie teilweise von Forschern und Forscherinnen in der Sektion Zeitgenössische Forschung unternommen wird. Und eine solche Interpretation des Genres wirft unweigerlich die Frage auf, ob Superhelden denn überhaupt im Dienste progressiver gesellschaftlicher und individueller Visionen stehen können. Oder ist Millers reaktionäre politische Agenda nur folgerichtig für einen Verehrer von Superhelden? Macht ihre Vergangenheit als militaristische Kämpfer für ›amerikanische Werte‹ die Helden für eine neue Generation von Menschen untauglich, die andere Werte vertreten, seien sie feministisch oder gendertheoretisch geprägt oder auf die Repräsentation von Marginalisierten sensibilisiert? Das Interview mit Miller behandelt auch Adaptionen von Comics auf der Leinwand. Miller gibt Auskunft über die Herausforderung, das visuell-textuelle Medium Comic in einen Film zu übersetzen. Der Künstler wirkte vor allem an der Verfilmung seiner Serie Sin City (Comic 1991/92, Film 2005) mit, die ihrerseits zahlreiche Anleihen ans Superheldengenre macht. Daneben brachte er im Jahr 2008 Will Eisners Superheld The Spirit auf die Leinwand. Sein Comic 300 (1998) wiederum, der lose auf der historischen Schlacht bei den Thermopylen basiert, wurde im Jahr 2006 von Zack Snyder verfilmt. V.1.3 Auch der nächste Textausschnitt gibt einem Exponenten des Genres das Wort, der sich in den 1980ern etablierte und bis heute rege am Diskurs über Comics und Superhelden teilhat. Der hier vertretene Alan Moore schuf zusammen mit dem Künstler Dave Gibbons die groß angelegte Saga Watchmen (1986/87), ein Klassiker, der das Superheldengenre über Jahrzehnte prägte und noch immer prägt. Neben der inhaltlichen Differenziertheit, genauer der Problematisierung von Heldentum, Nationalismus und Militarismus zu Zeiten des Kalten Kriegs, zeichnet sich Watchmen vor allem durch einen raffinierten Formalismus und zahlreiche selbstreflexive Bezüge auf das Comicgenre überhaupt aus. Bis heute ist der Comic ein favorisierter Untersuchungsgegenstand literatur- und medienwissenschaftlicher Analysen. 6 Mit Moore betrat ein Künstler die internationale Comicbühne, der sich auch in Interviews elo4 | Alison Flood: »Alan Moore Attacks Frank Miller in Comic Book War of Words« [https:// www.theguardian.com/books/2011/dec/06/alan-moore-frank-miller-row; Zugriff: 16. August 2017]. 5 | »Comic Book Hero Takes on al-Qaeda« [http://news.bbc.co.uk/2/hi/entertain​m ent/​ 4717696.stm; Zugriff: 11. Oktober 2017]. 6 | Um nur zwei Beispielanalysen zu nennen, die ideologiekritisch verfahren: Jamie A. Hughes: »›Who Watches the Watchmen?‹ Ideology and ›Real World‹ Superheroes«, in: The Journal of Popular Culture 39.4 (2006), S. 546-557; Marco Pellitteri: »Alan Moore, Watchmen and Some Notes on the Ideology of Superhero Comics«, in: Studies in Comics 2.1

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V. Selbstaussagen und Selbstreflexionen im Medium des Comics quent zeigte, sei es in der Diskussion des Superheldengenres an sich oder der Intentionen, die hinter seinen eigenen Werken stehen. Watchmen behandelt ein Team ehemaliger Superhelden, die weit entfernt sind von den Idealen heroischer Männlichkeit, denen Miller – bei allem Zynismus seiner Figuren – dennoch anzuhängen scheint. Manche sind zynisch, apathisch und frauenverachtend, andere haben sich als propagandistische Marionetten in die Kriege der US-amerikanischen Regierungen in Korea und Vietnam einspannen lassen; fast alle von ihnen scheinen der Welt mehr Schlechtes als Gutes zu bringen. Moore, der seit Längerem vor allem seine eigenen, sogenannten creator-owned-Comics veröffentlicht, hat sich mittlerweile zu einem ausgesprochenen Kritiker des Superheldengenres entwickelt. Die populärkulturelle Obsession mit den Helden geißelt er, der ja selber politisch brisante Superheldencomics mit erschaffen hat, als infantilen Eskapismus und als Zeichen eines gesellschaftlichen Verfalls. Überspitzt gesagt, scheint aus der Seduction of the Innocent Werthams gute 70 Jahre später eine Verführung der Schuldigen, der ›emotional unterentwickelten‹ (»emotionally subnormal«) 7 Erwachsenen geworden zu sein, die sich in alberne Fantasien flüchten. Es sei »alarming«, wenn »an audience largely of 30-, 40-, 50-, 60-year old men, usually men« sich an einem Genre und Figurentypus erfreue, der sich an »the 12-year-old boys of the 1950s« richte: »I hate superheroes. I think they’re abominations. […] I don’t think the superhero stands for anything good«. 8 Moores zugleich sehr kultivierter und scharfer Duktus kommt im englischen Original besonders zur Geltung: To my mind, this embracing of what were unambiguously children’s characters at their mid-20th century inception seems to indicate a retreat from the admittedly overwhelming complexities of modern existence. It looks to me very much like a significant section of the public, having given up on attempting to understand the reality they are actually living in, have instead reasoned that they might at least be able to comprehend the sprawling, meaningless, but at-least-still-finite ›universes‹ presented by DC or Marvel Comics. I would also observe that it is, potentially, culturally catastrophic to have the ephemera of a previous century squatting possessively on the cultural stage and refusing to allow this surely unprecedented era to develop a culture of its own, relevant and sufficient to its times. 9

(2011), S. 81-91. Daneben wäre im deutschen Raum Hans-Joachim Backes Studie einschlägig: Under the Hood. Die Verweisstruktur der Watchmen. Bochum 2010. 7 | Stuart Kelly: »Alan Moore: ›Why shouldn’t you have a bit of fun while dealing with the deepest issues of the mind?‹ Alan Moore talks about Fashion Beast, Jacques Derrida and modern superheroes« [https://www.theguardian.com/books/2013/nov/22/alan-moorecomic-books-interview; Zugriff: 11. Oktober 2011]. 8 | Erstaunlicherweise vermag Moore summarisch das Genre und alle heutigen künstlerischen Bemühungen zu kritisieren, obwohl er keinen einzigen Superheldencomic gelesen habe »since I finished with Watchmen« (Stuart Kelly: »Alan Moore«). 9 | Pádraig Ó Méalóid AKA Slovobooks: »Last Alan Moore Interview?« (9. Januar 2014) [https://slovobooks.wordpress.com/2014/01/09/last-alan-moore-interview/; Zugriff: 11. Oktober 2017].

Nowotny: Einführung Im Interview gibt Moore Auskunft über sein bitteres Zerwürfnis mit dem Verlag DC, der bis heute in Besitz der Rechte an den Watchmen ist 10 und diese für Merchandising-Artikel und neue Comicserien nutzt. Das Interview legt Zeugnis von den für die Künstler schwierigen, durch rein ökonomische Interessen diktieren Mechanismen ab, die den Markt für Superheldencomics beherrschen. Moore bekundet die Ambition, für seine ›ernsten‹ und ›erwachsenen‹ Comicwerke wie From Hell (1989 bis 1996, gesammelt 1999) in Erinnerung zu bleiben, und nicht für die in seinen eigenen Augen minderwertigen Arbeiten, die im Auftrag der großen Superheldenverlage entstanden sind. V.1.4 Die nächste Stimme, der Raum gegeben wird, kommt aus der jüngeren Vergangenheit. Um 2000 erlebten Superheldencomics einen erneuten Boom. Junge, oftmals britische Künstler wie Grant Morrison oder Warren Ellis erschienen auf der internationalen Bühne. Ein junger schottischer Künstler, der half, dem Superheldengenre neues Leben einzuhauchen, ist Mark Millar. 2006/07 zeichnete er zusammen mit Steve McNiven verantwortlich für das Comic-Event Civil War aus dem Hause Marvel, das kontrovers rezipiert und 2016 als Captain America: Civil War frei für die Leinwand adaptiert wurde. Schon vorher war er mitverantwortlich gewesen für die Gründung des Ultimate Marvel (später Ultimate Comics) Imprint, ein alternatives Marvel-Setting mit alternativen Versionen der bekannten Superhelden, in denen diese ›erwachsenere‹ Geschichten erleben durften (ab 2000). Millars creator-owned-Comics entstammen ebenfalls oft dem Superheldengenre, so zum Beispiel Wanted (2003/04), die Geschichte einer Dynastie aus Superschurken, oder Superior (2010/12). Auch Millar wirkte an Verfilmungen seiner eigenen Comicserien mit, so vor allem im Fall von Kick-Ass, einer Comic- und Filmserie, die Véronique Sina im Abschnitt VI, Zeitgenössische Forschung, kritisch diskutiert. Millar wurde unter anderem für seine drastischen Gewaltdarstellungen bekannt, mit denen er die Genrekonventionen von Superheldencomics bewusst strapaziert, wie er im hier wieder abgedruckten Interview erläutert. Er positioniert sich dezidiert als nicht-amerikanischer Autor von Superheldencomics: Seine kritische Einstellung zu Autoritäten führt er auf sein schottisches Erbe zurück. Obwohl Millar sich politisch als linksgerichtet bezeichnet, gesteht er eine Faszination für nationalistisch grundierte Helden wie Captain America ein, für »Problemlöser mit Knarre«. Doch Miller will diese Sympathien klar als Spiele der Fantasie verstanden wissen; in der Realität wären Charaktere wie der Captain anscheinend auch für ihn problematisch. Ob eine solch trennscharfe Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität auch von Rezipienten und Rezipientinnen von Millars Comics vorgenommen wird, sei dahingestellt. Ergänzt wird diese Sektion in Kapitel V.2 durch Selbstreflexionen über das Superheldengenre in Form von Comics. Als bis in die Gegenwart ökonomisch erfolgreichstes Comicgenre der USA inspirieren und polarisieren die Helden auch in Geschichten und Kunstformen, die – sei es in inhaltlicher oder in verlagstechnischer Hinsicht – nicht dem Genre im engen Sinn zuzurechnen sind. Die drei abgedruckten Comics entstammen nicht den großen Superheldenverlagen. Sie sind auf anderen Wegen publiziert worden und versuchen teilweise, Alternativen zur Hegemonie der Superheldencomics zu entwerfen. V.2.1 Chris Wares Thrilling Adventure Stories ist 1991 als Teil der letzten Ausgabe von Art Spiegelmans und Françoise Moulys Avantgarde-Magazine RAW (ab 1980) erschienen. RAW war die wohl wichtigste Publikation der Bewegung für nordamerikanische alternative Comics 10 | Vgl. zu Moores Streitigkeiten mit DC und der (sehr verschachtelten) Frage der Rechte Shaun Manning: »Alan Moore’s Watchmen Feud With DC Comics, Explained« [https://www. cbr.com/alan-moore-watchmen-feud-dc-comics-explained/; Zugriff: 28. November 2017].

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V. Selbstaussagen und Selbstreflexionen im Medium des Comics in den 1980ern, die sich gegen den Mainstream – und damit vor allem gegen die Superheldenverlage – wendete. Ware gilt heutzutage als einer der arriviertesten Comickünstler und bezieht sich immer wieder produktiv auf die Traditionen des Mediums, insbesondere diejenigen vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit Thrilling Adventure Stories schrieb er sich ein in die Garde der führenden nordamerikanischen und internationalen Avantgarde-Comicszene. Das drei Doppelseiten lange Werk ist gleichzeitig (zumindest rhetorisch) autobiographische Erzählung und formales Experiment. Autobiographische Erzählung ist Thrilling Adventure Stories insofern, als Ware auf der Ebene des reinen Textes episodenhaft Ikonenfiguren seiner Kindheit nacherzählt. Es sind dies der Reihe nach die Mutter, die beiden Großeltern, der beste Schulfreund, fiktive Superheldenfiguren, der Stiefvater, und am Schluss wieder die Mutter, von welcher wir dann erst erfahren, dass sie den Ich-Erzähler letztlich weitgehend allein großgezogen hat. Eine fundamentale Qualität von Comics besteht darin, dass sie mit zwei verschiedenen Codes arbeiten, mit Text und Bild, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen (können). Dies wird im Strip aus Thrilling Adventure Stories höchst eigenwillig ausgespielt, da Text und Bild auf den ersten Blick denkbar wenig miteinander zu tun haben. Die Bildergeschichte spielt auf klassische Geschichten des Golden Age of Comic Books an; sie zeigt einen rechtschaffenen Superhelden, einen verrückten Wissenschaftler, ein weibliches Opfer und so weiter, und so fort, gemeinhin traditionelle Geschlechterrollen und ein holzschnittartiges Verständnis von Gut und Böse. Das textuelle Narrativ mit seinen Anklängen an Rassismus und Kindesmissbrauch jedoch lässt eine verstörende Lesart zu. Es behandelt die Beziehung eines Jungen zu drei männlichen Bezugspersonen: zu seinem Grossvater, seinem besten Freund und seinem Stiefvater, wobei es Anspielungen darauf gibt, dass der Stiefvater oder gar beide der älteren Männer sich an dem Kind sexuell zu vergehen suchen. Große Fragen werden aufgeworfen (»I asked him if he felt weird that we were the only white kids at the party«), bleiben aber auf provokante Art unreflektiert; die Leserin muss weiterdenken, da das Kind durch das Erfahrene überfordert ist (»I felt gross so I rolled over and pretended to go to sleep«). Das Narrativ zieht sich durch alle Textfeldtypen des Comics, es mäandriert durch sogenannte caption boxes, durch word balloons, Titelfelder oder sound effects, teilweise finden sich die Buchstaben auf Objekten in der Bildwelt, beispielsweise auf einer Zeitung. Sogar einige onomatopoetische Ausdrücke und narrative Konjunktionen wie etwa ein großes »ANYWAY« sind in diesen Fluss eingebunden. Das Idiosynkratische an Wares Experiment liegt nun gerade darin, dass die Auflösung nicht einfach in der Diskrepanz der beiden Ebenen liegt. Zwar erkennt die Leserin oder der Leser sehr bald, dass Text und Bild auseinandergehen, aber doch gibt es immer wieder Momente, in denen sie sich wieder treffen, überkreuzen, in denen sie scheinbar im Gleichschritt gehen – etwa wenn auf der Bildebene der Superheld ein Kind gerettet hat und auf der Textebene plötzlich vom Verhältnis zwischen dem Ich-Erzähler im Kindesalter und seinem Stiefvater die Rede ist. Durch den Kontrast zwischen den zwei Narrativen könnte man die Bildergeschichte als scheiternden Versuch einer Selbstermächtigung lesen. Ein missbrauchter Junge erzählt seine Geschichte, während er in seiner Imagination ein mächtiger Held in einer im Doppelsinn schwarz-weißen Welt ist. Doch die Textebene, die gemäß einer solchen Lesart der Realitätsebene entsprechen würde, zeugt von totaler Machtlosigkeit und von der himmelschreienden Untauglichkeit männlicher Figuren als Vorbilder. Aus den zwei Narrativen, die nie ineinander überführt werden, kann sich also ein drittes (Meta-)Narrativ über das Genre der Superheldencomics selber ergeben: Ein Narrativ über die mögliche Funktion von Superheldencomics und die Rolle, die sie in der psychischen Entwicklung eines Menschen spielen können. Wares

Nowotny: Einführung komplexer Strip macht so nicht zuletzt auf die aktive Rolle aufmerksam, die der Comicleser und die Comicleserin in der Konstitution von Sinn spielen. Letztlich ist die Verflechtung von Superheldengeschichte und Vater- beziehungsweise Mutterfigur ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch Wares Werk zieht. Einem breiteren Publikum bekannt ist dieses Motiv insbesondere seit Wares bisher erfolgreichster graphic novel, Jimmy Corrigan – The Smartest Kid on Earth (2000), in welcher der gleichnamige Protagonist sich auf die Suche nach dem unbekannten leiblichen Vater macht. In seinen Tagträumen begegnet Jimmy immer wieder Superhelden, wird sogar selber teilweise zu einer Heldenfigur. Während Thrilling Adventure Stories von Anfang an den Ton der Ich-Erzählung anschlägt, ist es in Jimmy Corrigan erst das sogenannte – eigentlich überhaupt nicht peritextuelle, sondern völlig ins Werk integrierte – Nachwort, in welchem das Motiv wieder durchscheint. Das Zusammenspiel von Fiktion und (dort zusammengefasster) Autorenbiographie ist auch ein Aufflackern dieses Motivs, nämlich der Verquickung von Comics-Affinität einerseits und der Suche nach dem eigenen leiblichen Vater andererseits.11 V.2.2 Auf Wares experimentellen Strip folgt ein Comic-Strip aus Diane DiMassas Serie Hothead Paisan. Die Protagonistin, Hothead, kann Superhelden sehr wenig abgewinnen; sie sind ihr weder Vorbilder noch eröffnen sie die Möglichkeit einer Selbstermächtigung. In Superman sieht Hothead bloß ein überholtes, ja schädliches Geschlechter- und Gesellschaftsmodell, das es abzuschaffen gelte. Die Homicidal Lesbian Terrorist Hothead scharte nach ihrem ersten Auftritt in DiMassas Comics schnell eine loyale Fangemeinde um sich. Die Figur entstammt den UndergroundComics der frühen 1990er und wurde über ein Zine (kurz für magazine oder fanzine) verbreitet. Hothead reagiert auf die Ungerechtigkeit der Welt mit schäumender Wut; sie kämpft energisch gegen Marginalisierung und Unterdrückung und insbesondere gegen die Diskriminierung der LGBTA-Gemeinschaft (»Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Asexual«; im deutschen Sprachraum manchmal LSBTTIQ), der Menschen also, die nicht einem heteronormativen Geschlechterbild entsprechen bzw. entsprechen wollen. Als Sprachrohr der Marginalisierten ist Hothead äußerst sensibilisiert für Ausgrenzungsstrategien, die sie eben auch in Superheldencomics am Werk sieht. Im hier abgedruckten Strip tritt Superman auf, aber er gibt eine mehr als klägliche Figur ab, ganz anders als in der Comicserie, die ihm bis heute namentlich gewidmet ist. Als »dead, outmoded patriarchal propaganda« wird er, dessen Kostüm nun das prototypisch männliche Bild eines Spermas anstatt das berühmte S ziert, in die Kanalisation verfrachtet. Niemand brauche ihn und seine »stupid nerd followers«. Supermans Versuch, auf Superheldinnen als potenzielle Vorbilder für Frauen wie Hothead zu verweisen, wird nicht goutiert: Diese seien nichts als »tits« und »ass«, also Sexualobjekte für eine supplierte männliche Leserschaft. Eine Zeichenanleitung für Superheldinnen mit überdimensionierten Brüsten und lächerlich schmaler Taille findet sich denn auch hilfreicherweise als »cartoonist’s tip« am unteren Bildrand des Strips, der keine geschlossene fiktionale Realität aufbaut. In Hotheads Universum tragen weibliche Vorbilder keine Bikinis, »unless they’re men«, wie sie in einer Inversion geschlechtlicher Erwartungen meint. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Superman zuletzt mit einer Beleidigung in die Kanalisation entlassen wird, die deutlich geschlechtlich, sogar sexistisch kodiert ist − er trage »little fairy boots«. »Fairy« ist eine weit verbreitete Beschimp-

11 | Vgl. Jacob Brogan: »Masked Fathers. Jimmy Corrigan and the Superheroic Legacy«, in: David M. Ball/Martha Kuhlman (Hg.): The Comics of Chris Ware. Drawing Is a Way of Thinking. Jackson 2010, S. 14-27.

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V. Selbstaussagen und Selbstreflexionen im Medium des Comics fung für Homosexuelle.12 Der hypermännliche Superman als Relikt des Patriarchats wird also in einer Umkehrbewegung, die durchaus als heikel gewertet werden kann, selber zum ›Schwulen‹, dadurch abgewertet und zuletzt entsorgt. V.2.3 Beschlossen wird die Sektion durch einen Ausschnitt aus David Bollers Tell (Band 1, 2010; Band 2, 2014), einer Comicserie, die den Schweizer Nationalmythos in einen Superheldencomic übersetzt und gleichsam im doppelten Wortsinn überzeichnet. Als kulturell spezifische Variation einer Superheldenerzählung eignet sich Tell, um Fragen der Übersetzung, der Reproduktion und der Ironisierung US-amerikanischer Narrative aufzuwerfen. Boller absolvierte die Joe Kubert School of Cartoon and Graphic Art in Dover (New Jersey) und arbeitete nach dem Abschluss für die größten US-amerikanischen Comicverlage, für Marvel und DC ebenso wie für Wildstorm. Nach Übersiedlung in die Schweiz (2008) gründete Boller eine Onlineplattform für Webcomics und einen Verlag namens Zampano. In der Regel veröffentlicht Boller seine Werke parallel auf Deutsch, Englisch und Französisch. Als Auftragsarbeit erschien 2014 eine von Boller gezeichnete Comicadaption von Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit. Der Comic Tell ist eine höchst schweizerische Adaption (und Transformation) eines Superhelden, die zahlreiche lokalspezifische Bezüge aufweist. Formalästhetisch handelt es sich um einen lupenreinen Vertreter des Superheldengenres. Mit seiner hypermaskulinen Physis, seiner Armbrust und seiner altertümlichen Kleidung erinnert Tell zum Beispiel an den Helden Thor aus den Marvel-Comics, der seinerseits durch die nordische Mythologie inspiriert ist. Boller adaptiert den Tell-Mythos für eine Leserschaft, die mit den Strukturen archetypischer Superheldengeschichten vertraut ist: Die superheroischen Fähigkeiten Tells sind Resultat wissenschaftlicher Experimente, ähnlich wie zum Beispiel im Fall Hulks oder Spider-Mans. Tells Sohn tritt als Sidekick oder jugendlicher Begleiter und Helfer auf, als stereotyper Bösewicht oder supervillain fungiert Gessler, der quasi-magische Fähigkeiten besitzt und unsterblich ist. Obwohl die Geschichte in einem dystopischen Zürich spielt, darf Tell Gauner bekämpfen, die in ethnischer Hinsicht nicht weiß codiert sind. Der Comic bleibt ambivalent: Tell kann als ironisches Spiel mit klischierten Superheldennarrativen gelesen werden und dadurch den Keim der Kritik in sich tragen. Ebenso gut mag der Leserschaft jedoch sauer aufstoßen, dass der Comic beispielsweise bestimmte Männlichkeitsbilder und regressive, gewaltorientierte Vorstellungen von Heldentum weiter transportiert.

12 | Vgl. z.B. das Lemma ›Fairy‹ im Cambridge Dictionary; »offensive: a gay man« [http:// dictionary.cambridge.org/de/worterbuch/englisch/fairy; Zugriff: 10. Oktober 2017].

V.1 Selbstaussagen

Unsere neue Mythologie* Stan Lee und George Mair 1

Seitdem er 1961 als Redakteur und Autor seine Karriere startete, hat Stan mit Künstlern wie Steve Ditko zusammengearbeitet und mit ihnen monatlich mehrere unterschiedliche Atlas-Comicreihen wie »Journey into Mystery«, »Tales of Suspense«, »Tales to Astonish« und »Strange Tales« entworfen. Eines ihrer Markenzeichen war Stans Bemühung, die Geschichten mit überraschende Enden à la O. Henry auszustatten und nach Möglichkeit mit Ironie. So erzählte er die Geschichte »I Know the Secret of the Flying Saucer« aus der Ich-Perspektive eines Marsmenschen, der gerade in einem Schwarm fliegender Untertassen zur Erde vordringt. Als die Untertassen landen, scheinen diese keine Besatzung zu haben. Erst am Ende wird dem Leser klar, dass die Eindringlinge vom Mars die fliegenden Untertassen selbst sind. In der Regel schrieb Stan für jede der unzähligen kleinen Geschichten zuerst die Haupthandlung und fügte später, sobald sie fertig illustriert waren, die fertigen Dialoge ein. Dieser Arbeitsaufwand war Teil von Stans Bemühungen darum, sich von den herkömmlichen, schablonenhaften Comicstrips loszureißen. Er war dennoch rastlos und blieb irgendwie unzufrieden. Mehr denn je dachte er darüber nach, wie er den Job bei Atlas kündigen könnte. Zu Anfang der frühen 1960er wurde mein Drang, das Feld der Comicbücher zu verlassen, stärker als je zuvor. Die unzähligen Monstergeschichten, die zu jener Zeit den Großteil unserer Veröffentlichungen ausmachten, begannen mich und wahrscheinlich auch die Leser zu langweilen. Die Ausgaben verkauften sich nicht mehr in so großen Auflagen, wie es früher der Fall gewesen war. Soweit ich es beurteilen konnte, steckte die Comicindustrie in Schwierigkeiten. Es gab einfach nichts Neues, was das Interesse der Leser hätte wecken können. Mir kam es vor, als ob wir immer bloß dasselbe täten, immer und immer wieder. Und das weder mit der Aussicht auf eine finanzielle Belohnung, noch mit dem Versprechen kreativer Erfüllung. Aber wie so häufig kann ein kleines, fast unbemerktes, zentrales Ereignis den Lebenslauf einer Person komplett verändern. Dieser Schlüsselmoment ereignete sich bei einem Golfspiel zwischen Martin Goodman und Jack Liebowitz, dem Herausgeber von National Comics. *  Lee, Stan, und George Mair: Excelsior! The Amazing Life of Stan Lee. New York: Touchstone 2002. Auszug. Übersetzt von Yvonne Knop.

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V.1 Selbstaussagen

Liebowitz erwähnte Martin gegenüber beiläufig, dass eine neue Reihe von National mit dem Namen The Justice League of America, in der Superman, Batman und Wonder Woman zusammen kämpften, sich überraschend gut verkaufte. Er dachte, dass dies auf ein neues Leserinteresse im Superheldengenre hindeuten könnte, welches besonders auf Superheldenteams ausgerichtet war. Mehr brauchte Martin Goodman gar nicht zu hören – er war einer, der sich nie eine gute Gelegenheit entgehen ließ. Wir hatten zu dieser Zeit fast alle unsere Superheldenreihen aufgegeben, aber Martin wusste genau, wann es an der Zeit war, aktiv zu werden. Kaum war er ins Büro zurückgekehrt, wollte er mich sehen. »Stan,« sagte er aufgeregt, »kannst du dir ein Superheldenteam wie die Justice League ausdenken?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu, »du könntest unseren alten Human Torch und Sub-Mariner und vielleicht auch Captain America verwenden. Das nimmt dir die Aufgabe ab, neue Figuren zu erschaffen.« Martin war ein unvorstellbar kreativer Kopf. Wie der Zufall es wollte, war dies genau der Nachmittag, an dem ich vorhatte, ihm zu sagen, dass ich mit dem Gedanken spielte, die Firma zu verlassen. Ich hatte letztendlich entschieden, dass ich zu alt dafür geworden war, Tag für Tag bis zum Abwinken einfache Comicbücher herauszubringen. Es wäre vielleicht erträglicher gewesen, wenn ich – auch wenn es widersprüchlich klingen mag – realistischere Fantasysachen hätte schreiben können. Aber Martin war nicht von seiner Meinung abzubringen, dass die Comicstrips so wie immer aussehen sollten, da er kleine Kinder als Leserschaft im Sinn hatte. Er wollte daher einfache Handlungen haben, die in einer Sprache verfasst waren, welche von Sechs- oder Siebenjährigen verstanden werden konnte. Wenn möglich, sollten keine Wörter mit mehr als zwei Silben vorkommen und es sollten bloß keine Versuche unternommen werden, Ironie, Satire oder philosophische Botschaften einzubringen. Ich hatte oftmals das Gefühl, dass wir Geschichten schrieben, die nur knapp über dem Niveau von: »Du siehst Dick und Jane. Du siehst Dick rennen« waren. Die Euphorie, die Martin dafür auf brachte, eine neue Superheldenreihe zu erschaffen, überraschte mich. Er war wegen der Sache so aufgedreht, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihm zu sagen, dass ich gehen wollte. Ich entschloss mich dafür, alles bis zum nächsten Tag ruhen zu lassen. In dieser Nacht erzählte ich Joanie von meiner Entscheidung. Sie unterstützte mich, aber dann fügte sie etwas hinzu, an das ich niemals gedacht hatte. »Weißt du, Stan, wenn Martin dich eine neue Superheldengruppe erschaffen lassen möchte, könnte das deine Chance sein, das zu tun, was du immer tun wolltest. Du könntest dir Handlungen einfallen lassen, die mehr Tiefe und Inhalt haben. Du könntest Figuren erschaffen, die interessante Persönlichkeiten haben, die wie echte Menschen sprechen.« Ganz aufgeregt durch ihren eigenen Enthusiasmus, hielt sie für einen Moment inne, um ihren Atem wiederzuerlangen. Dann fuhr sie fort: »Es könnte dir sehr viel Spaß machen, ganz neue Helden zu erschaffen und sie in einem anderen Stil schreiben zu können. In dem Stil, den du immer haben wolltest, einer, der vielleicht ältere Leser anspricht, aber auch junge.« Anschließend sagte sie etwas, dass mir schon die ganze Zeit hätte klar sein sollen: »Vergiss nicht, du hast nichts zu verlieren, wenn du das Buch so machst, wie du es willst. Das Schlimmste, das passieren könnte, ist, dass Martin dich feuert.

Lee/Mair: Unsere neue Mythologie

Aber du wolltest doch eh kündigen. Also, wo ist das Risiko? Du kannst es wenigstens versuchen.« Das war es. Ich hatte mich entschieden. Ich würde so lange bei Atlas bleiben, bis ich dieses neue Buch vollendet hatte, und wollte jetzt erst mal schauen, was passiert. Stans eigener Enthusiasmus begann überzusprudeln, was dazu führte, dass ein neues Konzept und eine neue Richtung nicht nur für die Firma, sondern für die gesamte Comicindustrie überhaupt entstand. Dies war das Ergebnis eines langen kreativen Reifeprozesses, welcher die Welt der Comics für immer verändern sollte. Ich kann mich immer noch an die Spannung erinnern, die sich in mir bemerkbar machte. Joanie hatte recht. Ich hatte nichts zu verlieren. Ich würde also das neue Buch nach meinen Vorstellungen entwerfen. Sollte Martin es nicht mögen, würde ich einfach sagen: »Good-Bye Comics«. Ich würde das vermutlich gar feiern. Falls es aber funktionieren sollte, würde ich mich vielleicht mehr reinhängen und schauen, was alles noch so kommt. Die Hauptsache war, nicht das Buch zu kopieren, an welchem National gerade arbeitete. Klar versuchte ich, genauso wie sie ein Superheldenteam zusammenzustellen, aber ich musste sicherstellen, dass dieses Team keinem vorangegangenen gleichen würde. Für einmal wollte ich Geschichten schreiben, die nicht die Intelligenz älterer Leser beleidigen sollten, Geschichten mit interessanten Darstellungen, realistischeren Dialogen und Handlungen, die nicht schon tausendfach wiederverwendet worden waren. Vor allem aber sollten es Geschichten werden, die sich nicht an den Comicklischees der letzten Jahre festklammern würden. Der vielleicht wichtigste Faktor war, dass ich versuchen könnte, Geschichten zu schreiben, an denen ich tatsächlich selber viel Spaß hätte. Aber wie? Es brauchte ein paar Tage, an denen ich Millionen Notizen vor mich hinkritzelte und sie immer wieder durchstrich, bis mir letzten Endes vier Figuren einfielen, die zusammen ein gutes Team abgäben. Damit meinte ich nicht nur, dass ihre Kräfte sich gut ergänzen würden. Ich meinte auch, dass ihre Persönlichkeiten interessante und amüsante Dialoge möglich machen würden. Ich wollte sie mir als reale, lebendige, atmende Individuen vorstellen, deren private Beziehungen für die Leser und, was mir genauso wichtig war, für mich selbst interessant sein können. Ich war schon immer der Meinung, dass die eigentliche Comichandlung vergleichsweise einfach zu schreiben ist, sobald die Figuren in meinem Kopf klar festgelegt sind. So verhielt es sich auch mit den Fantastic Four, wie ich sie ab jetzt nannte. Also notierte ich zuerst einen Umriss der Geschichte, der die grundlegende Beschreibung aller Figuren und eine etwas unkonventionelle Handlung beinhaltete. Diesen Umriss gab ich anschließend dem mir am meisten vertrauten und sehr zuverlässigen Künstler, dem unglaublich talentierten Jack Kirby. Das Ergebnis war die erste Ausgabe von The Fantastic Four, die im November 1961 erschien – und was folgen sollte, war so fantastisch wie der Titel selbst.

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V.1 Selbstaussagen

Herkömmlicherweise hatten Comicgeschichten sehr simple Handlungen. Bei den Fantastic Four hingegen standen Individualität und Charakter der Helden im Mittelpunkt. Die Geschichte baute darauf auf, wie die Figuren, die alle über eine andere Persönlichkeit verfügten, auf die Schwierigkeiten und Situationen reagierten, in welche sie hineingerieten. Obwohl Stan es genoss, Geschichten zu schreiben, die durch die Figuren vorangetrieben wurden, hätte er sich niemals träumen lassen, dass sie sich solchermaßen durchsetzen würden. Keiner konnte einen Comicstrip so zeichnen wie Jack Kirby. Er war nicht nur ein außerordentlicher Künstler, sondern auch ein hervorragender visueller Geschichtenerzähler. Ich brauchte nur zu sagen: »Schau mal Jack, hier ist die Geschichte, die du erzählen sollst,« und wenig später brachte er mein Konzept wieder – zusammen mit unzähligen originellen Zusatzelementen, die er sich selbst ausgedacht hatte. Ich hatte immer das Gefühl, dass er auch ein guter Filmemacher hätte werden können. Er wusste genau, wann man eine Fernaufnahme und wann eine Nahaufnahme zeigen musste. Er hat nie eine Figur gezeichnet, die nicht interessant ausgesehen, eine Pose gestaltet, die nicht dramatisch gewesen wäre. Nahezu alle seiner Panels hatten etwas, worüber man staunen konnte. Es hat schon immer Künstler gegeben, die sich mehr darauf konzentrieren, eindrucksvolle Illustrationen zu erschaffen, anstatt darauf Wert zu legen, die Geschichte auf eine klare, stringente Art und Weise visuell zu erzählen. Jack war keiner von ihnen. Mit seiner beeindruckenden Kunst schaffte er es, eine Geschichte so detailreich darzustellen, dass man ihr fast schon folgen konnte, ohne die Worte zu lesen. Anhand der Hauptfigur Reed Richards kann man sehr gut erkennen, wie sich Stans Superhelden maßgeblich von anderen unterscheiden. Anstatt ein unbesiegbarer, muskulöser, allmächtiger Adonis zu sein, hatte dieser Superheld menschliche Schwächen. Trotz Richards Fähigkeit, seinen Körper in jede erdenkliche Form zu bringen, war er immer noch menschlich genug, ein langatmiger Langweiler zu sein, wenn er den anderen etwas erklärte. Stans Vorgehensweise bei der Erschaffung der obligatorischen weiblichen Figur war ebenfalls andersartig, realistisch und seiner Zeit voraus. Er weigerte sich, sie bloß als eine Partnerin vorzustellen, die nichts von der wahren Identität des Helden weiß. Er machte sie sogar zur Verlobten von Reed Richards und zu einem kämpfenden Mitglied des Teams. Tatsächlich kannten sich bei den Fantastic Four alle Mitglieder und sie waren der Öffentlichkeit im Großen und Ganzen bekannt. Kurz gesagt, Stan erschuf ein Superheldengenre und eine Welt, wie er sie haben wollte – nicht wie andere sie sahen und nicht unbedingt so, wie es viele Male zuvor getan wurde. Was die Helden in FF (wie wir das Buch nannten) anbelangt, war es mir wichtig, dass sie alle verschieden sein würden. Ich wollte genügend Varietät haben, damit sie sich auch mal würden streiten können. Darüber hinaus gab ich jedem von ihnen seine je eigene Superkraft, die auf kosmische Strahlung zurückzuführen war. Der Anführer der Gruppe war Reed Richards, der seinen Körper wie Gummi biegen und dehnen konnte. Er wurde später als Mr. Fantastic bekannt. Ein Name, den er sich, ganz bescheiden, gleich selber gab. So weit hergeholt es auch war, stellte ich ihn mir auch als den besten Forscher der Welt vor, der aber so schwafelte und von sich selber überzeugt war, dass er einem Langweiler sehr nahe kam. Er erklärte

Lee/Mair: Unsere neue Mythologie

nie etwas in unter zehn Wörtern, wenn er es auch in hundert tun konnte. Seine scheinbare Wichtigtuerei ging den anderen drei oft auf die Nerven. Er war mir also sehr ähnlich, obwohl er ein Held war. Das heißt, dass er fast perfekt war. So gut wie jeder Superheldencomic braucht eine weibliche Figur, so wie eigentlich jeder Mann eine Frau braucht. Ich wollte nicht unbedingt mit den Traditionen brechen. Unsere Heldin war Sue Storm, welche die Kraft hatte, sich unsichtbar zu machen und einen unsichtbaren Schild um alles und jeden herum zu erzeugen. Wie hätte ich sie anders nennen können als ›Invisible Girl‹? Sie stellte also einen festen Bestandteil der Fantastic Four dar und war gerade nicht bloß die Quotenfrau, die dann auf jeder Seite noch aufs Neue gerettet werden muss. Sie war auch Reeds Verlobte, was eine Abweichung von üblichen Superheldengeschichten war. Daneben gab es Johnny Storm. Nein, ich hatte nicht die Fähigkeit verloren, mir verschiedene Nachnamen auszudenken. Es stellte sich heraus, dass Johnny der übermütige Bruder von Sue war. Später in der Reihe, nach der Hochzeit von Sue und Reed, wurden Johnny und Reed zu Schwägern. Wie viele andere Comicteams zu dieser Zeit beinhalteten Beziehungen wie diese? Er war an Carl Burgos’ ›Human Torch‹ angelehnt und ich verlieh Johnny dessen Fähigkeiten, in Flammen aufzugehen und zu fliegen. Der Hauptunterschied zwischen dem alten und dem neuen Torch ist, dass Burgos’ Version ein Android war und meiner ein menschlicher Teenager. Aber eigentlich hatte ich dieses Motiv einfach immer schon gemocht und hatte nun das Gefühl, dass es an der Zeit war, es zurückzubringen. Zu guter Letzt habe ich mir meine Lieblingsfigur der Gruppe ausgedacht, auch wenn der ausschweifende, manchmal auch spießige Reed Richards wahrscheinlich derjenige ist, der mir am meisten ähnelt. Die kosmische Strahlung verwandelte den Piloten Benjamin J. Grimm in eine superstarke, monsterähnliche Figur mit einer jähzornigen Persönlichkeit. Weil mir die Ideen für Namen ausgingen, nannte ich ihn einfach ›The Thing‹. The Thing war wahrscheinlich der erste Superheld, der nicht nur nicht attraktiv war, er war sogar geradezu grotesk. Dazu hatte er ein angespanntes Gemüt und stritt, kämpfte und bekriegte sich mit Human Torch, der nichts lieber machte, als seinen muskulösen Teamkollegen zur Weißglut zu treiben. The Thing diente und dient im Strip noch immer zwei großartigen Zwecken. Erstens sorgt er als ein gewöhnlicher Mann, der zu einem monströsen Sonderling wird, für Pathos. Das Schicksal hat es mit ihm bei der Verteilung der Superkräfte nicht gut gemeint. Zweitens fügt er durch seine negative Einstellung eine humoristische Komponente hinzu. Ständig regte er sich auf über Reeds überlange, ja scheinbar unendliche Erklärungen für jede noch so kleine Sache. Immerzu beschwerte er sich darüber, wie der jugendliche Johnny mit seinen Superkräften protzte und darüber, dass er sich weigerte, irgendetwas ernst zu nehmen. Was Sue anbelangt, konnte The Thing nicht verstehen, was eine solch zauberhafte Kreatur wie sie nur in einem langweiligen Akademiker wie Reed sehen konnte. Wie man sehen kann, habe ich versucht, sie wie echte Menschen mit all ihren Schwächen darzustellen. Aber darüber hinaus wollte ich zeigen, dass sie sich, trotz all dem Gezanke, aufrichtig umeinander sorgten, so wie es in jeder wirklichen Familie ist. Sie waren die Art von Team, über das ich schon immer schreiben wollte. Helden, die alles andere als perfekt waren. Helden, die nicht immer gut miteinander auskamen, aber Helden, auf die man zählen konnte, wenn es hart auf hart kam.

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Um alles so realistisch wie möglich darzustellen, sorgte ich dafür, dass Johnny sogar einmal androhte, das Team zu verlassen, weil er der Meinung war, aufgrund der ganzen Risiken für seine Heldentaten bezahlt werden zu müssen. Oder hat das The Thing gesagt? Es ist schwer, mich nach all den Jahren noch daran zu erinnern. Reed war, mal abgesehen von seinem spießigen Charakter, der perfekte Anführer: Besonnen, schnelldenkend und mutig. Als er Sue heiratete, wirkte es so, als ob dies das Natürlichste der Welt sei. Nur so zum Spaß veranlasste ich Jack Kirby dazu, uns beide als Gäste der Hochzeit darzustellen. War diese Umwandlung des Konzepts von Comichelden zu radikal, um funktionieren zu können? Das war die Frage, die sich Stan und natürlich auch seine Kollegen und Martin Goodman stellten. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Was würden die Comicleser denken? Die Antwort kam schnell und war sehr eindeutig: Sie liebten den neuen Ansatz und machten die neue Reihe über Nacht zu einem Hit. Noch bevor die Verkaufszahlen bekannt wurden, wussten wir schon anhand der enthusiastischen Nachrichten, die wir bekamen, dass wir einen großen Erfolg erzielt haben mussten. Nachdem die erste Ausgabe auf den Markt kam, wurden wir von Fanbriefen überhäuft und es wurden von Ausgabe zu Ausgabe immer mehr. Das war meine Motivation dafür, eine Seite für Fanbriefe in unsere Comics aufzunehmen. Damals begann ich auch, meine »Soapbox«-Kolumne zu schreiben. Aber so großartig ein Superheld oder eine Gruppe von Superhelden auch sein mag, die Geschichten enden meist flach und unbefriedigend, wenn man nicht ein weiteres entscheidendes Element hinzufügt. Ich meine das wohl wichtigste Element überhaupt. Ich beziehe mich natürlich auf die unverzichtbare Präsenz eines charismatischen Super-Schurken. (Ich war mir nie ganz im Klaren darüber, ob Super-Schurke [super villain] in einem oder zwei Wörtern geschrieben wird. Ich werde es mit zwei Wörtern versuchen. Das nimmt mehr Platz ein und wirkt so vielleicht bedeutender.) Ich glaube, wir haben mit dem ersten bedeutenden Super-Schurken, den ich für die Fantastic Four erschuf, viel Schwein gehabt. Ich wollte jemanden haben, der den gleichen Intellekt wie Reed Richards hatte und nicht bloß ein superstarkes Monster war, das einfach nur zerstören konnte. Er sollte auch bunt sein. Jack Kirby erschuf ein absolutes Meisterwerk, als er das unverwechselbare Bild des Schurken erschuf, welcher bald der Favorit der Comicszene werden würde. Der Mann, den man liebt und hasst – der König von Latveria, der Meister der Robotik, der Mann in der Universalrüstung – der unglaubliche, der rätselhafte, der unbezwingbare – Dr. Victor von Doom. Ich dachte, es wäre amüsant, Doom zum König von Latveria zu machen. (Nachdem ich mir den Namen Latveria ausgedacht hatte, habe ich so oft von dem Ort geschrieben, dass ich mittlerweile schwöre, ihn auf einer Landkarte finden zu können.) Als König kann unser royaler Bösewicht in die USA kommen, seine Untaten vollbringen und dann diplomatische Immunität einfordern. Ziemlich cool, oder? Er interessiert sich nicht für alltägliche Dinge wie Banküberfälle oder Kreditkartenbetrug. Oh nein. Doom will ganz einfach nur die Welt beherrschen. Das bringt uns zu einem interessanten Gedanken. Stellen wir uns vor, du oder ich gehen bei Rot über die Ampel und werden beschuldigt, unachtsam eine Straße überquert zu haben. Dafür könnten wir einen Strafzettel bekommen. Aber würden

Lee/Mair: Unsere neue Mythologie

wir zu einem Polizisten gehen und ganz frech verkünden: »Officer, ich habe die erklärte Absicht, die Welt zu erobern,« dann gäbe es nichts, was er dagegen tun könnte. Dafür kannst du keinen Strafzettel bekommen, denn in keinem Strafregister wird »Die Welt erobern« aufgeführt. Seht ihr, warum ich den alten Doc Doom so gerne mag? Obwohl er ein echter Schurke ist, hatte ich jede Menge Spaß mit ihm. Genau genommen, aber sagen Sie das nicht weiter, gebe ich zu, dass das Schreiben von Schurkengeschichten am meisten Spaß macht. Jetzt, wo wir einen solchen Erfolg gelandet hatten, dauerte es natürlich nicht lange, bis Martin mich darum bat, eine weitere neue Superheldenreihe zu entwerfen, um an den Erfolg der Fantastic Four anzuknüpfen. Ich entschied mich dazu, mein Glück herauszufordern und etwas noch Unkonventionelleres zu entwerfen. Es war im Mai 1962. Ich erinnere mich noch ganz genau an Martins Reaktion, nachdem er fragte, welche Superhelden in der nächsten Reihe vorkommen würden. Sie hätten mal sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm sagte, dass die nächste Reihe nicht ein Superheldenteam behandeln würde. Es würde nur einen Superhelden geben. Oh, und ganz nebenbei – der Held sollte ein Monster sein. Er drehte sich langsam um und ging kopfschüttelnd weg. Ich bin mir noch immer sicher, dass er dachte, ich treibe einen Scherz mit ihm. Ich hatte wohl Glück, dass er nicht wusste, wie ernst es mir war. Ich habe mir tagelang den Kopf zerbrochen auf der Suche nach einer neuen Art von Superheld, nach etwas, das es nie zuvor gegeben hatte. Ich entschied mich schließlich dafür, dass der Neue übermenschliche Kräfte haben sollte. Aber ich wollte mit ihm keine Klischees bedienen, so wie mit Superman oder sogar mit unserem The Thing. Ich dachte mir, wäre es nicht spaßig, ein Monster zum Superhelden zu machen? Hey, was könnte ausgefallener sein? Wahrscheinlich kam ich auf die Idee, weil ich schon immer die FrankensteinFilme geliebt habe. Für mich war das Monster immer der Gute. Wir haben alle die Menschenmenge gesehen, die Boris Karloff, der das Monster spielte, die Berge herauf und herunter jagte, bis er komplett ausrastete. Erinnert ihr euch? Er wollte niemals jemanden verletzen. Ich dachte mir also, dass eine Art missverstandenes Monster vielleicht das Richtige wäre. Außerdem hatte The Thing bereits gezeigt, dass Monster beliebt sein können. Er war dasjenige Mitglied der Fantastic Four, das am meisten Fanbriefe erhalten hatte, sogar Tag für Tag. Und sind wir mal ehrlich, hat nicht jeder von uns in Der Glöckner von Notre Dame mit Quasimodo mitgefiebert? Als nächstes dachte ich mir, dass es der Geschichte vielleicht mehr Flexibilität geben würde, wenn er sich immer wieder zurückverwandeln könnte, heraus aus und hinein in den Monstermodus. Warum sollte nicht auch ein Monster eine geheime Identität haben? Das gab es bis dahin nicht, soweit ich weiß. Zumindest nicht in Comics. Die Idee hatte sich in Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde als sehr erfolgreich erwiesen. Ich entschloss mich dazu, einen normalen Mann zu entwickeln, Dr. Bruce Banner, der sich in ein Monster und wieder zurück verwandeln konnte. Wie ihr seht, habe ich ein Faible für Doktoren. Es ist so einfach, sie in diese an Sci-Fi angelehnten Handlungen einzubringen. So weit, so gut, aber wie sollte Banner zum Monster werden? Die Hintergründe sind immer sehr wichtig. Ich hatte schon die Fantastic Four mit kosmischer Strahlung bombardiert, also brauchte ich für dieses Monster etwas Neues. Welche Strah-

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len gibt es denn noch so? Ich meinte, einmal etwas von Gammastrahlung gehört zu haben. Ich hatte keinen Schimmer, was das war, aber das war eigentlich egal. Es klang einfach gut. Also fand ich einen Weg, Banner mit den Strahlen in Berührung kommen zu lassen und siehe da, ein neuer Held war geboren. Natürlich brauchte selbst ein Monster einen Namen. Der Name ist so wichtig, weil man den Kern des Konzepts in ein oder zwei Wörtern ausdrücken muss. Ich wollte einen Namen haben, der einen einschüchternden, gewaltigen Koloss mit einem langsamen Gehirn und enormen Kräften herauf beschwört. Dafür nahm ich zwei Klassiker zur Hand, Noah Websters Lexikon und Rogets Thesaurus. Ich dachte sogar kurz, dass der Name »Thesaurus« selber sehr dramatisch klang, so wie ein Dinosaurier. Aber nein, das schien nicht ganz passend. Ich brauchte einen Namen für dieses monströse, potenziell tödliche, schwergewichtige Tier, das… warte: »schwergewichtiges Tier« [»Hulking Brute«], das ist genau die richtige Bezeichnung. Von da an wusste ich, dass »Hulking« das richtige Adjektiv war. Es brauchte nicht viel, um von »Hulking« zu »Hulk« zu kommen, was wie das dazugehörige Nomen klang. Und so wurde der Hulk geboren oder zumindest der Name. Ich musste die Kreatur selber sehen und so wandte ich mich an Jack Kirby. Jack schaffte es wieder einmal. Ich erinnere mich daran, wie ich zu ihm sagte: »Jack, du wirst glauben, ich bin verrückt geworden, aber kannst du ein gut aussehendes Monster zeichnen oder wenigstens eines, das sympathisch erscheint?« Erst, als ich das sagte, fiel mir auf, wie bescheuert es klingen musste. Aber Kirby konnte einfach nichts entmutigen. Anstatt einfach wegzugehen und zu sagen: »Ich habe keine Zeit für solche Scherze, Lee«, ließ er nur sein typisches leises Grummeln verlauten. Mit einem Nicken und einem Zug an seiner Zigarre lehnte er sich über sein Zeichenbrett und erschuf ein Monster, das so perfekt war, so sympathisch, dass die Leser es sofort akzeptierten. Heute ist Hulk immer noch einer unserer beliebtesten Helden. Ich weiß, Superheldenfans lieben es, wenn ihre Helden und Schurken Kostüme tragen. Ich habe keinen Schimmer, warum, aber es scheint ein Muss des Genres zu sein. Naja, nennt mich einfallslos, aber ich hätte das neue Monster im Leben nicht in ein Kostüm stecken können. Die Leser würden aber dennoch etwas Buntes erwarten. Dann traf es mich wie der Blitz. Anstatt eines bunten Kostüms sollte seine Haut eine ungewöhnliche Farbe haben. Letzten Endes entschloss ich mich dazu, seine Haut grau werden zu lassen. Ich dachte, das sähe irgendwie unheimlich aus. Bedauerlicherweise hatte der Drucker beim Drucken der ersten Ausgaben Probleme, den Grauton auf jeder Seite einheitlich darzustellen. Auf manchen Seiten war seine Haut hellgrau, auf anderen dunkelgrau und auf wieder anderen schwarz. Viel zu verwirrend. Also ließ ich seine Haut in den nächsten Ausgaben grün sein, eine Farbe, mit welcher der Drucker scheinbar weniger Probleme hatte. Auch wenn es sehr spontan war, bereue ich die Wahl nicht, denn Hulks Hautfarbe eröffnete mir viele mögliche Spitznamen, wie der »Jolly Green Giant«, »Ol’ Greenskin«, »Green Goliath« und so weiter. Ich habe es schon immer geliebt, Figuren Spitznamen zu geben, denn sie helfen dabei, dass der Held der Leserschaft in Erinnerung bleibt. Und um ehrlich zu sein erleichtern es mir Spitznamen, mich daran zu erinnern, wer die Figuren sind. Unnötig, zu erwähnen (aber ich werde es trotzdem tun), dass The Incredible Hulk, wie wir die Reihe nannten, von den Fans geliebt wurde und wir einen neuen Hit gelandet hatten.

Lee/Mair: Unsere neue Mythologie

Nach zwei Erfolgen von solchem Ausmaß rückte der Gedanke daran, die Firma zu verlassen, in weite Ferne. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, neue Superhelden zu erschaffen.

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»Die Griechen hatten Götter, wir haben Supermänner«* Interview mit Frank Miller Interview: Nina Rehfeld

Herr Miller, was hat Sie bewogen, den Comic-Klassiker »The Spirit«, den Ihr Freund und Mentor Will Eisner 1940 schuf, für die Leinwand zu adaptieren?1 Miller: Man hat es mir angeboten. Ich lehnte ab – drei Sekunden lang, bevor mir klar wurde, dass es dann jemand anderes machen und womöglich Schlimmes anrichten würde. Sie sind 40 Jahre jünger als Eisner, der eine Ikone der Comic-Welt ist. Wie haben Sie sich kennengelernt? Miller: Ich habe Eisner zum ersten Mal auf einer Straße in Vermont getroffen. Ich hatte eine neue Ausgabe von »The Spirit« gekauft und fuhr mit dem Fahrrad heim, aber ich konnte es nicht abwarten, also machte ich das Heft schon auf der Straße auf. Ich dachte, Eisner sei ein angesagter neuer Künstler, bevor ich mitbekam, dass er eine Institution war. Persönlich haben wir uns Jahre später auf einer Party kennengelernt. Er war der freundlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Wir gerieten in eine Debatte über Comics, und wir haben die nächsten 25 Jahre nicht mehr aufgehört, darüber zu diskutieren, was in Comics geht und was nicht. Sie haben bereits vor drei Jahren gemeinsam mit Robert Rodriguez ihren eigenen Comic »Sin City« adaptiert. Erleben Sie beim Filmemachen eine Befreiung von den Beschränkungen des Comics? Miller: Als ich mit Robert Rodriguez »Sin City« gedreht habe, war ich fast besinnungslos vor Glück über Ton und Bewegung. Hey, ich hatte bis dato Kästchen mit Blasen über dem Kopf der Akteure gezeichnet! *  Miller, Frank: »Die Griechen hatten Götter, wir haben Supermänner.« Interview auf SPIEGEL ONLINE vom 13. Aug. 2008. URL: www.spiegel.de/kultur/literatur/comic-kultautorfrank-​m iller-die-griechen-hatten-goetter-wir-haben-supermaenner-a-571473.html [30. Mai 2013]

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Wie unterscheiden sich Film und Comic für Sie? Miller: Die Feinde des Comic-Zeichners sind Bewegung und Zeit. Deswegen sind die Gesten alle so übertrieben und dramatisch, weil man die Bewegung und den Ausdruck einzufangen versucht. Und Bilder sind statisch – der Leser gibt das Tempo vor. Ein Comic-Amateur wird versuchen, das Tempo zu verlangsamen, indem er viele Worte einbaut, die die meisten Leser dann einfach überlesen. Aber ein Könner verlangsamt das Tempo, indem er das Auge bezaubert. Bill Watterson, der Schöpfer von »Calvin und Hobbes«, ist ein Meister darin, den Leser mit seinen Zeichnungen zu entzücken. Wie erleben Sie das Filmemachen? Miller: Früher war es eine echte Herausforderung, eine Filmszene zu inszenieren, die heißt: Moses teilt das Rote Meer. Heute, im digitalen Zeitalter kann man leichterhand das Unmögliche möglich machen. Und deswegen lautet die Herausforderung für Filmemacher heute: Du musst verdammt nochmal wissen, wann es genug ist. Man muss nicht alles millionenfach zeigen, um Eindruck zu machen. Man muss auch den leeren Raum auf der Leinwand weise zu nutzen lernen. Manchmal wanke ich aus einem Film, als hätte ich zu viel Fettes gegessen – die zweite »Star Wars«-Trilogie zum Beispiel war ein solches Fest des Digitalen. George Lucas hat so viele Grenzen eingerissen, aber irgendwann ging er ein wenig zu weit. (Pause) Jetzt hören Sie sich das an, da sitze ich hier und kritisiere George Lucas! (lacht) Wir sagen es nicht weiter. Miller: Nein, er hat den Leuten gezeigt, was mit digitaler Technologie möglich ist, wie phantastisch sie sein kann. Aber der nächste Schritt für mich ist, sich zurückzunehmen, und sich wieder der Welt von Fritz Lang, Orson Welles, John Houston anzuvertrauen. Wo man einen 20 Meter hohen Saal mit nichts als den Schatten einer Jalousie und einem Schreibtisch und einer Lampe sieht, und es läuft einem ein Schauer über den Rücken. Es ist fast unheimlich, was passiert, wenn man es schafft, das digitale Potential im Zaum zu halten und sich auf die Geschichte zu konzentrieren. Meine Lieblingseinstellung in unserem Film ist, wie der Spirit auf einen Wasserturm klettert. Oben, am höchsten Punkt, stolpert er kurz, und dieses Stolpern ist das Wesen vom Spirit. Dies ist seine Seele! Eisners »The Spirit« ist bislang fast nur Comic-Fans geläufig – muss man die ComicSerie kennen, um den Film zu verstehen? Miller: Mein Ziel ist es, den Zuschauern einen Film zu präsentieren, der für sich steht, für den man Will Eisner nicht zu kennen braucht. Allerdings würde ich mich hüten, jemandem zu sagen, er solle Will Eisner nicht lesen. Eisner hat siebenseitige Geschichten geschrieben, und er schuf Hunderte davon. Diese Geschichten waren wie O. Henry (US-amerikanischer Schriftsteller – d. Red.) in Filmform.

Inter view Miller: »Die Griechen hatten Götter, wir haben Supermänner«

Beim Comic-Zeichnen sind Sie alleiniger Herrscher über Ihr kreatives Universum. Ganz anders dagegen beim Film. Gab es auf dem Set Auseinandersetzungen um die Umsetzung eines Comics? Miller: Ja – in einer Szene ging es darum, dass es günstiger zu filmen wäre, wenn der Spirit in das Bad seiner Jugendliebe, Sand Saref, geht, als wenn sie herauskommt. Ich musste die Anwesenden aufklären, dass der Spirit niemals das Bad einer Dame betreten würde! Sie haben mal gesagt, Sie wüssten nichts Anderes zu tun, als sich mit Superhelden zu beschäftigen. Miller: Moment, das muss ich klarstellen: Ich sprach von Helden. Ich zeichne Ihnen hier und jetzt eine Geschichte mit einem Helden, der niemals die Faust ballt. Meine Karriere beschäftigt sich vielmehr mit der Definition dessen, was ein Held ist. Dies ist eine unerschöpfliche Quelle, und ich sehe keinen Grund, eine andere zu suchen. Sie haben sich mit Gabriel Macht für einen relativ unbekannten Schauspieler in der Rolle des Spirit entschieden. Warum? Miller: Ich wollte ein unbekanntes Gesicht, weil ich niemanden sagen hören wollte: Ah, das neue Tom-Cruise-Vehikel, »The Spirit«. Ich wollte es so machen, wie Richard Donner es mit seinen »Superman«-Filmen gemacht hat – ich möchte euch Superman, beziehungsweise Spirit vorstellen. Aber ich brauchte jemanden, der einen Helden spielen kann, und ich sage Ihnen, es ist gar nicht so leicht, in Hollywood einen echten Kerl zu finden. Ich habe Bruce Willis mal gefragt: »Wie machen Sie es nur, dass sie durch die Tür treten und wirken, als seien Sie einen Kopf größer als ich?« Die Antwort war: »Keine Ahnung. Ich mach’s einfach.« Die Maskulinität eines Helden können nicht viele darstellen. Wie definieren Sie Männlichkeit? Miller: Oh je. Meine ganze Karriere dreht sich um die Antwort auf diese Frage. Es hat etwas mit Selbstvertrauen zu tun, mit der Bereitschaft, Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen. Und mit einer gewissen Ehrenhaftigkeit. Bruce Willis weiß das besser als ich. Clint Eastwood weiß es viel besser als ich. Schauen Sie sich eine alte Episode von »Rauchende Colts« an, und beobachten Sie James Arness als Marshal Matt Dillon. Das wird Ihnen ein Gefühl für das geben, was ich meine. Es gibt schon einen Grund, warum über diese seltsamen Menschen seit so langer Zeit Geschichten geschrieben werden. Comics galten lange als Unterhaltung für Sonderlinge, inzwischen sind sie zur Popkunst gewachsen – auch dank Hollywood. Miller: Nun, das Ganze reicht ja weit zurück. Schon die Griechen hatten ihre Götter, und wir hatten immer unsere Supermänner – Gollums, Riesen, wie auch immer. Aber die Superhelden unserer Zeit sind ja nicht zuletzt schlechter Druckquali-

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tät geschuldet. Comics sind ja Kinder des Zeitungsalters, und sie wurden in einem Druckverfahren hergestellt, das mit Kunstbüchern nicht viel zu tun hat. Damit man also einen vom anderen unterscheiden konnte, mussten sie ihre Logos auf der Brust tragen, und man machte sie heldenhaft, indem man sie in bunte Zirkuskostüme steckte, in denen ihre dicken Muskeln deutlich zu erkennen waren. Inzwischen haben Comics eine ganz andere Bedeutung, sie stehen für einen ausgelassenen, überschwänglichen Blick auf Abenteuer. Schauen Sie sich einen Film wie »Stirb langsam« an – das ist eigentlich ein Comic, wenn auch ohne Strumpfhosen. Hollywoods Comic-Verfilmungen scheinen erwachsen zu werden. Gibt es für Sie einen einschneidenden Moment, an dem sich die Filme von reiner Popcorn-Unterhaltung zu tiefsinnigerer Ware wandelten? Miller: Richard Donners »Superman« in den Siebzigern – denken Sie an den Slogan »You will believe a man can fly!«; oder an den Eröffnungssatz: »This is no Fantasy.« Außerdem gehört dazu »Star Wars«, ein Film, der das große, freihändige Abenteuer zurück auf die Leinwand brachte. Und natürlich »Indiana Jones«. Wenn Will Eisner, der 2005 gestorben ist, Ihren Spirit sehen könnte, was würde er wohl sagen? Miller: Er würde vermutlich murmeln: gute Arbeit, gute Arbeit. Und dann würde er anfangen, mit mir darüber zu diskutieren, dass eine Chirurgin niemals ihr Skalpell in eine Tür werfen würde, weil sie es damit verbiegen könnte. Er war ein sehr spitzfindiger Mann.

Ein Gespräch mit Alan Moore* Interview: Lutz Göllner 1

Erzählen Sie etwas über Ihre Anfänge? Wie kamen Sie zu DC und zu »Swamp Thing«? Moore: Das war zu der Zeit, als ich viel Resonanz für die Sachen erhielt, die ich für das britische »Warrior«-Magazin gemacht habe: »Marvelman«, »V for Vendetta« haben mir viele Preise eingebracht, viel Aufmerksamkeit. Ich glaube, einige der amerikanischen Redakteure, Schreiber und Zeichner hatten »Warrior« regelmäßig gelesen, weil es für sie so neu war. Zu der Zeit war »Swamp Thing« gefährlich nahe an der Einstellung. Es hatte eine verkaufte Auflage von 60-70.000 Stück, das führte damals fast zu Verzweiflungsanfällen. Da sich niemand vorstellen konnte, daß die Situation noch schlimmer werden könnte, hat mich Len Wein, der Schöpfer von »Swamp Thing«, angerufen und fragte mich, ob ich einsteigen möchte. Meine Geschichten in Farbe und 24 Seiten lang – davor hatte ich immer nur sechs Seiten lange Stories geschrieben –, das war unwiderstehlich. Nach meinem Einstieg stieg die Auflage immer um ein paar Tausend Leser pro Monat und wurde zu einem Klassiker in Amerika. Mal eine Zwischenfrage: Als Sie für Marvel UK »Captain Britain« geschrieben haben, hatten Sie da etwas mit Neil Tennant zu tun, der heute bei den Pet Shop Boys ist? Moore: Nee, soweit ich mich erinnere, hatte ich mit dem nie etwas zu tun. Als ich für Marvel geschrieben habe, war Marvel UK ein ziemlich kleiner Verlag, wuchs dann aber sehr schnell. Bei »Swamp Thing« blieben Sie einige Jahre stecken… Moore: Ja, ich habe vergessen, wie viele Jahre. Ich habe so um die 45 Hefte geschrieben, das müßten vier Jahre gewesen sein.

*  Göllner, Lutz: Ein Gespräch mit Alan Moore. Interview auf satt.org. URL: www.satt.org/ comic/01_04_moore_1.html [29. November 2017]

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Das war die Zeit, als DC seine »Crisis«-Maxiserie veröffentlicht hat, in dem das gesamte Superheldenuniversum umgekrempelt wurde. War es schwierig, Geschichten zu schreiben, die mit den Ereignissen in anderen Serien korrespondierten? Moore: Das war zum Kotzen! Alle diese Riesencrossover sind ziemlich blöd und dienen nur dazu, den Leser von seinem Geld zu trennen. Aber einige sind nicht so schlecht wie andere und Marv Wolfmann und George Perez haben mit diesem Ding das Beste gemacht, was sie konnten. »Crisis On The Infinite Earths« ist ohne Zweifel eines der besseren Crossover. Aber es ist schon störend, wenn man in der Mitte einer breit angelegten, ernsten Geschichte ist und plötzlich muß man sich für einige Hefte mit Nebenstories herumschlagen, die von ziemlich großen, ziemlich doofen Charakteren beherrscht werden. Naja, ich habe mein Bestes gegeben, da herumzuschreiben, die Störung zu ignorieren und die negativen Auswirkungen zu minimieren. Ja, es ist immer schwierig, wenn man für einen Verlag arbeitet, dessen Redakteure tief in der eigenen Continuity verstrickt sind und nicht wirklich eine Ahnung davon haben, was kreativ sinnvoll ist. Aber wirkliche Schwierigkeiten mit DC gab es doch erst nach »Watchmen«? Moore: Bei »Watchmen« gab es unglücklicherweise einen Streit um Tantiemen, das hinterließ einen sehr schlechten Geschmack. Es ging um Tantiemen? Moore: Das ist alles nicht mehr wichtig, aber damals ging es um MerchandiseArtikel. Es sollte eine »Watchmen«-Armbanduhr geben und verschiedene andere Dinge. Uns wurde gesagt, wir bekommen davon keinen Pfennig ab, denn das wäre kein Merchandise-, sondern Werbematerial. Wir haben widersprochen und wollten unsere Tantiemen. Schließlich haben wir zwar unser Geld bekommen, aber wir hatten einfach das Gefühl, man will uns behumsen. Und uns wurde klar, daß wir »Watchmen« niemals zurückbekommen würden von DC. Unser Vertrag besagte, daß wir das Buch nur zurückbekommen, wenn es nicht neu aufgelegt wird. Bis zu dieser Zeit gab es niemals ein Comic, das 15 Jahre lieferbar gehalten wurde. »Watchmen« war das erste Comic, das dies geschafft hat. Da gab es noch andere Gründe: So wurde damals gerade ein rigides Zensursystem eingeführt. Bestimmte Comics bekamen durch den Druck fundamentalistischer Christen den Aufdruck »Nur für Erwachsene«. Das war so eine dumme, ziellose und ineffektive Sache – das hatte doch keinerlei Bedeutung. Ich mag das nicht, das ist der erste Schritt zur Zensur. Das wurde ja auch bei Filmen eingeführt und der Effekt: Niemand macht mehr Filme für Erwachsene, weil sie nicht genug Geld einbringen. Das war ein kleiner Punkt, im Kontext mit den anderen Punkten wuchs meine Unzufriedenheit. Ich stand da ganz auf der Seite von Frank Miller und anderen, die verlangten, daß solch ein System nicht ohne Abstimmung mit den Kreativen benutzt werden sollte. DC hat dieses System dann natürlich doch eingeführt, ich war aber der Einzige, der daraus die Konsequenzen gezogen und nicht mehr für DC gearbeitet hat. Ihr Abschied von DC markierte gleichzeitig den Abschied von großen Verlagen. In den folgenden Jahren arbeiteten Sie nur noch für Kleinverlage und schrieben Erzählungen

Ein Gespräch mit Alan Moore

wie den Intellektuellenporno »Lost Girls« und die Jack the Ripper-Geschichte »From Hell«… Moore: … und »Big Numbers« nicht zu vergessen! Das sollte eigentlich mein neues Hauptwerk werden. Aufgrund von unglücklichen Produktionszwängen wurde die Story nie abgeschlossen, aber daraus habe ich dann meinen Roman komponiert. Ich hatte schon immer Arbeit, aber das war alles außerhalb des Mainstream. […] Zurück zu ihren leichteren Werken: Sie haben in diesem Jahr den wichtigsten deutschen Comicpreis, den Max und Moritz-Preis, erhalten… Moore: Habe ich von gehört. Das fand ich sehr nett. … und sie haben ihn teilweise für »From Hell«, teilweise für ihre Superman-Hommage »Supreme« bekommen. Moore: (lacht) Naja, so isses. »Supreme« war ein sehr flüchtiger Job. Ich habe zu der Zeit viele andere Sachen geschrieben und ich hatte das Gefühl, daß ich den neuen amerikanischen Markt gar nicht mehr kenne. Ich hatte sehr lange außerhalb des Mainstream gearbeitet und so ernste Sachen wie »From Hell« und »Lost Girls« geschrieben. Während ich weg war, ist eine ganze Generation von neuen Lesern nachgewachsen. Das war der Boom, ausgelöst durch den Verlag »Image«. Ich habe nicht mehr verstanden, was Comicleser haben wollen. Also habe ich mich angepasst. Dazu war keine große Zeitinvestition nötig, ich konnte trotzdem meinen Roman weiter schreiben. Ich habe versucht, ob ich dieses neue Zeug auch schreiben kann. Eine Zeitlang war ich mit meinen Sachen sehr unzufrieden. Nicht weil ich weniger Arbeit reingesteckt hätte, aber manchmal arbeitet man eben härter und was hinten rauskommt ist trotzdem Müll. Damit muß man leben. Bei »Supreme« hatte mich Rob Liefeld gefragt, ob ich die Serie für einige Hefte übernehmen möchte. Ich zögerte, »Supreme« war kein besonders toller Charakter, er war ein ziemlich billiger und sehr unkomischer Superman-Nachahmer. Aber ich dachte, naja, wenn ich daraus einen wirklich guten Superman-Nachahmer mache, habe ich vielleicht ein bißchen Spaß damit. Vielleicht könnte ich Rick Veitch überreden, einige Retrostories zu machen, das könnte lustig werden. Zunächst hatten wir noch in jedem Heft einen anderen Zeichner, das war nicht gerade hilfreich, aber dann kam Chris Sprouse an Bord und die Sache kam in Fahrt. Jedenfalls bis Rob Liefelds Awesome-Verlag mal wieder Pleite machte. Trotzdem erscheinen seit Jahren immer neue Hefte von Ihnen bei Awesome. Wie viele Skripte hat Liefeld eigentlich noch vorliegen? Moore: Nicht mehr viele: noch ein »Supreme«-Skript, zwei oder drei »Glory«, zwei oder drei »Youngblood«. Wenn er also weiter nur vier Hefte pro Jahr veröffentlicht, hat er noch ein bißchen Stoff.

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War »Supreme« nicht auch eigentlich der Startschuß für Ihr eigenes Label »ABC«-Comics, mit dem Sie erstaunlicherweise wieder bei DC landeten? Moore: Zu der Zeit gab es eine Menge Pleiten am amerikanischen Markt. Rob Liefeld hat sich zwar inzwischen bis zu einem gewissen Grad wieder erholt, aber zeitweise sah es ganz schön schlimm aus. Hat er Sie wenigstens für alle Geschichten bezahlt? Ich habe von vielen Leuten gehört, denen er immer noch Geld schuldet. Moore: Da hab’ ich schon drauf geachtet. Wenn man ihn richtig unter Druck setzt, zahlt er auch. Aber es war zu der Zeit so, daß ich mit Leuten wie Jim Baikie, Rick Veitch, Melinda Gebbie und Chris Sprouse gearbeitet habe und mich für diese Menschen verantwortlich fühlte. Also habe ich mir etwas ausgedacht, damit wir weiter Spaß haben konnten und ich mit den Menschen zusammenarbeiten konnte, die ich mir ausgesucht hatte. Das war das Label »America’s Best Comics« (ABC) mit vier Serien: »Tom Strong«, »Top 10«, »Promethea« und das Anthologie-Heft »Tomorrow Stories«. Ich konnte Jim Lee, den Gründer des »Wildstorm«-Studios und einer der Inhaber von Image, dafür begeistern. Dann hat aber Lee sein Studio an DC verkauft. Jim Lee und sein Geschäftsführer Scott Dunbier kamen extra nach England, um mit mir darüber zu sprechen… Stimmt es eigentlich, daß Sie Großbritannien niemals verlassen? Moore: Ja, ich verlasse England nicht. Ach, wissen Sie, überall, wo ich war, ist es gleich und ich hasse es, zu reisen. Zurück zum Thema: Eigentlich wollte ich nie mehr für DC arbeiten und stand jetzt vor der Wahl. Also sagte ich mir: Ich stehe bei den Zeichnern im Wort und wer weiß, welches Angebot um die Ecke wartet. Die Arbeit an ABC war reiner Mainstream, aber es war bemerkenswerter Mainstream. Wir hatten schöne Comics, wunderbare Zeichner, tolle Cover. Also biß ich in den sauren Apfel. Und DC hat mir versprochen, daß sie mir nicht in meine Arbeit reinquatschen. Sie haben’s dann aber doch getan? Moore: Natürlich haben sie’s dann doch getan. Zunächst war das ja auch ziemlich albern: In der »League Of Extraordinary Gentlemen« hatten wir mit gefakten historischen Anzeigen gearbeitet und in einer Anzeige wurde eine Genitalwaschspritze angeboten, die ich »Marvel Vagina« nannte. Paul Levitz, der Chef von DC, hat das Heft einstampfen lassen, weil er Ärger mit dem Konkurrenzverlag Marvel befürchtete. Ganz albern, wie gesagt. Als nächstes kam der Ärger zwischen Rick Veitch und DC? Moore: Das ist eine Sache zwischen Rick und DC und übrigens inzwischen bereinigt. Aber den nächsten Zwischenfall nehme ich weitaus ernster: In den »Tomorrow Stories« sollte eine Geschichte um den Raketenforscher und Okkultisten John Parsons erscheinen, ein Mann, der wirklich gelebt hatte und dem von dem Sciento-

Ein Gespräch mit Alan Moore

logygründer Lafayette Ron Hubbard die Freundin ausgespannt wurde. Parsons verfolgte die beiden nach Florida und rief dort in einem Zaubererritual einen Sturm herauf, der die Yacht von Hubbard auf Grund setzte. Levitz lehnte die Story ab, weil er Ärger mit der Scientology-Sekte befürchtete. Ich habe eine ganze Nacht lang mit der Anwältin von DC telefoniert, wir sind die Geschichte Wort für Wort durchgegangen und die Hausjuristin hatte nichts daran auszusetzen. Trotzdem blieb Levitz bei seinem »Nein«. Da habe ich ihm angeboten, Hubbards Namen in »LRH« abzuändern, die Antwort blieb »Nein«. Nun wollte DC ja in diesem Jahr den 15. Geburtstag der »Watchmen« ganz groß feiern, mit einer Hardcover-Sonderausgabe, die auch viele Seiten an Sketchmaterial enthalten sollte und einer ganzen Linie von Action Figuren. Da haben Dave Gibbons und ich jetzt unser Veto eingelegt. Das Zeug wird also genausowenig erscheinen wie die »Tomorrow Stories«-Geschichte. Das haben sie davon. Glauben Sie nicht, daß Levitz’ Angst vor Scientology begründet ist? Die Sekte ist in den Staaten sehr mächtig. Moore: Ach Unsinn, genau diese Geschichte, die wie erwähnt wahr ist, wurde schon in DCs »Big Book Of Conspiracies« veröffentlicht. Bei DC weiß einfach die rechte Hand nicht, was die linke macht. Vielleicht haben Sie auch einige der Mächtigen bei DC erzürnt, weil sich alle Ihre ABCComics viel besser verkaufen, als einige der alteingesessenen DC-Serien, wie »Green Lantern«, »Wonder Woman« usw.? Moore: Das vermute ich ja auch. Aber das ist ja wohl kaum mein Problem. Dann sollen sie doch vernünftige Autoren rekrutieren. Für mich war das jedenfalls die letzte Warnung. Noch mal so etwas und ich gehe. Können Sie die ABC-Serien denn zu einem anderen Verlag mitnehmen? Moore: Nein, Teil des Deals war, daß mir lediglich die »League Of Extraordinary Gentlemen« gehört. Alles andere gehört dem Verlag. Aber die können sich gerne einen anderen Autor suchen, wenn ich gehe: Viel Glück dabei. Ich bleibe, weil jeder, der in ABC involviert ist, großartige Arbeit leistet, jeder gibt 100 Prozent. Und das alles ohne Unterstützung von DC! Alles, was ich von DC verlange, ist, dass sie mich beim Herausgeben unterstützen. Wenn sie das nicht tun und weiter ihre Egospiele spielen, dann bin ich weg. Mr. Moore, vielen Dank für das Interview.

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»Ich mag Problemlöser mit Knarre«* Interview mit Mark Millar Interview: Jörg Böckem

Mr. Millar, Sie haben an der Adaption Ihres Kinder-Superhelden-Comics »Kick Ass« mitgearbeitet. Im Film spendieren Sie Ihrer Hauptfigur ein Happy End. Warum diese Milde?1 Millar: Die Werktreue bei der Verfilmung von Comics muss nicht sklavisch sein. In beiden Genres gelten unterschiedliche Regeln – im Comic kommt man mit einem Maß an Düsternis durch, das im Kino wohl das Publikum verschrecken würde. Ich selbst mag Filme mit einem Happy End. Außerdem ist es für mich als Zuschauer irgendwie enttäuschend, wenn der Film zu sehr der Vorlage folgt. Nehmen Sie einen meiner absoluten Lieblingscomics, »Watchmen«. Der Film war in Ordnung, aber ich wusste in jeder Sekunde, was als nächstes passiert. Etwas fehlte, etwas Eigenes, das der Film dem Comic hinzufügt. Sie verbinden in Ihren Comics – angefangen bei »The Authority« über »Civil War« und »1985« bis zu »Kick Ass« – Superhelden-Storys mit einer gehörigen Dosis Realität. Woher kommt dieser Ansatz? Millar: Zum einen schreibe ich gerne über das, was ich kenne. Also ist es nahe liegend, dass meine Lebensrealität in die Comics einfließt. »Kick Ass« basiert zum Beispiel auf meinen eigenen Kindheitsphantasien – ich war besessen von dem Gedanken, selbst ein Superheld zu sein. Heutzutage gibt es viele Autoren, die die Comics, die sie selbst seit Jahrzehnten lesen, so sehr lieben, dass sie eher dazu neigen, andere Comics in ihre Geschichte einfließen zu lassen. Comic ist ein sehr selbstreferenzielles Medium geworden. Das interessiert mich nicht so – anstatt alte, vergessene Figuren aus der Comic-Geschichte wiederzubeleben, male ich mir lieber aus, wie die Figuren, die ich mag, in der Welt, wie ich sie kenne, reagieren würden. Und die Welt auf sie.

*  Millar, Mark: »Ich mag Problemlöser mit Knarre.« Interview auf SPIEGEL ONLINE vom 16. Sept. 2010. URL: www.spiegel.de/kultur/-literatur/comic-autor-mark-millar-ich-mag-pro​ blem​l oeser-mit-knarre-a-718989.html [20. Mai 2013]

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V.1 Selbstaussagen

Woher stammt Ihr Hang zum Politischen und Autoritätskritischen? Millar: Meine Comics sind schon deshalb etwas politischer als der amerikanische Durchschnitt, weil ich Brite und vor allem Schotte bin. Speziell wir Schotten haben ein tiefverwurzeltes Misstrauen gegenüber Uniformen, viel mehr als Amerikaner. Die werden eher dazu erzogen, Autoritäten und Uniformen zu respektieren. In Großbritannien haben wir schon seit langem kein großes Vertrauen mehr in Autoritäten – schließlich haben wir erfahren müssen, wie schnell die alles ruinieren können, sogar ein komplettes Empire. Wieso kommt dieser britische Skeptizismus in den USA dann so gut an? Ihre Comics stehen regelmäßig an der Spitze der Verkaufscharts. Millar: Dieses Misstrauen gegenüber Autoritäten wird in den USA immer populärer, weil die Amerikaner gerade eine ähnliche Erfahrung machen wie die Briten in der Vergangenheit – sie verlieren ihre Großmachtstellung in der Welt. Heute, nach 9/11, dem Einmarsch im Irak und der Immobilien- und Bankenkrise, sind die Amerikaner empfänglicher für Zynismus als jemals zuvor. Vielleicht sind britische Autoren dort deshalb seit Jahren ziemlich erfolgreich. Sie schreiben parallel für Großverlage wie Marvel und arbeiten an eigenen Serien und Figuren. Wo ist mehr Platz für Ihre Überzeugungen und Erfahrungen? Millar: Ich arbeite in beiden Bereichen ähnlich. In »1985«, das ich für Marvel geschrieben habe, verarbeite ich meine eigenen Kindheitsträume – wie wäre es, wenn die Superhelden aus den Comics in meine Realität wechseln würden? Aber natürlich ist eine Serie wie »Kick Ass« näher am Leben, bei eigenen Titeln habe ich einfach mehr Spielraum. Nehmen Sie zum Beispiel Peter Parker, also Spider-Man – als 16-Jähriger hat er mit Sicherheit häufig masturbiert, aber das darf ich in einem Marvel-Comic nicht thematisieren. In »Kick Ass« geht das. Sie sind Linker. Wie verträgt sich das mit der Arbeit an einer reaktionären Figur wie Captain America? Millar: Man muss kein Kryptonier sein, um Superman zu schreiben. Ich liebte es, den Cap zu schreiben; vielleicht gerade, weil ich ein Linker bin. Ich kann mir nicht helfen, ich habe durchaus Sympathien für diese Charlton-Heston-Typen. Ich mag Filme, in denen die Helden einen einfachen Blick auf die Welt und das Leben haben, diese Problemlöser mit Knarre. Im echten Leben ist das übel. Aber es kann durchaus befriedigend sein, das in der Phantasie durchzuspielen. Außerdem sind Sie praktizierender Katholik. Wie passt das mit der Gewalt und dem Sex in Ihren Comics und vor allem Ihrem Misstrauen Autoritäten gegenüber zusammen? Millar: Meine Erfahrung mit dem Katholizismus ist eine andere. Ich bin mit einem liebevollen, weltlichen, sinnesfreudigen und vergebenden Katholizismus aufgewachsen. Mir hat nie jemand erzählt, dass Masturbieren Sünde sei. Der Glaube war einfach Teil des normalen Lebens, alle meine Freunde in Schottland sind Ka-

Inter view Millar: »Ich mag Problemlöser mit Knarre«

tholiken und sie mögen die gleichen Dinge wie ich. Im Übrigen auch die Priester, die ich kenne. Haben die Missbrauchsskandale Ihren Glauben erschüttert? Millar: Nein, nicht den Glauben an sich. Aber den an einige Individuen in der katholischen Kirche. Ich bin dafür, dass diese Menschen, wie alle anderen Verbrecher auch, für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden und ins Gefängnis wandern. Leider passiert das nicht. Die Kirche muss einen Weg finden, damit umzugehen. Sie haben in einem Interview behauptet, Sie hätten als Teenager Mädchen mit Comics beeindruckt. Das hat funktioniert? Millar: Ja, überraschenderweise. Aber nicht nur die Mädchen, ich wollte immer alle für die Comics, die ich liebte, begeistern. Wenn es bei Mädchen funktioniert hat, war das natürlich doppelt großartig! Mit Comics von Alan Moore und Frank Miller ging das ganz gut. Welchen Ihrer Comics empfehlen Sie, um Mädchen zu beeindrucken? Millar: Tatsächlich ist gerade »Kick Ass« bei Mädchen sehr beliebt. Keiner meiner anderen Comics hat so viele weibliche Leser. Keine Ahnung warum, es ist ja eigentlich eine Jungsgeschichte. Also Jungs, probiert es aus! Sie haben einmal gesagt, Filme seien »100-Millionen-Dollar-Werbekampagnen für Comics«. Profitiert die Comic-Industrie tatsächlich von Comic-Blockbustern? Millar: Und ob! Ein einfaches Beispiel – die Hardcover-Ausgabe von »Kick Ass« hat an die 10.000 Stück verkauft. Eine gute Zahl für so ein Projekt, es ist ja nicht Spider-Man. Nach dem Film hat sich die Auflage vervielfacht, das Buch stand auf der »New York Times«-Bestsellerliste. Völlig verrückt! Ohne den Film, die allgegenwärtige Werbung dafür, hätte ich das niemals geschafft. Ich liebe es, wenn Hollywood Werbung für meine Comics macht! Es heißt, Sie würden einen schottischen Superheldenfilm planen? Millar: Ja, ich arbeite gerade daran. Ich werde zum ersten Mal selbst Regie führen. Ein sehr düsterer Superheldenfilm, in Schottland gedreht, mit schottischen Schauspielern. Ein kleiner Low-Budget-Film ohne Special Effects, keine große Sache. Wenn alles gutgeht, beginnen die Dreharbeiten Ende Januar. Wenn es daneben geht, werde ich das Projekt heimlich, still und leise wieder beerdigen. Wenige Tage nach dem Interview gab Mark Millar bekannt, dass der Regisseur Tony Scott seinen Comic »Nemesis« mit einem 150-Millionen-Dollar-Budget verfilmen wird. Auch für »Kick Ass 2 – Balls to the Wall« habe die Produktionsfirma grünes Licht gegeben.

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V.2 Selbstreflexionen im Medium des Comics

Thrilling Adventure Stories* Chris Ware 1

*  Ware, Chris: »Thrilling Adventure Stories.« In: Raw 2:3 (1991). S. 76-81.

Hothead Paisan* Diane DiMassa 1

*  DiMassa, Diane: The Complete Hothead Paisan. Berkeley: Cleis Press 1999.

Tell* David Boller 1

*  Boller, David: Tell 2. Mogelsberg: Zampano/Virtual Graphics 2014.

VI. Zeitgenössische Forschung

Einführung Joanna Nowotny

Die internationale Comicforschung, im englischsprachigen Raum Comics Studies genannt, ist ein blühendes Feld. Ihr Output hat mittlerweile Ausmaße erreicht, die es unmöglich machen, in Überblicksdarstellungen alle Positionen zu berücksichtigen.1 Sie hat sich transnational ausdifferenziert – in verschiedenen Ländern sind jeweils spezifische Comicforschungen entstanden, die den nationalen Eigenheiten der jeweiligen Comickulturen gerecht zu werden versuchen, beispielsweise in Frankreich 2 oder in Japan und Ostasien überhaupt. 3 Daneben und als wichtige Ergänzung existieren Analysen, die sich besonders auf die Darstellung von Multikulturalität sowie auf kulturelle Grenzüberschreitungen im Medium selber konzentrieren. 4 Wollte man Methoden und Themen der Comicforschung grob systematisieren, finden sich mindestens vier unterschiedlich ausgerichtete Zweige, die aber natürlich in vielerlei Einzelbeispielen ineinander übergehen. Erstens gibt es Forschungsansätze, die sich vor allem für die formale Verfasstheit von Comics interessieren. Semiotische und/oder strukturalistische Comicanalysen wie diejenigen Stephan Packards 5 wollen das Potenzial der Comicforschung als distinkter Disziplin mit 1 | Einen sehr umfassenden und informativen Überblick über die Comicforschung, dem wir hier viel verdanken, bieten Lukas Etter und Daniel Stein: »Comic-Theorie(n) und Forschungspositionen«, in: Christian Klein und Julia Abel (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2015, S. 107-126. 2 | Vgl. z.B. Ann Miller, Bart Beaty (Hg.): The French Comics Theory Reader. Leuven 2014. 3 | Die reiche Comicforschung aus Japan und Ostasien allgemein ist für viele westliche Forschende schon nur aufgrund sprachlicher Hindernisse nicht zugänglich. Im englisch- und deutschsprachigen Kontext sind etwa folgende Studien von Bedeutung: Jaqueline Berndt: Manhwa, Manga, Manhua. East Asian Comics Studies. Leipzig 2012; dies.: Intercultural Crossovers, Transcultural Flows. Manga/Comics. Kyoto 2011; Bernd Dolle-Weinkauff: »Comics und kulturelle Globalisierung. Manga als transkulturelles Phänomen und die Legende vom ›östlichen Erzählen in Bildern‹«, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Struktur und Geschichte der Comics. Beiträge zur Comicforschung. Bochum 2010, S. 85-97. 4 | Vgl. z.B. Carolene Ayaka, Ian Hague: Representing Multiculturalism in Comics and Graphic Novels. London 2014; Frederick Luis Aldama (Hg.): Multicultural Comics. From Zap to Blue Beetle. Austin 2010. 5 | Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Göttingen 2006 (Münchener Universitätsschriften. Münchener Komparatistische Studien; Bd. 9). Auf

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VI. Zeitgenössische Forschung eigenen Methoden ausschöpfen. Nach Jahrzehnten, in denen man mit einiger Vorsicht behaupten kann, dass die Comicforschung Terminologien und Konzepte vor allem aus anderen Forschungsfeldern entlehnte (zum Beispiel aus den Film Studies 6), begreift sich dieser Zweig nun selbstbewusst als eigenständiges Forschungsfeld, dessen Methoden und Begriffe sich auf andere Forschungsgegenstände gewinnbringend übertragen lassen. Zweitens werden seit einiger Zeit Studien verfasst, die sich der kognitiven (Rezeptions-) Forschung widmen. Im Zentrum steht die Idee von Comics als visueller Sprache, die auf spezifische Weise dekodiert werden muss.7 Kognitive Comictheorien 8 sind vor dem Hintergrund des sogenannten cognitive turn in den Geisteswissenschaften zu begreifen. Drittens liegen Arbeiten vor, die sich für das Medium Comic und seine Inter- bzw. Transmedialität interessieren. Gerade in der Superheldenforschung sind solche Ansätze von großer Bedeutung, da sich die beiden größten Superheldenverlage – Marvel und DC – längst in global operierende Imperien verwandelt haben, die ihre Figurenlizenzen medienübergreifend nutzen. Superhelden werden vielfach adaptiert und übertragen, was medienästhetische und kontextbasierte Analysen besonders erfolgsversprechend erscheinen lässt. 9 Viertens werden an Comics und besonders an Superheldencomics seit einiger Zeit vermehrt kulturwissenschaftliche und sozialgeschichtliche Fragestellungen herangetragen. In den US-amerikanischen Forschungsdiskussionen sind dabei Debatten rund um die Darstellung z.B. von Race und Ethnicity, Gender oder Disability verbreitet, also rund um ordnungsstiftende und identitätspolitische Kategorien, die hierarchisierend wirken. Viele dieser Analysen sind intersektional ausgerichtet, nehmen also das Zusammenspiel verschiedener solcher Kategorien in den Blick. Textuelle und (audio-)visuelle Repräsentationen werden jeweils vor ihrem kulturellen und gesellschaftspolitischen Hintergrund beleuchtet; die Konstitution sowie (Re-)Produktion von Stereotypen wird kritisch analysiert. Besonders in den letzten Jahren hat sich die Comicforschung also methodisch weiter differenziert: Zu historiographischen, psychoanalytischen10 und marxistisch-ideologiekri-

Superheldencomics wendet Packard seine Theoreme an z.B. in »›Whose Side Are You On?‹ Zur Allegorisierung von 9/11 in Marvels Civil War-Comics«, in: Sandra Poppe, Thorsten Schüller, Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien. Bielefeld 2009, S. 317-336. 6 | Vgl. z.B. Bart Beaty: »Comics Studies: Fifty Years After Film Studies«, in: Cinema Journal 50.3 (2017), S. 106-110. 7 | Neil Cohn: Review: Comics and Language by Hannah Miodrag, 2012 [www.thevisuall​ inguist.com/2013/10/review-comics-and-language-by-hannah.html, Zugriff: 10. Oktober 2017]; ders.: The Visual Language of Comics. Introduction to the Structure and Cognition of Sequential Images. London 2013. 8 | Vgl. auch Ian Hague: Comics and the Senses. A Multisensory Approach to Comics and Graphic Novels. New York/London 2014. 9 | Vgl. z.B. Ian Gordon, Mark Jancovich und Matthew P. McAllister (Hg.): Film and Comic Books. Jackson 2007; Stefan Meier: Superman transmedial. Eine Pop-Ikone im Spannungsfeld von Medienwandel und Serialität. Bielefeld 2015; Terrence R. Wandtke (Hg.): The Amazing Transforming Superhero! Essays on the Revision of Characters in Comic Books, Film and Television. Jefferson 2007. 10 | Ein Beispiel einer solchen Analyse aus dem deutschen Sprachraum wäre: Hans-Georg Trescher: »Narzißmus und Comic. Archaische Seelentätigkeit und die Comics der Superhelden«, in: Kindheit 1/1979, S. 87-104.

Nowotny: Einführung tischen Ansätzen11 ist eine breite Palette an Fragestellungen aus den Gender, Critical Race oder Disability Studies, aus dem Feld der Intersektionalität sowie aus der Medientheorie hinzugetreten. Die letzten zwei Forschungsrichtungen – kulturwissenschaftliche und (trans-) mediale Fragestellungen − bilden den Schwerpunkt der für diese Sektion ausgewählten Texte, die jeweils beispielhaft mögliche methodische Herangehensweisen an Superheldencomics illustrieren. Die Forschungstexte sind selbst wiederum in drei Sektionen unterteilt, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen: Die erste Textgruppe beschäftigt sich vorwiegend mit kulturellen und ethnischen Stereotypen, die zweite mit gendertheoretischen Fragestellungen und die dritte mit der Medialität von Superhelden. VI.1.1 Die erste Sektion VI.1 versammelt drei Aufsätze, die die Superhelden als Produkte der US-amerikanischen Populärkultur in einen globalen und ethnisch wie kulturell diversifizierten Kontext stellen und sich dabei mit nationalen, rassistischen und religiösen Stereotypen auseinandersetzen. Fredrik Strömberg beschäftigt sich in dem gewählten Ausschnitt aus seinem umfangreichen Aufsatz mit der Darstellung arabischer und muslimischer Heldenfiguren in Comics nach der Zäsur 9/11. Er unternimmt eine kritische Diskursanalyse auf Basis des ›orientalischen Anderen‹, des Arabischen, Muslimischen oder ›Middle Eastern‹, wie es besonders wirkungsmächtig Edward Said im wissenschaftlichen Diskurs etablierte. In den 1980ern und 1990ern wurden Muslime, so Strömberg, in US-amerikanischen Medien eher selten dargestellt. Fanden sich überhaupt muslimische Figuren, wurden sie überwiegend auf negative Weise gezeichnet; meist besetzten sie die Rolle von Antagonisten oder Schurken. Seit den Attacken auf das World Trade Center haben die Darstellungen von Muslimen oder Arabern in US-amerikanischen Medien deutlich zugenommen, oftmals im Versuch, rassistischen Stereotypien entgegenzuwirken und Toleranz zu fördern. So publizierte etwa der Marvel-Verlag eine Anzahl muslimischer Superheldinnen wie Dust, Bridge oder Excalibur. Doch Strömberg führt vor, dass auch solch diversifizierende, oft wohlmeinende Darstellungen unabsichtlich zum ›Othering‹ der betroffenen Gruppen in der US-amerikanischen Öffentlichkeit beitragen. Auch wenn ihre Schöpferinnen und Schöpfer ganz andere Intentionen verfolgt haben mögen, wiederholen solche Bilder zuletzt immer wieder die ethnischen, kulturellen und religiösen Stereotypien, die sie subvertieren wollen. VI.1.2 Die Forschung zum Genre der Superheldencomics weist naturgemäß noch immer einen relativ starken Fokus auf die USA auf. Doch in dem Maß, in dem die Superhelden selber transmediale Reisen über die ganze Welt angetreten haben, wird auch die Forschung zu ihnen in der jüngsten Zeit zunehmend international. Shilpa Davés hierfür beispielhaft ausgewählter Text beschäftigt sich mit einer indischen Adaptation der Spider-Man-Figur, Spider-Man India, einer ›Transkreation‹ indischer und indisch-amerikanischer Comickünstler auf Basis der US-amerikanischen Vorlage. Davé zeigt, wie ambivalent Projekte sind, die auf der Grundlage US-amerikanischer Narrative ein transnationales Programm verfolgen. Die Spider-Man-Figur wird neu erfunden und in einen indischen Kontext verpflanzt, in dem nicht nur ihre äußere Erscheinung sowie die Kulisse, in der sie agiert, Modifikationen erfahren. Auch die fundamentalen Konflikte verändern sich, denen sich Pavitr Prabhakar, der indische Peter Parker, ausgesetzt sieht. So kommen etwa spezifisch indische Klassenkonflikte zur Sprache. Als armer Junge vom Land, der eine renommierte Schule in der Stadt besucht, interagiert Pavitr mit einem Milieu wohlhabender junger Inder, deren Status sich nicht zuletzt der Vertrautheit mit westlichen Standards und Medienprodukten verdankt. Der Comic ist auf Englisch verfasst, 11 | Im deutschen Raum wäre hier z.B. Reinhard Schweizers ideologiekritische Studie von Bedeutung: Ideologie und Propaganda in den Marvel-Superhelden-Comics. Vom Kalten Krieg zur Entspannungspolitik. Frankfurt a.M. 1992.

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VI. Zeitgenössische Forschung doch versehen mit typisch indischen idiomatischen Ausdrücken, die ›westlichen‹ Lesern erst in einem Glossar erklärt werden müssen. Zudem und noch grundlegender wird versucht, Peter Parkers origin story selber in einem indischen Umfeld auf sinnfällige Weise neu zu erfinden. Dabei wird Pavitr als Avatar des Guten im ewigen Kampf von Licht und Dunkelheit zu einer mythischen Figur stilisiert. Seine Kräfte entspringen nicht naturwissenschaftlichen Manipulationen – wie im Fall seines US-amerikanischen Vorbilds −, sondern einer überzeitlichen (und spezifisch hinduistischen) Erwähltheit. Doch der Prozess der Transkreation hat seine Grenzen, wird an manchen Stellen sogar problematisch. So spielt die Spinne in der indischen Mythologie kaum eine Rolle; das Spinnen-Motiv bleibt durch die Dominanz der US-amerikanischen Superheldenmythen erzwungen und kann für die hinduistische Kultur nur sehr begrenzt fruchtbar gemacht werden. Jede Transkreation einer ›westlichen‹ Figur, so argumentiert Davé zusammenfassend, bleibt somit ambivalent – sie versucht, ein kulturell hybrides Projekt in einer globalisierten Welt zu erschaffen, bleibt dabei aber den Zwängen des Kapitals unterworfen, das zumeist vom globalen ›Westen‹ mit Zentrum US-Amerika in den globalen ›Osten‹ fließt. VI.1.3 Kenneth Ghee seinerseits analysiert aus der Perspektive der Afro-American Studies die Darstellung afroamerikanischer und afrikanischer Superhelden. In den 1960ern und 1970ern hatten prominente afroamerikanische und afrikanische Superhelden wie Black Panther (ab 1966), Storm (1975) oder Falcon (1969) ihre ersten Auftritte. Auf Basis mythologisch-psychologischer Heldenkonzepte von Joseph Campbell und anderen kritisiert Ghee den eurozentrischen Charakter dieser Superhelden und die vermeintliche Überlegenheit der Weißen, die aus ihnen spreche und die durch die superheldischen Narrative weiter tradiert werde. Superheldenfiguren schreibt Ghee eine wichtige Funktion in der Entwicklung der Individualität zu. Sie prägten das Selbstbild der lesenden Kinder und Jugendlichen, was eine angemessene Repräsentation verschiedener Kulturen und Ethnien besonders dringlich mache. Im amerikanischen Diskurs über Comics und die Populärkultur allgemein werden immer wieder Fragen nach der (ethnischen, kulturellen, sexuellen usw.) Repräsentation aufgeworfen, die nicht zuletzt den Blick der ›weißen‹ Konsumenten von Medien mit primär ›weißen‹ Figuren auf ihre Privilegien lenken sollen. Ghees Artikel wendet sich hingegen vor allem an die black community selber: Er endet mit einem Aufruf, selber neue, ›afrozentrische‹, damit kulturgebundene Heldenfiguren zu schaffen, die zu einem positiven Bild der schwarzen Kultur beitragen und die die afroamerikanische und afrikanische Jugend von den Fesseln der Heterostereotypen befreien können. Der Text illustriert somit auch, wie ideologiekritische Ansätze in Studien zur Populärkultur mitunter die Schwelle zum Aktivismus überschreiten können. VI.2.1 Im ersten Text der zweiten Untersektion zu Gender, einem Ausschnitt aus der Monographie Ink-Stained Amazons and Cinematic Warriors, widmet sich Jennifer Stuller der wohl berühmtesten Superheldin, Wonder Woman. Wonder Woman ist eine der wenigen weiblichen Superheldenfiguren, über die in der neueren Forschung relativ viel publiziert wurde.12 Stullers Buch widmet sich explizit ›Superwomen‹ in der ›Modern Mythology‹ (so der Untertitel des Buchs) und den Funktionen, die sie im kollektiven Bewusstsein einnehmen können. Der für diesen Reader gewählte Ausschnitt stellt die Superheldin in einen diskursgeschichtlichen Kontext. Stuller rollt die bemerkenswerte Geschichte der Figur neu auf: Erfunden durch den Psychologen William Moulton Marston, in Zusammenarbeit mit seiner Frau, Elizabeth (Sadie) Holloway Marston, propagiert die Figur die eigenwillige feministische Vision ihres Schöpfers. 12 | Vgl. z.B. Mitra C. Emad: »Reading Wonder Woman’s Body: Mythologies of Gender and Nation«, in: The Journal of Popular Culture 39.6 (2006), S. 954-984; Jill Lepore: The Secret History of Wonder Woman. Melbourne/London 2014.

Nowotny: Einführung Marston glaubte an die Befreiung der Welt und vor allem des Mannes von Gewalt und Krieg durch die altruistische Liebe, die Frauen von Natur aus eigne. Seine Figur, die sich als Amazone in die griechische mythologische Tradition einschreibt, ist somit, wie Stuller zeigt, aus heutiger Perspektive sehr ambivalent; sie steht zwar für eine Ermächtigung von Frauen, doch wird sie zugleich essenzialistisch auf ihre stereotypisierte Weiblichkeit festgeschrieben. Dies hat freilich der Euphorie keinen Abbruch getan, mit der Wonder Woman auch innerhalb der feministischen Bewegung rezipiert wurde.13 Heute ist sie eine der wenigen Superheldinnen, der ein eigener Film gewidmet wurde (kommerziell wenig erfolgreiche Vorläuferinnen wären Catwoman, 2004, und Elektra, 2005). Im Jahr 2017 feierte Wonder Woman Erfolge auf den Leinwänden der Welt. VI.2.2 Im zweiten Text dieser Gruppe analysiert Lars Banhold in Pink Kryptonite – Das Coming-Out der Superhelden die versteckte ›schwule‹ Geschichte Batmans und seines Sidekicks Robin. Statt produktionsästhetische und -geschichtliche Fragen zu stellen, liegt Banholds Fokus auf der Rezeptionsgeschichte. Von Anfang an wurden die beiden superheldischen Figuren teilweise als queer gelesen. Die Möglichkeit, Batman und Robin als homosexuelles Paar zu verstehen, wurde vor allem in den 1950ern als potenziell gefährlicher Einfluss auf die Entwicklung der Kinder gewertet, die Superheldencomics lasen. Banhold interessiert sich für die Strategien, mittels derer nicht-heteronormative Sexualitäten im Superheldengenre marginalisiert werden, und besonders für eine aktive Rezeption, die diese Strategien – oft gegen den ›Willen‹ der Comickünstler – subvertiert und sich die Bildergeschichten unter widrigen Umständen zu eigen macht. Er vollzieht zudem die Geschichte offen homosexueller Charaktere im Superheldengenre nach, wie zum Beispiel Northstar oder Extraño, und fragt nach Gründen für die zunehmende (und aus seiner Sicht zu begrüßende) Diversität im Genre. Die Versuche, geschlechtliche, sexuelle und ethnische Vielfalt einzufangen, lassen sich weder bloß als finanzielles Kalkül noch als idealistisches Programm zur Verbesserung der Welt werten. Und sie werden höchst kontrovers diskutiert: Banhold verfolgt einen Ansatz, der auch die Fankulturen einbezieht, die seit Anbeginn des Genres aktiv sind. Und er wirft zuletzt eine fundamentale Frage auf: Ist es tatsächlich möglich, das Genre grundlegend diverser zu machen, solange die Superheldenfiguren innerhalb der Erzählungen als gewaltbereite Hüter einer Norm auftreten, die notwendig auf Ausschluss alles (und aller) ›anderen‹ basiert? Denn erst, wenn der Superheld »sein restriktives Element zugunsten seines progressiven Potenzials fallen« lasse, habe »das Genre sich wirklich aus den Zwängen des Comics Codes befreit.« VI.2.3 Abschließend befasst Véronique Sina sich mit der Performanz von Geschlecht in Mark Millars und John Romita Jr.s selbstreferenziellem Comic Kick-Ass und in dessen filmischen Adaptionen. Sie verfolgt in der Monographie Comic − Film − Gender. Zur (Re-)Medialisierung von Geschlecht im Comicfilm, aus der das ausgewählte Kapitel stammt, einen zugleich transmedialen und gendertheoretischen Ansatz, wie er in der neueren Superheldenforschung verbreitet ist. Über Geschichte und Konventionen des Genres wird speziell im Hinblick auf Geschlechterbilder reflektiert, die es von Anfang an transportiert. Sinas Beitrag illustriert auch, dass die Analyse von Gender im Sinn der Intersektionalität oft mit einem kritischen Blick auf andere binäre Machtkonstellationen und Achsen der Diskriminierung wie Race oder Ethnicity einhergeht. Millars Comic dreht sich um den durchschnittlichen Jugendlichen Dave, der eines Tages beschließt, das Leben eines Superhelden zu führen, obwohl er keine besonderen Fähigkeiten oder Superkräfte besitzt. Doch in der echten Welt lauern auch echte Gefahren, und Dave 13 | Vgl. dazu z.B. Les Daniels: Wonder Woman. The Complete History. San Francisco 2000, S. 129-133.

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VI. Zeitgenössische Forschung muss lernen, sich zu behaupten. Dies gelingt ihm erst mithilfe eines mordlustigen VaterTochter-Gespanns – Hit-Girl und Big Daddy –, das ihn aus etlichen brenzligen Situationen rettet. Film und Comic, teilweise in Wechselwirkung entstanden, unternehmen den Versuch, sich in die Genretradition von Superheldencomics und -filmen einzuschreiben, indem Darstellungsmittel und narrative Konventionen radikalisiert, aber auch ironisiert werden. Die Subversion des ›typischen‹ Superheldennarrativs bleibt jedoch unvollständig. Mit Bezug auf Judith Butlers Konzept der Gender-Parodie führt Sina vor, wie Kick-Ass tradierte (hetero-)normative Vorstellungen von Geschlecht nicht etwa konsequent unterläuft, sondern sie am Ende doch perpetuiert und stabilisiert. So muss der Protagonist erst in einem durchaus traditionellen Sinn ›zum Mann werden‹, um als Held zu taugen, während die vordergründig ›starke‹, unkonventionelle und äußerst aktive Frauenfigur Hit-Girl zuletzt auf ihren Platz verwiesen, also degradiert wird. Kick-Ass gelingt es nur scheinbar, Machtkonstellationen zu dekonstruieren bzw. zu subvertieren – eine genaue Analyse offenbart, dass Film und Comic ein konservatives, hierarchisches Weltbild propagieren, das auf geschlechtlicher, sexueller sowie ethnischer Marginalisierung basiert. VI.3.1 Somit leitet Sinas Text, mit dem Fokus auf einer filmischen Adaption eines Superheldencomics, über in die Sektion Medialität. Diese versammelt zuletzt drei Forschungspositionen, die ein besonderes Augenmerk auf den Transfer verschiedener Superheldenfiguren durch diverse Medien legen. Ole Frahm schlägt die Brücke zwischen dem Radio als Verbreitungsmedium von Superheldengeschichten einerseits und als Inhaltselement dieser Geschichten andererseits. Dafür rekonstruiert er die Geschichte von Superman in Comic und Radio, früher beides äußerst bedeutende Massenmedien. Frahm untersucht dabei die jeweils spezifische Medialität der Erscheinungen Supermans; die frühen Hörspiele z.B. seien eindeutig humoristisch gefärbt und spielten auf vielerlei Weise mit der Doppelidentität des Helden, als Superman und Zivilist Clark Kent, die sich nur aufgrund ihrer Stimmen unterscheiden lassen müssten. Frahm zeigt damit auch, wie Superheldengeschichten von den überzeitlichen und zugleich infantilen Schemata abweichen, die ihnen immer wieder zugeschrieben werden. So entfalten Superheldengeschichten beispielsweise ein kulturkritisches Potenzial, wenn in ihnen über die manipulative, ›hypnotisierende‹ Qualität des Mediums Radio als Instrument der ideologischen Beeinflussung selbst reflektiert wird. Anstatt Superman als immer nur geringfügig variierten Mythos zu begreifen, macht Frahm ihn als narratives Material greifbar, das in verschiedenen historischen und medialen Konstellationen erscheint, als Figur in einer gezeichneten Bildergeschichte ebenso wie als Stimme im Radio. Der Beitrag, der teilweise aus dem Vokabular und den Konzepten der Postmoderne schöpft, führt somit vor, wie sich ein vermeintlich ahistorischer Mythos wie Superman in der jeweils spezifischen Materialität der konkreten medialen Erscheinungsform manifestiert. VI.3.2 Wolfgang Fuchs zeigt anschließend anhand derselben Figur, wie ein Superheld vom Comic aus zahlreiche weitere Medien erobert, unter anderem Rundfunk, Fernsehen und Film. Fuchs analysiert Texte und Kontexte, d.h. Comics, Filme und die sehr handfesten Bedingungen, unter denen sie entstanden sind. Auch er arbeitet heraus, dass der eine singuläre Superman, als unveränderlicher Mythos, nie existierte. Stattdessen wurde die Figur jeweils für bestimmte Zeiten und in bestimmten Medien aktualisiert: Seit den Anfängen des Superheldengenres, in denen sich die Superman-Geschichten eindeutig an Adoleszente richteten und die ihnen zugeschriebenen Wünsche bedienten, hat sich Einiges verändert. Superman wurde zu einer komplexen Figur, die u.a. auch ihre religiös überformte Erlöserrolle hinterfragt, um menschliche Selbstverantwortung zu propagieren. Doch trotz – oder gerade aufgrund − aller Veränderungen konnte der Held Superman seinen ikonischen Status bewahren und immer neue Generationen Heranwachsender und Erwachsener prägen.

Nowotny: Einführung VI.3.3 Zuletzt erörtert Désirée Lorenz die politisch-finanzielle Dimension der Superhelden-Verfilmungen, hinter denen eine mächtige Kulturindustrie steht. Sie interessiert sich für die ökonomischen und ideologischen Verstrickungen, die sämtliche Produkte der Superheldenindustrie prägen: Superhelden sind von Haus aus intermedial, insofern die Medienkonzerne hinter den Comic-Verlagen immer schon auf medien- und marktübergreifende Lizenzen abzielen, sei es im Bereich von Spielzeugen, Computerspielen oder Fanartikeln. Laut Lorenz sind die hypermedialen Versionen der Superheldenerzählungen stets Instrumente der Reproduktion von Ideologien, da sie als Produkte für die breiten Massen einen mehrheitsfähigen Status quo propagieren müssen. Als Beispiel dient Lorenz der Held Spider-Man, dessen Ursprungsgeschichte vielfache Transmediationen erfuhr. Sie verfolgt deren Geschichte von ihrer ersten Appropriation in Form der frühesten, zensierten französischen Übersetzungen in den 1960er Jahren bis zu Sam Raimis Verfilmung im Jahre 2002 (Spider-Man). Lorenz macht schließlich mit Bezug auf Adornos Überlegungen zur Kulturindustrie greifbar, wie die heutigen Transmediationen der Superheldenerzählung davon zeugen, dass die Superheldenfigur mittlerweile selbst Teil der Massenkultur geworden ist und einen normativen, mehrheitsfähigen Status erlangt hat.

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

»Hey, Turban-Typ« Arabische und muslimische Superhelden in amerikanischen Comics nach 9/11* Fredrik Strömberg 1

A bstr act Die Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und der arabischen/muslimischen Welt ist, gelinde gesagt, problematisch und hat ihre Spuren in der amerikanischen Populärkultur im Allgemeinen und in Comics im Besonderen hinterlassen. Einige wenige Studien, die in den 1980er und 1990er Jahren durchgeführt wurden und die Darstellung von Arabern und Muslimen in amerikanischen Comics untersuchten, haben eine Fülle von negativen Stereotypen und ein auffälliges Fehlen arabischer und/oder muslimischer Helden festgestellt. Dieser Aufsatz greift diesen Diskurs auf und untersucht, auf welche Weise Araber und Muslime im wohl amerikanischsten aller Genres – dem Superheldencomic – seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 dargestellt wurden. Um zu verstehen, wie diese Comics Vorstellungen und Darstellungen des »Arabischen/Nahöstlichen/Muslimischen« an amerikanische Leser vermitteln, wird in diesem Aufsatz eine kritische Diskursanalyse durchgeführt, die sich an dem Konzept des »orientalischen Anderen« orientiert. Nach dem 11. September hat sich die Zahl der Figuren merklich erhöht, die als arabisch-muslimisch, arabisch-amerikanisch und amerikanisch-muslimisch, sei es weiblich oder männlich, als fromm und gläubig oder zurückgezogen und nur dem Namen nach religiös dargestellt werden. Obwohl diese Figuren offenbar geschaffen wurden, um stereotypen oder rassistischen Darstellungen von Arabern und/oder Muslimen als Terroristen entgegenzuwirken, haben sie dennoch Anteil an der Ausgrenzung dieser Gruppen im öffentlichen amerikanischen Diskurs in Form von Klischees der visuellen Darstellung wie in der mündlichen Kommunikation. Statt sie zu bekämpfen, verstärken sie damit unbeabsichtigt die Stereotypen des »orientalischen Anderen«. [...] *  Strömberg, Fredrik: »›Yo, rag-head!‹ Arab and Muslim Superheroes in American Comic Books after 9/11.« In: Amerikastudien/American Studies 56:4 (2011). S. 573-601, Auszug. Übersetzt von Yvonne Knop.

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

D arstellungen von A r abern und M uslimen in amerik anischen C omics vor 9/11 Obwohl das Bild von Arabern und Muslimen in der amerikanischen Populärkultur von Kritikern wie Evelyn Alsultany, Jack G. Shaheen und Scott J. Simon sorgfältig analysiert wurde, gibt es einen Mangel an Forschungen zur Darstellung von Arabern und Muslimen in amerikanischen Comics, einer Kunstform, die viele instinktiv mit den Vereinigten Staaten verbinden. Tatsächlich wurde nur eine Handvoll relevanter Studien veröffentlicht, die zum größten Teil auf den Ersten und Zweiten Golfkrieg in den 1980er und frühen 1990er Jahren folgten. Über die wenigen Verweise auf arabische und muslimische Figuren in Cartoons und Comicstrips berichtete der Comicautor Jack Keen auf einer Konferenz der Association of Editorial Cartoonists in San Diego im Jahr 1986: »Sie können einem Araber ohne Probleme einen Schlag verpassen, sie sind wohlfeile Feinde, wohlfeile Schurken – während man dasselbe nicht mit Juden und nicht mehr mit Schwarzen tun dürfte.« (Zitiert in Shaheen, Arab and Muslim Stereotyping 97)1 Dass es möglich ist – oder zumindest möglich war – Stereotypen von Arabern in amerikanischen Comicstrips zu finden, belegt Michalaks Erkenntnis aus dem Jahr 1988, dass »man eine Zeitung öffnen und in den täglichen Comicstrips so verschiedene arabische Schurken finden kann wie Broom Hilda, Lolly, Short Ribs, Berry’s World, The Wizard of Id und Funky Winterbean.« Michalak bezeichnet außerdem den Comicstrip Brenda Star als »den am regelmäßigsten anti-arabischen aller Sonntagscomics« (12). Diese Aussagen sind mehr als dreißig Jahre alt und es ist heutzutage schwieriger, negative Stereotypen von Arabern und Muslimen in amerikanischen Comicstrips zu finden, wahrscheinlich aufgrund des Einflusses der vieldiskutierten »politischen Korrektheit« in den 1990er Jahren und der wachsenden Präsenz arabischer und muslimischer Amerikaner als eine sicht- und hörbare Gruppe von Bürgern, Lesern und Konsumenten. Die umfangreichste Studie zur Darstellung von Arabern und Muslimen in amerikanischen Comics wurde von Jack G. Shaheen durchgeführt. In seinem Aufsatz »Arab Images in American Comic Books« (1994) analysierte Shaheen 215 Comics und stellte eine vollständige Abwesenheit arabischer oder muslimischer Helden oder Heldinnen fest. Die Figuren, die er als »Bürgerliche« kategorisierte, wurden als passiv dargestellt, was bedeutet, dass sie sich nicht am »guten Kampf« beteiligten. An arabischen und muslimischen Schurken mangelte es hingegen nicht. Shaheen ordnete sie in drei Kategorien: »der abscheuliche Terrorist«, »der düstere Scheich« und »der raubgierige Bandit.« Ergänzend fügte er zwei Kategorien für Frauen hinzu: »eine spärlich bekleidete und begaffte Bauchtänzerin« und »eine gesichtslose Hausfrau, deren übergewichtiger Körper in dunkle Gewänder gehüllt ist« (129). Eine weitere, noch drastischere Beschreibung findet sich in Leonard Rifas’ Aufsatz »The Image of Arabs in U.S. Comic Books« (1988). Rifas’ Recherche zufolge sind arabische Figuren: Barbarische, ignorante, rückständige, primitive, blutrünstige, gewalttätige, schurkische, dolchschwingende, waffentragende, bösartige, maliziöse, düstere, schleicherische, verräterische, unehrliche, gefährliche, dekadente, fanatische, rachsüchtige, kriegerische, schmierige, dreckige, fettige, gierige, grapschende, materialistische, mordende, diebische, laszive, sexistische, übersexualisierte, entführende, romantische, inkompetente, ineffiziente, min1 | Diese Aussage erinnert an Simons Bewertung ähnlicher Praktiken in der Filmindustrie.

Strömberg: »Hey, Turban-Typ« derwertige, unzuverlässige, machthungrige, korrupte, kamelreitende, sklavenbesitzende, haremhaltende, in der Wüste wohnende, nomadische Millionäre, die das Öl der Welt kontrollieren und Amerika aufkaufen. (13)

Das ist allerhand und schwer zu schlucken, aber es ist natürlich auch ein Hinweis auf die negativen Bilder, mit denen die Kategorie der Araber und Muslime in amerikanischen Comics assoziiert wird. Shaheens Behauptung, dass es in amerikanischen Comics keine arabischen oder muslimischen Helden gab, ist nicht ganz richtig. Abgesehen von den oben erwähnten Zeitungscomicstrips findet man auch frühe Comic-Helden wie Kismet (1944), einen der ersten (wenn auch symbolischen) muslimischen Superhelden, der einen Fes als Teil seines Kostüms trägt und Allah und dem Propheten dafür dankt, ihm die Freiheit gegeben zu haben; Black Tiger (1976), einen religiösen Führer der Moslems von »Murkatesh«, dessen Rolle von verschiedenen Personen verkörpert wurde, die dieselbe Verkleidung trugen; und Arabian Knight (1981), eine extrem orientalisierte Figur mit einem Turban, einem geschwungenen Schwert und einem fliegenden Teppich, der zweimal überarbeitet wurde, um ihn für Leser und Kritiker geeigneter erscheinen zu lassen. Obwohl die beiden letzteren Figuren aus Comics großer amerikanischer Comicverlage stammen, spielten sie nur kleine Rollen. Andere Figuren, wie Wise Son und Rampart von Milestone bzw. DC, wurden in den 1990er Jahren nach dem Zweiten Golfkrieg erschaffen und nie wirklich fortgeführt, obwohl sie damals einigermaßen erfolgreich waren. Solche Belege zeigen, dass arabische und/oder muslimische Superheldenfiguren kulturell nicht von Bedeutung waren auf dem breiten Feld der Superheldencomics vor 9/11.

D arstellungen von A r abern und M uslimen in amerik anischen S uperheldencomics nach 9/11 Der akademische Diskurs über Comics ist ein recht neues Feld und zeichnet sich daher durch einen Mangel an Sekundärliteratur und gedruckten Nachschlagewerken aus. Forscher sind zusätzlich mit dem Problem des Zugangs zu Primärmaterial konfrontiert, da die meisten Bibliotheken keine alten Comics zur Untersuchung archivieren. So ist das Internet eine wichtige Quelle für die historische Forschung zu Comics geworden, teilweise dank der langen Tradition von Fan-Studien. Daher habe ich sowohl Internet-Quellen als auch Fan-Studien als Ausgangspunkt für meine Analyse genommen, die einen Einblick in Ergebnisse von vielen nichtakademischen Forschern zulassen, die im Netz wikipedia-ähnliche Nachschlagewerkzeuge entwickelt haben. Ich begann meine Suche in der Online-Datenbank Comic Book Religion, einer Website, die hauptsächlich von Preston Hunter verwaltet wird und die, wie auf der Website erwähnt, die religiöse Zugehörigkeit von einzelnen (vorwiegend amerikanischen) Figuren aus Comics und Animationen durch ein System ermittelt, das Primärquellen einschließlich »Nachschlagewerken, Nachrichten und Zeitschriftenartikel, Interviews mit den Schöpfern und Stellungnahmen von Gelehrten und Fans« umfasst. Comic Book Religion listet 23.435 Figuren und bietet detaillierte Informationen über ihre religiöse Orientierung sowie die Anzahl der Geschichten, in denen sie erschienen sind. Im September 2010 wurden 234 Figuren als Muslime aufgeführt. Von diesen 234 Figuren wurden 64 als Helden, 99 als Schurken und der

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Rest als Nebenfiguren kategorisiert. Da ich nur Darstellungen von arabischen und/ oder muslimischen Superhelden in amerikanischen Comics nach 9/11 untersuchte, musste ich jene Figuren ausschließen, die hauptsächlich in animierten Cartoons gezeigt wurden (z.B. Aladdin und Sindbad), die nicht in Superheldencomics auftauchen (z.B. Dilat Larath und Aisha), die eher schurkisch denn heldisch sind (z.B. Shadow King und Mad Arab), und schließlich jene Figuren, die vor dem 11. September verwendet wurden (z.B. Black Tiger und Arabian Knight).2 Einige wurden auch verworfen, weil der muslimische Anteil ihrer Figur eher unbedeutend war.3 Danach hatte ich eine Liste von vierzehn Figuren, die ich nach der Anzahl ihrer Auftritte in Comics auflistete. Zur Überprüfung verwendete ich zwei weitere Online-Projekte: Die Grand Comics Database, die von einer gemeinnützigen Organisation betrieben und beschrieben wird als »ein laufendes Projekt zum Aufbau einer detaillierten Comicdatenbank, die international, präzise und vollständig ist, vom Beginn der Kunstform bis in die Gegenwart«, und die Comic Vine, eine kommerzielle Website über amerikanische Comics mit einem Wiki, in dem Mitglieder Informationen über Figuren, Ausgaben, Autoren und so weiter eintragen können. Diese Seiten lieferten unter anderem Informationen zu den Ausgaben, in denen diese Figuren vorkamen. Ich habe außerdem arabische Figuren aufgelistet, die auf diesen beiden Websites und anderen Online-Ressourcen verzeichnet waren. Schließlich tilgte ich alle Figuren aus meiner Liste, die in weniger als zehn Ausgaben vorkamen, um mich auf diejenigen zu konzentrieren, die den Lesern am ehesten bekannt sein dürften. Am Ende ergab sich die folgende Liste der am häufigsten verwendeten arabischen und/ oder muslimischen Superhelden in amerikanischen Comics nach 9/11, basierend auf den Informationen der Comic Book Resources (CBR), der Grand Comics Database (GCD) und Comic Vine (CV) (siehe Tabelle):4 Tabelle 1: Arabische und muslimische Figuren in amerikanischen Superheldencomics5 Name der Figur Dust (Sooraya Qadir)

Verlag Marvel

Erstauftritt 2002

Anzahl der Auftritte CBR CGD 102 142

CV 130

The Doctor (Habib ben Hassan) G. W. Bridge

Wildstorm

2005

47

16

47

Marvel

1991 (2007)

123 (–)

115 (22)

142 (24)5

Excalibur (Faiza Hussain) Hamza Rashad

Marvel

2008



19

22

Wildstorm

2003

11

9

14

2 | Die Betrachtung dieser Figuren wäre interessant, ginge aber über den analytischen Rahmen meiner Arbeit hinaus. Kurz gesagt, muslimische Super-Schurken scheinen zahlreicher, haben aber weniger Auftritte als muslimische Superhelden. 3 | Ein Beispiel ist die X-Men-Figur Legion, der zwar häufig in Comics zu finden ist, aber nur in einer seiner vielen Persönlichkeiten muslimisch ist. 4 | Ich hätte Informationen zur Verbreitung dieser Comics hinzufügen können, um jene Figuren zu identifizieren, die den meisten Lesern bekannt sind, aber da diese Information nicht so leicht verfügbar war, war dies die beste Annäherung, die ich innerhalb der Grenzen dieser Studie erreichen konnte. Alle Zahlen wurden am 29. Sept. 2010 abgerufen. 5 | Die Zahl der Auftritte von G. W. Bridge wurde unterteilt, da er zwar bereits 1991 erschaffen wurde, aber erst 2007 zum Islam konvertierte.

Strömberg: »Hey, Turban-Typ«

Abbildung 1: JLA Jahresausgabe 2000, Titelseite von Steve Scott. © DC Comics

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Ich habe dann die bekanntesten Handlungsbögen ermittelt und analysiert, in denen diese Figuren vorkamen, um nach Beispielen dafür zu suchen, wie diese Superhelden dargestellt werden.6 Insgesamt habe ich 143 Ausgaben amerikanischer Comics analysiert. Einige interessante Figuren wurden ausgelassen, wie Janissary, eine türkische Superheldin, die ein Kostüm und einen Schleier in der roten Farbe der türkischen Flagge trägt und nur ein paar Male als symbolische Figur auftauchte (siehe Abb. 1)7, und der schwarze, muslimische Captain America, Josiah X, der nur in der kurzlebigen Reihe The Crew auftrat, die zwischen 2003 und 2007 in sieben Ausgaben veröffentlicht wurde.

D ust Dust ist eine Figur des fiktiven Marvel-Universums, das vom Verlag Marvel Comics verwaltet wird. Das Marvel-Universum ist ein komplexer Handlungsraum: Ein fiktives Universum, das aus Tausenden miteinander verknüpften Geschichten besteht, die seit der Veröffentlichung der ersten Superheldencomics im Jahre 1939 geschrieben und gezeichnet und damals noch unter dem Verlagsnamen Timely veröffentlicht wurden (Daniels 26). Der Handlungsraum des Marvel-Universums ist eine alternative Version der realen Welt (hauptsächlich der Vereinigten Staaten), die in der Gegenwart spielt, nur dass dort fantastische Elemente wie Superhelden und Schurken existieren, also Menschen, die über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen (fliegen, durch Wände gehen und so weiter). Die berühmtesten Figuren des Marvel-Universums sind Spider-Man, Captain America, der Hulk und Daredevil, sowie Superheldengruppen wie die Fantastic Four, die Avengers und die X-Men (Rogers 391-93). Dust ist ohne Zweifel eine der prominentesten arabischen oder muslimischen Figuren, die ich identifizieren konnte.8 Sie wurde 2002 vom schottischen Autor Grant Morrison und dem Künstler Ethan Van Sciver erschaffen und scheint nicht bloß aus der Absicht heraus entstanden zu sein, einen ausländischen/nahöstlichen Figurentyp darzustellen, sondern auch mit der Intention, Respekt gegenüber der Kultur zu zeigen, die sie repräsentieren soll. Dieser Ansatz war nicht immer erfolgreich. Mit dem ersten Auftritt ihrer Figur im New X-Men #133 wurde sie als eine sunnitische Frau aus Afghanistan dargestellt, die ein traditionelles schwarzes

6 | Ich habe die prominentesten Handlungsbögen auf Basis des kursorisch erfassten Inhalts aller Ausgaben ermittelt, um festzustellen, ob die betreffende Figur in der Erzählung eine wichtige Rolle gespielt hat. Da die meisten dieser Geschichten von Gruppen handeln, sind die Figuren jeweils mehr oder weniger prominent. 7 | Besonders in »Unveiling: The Janissary!« (veröffentlicht in JLA Annual #4, 2000). 8 | Für die Analyse der Figur Dust habe ich folgende Ausgaben herbeigezogen: New X-Men Vol. 1 #133, 138, 146, 149, 150 (2002-2004), X-Men 165 (2005), New X-Men Vol. 2 #1-46 (2004-2008), New X-Men Hellions #1-4 (2005) und Young X-Men #1-12 (2008-2009). Die Notwendigkeit, eine so breite Auswahl von Ausgaben zu untersuchen, ist darauf zurückzuführen, dass in einem fiktiven Universum wie dem Marvel-Universum eine Figur von einer beliebigen Anzahl an Autoren und Künstlern verwendet werden kann. Das Universum ermöglicht es dem Unternehmen, eine gewisse Konsistenz aufrechtzuerhalten.

Strömberg: »Hey, Turban-Typ«

Abbildung 2: New X-Men #133 (2002), Titelseite von Frank Quietly. © Marvel Entertainment, Inc.

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Kleid, genannt Abaya, und einem Niqab-Schleier trägt (ein Ensemble, das manchmal als Burka bezeichnet wird) und mehrere männliche Sklavenhändler getötet hat, die versuchten, ihr ihre Kleidung zu entreißen (siehe Abb. 2).9 Die Sklavenhändler wurden alle als stereotype Afghanen mit langen Bärten und traditioneller Kleidung dargestellt. Trotz ihrer Kräfte, die aus ihrer Fähigkeit bestehen, sich in Sand zu verwandeln (eine eher vorhersehbare, klischeehafte Kraft für eine nahöstliche Figur – die Verbindung zwischen einer muslimischem Figur und Sand beruht auf der zweifelhaften Annahme, dass alle Muslime in Wüsten leben) und das Fleisch von den Körpern ihrer Feinde zu reißen, wird Dust später von einer weißen, männlichen Figur gerettet, die sie – nachdem sie einige stereotype, afghanische Sklavenhändler getötet hat – zu einem geheimen Versteck führt. Dass sie der Rettung durch einen Vertreter der weißen, männlichen, westlichen Gesellschaft bedurfte, hat erhebliche postkoloniale, sexistische und symbolische Bedeutung. Die Verwendung der Abaya und des Niqab sind klare, vorhersehbare Erkennungsmerkmale, die das Bild des weiblichen orientalischen Anderen vermitteln sollen. In einer Nebenhandlung der gleichen Ausgabe versuchen drei pakistanische Männer, ein Flugzeug zu entführen, um es als »Waffe einer rechtschaffenen Sache« zu verwenden, doch ein telepathischer Held vereitelt ihre Pläne.10 Dieser Held wirkt derart auf ihren Verstand ein, dass die Männer nicht nur die Entführung stoppen, sondern auch all ihre Taten gestehen, sobald sie den Behörden übergeben werden. Der Anführer, dessen Name, seltsam genug, Mohammad ist, sagt, dass »es stimmt, ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll!« Diese Szene ist so überspitzt, dass sie als zynischer Kommentar zu den Problemen angesehen werden könnte, mit denen viele Araber und Muslime während der rigorosen und oft geradezu rassistischen Sicherheitskontrollen an Flughäfen nach 9/11 konfrontiert waren. Dies wurde aber möglicherweise im Jahr 2002 nicht von einer Mehrheit der Leser so interpretiert. Die Darstellung der Figur Dust zeigt ein gewisses Maß an Verständnis und Respekt für muslimische Traditionen und Kulturen, jedoch in einer Art und Weise, die klar erkennen lässt, dass sie sich an ein amerikanisches Publikum weniger als ein Jahr nach 9/11 richtet. In diesem Zusammenhang scheint die Notwendigkeit, die »Andersartigkeit« von Muslimen zu zeigen, genauso wichtig gewesen zu sein wie die Notwendigkeit, Respekt für muslimische Traditionen zu zeigen. Dust wird als eine Figur dargestellt, die ganz klar in der orientalistischen Tradition erschaffen wurde: die sexualisierte, weibliche, orientalische Andere, die durch eine Figur gerettet werden muss, mit der sich westliche Leser am besten identifizieren können sollen. Sie ist, um eine Formulierung zu verwenden, die von Laura Mulvey geprägt 9 | Abaya bedeutet »Mantel«. Es ist eine traditionelle, lange Oberbekleidung, im Wesentlichen ein kleidähnliches, oft schwarzes Gewand, das von Frauen getragen wird, vor allem in den Golfstaaten und Saudi-Arabien. Niqab bedeutet »Maske« und bezieht sich auf einen Schleier, der das Gesicht bedeckt und der in Kombination mit verschiedenen Kleidungsstücken wie der Abaya getragen werden kann. Burqa bedeutet »zusammenflicken« oder »zusammennähen.« Der Begriff beschreibt eine Ganzkörperbedeckung von muslimischen Frauen, die als Kombination von einer Abaya, einem Niqab und einem Kopftuch getragen werden kann oder als ein einziges, zusammenhängendes Kleidungsstück, das den ganzen Körper bedeckt. 10 | New X-Men #133 (12).

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wurde, das Objekt des männlichen Blicks, sowohl dem eines weißen, männlichen Helden als auch höchstwahrscheinlich dem eines weißen, männlichen Lesers. Abbildung 3: New X-Men Hellions #2 (2005), Titelseite von Clayton Henry. © Marvel

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

Spätere Geschichten, in welchen Dust vorkommt, lassen sich nicht so leicht als Fälle von Orientalismus oder Sexismus kategorisieren. In diesen Episoden basiert das Superheldenkostüm, das die Figur wählt, auf ihrem ursprünglichen Outfit, der schwarzen Abaya und dem Niqab. In der Erzählreihe Children of the X-Men von 2007 (DeFilippis und Wier, New X-Men, Vol. 2, #42) fragt eine Figur Dust, warum sie immer noch eine Burqa trägt. Eine andere Figur antwortet, dass es sich nicht um eine Burqa, sondern um eine Abaya mit einem Niqab handelt, und bittet die erste Figur darum, mehr über Dusts Kultur zu lernen, um ihr Respekt entgegenzubringen. Es besteht kein Zweifel, dass die Schöpfer Dust zu einer positiven, muslimischen Superheldenfigur machen wollten und dass sie die Botschaft vermitteln wollten, dass es wichtig ist, die arabische und muslimische Kultur zu verstehen. Diese didaktische Aussage kollidiert, obwohl sie ziemlich offensichtlich und etwas schwerfällig ist, nicht mit dem Gesamtfluss der Erzählung und scheint fast im Einklang mit dem Handlungsraum des Marvel-Universums. In einer Erzählung aus dem Jahr 2005 (DeFilippis und Wier, X-Men: Hellions #2) trifft Dust ihre Mutter in Afghanistan wieder. Als die Mutter mit Freude registriert, dass ihre Tochter noch immer ihre Burqa trägt (wie ihr Outfit in dieser Erzählung genannt wird), teilt Dust ihr mit, dass »ich es nie wegen der Taliban trug, Mutter. Mir gefiel der Anstand und Schutz, den sie mir von den Augen der Männer bietet.«11 Auch hier versucht der Autor eindeutig Respekt für die religiösen und kulturellen Überzeugungen zu zeigen, die diese Figur symbolisieren soll (siehe Abb. 3). Darüber hinaus zeigt eine weitere Szene in »Choosing Sides« aus dem Jahr 2004 (DeFilippis, New X-Men, Vol. 2, #2), in der es um Dusts Kleiderwahl geht, die junge Mitbewohnerin der Heldin, eine junge, spärlich bekleidete Frau, die sich an Dusts Kleidung stört und sagt: »Ich muss mir nichts von einer sagen lassen, die Frauen um 50 Jahre zurückwirft, indem sie so herumläuft.« Diese Szene unterstreicht die kulturellen Konflikte, welche Dusts traditionelle Kleidung auslöst, und sie zeigt Dust als die verständnisvollere und tolerantere der beiden Frauen, um auf diese Weise die stereotype Darstellung von Muslimen als intolerant umzukehren. Der Symbolismus von Dusts Kleidung ist offensichtlich. Die Verwendung von verschiedenen traditionellen Schleiern, einschließlich der Burqa, ist ein heiß diskutiertes Thema, sowohl in den arabischen Ländern als auch in anderen Teilen der Welt – eine Debatte, die sicher erklärt, warum Dust dieses Outfit trägt und warum es in diesen Erzählungen so prominent vorkommt. Viele der Vorstellungen, die Dust und andere Figuren auf beiden Seiten der Burqa-Diskussion darlegten, waren jedoch nicht völlig neu in der Welt der Comics: Einige Feministinnen im Westen, darunter die Comiczeichnerin Marjane Satrapi (Persepolis), kämpften für das Recht von Frauen auf freie Kleidungswahl und gegen Gesetze gegen den Gebrauch von Schleiern (vgl. Satrapi). Während es offensichtlich scheint, dass die meisten Autoren und Künstler, die Dust in ihren Werken integrierten (und die, soweit ich beurteilen kann, nicht selbst Araber, arabische Amerikaner, Muslime oder muslimische Amerikaner sind), die Absicht hatten, eine positive, muslimische Figur abzubilden, wurde ihre Darstellung dennoch von Muslimen dafür kritisiert, dass sie Dust in einem Kleid zeigen, das zu eng und zu freizügig ist und deshalb den Zweck der Abaya nicht erfüllt. 11 | In diesem Aufsatz sind kursiv und fett gedruckte Zitate vorlagengetreu aus den Originaltexten übernommen.

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Tatsächlich gibt es einen deutlichen Unterschied in der Art und Weise, wie die Figur von verschiedenen Künstlern dargestellt wurde, die an Titeln mitarbeiteten, in denen sie erschien. Einige der Künstler zeigten kein vollständiges Verständnis für die ursprüngliche Idee und gaben Dust ein freizügigeres Kleid; in einigen Fällen haftete ihre Kleidung sogar an ihr wie die traditionellen Latex-Superheldenkostüme und folgte so eindeutig den Konventionen des vom männlichen Blick geprägten amerikanischen Superheldengenres.12 Eine weitere Kritik an Dust ist in der Tatsache begründet, dass sie überhaupt dargestellt wird, da Darstellungen von Frauen von einigen Muslimen als anstößig empfunden werden.13 Dusts religiöse Überzeugungen sind ein weiterer potenzieller Konfliktpunkt, da sie oft betend gezeigt wird oder während sie Allah um Vergebung bittet für das, was sie sieht oder tut. Dies steht in deutlichem Gegensatz zum Verhalten anderer Figuren, obwohl viele von ihnen religiöse Zugehörigkeiten und Überzeugungen haben. Da sie aber die einzige muslimische Figur in den Erzählungen ist, kann dies das allgemeine Vorurteil verstärken, demzufolge der Islam eine fordernde und verurteilende Religion sei. Auf der anderen Seite wird Dust manchmal dabei gezeigt, wie sie andere Figuren für ihr sexistisches Handeln in einer Art und Weise rügt, die ihre moralische Überlegenheit stark herausstellt.14 Der Schleier oder Niqab ist wahrscheinlich Dusts umstrittenstes Kennzeichen. Die Verhüllung der Frauen ist im Westen sowohl zu einem Symbol für die Unterdrückung von Frauen im Islam geworden als auch eine Art symbolisches, sichtbares Zeichen für die sexuelle Objektivierung in der orientalistischen Tradition. So kann Dusts Kostüm als eine Einladung verstanden werden, dem männlichen Blick unterworfen zu werden, und als ein Verfahren des »Othering«. Zugleich ist es ein Kennzeichen einer arabischen/muslimischen Frau, jedoch mit der Konnotation westlicher Vorherrschaft und männlicher Dominanz. [...]

12 | Mulveys Konzept des männlichen Blicks war besonders in der Filmwissenschaft einflussreich, aber es wurde auch kritisiert. Ettinger kritisiert Mulvey, weil ihr Konzept andere Faktoren wie Klasse und Rasse nicht berücksichtigt, und schlägt stattdessen ihr intersektionales Konzept des »matrixal gaze« vor. Für den Zweck dieses Aufsatzes werde ich jedoch den Begriff des männlichen Blicks von Mulvey verwenden, weil die Annahme, dass die Leser bzw. das Publikum von visuellen Medien als heterosexuelle Männer angesehen werden können, im Zusammenhang mit amerikanischen Superhelden-Comics besonders sinnvoll ist, einem Genre, dessen Publikum (und Autorenschaft) schon immer überwiegend männlich war und dessen Geschichte voll ist von hypersexuellen Darstellungen spärlich bekleideter weiblicher Figuren. 13 | Siehe zum Beispiel die Stellungnahmen in der Kommentarspalte zum Artikel »Niqab SuperHero: Sooraya Qadir, X-Woman« (Younus). 14 | Zum Beispiel in Young X-Men #2 und Young X-Men #3, verfasst von Mark Guggenheim.

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

F a zit Ein wichtiges Ergebnis dieser Studie – wenn auch ein offensichtliches – besteht in der Erkenntnis, dass arabische und muslimische Superhelden auch nach 9/11 in amerikanischen Comics vorkommen. Obwohl diese Entwicklung bereits nach dem ersten Golfkrieg begann, erreichen arabische und muslimische Superhelden mittlerweile ein breiteres Publikum als vor 9/11. Wie Louise Cainkar vorschlägt, kann diese Entwicklung höchstwahrscheinlich dadurch erklärt werden, dass diese Gruppen in den Vereinigten Staaten in den letzten zehn Jahren sichtbarer geworden sind. Zusätzlich sind mittlerweile deutlich mehr positive Darstellungen von Arabern und Muslimen in der amerikanischen Populärkultur zu finden, wie Evelyn Alsultanys Studie über amerikanische Fernsehdramen nach 9/11 zeigt: »Nach dem 11. September 2001 gab es zwei bedeutende Veränderungen in der Darstellung von arabischen und muslimischen Amerikanern in den U.S.-Medien: eine gesteigerte Präsenz und, in Verbindung damit, wesentlich mehr sympathische Darstellungen.« (204) Obwohl die positiven Superheldencomicfiguren, die ich untersucht habe, nicht zu den beliebtesten gehören – mehrere von ihnen traten, als ich dies schrieb, in keiner laufenden Reihe auf (Habib ben Hassan, Faiza Hussain und Hamza Rashad) –, belegt ihre Existenz, dass die Darstellung positiver arabischer und/oder muslimischer Superhelden ein Anliegen der Autoren, Lektoren und vielleicht sogar der Verleger dieser Comics war. In der Vergangenheit haben Kritiker diskutiert, ob amerikanische Superheldengeschichten, die nicht auf männlichen, weißen, angelsächsischen, protestantischen Figuren beruhen, potenziell die Umsätze senken würden. Es war mir nicht möglich zu überprüfen, ob die Streichung der oben analysierten Superhelden-Titel durch zu niedrige Verkaufszahlen infolge der ethnischen und religiösen Identität der Figuren erklärt werden kann. Die beiden noch bestehenden Figuren (Dust und Bridge) scheinen zwar beliebt zu sein, aber keine der beiden hat bislang einen eigenen Titel erhalten (d.h. einen Comic, der den Namen eines Superhelden trägt oder sich auf einen Superhelden besonders konzentriert), was darauf hindeutet, dass sie nicht zu den verkaufsträchtigsten gehören. Mit anderen Worten, diese Figuren müssen sich trotz ihrer zunehmenden Sichtbarkeit und Popularität die Anerkennung erst verdienen, die etabliertere Superhelden bereits genießen. Die in diesem Aufsatz untersuchten Figuren entsprechen sämtlich mehr oder weniger den Funktionsregeln von Comics (vgl. McCloud 7) und ihnen sind daher verschiedene kulturelle Erkennungsmerkmale zugewiesen, die sie regelmäßig als orientalische Andere ausweisen. Die kulturellen Bedeutungsträger, die den Künstlern zur Verfügung stehen, um das visuelle Erscheinungsbild dieser Figuren zu gestalten, sind zu einer Mischung aus Zeichen vermengt worden, die die westliche, aber zugleich auch die arabische und/oder muslimische Kultur kennzeichnen. Die Hinweise, die verwendet werden, um den kulturellen Hintergrund der arabischen oder muslimischen Figuren anzudeuten, reichen von sehr offensichtlichen (Dusts Abaya und Niqab) bis hin zu subtileren (Rashads Kufi). Visuell zeigen alle Figuren außer Bridge klare Anzeichen, etwa Gesichtszüge, die sie als orientalische Andere markieren. Als Bedeutungsträger sind diese eindeutig zu erkennen und es ist unmöglich, die Absichten der Künstler falsch zu verstehen. (Die Art und Weise, wie die Leser sie interpretiert haben, ist jedoch schwerer zu ermitteln). Gleichzeitig scheint oft ein didaktischer Imperativ in den Erzählungen durch, da die Figuren

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klar als visuell abweichend von der Norm dargestellt werden und die Autoren in ihrer Arbeit erkennbar versucht haben, Botschaften der Versöhnung und der Verständigung mit anderen Kulturen zu vermitteln. Die Biografien der von mir analysierten Figuren waren sehr vielfältig: Ein Araber aus einem arabischen Land, ein Muslim aus dem Mittleren Osten, zwei Araber der zweiten oder dritten Generation in Amerika und Großbritannien und ein konvertierter Afroamerikaner. Sie unterscheiden sich auch darin, wie sie ihre Religion ausleben, von öffentlich bis hin zu privat und spirituell. Keiner der arabischen Helden hat einen anderen Glauben als den Islam oder wird als ein Atheist dargestellt, obwohl zwei der Figuren Muslime und keine Araber waren; dies deutet darauf hin, dass es immer noch schwerfällt, Araber und Muslime begrifflich zu trennen. Die unterschiedlichen, fiktiven Biografien aller fünf Figuren zeigen, dass sie nicht nach demselben stereotypen Muster entstanden sind, sondern von ihren jeweiligen Autoren und Zeichnern offenbar als ambitionierte, komplexe und bewusst gegenhegemoniale Schöpfungen entwickelt worden sind. Die Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, und die Art, in der ihre Künstler und Autoren sie kommentiert haben, zeigt auch, dass die meisten dieser Figuren aus einem Gefühl der Verpflichtung hervorgegangen sind, ein positiveres Bild von Arabern und Muslimen in einem Medium zu zeigen, das ansonsten noch voll von negativen Stereotypen ist. Doch trotz der lobenswerten Versuche, rassistischen Darstellungen von Arabern und Muslimen als Terroristen entgegenzutreten, enttäuschen einige der Geschichten immer noch, weil sie zu sehr darauf bedacht sind, eine lehrreiche Botschaft zu vermitteln. Die Autoren und/oder die Künstler versuchen so sehr, positive Vorbilder abzubilden, dass sie damit unabsichtlich sowohl stereotype Darstellungen von Arabern und Muslimen als auch von Islamfeinden erschaffen. Diese Strategie läuft Gefahr, die Darstellung des orientalisch Anderen fortzuschreiben statt sie zu revidieren. Shaheen schlägt in Arab and Muslim Stereotyping eine mögliche Erklärung für diese Tendenz vor: Das Wissen über die arabische und muslimische Kultur und ihre Geschichte ist in Amerika noch immer sehr oberflächlich. Soweit ich weiß, waren keine arabischen und/oder muslimischen Autoren an der Entstehung der Comics beteiligt, die ich untersucht habe.15 Eine andere Erklärung könnte darin bestehen, dass der Diskurs von Superheldencomics nicht für nuancierte Charakterisierungen dieser komplizierten Gegenstände geeignet ist. DC Comics ist im Besitz des amerikanischen Unterhaltungsriesen Warner Bros. und Marvel Comics ist seit 2009 im Besitz eines weiteren amerikanischen Unterhaltungsriesen, der Walt Disney Company. Beide dieser Firmen üben zweifellos Druck auf DC und Marvel aus, Gewinn zu erzielen. Superheldencomics sind kommerzielle Produkte, die für ihre Umsätze ein großes Publikum erreichen müssen. Und der Diskurs, der sich seit der Veröffentlichung des ersten Superheldencomics im Jahr 1938 entwickelt hat, hat sich an die Anforderungen eines Massenpublikums angepasst, das vor allem aus männlichen Teenagern besteht (Robbins 3). Daher könnte man zum 15 | Das überzeugendste Beispiel scheint hier Excalibur/Faiza Hussain zu sein – ein offensichtlicher Versuch, eine plausible muslimische Figur innerhalb des Handlungsraums eines Superhelden-Universums zu schaffen. Dies kann teilweise dadurch erklärt werden, dass der Autor eine Gruppe muslimischer Frauen konsultiert hat, um seine Skripte zu überprüfen, bevor er sie an den Künstler übergab (vgl. Ong Pang Kean).

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

Schluss kommen, dass das Superheldengenre an sich eine dualistische, moralische Vereinfachung komplizierter Angelegenheiten darstellt, eine ikonische Version der Welt, in der man entweder Freund oder Feind ist oder, in diesem Fall, entweder ein »guter« oder »schlechter« Araber oder Muslim. Außerhalb des Superheldengenres kann ein unscheinbarer, aber dennoch wahrnehmbarer Trend positiver Darstellungen von Arabern und Muslimen in Comics aus den Vereinigten Staaten beobachtet werden. Beispiele hierfür sind die von der Kritik gelobten journalistischen graphic novels Palestine (2001) und Footnotes in Gaza (2010) von Joe Sacco, die graphic novels Arab in America (2008) von Toufic El Rassi und Habibi (2011) von Craig Thompson sowie der Erfolg übersetzter graphic novels wie Embroideries (2006), Chicken with Plums (2006) und The Complete Persepolis (2007) von der iranisch-französischen Autorin und Künstlerin Marjane Satrapi. In diesen Texten werden Araber und Muslime nicht als schematische Figuren, aufgeladene Symbole oder vereinfachte Stereotypen dargestellt, sondern als komplexe Menschen, die manchmal gut und manchmal schlecht sind. Der Unterschied zwischen diesen graphic novels und den Comics, die ich für meine Studie konsultiert habe, ist zum einen auf die jeweiligen Zielgruppen zurückzuführen, die bei Comics jünger ist als bei graphic novels, und zum anderen darauf, dass Superheldencomics meist kommerzielle Produkte sind, die von einem ausschließlich dafür angestellten Team produziert werden, während graphic novels meist Autorenprojekte sind, die mehr Raum bieten für anspruchsvolles Erzählen und nuancierte Darstellungen von Figuren, Beziehungen, sozialen Systemen etc. Es liegt noch ein langer Weg vor uns, bevor Araber und Muslime, ob sie in den Vereinigten Staaten oder in anderen Teilen der Welt leben, auf weniger simplistische und problematische Weise in amerikanischen Superheldencomics dargestellt werden. Die Art, wie sie heute repräsentiert sind, erzählt uns mehr über das Selbstbild des Westens im Allgemeinen und der USA im Besonderen als über die arabischen und/oder muslimischen Welten.

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Strömberg: »Hey, Turban-Typ«

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Spider-Man India Comics und die Übersetzung/Transkreation amerikanischer Narrative* Shilpa Davé

Im Jahr 2004 publizierte die Gotham Entertainment Group (mit Sitz in Bangalore, Indien) eine revisionistische origin story des Superhelden Spider-Man. An der Basis der Geschichte lag eine Frage: Was würde passieren, wenn Spider-Man ein indischer Teenager wäre, der in Indien aufgewachsen ist? Die vier Bände dieser limitierten Serie wurden simultan in Indien und den USA publiziert und erreichten eine gedruckte Auflage von 5 Millionen.1 Auch wenn Spider-Man India eher ein Experiment als ein kommerzieller Erfolg war, hat die Idee Anklang gefunden, einen amerikanischen Comic aus einer indischen Perspektive neu zu schreiben. Bis heute hat die Geschichte einen gewissen Einfluss auf die Entwicklung und Verbreitung indischer Bilder auf dem internationalen Markt rund um Superhelden. Spider-Man India war einer der ersten Versuche, einen durch und durch amerikanischen Superhelden kulturell zu übersetzen und in einen Helden mit indischem Hintergrund zu verwandeln. Doch dem Comic war schon ein Weg bereitet worden – er hat also durchaus seine kulturellen und konzeptionellen Vorläufer. Die Transformation und Revision von superheldischen Ursprungserzählungen ist schon lange populärer Brauch in der amerikanischen Comicindustrie, wo Superhelden regelmässig in alternative Universen und andere historische Epochen versetzt werden. Spider-Man India folgt der Logik der What If-Comics, die Marvel seit 1977 publiziert; in ihnen werden divergente narrative Möglichkeiten und Settings für die Geschichten der Helden erprobt. DC hat ein ähnliches Format ins Leben gerufen, die Elseworlds-Serie (1989-), in der sich beliebte Superhelden in verschiedenen Epochen und Kontexten finden, die außerhalb der narrativen Kontinuität der Hauptserien angesiedelt sind. In der limitierten Serie Red Son (DC Comics, 2003) zum Beispiel entwarf Mark Millar ein alternatives historisches Szenario, in dem *  Davé, Shilpa: »Spider-Man India. Comic Books and the Translating/Transcreating of American Cultural Narratives.« In: Shane Denson, Christina Meyer und Daniel Stein (Hg.): Transnational Perspectives on Graphic Narratives. Comics at the Crossroads. London: Bloomsbury 2013. S. 127-143. Übersetzt von Joanna Nowotny. 1 | Zuerst erschien die limitierte Serie in Einzelbänden. 2005 wurden sie im graphic novelFormat als Buch zusammengefasst.

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

Superman nicht in den USA, sondern in Russland zur Zeit des Kalten Kriegs landete. Wie Spider-Man India erzählt Red Son die Geschichte eines nordamerikanischen Superhelden aus einer kulturell anderen Perspektive neu. Darüber hinaus findet sich in der Serie Marvel Mangaverse (2000-3, 2005-6) ein Austausch zwischen dem asiatischen Kulturraum und den Vereinigten Staaten, da klassische Helden im Stil japanischer Mangas neu entworfen und mit asiatischen sozialen und kulturellen Charakteristika versehen werden. In neuerer Zeit veröffentlichte DC Batman Incorporated (2010-), eine Serie, in der Bruce Wayne sich sein globales Firmenimperium zu Nutzen macht, um eine ethnisch und kulturell diverse Gruppe aus internationalen Helden zu versammeln, die auf der ganzen Welt Wache halten.2 Solche Crossovers mögen von besonderem Interesse für die Nischengruppe an Fans sein, die Henry Jenkins als »Pop-Kosmopoliten« bezeichnete, Kulturkonsumenten mit einer eklektischen Vorliebe für Erzeugnisse anderer Popkulturen, welche die Produkte des heimatlichen Mainstream in den Schatten stellen. Doch solche Geschichten legen auch Zeugnis ab eines zunehmenden Bewusstseins von und einer wachsenden Auseinandersetzung mit transnationalen und transkulturellen Strömungen, wie sie im Kontext der amerikanischen Populärkultur (und ihrer Ikonen) überhaupt zu diagnostizieren sind.3 Zusätzlich werden durch die Produktion solch interkultureller Narrative größere Fragen angesprochen, die sich um die kulturelle Übersetzung und die populärkulturelle Repräsentation des ›Anderen‹, der Differenz drehen, sei sie national, sprachlich, ethnisch, ökonomisch, geschlechtlich oder sozial verfasst. In der Ära der Globalisierung verbreiten sich amerikanische Superheldennarrative in den Massenmedien schnell über nationale Grenzen hinweg. Oft werden sie benutzt, um einen nationalistisch-amerikanischen Diskurs voranzutreiben, der Einfluss hat auf zahlreiche Subjekte und vielgestaltige soziale und politische Bewegungen auf der ganzen Welt. Jenkins wies beispielsweise darauf hin, dass eine Serie wie DC: The New Frontier (2003-4) die »Gründung der Justice League« mit den »ersten Regungen der ›New Frontier‹« in den 1950ern verbinde, und Figuren wie Superman und Wonder Woman dazu verwende, »US-Amerikas Verstrickung in Indochina« zu diskutieren.4 Laut Lisa Duggan wurden im US-amerikanischen neoliberalen Diskurs der 1990er Konsum und Kapitalismus zu den entscheidenden Faktoren der nationalen Identität, was die globale Kultur als Marktplatz erscheinen ließ, auf dem Güter und populäre Narrative ge- und verkauft werden können.5 Inderpal Grewal argumentiert weiter, dass die Narrative über die nationale amerikanische Identität Grenzen überqueren, was große Konsequenzen mit sich bringt: »›Amerika‹ war für so viele in der ganzen Welt wichtig, da seine Macht es dem amerikanischen Nationalstaat erlaubte, das Versprechen demokratischer Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit durch Konsumentenpraxen und Disziplinierungs2 | Eine Analyse von Batman Incorporated findet sich im Aufsatz von Katharina Bieloch und Sharif Bitar in Transnational Perspectives on Graphic Narratives (Bieloch und Bitar: »Batman Goes Transnational: The Global Appropriation and Distribution of an American Hero«). 3 | Jenkins 24. 4 | Jenkins 35. 5 | Vgl. Duggan xii-xvii. Soziale und politische Bewegungen der 1960er (Civil Rights, Gay Rights, Bewegungen der ›Third World‹ sowie Frauenrechtsgruppen) erkannten den Zusammenhang zwischen ökonomischen und kulturellen Strömungen. Duggan macht in den 1980ern die Ära aus, in der der kulturelle vom ökonomischen Diskurs getrennt wurde.

Davé: Spider-Man India

techniken zu verbreiten.«6 Somit erlaubte selbst der Erwerb, der Besitz und die Nutzung amerikanischer Güter außerhalb US-Amerikas potenziell eine Annäherung an die amerikanische Macht und ihr Prestige. Doch darf man sich diese globalen Dynamiken nicht bloß einseitig vorstellen. Medienunternehmen wie Sony, Fox oder Disney waren in zahlreichen Ländern beteiligt an der Entwicklung lokaler Inhalte, die dem Export in die USA dienten; zudem brachten sie amerikanische Programme und Filme auf den asiatischen Markt. Spider-Man India ist das Resultat von Marketingstrategien global tätiger Unternehmen, die in den transnationalen Handel verstrickt sind und einer globalen Fangemeinde der Comics zuarbeiten. Dieser Artikel arbeitet heraus, wie die Spider-Man India-Serie die Praxis und Definition kultureller Übersetzung sowie die Funktion nationaler Superhelden in einer neoliberalen Welt hinterfragt, die angewiesen ist auf kulturellen Austausch und populärkulturellen Kosmopolitismus. Die Serie schöpft das Potenzial des visuellen sowie textuellen Mediums Comic aus, mannigfaltige Handlungsstränge nebeneinander zu stellen, Genres zu vermischen und damit über das konventionelle Superhelden-Muster des ›Helden in Strumpfhosen‹ hinauszugehen. Liest man Spider-Man India aus einer transnationalen Perspektive, sowohl als ökonomisches Produkt als auch als narrative Revision des ikonischen amerikanischen Superheldenmythos, zeigt sich, wie der transnationale Austausch von Kultur und Kapital in Form von Übersetzungen und Transformationen neue, andere Formen von nationalen, ethnischen, religiösen und sozialen Narrativen entstehen lassen kann.

N arr ative des tr ansnationalen und tr anskulturellen A ustauschs Die Begriffe »transnational« und »transkulturell« können auf sehr verschiedene Weisen verwendet werden, und es ist unumgänglich, dass sich ihre Bedeutungen teilweise überschneiden. Doch wie Günter Lenz im Kontext der American Studies hervorhob, gibt es gute Gründe, eine konzeptionelle Unterscheidung vorzunehmen.7 Ein transnationaler Blickwinkel hinterfragt und destabilisiert monolithische Definitionen nationaler Identität und berücksichtigt Fragen rund um (Kolonial)reiche, Multikulturalismus, sowie Diversitäten im Bereich von ethnicity, race und class. Das Narrativ, das in Spider-Man India präsentiert wird, lädt zu einem transnationalen Interpretationsansatz ein, insofern die Figur und ihre Handlungen freilegen, wie bekannte amerikanische Klischees über ökonomische, nationale und soziale Hierarchien in Indien ganz neue Erscheinungsformen annehmen. In Opposition zu transnationalen Ansätzen sind transkulturelle Ansätze gemäß Lenz weniger mit Fragen der nationalen Identität beschäftigt. Stattdessen bezeugen sie ein »performatives Verständnis von ›Kultur‹ als hybrid und transgressiv, ein Verständnis, das nicht im traditionellen Sinn auf Territorien basiert.«8 Lenz fügt hinzu, dass transkulturelle Ansätze die dynamischen, fluktuierenden Aspekte von Grenzüberschreitungen betonen, was unser Verständnis von Kultur sowie die Übersetzung

6 | Grewal 2. 7 | Vgl. Lenz 4. 8 | Lenz 4.

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

kultureller Bedeutung(en) grundlegend in Frage stellt.9 Während also die Oberflächenelemente von Spider-Man India, der Plot, die Kostüme und Figuren, sich für einen eher transnational ausgerichteten Ansatz anbieten, sind Konzeptualisierung und Produktion der Serie fundamental transkulturell, da sie etwas Neues entstehen lassen, etwas, worin sich Geschäfts- und Marketingstrategien und das Überschreiten von Genregrenzen im Medium Comic überschneiden. Das Resultat dieses Prozesses fördert kulturell hybride Visionen und Definitionen von Heroismus und Gerechtigkeit, die über einen nationalistischen Kontext hinausgehen. In Spider-Man India hat Kultur anscheinend einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Figur Pavitr Prabhakar (die indische Version von Peter Parker). Selbst das emblematische Spider-Man-Kostüm wurde neu designt; zusätzlich zum hautengen, rot-blauen Anzug trägt Pavitr ein indisches Dhoti. Über die visuelle Modifizierung des Kostüms hinausgehend interessiere ich mich für die Weise, in der die Übersetzung eines ikonisch-amerikanischen Superhelden Narrative über kulturellen Austausch zusammenfügt und neu entstehen lässt. Auf den ersten Blick scheint sich die amerikanische Spider-Man-Geschichte gut in einen indischen Kulturkontext zu fügen, da sie ein Narrativ über Klasse und kulturelle Differenz präsentiert, das nationale Identitäten in den Hintergrund treten lässt und alltägliche Probleme in einer globalisierten Welt anspricht. Jedoch wird die ethnische Differenz des indischen Spider-Man im Vergleich zu seinem amerikanischen Gegenstück heruntergespielt, insofern seine Werte als kulturelle Differenzen mit alternativen kulturellen Referenten präsentiert werden. Wie zeigt Spider-Man, dass er Inder ist, wenn sein ethnisch markierter Körper durch ein Kostüm verdeckt wird? Durch seine geschriebenen Dialoge, seine sozialen Interaktionen und seine Kampfszenen. Daraus folgt, dass die Idee von ethnischer Differenz und deren Auswirkung auf Vorstellungen von populärem Heldentum unter ein indisches Narrativ über soziale Klasse subsumiert werden, das mit Fragen von Bildung und dem Zugang zu ›westlicher‹ Kultur in Verbindung steht. Einer Leserschaft, welche die amerikanische Geschichte kennt, präsentiert der Comic eine andere Welt, mit exotischen Landschaften und kulturellen Referenten, die nicht vertraut sind, was in gewisser Hinsicht an die Geschichten aus den What If- und Elseworlds-Serien erinnert. Indien, das realweltliche Indien, in dem das fiktionale Universum seine Wurzeln hat, ist eigenartig vertraut und zugleich fremd. Ein Erbe des britischen Kolonialismus ist die Tatsache, dass Englisch eine der zwei Amtssprachen ist (Hindi ist die zweite). Dadurch wird in vielen Kontexten Englisch gesprochen oder geschrieben; in Staat und Regierung, in Massenmedien und erstklassigen Bildungsinstitutionen ist Englisch eine der wichtigsten Sprachen. Für die Leserschaft von Spider-Man India mögen kulturelle Ausdrücke somit einer Übersetzung bedürfen, die Sprache selber aber nicht. Um solchen Lesern dabei zu helfen, mit dem unbekannten kulturellen Idiom zurecht zu kommen, stellen die indischen und indisch-amerikanischen Künstler hinten im Comic ein Glossar zur Verfügung, das die fremden Begriffe übersetzt. In dieser Hinsicht bringt die Aufgabe, Spider-Man indisch zu machen, eine Aushandlung sowohl der bekannten ›westlichen‹ Einflüsse – wie der Sprache, der englischen Ausdrücke und Phrasen – mit sich, als auch der Unterschiede in kulturellen und sozialgeschichtlichen Belangen. Spider-Man India übersetzt nicht nur eine amerikanische Geschichte in eine indische; der Comic versucht vielmehr, die Prozesse der globalen Interaktion und 9 | Vgl. Lenz 4.

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narrativen Revision selber neu zu denken, indem er die zwei kulturell spezifischen Geschichten verschmelzen lässt. Sharad Devarajan, CEO von Gotham Entertainment und Mitschöpfer von SpiderMan India, erklärt, dass es sein Ziel war, die wechselseitigen Einflüsse der amerikanischen und indischen Kultur auf neue Art auszudrücken: »Anders als traditionelle Übersetzungen amerikanischer Comics wird Spider-Man India die allererste ›Transkreation‹ werden, in der wir [Inder und indischstämmige US-Amerikaner] den Ursprung einer westlichen Marke [property] wie Spider-Man neu erfinden.«10 Während die Formulierung von Devarajan den Unternehmensjargon ins Feld führt, indem zwei Marken bzw. ›properties‹ zusammengebracht werden, glaube ich, dass das Konzept der Transkreation über reine Geschäftspraktiken hinausweist und wichtige Fragen der narrativen Vermischung von Genres aufwirft. Der vorliegende Aufsatz untersucht die Transkreation als transkulturellen Prozess, indem diskutiert wird, wie indische Autoren und Zeichner eine ikonische amerikanische Figur in ein kulturell und geographisch indisches Umfeld transferieren. Der Prozess einer kulturellen Transkreation unterscheidet sich von dem einer kulturellen Übersetzung, da eine neue Ästhetik entsteht, die nicht durch nationale und kulturelle Fehlinterpretationen eingeschränkt ist, wie sie der Akt der Übersetzung hervorrufen mag. Diese Transkreation ist anspruchsvoll, da versucht wird, auf Hierarchien und das bloße Konsumieren eines ›exotischen‹ Indiens und seiner Produkte zu verzichten. So wurde das Projekt in die Hände von südasiatischen Künstlern gelegt, die selber interkulturelle Produkte der globalen Migration sind. In ihrer Essenz versucht die Transkreation, das amerikanische Wesen eines Produkts neu zu definieren, ihm lokal gefärbte Züge zu verleihen. Darin liegt die tiefere Bedeutung der visuellen Differenz von Spider-Man India, eine Differenz, die die ikonische amerikanische Superhelden-Mythologie mit der spirituellen Mythologie Indiens zusammenbringt, um einen säkularen, hybriden Helden zu schaffen. In der Folge werde ich argumentieren, dass die Transkreation aber auch problematisch ist, insofern die neue Ästhetik durch das ökonomische Ziel eingeschränkt wird, neue Konsumentenmärkte zu erschließen. Gleichzeitig soll die existierende Fanbase befriedigt werden, indem das nationale amerikanische Narrativ beibehalten wird, das mit der Figur assoziiert ist. Das Navigieren zwischen den Limitationen der ursprünglichen Geschichte, dem Erreichen von unternehmerischen Zielen und dem Versuch, ein neues, hybrides Narrativ zu erschaffen, eröffnet die Möglichkeit, verschiedene Genealogien nationaler Mythologie, kultureller Identität und globaler Strömungen zu untersuchen.

S pider -M an und die amerik anische /globale I dentität Zu den bekanntesten amerikanischen Superhelden gehören Superman, Batman, Captain America, Wonder Woman und Spider-Man. Die ersten vier wurden in der Zeit der ›Great Depression‹ und des Zweiten Weltkriegs geschaffen. Spider-Man hingegen erblickte das Licht der Welt erst 1962 und war laut seinem Schöpfer Stan

10 | Zitiert in Saffell 265. Zu japanischen Transkreationen von Spider-Man vgl. Daniel Steins Aufsatz in Transnational Perspectives on Graphic Narratives (Daniel Stein: »Of Transcreations and Transpacific Adaptations: Investigating Manga Versions of Spider-Man«).

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

Lee darauf ausgelegt, Teenager in den Sechzigern anzusprechen.11 Anders als frühere Helden, die Erwachsene mit adoleszenten Sidekicks waren, war Spider-Man von allem Anfang als Soloheld mit seiner eigenen Serie konzipiert, die im März 1963 erstmals unter dem Titel Amazing Spider-Man erschien. Lee wollte eine neue Art Held einführen: »ein heranwachsender Jedermann. Wenn er zu jenen sprach, die sich entmutigt und entrechtet fühlten, klangen seine Worte wahrhaftig.«12 Nicht nur war Spider-Man ein »Jedermann«; er konnte sich auch nicht in der Bewunderung der Öffentlichkeit, der Medien oder der Rechtsprechung suhlen.13 Die Distanzierung seiner Figur von den Institutionen, die mit dem amerikanischen Geschäftsimperialismus assoziiert sind, macht ihn nicht nur zum »Jedermann«, sondern zum globalen Menschen aus der Masse, dessen Geschichte und Charakter sich einfach verstehen und übersetzen lassen. Vergleicht man ihn mit extrem reichen Superhelden wie Batman oder mit einem übermächtigen Alien wie Superman, ist Spider-Man paradoxerweise ein Durchschnittsmensch, der ein breites Publikum ansprechen kann. Nach dem Tod seines Onkels fällt Parker die Verantwortung für seine ältliche Tante May und die finanzielle Situation des Haushalts zu. Ein Dieb ermordet Onkel Ben, und Peter wird sehr bald bewusst, dass es sich beim Mörder um den Mann handelt, den er kurz zuvor bei einem Verbrechen ertappt hatte und entkommen ließ. Diese tragischen Erlebnisse formen sein Verständnis der Rolle, die er in der Welt zu spielen hat. Sein Credo, »with great power there must also come – great responsibility«, weist darauf hin, dass der persönliche Wunsch nach einem normalen Privatleben oder nach Ruhm, Ehre und Reichtum hinter den neu erworbenen Kräften und der Verpflichtung zurücktreten muss, sie zur Hilfe der Bedürftigen einzusetzen. Anders als Superman, der oft mit der amerikanischen Politik assoziiert wird, ist Spider-Man ein Eigenbrötler, der nicht mit nationalpolitischen Interessen beschäftigt ist. Spider-Mans Credo liegt die Überzeugung zugrunde, dass Opfer gebracht werden müssen, um dem größeren Guten zu dienen, eine Botschaft, die über nationale Ideologien hinausgeht und ein internationales und speziell auch indisches Publikum ansprechen kann, ohne dass die Kerngedanken der Figur modifiziert werden müssten. Die Popularität der Comics von Marvel in den 1960ern geht unter anderem darauf zurück, dass die Figuren sich praktischen Problemen stellen mussten, die mit ihrer Rolle als öffentliche Helden einhergingen. Sie mussten sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie ihre Identitäten publik machen sollten und was für persönliche Opfer mit dem Tragen einer Maske einhergehen mögen. In Comic Book Nation stellt Bradfort Wright fest, dass Spider-Man einer der ersten Helden ist, dessen Verhältnis zu seinen Kräften gebrochen ist; in dieser Figur liegen die Anfänge des Antihelden, der introspektiv und voller Fehler ist und seine eigenen Motivationen konstant hinterfragt.14 Obwohl er Autoritäten oftmals herausfordert, tut Spider-Man 11 | Vgl. Simon und Simon 184. Spider-Man hatte seinen ersten Auftritt in Amazing Fantasy 15 im Jahr 1962. Es handelte sich um die letzte Folge der Amazing-Fantasy-Reihe. 12 | Lee 6. 13 | Der Zeitungsmogul J. Jonah Jameson vom Daily Bugle publiziert am laufenden Band Artikel, die Spider-Man als Gefahr für die Öffentlichkeit zeichnen. Sogar Peter Parkers Tante, Tante May, ist kein großer Fan von Spider-Man. 14 | Vgl. Wright 212.

Davé: Spider-Man India

in der Regel das Richtige; letztendlich stürzt er das System aber nicht. Stattdessen muss er seine Rolle als Held verteidigen und ist häufig isoliert von anderen Menschen und auch Superhelden. Spider-Man hat Anteil an einem amerikanischen generationellen und klassenspezifischen Narrativ, aber sein Hintergrund als Kind der Arbeiterklasse mit den Sorgen eines Heranwachsenden und, später, den Sorgen um College und Arbeitsplatz reicht über den Kontext der 1960er hinaus und spricht noch heute ein amerikanisches und ein globales Publikum an. Er nimmt nicht nur am amerikanischen Traum vom und dem Streben nach Erfolg teil, sondern erfährt auch ›reale‹ Tragödien (Tod, Liebeskummer) und Nöte (Verlust des Arbeitsplatzes), die wir an anderen verbreiteten Comichelden nur selten beobachten können. Seit den Sechzigern tauchte Spider-Man in einer Vielzahl an Geschichten auf und im Jahr 2001 erreichte seine Figur eine ungeahnte Popularität. Teilweise dafür verantwortlich war die mediale Aufmerksamkeit, die der Film Spider-Man generierte, mit Sam Raimi als Regisseur und einer geplanten Veröffentlichung im Jahr 2002. Durch seine enge Verbindung mit New York sprach der ewige Underdog Spider-Man den Geist New Yorks nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 an.15 Anders als die Helden von DC leben die Marvel-Helden in einer fiktionalisierten ›realen‹ Welt und werden mit zeitgenössischen Fragen und Landschaften assoziiert. Der Film machte aus Spider-Man ein Emblem oder Symbol New York Citys und einen ›all-American‹ Helden, im Gegensatz zur düsteren Figur Batmans, die Christopher Nolan in Batman Begins (2005) inszenierte, oder zum adoleszenten Frauenschwarm Clark Kent in der Fernsehserie Smallville (2000-10).16 Der erste Spider-Man-Film (2002) war in den USA und international ein durchschlagender Erfolg. Er brachte auf dem amerikanischen Markt 403 Millionen und international 413 Millionen Dollar in die Kassen, darunter 56 Millionen in Japan und 5 Millionen in Indien (Spider-Man war somit der erfolgreichste internationale Film in Indien; zum Vergleich, der erfolgreichste Hindi-Film des Jahres 2002, Devdas, brachte 25 Millionen ein).17 Spider-Man war schon vor dem Filmerfolg durch die Comics und Fernseh-Cartoons ein bekanntes kommerzielles Produkt.18 Doch die Idee, eine indische Geschichte für Spider-Man zu erfinden, war neu. SpiderMan India erschien knapp vor Spider-Man 2 (2004).19 Der Film eröffnete neue Mög15 | Eine Filmvorschau zeigte Spider-Man, wie er am World Trade Center vorüberschwingt und einen Helikopter zwischen den Türmen einfängt. Nach den Terroranschlägen zog das Studio die Vorschau zurück und editierte die entsprechende Szene im Film. 16 | Die Schwierigkeiten, mit denen Spider-Man the Musical zu kämpfen hatte, taten der Popularität der Show keinen Abbruch. Trotz schlechter Kritiken, dem Überschreiten des Budgets und dem Verlust der Kreativchefin Julie Taymor feierte das Musical im Frühling 2011 am Broadway Premiere. 17 | Für die Daten zu Spider-Man, vgl. BoxOfficeMojo.com; für Hindi-Filme, siehe BoxOfficeIndia.com. The indischen Zahlen zu den Hindi-Filmen sind in Rupien; 45 Rupien wurden als 1 Dollar umgerechnet. 18 | Die indischen Comicverleger Diamond Comics und Indrajal Comics publizierten seit den Sechzigern amerikanische Comics, in denen Superman und Spider-Man auftraten, manchmal in der englischen Originalsprache, manchmal in Hindi-Übersetzung (vgl. Mathur 170). 19 | Der Film nahm auf dem amerikanischen Markt 373 Millionen Dollar, international 410 Millionen Dollar ein (60 Millionen in Japan und 7 Millionen in Indien). Der indische Blockbuster dieses Jahres war Veer Zaara (22 Millionen).

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

lichkeiten globalen Handels und Marketings – eine limitierte Comicserie, die die indische Diaspora und ein allgemeines amerikanisches Publikum ansprechen und Reklame für die Filmfortsetzung machen sollte.

E ine A nalyse der Tr anskre ation von S pider -M an I ndia Indem er Spider-Man India als Transkreation und nicht als Übersetzung bezeichnet, macht Mitschöpfer Sharad Devarajan klar, dass er eine Ursprungsgeschichte schreiben wollte, die Spider-Mans Narrativ des Durchschnittsmenschen treu bleiben sollte. Zugleich wollte er Spider-Man aber zu einer genuin indischen Figur mit kulturell indischen Markern machen, anstatt einen Amerikaner einfach in ein indisches Umfeld zu ›übersetzen‹. Die Essenz der Figur liegt in Eigenschaften, die nicht mit spezifisch amerikanischen politischen Zielen verbunden sind und sich deshalb nahtlos in ein globales städtisches Narrativ einfügen lassen. Während die Globalisierung nationale Grenzen und Identitäten auf bricht, könnte der Versuch, eine lokal ›indische‹ Spider-Man-Geschichte zu schreiben, stattdessen das Bedürfnis nach einem exotischen, gut verkäuflichen, orientalisierten Produkt des ›Ostens‹ bedienen. Suchitra Mathur weist darauf hin, dass der indische Comickünstler Sanjay Gupta in den 1980ern seine Comicfigur Nagraj (auf Deutsch »Schlangenkönig«) schuf, indem er Elemente der Spider-Man-Mythologie mit lokaler indischer Mythologie verknüpfte.20 Nagrajs Kräfte ähneln denen Spider-Mans; er hat einen ›sechsten Sinn‹ und kann aus seinen Armen Schlangen (statt Spinnennetze) schießen. Doch die Figur leitet sich aus der Überlieferung über Schlangen und aus der indischen Mythologie her. Trotz der Ähnlichkeiten mit dem amerikanischen Spider-Man glaubt Mathur, dass die Nagraj-Comics »einen Mittelweg zwischen Eindämmung und Widerstand« gehen »in einem Indien, in dem der durch ein ›liberalisiertes‹, konsumorientiertes Wirtschaftssystem zunehmende US-amerikanische Einfluss koexistiert mit dem wieder erwachenden militanten Nationalismus, der sich mit dem hinduistischen Fundamentalismus verbrüdert«.21 Sie kommt zum Schluss, dass Nagraj die Entstehung einer neuen, lokalen, indischen SuperheldenÄsthetik exemplifiziert, die Narrativen entgegensteht, welche nur amerikanische Vorlagen kopieren. Ich möchte zeigen, dass Spider-Man India weiter versucht, die lokal-indischen Elemente der amerikanischen Geschichte für ein englischsprachiges Publikum neu zu gestalten. Das Unterfangen schließt Inder und indischstämmige US-Amerikaner sowohl als Produzenten als auch als Konsumenten globaler Produkte mit ein. Wir können nicht ignorieren, dass das Narrativ globale Machthierarchien reproduziert, was sich beispielsweise in der privilegierten Darstellung der wohlhabenden, westlich orientierten indischen Studenten zeigt, wenn man sie mit dem armen Jungen vom Lande, Pavitr Prabhakar, vergleicht. Spider-Man India bedient sich allerdings einer alternativen Strategie, um globale Interessen und lokale Märkte unter einen Hut zu bringen.

20 | Nagraj erschien zuerst von 1986-95 und wurde von Raj Comics publiziert. Heute ist Raj Comics einer der größten Verlage für Hindi-Comics. Vgl. für mehr Informationen über indische Comics McLain, Rao; Sreenivas; zu Spider-Man India vgl. O’Rourke und Rodrigues. 21 | Mathur 173.

Davé: Spider-Man India

In ihrer Studie über das Marketing der indischen Barbie weist Inderpal Grewal darauf hin, dass durch Großunternehmen initiierte Studien in den 1990ern Marketingstrategien nahelegten, die auf der Anerkennung nationaler und globaler Marken basierten, anstatt auf Klasse oder Kaste, Beziehungsstatus oder Anstellungsverhältnisse Bezug zu nehmen.22 Noch bedeutsamer ist, dass Produkte geschätzt wurden, sofern sie mit US-Amerika assoziiert waren, was zur Folge hatte, dass jede Modifikation eines Produkts für einen indischen Markt gewisse ›amerikanische‹ Kernelemente beibehalten musste.23 Grewal stellt auch fest, dass die indische Barbie nicht als dunkel-, sondern als hellhäutige, amerikanische Barbie hergestellt wurde, die indische Kleider trägt. Damit bekräftigt die Puppe ›westliche‹ Schönheits- und Modestandards. Im Fall von Spider-Man India ist es der bekannte kostümierte Held, der ein amerikanisches Produkt ist; nicht aber das Individuum unter der Maske. Den Helden ›indisch‹ zu machen, bedeutet nicht unbedingt, den Menschen unter der Maske ethnisch in einen Inder zu verwandeln. Stattdessen wird das Kostüm verändert, um Indien zu repräsentieren. Das visuelle Bild von Spider-Man India befindet sich damit genau an der Grenze zwischen einer einfachen Übersetzung eines amerikanischen Produkts und der Transkreation einer Geschichte, die einen komplexeren kulturellen Austausch reflektiert. Auf der Oberfläche mag es so aussehen, als ob Spider-Man India, ähnlich wie die indische Barbie, bloß eine hellhäutige, amerikanische Figur mit indischem Akzent sei.24 Die Serie setzt mit der Ursprungsgeschichte von Spider-Man India ein, die dem amerikanischen Spider-Man-Narrativ mehr oder weniger ähnelt. Der indische Teenager Pavitr Prebhakar lebt bei seinem Onkel Bhim und seiner Tante Maya. Die Namen sind phonetisch nahe an den Namen von Peter Parker, Onkel Ben und Tante May; kulturell unterscheiden sie sich aber von den amerikanischen Vorbildern. Andere textliche Unterschiede, die auf das Leben in Indien und auf die Kultur des Landes verweisen, sind etwa Wörter aus dem Hindi-Slang und Euphemismen in den Dialogen (z.B. bhaijan oder die Nennung populärer indischer Bollywood-Filmstars wie Shahrukh Khan) oder Geschichten, in denen Kricket – und nicht ›Football‹ – die Sportart ist, die an High Schools gespielt wird. Obwohl die Namen indisch sind, wirkt die Story auf den ersten Blick so, als handle es sich um eine direkte Übersetzung der amerikanischen Geschichte, und nicht um das Produkt einer Transkreation, das Devarajan versprochen hatte. Doch die Serie reimaginiert Parkers amerikanischen Hintergrund aus der Arbeiterklasse und ersetzt diesen mit einer indischen Geschichte über Klassendifferenzen, die die ungleiche Machtverteilung zwischen den ländlichen und kleinstädtischen Gegenden Indiens und den kosmopolitischen großen Städten in den Vordergrund rückt. Das lokale Narrativ präsentiert sich so als Klassenkonflikt, in dem sich das ländliche Indien und die städtischen Zentren des Kapitalismus gegenüberstehen. Die Familie zog aus ihrem Dorf nach Mumbai (der finanziellen Hauptstadt Indiens und dem Sitz der Filmindustrie), damit Pavitr mithilfe eines Stipendiums eine exklusive Privatschule besuchen kann. Der Umzug ist durch den Wunsch moti22 | Vgl. Grewal 96. 23 | Vgl. Grewal 97. 24 | In »Apu’s Brown Voice« diskutiere ich, inwiefern indische Akzente physische und vokale Eigenschaften sind, die übernommen und konsumiert werden können, und dabei ethnische und kulturelle Differenzen evozieren, ohne amerikanische Grundwerte zu bedrohen.

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viert, Pavitr eine bessere Bildung zu bieten, was Englischlernen sowie eine Art Immersion in die ›westliche‹ Kultur beinhaltet. Seine Schulkameraden sind wohlhabende Inder, die Markenkleider tragen und sich in der amerikanischen Kultur bestens auskennen. Ironischerweise sind sie das indische Zielpublikum sowohl für die Spider-Man-Filme als auch für Spider-Man India. Sie machen sich lustig über Pavitrs provinzielle Kleidung, nenne ihn »dhoti-boy« und »village idiot«, Dorftrottel. Durch die USA beeinflusste Kultur wird somit nicht gegen einen militanten Nationalismus, sondern gegen die dörfliche Gemeinschaft abgesetzt, die in SpiderMan India nicht visuell dargestellt ist, sondern durch Pavitr verkörpert wird. Die einzige verständnisvolle Mitschülerin ist Meera Jain (Pavitrs zukünftiger ›love interest‹), die Pavitr offenbart, dass auch sie einmal aufgrund ihrer nicht westlichen Kleidung gehänselt wurde. Indem die Serie darstellt, wie Figuren mit dem Druck kontrastierender kultureller und globaler Einflüsse umgehen, wird die Spider-ManGeschichte umgeschrieben und die in ihr inhärenten Machtkonstellationen werden unterlaufen, da die ›westlichen‹ Figuren nicht zwingend positiv sind. Bevor er Spider-Man wird, muss Pavitr sich der Herausforderung stellen, sich in der realen Welt der Ungleichheiten zurecht zu finden, wo nur ein einziger Weg Erfolg und das Ende des Außenseitertums verspricht: die Akzeptanz existierender Hierarchien und die Anpassung an eine ›verwestlichte‹ Gemeinschaft. Die ersten Zeichnungen und Auftritte von Spider-Man India etablieren die Figur auch als indisch, indem sie neben Bilder Indiens gestellt wird. Während der amerikanische Spider-Man mit der Architektur von New York und mit Sehenswürdigkeiten wie der Freiheitsstatue, dem Empire State Building, Ellis Island und der Brooklyn Bridge assoziiert ist, strotzt Mumbai in der amerikanischen Kultur nicht gerade vor Sehenswürdigkeiten, die großen Wiedererkennungswert besitzen. Um Inder und Mitglieder der südasiatischen Diaspora anzusprechen, inkludieren die Künstler einige bekannte Ort wie ›the Queen’s Necklace‹, die Skyline der Stadt vom Ufer des Meeres aus betrachtet oder das ›Gateway of India‹. Obwohl die vier Folgen einzelne lokale Orte abbilden, legen sie das Schwergewicht auf Bilder Indiens, die international erkannt werden. Das Cover des zweiten Bandes zeigt Spider-Man vor dem Taj Mahal, obwohl er sich in der westlichen Küstenstadt Mumbai und nicht im nördlichen Agra befindet (vgl. Abb. 1). Das Platzieren Spider-Mans vor dem Taj Mahal illustriert die Schwierigkeit, visuelle Referenten zu finden, die Spider-Man als indisch ausweisen. Es zeigt ebenso das Ungleichgewicht auf, das zwischen der ikonographischen Macht Amerikas und derjenigen Indiens besteht, selbst in diesem transkulturellen Produkt, sowie die Grenzen, die einer auf eine hybride Vision abzielenden Transkreation gesetzt sind. Um Spider-Man als indisch zu verkaufen, müssen die Illustrationen das reproduzieren, was ein globales Konsumentenpublikum als indisch wahrnimmt (wie den Taj Mahal); daraus resultieren Bilder, die sich in Richtung westlicher Stereotypen über Indien bewegen. Die Bilder sind sinnträchtig, aber oftmals dunkel, mit einer Vorliebe für düstere Stadtansichten. Wir sehen keine ländlichen Gegenden, keine städtischen Slums und keine typischen indischen Märkte. Als Neuankömmling in der Stadt wäre Spider-Man India eher mit diesen Gegenden als mit dem ›Gateway to India‹ vertraut. Die Stadt Mumbai wird als eines der Zentren westlicher bzw. verwestlichter Konsumkultur dargestellt, die die Entstehung globaler Industrieunternehmen wie der ›Oberoi Group‹ fördern. Trotz dieser Mängel bietet Spider-Man India mehr als nur das Marketing eines amerikanischen Spider-Man in Indien. Die Transkreation verlangt nicht das Ver-

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werfen aller amerikanischen Einflüsse; stattdessen fordert sie die Transformation des Narrativs, um Fragen der lokalen Umgebung zu adressieren. Eine Methode, dem gerecht zu werden, besteht – neben den Illustrationen selber – im Umschreiben des Ursprungs von Spider-Man Indias Kräften. Dieser Ursprung verweist nun nicht mehr auf die amerikanische Wissenschaft und Technologie, sondern auf die indischen Epen und die Mythologie. Abbildung 1: Titelseite der zweiten Ausgabe von Spider-Man India von Jeevan J. Kang, Suresh Seetharaman und Sharad Devarajan (Gotham Entertainment Group – Marvel Entertainment). Abgedruckt mit Genehmigung.

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D ie problematische Tr anskre ation des heldischen U rsprungs Während er vor einer Gruppe Mobbern aus der Schule flüchtet, wird Pavitr plötzlich von einem mystischen Yogi erwählt, um im Kampf der Götter gegen Dämonen als Kraft des Guten zu walten. Er wird zum Nachfolger eines Avatars der Götter ernannt und erhält die Kräfte einer Spinne, die »the intangible web of life« webe. Der Yogi sagt zu Pavitr: »The universe grants you this power and the necessary knowledge to use it. This is your destiny Pavitr… rise to the challenge and fulfill your karma.«25 Anstatt auf einen zufälligen Spinnenbiss zurückzugehen, werden Pavitr die Kräfte absichtlich verliehen: Sein karmisches Schicksal liegt darin, eine Rolle in einer größeren kosmischen Geschichte zu spielen. Er macht eine physische Transformation durch, mit der die Gabe eines Kostüms samt Maske einhergeht. Als Erwählter der Götter schließt sein Narrativ an die allgemeinere Superheldenmythologie an. Richard Reynolds hat argumentiert, dass amerikanische Comics Superhelden oftmals etablieren und rechtfertigen, indem sie großzügig Elemente aus den Geschichten mystischer Götter und legendärer Helden entlehnen. Er hat unter anderem darauf hingewiesen, dass Marvels Figur Thor »in der zeitgenössischen westlichen Kultur keine besonders bekannte Figur« gewesen sei; »Marvel Comics haben ihn und das ganze nordische Pantheon für ein ganz neues Publikum auf bereitet.«26 Thors Erfolg basierte auf einer Verbindung der nordischen Mythologie mit Kernelementen des Superheldenmythos, unter anderem durch Elemente der Figurenbiographie, wie verstorbene oder fehlende Eltern, vor allem aber durch die Gleichsetzung von Wissenschaft mit Magie. Reynold stellt fest, dass dieses Element »fundamentaler Teil der Natur des Universums« sei, »das Superheldencomics darstellen«. »Wissenschaft wird wie eine spezielle Form von Magie behandelt, fähig zu Gutem und Bösem.«27 Spider-Man India bedient sich eines alternativen mythologischen Narrativs, das nicht den griechischen, römischen oder nordischen Traditionen entspringt. Dabei entwickelt Spider-Man India neue Handlungs- und Entwicklungsbögen sowie Kämpfe für die Figuren, womit der Comic zentrale Charakteristika des Superheldengenres umarbeitet. Indem der Ursprung der Kräfte verändert wird – nicht aber ihre Erscheinungsform −, wird die Figur neu gerahmt und zu einer indischen gemacht. Für Spider-Man India ist der Antrieb, Held zu sein, mit der Teilhabe an einer langen Geschichte verbunden, die den zeitgenössischen Materialismus und die Obsession mit Geld in den Hintergrund drängt. Der Prozess der Transkreation stellt so eine Verbindung her, die über das Individuum hinausgeht, globalisierten Denkprozessen entgegenkommt, aber doch für die indische Kultur im Speziellen relevant bleibt. Ein Held, der an einem karmischen Schicksal teilhat und mit der mythischen Tradition verbunden ist, die geographische und zeitliche Grenzen zu überschreiten vermag, tritt an die Stelle des antiautoritären und unabhängigen amerikanischen Spider-Man. Die Serie inkorporiert Elemente der indischen Mythologie, zum Beispiel Gegner, die reinkarnierte Dämonen sind, oder mystische Yogis und weise Männer; diese suchen in der modernen Welt nach lokalen Helden, 25 | Kang et al., Spider-Man India 8. 26 | Reynolds 57. 27 | Reynolds 16.

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die sich einem epischen Kampf gegen »despots of malevolence«28 zu stellen vermögen. Pavitr wurde Teil eines größeren Kreislaufs, und er ist der gegenwärtige, aber nicht unbedingt der letzte Avatar in diesem Kampf. Die Gegner in der Geschichte sind mit der unternehmerischen Industrialisierung assoziiert; wie der originale Spider-Man kämpft Pavitr für die Unterprivilegierten und die ländliche Bevölkerung, denen das Geld und die Macht fehlen, für sich einzustehen. In beiden Versionen der Spider-Man-Geschichte sind die Antagonisten Unternehmer und Wissenschaftler (der Green Goblin und Doctor Octopus), aber in der indischen Version werden sie visuell als Dämonen dargestellt (rakshasas), die das Böse in der Welt freisetzen wollen. Es ist nicht zwingend ihr Umgang mit ›westlicher‹ Kultur, der sie böse macht, auch wenn ökonomische Gier sie motiviert. Nalin Oberoi (Norman Osbourne) wird durch ein magisches Amulett vom Bösen überkommen; er verwandelt einen Doktor in Doctor Octopus. Eine positive Lektüre von Spider-Man India könnte argumentieren, dass der Comic in Form einer Transkreation einen neuen Helden entstehen lässt, dessen Wurzeln aus der indischen Mythologie kommen. In einem Interview (NPR’s Fresh Air) im Jahr 2005 sagte Devarajan, er sei von der ursprünglichen Geschichte aus den 1960ern abgewichen, da diese sich der Interaktion von Menschen mit Wissenschaft, Technologie und atomarer Energie gewidmet habe. In der indischen Version wollte er stattdessen diskutieren, wie moderne Menschen mit indischer Spiritualität und Mythologie umgehen.29 In dieser Hinsicht hauchen die Illustrationen den hybriden Visionen eines transkreativen Prozesses Leben ein, in der Darstellung alltäglicher und außergewöhnlicher Figuren, im von Sorge gezeichneten Gesicht von Onkel Bhim ebenso wie in der dämonischen Transformation Nalin Oberois. Die Bilder von Dämonen sind vielfarbig, detailgetreu und von Elementen der indischen Mythologie durchsetzt. Sie machen eine neue ästhetische Vision des Superbösewichts greif bar. Spider-Man India ist allerdings abgeschnitten von jeglichem größeren Narrativ über indische Gottheiten. Der Versuch, die Serie als Beispiel einer Transkreation im Comic zu denken, stößt an seine Grenzen. Obwohl sich viele Gottheiten mit Tier-Avataren und -Kräften im indischen Pantheon finden, hat die Spinnen-Figur keine organische Verbindung mit indischen Geschichten. Mit dem Versuch, die Geschichte neu zu schreiben, schrieb sich Devarajan vielmehr (und vielleicht unwissentlich) in ein größeres Narrativ des Superheldengenres ein, das sich dem Verhältnis von Magie und Wissenschaft widmet. Es gelingt Spider-Man India, ein mythisches indisches Narrativ einem neuen Publikum zu erschließen, aber die Geschichte bleibt – anders als die Thor-Serien oder die indische Nagraj-Serie und anstatt tatsächlich lokale Gottheiten zu verwenden – an das Skript der originalen Spider-Man-Geschichte gebunden. Das Reden über Kräfte und Fähigkeiten von Spinnen – es lässt nicht an die indische Kultur denken, weder in Indien selber noch in den USA. Der kulturelle Mythos ist und bleibt amerikanisch und lässt sich nur schwer in einen transkulturellen Comic einfügen. Zusätzlich vernachlässigt der Comic die kulturellen Normen des Alltagslebens, die Spider-Man zu einer dermaßen transzendierenden Figur machen, da Spider-Man India sich auf Mythos und magische Elemente stützt, um der Geschichte Lokalkolorit zu verleihen. Das 28 | Kang et al., Spider-Man India 10. 29 | Vgl. Devarajan, Radiointerview.

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Setting in Mumbai böte ausgiebig Gelegenheit, lokale Themen zu diskutieren, wie etwa Schwierigkeiten beim Versuch, eine gute Bildung zu erlangen – Schwierigkeiten, die dem indischen Kastensystem mit seinen Quoten und einem massiven Bildungswettbewerb entspringen –, oder die Frage, wie ein multilinguales und -religiöses Umfeld das Leben eines Superhelden beeinflussen mag. Während am Anfang der Geschichte noch versucht wird, solche und ähnliche Themen zu bearbeiten, wird das Narrativ zunehmend im Sinn eines Klassen- und Stadt-LandKonflikts simplifiziert. Doch trotz der Unfähigkeit des transkreativen Prozesses, die ursprüngliche Geschichte Spider-Mans hinter sich zu lassen und eine neue, wahrhaft hybride Figur zu schaffen, hat die Idee der Transkreation als Geschäftsmodell immer noch Hochkonjunktur, um neue Märkte zu erschließen. Spider-Man India entstand als Konsequenz eines spezifischen, globalen Medienevents; der Comic war eines der am stärksten beachteten transnationalen Unterfangen in der Industrie. Er wird sicher nicht das letzte solche Unterfangen bleiben.

S chluss Gotham Entertainment Group prägte den Begriff der »Transkreation« als Erklärung dafür, wie sie einen international vertriebenen amerikanischen Superhelden wie Spider-Man einem »umgekehrten Typus von Globalisierung« unterwerfen wollten, der in der amerikanisch dominierten globalen Welt der Comicindustrie der lokalen, asiatischen Kultur Gehör verschaffen sollte.30 Jede solche kulturelle Übersetzung ist dem Kulturimperialismus und damit Machtdynamiken unterworfen, die ›westliche‹ Kultur als erwünschte Norm privilegieren und gegen die ›exotische‹ östliche Kultur absetzen. Der Akt der Transkreation versucht, die Machtdynamiken des kulturellen Austauschs zu verändern, indem amerikanische Ikonen und Bilder bewusst in einen indischen Rahmen gestellt und neue Helden in die indischen und amerikanischen Nachschlagewerke eingeschrieben werden. SpiderMan India ist ein Beispiel eines transnationalen Produkts, das globalen Austausch durch die Idee einer kulturellen Performance zum Thema macht. Die Entwicklung der Spider-Man India-Serie als transkreatives Produkt zeigt die Grenzen auf, an die die Arbeit mit einer etablierten Ikone stoßen muss, da die Schöpfer bei der Entwicklung von Sprache und Handlung an die Diktate amerikanischer Narrative und die Konventionen des Geschichtenerzählens im Genre gebunden waren. Die Serie eröffnete allerdings auch die Möglichkeit, bei der Entwicklung graphischer Narrative neue Wege zu gehen. Dies könnte kreativen Hybridprodukten den Weg ebnen, die visuelle und narrative Studien sowie kulturelle Übersetzungen herausfordern. Obwohl Spider-Man India nur in vier Folgen auftrat, beschlossen Sharad Devarajan und seine Mitschöpfer, dass die Entwicklung und das Marketing von Comics mit Wurzeln in der indischen Kultur und Mythologie ein wichtiges Unterfangen sei. Anstatt andere amerikanische Helden zu transkreieren oder zu übersetzen, fassten sie den Entschluss, indische Helden für ein zeitgenössisches Publikum zu aktualisieren und sie Konsumenten von indischen und multikulturellen Gütern schmackhaft zu machen. Im Jahr 2006 schloss sich Devarajan mit dem britischen Unternehmer Sir Richard Branson und mit Virgin zusammen, mit Unterstützung 30 | Devarajan, Radiointerview.

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von Deepak Chopra und anderen, und gründete Virgin Comics. 2008 wurde Virgin zu Liquid Comics, eine Firma, die es sich zum Ziel gesetzt hat, aus Indien stammende Geschichten einem globalen Publikum zu vermitteln. Die Firma entwickelte neue Serien mit transnationalen Autoren aus Indien, Japan und anderen asiatischen Ländern; sie stellten mythologische Figuren, spirituelle Narrative und Geschichten in ihr Zentrum, die sich aus der indischen Mythologie herleiteten. Liquid Comics kooperiert mit Filmregisseuren, in der Hoffnung, visuelle Produktionen ins Fernsehen zu bringen, die das Image von Indien verändern und indischen Geschichten weitere Verbreitung verschaffen. Viele der erfolgreichsten Bücher heben eine religiöse Mythologie hervor, aber wie wir im Fall der Comicindustrie beobachten konnten, gibt es das Potenzial interessanter ›crossovers‹.31

B ibliogr aphie Davé, Shilpa. »Apu’s Brown Voice: Cultural Inflection and South Asian Accents.« In East Main Street: Asian American Popular Culture. Hg. Shilpa Davé, LeiLani Nishime, and Tasha Oren. New York: New York University Press, 2005. S. 31336. Devarajan, Sharad. »Men in Tights.« Radio interview. NPR Fresh Air WHYY. Jan. 6, 2005. Duggan, Lisa. The Twilight of Equality: Neoliberalism, Cultural Politics, and the Attack on Democracy. Boston: Beacon Press, 2004. Grewal, Inderpal. Transnational America: Feminisms, Diasporas, Neoliberalisms. Durham: Duke University Press, 2005. Jenkins, Henry. »›Just Men in Tights‹: Rewriting Silver Age Comics in an Era of Multiplicity.« In The Contemporary Comic Book Superhero. Hg. Angela Ndalianis. New York: Routledge, 2009. S. 16-43. Kang Jeevanf, Suresh Seetharaman, and Sharad Devarajan. Spider-Man India. Bangalore/New York: Gotham Entertainment Group/Marvel Entertainment, 2004. Lee, Stan. »Introduction.« Spider-Man the Icon: The Life and Times of Pop Culture Phenomena. By Steve Saflfell. London: Titan, 2007. S. 1-8. Lenz, Günter H. »Redefinitions of Citizenship and Revisions of Cosmopolitanism Challenges of Transnational Perspectives.« Symposium: Redefinitions of Citizenship and Revisions of Cosmopolitanism – Transnational Perspectives. Journal of Transnational American Studies 3.1 (2011): S. 4-17. . Mathur, Suchitra. »From Capes to Snakes: The Indianization of the American Superhero.« In Comics as a Nexus of Cultures: Essays on the Interplay of Media, Disciplines and International Perspectives. Hg. Mark Beminger, Jochen Ecke, and Gideon Haberkom. Jefferson: McFarland, 2010. S. 169-80. McLain, Karline. India’s Immortal Comic Books: Gods, Kings, and Other Heroes. Bloomington: Indiana University Press, 2009.

31 | Vgl. z.B. die Arbeiten indischer Gruppen wie PAO, eine in Delhi basierte, unabhängige Gruppe, und ACK, die online-Abteilung von Amar Chitra Katha. Vgl. auch Veröffentlichungen wie Sarnath Banerjees ›graphic novel‹ Corridor (2005).

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O’Rourke, Dan, and Pravin A. Rodrigues. »The ›Transcreation‹ of a Mediated Myth: Spider-Man in India.« In The Amazing Transforming Superhero! Essays on the Revision of Characters in Comic Books, Film and Television. Hg. Terence R. Wandtke. Jefferson: McFarland, 2007. S. 112-28. Rao, Aruna. »From Self-Knowledge to Super Heroes: The Story of Indian Comics.« In Illustrating Asia: Comics, Humor Magazines, and Picture Books. Hg. John A. Lent. Honolulu: University of Hawaii Press, 2001. S. 37-63. Reynolds, Richard. Superheroes: A Modern Mythology. Jackson: University Press of Mississippi, 1992. Saffell, Steve. Spider-Man the Icon: The Life and Times of a Pop Culture Phenomenon. London: Titan, 2007. Simon, Joe, und Jim Simon. The Comic Book Makers. 1990. Lebanon: Vanguard, 2003. Sreenivas, Deepa. Sculpting a Middle Class: History, Masculinity and the Amar Chitra Katha in India. New York: Routledge, 2010. Wright, Bradford. Comic Book Nation: The Transformation of Youth Culture in America. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2001.

»Will the ›Real‹ Black Superheroes Please Stand Up?!« Eine kritische Untersuchung der mythologischen und kulturellen Bedeutung schwarzer Superhelden* Kenneth Ghee 1

»Ein Held ist nur dann dein Held, wenn er für deine Sache kämpft« (Ghee, 2010)

Historisch gesehen galten Comics als Lesestoff zur Unterhaltung Jugendlicher, die den Schwerpunkt auf einen von Abbildungen begleiteten Text legten. In den letzten Jahrzehnten konnten wir einen phänomenalen Zusammenschluss von Comics mit anderen Medien beobachten, vor allem mit dem Fernsehen, mit Videospielen und mit Filmen (Jones 2002). Ein populäres und bedeutendes Thema vieler Comicfiguren und ihrer Geschichten entspricht dem, was Joseph Campbell als den heldischen Monomythos bezeichnet hat (Campbell 2008). Dieser überzeitliche und in allen Kulturen belegte, singuläre Mythos orientiert sich an Carl Jungs Konzepten des archetypischen Traums und des kollektiven Unbewussten (Jung 1936/1959; Jung 1968). Der Heldenmythos kann in vier große thematische Bereiche unterteilt werden: (1) Der »zögerliche« oder »zufällige« Held, der »heldenhaft« auf eine Krisensituation reagiert (bereitwillig oder zögerlich); (2) der »Actionheld«, der eine gewöhnliche (aber höchst talentierte) Person ist, die aufgrund überdurchschnittlicher intellektueller, analytischer, technischer oder physischer Fähigkeiten (oder typischerweise einer Kombination daraus) heldenhafte Wundertaten vollbringt; (3) der »Superheld«, der ein gewöhnlicher Mensch sein kann, aber nicht sein muss, oder einmal ein Mensch war und über eine besondere Gabe, außerordentliche »Superkräfte« oder die entsprechenden Technologien verfügt, welche er für seine Heldentaten verwendet; (4) der pflichtbewusste »vorbildliche Held« – gewöhnliche Mütter und Väter, Polizisten, Feuerwehrmänner, Soldaten etc. –, dessen Pflicht es ist, zu dienen und zu beschützen. Letztere sind reale oder fiktionale Figuren, die entweder tun, was von ihnen er*  Ghee, Kenneth: »Will the ›Real‹ Black Superheroes Please Stand Up?!« In: Sheena C. Howard und Ronald L. Jackson (Hg.): Black Comics. Politics of Race and Representation. London: Bloomsbury 2013. S. 223-237. Übersetzt von Yvonne Knop.

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wartet wird, oder die mehr leisten als das, was die »bloße Pflicht« verlangen würde. Diejenigen, denen sie dienen, die sie unterstützen oder retten, erachten sie oft als »Helden«, ebenso wie die Kultur, die sie dafür ehrt, dass sie ihre (heroischen) Rollen erfüllen. Jeder dieser vier Protagonisten kann einen physischen Antagonisten haben (d.h. einen Schurken). Es ist typisch für Helden, etwas oder jemanden zu bekämpfen oder zu retten, oder einer Sache oder jemandem zu dienen. Manche Helden sterben sogar im Zug ihrer Heldentaten, aber die meisten leben und kämpfen weiter, um sich in andere Abenteuer zu stürzen, z.B. in Comics, in TV- oder in Film-Reihen. Helden können nicht-fiktional sein (z.B. die Black Panther Party) oder fiktional (z.B. der Superheld Black Panther), aber es sind gerade die fiktionalen Helden und Geschichten, welche die Fantasie und Bewunderung Jugendlicher und Erwachsener gleichermaßen erregen. Aus diesem Grund sind Helden in Comics und in anderen Medien – etwa Fernsehen, Videospiele und Filme – so omnipräsent. Hierin liegen Macht und Stärke der fiktionalen Helden sowie der Comics und anderen Medien, die ihre Geschichten erzählen. Ihre erfundenen Heldentaten können über einzelne Geschichten hinauswirken, damit auch Zeit und Raum überwinden; begrenzt sind sie nur durch die scheinbar unendliche Einbildungskraft des Autors. Während der zufällige, der vorbildliche und der Actionheld im Bereich des Fiktiven oder Nichtfiktiven vorkommen können, finden sich die Abenteuer von Superhelden üblicherweise nur im Bereich von (Science-)Fiction oder Fantasy. Carol Pearson (1991) hat 12 verschiedene Archetypen identifiziert, die in den Abenteuern des mythischen Helden vorkommen. Alle diese Archetypen können problemlos in jede beliebige Figur und Handlung eingeflochten werden. Zu ihnen gehören unter anderem der Krieger, der Liebhaber, der Schöpfer und der Weise. Solche Heldenformen sind geläufige Motive in Comics oder Abenteuerfilmen, ihren Figuren und Geschichten. Alle heldischen Archetypen figurieren an bestimmten Punkten im Mythos der Heldenreise, im Fortgang multipler Handlungen und Abenteuer, die Zeit und Generationen überschreiten kann. Der Archetyp des Kriegers kommt in den meisten Comicabenteuergeschichten vor (Pearson 1991). Pearson unterscheidet zwischen verschiedenen Typen und Levels des Krieger-Archetyps. Sie merkt an: »Der avancierteste Krieger fordert, dass wir für etwas kämpfen, das über unser belangloses Interesse für uns selbst hinausgeht [...] der Feind ist keine Person, keine Gruppe oder kein Land mehr, sondern Ignoranz, Armut, Habgier [...]« (S.  98). Hier plädiert Pearson für einen avancierten Heldenkrieger. Sie argumentiert, dass die meisten Heldenkrieger (in Comics oder anderswo) heutzutage nicht mehr für höhere Ziele kämpften, sondern für die profanen Interessen ihrer eigenen Gruppe, Kulturen oder Länder. Dies stimmt mit Joseph Campbells (1988) Konzept der kulturgebundenen Mythologie überein. Er betont, dass »jede Mythologie (des Helden oder auch anderer Art) mit einer Lebensweisheit zu tun hat, welche zu einer bestimmten Zeit mit einer bestimmten Kultur verbunden ist. Sie bindet das Individuum in seine Gesellschaft und diese in die Natur ein [...] sie ist eine harmonisierende Kraft« (Campbell 1988: 55). In der amerikanischen Kultur, genauer im dort vorherrschenden eurozentrischen Weltbild, wurden mystische Helden des alten Rom, Griechenlands, Skandinaviens (Wikinger) und anderer europäischer Überlieferungen in Büchern, Comics, graphic novels, Videospielen und auf der großen Leinwand zum Leben erweckt, um die amerikanisch-europäischen Massen zu inspirieren, zu belehren und zur Eintracht zu bringen (Cousineau und Stuart 1990; Campbell 1988). Manche

Ghee: »Will the ›Real‹ Black Superheroes Please Stand Up?!«

Figuren sind direkt (oder indirekt) an Geschichten alter europäischer Mythologien angelehnt (z.B. Herkules, Thor), während andere fiktionale Superheldenikonen vorrangig der lebhaften menschlichen Fantasie entstammen (z.B. Superman, XMen). In beiden Fällen werden solche Geschichten über heroische Herrlichkeit für ein aufnahmefreudiges jugendliches (und erwachsenes) Publikum gut vermarktet in täglich, wöchentlich, monatlich und jährlich erscheinenden Fernsehserien, Videospielen und vor allem auf der großen Leinwand. Genau wie die Superheldenikonen finden sich auch die anderen heldischen Archetypen, also der zufällige, der vorbildliche und der Actionheld, regelmäßig in verschiedenen Medien und werden in wöchentlich oder jährlich erneuerten Abenteuern wiederverwertet (z.B. Rambo, Rocky, Indiana Jones). Psychologen und Mythologen zufolge spielen diese Heldenfiguren und -geschichten eine bedeutende Rolle in einem kontinuierlichen Entwicklungs- und Lernprozess, indem sie kulturelle Werte und Allegorien vermitteln (Campbell 1988, 2008) und indem sie als soziale Ikonen und Vorbilder fungieren (Bandura 1977). In der Entwicklung der persönlichen Selbstidentifikation und der kulturellen Gruppenzugehörigkeit können fiktionale Helden und ihre Geschichten, Bilder und Symbole einen tiefgreifenden Effekt auf den jungen, sich noch entwickelnden Verstand und auf die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung (Koestner et al. 1991; Pollack 1998) sowie auf das soziokognitive Lernen (Bandura 1977) ausüben. Dies gilt besonders für junge Kinder, die sich in der kritischen Identitätsphase der menschlichen Entwicklung befinden (Maslow 1970). Die medienvermittelten Ikonen transportieren implizite Annahmen darüber, was es heißt, Mann oder Frau, schwarz oder weiß zu sein, und was es bedeutet, ein guter, moralischer Bürger und Teil einer Gemeinschaft und Kultur zu sein (Segar 1994; Akbar 1991; Pollack 1998). Für Kinder sind Rollenspiele ein wertvolles Lernwerkzeug und ein natürlicher Teil des Selbst und des kulturellen Identifikationsprozesses. Dazu sagt Jones (2002): Meistens richten sich die Wahl und der Ausdruck von Kinderspielen danach, jemand zu sein; Superhelden, Monster, Soldaten [...] Aber von populärkulturellen Comic- und Actionfiguren geht eine spezielle Kraft aus; sie sind individuell und doch universell, menschlich und doch übermenschlich, sie haben einzigartige visuelle Symbole, welche einem klar im Kopf bleiben und sofort von jedem erkannt werden können. (S. 70)

Derart ikonische Bilder können im Kind Auswirkungen auf Sichtweisen, Einstellungen und Interpretationen der Realität haben (Lind 2004). Der psychologische Effekt von fiktionalen und nichtfiktionalen Helden in den kritischen Übergangsphasen der menschlichen Entwicklung kann sowohl das Individuum als auch die gemeinsame Kultur stärken (Ghee 1988; 1990).

W ie funk tioniert kulturelle M y thologie ? Nach Joseph Campbell (1988) fußt der Wert von Mythologie und von den Heldenikonen, die dort ihre Ursprünge haben, auf deren »Relevanz«. »Wenn du eine Geschichte vor Augen hast, erkennst du ihre Relevanz für Dinge, die in deinem eigenen Leben geschehen. Sie gewährt dir einen Blick auf das, was mit dir geschieht.«

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(Campbell 1988: 4) Das Schlüsselwort ist hier »Relevanz«. Es handelt sich dabei um dasselbe kritische Konzept, mit dem die Identifikationstheorie (Koestner et al. 1991), das indirekte Lernen (Segar 1994) und das soziokognitive Lernen (Bandura 1977) operieren. Die im Inneren verarbeitete Erfahrung oder Fantasie muss eine Relevanz für die Ängste, Hoffnungen und Träume des Lesers oder des Zuschauers haben. Ohne diese Relevanz gibt es keinen Bezugspunkt, um die Botschaft zu verankern oder die Geschichte oder den Stimulus mit der eigenen psychischen Identifikation und der persönlichen Entwicklung zu verknüpfen. Wie bereits vorher erwähnt, behauptet Campbell, ähnlich wie Pearson, dass die meisten zeitgenössischen ikonischen Mythologien an »begrenzte Gemeinschaften« gebunden sind. In diesem Zusammenhang erklärt er: »In begrenzten Gemeinschaften wird die Aggression des Helden nach außen projiziert [...] die Mythen von Partizipation und Liebe betreffen nur die innere Gruppe und die äußere Gruppe ist vollkommen fremd.« (Campbell 1988: 23) Demnach sind Heldenikone und -geschichte bewusst oder unbewusst soziologisch mit einer »bestimmten Gesellschaft und Kultur« (Campbell 1988: 23) verbunden. In anderen Worten, das archetypische Motiv mag vielleicht zeitlos sein, aber alle seine Manifestationen – Person (oder Person, die die Rolle spielt), Gesichter, Sprache, Zeit, Ort, Protagonisten, Antagonisten, Umgebung, Gegebenheiten etc. – sind wahrhaft kulturgebunden. Als ein kulturgebundenes Phänomen sind die eigentlichen Mythen und Geschichten selten, wenn überhaupt, universell, auch wenn das Motiv oder der Archetyp des Helden es vielleicht sein mögen. Somit gibt es immer einen »kulturgebundenen« Kontext der Namen, Orte und ganz besonders der Ethnizitäten und Gesichter der Figuren (also der Helden und Schurken), selbst wenn die Moral der Geschichte kulturelle Grenzen überschreiten mag (wie zum Beispiel das Konzept, dass das Gute über das Böse siegt). Mythologien werden durch die Kreativität von Individuen lebendig, welche in einer bestimmten Gesellschaft leben und sie von Generation zu Generation innerhalb ihres kulturgebundenen Kontexts weitergeben. Montuori und Purser (1995) dehnen den Gedanken der Kulturbindung auf die gesamte menschliche Kreativität aus und kommen zu folgendem emphatischen Schluss: »Kreativer Ausdruck kommt immer innerhalb einer Kultur oder eines historischen Milieus vor. Jede Debatte um Kreativität muss also zwangsläufig im Rahmen eines historischen oder auch gesellschaftspolitischen Kontexts stattfinden.« (S. 71) Wenn also Helden aus Mythologien oder fiktionalen Geschichten wirklich kulturgebunden sind und sie eine bedeutende Rolle für die Identifikation und Entwicklung eines Kindes spielen, dann stellt sich die brisante Frage: »Was ist eigentlich mit schwarzen Superhelden und der schwarzen Kultur?«

E thnizität, M y thologie und der A rche t yp des H elden Kulturelle Mythologie wurde lange als tiefgreifender und funktioneller Sozialisationsmechanismus angesehen, der kulturelle Anliegen u.a. auf kosmologischer, mystischer, soziologischer, pädagogischer oder psychologischer Ebene thematisiert (Campbell 1988; 2008). Der Heldenmythos ist nur einer von vielen kulturellen Archetypen, die durch verschiedene Medien vermittelt werden, z.B. durch Comics und Filme. Jedoch gibt es, im Gegensatz zur amerikanisch-europäischen (weißen) Kultur, einen Mangel an wirklich kulturgebundenen Heldentypen für die Jugend

Ghee: »Will the ›Real‹ Black Superheroes Please Stand Up?!«

der schwarzen Kultur, die tatsächlich die affirmativen Afrika-zentrierten Werte der afroamerikanischen (schwarzen) Kultur vertreten. Die weiße oder die Mainstreamkultur Amerikas hat im Gegensatz dazu einen Überfluss an allgegenwärtigen, positiven und guten (echten oder erfundenen) ikonischen Bildern, Symbolen, Figuren und Geschichten, die eurozentrische Werte und ein eurozentrisches Geschichts- und Weltbild vermitteln. Sie dienen dazu, dem jungen, sich noch entwickelnden weißen Verstand gemeinsame kulturelle Werte einzuprägen und fördern sogar ein Gefühl der »Überlegenheit der Weißen« (Welsing 1991). Außerdem findet die übliche euro-amerikanische Vermittlung der selbstlosen, menschlichen Eigenschaften und Merkmale (z.B. Ehre, Pflicht, Respekt, Versorgerrolle, Familie, Liebe, Intelligenz, Selbstbestimmung, kultureller Stolz und sogar Überlegenheit) oft auf Kosten der Schwarzen statt (manchmal als eine Art »Kollateralschaden«), ob nun beabsichtigt (z.B. im Film: Birth of a Nation, 1915) oder unbeabsichtigt (Welsing 1991). Die psychische Identifikation mit diesen euro-kulturellen Ikonen, seien sie reale oder fiktionale Helden, kann aus psychologischer und behavioraler Perspektive gut anhand der Poster demonstriert werden, die sich Personen an die Wand ihres Schlaf- oder Wohnzimmers hängen; anhand des Superheldenkostüms, das sie zu Halloween tragen möchten; anhand der Comics, die sie lesen; anhand der Videospiele, die sie spielen; oder anhand der Fernsehserien, Events und Filme, die sie regelmäßig konsumieren, außerdem anhand der Vorbilder, denen sie folgen, die sie nachahmen, lieben und idealisieren. Soziokulturelle Einflüsse auf implizite Haltungen, implizite Wahrnehmungen und implizite Erinnerungen wurden als Teil des normativen Sozialisationsprozesses verstanden und akzeptiert, vor allem in der Kindheit (Segar 1994). Im weißen Amerika dienen diese impliziten soziokulturellen Einflüsse als ein informelles »Übergangsritual«, das die Bedeutung davon aufschlüsselt, was es heißt, Amerikaner zu sein oder, genau genommen, was es heißt, ein »weißer« Amerikaner zu sein (Akbar 1984). Banduras’ weithin anerkannte soziokognitive Lerntheorie (1977) deutet zusätzlich darauf hin, dass ein Kind desto mehr dazu neigt, sich mit einer Figur, einer Geschichte oder einem Bild zu identifizieren, es nachzuahmen und sich danach zu richten, je mehr eigens erfahrene Berührungspunkte es mit ihnen hat. Um die Rolle und Bedeutung der sogenannten schwarzen Superhelden (und der Comics und Filme, in denen sie vorkommen) besser nachvollziehen zu können, müssen die kritischen psychosozialen Fragen und die Einflüsse auf die individuelle Entwicklung im Kontext der soziokulturellen Matrix des zeitgenössischen schwarzen Lebens untersucht werden – im Kontext einer besonderen evolutionären Bikulturalität, die innerhalb des geschichtlich und institutionell rassistischen, von Weißen dominierten und kontrollierten amerikanischen Systems existiert (Chimezie 1988; Du Bois 1961). Dieses System hat zur Zerrissenheit und nihilistischen Bedrohung innerhalb der schwarzen Gemeinschaft und Kultur beigetragen (Boykin 1986; West 1983; Gibbs 1988). Die vielleicht einzig ernstzunehmende Debatte um schwarze Comics und schwarze Superhelden im Zeitalter des schwarzen Nihilismus muss die Frage nach expliziten und wertvollen kulturellen Eigenschaften von schwarzen Superhelden für die Förderung des impliziten Lernens und für die persönliche Entwicklung und Identifikation thematisieren, als Teil der potenziell »einigenden Kraft« der schwarzen Mythologie (Campbell 1988).

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VI.1 Kulturelle und ethnische Stereotype

S chwarze S uperhelden : eurozentrisch oder afrozentrisch ? In den späten 1970ern startete die BOCA (die »Black-Owned Communications Alliance«) eine nationale Werbekampagne, die auf den Mangel an fiktionalen schwarzen Superhelden hinwies. Die Kampagne zeigte einen schwarzen Jungen, der sich vorstellt, ein Superheld zu sein, während sich in dem Spiegel, in den er schaut, das Bild eines weißen Superhelden zeigt (Browder 1992: 241). Ihre Überschrift lautete: »Was ist an diesem Bild nicht richtig? Ein Kind träumt davon, ein Superheld zu sein. Was könnte daran falsch sein? Vieles, wenn das Kind schwarz ist sich nicht einmal einen Superhelden mit seiner eigenen Hautfarbe vorstellen kann.« Als Reaktion darauf berichtet Tony Browder über seine eigenen Erfahrungen als Vater, der seiner Tochter ein Halloweenkostüm für den Kindergarten kaufen wollte. Browder erinnert sich: »Als ich durch die Gänge des örtlichen Spielzeugladens ging, sahen wir Kostüme von Superman, Batman, Miss Piggy, Wonder Woman, Hexen und Geistern. Ich sah sie als Erfindungen der Fantasien anderer an, die kein gesundes Selbstbild in meiner Tochter befördern konnten.« (S. 240) Letztendlich fertigte Browder seiner Tochter selbst ein Kostüm an, das ihre afrikanisch-ägyptischen Wurzeln widerspiegelte, und sie trug es mit Stolz. Das Entscheidende ist, dass ein schwarzes Kind zumindest die Möglichkeit haben sollte, sich einen positiven Superhelden oder eine mythologische Figur seiner eigenen Herkunft oder Kultur vorstellen zu können, anstatt sich beim Spielen und Fantasieren ständig an einer anderen Kultur orientieren zu müssen. Dieser Forderung gilt auch für die soziokulturelle Definition des »Schwarz«-Seins, wenn kontraproduktive »widerwärtige Symbole« wie das »N-Wort« eine ganz eigene Mythologie herausgebildet haben, die geringen Selbstwert, Selbsthass und kulturelle Entwertung befördert (Cosby und Poussaint 2007: 144). Heutzutage stehen Afroamerikanern geringfügig mehr sogenannte schwarze Superhelden in den Medien zur Verfügung (z.B. in Comics, Filmen) als noch vor 30 Jahren. Jedoch sind viele von ihnen, wenn nicht sogar alle, von europäischen Autoren erschaffen worden (z.B. Black Panther, Spawn, Blade). Aber wie relevant sind die von Amerikanern und Europäern erschaffenen afrikanischen oder afroamerikanischen Superhelden für die afrikanisch-amerikanische psychologische und kulturelle Identifikation? Und können sie dabei helfen, eine generationenübergreifende kulturgebundene Mythologie zu erschaffen? Robert Cotter (1996: 22) merkt an: Tatsächlich ist jede Hollywoodfilm- oder Fernseherzählung, obwohl sie zum Zweck der Unterhaltung und des Profits (und manchmal auch der Kunst) erschaffen wurde, ein kulturelles Artefakt; eine Repräsentation der Werte, Mythen, Ideologien und Annahmen der Kultur, welche sie produziert hat [...] diese Erzählungen formen unser kollektives Bewusstsein, verstärken anerkannte ideologische und kulturelle Überzeugungen/Mythen und verändern sie manchmal auch.

Diese Beobachtung wirft folgende Frage auf: Haben die wenigen, aber »etablierten«, von der weißen Kultur geschaffenen Produktionen sogenannter schwarzer Superhelden irgendeinen wirklichen Wert für die positive und bekräftigende psychische Identifikation der indigenen Jugend innerhalb der schwarzen Kultur? Sicherlich können Heldengeschichten und Ikonen anderer ethnischer Herkunft potenziell einen impliziten Einfluss auf ein schwarzes Kind haben. Jedoch

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zeigt die Theorie des sozialen Lernens deutlich, dass ein Held der selben Herkunft oder ›Wir-Gruppe‹ einen wesentlich größeren positiven Einfluss auf ein sich entwickelndes Kind haben kann, wenn er den bereits erwähnten soziologischen und psychologischen Kriterien entspricht (z.B. der kulturgebundenen Relevanz). Es ist auch anzumerken, dass ein Held oder Mythos einer ›Sie-Gruppe‹ von Unterdrückern (z.B. der weißen Kultur) auch einen beabsichtigten oder unbeabsichtigten negativen Effekt auf die schwarze Psyche haben kann (Akbar 1984). Basierend auf humanistischen und afrozentrischen Ideen der Selbsterkenntnis können solche Einflüsse (der Überlegenheit der »Sie-Gruppen«) sogar schädlich für die sich entwickelnde Psyche schwarzer Jugendlicher sein (Akbar 1984; Welsing 1991; Parham et al. 2011). Aus diesem Grund ist die kulturelle Relevanz schwarzer Superhelden − und ihre explizite Identifikation und Verbindung mit der schwarzen Kultur – entscheidend für die Entwicklung einer gesunden kulturellen oder ethnischen Identität und eines gesunden Selbstbilds, für die Stärkung der Jugend und ein positives Heranwachsen, indem die Helden als Vorbilder und »Wegbegleiter« fungieren können (Campbell 1988). Für europäisch-amerikanische Kinder wird eine solche Beziehung implizit mit so gut wie jeder Geschichte und jedem Bild hergestellt. Eine Vielzahl von Geschichten und Blockbustern (jene, die besonders gut finanziert und für die Massen stark beworben werden) handelt von einem weißen Amerika, das durch einen eurozentrischen Blick auf die amerikanische Geschichte bestimmt ist und durch ein eurozentrisches Weltbild auf die Leinwand und Comicseiten projiziert wird. Dies gilt sowohl für fiktionale Geschichten (z.B. Harry Potter, Fluch der Karibik) als auch für nichtfiktionale Doku-Dramen (z.B. Titanic, Der Pate). Weiße Amerikaner spielen die meisten, wenn nicht alle Hauptrollen, und die Helden sind meist, wenn nicht sogar ausschließlich, weiß. Die Nebenrolle hingegen kann weiß oder auch nicht weiß sein. Üblicherweise spielt ein schwarzer Schauspieler eine Nebenrolle oder eine untergeordnete Rolle gegenüber dem weißen Protagonisten oder auch, was noch schlimmer ist, den Antagonisten oder Schurken. Zudem sind schwarze Schauspieler wesentlich öfter in Komödien oder Sitcoms zu sehen als in ernsten, dramatischen und heldenhaften Rollen (Conners 2004).

D er I dentitätskomple x der schwarzen S uperhelden Wenn ein weißer Held »Amerika« rettet, dann ist dies auf Seiten der Leser- oder Zuschauerschaft mit der impliziten Annahme verbunden, dass der Held (und die Geschichte) kulturgebunden ist und dass er, gerechtfertigt durch seine Perspektive und seine Moral, seine eigenen Leute und seine eigene Kultur zuerst rettet. Dadurch rettet der weiße Held eventuell auch andere (z.B. Individuen anderer Gruppen und Minderheiten); dem schwarzen Superhelden wird diese implizite, menschliche Annahme hingegen nicht zwangsläufig zugestanden. Denn wenn ein schwarzer Held Amerika rettet bzw. (was in amerikanischen Medien häufiger vorkommt) er lediglich ein Nebendarsteller neben einem weißen Helden ist, werden die impliziten Annahmen komplizierter. Durch die beschämenden und aufwühlenden ethnischen Beziehungen, die die amerikanische Geschichte prägen (von der Sklaverei über die Jim-Crow-Gesetze bis hin zu institutionalisiertem Rassismus), wird die Mission, (das weiße) Amerika zu retten (oder eher als schwarzer Sidekick dem weißen Pro-

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tagonisten dabei zu helfen, das weiße Amerika zu retten), im schwarzen, kulturgebundenen Kontext nicht als hilfreich, nützlich oder relevant für die Anliegen und Interessen des schwarzen Amerikas angesehen. Ein gutes Beispiel für diesen wichtigen Gedanken ist der sogenannte Black History Month, in welchem »Helden« des wahren Lebens und reale Vorbilder geehrt werden. Jedes Jahr im Februar feiern Afroamerikaner öffentlich viele Märtyrer und Alltagshelden, die ihr Leben lang gegen die Vormachtstellung der Weißen und den institutionalisierten Rassismus kämpften. Von Harriet Tubman bis Malcom X haben Afroamerikaner historisch gesehen viele echte »kulturgebundene« Helden gepriesen und geliebt, die leidenschaftlich für einen Wandel (des rassistischen weißen) Amerikas und für die Besserstellung von Afroamerikanern kämpften und nicht dafür, den durch die Vormachtstellung der Weißen erhaltenen Status quo beizubehalten. In Hinsicht auf diese ›echten‹ schwarzen Helden ist das wichtigste Kriterium für das kollektive und individuelle Urteil sowie für Respekt und Hochachtung die kulturelle Relevanz und das Gefühl der Verbundenheit und Verpflichtung, also ein kulturgebundenes Kriterium. Dieses Kriterium muss berücksichtigt werden, wenn wir herausfinden wollen, ob ein einzelner schwarzer, fiktionaler (von Weißen erschaffener) Held überhaupt tatsächlich ein schwarzer Held ist. Genau dies ist die soziologische Funktion jedes wertvollen kulturgebundenen Mythos (Campbell 2008), nämlich im Kontext der Rettung der Menschheit die eigenen Leute zuerst zu retten. Ansonsten können ein schwarzer Held oder eine schwarze Ikone zwar von der Populärkultur beworben werden, aber dennoch faktisch »Verräter« ihrer Gruppe und somit, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, schädlich sein für die Psyche genau jener Kindern, die sich mit ihnen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft identifizieren (Hurt 2006). Wir (Schwarzen) verwechseln »Erfolg« viel zu oft mit »Verantwortung« und neigen in der schwarzen Kultur oftmals dazu, den individuellen Erfolg in finanziellem Status oder in Berühmtheit zu sehen, unabhängig von jeglicher kollektiver kultureller Verantwortung. Die fehlgeleitete Botschaft an unsere Kinder besteht dabei darin, dass materielle Dinge (Wertsachen) und Berühmtheit von mehr Bedeutung sein könnten als unsere kulturellen oder ethischen Prinzipien (Werte) (Hutschinson 1994; Karenga 2002; Ghee 1988). Kulturelle Zugehörigkeit ist nicht bloß eine Frage der Kulturkritik von Schwarzen, sondern in den erfolgreichsten und blühendsten Kulturen das relevanteste Kriterium für reale oder mythisierte »Helden«. Der Erfolg der Black-Power-Bewegung in den 1960ern beruhte grundlegend auf einer kulturgebundenen Perspektive; einer Perspektive von schwarzen Menschen, welche zuerst für die Belange schwarzer Menschen kämpften, im Gesamtkontext eines Kampfes für Zivilrechte (Dr. King) und Menschenrechte (Malcolm X) für alle Menschen (Asante 1988; Karenga 2002). Schwarze Helden aus dem wirklichen Leben werden üblicherweise als ihrer Kultur tief verbunden angesehen. Tatsächlich waren und sind sie dem weißen Amerika und seinem systemischen Rassismus zwangsläufig feindlich gesinnt, da sie die Position von schwarzen Amerikanern stärken wollten (z.B. Marcus Garvey, Martin Luther King Jr.). Sie waren aber keine Feinde der amerikanischen Bürger oder Feinde der Weißen überhaupt, sondern Feinde jener rassistischen Kräfte in Amerika, die in deren Handlungen, Überzeugungen, Verhaltensweisen und in ihrer Politik manifest sind! Diese schwarzen Alltagshelden und ihre Taten entsprechen genau dem, was Pearson (1991) als »avancierteste Helden« bezeichnet, da sie

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für die Werte der gesamten Menschheit im Kontext kultureller Zugehörigkeit, Loyalität und Solidarität kämpften.

S chwarze S uperhelden : A uthentisch schwarz oder V err äter ? Um den funktionellen Nutzen von schwarzen Superhelden zu erörtern, muss man sich zuerst der kulturellen, identifikatorischen und kognitiven Probleme bewusst werden, die in diesem Kapitel bereits diskutiert wurden. In einem solchen kritischen, »kulturgebundenen« Kontext können wir nun beginnen, schwarze Superhelden zu analysieren. Als mythische Ikonen sind Superhelden kulturgebunden und kämpfen üblicherweise implizit an erster Stelle für ihre eigenen Leute (Familie, Gemeinschaft, Wir-Gruppe etc.). Aus kulturgebundener Sicht jedoch kämpfen die meisten schwarzen Superhelden nicht explizit für schwarze kulturelle Integrität oder Relevanz; manche, wenn nicht gar die meisten, kämpfen eigentlich überhaupt nicht für die (schwarze) Gemeinschaft oder Kultur! Die meisten von ihnen entstammen noch nicht einmal wirklich der schwarzen Kultur. Ob diese schwarzen Helden, Konzepte und Figuren bloß »Weiße mit schwarzem Gesicht sind« (d.h. dysfunktional für die kulturelle und psychische Identifikation) oder ob sie doch als »schwarz im Bewusstsein« gelten können (d.h. funktional für die kulturelle und psychische Identifikation), kann nur im Rahmen eines kollektiven kritischen Diskurses geklärt werden. Welche schwarzen Helden sind also explizit »schwarz« und kulturgebunden? Bis heute sind die wohl bekanntesten, am meisten verbreiteten und vermarkteten schwarzen Superhelden (in keiner bestimmten Reihenfolge): Black Panther, Storm (ein Mitglied der X-Men), Blade und Green Lantern. Obwohl von Weißen erschaffen, arbeiten heutzutage sowohl weiße als auch schwarze Autoren an ihren Geschichten in Comics oder Fernsehserien. Während diese und ein paar andere Superhelden als »Mainstream« angesehen werden, gibt es auf dem Untergrund-Markt andere kulturgebundene Superhelden aus der Feder schwarzer Autoren (z.B. Captain Africa, Brotherman), sowie meine eigene Figur: Amen Ra (Ghee 2010). Zweifellos gab und gibt es viel mehr sogenannte schwarze Superhelden, die ich nicht aufgelistet habe, und viele mehr wird es einmal in Zukunft geben. Das Geschäft der Superheldencomics ist dynamisch. Täglich werden neue Geschichten geschrieben, Profile, Looks und Kostüme verändert, Geschichten abgeändert und überarbeitet (z.B. Batman), was auch eine Veränderung der ethnischen Zugehörigkeit von Figuren mit einschließen kann (z.B. Spiderman, Nick Fury, Green Lantern). Bedauerlicherweise haben zu viele schwarze Comichelden und ihre Geschichten nur wenig oder gar keine impliziten oder expliziten Bezugspunkte, die sie für die schwarze Jugend oder Kultur als kulturgebundene Helden relevant erscheinen lassen. Daher haben sie als Vorbilder für kulturelle Verantwortung, kulturelle Zusammengehörigkeit und gesunde psychologische Identifikation nur wenig positiven Einfluss auf das sich entwickelnde Bewusstsein eines schwarzen Kindes. Üblicherweise haben »weiße Helden mit schwarzem Gesicht« nur wenig oder gar keinen Bezug zu einer schwarzen Familie, zu einer realistischen schwarzen Gemeinschaft, zum Verlauf der schwarzen Geschichte oder zur schwarzen Kultur. Die Figur wird bloß farblich als schwarz dargestellt, operiert aber dennoch in einem

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weißen kulturellen Kontext und mit einem ebensolchen Weltbild. Historisch gesehen operiert der schwarze Superheld in Comics und Filmen innerhalb eines gänzlich eurozentrischen (weißen) Weltbildes; es gibt keine schwarze Familie, keine Beziehung mit einem/r Schwarzen, keine Verbindung zur schwarzen Kultur oder Gemeinschaft; er/sie ist völlig von einem relevanten afroamerikanischen kulturellen Kontext isoliert. Er/sie ist da oder existiert bloß, um die weiße Ästhetik und den kulturgebundenen Mythos zu unterstützen und zu authentifizieren. Er unterstützt weiße Absichten und nicht seine eigenen. Für ihn/sie (und für uns und unsere Kinder) gibt es hier kein schwarzes Bewusstsein und keine ›Black cause‹, nur eine verallgemeinerte »humanitäre« Nebenrolle in einem eurozentrischen Weltbild. Aus diesem Grund trägt der schwarze Superheld zum Status quo des weißen Amerika bei; er hat innerhalb oder außerhalb der fiktionalen Geschichte, in die er eingebettet ist, nur wenig Bedeutung für das schwarze Amerika. Daher kann er unmöglich den Nihilismus des schwarzen Amerika problematisieren, oder, schlimmer noch, er könnte ihn sogar befördern (West 1983; Hall 1995). Üblicherweise wird der schwarze Superheld nicht als eine kulturell verankerte Figur (mit afrikanischen Wurzeln) angesehen oder respektiert, sondern eher allgemein als eine ›humanitäre‹ (ohne afrikanische Wurzeln, ein typischerweise ungebundener Nomade), die auf jegliches Bewusstsein, jegliches Interesse und jegliche Verantwortung für die schwarze Gemeinschaft, ihre Probleme, ihre Notlage und einzigartige Geschichte verzichtet. Black Panther und Storm (beide aus dem afrikanischen Adel stammend) sind zwei Ausnahmen von dieser Regel, vor allem in der aktuellen Comicreihe, in der sie heiraten. Black Panther wurde 1966 durch den anerkannt genialen Marvel-Comics-Mogul Stan Lee für die 52. Ausgabe der Fantastic Four entworfen (Lee und Kirby 1966). Er war der erste populäre schwarze Superheld. Er wurde als afrikanischer Prinz (inzwischen König) entworfen, der zweifelsfrei tief mit seinem technologisch und wissenschaftlich hochentwickelten und trotzdem indigenen, abgelegenen afrikanischen Königreich verbunden (kulturgebunden) ist. Dazu ist er hochintelligent (ein Rhodes-Stipendiat, der in den besten afrikanischen, amerikanischen und europäischen Institutionen ausgebildet wurde) und ein aufrichtiger Adliger, voll Würde und Ehre. Zweifellos sind es genau diese Attribute, die ihn als schwarzen Superhelden in Amerika so beliebt machen. Obwohl afrikanisch und nicht afroamerikanisch, faszinierte und berührte er dennoch viele Afroamerikaner in den 1960ern und 1970ern und tut dies bis heute. Viele schwarze Leser assoziieren den Namen »Black Panther« vielleicht außerdem mit der Black Panther Party, die eine eindeutige, kulturgebundene Loyalität gegenüber afroamerikanischen Anliegen und der afroamerikanischen Geschichte vertritt. Zusätzlich gibt es in den Ausgaben der Black-Panther-Comics unzählige Verweise auf Rassismus und auf andere relevante Themen der schwarzen Geschichte, Herkunft und Kultur. Im weiteren Kontext der ›westlichen‹ Kultur jedoch werden die meisten Figuren mit afrikanischem Hintergrund stereotypisch als böswillige Antagonisten dargestellt, und das sogar in weißen kulturgebundenen Adaptionen von »schwarzen« Mythen. Zum Beispiel wird »Imhotep«, ein historisches schwarzes ägyptisches Genie, in den weißen Medien oft als böser Schurke dargestellt, der die Welt zerstören will (z.B. in Die Mumie, 2008). Die dominierende weiße Kultur fährt also leider damit fort, eine aktive und einflussreiche Propagatorin negativer Stereotypen afrikanischer und afroamerikanischer Ikonen und Bilder zu sein.

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Zusammenfassend wird klar, dass die indigene schwarze Kultur die kollektive und bewusste Erfindung, Verbreitung und Vermarktung von starken, engagierten, ehrenhaften und intelligenten afrikanischen Superhelden braucht, die als potenzielles soziokulturelles Werkzeug für die Bildung und Stärkung junger schwarzer Köpfe dienen können. Es wird auch klar, dass fiktionale Ikonen und Comicgeschichten von allen Kulturen zu allen Zeiten verwendet werden, um Kindern die Konzepte von Pflicht und Ehre zu vermitteln, die im Kontext von Kultur und Staat respektiert und aufrechterhalten werden müssen. Die schwarze Gemeinschaft braucht eine konzeptionelle Revolution, um der schwarzen Jugend fiktionale, kulturgebundene Superhelden bieten zu können und die »Leere der positiven Mythen« in der eigenen Kultur durch Comics und Adaptionen auf der großen Leinwand zu füllen, wie es andere Kulturen vor ihr getan haben. Afroamerikaner wurden in der Vergangenheit von ihren afrikanischen Traditionen und Geschichten getrennt, auf nationaler und historischer Ebene (Woodson 1933; Karenga 2002). Comics, Filme und Heldengeschichten sind erforderlich, um die abgerissene Brücke zwischen der afrikanischen und afroamerikanischen Identifikation und Solidarität wiederaufzubauen. Die afroamerikanische Jugend braucht einen strategisch innovativen und kreativen Umgang mit antiken, klassischen, afrikanischen Mythologien (z.B. Isis, Horus, Shango), um sich die Botschaften und Geschichten einzuprägen, die jeder neuen Generation die stolze Vergangenheit, die hohe Moral und die epistemologischen Werte der afrikanischen und afroamerikanischen Kulturen näherbringen (Karenga 2002). Einer Kultur ohne generationenübergreifende Mythologien, die die Ideale, Werte und Möglichkeiten ihrer Gruppe in fiktionalen und nichtfiktionalen Wirklichkeiten weitergeben, geht es nicht gut (Campbell 2008). Ohne diese »überlebensgroßen« Geschichten und Bilder wird jede junge, schwarze Generation den Idealen und der Propaganda anderer zum Opfer fallen (z.B. positive weiße Helden und negative schwarze Stereotypen) oder durch die trostlose Wirklichkeit ihrer eurozentrischen Verbildung und Unterdrückung eingeschränkt, die die Gefahr des Nihilismus nährt (Woodson 1933; Leary 2005; Kunjufu 2010). Joseph Campbells Konzepten entsprechend gibt es in einer (schwarzen) Kultur ohne Mythologien weniger Navigationsmechanismen, die dabei helfen, kulturelle Werte als ein vereinendes Konstrukt zu propagieren (Campbell 1988).

S uperhelden mit B indung an die afrik anische K ultur : ein B eispiel Um die Schöpfung eines Superhelden mit Bindung an die afrikanische Kultur zu demonstrieren, habe ich einen Superhelden erschaffen, der Rassismus und Ignoranz im Comic The Fantastic Adventures of Amen Ra bekämpft. Dieser zur afrikanischen Kultur gehörige Superheld ist ausdrücklich »schwarz im Handeln und im Bewusstsein«, er ist »afrikazentriert« (Karenga 2002), sowohl in seiner Sprache als auch in Absicht, Mission und Tun. Dazu bekämpft er eine Unzahl an Schurken aus der Wir-Gruppe und auch aus der Sie-Gruppe, wie zum Beispiel »Die unheilvolle Plage des Rassismus«, »Hatritar, der Unterdrücker« und »Sambo Ignoramus, der Verräter«. Pearsons Konzept des »avanciertesten« Kriegers entsprechend (1991) ist Amen Ra ein schwarzer Superheld, der gegen die Mächte und Staaten kämpft

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(Antagonisten der Wir- und der Sie-Gruppe), die seine (schwarzen) Leute und insbesondere seine Kultur negativ beeinflussen. Dadurch tut er der Menschheit im Allgemeinen einen Dienst. Der Amen-Ra-Comic wurde 1994 entworfen, jedoch nie wirklich veröffentlicht, vermarktet oder vertrieben. Jedoch wurde er 1997 als ein »Stillleben«-Cartoon für zwei Jahre im Kabelfernsehen in Cincinnati, Ohio, ausgestrahlt. Er wurde mit dem Cincinnati Blue Chip Award for Innovation (1998) und dem regionalen Philo T. Farnsworth Award for Innovation and Graphic Animation (1997) ausgezeichnet. Außerdem wurde der Comic verwendet im Rahmen eines Übergangsprogramms nach der Schulzeit für junge, schwarze Männer (Ghee et al. 1997; Ghee 1994). Anschließend wurde der Comic zusammen mit dem Cartoon 1998 in einem Leseklub für junge Schwarze genutzt. In beiden Fällen wurde Amen Ra anderen populären weißen und schwarzen Superhelden vorgezogen und er half im Prozess der Identifikation und Inspiration als Teil eines an Gesamtafrika ausgerichteten Curriculums (Ghee et al. 1997). Der Stilleben-Cartoon kann heute in sechs Teilen auf Youtube gesehen werden. Es werden kreative, schwarze Köpfe gebraucht, um gegen den Nihilismus und den Müßiggang anzukämpfen, die im schwarzen Amerika um sich greifen. Durch Comics und andere kreative Medien können engagierte afroamerikanische Visionärinnen und Visionäre der schwarzen Jugend eine alternative Sicht auf sich selber und ihre Kultur vermitteln; eine Sicht, die kulturell solidarisch ist und eine Alternative zu der wirkungslosen und oberflächlichen Verbreitung der heutigen sogenannten schwarzen Superhelden bietet. Diese sind in den meisten Fällen von weißen Autoren geschaffen und im Grunde nur »äußerlich schwarz«, mit der Erfahrungswelt der Schwarzen nicht verbunden, nicht kulturgebunden; sie setzen ihre Superkräfte nur ein, um den Interessen einer eurozentrischen Sie-Gruppe zu dienen. Ich bin mir sicher, dass wir (Afroamerikaner) es besser machen können. Denn, in der Tat »ist ein Held nur dein Held, wenn er für deine Sache kämpft!« (Ghee 2010).

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VI.2 Gender

Die Geburt der modernen Mythologie und der Mutter aller weiblichen Superhelden* Jennifer K. Stuller 1 »Iih, das ist Mädchenkram!«, schnaubt unser junger Comicleser. »Wer will schon ein Mädchen sein?« Und das ist genau der Punkt: Noch nicht einmal Mädchen wollen Mädchen sein, solange es dem Gesellschaftsbild von Frauen an Macht, Kraft und Stärke fehlt… Hier muss Abhilfe geschaffen werden durch eine feminine Figur, die alle Stärken von Superman besitzt und dazu noch den Zauber einer guten und schönen Frau. Genau das habe ich den Comicverlagen vorgeschlagen. (William M. Marston)

So schrieb Dr. William Moulton Marston 1943 in einem Essay für The American Scholar. Motiviert durch seine Enttäuschung darüber, wie Frauen in dem gerade erst entstandenen, aber boomenden Medium des Comics dargestellt werden, schuf Marston eine Superheldenfigur, welche die Welt einmal als Wonder Woman kennenlernen würde − ein dauerhaftes Symbol für weibliche Macht, Unabhängigkeit und Schwesternschaft. Es gab bereits viele bemerkenswerte Frauen in Comics und Cartoons, als Wonder Woman im Jahr 1941 das erste Mal auftrat, aber die erlösende Macht der meisten von ihnen wurde durch den sekundären Status ihrer Rollen gehemmt. Es gab weibliche Superhelden, ja, aber öfter gab es Mädchen in der Rolle der Nebendarstellerin, als Mädchenhelden, Mädchendetektive und Mädchenreporter; wobei »Mädchen« bedeutet: noch nicht Frau, nicht ganz reif, nicht ganz fertig. Mädchen konnten Karrieren haben, solange sie in ihrem Geschlecht angemessenen Rollen dargestellt wurden, aber erwachsene Frauen waren verheiratete Hausfrauen. Jenseits der Mädchen in Büchern und Radiosendungen gab es einige fliegende Asse und ein oder zwei Spione sowie eine kleine Anzahl kostümierter weiblicher Actionhelden in Comics der 1930er, 1940er und 1950er Jahre.2 Aber Wonder Woman *   Stuller, Jennifer K: »The Birth of Modern Mythology and the Mother of Female Super­ heroes.« In: Dies.: Ink-Stained Amazons and Cinematic Warriors. London: I. B. Tauris 2010. S. 14-18. Übersetzt von Yvonne Knop. 2 | Vgl. Trina Robbins’ The Great Women Superheroes (Kitchen Sink Press, 1996) für eine Untersuchung der verdeckten Ermittlerin Peggy Allen alias »The Woman in Red« aus den Thril-

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sollte die einzige Superheldin dieser Ära werden, die dem ikonischen Status von Superman, der weithin als erster moderner Superheld anerkannt ist, gewachsen war. Superman wurde in den 1930er Jahren erschaffen, als zwei Teenager aus Cleveland, Jerry Siegel und Joe Shuster, ihre Liebe zu Science-Fiction Geschichten, PulpMagazinen, Abenteuerfilmen, Radioserien und Comicstrips kombinierten, um für immer die Welt des mythischen Geschichtenerzählens zu verändern. Der eine Schriftsteller, der andere Künstler, erlitten die jungen Männer zahlreiche Rückschläge, bis im Jahr 1938 schließlich ihr Amalgam aus Genres und Formen in Action Comics #1 debütierte. Außergewöhnliche Wesen, die phänomenale Kräfte besitzen, gibt es schon seit Anbeginn des Geschichtenerzählens, aber Siegels und Shusters Vermächtnis für die Populärkultur war ein moderner Mythos für moderne Zeiten. Im Jahr 1941 wurden Comics, die sich um Superhelden drehen − überlebensgroße Figuren mit einer geheimen Identität, einem Kostüm und einer Mission –, regelrecht von den Kioskständen gefegt und in den Taschen einer ganzen Generation von Kindern zusammengerollt. Als Amerika sich auf seine Beteiligung am Zweiten Weltkrieg vorbereitete, waren Superman, Batman, Captain America und Captain Marvel nur einige der Namen, die den Patriotismus veranschaulichten und die Hoffnung der Amerikaner nährten: dass Familien über den Atlantischen Ozean hinweg wieder vereint würden; dass die Unschuldigen gerettet und vor unseren Feinden geschützt würden; dass die Gerechtigkeit siegen würde; und dass es unter unserem scheinbar zerbrechlichen Äußeren, das unter der Weltwirtschaftskrise gelitten hatte oder von Polio befallen war, Krieger gibt, die uns unterhalten, anführen und zu wahrer Größen inspirieren können.1 Aber der stetig wachsenden Zahl von Superhelden fehlte es an einer Superfrau, welche die nationale Einbildungskraft auf gleiche Weise anregen konnte. Sie sollte bald durch den ungewöhnlichen Geist von Dr. William Moulton Marston entstehen. Dr. Marston war ein modernes Universalgenie, ein in Harvard ausgebildeter Arzt und Rechtsanwalt, der auch Schriftsteller war, Redaktionsberater und Erfinder des systolischen Blutdrucktests − ein Vorläufer dessen, was heute als Lügendetektortest bekannt ist. Er war auch ein notorisch schamloser, aber erfolgreicher Selbstdarsteller. In den 1930er und 1940er Jahren wuchs die Comicindustrie so schnell, dass Eltern sich zunehmend Sorgen machten über dieses überwältigend neue Medium, das die Aufmerksamkeit ihrer Kinder in Beschlag nahm.2 Kluge Verleger stellten daraufhin schnell Psychologen als Redaktionsberater ein, die öffentlich ihre ›fachmännische‹ Meinung über den Wert der Comicbücher bekanntgaben − nämlich, dass sie gut für Kinder waren.

ling Comics; vgl. Robbins’ The Great Women Cartoonists (Watson-Guptill, 2001) für eine Analyse von Tarpe Mills’ »Miss Fury«. 1 | Captain America stand für die Rechtschaffenheit Amerikas; auf dem ersten Cover des nach ihm benannten Comics versetzt er Hitler einen K.O.-Schlag. Dieses Cover erschien mutige neun Monate, bevor die USA sich gezwungen sagen, sich offiziell in den Krieg einzuschalten (März 1941). 2 | Auch in späteren Jahrzehnten sollten diese Sorgen bei der Einführung anderer Unterhaltungsmedien wieder aufkommen, namentlich bei Fernsehen, Computerspielen und dem Internet.

Stuller: Die Gebur t der modernen Mythologie

Marston war ebenfalls klug und packte die Gelegenheit beim Schopf, um sich selbst zu bewerben. Er bewegte seine Freundin und Assistentin, Olive Byrne, dazu, ihn zum Thema Kinder und Comics für das Frauenmagazin Family Circle zu ›interviewen‹. Der Artikel erregte die Aufmerksamkeit des Vorstands von All American Comics,3 M. C. Gaines, der Marston anschließend als Redaktionsberater und Schriftsteller für das Unternehmen einstellte. Diese Position führte schließlich zur Erschaffung von Wonder Woman. Marston hatte beobachtet, dass die Mehrheit der Superhelden Männer waren und dass Frauen auf Nebenrollen beschränkt wurden. Er reflektierte darüber später so: Aus psychologischer Sicht schien mir, dass das größte Vergehen der Comics ihre haarsträubende Männlichkeit war. Einem männlichen Helden fehlen die Eigenschaften der Mutterliebe und Zärtlichkeit, die für ein Kind lebensnotwendig sind. Nehmen Sie einmal an, Ihr Kind nimmt sich Superman zum Vorbild, der seine außerordentliche Kraft nutzt, um den Schwachen zu helfen. Dann fehlt dennoch die wichtigste Zutat für das menschliche Glück – Liebe. Es ist schlau, stark zu sein. Es ist bedeutend, großzügig zu sein. Aber zärtlich, liebevoll, warmherzig und charmant zu sein, wird nach den Regeln der Männlichkeit als weibisch angesehen. 4

Marston lehnte nicht, wie andere Psychologen, die vorherrschende Gewalt in Comics ab, sondern den Mangel an multidimensionalen weiblichen Figuren. Für ihn überschattete die Männlichkeit die Weiblichkeit, was für Männer und Frauen gleichermaßen nachteilig sei. Darüber hinaus hatte Marston ziemlich radikale Vorstellungen von Sex und Gender − Vorstellungen, die in seinen Comics subversiv zum Ausdruck kommen sollten, aber schon offen in seinen anderen Werken zu Tage lagen, vor allem in einer Publikation aus dem Jahr 1928, The Emotions of Normal People. Kurz gesagt, Marston glaubte, dass Frauen das überlegene Geschlecht waren und dass Männer sich dem unterwerfen sollten, was er »ihre liebevolle Dominanz« nannte. Diese Überzeugungen beruhten auf seinen pseudo-psycho-physiologischen Theorien über den menschlichen Organismus, etwa jener, derzufolge der Körper einer Frau »doppelt so viele endokrine Mechanismen und Organe aufweise, die Liebe generieren, wie ein Mann«5. Um seine Ideologie zu verbreiten, bestand Marstons Formel für seine Superheldenreihe aus einer schönen Frau, die durch ihre altruistische Liebe für das Gemeinwohl der Menschheit kämpfte. Marston ging so weit, zu proklamieren, dass Wonder Woman »psychologische Propaganda« für jene Art von Frauen war, von denen er annahm, dass sie bald die Welt regieren würden. Er sagte voraus, dass sich unsere Gesellschaft innerhalb eines Jahrhunderts zu einem Matriarchat entwickeln würde − wenn es nur Figuren wie seine eigene gäbe, die den Weg ebnen würde. Indem er die Amazonenprinzessin und ihre Verbündeten als Vorbilder benutzte, hoffte er zu zeigen, dass jedes junge Mädchen wie Wonder Woman werden 3 | Später bekannt als DC Comics. 4 | Marston, William Moulton. »Why 100,000,000 Americans Read Comics«, in The American Scholar. Band 13, Nr. 1, S. 35-44, Winter 1943−44. Der Comicverleger, auf den Marston hier anspielt, ist M. C. Gaines von DC Comics. 5 | Zitiert bei Daniels, Les. Wonder Woman: The Complete History. San Francisco, CA: Chronicle Books, S. 22, 2000. Das Zitat ist einem Brief entnommen, in dem Marston dem Comichistoriker Coulton Waugh erklärt, wie er dazu kam, die Figur Wonder Woman zu erschaffen.

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könnte, wenn es sich nur die Zeit und die Energie nehmen würde, richtig zu trainieren, und wenn es nur ein Vorbild hätte, dem es folgen könnte. Geschrieben von Marston unter dem Pseudonym »Charles Moulton« (eine Kombination der Namen Maxwell Charles Gaines und William Moulton Marston) und von Harry G. Peter gezeichnet, erschien Wonder Woman erstmals im Dezember 1941 in All Star Comics #8. Einen Monat später hatte sie bereits regelmäßige Auftritte in Sensation Comics #1 und ein nach ihr benannter Titel, Wonder Woman, ging sechs Monate später in Druck. Laut ihrer Herkunftsgeschichte ist Wonder Woman Prinzessin Diana von der matriarchalischen Insel Paradise Island. Die Amazonen dieser verborgenen Insel sind friedvolle, hochqualifizierte Athletinnen, die eine unsterbliche Existenz führen, frei von der Brutalität der Männer. Wenn ihre Königin, Hippolyte, ein Kind wünscht, wird sie von Aphrodite angewiesen, eines aus Lehm zu formen. So wurde auch Diana geboren, ein Kind, »so schön wie Aphrodite, so klug wie Athena, mit der Geschwindigkeit von Merkur und der Kraft des Herkules.«6 Ihre erste Geschichte erzählt uns auch, wie das Flugzeug von Steve Trevor, eines US-Armeeoffiziers, auf der nur von Frauen bevölkerten Insel abstürzt. Während er gesund gepflegt wird, entdecken die Amazonen durch eine Art magisches Fernsehen, dass Trevor für Amerika gegen die »Mächte des Hasses und der Unterdrückung« kämpft. Hippolyte befragt die Götter, die anordnen, dass Trevor sofort in den Kampf zurückkehren muss und dass die Stärkste der Amazonen ihn begleiten soll, um den Krieg zu gewinnen. Athena verkündet, dass Amerika »die letzte Festung der Demokratie und der Gleichberechtigung für Frauen« sei. Ein athletischer Wettkampf findet statt, um die stärkste Abgesandte zu finden. Diana wurde die Teilnahme von ihrer Mutter untersagt, aber da sie sich in Trevor verliebt hat − den einzigen Mann, den sie je gesehen hat − gehorcht die Prinzessin ihrer Königin nicht und nimmt verdeckt teil. Sie besiegt ihre Konkurrentinnen und gewinnt das Turnier. Als Diana in »die Welt der Männer« auf bricht, nimmt sie heilige Totems mit: das magische Lasso der Wahrheit, das aus dem Gürtel von Gaia besteht (inspiriert durch Marstons Proto-Lügendetektor), sowie kugelsichere Armbänder − eine Erinnerung daran, sich niemals der Autorität eines Mannes zu unterwerfen. Ihre Mission, Amerika zu schützen, wird durch ihr mit Sternen geschmücktes Kostüm symbolisiert, das in den Farben Rot, Weiß und Blau gehalten ist. Sie kehrt mit Steve Trevor zu seiner Basis zurück und nimmt die geheime Identität von ›Diana Prince‹ an. Marston bediente sich frei aus der klassischen griechischen und römischen Kultur, indem er Namen, Orte und Sitten mit zeitgenössischen amerikanischen Werten vermengte, um seine mystischen Amazonen zu erschaffen. Die Amazonen, wie sie die alten Griechen kannten, waren eine legendäre matriarchalische Gesellschaft und sie gingen Tätigkeiten nach, die normalerweise den griechischen Männern vorbehalten blieben, wie Jagd, Landwirtschaft und Kampf. Geschichten der Amazonen spielten sich häufig geographisch nahe dem südöstlichen Ufer des Schwarzen Meeres ab, um die Stadt von Themiscyra herum. (Jahre später, in einer Neuauflage von Wonder Woman, ersetzte Themiscyra Paradise Island als die Hei6 | Moderne Superhelden wurden oft mit den Gaben der Götter der klassischen Mythologie ausgestattet, oder ihre Fähigkeiten wurden mit denen der großen literarischen Helden gleichgesetzt.

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mat von Marstons Amazonen.) Historikerin Sue Blundell stellt fest, dass für die meisten Schriftsteller klassischer griechischer Texte die Amazonen »ein Phänomen der fernen Vergangenheit« waren und dass niemand behaupten konnte, jemals eine gesehen oder getroffen zu haben.7 Die »unverschämten« Bräuche der Amazonen schlossen es mit ein, dass die Mitglieder dieser nur aus Frauen bestehenden Gesellschaft zweimal jährlich anonym mit Männern verkehrten.8 Von den entstandenen Kindern blieben nur die weiblichen bei ihren Müttern. Einige Geschichten erzählen, dass die Männer zur Adoption freigegeben wurden, während andere behaupten, sie seien Kindestötungen zum Opfer gefallen. Es wird erzählt, dass die Amazonen ihre rechte Brust entfernten, entweder mit einem Messer oder einem heißen Eisen, um besser Waffen führen zu können. Die Überlieferungen besagen, dass diese Frauen Pferdereiter und Pferdediebe waren, die ihre Töchter mit Pferdemilch fütterten, um die Entwicklung der Brust zu verhindern.9 Das sind gewiss Legenden; Malereien auf Vasen und andere Abbildungen stellen Amazonen fast immer mit zwei Brüsten dar. Allerdings kann das griechische Wort a-mazon als »ohne Brust« übersetzt werden.10 Genau wie, Jahrhunderte später, Marston wollte, dass seine Geschichten über Wonder Woman als psychologische Propaganda für die Ermächtigung der Frauen wirksam werden, dienten wohl auch die Mythen über die Amazonen als »athenische Propaganda« für das richtige Verhalten von Frauen − ein weiteres Zeugnis dafür, wie Erzählungen soziale Vorstellungen beeinflussen. Wie Ruby Blondell in ihrem Aufsatz »Wie man eine Amazone tötet« schreibt, »fungieren die Amazonen in der griechischen Vorstellungswelt in vielerlei Hinsicht als Antithese zur ›zivilisierten‹ Gesellschaft und die Mythen über sie wirken als Verbot, die Rollen und Beziehungen der Geschlechter anzutasten, welche in den Institutionen der Ehe und des Haushaltes verankert waren«11. Für die Athener repräsentierten diese Töchter des Ares weibliche Unabhängigkeit und Tapferkeit, was zugleich faszinierend und eine Bedrohung der etablierten sozialen Strukturen war. Die Ablehnung angemessener Genderrollen durch die Amazonen machte ihre Niederlage unvermeidlich, und als ein Warnstück über die Gefahren sozialer Übertretungen war der Trotz der Amazonen ihrem mythischen Niedergang sogar förderlich. Im antiken Griechenland wurden Mythen immer wieder umgedichtet, um einer sich wandelnden Kultur und Politik angepasst zu werden − eine Tradition, die Marston fortschrieb, indem er die rohe Macht einer Erzählung über eine Gesellschaft von Kriegerinnen nutzbar machte, um sie für seine Gegenwart relevant zu machen. In seinen Bemühungen, die klassischen Mythen über Kriegerinnen umzukehren, die durch Liebe und Übermacht gezähmt wurden, spielte er immer wieder symbolisch auf ihre mythischen Ursprünge an. In All Star Comics #8 er7 | Blundell, Sue. Women in Ancient Greece. Cambridge, MA: Harvard University Press, S. 58, 1995. 8 | Manche Mythen erzählten von einer völligen Verkehrung der Geschlechterrollen, in der die Männer zu Hause weilen, um zu weben und die Kinder großzuziehen, während sich die Frauen der öffentlichen Sphäre widmen. 9 | Fantham, Elaine, Foley, Helene Peet, Kampen, Natalie Boymel, Pomeroy, Sarah B., und Shapiro, H. Alan. Women in the Classical World. New York: Oxford University Press, S. 131, 1994. 10 | Blundell, Women in Ancient Greece, S. 59. 11 | Blondell, Ruby. »How to Kill an Amazon,« in Helios. Band 32, Nr. 2, S. 198, Herbst 2005.

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zählt Marston den Mythos von Herkules’ neunter Aufgabe neu, von dem es viele klassische Versionen gibt – Herkules muss den magischen Gürtel der Königin der Amazonen stehlen, den sie von der Göttin Aphrodite geschenkt bekommen hatte. Hippolyte erzählt ihrer Tochter Diana: »Herkules schaffte es durch Täuschung und Tricks, meinen Zaubergürtel zu stehlen − und bald wurden wir Amazonen versklavt. Und Aphrodite, verärgert, weil ich den Listen der Männer erlegen war, half uns nicht!«12 Die Amazonen hörten nicht auf, die Göttin um Hilfe zu bitten, und schließlich gibt sie nach. Aber sie ordnete an, dass die Frauen immer die Armbänder tragen sollten, die von ihren Entführern für sie angefertigt worden waren, als Mahnung, sich vor Männern in Acht zu nehmen. Als Wonder Womans kugelsichere Armbänder erlangten sie Berühmtheit.13 Marston glaubte an die Macht von Geschichten, Kinder zu beeinflussen. Wenn sie schon Comics lasen, sollten es wenigstens Comics sein, die wichtig waren − Worte und Bilder, die die Vorstellungen von Geschlechterrollen, Machtstrukturen und Kriegen verändern konnten. Freilich waren Marstons Kriegerinnen viel spielerischer als ihre mythischen Namensvetterinnen und vielleicht ist es der Tatsache geschuldet, dass er ihren Mythos für ein modernes Bewusstsein umschrieb, dass das Wort »Amazone« nicht mehr mit den furchteinflößenden Frauen verknüpft ist, deren Gender-Subversivität eine Gefahr für die athenische Gesellschaft darstellte. Stattdessen steht ›Amazone‹ heute in der Regel für Kraft, Unabhängigkeit, Macht und Schwesternschaft − Ideen, die Wonder Woman während der Frauenbefreiungsbewegung der 1960er und 1970er Jahre symbolisieren sollte (was darauf hinweist, dass der amerikanische Feminismus während dieser Zeit auch neue Assoziationen an das Wort anlagerte). Marstons fiktionale Superfrau war auch mit Aspekten der echten Frauen in seinem Leben ausgestattet − er lebte nicht mit nur einer, sondern gleich mit zwei Wonder Women zusammen, jede phänomenal in ihrer einzigartigen Weise. Seine Ehefrau, Elizabeth Holloway Marston, hatte selbst drei Hochschulabschlüsse, darunter einen in Psychologie und einen in Jura. Sie half auch dabei, die Prinzessin der Amazonen zu erschaffen. Olive Byrne war eine ehemalige Studentin und wissenschaftliche Assistentin von William Marston, die mit den Marstons in einer polygamen Beziehung lebte. Die Marstons hatten zwei eigene Kinder und adoptierten die beiden Kinder Byrnes, die ebenfalls von Marston gezeugt wurden. Jeder Erwachsene trug zur Arbeit im Haushalt bei und war ein unverzichtbarer Teil ihrer harmonischen Familieneinheit. Nachdem Marston an Hautkrebs gestorben war, kümmerte sich Byrne um die Kinder und um den Haushalt, während Holloway-Marston für das Einkommen sorgte. Mit ihrem Gehalt und Marstons Tantiemen konnte sie allen vier Kindern die Hochschulausbildung und Byrne das Medizinstudium finanzieren. Die Frauen lebten bis zu Byrnes Tod in den 1980er Jahren zusammen. Holloway-Marston starb 1993 im Alter von 100 Jahren.

12 | Moulton, Charles. »Introducing Wonder Woman.« All Star Comics #8, Dezember 1941− Januar 1942. 13 | Diese Armbänder waren auch durch diejenigen inspiriert, die Marstons Geliebte Olive Byrne zu tragen pflegte.

Pink Kryptonite Das Coming-Out der Superhelden* Lars Banhold 1

Im Juni 2012 ist der Gay Pride Month endgültig auch im Superheldencomic angekommen. Während der Marktführer Marvel Comics im Rahmen der Prestigereihe Astonishing X-Men und innerhalb diverser Pressemitteilungen die gleichgeschlechtliche Hochzeit des Superhelden Northstar zelebrierte, zeigte Hauptkonkurrent DC Comics in Earth 2 #2, dass die traditionsreiche Figur Green Lantern/Alan Scott nun, 72 Jahre nach seinem ersten Auftritt, in einer schwulen Partnerschaft lebt. Einige Wochen zuvor sorgte Batman-Autor Grant Morrison für mittleres Aufsehen durch seine Aussage im Playboy: »[…] he’s [Batman] sexually deviant. Gayness is built into Batman […] Batman is very, very gay«. Trotz des verhältnismäßig großen medialen Echos und der empörten Reaktionen konservativer Leser, sind LGBT-Themen (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) schon lange im Genre präsent. Seit zwei Jahrzehnten wird dieser Bereich selten, aber regelmäßig und engagiert thematisiert, trotzdem ist er noch weit davon entfernt, etabliert zu sein. Warum? Der Grund scheint offensichtlich: der Superheld ist in seiner klassischen Form eine normativistische Kraft, die radikal gegen jede Devianz vorgeht. Wird die Ordnung von Gotham bedroht, dann zumeist von ökonomisch Benachteiligten, die psychisch krank und körperlich deformiert – oder zumindest unattraktiv – sind (Ausnahme sind Sexbomben wie Catwoman oder Talia al Ghul). Kurz: der Schurke ist »das Andere«. Dem gegenüber steht Batman: weiß, männlich, reich, attraktiv, körperlich und geistig unversehrt und bis zur Perfektion ausgebildet und (zumindest offiziell) heterosexuell. Die Abweichung der Schurken ist aber nicht nur eine Nebenerscheinung ihren bösen Taten, sie steht mit diesen in einem engen kausalen Verhältnis. Eine hässliche Vernarbung im Gesicht reicht aus, um eine psychische Störung zu produzieren, die aus dem rechtschaffenen Harvey Dent den verbrecherischen Two-Face macht oder einen harmlosen Komiker in den Joker verwandelt. Physische Makel führen in diesem System offensichtlich immer zu psychischen Erkrankungen, die automatisch in Verbrechen und asozialem Verhalten münden. Selbst wenn die entsprechenden Strukturen reflektiert werden – wie im Falle Scarecrows, dessen Taten die Reaktion auf Mobbing und seelische Grausam*  Banhold, Lars: Pink Kryptonite. Das Coming-Out der Superhelden. Essen: Christian A. Bachmann Verlag 2012.

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keit aufgrund seiner Physis sind – ist Batmans Reaktion pure Gewalt. Die Aufgabe des Helden in diesem System ist Überwachung und Bestrafung von Devianz. Andere Superheldenformate sind zwar subtiler, das Konzept bleibt jedoch gleich: Andersartigkeit und Abweichung von einer engen Norm gehen mit Bösartigkeit einher, beziehungsweise bedingen diese, während der normative Held Fehlverhalten mit Gewalt sanktionieren muss. Selbst Formate wie X-Men, die sich bereits in ihrer Konzeption explizit mit Problemen marginalisierter Gruppen und Alterität befassen, beschränken sich meistens auf weiße, in der Überzahl männliche, heterosexuelle Figuren, die dem gängigen Schönheitsideal entsprechen. Ausnahmen wie Nightcrawler oder Beast bestätigen nur die Regel (da sie sich immer auch selbst als Ausnahmen inszenieren), insbesondere in Anbetracht der wesentlich abweichenden Darstellung »böser« Mutanten, wie Toad, Sabretooth, Blob oder Sauron. Es ist wenig überraschend, dass Versuche der Auflösung dieser Strukturen, wie durch Grant Morrisons New X-Men, oft Verwirrung bei Lesern stiften. Der Superheld sorgt stets für den Triumph des »Guten« – und das ist nicht nur das Gesetz, sondern vor allem eine ideale Ordnung, für die Kriminalität und das »Böse« immer mit Abweichung von der Norm verbunden ist – sei diese Norm nun bürgerlich, rassistisch, sexistisch, lookistisch, ableistisch, religiös oder wie auch immer motiviert. Entsprechend ist das Genre, wenn es um die Integration oder auch Reflexion sozialer und kultureller Veränderungen geht, in der Regel zutiefst konservativ und unflexibel. Der erste schwarze Superheld »Black Panther« taucht im Juli 1966 (28 Jahre nach Supermans Debüt und 3 Monate vor der Gründung der gleichnamigen Organisation durch Huey Newton und Bobby Seale) in der Reihe Fantastic Four auf. Black Panther ist allerdings bei weitem kein Zugeständnis an die Umbrüche der 60er in den USA, sondern der Prinz des Afrikanischen Phantasie-Staats »Wakanda«, der im Grunde der Utopie eines viktorianischen Kolonialisten entsprungen sein könnte. Afroamerikaner durften zunächst nur als Sidekicks wie Falcon (1969) oder Aushilfen wie die Green Lantern/John Stewart (1971) folgen. Es dauerte bis zum Sommer 1972, bis Luke Cage als erster afroamerikanischer Superheld im Mainstream seine eigene Comicreihe füllen durfte. Ein Blick auf die Geschichte des Genres zeigt zudem, wie eng die Grenzen der Norm gefasst sind, welche von Superhelden repräsentiert und verteidigt werden. Erst 1941 erschien mit Wonder Woman die erste weibliche Superheldin in ihrer eigenen Comicreihe. Innerhalb der All-Star Superheldengruppe Justice Society of America durfte Wonder Woman jedoch lediglich die Rolle der Sekretärin für ihre männlichen Kollegen ausfüllen. Später konnten Superheldinnen zwar aus derartigen Rollenmustern fallen, jedoch nur zu dem Preis, dass sie bis heute in der überwältigenden Mehrheit als leichtbekleidete und an einem pornographischen Körperideal ausgerichtete Sexobjekte dargestellt werden. Und während schon früh akzeptiert wurde, dass der X-Men-Gegner Magneto jüdisch ist und seine Erfahrungen in Auschwitz im kausalen Bezug zu seinen Untaten stehen [sic!], war es noch 2002 ein Grund für mediales Aufsehen, als in Fantastic Four (Vol.3) #56 der Superheld Thing (Benjamin Jacob Grimm) 40 Jahre nach seinem ersten Auftritt seine jüdischen Wurzeln offenbarte. Schon kleine Abweichungen vom konservativen Ideal des White Anglo-Saxon Protestant werden, sofern sie den Superhelden selbst betreffen, zu großen, umstrittenen Stigmata, wie etwa Daredevils Katholizismus (seit 1979), Supermans Vegetarismus (seit 2003 regelmäßig angedeutet), Green

Banhold: Pink Kryptonite

Arrows politische Positionierung als links-liberal (seit 1970) oder Green Lantern/ Kyle Rayners hispanischer Vater (seit 2003) – nichts von all dem würde in anderen Bereichen als Devianz bezeichnet, im Superheldencomic muss jedoch all das gegen Fans, konservative Gruppen oder restriktive Verlagspolitik mit viel Aufsehen durchgesetzt werden, wenn es um den Superhelden selbst geht. Der Verlag Milestone Comics, der 1993 exklusiv Reihen mit minoritären Superhelden, insbesondere Afroamerikanern, veröffentlichte, schaffte es lediglich 4 Jahre sich am Markt zu halten. Und auch die Fortführung der Milestone-Figuren durch DC Comics kann nur als mäßig erfolgreich beurteilt werden. Dass dieser normativistische Aspekt dem Superhelden nicht zwangsläufig eingeschrieben ist, zeigt sich in seiner ersten Inkarnation: Superman ist nicht weniger als der berühmteste Migrant der Comicgeschichte, der sich in die fremdartigen Trachten seiner Heimat hüllt, den kryptonischen Sonnengott Rao anbetet und eine interspeziesistische Partnerschaft mit Lois Lane anstrebt, respektive sie vollzieht. Selbst seine halbherzigen Integrationsversuche sind nach David Carradines berühmten Monolog in Kill Bill nichts als eine Kritik am normalen Menschen, wenn nicht sogar eine zynische Beleidigung der Krypton unterlegenen Menschen: »Clark Kent is Superman’s critique on the whole human race« – letzteres meint natürlich weiße, männliche, heterosexuelle US-Amerikaner. Der Archetyp, dem sonst der Superheld verpflichtet ist – der arrogante, wirtschaftlich und akademisch erfolgreiche, nur der eigenen Norm verpflichtete, ignorante, weiße, heterosexuelle Mann –, kann für einen so gelesenen Superman entsprechend nur die Rolle des Erzfeindes erfüllen: Lex Luthor. Ein Blick auf die Geschichte des Genres offenbart zudem, dass eine Lesart gegen den Strich besonders in Bezug auf Queerness eine lange Tradition hat. Am bekanntesten ist mit Sicherheit Fredric Werthams berüchtigtes Sachbuch Seduction of the Innocent (1954), in welchem der Psychologe die Theorie aufstellt, Batman produziere homosexuelle Neigungen im jungen Leser. Wertham wird dabei gestützt von Patienten, die in Batmancomics, insbesondere die Beziehung zwischen Batman, Robin und Butler Alfred, ihre Wünsche nach einer schwulen Partnerschaft hineinprojizierten, eine Lesart, die durchaus nachzuvollziehen ist. Die populäre TV-Serie Batman wandte sich in den 60er Jahren schließlich mit ihrem Camp-Charakter mehr oder weniger offen an die Queer-Culture. Der in Bezug auf Sexualität betont liberale Psychologe und Polyamorist William Moulton Marston, der offen Homosexualität verteidigte, hatte mit der Erfindung von Wonder Woman nicht nur ein explizit feministisches Interesse, sondern verarbeitete mit ihrem Lasso und den bedeutungsvollen Armreifen – Überbleibsel einer patriarchalen Sklavenkultur – BDSM-Elemente. Wonder Womans Heimat Themyscira deutet zudem als männerlose Gesellschaft immer wieder lesbische Beziehungen zwischen den Einwohnerinnen an. Bei genauer Betrachtung sind dem Genre grundsätzlich Themen immanent, die es für ein Queer Reading prädestinieren und gleichzeitig dem oben beschriebenen normativistischen Charakter des Superhelden diametral gegenüberstehen. Immer wieder geht es um Doppelidentitäten und das Problem, sich selbst zwischen diesen zu positionieren – der bürgerlich konformen Identität und der extrovertierten Identität als Superheld, inklusive einer betont körperlichen Maskulinität mit extravaganten Kostümen und klingendem Phantasienamen. Es ist bezeichnend, dass Clark Kent sich immer wieder in Telefonzellen, Aufzügen oder Schränken in

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Superman verwandelt, damit seine Heldenidentität »out of the closet« kommen kann. Im Gegenzug ist er im Alltag unfähig, seinem Love Interest seine Liebe zu gestehen, geschweige denn dass er eigentlich ganz anders ist, als alle im Büro glauben. Batman spielt in der Öffentlichkeit den Playboy mit Frauen, die ihn nicht weiter interessieren, um nachts endlich im Lederoutfit Machtspiele mit anderen Kostümierten beiderlei Geschlechts zu spielen. Und welcher Hulk bricht wirklich bei Bruce Banner aus, wenn er erregt wird? Diese Darstellungen sind nicht neu, sie sind wahrscheinlich so alt wie der Superheldencomic selbst, sollten allerdings nicht als humoristisch, abwertend, klischeebeladen und lächerlich verstanden werden. Sie sind reale Potenziale der Texte, die sich nicht leugnen oder wegdiskutieren lassen. Dass sie in der Regel ignoriert und verneint werden, liegt allerdings nicht nur an Kreativen oder Konsumenten, sondern insbesondere auch am Comics Code, der Comics strengen Regeln für die erzählerischen Möglichkeiten unterwarf. Von 1954 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts schwebten die restriktiven Regeln der Comics Code Authority über den Verlagshäusern der USA. 1986 veröffentlichte DC Comics mit Alan Moores Watchmen erstmals einen Superheldencomic, wenn auch einen zutiefst dekonstruierenden, mit expliziten LGBT-Elementen. Bereits ein Jahr später tauchte mit Extraño [!] der erste schwule Superheld innerhalb des Superhelden-Mainstreams auf, eine Figur gewordene Sammlung homophober Klischees. 1992 gab beim Konkurrenten Marvel der Mutant Northstar bekannt: »For while I’m not inclined to discuss my sexuality with people for whom it is none of their business – I am gay!«. 1993 folgte mit der zu Unrecht vergessenen Reihe Enigma die logische Konsequenz dessen, was bereits lange immanenter Bestandteil des Genres war: Protagonist Michael Smith begegnet der Manifestation seines Lieblingssuperhelden aus Kindertagen. Dieser befreit ihn aus diversen Schranken seiner bisherigen, kleinbürgerlichen Existenz und wird schließlich zu seinem Liebhaber. Seit den frühen 90ern sind Homo-, Bi- oder Transsexuelle Superhelden also durchaus zu finden und entwickeln sich zunehmend zu reflektierten Auseinandersetzungen. Wie kommt es aber, dass Northstars gleichgeschlechtliche Heirat und Alan Scotts Coming Out 2012 ein derartiges Interesse verursachen? Der Grund liegt unter anderem darin, dass das Genre schwer mit seinem Erhalt im Comic zu kämpfen hat. Während Verfilmungen und TV-Adaptionen etablierter Comic-Superhelden seit über zehn Jahren florieren, kämpfen die Comics mit einer alternden, schwindenden Leserschaft. Neuleser sind ein wertvolles Gut für die Verlage, die einst Hefte in Millionenauflage produzierten, während heute selten eine Einzelausgabe die 200.000-Marke überschreitet. Hierfür haben sich in den letzten 20 Jahren Publicity Stunts etabliert. Meistens ist das der vorübergehende Tod einer mehr oder weniger ikonischen Figur. Aber auch Veränderungen in Bezug auf Diversity oder Genderpolitik können in den USA stets mit Reaktionen aus dem konservativen Lager, wie zuletzt der Organisation »One Million Mothers«, und einem zumindest kleinen Medienecho rechnen. Beispiele hierfür sind der Versuch, Wonder Womans Kostüm vom sexistischen Badeanzug-Schnitt zu langen Hosen zu ändern oder die Einführung des African American Hispanic Miles Morales als Ultimate Spider-Man. Einen in Bezug auf die eigene Geschichte ironischen Schritt tat DC Comics mit Batwoman. Die Figur wurde 1956 eingeführt, um die homosexuelle Lesart Batmans einzuschränken und versank schnell in Vergessenheit. Erst 2005 wurde Batwoman wieder in die offiziellen Comics als lesbische Ex-Soldatin

Banhold: Pink Kryptonite

integriert, deren militärische Karriere von der »Don’t Ask, Don’t Tell«-Politik der US-Army beendet wurde. Das jüngste Aufsehen ist also durchaus intendiert. Es wäre allerdings falsch, die Bemühungen der Verlage um Diversity im Superheldencomic auf mediale Effekte zur Verkaufssteigerung zu reduzieren. Seit Jahren versucht vor allem DC Comics, die gesellschaftliche Vielfalt in ihren Veröffentlichungen zu spiegeln – eine Vielfalt, die sich auch in der Gruppe der Autoren, Zeichner und Redakteure widerspiegelt. Trotzdem handelt es sich hierbei nicht um ein rein politisches Bemühen. Auch wird der Zweck verfolgt, neue Kunden außerhalb der etablierten, alternden Leserschaft zu erreichen. Diese ist in der Regel noch immer zum überwiegenden Teil männlich, weiß, christlich, heterosexuell und, laut Autor Alan Moore, »politically […] centre-right«, was ein Blick in Online Message Boards in der Masse belegt. Es entsteht eine nicht zu unterschätzende Zwickmühle: der Superheldencomic ist noch auf eine Leserschaft angewiesen, die sich konservativen Normen verpflichtet und vom sozialem Wechsel bedroht fühlt. Die oben beschriebene Gruppe, aus der sich diese Leserschaft rekrutiert, ist allerdings zum einen – entgegen ihrer Selbstwahrnehmung – bekanntermaßen quantitativ eine Minderheit und pflegt zum anderen eine tendenziell abwertende Haltung gegenüber der Kunstform Comic, was sich über die Jahrzehnte vom Comics Code bis zum Aufstand der »One Million Mothers« verfolgen lässt und verhindert, dass sie durch ihren qualitativen Status als primäre Zielgruppe dominant bleiben könnte. Die Gruppe »One Million Mothers« schreibt in ihrer Reaktion auf die neusten Aktionen der beiden Marktführer DC Comics und Marvel: »This is ridiculous! Why do adult gay men need comic superheroes as role models? They don’t…«. Dem ist Grant Morrison entgegenzusetzen, der in Supergods (2011) die These vertritt, dass Superhelden als kraftvolle Meme und Role Models das Potenzial für gesellschaftliche Veränderungen, ja sogar Verbesserungen besitzen: »It should give us hope that superhero stories are flourishing everywhere because they are a bright flickering sign of our need to move on, to imagine the better, more just, and more proactive people we can be«. Hier liegt vielleicht die Zukunft des Genres. Minoritäre Helden einzuführen, kann ein erster Schritt sein. Neue Leser zu gewinnen oder im 21. Jahrhundert relevant zu bleiben, indem auch im Genre des Superheldencomics ein größeres Gewicht auf Vielfalt gelegt wird, kann aber kaum funktionieren, solange das Genre innerhalb der Geschichten den Helden weiter als normative Kraft darstellt, der Abweichungen im Namen fragwürdiger Ordnungen mit Gewalt bestraft. Es gibt schon lange genug erfolgreiche Beispiele für alternative Muster, nach denen Superhelden funktionieren können, von Moore, Gaiman, Morrison, Ellis bis hin zu den Independentcomics der Hernandez Brüder. Erst wenn der Superheld in der Masse sein restriktives Element zugunsten seines progressiven Potenzials fallen lässt, hat das Genre sich wirklich aus den Zwängen des Comics Codes befreit.

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»It’s time to be a hero« Vom Scheitern der Gender-Parodie im Comicfilm Kick-Ass* Véronique Sina Im Gegensatz zu den hypermedialen Produktionen Sin City und Immortel (ad vitam) handelt es sich bei Kick-Ass um einen Comicfilm, welcher primär durch die Remedialisierungsstrategie der Unmittelbarkeit gekennzeichnet ist.1 Genauer gesagt handelt es sich bei Kick-Ass um einen Film, welcher das Konzept der (hypermedialen) Selbstreflexivität bzw. Selbstreferenzialität als Strategie der Authentifizierung einsetzt. Ziel dieser Produktion scheint es zu sein, filmtechnische Errungenschaften dazu zu nutzen, eine vornehmlich ›glaubhafte‹ – oder besser gesagt, ›realitätsnahe‹ filmische Illusionswelt zu schaffen und die fantastische Welt der Comic-Superheld_innen besonders ›authentisch‹ wirken zu lassen. Dank seines stilisierten glossy looks2 handelt es sich bei Kick-Ass – genau wie bei dem gleichnamigen, parallel zum Film entstehenden Pop-Comic – um ein mainstreamtaugliches Werk, welches darum bemüht ist, narratives Hollywood-Kino zu sein und ein möglichst breites Zielpublikum zu erreichen (vgl. Millar 2010, 55 sowie A New Kind of Superhero: The Making Of Kick-Ass, 2010). Als Film »that wants to be a big American movie« (A New Kind of Superhero: The Making Of Kick-Ass, 2010) fügt sich Kick-Ass – trotz seiner unabhängigen Finanzierung3 *  Sina, Véronique: »›It’s time to be a hero‹. Vom Scheitern der Gender-Parodie im Comicfilm Kick-Ass.« In: Dies.: Comic – Film – Gender. Zur (Re-)Medialisierung von Geschlecht im Comicfilm. Bielefeld: transcript 2016. S. 226-245. 1 | Mit der Remedialisierungsstrategie der Unmittelbarkeit ist hier nicht nur »[d]as Ausblenden der Vermittlungsinstanz« (Seier 2007, 75) gemeint, sondern auch die Annahme, »dass Unmittelbarkeit innerhalb eines Mediums durch die Wieder-Aufführung eines anderen Mediums suggeriert wird« (ebd., 74). 2 | Wie im M aking O f des Films betont wird, handelt es sich bei K ick-A ss um einen glossy superhero movie, dessen look u.a. durch eine hohe Farbsättigung, der Verwendung von high key light sowie den Verzicht auf eine grobkörnige Optik gekennzeichnet ist (vgl. A N ew K ind of S uperhero: The M aking O f K ick-A ss , 2010). 3 | Aufgrund des hohen Gewaltlevels sowie der Präsentation einer brutalen, elfjährigen Killerin stößt die Filmproduktion bei potenziellen Geldgeber_innen zunächst auf Ablehnung: »Eine der Forderungen der Produktionsfirmen war, ›Hit-Girl‹ älter zu machen. Anstatt sich an die Forderungen der Produktionsfirmen anzupassen, hat Vaughn den Film unabhängig produziert« (Unterholzner o.J., 15).

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und eines relativ geringen Produktionsbudgets von geschätzten 24,3 Millionen Euro (vgl. Unterholzner o.J., 15) – mühelos in eine lange Liste erfolgreicher Hollywood-Blockbuster-Produktionen ein. Dabei wird die Tatsache, dass sich Kick-Ass sowohl auf inhaltlicher wie auch gestalterischer Ebene von zahlreichen populären Superheld_innen-Comics und deren Verfilmungen inspirieren lässt, im Rahmen der filmischen Inszenierung immer wieder reflektiert. So stellt bereits die Kamerafahrt der filmischen Eröffnungssequenz – die einen Flug durch die Wolken simuliert – eine Anspielung auf Richard Donners SupermanVerfilmung aus dem Jahr 1978 dar. Aber auch die musikalische Untermalung der Sequenz kann als Reminiszenz an die berühmte Verfilmung des wohl bekanntesten Superhelden verstanden werden.4 Darüber hinaus weist die auditive Ebene mit Hilfe einer Ansammlung von diversen (aus dem off ertönenden) medialen Zitaten auf die verschiedenen Vorläufer des Superheld_innen-Genres hin und verdeutlicht dabei gleichzeitig, dass der hier präsentierte Comicfilm – genau wie jeder andere Film – Teil eines über ihn hinausweisenden diskursiven »Netz[es] von Signifikationspraktiken« (Seier 2007, 40) ist, welches ihn konstituiert und reglementiert. Alles in allem scheinen die ersten Minuten des Films die Zuschauer_innen auf die Inszenierung einer heroischen Geschichte einzustimmen. Jedoch spätestens mit der Präsentation einer in leuchtenden Farben kostümierten Figur, die unter dem Beifall der begeisterten Menge den mutigen Sprung von einem Hochhaus wagt, wird klar, dass wir es hier mit einer Superheld_innen-Verfilmung zu tun haben. Mit dem plötzlichen tödlichen Absturz des vermeintlichen Superhelden wird diese Erwartungshaltung allerdings genauso schnell wieder zunichtegemacht. Ein solch ironischer Umgang mit etablierten Inszenierungsstrategien des Superheld_innen-Genres ist auch im weiteren Verlauf der Handlung zu beobachten. Als »homage to comic books and the superhero genre« (A New Kind of Superhero: The Making Of Kick-Ass, 2010) konzipiert, präsentiert Kick-Ass seinen Zuschauer_innen die gezielte Verschiebung bzw. ›Re-Positionierung‹ bekannter Genreversatzstücke. Innerhalb dieses medienbzw. genrereflexiven Spiels kommt Sam Raimis populärer Spider-Man-Verfilmung aus dem Jahr 2002 eine besondere Rolle zu. So liefert Spider-Man (USA) nicht nur die ästhetische Vorlage für den (an Hollywood-Blockbuster-Produktionen orientierten) glossy look des Comicfilms (vgl. ebd.). Wie Justin S. Schumaker verdeutlicht, lässt sich Kick-Ass auch auf inhaltlicher bzw. thematischer Ebene von Spider-Man beeinflussen. Genauer gesagt kann Kick-Ass sogar als intermediale bzw. intertextuelle Antwort auf Raimis Spider-Man verstanden werden: »Kick-Ass offers a number of direct responses to Spider-Man’s narrative progression, beginning the intertextual discourse but transcending generic, mythic or structural patterns of heroic development in a self-reflexive and metafictive call« (Schumaker 2011, 130).

Im Rahmen dieser »super-intertextual conversation« (ebd.) verkörpern die beiden Protagonisten Dave Lizewski und Peter Parker nicht nur den gleichen Typus des unscheinbaren, netten Jungen von nebenan. Auch das beschauliche Reihenhaus 4 | Insgesamt wird die eigens für K ick-A ss komponierte Filmmusik als Hommage an die großen Klassiker des Superheld_innen-Genres konzipiert. Als Inspiration dient hier vor allem der von John Williams kreierte S uperman -Titelsong Superman March (vgl. A N ew K ind of S uper hero: The M aking O f K ick -A ss , 2010).

Sina: »It’s time to be a hero«

sowie die Straße, in der Dave und sein Vater wohnen, weisen eine beträchtliche Ähnlichkeit mit dem bescheidenen Heim von Peter (Tobey Maguire) und dessen Tante May (Rosemarie Harris) auf. Ein weiterer Aspekt, welcher die intertextuelle Nähe der beiden Figuren verdeutlicht, findet sich in dem vergleichbar laienhaften Erscheinungsbild von Peters erstem Spider-Man-Kostüm und Daves bzw. KickAss’ grünem Taucheranzug. Daher verwundert es auch nicht, dass Mark Millar in Kick-Ass. Creating the Comic, Making the Movie bemerkt, dass es sich bei dem Comickünstler und ›Spider-Man-Schöpfer‹ Steve Ditko5 um eine wesentliche Inspirationsquelle für die amateurhafte und gleichsam ›realistische‹ Beschaffenheit von Kick-Ass’ Kostümierung handelt (vgl. Millar 2010, 52). Ein gewisser Realitätsanspruch lässt sich auch in der Szene ausmachen, in der Dave – genau wie zuvor Peter Parker in Spider-Man – seine Fertigkeiten als Superheld trainiert: Während Peter dank seiner neu erworbenen Superkräfte mühelos von einer Hausschlucht zur nächsten springt, muss Dave ein solch gewagtes Unterfangen zunächst ganz ›bodenständig‹ üben. Und im Gegensatz zu Peter scheitert Dave schließlich aufgrund seiner Unsicherheit und mangelnden Fertigkeiten an der tatsächlichen Durchführung des Sprunges: »For Dave, the testing sequences require more planning and foresight […]. He does not begin by jumping from rooftop to rooftop, but rather he opts to practice by jumping from the wall on a tire laid out to approximate the distance between rooftops. Within the mise-en-scène, the text zooms out to show the reality of the distance in comparison to the diminutive stature of Dave, reinforcing his inability. This sequence replicates the narrative spirit of Spider-Man, but does so in a way that continues to ground Dave’s lack of abilities« (Schumaker 2011, 134).

Die Tatsache, dass es sich bei der Figur des Spider-Man im Allgemeinen sowie Sam Raimis Spider-Man-Verfilmung im Speziellen um wichtige (intermediale) Bezugsrahmen für Kick-Ass handelt, wird ebenfalls deutlich, wenn zu Beginn des Comicfilms ein aus dem off stammender Kommentar zu hören ist, welcher sowohl die für Peter Parker bzw. Spider-Man existenziell wichtige Frage »Who am I« zitiert6 als auch die im silver age berühmt gewordene Figur des Teenage-Superhelden aufgreift (vgl. Weltzien/Söll 2003, 298ff.). Darüber hinaus weist die Remedialisierung dieser bedeutungsschweren Frage die Zuschauer_innen des Comicfilms darauf hin, dass es sich bei der hier präsentierten Geschichte nicht nur um eine männlich-zentrierte origin-, sondern auch 5 | Die Comicfigur Spider-Man entspringt der Zusammenarbeit von Comicautor Stan Lee und -zeichner Steve Ditko. 6 | Dieselbe existenziell wichtige bzw. identitätsstiftende Frage wird auch zu Beginn von Sam Raimis S pider -M an gestellt. Laut Jeffrey A. Brown stellt die (durch die Frage und meist darauffolgende Antwort symbolisierte) Fähigkeit »to assert one’s identity authoritatively and conclusively, at least vicariously through the characters« (Brown 2011, 80) ein entscheidendes Charakteristikum des Superheld_innen-Genres dar. »Thus a central cliché in superhero stories is not just the iconic costuming but the opportunity to be identifiable. The importance of empowerment through self-declaration is crystallized in the clichéd use of decisive proclamations used in every superhero movie: ›I’m Batman!‹ ›Who am I? I’m Spider-Man!‹ ›The suit and I are one. I am Iron-Man!‹ ›I’m Kick-Ass!‹« (ebd.).

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um eine so genannte coming-of-age-story handelt. Darin durchläuft der jugendliche Protagonist – auf der Suche nach sich selbst – einen Prozess des Erwachsenwerdens oder besser gesagt der Mann-Werdung, um am Ende seinen Platz als vollwertiges Mitglied der (patriarchalen) Gesellschaft einzunehmen (vgl. Flanagan 2007, 137). Den Konventionen einer klassischen coming-of-age-story folgend, ist der Prozess des Erwachsenwerdens bzw. der Mann-Werdung (im Rahmen des Superheld_innen-Genres) an eine physische Transformation gekoppelt. Dementsprechend verwandelt sich der schmächtige und unscheinbare Außenseiter Peter Parker dank eines (genmanipulierten)7 Spinnenbisses in den muskulösen und mit speziellen (körperlichen) Fähigkeiten ausgestatteten Amazing Spider-Man (vgl. Weltzien/Söll 2003, 299). Unter dem Leitspruch »with great power comes great responsibility« lernt Spider-Man nicht nur seine außergewöhnlichen Kräfte sinnvoll einzusetzen, sondern auch das Wohl der Gesellschaft über seine eigenen Bedürfnisse zu stellen (vgl. Flanagan 2007, 139 sowie 148f.). Mit ihrer filmischen Wiederaufführung durchläuft diese klassische Superhelden-Geschichte im Falle von Kick-Ass jedoch eine entscheidende Veränderung: Während es sich bei Peter Parkers Metamorphose eindeutig um eine Verbesserung seiner körperlichen Fähigkeiten handelt, zeichnet sich Dave Lizewskis Verwandlungsprozess durch eine wiederholte Beschädigung des männlichen Körpers aus. Denn als Superheld ohne besondere Superkräfte wird Dave (alias Kick-Ass) nicht nur im Comic, sondern auch im Film immer wieder von seinen Kontrahent_innen brutal verprügelt, beschimpft und gedemütigt. Und genau wie in der Comicreihe wird diese Verletzlichkeit und Schwäche auch im Rahmen der filmischen Inszenierung mit einer negativ konnotierten Feminisierung sowie Homosexualisierung des Protagonisten in Verbindung gebracht. Dies wird bereits zu Beginn des Comicfilms deutlich, wenn Dave während seines ersten Auftritts als Kick-Ass zunächst von zwei Kleinkriminellen brutal niedergestochen wird, bevor ihn ein PKW anfährt und er daraufhin schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wird. Auch wenn in dieser Szene – im Gegensatz zum Comic – auf den Gebrauch diskriminierender, homophober Rede verzichtet wird,8 wird dennoch deutlich, dass es sich bei dem hier präsentierten schwachen, von der (Super-)Helden-Norm abweichenden Körper um einen unzulänglichen und damit verwerflichen – oder besser gesagt ›verdächtigen‹ Körper handelt, welcher eine potenzielle Gefahr für die hegemoniale heteronormative Geschlechterordnung darstellt und daher einer Sanktionierung bedarf. Dementsprechend verwundert es auch nicht, dass Dave – aus Angst vor der Reaktion seines Vaters – den Notarzt (welcher ihn nach seinem missglückten Auftritt als Superheld medizinisch versorgt) verzweifelt darum bittet, niemandem etwas von seiner Kostümierung zu erzählen. Aufgrund der stereotypen Analogisierung 7 | Während in den Marvel Spider-Man-Comics der 1960er Jahre von einer radioaktiven Spinne die Rede ist, handelt es sich in Sam Raimis S pider -M an -Film um eine genmanipulierte Spinne. 8 | Im Gegensatz zum Comic beschimpft Kick-Ass die Kleinkriminellen nicht als »three homos making a mess« (Millar/Romita Jr. 2010, unpag.), sondern als »two cheap shit losers«. Im Film wird Kick-Ass wiederum von seinen Angreifern nicht als »fucking prick« (ebd.) oder »fucking faggot« (ebd.), sondern als »motherfucker« bezeichnet. Und auch im weiteren Verlauf des Films wird – ganz im Gegensatz zum Comic – auf den Gebrauch diskriminierender, homophober Sprache verzichtet.

Sina: »It’s time to be a hero«

von (physischer) Schwäche, Homosexualität und Ent-Männlichung führt jedoch gerade die Tatsache, dass Dave nicht nur schwer verletzt, sondern auch nackt ins Krankenhaus gebracht wird, seitens seines Vaters sowie seiner Mitschüler_innen zu der Annahme, der Protagonist sei angesichts seiner vermeintlichen Homosexualität Opfer eines sexuellen Gewaltverbrechens geworden. Anstatt das Klischee des schwachen, effiminierten Homosexuellen zu widerlegen, wird dieses – genau wie im Comic – auch im weiteren Verlauf der filmischen Handlung aufrechterhalten und zusätzlich bekräftigt, wenn Dave – in der Hoffnung, die Zuneigung seiner großen Liebe Katie (Lyndsy Fonseca) zu gewinnen – absichtlich die stereotype Rolle des verweiblichten sexual nonthreatening gay best friend übernimmt. Darüber hinaus versagt Dave – genau wie im Comic – aufgrund seiner mangelnden körperlichen Fähigkeiten auch bei seinen weiteren Auftritten als Kick-Ass und muss wiederholt von Mindy alias Hit-Girl aus gefährlichen Situationen gerettet werden.9 Getreu der Comicreihe handelt es sich ebenfalls bei der filmischen Version von Hit-Girl um ein junges Mädchen, welches von ihrem Vater Damon Macready10 alias Big Daddy zu einer äußerst brutalen, wild fluchenden und todbringenden Killerin ausgebildet wurde. Dass es sich bei Hit-Girl im Vergleich zu Kick-Ass um eine aktive, kompetente und durchaus heldenhafte Figur handelt, wird besonders deutlich, wenn beide Charaktere in der Wohnung des Drogendealers Rasul (Kofi Natei) zum ersten Mal aufeinandertreffen: Auf der Suche nach einer Möglichkeit, seinen Heldenmut zu beweisen und die Gunst seiner Angebeteten zu gewinnen, beschließt Dave, seine neu gewonnene Popularität11 als New Yorks erster ›realer‹ Superheld zu nutzen und dem Drogendealer in Katies Namen einen Besuch abzustatten, um ihn aufzufordern, in Zukunft gefälligst die Finger von ihr zu lassen.12 Doch genau wie seine vorherigen Auftritte als Kick-Ass geht auch dieser ›heldenhafte‹ Versuch, Katie zu beschützen, gründlich schief. So erntet Kick-Ass zunächst nur höhnisches Gelächter für seine Superhelden-Verkleidung. Darüber hinaus wird der Protagonist bereits zu Beginn der Auseinandersetzung von Rasul und dessen Drogenring-Mit9 | Dave lässt sich von seinem ersten missglückten Auftritt als Kick-Ass nicht abschrecken. Nach einer langwierigen Rehabilitationsphase schlüpft er erneut in seinen grünen Taucheranzug, um auf Verbrecherjagd zu gehen. Dank geschädigter Nervenenden und zahlreicher implantierter Metallplatten ist er nun zumindest mit einer gesteigerten Schmerztoleranzgrenze ausgestattet. 10 | In Comic und Film werden zwei unterschiedliche Schreibweisen des Familiennamens verwendet. Während im Comic ›McCready‹ zu lesen ist, wird im Abspann des Films die Schreibweise ›Macready‹ angegeben. 11 | Bei seinem zweiten Auftritt als Kick-Ass gerät Dave durch Zufall in eine Schlägerei zwischen mehreren Angreifern und ihrem unbewaffneten Opfer. Bei dem Versuch, den Unbekannten vor dessen brutalen Angreifern zu schützen, wird Dave erneut übel zugerichtet. Doch dieses Mal weigert er sich aufzugeben und schafft es – dank seiner Hartnäckigkeit – die Angreifer in die Flucht zu schlagen. Diese ›heldenhafte‹ Tat wird nicht nur von einer gaffenden Menge beobachtet, sondern auch per Handy-Kamera gefilmt und prompt ins Internet gestellt, wodurch der maskierte Kick-Ass binnen kürzester Zeit an Popularität gewinnt und zum neuesten Medienphänomen avanciert. 12 | Im Film arbeitet Katie als freiwillige Helferin bei einer Drogenberatungsstelle, wo sie mit Rasul in Kontakt kommt. Während ihrer gemeinsamen Beziehung wird sie nicht nur von Rasul bestohlen, sondern auch körperlich misshandelt.

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gliedern mühelos überwältigt, brutal zu Boden geworfen und mit einem Messer bedroht. Als für Kick-Ass alles verloren scheint, taucht plötzlich Hit-Girl aus dem Nichts auf und rettet ihm dank ihrer außergewöhnlichen kämpferischen Fertigkeiten das Leben. Im Gegensatz zu dem unbeholfenen, hilflosen und ängstlich wirkenden KickAss wird die Figur der Tod bringenden Hit-Girl in dieser Szene als ›wahre‹ Superheldin eingeführt. Sie ist es, die trotz ihres Alters und Geschlechts im Besitz der phallischen Waffe ist und damit ihre zahlreichen Gegner_innen demonstrativ penetriert.13 »During the devastation, the text focuses on her [Hit-Girl] and keeps her victims’ corpses in the background; everything within this sequence works towards showcasing Hit Girl’s extraordinary abilities« (Schumaker 2011, 140). Indem HitGirls Kampfszene mit einer Punk-Version des Titelliedes einer beliebten KinderFernsehsendung unterlegt wird, wird der hier präsentierte ironische Umgang mit traditionellen Gender-Rollen auf der auditiven Ebene des Films zusätzlich betont: »The aural companion to Hit Girl’s murderous rampage is a cover of the theme song to The Banana Splits Adventure, a 1969 child’s television program featuring actors in animal suits interacting with children, ›The Tra La la Song (One Banana, Two Banana)‹ by The Dickies, an American punk band. The song is remediated to fit the needs of a punk discourse to show how children can be active members of rebellion. The music has no diegetic source in reference to the characters, but serves to influence the ›gender punking‹ that occurs through Hit Girl’s unraveled intertextual code« (ebd., 141).

Neben Hit-Girls Brutalität ruft auch ihr äußerst vulgärer Sprachgebrauch in dieser Szene eine schockierende Wirkung hervor und unterläuft dabei gleichzeitig die gängige Vorstellung von einem süßen, unschuldigen elfjährigen Mädchen. Doch nicht nur die Vorstellung von klischeehafter ›Mädchenhaftigkeit‹ wird durch Hit-Girl in Frage gestellt.14 Die (u.a.) von Tarantinos Gogo Yubari (Chiaki Kuriyama)15 sowie Bessons Mathilda (Natalie Portman)16 inspirierte Figur (vgl. Roebuck 2010, o.S.)17 stellt ebenfalls eine Irritation sowie Revision der (stereotypen) 13 | Wie Eva von Redeker mit Bezug auf die Ausführungen von Judith Butler bemerkt, kann die Aneignung oder Inanspruchnahme des Phallus »und somit das Besetzen der symbolischen ›männlichen‹ Position« als eine »Art der Wiederholung in ›verkehrtem‹ Kontext, die subversive Rückwirkungen hat – nämlich die Enteignung eines unzulässigen Monopols« (von Redeker 2011, 82) verstanden werden. 14 | Wie bereits an anderer Stelle erwähnt wurde, stellt die Figur der äußerst brutalen, wild fluchenden zehn- bzw. elfjährigen Killerin Hit-Girl ebenfalls eine deutliche Abweichung der klassischen, passiven weiblichen Nebenfigur dar, die als Verkörperung der damsel in distress regelmäßig aus lebensbedrohlichen Situationen befreit werden muss. 15 | Die Figur der jungen, todbringenden Killerin Gogo Yubari tritt sowohl in Quentin Tarantinos K ill B ill : Vol . 1 (USA 2003) als auch in K ill B ill : Vol . 2 (USA 2004) auf. 16 | Bei der von Natalie Portman verkörperten Figur der Mathilda handelt es sich um ein zwölfjähriges Mädchen, welches sich in dem von Regisseur Luc Besson inszenierten Actionfilm L éon (F 1994) von einem Auftragsmörder zur Profikillerin ausbilden lässt. 17 | Mit ihrer lila Perücke erinnert Hit-Girl zudem an das Erscheinungsbild diverser Manga- und Animé-Figuren, die durch ihre lebhaft kolorierten Haare gekennzeichnet sind (vgl. Gateward 2002, 272).

Sina: »It’s time to be a hero«

Rolle des jugendlichen sidekicks dar. Wie Nathan G. Tipton am Beispiel der BatmanSerie darlegt, wird die Figur des jugendlichen sidekicks im golden age der amerikanischen Superheld_innen-Comics u.a. mit dem Ziel eingeführt, den Verkauf von Comicheften durch das gezielte Ansprechen jugendlicher Leser_innen zu fördern (vgl. Tipton 2008, 322f.). Darüber hinaus verdeutlichen Reinhold C. Reitberger und Wolfgang J. Fuchs, dass die Figur des klassischen sidekicks »auf einer alten Tradition der amerikanischen Subliteratur und Serienfiktion [basiert]. Schon im zarten Alter auf sich allein gestellt (beliebt sind Waisenknaben), unerschrocken, ehrlich, geschäftstüchtig, gewitzt, sauber und vor allem ›tough‹, so hat sich der 100 % rotblütige Junge als speziell amerikanischer Archetyp herausgebildet« (Fuchs/Reitberger 1971, 121f.).18

Davon abgesehen, dass die Figur des jugendlichen ›Handlangers‹ in der Regel eine männliche ist, bemerkt Uli Hahn in Bezug auf die Comicreihe, dass sich in KickAss scheinbar keine konsequente oder stabile Besetzung des klassischen sidekicks ausmachen lässt: »[T]here is a permanent fluctuation as to who can be called whose sidekick or whether the hero-figures have to fight on their own. Even when Kick-Ass teams up with Red Mist later on in the plot, it is not a superhero team-up as it can be found in the comic book classics of the 1940s or in the Justice League of America which first appeared in 1960 […]. With regard to Hit-Girl the sidekick aspect gains more relevance, as she might be the sidekick to her father. Only when looking closer it becomes evident that actually her father might be the sidekick to her […]. Nobody would doubt Hit-Girl to be the sidekick of Big Daddy, when looking at body size and overall appearance. But Hit-Girl is the one who actually does the dirty work. It is essential for the deconstruction of the traditional gender roles that those questions arise in the text. A child of merely ten years is an uncommon character for violent representations« (Hahn 2012, 6f.).

Dass es sich bei Hit-Girl alias Mindy Macready um eine ›ungewöhnliche‹ Figur handelt, welche – sowohl im Comic als auch im Film – etablierte Gender- und Genremuster ins Wanken bringt, wird ebenfalls deutlich, wenn Mindy und Damon Macready im Rahmen einer bizarr anmutenden ›Trainingseinheit‹ in die filmische Narration eingeführt werden. Auf einem verlassenen Industriegelände schießt Damon Macready aus nächster Nähe mit einer großkalibrigen Pistole auf seine mit einer kugelsicheren Weste ausgestattete Tochter. Diese Übung soll Mindy dabei helfen, ihre Angst vor einem Treffer zu überwinden und die Wucht eines Kugelaufpralls besser einschätzen zu können. Neben der Tatsache, dass hier ein erwachsener Mann auf ein kleines, unschuldig wirkendes Mädchen schießt, wird die befremdliche Wirkung dieser Szene dadurch bestärkt, dass Vater und Tochter in einem höchst liebevollen Ton miteinander sprechen. Während Mindy ihren Vater darauf hinweist, dass sie Angst davor hat, von ihm angeschossen zu werden (»Daddy, I’m scared«), fordert dieser sie auf, 18 | Weiterhin heißt es bei Fuchs und Reitberger: »Solche Jungens, das Salz und die Hoffnung Amerikas, wurden natürlich auch sofort zu Comic-Helden verarbeitet, da sie für die jugendlichen Leser noch geeignetere Identifikationsgestalten darstellen als die erwachsenen Helden« (Fuchs/Reitberger 1971, 122).

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sich wie ein ›großes Mädchen‹ zu verhalten (»honey, be a big girl now«), da es nichts gäbe, wovor sie sich fürchten müsse. Aber nicht nur der liebevolle Umgangston zwischen Vater und Tochter, auch die sanfte, klassische Musik, mit der die Szene unterlegt wird, sowie Mindys mädchenhafte pinke Kleidung stehen in einem direkten Kontrast zu der Brutalität dieser Szene und tragen so zu der Schaffung einer befremdlichen Atmosphäre bei. Nachdem Mindy mit Hilfe ihrer kugelsicheren Weste den Schuss aus der Pistole ihres Vaters sicher aufgefangen hat, geht die (verbale) Ironisierung dieser ›sentimentalen Familienszene‹ sogar noch einen Schritt weiter: Im Rahmen eines von Justin S. Schumaker als »typical father-daughter bartering« (Schumaker 2011, 136) bezeichneten Szenarios besteht Damon darauf, Mindy noch zwei weitere Male niederzuschießen. Mindy lässt sich widerwillig darauf ein, besteht ihrerseits aber darauf, als Belohnung für ihre Gehorsamkeit im Anschluss an das ›Training‹ von ihrem Vater zum Eisessen ins Bowlingcenter ausgeführt zu werden. Dort fragt Damon seine Tochter, was diese sich wohl zu ihrem anstehenden Geburtstag wünsche. Mindy erlaubt sich einen Streich mit ihrem Vater und erzählt ihm, sie würde sich ein Hundebaby sowie eine Makeup- und Frisierpuppe wünschen. Anstatt sich über die ›alltäglichen‹ Geburtstagswünsche seiner Tochter zu freuen, ist Damon von Mindys Mädchenhaftigkeit sichtlich geschockt. Diese erweist sich jedoch nur wenige Augenblicke später als ›gespielt‹, da Mindy zugibt, ihren Vater an der Nase herumgeführt zu haben und sie ihm gesteht, dass sie sich in Wahrheit eine tödliche Waffe (ein Butterfly-Klappmesser) zum Geburtstag wünsche.19 Abbildung 1: Filmische Remedialisierung eines Ego Shooter-Videospiels

Quelle: Filmstill aus K ick-A ss . Blu-Ray Disc. Universal Pictures Home Entertainment 2010.

19 | Die (vermeintliche) Ironisierung bzw. Pervertierung der Institution Familie wird im Rahmen der filmischen Inszenierung ebenfalls durch die Tatsache unterstrichen, dass das Appartement von Mindy und Damon eher einer Waffenkammer als einem beschaulichen Heim gleicht.

Sina: »It’s time to be a hero«

Genau wie ihr Comicpendant scheint also auch die filmische Version der Hit-Girl (sowie die unkonventionelle Beziehung zu ihrem Vater) ganz im Sinne von Judith Butlers Konzept der Gender-Parodie zunächst für eine Verwirrung der Geschlechter zu sorgen und bestehende, als ›natürlich‹ geltende Gender-Diskurse in ironischer, verfehlter Form (wieder-)aufzuführen und subversiv zu unterlaufen. So auch in der Szene, in der Kick-Ass und Big Daddy von dem Mafiaboss Frank D’Amico und dessen Sohn Chris alias Red Mist 20 gefangen genommen und live im Internet exekutiert werden sollen. In dieser hypermedialen Szene werden die Zuschauer_innen mit Hilfe der filmischen Remedialisierung eines – als stereotypisch männlich konnotierten (vgl. ebd., 141f.) – Ego Shooter-Videospiels21 in die subjektive first-person-Perspektive von Hit-Girl versetzt (s. Abb. 1). Mit den ›Augen von Hit-Girl sehend‹, wird das Publikum Zeuge ihres Rachefeldzuges gegen die Peiniger ihres geliebten Vaters und des neu gewonnenen Superhelden-Kollegen Kick-Ass. Aber nicht nur das Videospiel wird in dieser Szene imitiert bzw. neu aufgeführt, sondern auch das Medium Comic. Abbildung 2: Beispielhafter Einsatz extradiegetischen Comicmaterials in Kick-Ass

Quelle: Filmstill aus K ick-A ss . Blu-Ray Disc. Universal Pictures Home Entertainment 2010. 20 | Nachdem Kick-Ass, Hit-Girl und Big Daddy die kriminellen Geschäfte von Frank D’Amico wiederholt gestört haben, beschließt dieser, seinen Rivalen den Garaus zu machen. Um seinem Vater bei diesem Vorhaben zu helfen, kreiert Chris die Figur des vermeintlichen Superhelden Red Mist. In dieser Rolle verkleidet gelingt es Chris nicht nur, den Kontakt zu Kick-Ass herzustellen, sondern auch die Widersacher seines Vaters in eine verhängnisvolle Falle zu locken. 21 | Anhand der »Form der visuellen Wahrnehmung des Geschehens« lassen sich ShooterVideospiele »in zwei Subgenres unterteilen: in First-Person Shooter und Third-Person Shooter« (Klein 2013, 356). Im Falle eines First-Person Shooters ›verschmilzt‹ der Spieler bzw. die Spielerin »mit dem unsichtbar bleibendem Avatar. Zu sehen sind nur die Hände oder Arme, die die jeweilige Waffe tragen. In der Third-Person-Perspektive bewegt der Spieler [bzw. die Spielerin] einen meist aus schräger Aufsicht vollständig sichtbaren Avatar durch die Spielwelt« (ebd., 357).

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Während die filmische Remedialisierung des grafischen Mediums in Kick-Ass vor allem als Strategie der Unmittelbarkeit bzw. Authentifizierung eingesetzt wird, welche die Homogenität der filmischen Diegese nicht etwa in Gefahr bringt, sondern vielmehr durch die wiederholte Präsentation extradiegetischen Comicmaterials (vgl. Scholz 2010, o.S.) sowie durch die gezielte Verwendung ›comicspezifischer‹ Gestaltungsmittel und Verweise (s. Abb. 2) – wie z.B. dem Einblenden vereinzelter Textboxen oder die Integration verschiedener, von John Romita Jr. angefertigter Comiczeichnungen22 – unterstützt,23 werden die Zuschauer_innen des Comicfilms in dieser hypermedialen Szene durch den Einsatz einer auf wechselnden HellDunkel-Phasen basierenden stroboskopischen Beleuchtung sowie einer extremen slow motion mit der demonstrativen Verlangsamung bzw. Unterbrechung des filmischen Bildflusses in sequenzielle Bewegungsphasen konfrontiert. Dabei verweisen sowohl der Aspekt der Verlangsamung als auch die durch den Stroboskopeffekt eingefügten Schwarz-Bilder auf den für eine Comicverfilmung essenziellen Transfer vom starren grafischen Comicbild zum bewegten technischen Filmbild bzw. auf den durch die Panelstruktur fragmentierten Raum des Comics.

22 | Zudem lassen sich in K ick-A ss wiederholt Bildübergänge beobachten, welche die Nähe zwischen Comic und Film betonen. Ähnlich wie in Sam Raimis S pider -M an 2 (USA 2004) oder Ang Lees H ulk (USA 2003) erfolgen auch hier beispielsweise Schauplatz-Wechsel »durch die horizontale Verschiebung des Bildes, als würde der Blick von einem Panel zum nächsten schweifen« (Rauscher 2006, 567). 23 | In Bezug auf den Einsatz (inter-)medialer Verweise als Strategie der Authentifizierung in Superheld_innen-Comics und deren Verfilmungen bemerkt Alain Boillat: »Notons enfin qu’il existe, dans des réalisations qui ressortissent à la production dite ›de masse‹, un type de citation filmique véritable […] qui, bien que constituant une greffe dans la bande dessinée, ne met pas en péril l’homogénéité de la diégèse bédéique. On rencontre par exemple ce cas de figure dans les comics de superhéros, dont leurs auteurs, loin de craindre la réflexivité, en usent pour fidéliser leur lectorat en exhibant la complicité qu’ils instaurent avec leur fanship. C’est pourquoi il arrive que des histoires commercialisées sur différents supports (comic books, TV, radio, cinéma etc.) opèrent une référence intermédiale à l’intérieur même d’un ensemble discursif entièrement dévolu au même univers diégétique (Boillat 2009, 59; Herv. im Org.). Übersetzung der Verfasserin: »Halten wir abschließend fest, dass in Werken, die aus der so genannten ›Massenproduktion‹ hervorgehen, eine Art der ›veritablen‹ filmischen Zitation existiert, welche, obgleich sie eine Übertragung in den Comic [bande dessinée] darstellt, die Homogenität der Comicdiegese nicht gefährdet. Man begegnet beispielsweise dieser Art von Zitationen in Superhelden-Comics, deren Autoren, weit davon entfernt das Prinzip der Selbstreflexivität zu fürchten, sich ihrer bedienen, um das Publikum an sich zu binden, indem sie eine Mitwisserschaft vorführen, die sich in ihrem eigenen fanship begründet. Daher kommt es vor, dass auf verschiedenen Medienplattformen (comic books, Fernsehen, Radio, Kino etc.) vermarktete Geschichten eine intermediale Referenz betreiben − innerhalb eines diskursiven Ensembles, welches vollständig dem selben diegetischen Universum zuarbeitet«.

Sina: »It’s time to be a hero«

Abbildung 3: Hit-Girls und Big Daddys origin story

Quelle: Filmstill aus K ick-A ss . Blu-Ray Disc. Universal Pictures Home Entertainment 2010.

Indem diese Momente der stilisierten Hypermedialität direkt mit Hit-Girl in Verbindung gebracht werden, wird die von ihr repräsentierte innovative Figur der toughen elfjährigen Superheldin als (re-)medialisierte ›unechte‹ Konstruktion entlarvt. Die als special effect ausgestellte hypermediale Imitation von Comic und Videospiel24 führt zudem zu einer Beglaubigung der filmischen Realitäts- bzw. Illusionsinstanz bei gleichzeitiger Denaturalisierung alternativer bzw. konkurrierender medialer Repräsentationsmodelle.25 Anders ausgedrückt werden hier – im Unterschied zu einer primär auf Unmittelbarkeit und ›Realitätsnähe‹ setzenden filmischen Ästhetik – unterschiedliche Prozesse der Remedialisierung nicht einfach negiert, sondern vielmehr gezielt ausgestellt und damit in »eine absichtsvolle, ästhetische Inszenierung überführt« (Seier 2007, 112). Ein ähnliches Phänomen ist in der Szene zu beobachten, in der die Hintergrundgeschichte von Hit-Girl und Big Daddy in Form einer 3D-animierten Comicsequenz in die filmische Handlung eingefügt wird und diese dabei gleichzeitig unterbricht (s. Abb. 3). Auch hier ist es wieder Mindy (alias Hit-Girl) bzw. die Beziehung zu ihrem Vater Damon sowie das Medium Comic, welche explizit mit der Remedialisierungsstrategie der Hypermedialität und der damit einhergehenden Ausstellung des Mediums als Medium in Verbindung gebracht werden. Diese zur Schau gestellte Medialität macht es den Zuschauer_innen nahezu unmöglich zu vergessen, dass es sich bei den hier gezeigten Bildern und repräsentierten Figuren um (re-)medialisierte Kunstprodukte handelt. 24 | Wie Andreas Rauscher bemerkt, »führt im [Medium] Film die Beibehaltung der First-Person-Perspektive schnell zum unfreiwilligen Illusionsbruch« (Rauscher 2009, 376). 25 | Wie Ulrike Bergermann in Bezug auf die Trickeffekte der Alien-Filmreihe und Autor_innen der »frühen Genrekritik« (Bergermann 2002, 160) ausführt, beruhen »[a]ltmodische Realitätsmodelle […] auf dem Stroboskopischen, und dessen Tricks erscheinen im Zeitalter digitaler Bilder plötzlich echt. Science Fiction stelle einen Effekt als special aus, um die vorigen Techniken zu naturalisieren und damit als Realitätsinstanz zu beglaubigen« (ebd.).

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Aber nicht nur die hypermediale Dekonstruktion der als ›künstlich‹ markierten Superheldin trägt zu der Unterminierung der innovativen Hit-Girl-Figur bei. Das Scheitern der (subversiven) Gender-Parodie wird in Kick-Ass ebenfalls durch die Tatsache verdeutlicht, dass es sich trotz ihres toughen Auftretens und ihrer außergewöhnlichen Fertigkeiten bei Mindy (alias Hit-Girl) stets um das ›kleine Mädchen‹ ihres Vaters handelt. So kann Hit-Girl beispielsweise aufgrund ihrer origin story einer langen Reihe von fremdbestimmten Töchtern zugeordnet werden, die ihre kämpferischen Fähigkeiten durch das Training und die Führung einer patriarchalen Figur erlangen:26 »A consistent theme in stories about the female super, or action, hero is that she is reared or mentored by a man rather than a woman. Some of the strongest, most complex, and independent superwomen in modern mythology are raised by a single father, while their mother is almost always physically absent, and at least emotionally unavailable – addicted, mentally ill, or outright clueless« (Stuller 2010, 105).

In diesem Zusammenhang verwundert es auch nicht, dass Big Daddy – trotz seines desolaten Zustands – in der weiter oben beschriebenen Ego Shooter-Szene seiner Tochter (in Anlehnung an die Team-Kommunikation von Multiplayer-Videospielen) verschiedene Anweisungen zuruft, die dazu führen, dass Hit-Girl ihre zahlreichen Gegner besonders effektiv erledigen kann. Hierbei kann das Zurufen von Anweisungen als eine Art der ›Fremdsteuerung‹ verstanden werden, die sich auch in Hit-Girls hypermedialer Darstellung als ›gesteuerte‹ Ego Shooter-Figur wiederfinden lässt.27 Trotz ihrer vermeintlichen Unabhängigkeit und Stärke erfüllt die Figur der elfjährigen Hit-Girl im Rahmen der filmischen Inszenierung also durchaus die (stereotype) Rolle einer liebenden, gehorsamen Tochter, welche von ihrem Vater angeleitet und beschützt werden muss.28 26 | Trotz einiger ironisierender Momente stellt die patriarchale, von Hollywoodstar Nicolas Cage verkörperte Figur des Big Daddy eine heroische Figur dar: Während es sich bei der Comicversion von Big Daddy um einen ›schlichten‹ Buchhalter und Comicsammler handelt, welcher seine Tochter glauben lässt, ihre Mutter sei von der Mafia getötet worden, wird die Filmversion des Vigilanten für das Kinopublikum mit einem heroischen Hintergrund ausgestattet. Aus der ›Verliererfigur‹ Big Daddy wird im Rahmen des filmischen Produktionsprozesses der ehemalige Polizist Damon Macready, welcher seine Tochter Mindy zu einer todbringenden Killerin ausbildet, damit er gemeinsam mit ihr den Tod seiner Frau rächen kann. Den heroischen sowie autoritären Aspekt der Figur unterstreichend, ist Big Daddy im Film in ein dunkles Superhelden-Kostüm mit gelbem Gürtel gehüllt, welches – laut M aking O f des Films – genauso eine allgemeine Hommage an verschiedene Hollywood-Superhelden-Kostüme (vgl. A N ew K ind of S uperhero: The M aking O f K ick-A ss , 2010) wie einen speziellen Verweis auf den Kampfanzug des berühmten ›dunklen Rächers‹ Batman darstellt. 27 | Dass es sich bei der Darstellung von Hit-Girl in dieser hypermedialen Szene um eine ›fremdgesteuerte‹ Figur handelt, wird auch anhand ihrer steifen Bewegungsabläufe deutlich. Einer digital generierten Avatar-Figur gleich, zeichnen sich Hit-Girls Bewegungen (welche die Zuschauer_innen im Rahmen der hier präsentierten first-person-Perspektive zu sehen bekommen) durch einen deutlichen Mangel an Fluidität aus. 28 | Bereits zu Beginn des Comicfilms wird Hit-Girl von ihrem Vater beschützt: Nachdem sie im Rahmen ihres ersten Auftritts Kick-Ass vor Rasul und dessen Drogenringmitgliedern

Sina: »It’s time to be a hero«

Auch wenn die Beziehung zwischen Hit-Girl und Big Daddy eine Reihe ironisierender sowie verstörender Momente aufweist und es sich bei der hier präsentierten unkonventionellen Familie eindeutig um ein pervertiertes (Familien-)Modell handelt, bleibt das Ideal bzw. der Bezugsrahmen einer traditionellen, funktionierenden Kernfamilie und der mit ihr verbundenen (hetero-)normativen Wertvorstellungen stets bestehen. So wird Big Daddy bzw. Damon Macready erst durch den Verlust seiner Ehefrau, respektive der Zerstörung seiner funktionierenden Familie, zu der Ergreifung ›außergewöhnlicher‹ Erziehungsmethoden getrieben. Darüber hinaus wird Damon – genau wie die Zuschauer_innen – im Verlauf der filmischen Inszenierung von dem Polizisten Marcus Williams (Omari Hardwick) mahnend daran erinnert, dass er seiner Tochter Mindy eine ›normale‹ Kindheit schuldet, da ihr diese aufgrund ihres (Familien-)Lebens als kostümierte Vigilantin bisher versagt geblieben ist. Bezeichnenderweise erhält Mindy die Chance auf ein solches ›normales‹ (Familien-)Leben auch erst nach dem Tod ihres geliebten Vaters.29 Anders ausgedrückt muss Big Daddy sein unkonventionelles Leben opfern, damit Hit-Girl wieder zu einem ›normalen‹ Mädchen werden kann. In Big Daddys hypermedialer Sterbeszene geht diese Normalisierung (von Hit-Girl) Hand in Hand mit einem gewissen Grad der Sentimentalisierung: Kurz bevor Big Daddy den Folgen seiner brutalen Folterung erliegt, ist es ihm noch möglich, seiner Tochter in einem höchst emotionalen Moment zu sagen, dass er sehr stolz auf sie sei (»I’m so proud of you, baby doll«) und sie liebe, woraufhin ihm eine zu Tränen gerührte Hit-Girl entgegnet, dass er der netteste Vater der Welt sei (»you’re the kindest Daddy in the world«) und dass auch sie ihn liebe. Trotz ihres hypermedialen Charakters wird in dieser sentimentalen Szene eine Form der filmischen Nähe bzw. Unmittelbarkeit generiert, welche auf der Präsentation vermeintlich ›echter‹ und damit als ›authentisch‹ geltender emotionaler Momente basiert.30 Das Ineinandergreifen von immediacy und hypermediacy lässt sich auch in der filmischen Repräsentation von Dave alias Kick-Ass beobachten, da hier der Effekt der ›Normalität‹ und Unmittelbarkeit – also der vermeintlich unvermittelten Realität – gerade durch den Einsatz von Hypermedialität erzielt wird. So spielen neben dem Medium Comic bzw. dem Phänomen Comicverfilmung auch (digitale) Medien, wie z.B. Feature Phones, digitale Videotechnik und Internetplattformen (wie Myspace und YouTube), eine zentrale Rolle für die Darstellung von Kick-Ass, da die-

gerettet hat, übersieht sie einen Angreifer, der sich hinterrücks an sie heranschleicht. Die tödliche Gefahr wird schließlich von Big Daddy gebannt, welcher seine Tochter vom Dach eines gegenüberliegenden Gebäudes durch ein Zielfernrohr beobachtet und den Angreifer mit einem gezielten Schuss zur Strecke bringt. 29 | Big Daddy wird zunächst gefoltert und dann von seinen Widersachern in Brand gesetzt, was schließlich zum Tod führt. 30 | Mit Bezug auf das von Richard Grusin und Jay David Bolter beschriebene Bedingungsverhältnis von Unmittelbarkeit und Hypermedialität verdeutlicht Andrea Seier, dass sowohl Unmittelbarkeit als auch Hypermedialität »in unterschiedlichen Medien und ihren jeweiligen Bedingungen immer wieder neu definiert« (Seier 2007, 85) werden. »Unmittelbarkeit bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht nur auf den Fensterstil (›looking through‹), sondern auch auf die Erzeugung ›authentischer‹ emotionaler Momente, mit denen die ZuschauerInnen an das Medium gebunden werden« (ebd.).

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ser allein aufgrund seiner Internetpräsenz zum ›Superhelden‹ avanciert,31 was ihn wiederum zu einem »true Peter Parker for the social networking age« (Oliver 2011, 894) werden lässt. Darüber hinaus tragen auch die zahlreichen popkulturellen Bezugnahmen und inter- bzw. intramedialen (Comic-)Verweise zu einer Authentifizierung der ›realen‹ Superhelden-Figur Kick-Ass bei, da in diesen Momenten eine ›Verschweißung‹ der filmischen sowie außerfilmischen Welt über das Aufrufen einer Popkultur stattfindet, die gleichzeitig von den diegetischen Figuren und den Zuschauer_innen geteilt wird (vgl. Seier 2007, 124).32 In diesem Sinne handelt es sich also sowohl bei Hit-Girl als auch bei Kick-Ass um remedialisierte Figuren. Während Hit-Girl und die mit ihr verbundene (potenziell) subversive Inszenierung von Gender mit Hilfe der Remedialisierungsstrategie der Hypermedialität im Verlauf des Films als fiktives bzw. ›unechtes‹ Konstrukt entlarvt wird, ist im Falle von Kick-Ass eine Normalisierung der ›echten‹ männlichen Superhelden-Figur zu beobachten. Der Begriff der Normalisierung ist hier in Anlehnung an Butlers Konzept der Heteronormativität bzw. der Zwangsheterosexualität zu verstehen. Das heißt genau wie im Comic wird auch im Rahmen der filmischen Inszenierung »Heterosexualität […] als das Normale, das Richtige, das Natürliche« proklamiert, während »[a]ndere sexuelle Orientierungen […] demgegenüber als abweichend, unnatürlich, anormal bewertet und/oder unsichtbar gemacht« (Villa 2003, 160) werden. Dementsprechend wird Dave alias Kick-Ass im Verlauf des Comicfilms als ganz ›normaler‹ Teenager charakterisiert, der in einer ganz ›normalen‹ – oder besser gesagt in einer unmittelbaren Welt – in die Rolle eines ganz ›normalen‹ Superhelden schlüpfen möchte. Um diese Rolle vollends erfüllen zu können, muss Kick-Ass nicht nur verantwortungsvolles Handeln lernen, sondern auch non-konforme Aspekte seiner männlichen Identität verwerfen und sich dem patriarchalen Wertesystem unterordnen. Im Gegensatz zum Comic zeichnet sich diese »Ökonomie der Verwerfung« (Butler 1997, 160) und Unterordnung im Film sowohl durch das Einführen einer für das Hollywood-Kino als normativ geltenden heterosexuellen Liebesgeschichte33 als auch durch die (Re-)Installation familiärer Strukturen aus. Denn wie Sabine Hark treffend formuliert, stellt das »heterosexuelle Paar […] die ultimative Rationale menschlicher Beziehungen [dar], die unteilbare Basis jeglicher Gemeinschaft, die scheinbar unhintergehbare Bedingung der Reproduktion, ohne die, so das kulturelle Selbstverständnis, es überhaupt keine Gesellschaft gäbe« (Hark 2005, 294).

31 | Die Tatsache, dass Kick-Ass mit Hilfe digitaler Medien bzw. aufgrund seiner Internetpräsenz zum Superhelden avanciert, kann natürlich auch als (ironischer) Verweis auf das Medienphänomen Paris Hilton verstanden werden, deren Ruhm und Popularität nicht primär einem besonderen Talent oder speziellen Fähigkeiten, sondern vielmehr ihrem (vererbten) Wohlstand sowie ihrer medialen Inszenierung geschuldet sind (vgl. Fahy 2008, 75f.). 32 | In ihren Ausführungen beschreibt Andrea Seier die ›Verschweißung‹ der filmischen und außerfilmischen Welt über popkulturelle Verweise anhand von Quentin Tarantinos Jackie B rown (USA 1997). Dabei verdeutlicht sie, dass in Jackie B rown die (hyper-)mediale Authentifizierung des Gezeigten (bzw. Erzählten) u.a. durch »das Reden über Musik« (Seier 2007, 124), also durch die Einbettung verschiedener musikalischer Verweise erfolgt. 33 | Siehe hierzu auch Sina 2016, Kapitel 3.1, S. 91.

Sina: »It’s time to be a hero«

Abbildung 4: Fanart-Poster zu Kick-Ass

Quelle: . Letzter Zugriff: 26.06.2014.

Im Rahmen der filmischen narrativen Auflösung gelingt es Dave alias Kick-Ass schließlich, seine große Liebe Katie für sich zu gewinnen – und damit seine heterosexuelle Männlichkeit zu bestätigen.34 Eine Bestätigung, welche – völlig untypisch für das Genre der Superheld_innen – durch zwei explizite Liebesszenen zwischen Dave und Katie, also durch den (wiederholten) erfolgreichen Vollzug des heterosexuellen Geschlechts- bzw. Reproduktionsaktes, zelebriert wird.35 Gemäß des auf einem fanart-Poster (s. Abb. 4) proklamierten Mottos »it’s time to be a hero« (vgl. http://andaal.deviantart.com/art/Kick-Ass-Movie-Poster-Fan-Art-302786590) gelingt es Dave zudem dank seiner neu gewonnenen Potenz und (heterosexuellen) Mannhaftigkeit im weiteren Verlauf der filmischen Inszenierung, die phallische Waffe an sich zu reißen und damit endgültig die Rolle des passiven, inkompetenten Opfers abzulegen (s. Abb. 5). 34 | Wie Tim Carrigan, Bob Connell und John Lee betonen, stellt Heterosexualität das wichtigste Kriterium hegemonialer Männlichkeit dar (vgl. Carrigan/Connell/Lee 2002, 113). 35 | Der Aspekt der (hetero-)sexuellen Reproduktion wird ebenfalls aufgegriffen, wenn Dave alias Kick-Ass kurz vor seiner drohenden Exekution in einem an die Zuschauer_innen des Films gerichteten voice over-Kommentar bemerkt, dass er es bereut, nicht mehr miterleben zu können, wie Katies und seine (potenziellen) Kinder wohl aussehen werden.

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Abbildung 5: Kick-Ass reißt die phallische Waffe an sich

Quelle: Filmstill aus K ick-A ss . Blu-Ray Disc. Universal Pictures Home Entertainment 2010.

Während Kick-Ass im Rahmen eines fulminanten showdowns die Rolle des aktiven, heroischen Retters übernimmt, wird die Figur der toughen Hit-Girl weiter unterminiert.36 Obwohl sie nur einige Minuten zuvor in der Lage war, sämtliche Anhänger des Mafiabosses im Alleingang auszuschalten, findet sie in Frank D’Amico – und der von ihm verkörperten patriarchalen Macht37 – einen überlegenen Gegner. Am Ende ist sie es also, die – ganz im Gegensatz zum Comic – von Kick-Ass gerettet werden muss. Mit den (von Kick-Ass an Hit-Girl gerichteten) Worten »time to go home« wird dabei sowohl der stereotype Rollenwechsel von aktiver männlicher und passiver weiblicher Figur unterstrichen als auch Hit-Girls Rückkehr in eine ›normale‹ Kindheit – sprich in eine glückliche, funktionierende familiäre Struktur impliziert. So legt Hit-Girl – vor der Kulisse einer untergehenden Sonne stehend – am Ende des Films nicht nur demonstrativ ihre Heldinnenmaske ab. Im Rahmen der narrativen Auflösung nimmt sie vielmehr ihre vermeintlich ›wahre‹ Identität als Mindy Macready an. Infolgedessen wird die verwaiste (Ex-)Superheldin von Marcus, einem Polizisten und besten Freund ihres Vaters, aufgenommen, womit sie schlussendlich die Möglichkeit erhält, das ihr bis dato verwehrte Leben eines ›ganz normalen‹ elfjährigen Mädchens zu führen. Auch wenn in Kick-Ass durchaus eine phasenhafte Verwirrung der Geschlechter zu beobachten ist, geht mit der hier präsentierten – auf Unmittelbarkeit und ›Realitätsnähe‹ setzenden – filmischen Remedialisierung des Superheld_innenGenres jedoch keine konsequente Irritation oder Subvertierung etablierter Gender- oder Genremuster einher. Genau wie die gleichnamige Comicreihe scheitert 36 | Obwohl sich die ausführenden Akteur_innen innerhalb des Films in einem ständigen Wandel befinden, ist stets eine stereotype Dichotomie von aktiven und passiven GenderRollen zu beobachten. 37 | Als Kopf einer verbrecherischen Mafia-Organisation sowie als Oberhaupt einer ›funktionierenden‹ Kernfamilie stellt Frank D’Amico im Film den Inbegriff patriarchaler Macht und heteronormativer Strukturen dar.

Sina: »It’s time to be a hero«

auch im Comicfilm die Veruneindeutigung bzw. Parodie der Geschlechter an der (Re-)Etablierung sowie Naturalisierung heteronormativer Gender-Vorstellungen. Genauer gesagt ist im Falle von Kick-Ass die »normierende Macht« (Klähr 2011, 52) des konservativen Hollywood-Mainstream-Kinos zu beobachten. So bemerkt auch Jana Herwig, dass gerade »im Mainstreamfilm d.h. in kulturellen Artefakten, die auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens ausgelegt sind […] Identifikationspotentiale besonders stark an den ›normalen‹, nicht abweichenden codierten Genderkonfigurationen orientiert« (Herwig 2010, 62) sind. Dementsprechend werden auch in dem an Hollywood-Konventionen orientierten und auf ein breites Mainstream-Publikum abzielenden Comicfilm Kick-Ass norm-abweichende Gender-Konstellationen verworfen, während dominante, hegemoniale Geschlechterstrukturen aufrechterhalten und als ›unhinterfragbares‹ Ideal konstituiert werden.

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DVDs und Bonusmaterial A New Kind of Superhero: The Making Of Kick-Ass. In: Kick-Ass. Blu-Ray Disc. Universal Pictures Home Entertainment 2010.

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VI.3 Medialität

Der Mythos vom Mythos von Superman* Ole Frahm 1

Abbildung 1. »Ich bin ein sehr materieller Mythos.« Siegel/Shuster 1998, S. 16. © DC Comics Inc.

Wer ist Superman? Jeder kennt die Antwort: Natürlich ist Superman Clark Kent, der berühmte Reporter des Daily Planet, bekannter noch als Mann aus Stahl, an dem Kugeln ebenso abprallen wie Wirbelstürme oder Wirtschaftskrisen (er ist *  Frahm, Ole: »Wer ist Superman? Mythos und Materialität einer populären Figur.« In: Stefanie Diekmann und Matthias Schneider (Hg.): Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit. Berlin: SuKuLTuR 2005. S. 34-49. In diesem Reader unter dem Titel »Der Mythos vom Mythos von Superman«.

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selbst dann noch aus Stahl, wenn er als Blechfigur seinen Weg in die Kinderzimmer gefunden hat); natürlich ist er der erste in einer langen Reihe von maskierten Superhelden, die in Strumpfhosen die Welt vor Nazis und anderen Übeln retteten, wobei Superman zur Maskierung schon das Absetzen der Brille genügt. Und natürlich war es Superman, der, als er seine Muskeln in den Dienst der Unterdrückten stellte, die Comic-book-Industrie in den Vereinigten Staaten in Schwung gebracht hat. Jeder erkennt Superman sofort, wenn er am Himmel vorüberfliegt: Weder Vogel noch Flugzeug, ist er ganz einfach Superman. Jenseits solch offensichtlicher Antworten auf eine triviale Frage hält die Kulturtheorie eine kompliziertere bereit: Als Produkt der Kulturindustrie sei Superman ein Mythos. So betitelte Umberto Eco seinen epochalen Essay aus dem Jahr 1962: Der Mythos von Superman.1 Zusammengefasst behauptet der Semiotiker darin, dass es eben dieser Mythos sei, der es jedem, insbesondere aber dem »durchschnittlichen Leser«, erlaube, sich mit dem Superhelden in seiner doppelten Existenz als Clark Kent und Superman zu identifizieren. Die Tatsache der Doppelidentität ermögliche es, dass die Leser selbst glauben können, »von einem Biedermann zu einem Weltbeweger« zu werden.2 So wie Clark Kent nur seinen blauen Angestelltenanzug abstreifen muss, um Superman zu werden, müssen sich die Leserinnen also nur das Superman-Heft vor die Nase klemmen, um für die Dauer der Lektüre und vielleicht darüber hinaus zu glauben, in Wirklichkeit ein großer und von allen bewunderter Held zu sein. Eco lässt keinen Zweifel daran, dass diese mögliche Projektion ein starkes und wirksames ideologisches Modell darstellt, von dem die Leser unbewusst beeinflusst werden. Es sei dieser unbewusste Einfluss, der Superman zum Mythos mache. Die Theorie der Massenkultur, wie sie sich in den sechziger Jahren entfaltet, kommt ohne diese ideologiekritische Annahme einer spezifischen Beeinflussung der Konsumenten durch die Medien nicht aus. Sie lässt

1 | Umberto Ecos Essay »Der Mythos von Superman« (in Eco 1986, S. 187-222; ital. Original: Eco 1962) ist bis heute einflussreich, wenn die Frage des Mythos auch jeweils anders akzentuiert wird. Ian Gordon hebt den Zusammenhang zwischen Warenförmigkeit und Mythos hervor (Gordon 2001, S. 177-191, bes. 182ff.). Ian Gordon hat seine Lektüre in seinem Buch Superman. The Persistence of an American Icon (London 2017), S. 15-40, präzisiert; er historisiert Ecos Mythos-Begriff als Reflexion der Superman-Comics der 1950er. Richard Reynolds (1992, S. 12ff. und S. 53ff.) entwickelt einen deskriptiven Begriff der Superhelden-Mythologie anhand von sieben Kriterien, indem er zuerst auf die erste Superman-Geschichte und dann auf Adaptionen mythologischer Figuren wie Thor eingeht. 2 | Eco 1986, S. 194. Dagmar von Dœtinchem und Klaus Hartung erweitern in ihrem in vieler Hinsicht bemerkenswerten Essay Zum Thema Gewalt in Superhelden-Comics Ecos Annahme: »Die Ambivalenz der Superman-Imago hat seinen Grund in den Widersprüchen der bürgerlichen Existenz« (von Dœtinchem/Hartung 1974, S 174). Ihre im deutschen Sprachraum bis heute kaum wieder erreichte Durchdringung von Superhelden-Comics weist nach, wie der Mythos von Superman der Mythos kapitalistischer Vergesellschaftung ist. Diese Kritik richtet sich entsprechend nicht gegen die Comics, sondern gegen die Gesellschaft. Allerdings reduzieren sie die Lektüre von Superhelden-Comics auf eine Sache von Kindern, was zumindest für die hier behandelte Periode der frühen vierziger Jahre nicht zu halten ist, wo Superman nicht zuletzt im Radio und in der Zeitung von Erwachsenen wahrgenommen wurde (vgl. Daniels 1998, S. 52).

Frahm: Der Mythos vom Mythos von Superman

sich bis heute besonders dann wahrnehmen, wenn das Verhältnis von Medien und Gewalt – etwa anlässlich eines Amoklaufs – diskutiert wird.

M y then der I deologiekrit ik Martin Barker hat 1989 in seiner weitreichenden Untersuchung über Comic-Hefte für Mädchen Comics. Ideology, Power and the Critics die theoretischen Konzepte der »Identifikation« und des »Einflusses« als die beiden grundlegenden Annahmen eines Großteils ideologiekritischer Literatur identifiziert und infrage gestellt.3 Diese implizite Kritik an Ecos Konzept möchte ich im Folgenden nicht theoretisch, sondern anhand der materiellen Differenz diskutieren, die aus Supermans Auftreten in verschiedenen Medien resultiert. Vielleicht kann als dritte Annahme der Ideologiekritik gelten, dass die Materialität des Erscheinens eines Mythos wie Superman für seine ideologische Wirksamkeit keine Rolle spiele. Aus ideologiekritischer Perspektive ist es dasselbe, ob Superman in einem Comic-Heft, Kino- oder Zeichentrickfilm, Roman, als Spielfigur oder in einem Hörspiel auftritt.4 Seine Ubiquität, so unterschiedlich sie sich von Dekade zu Dekade darstellen mag, scheint die Wirkung des Mythos eher zu stärken als zu schwächen – zumindest wenn wir Ecos nicht ausgeführter, aber für seine Analyse doch wesentlicher Annahme folgen wollen, dass Superman hinter seinen unterschiedlichen, sehr verschiedenen materiellen Erscheinungen – im Comic-Heft und Roman als Figur, im Film als Schauspieler und im Hörspiel als Stimme – in geradezu übermenschlicher Weise mit sich selbst identisch zu sein scheint. Seine Erscheinungen in den jeweiligen Medien verhalten sich wie Clark Kent zu Superman: Er erscheint zwar nicht als derselbe, aber er ist derselbe. Die Kulturkritik reproduziert damit den Mythos, den sie doch zu kritisieren gedenkt. Ihre Vorstellung einer einheitlichen Identität wird selbst zum diese Identität voraussetzenden Mythos, mit dem der kritisierte Gegenstand erst in Erscheinung treten kann. Diese – nur in ihrer Überholtheit überraschende – theoretische Figur, hat nicht nur in Bezug auf die Kritik am Comic und insbesondere an der Ideologie der Superhelden bis heute eine hartnäckige Insistenz bewiesen, weshalb es sich lohnen kann, die Materialität dieses Mythos genauer zu betrachten. Erst kürzlich hat Ian Gordon in seiner Studie Superman. The Persistence of an American Icon den Vorschlag unterbreitet, die Beständigkeit der Figur und Ikone Superman über nun nahezu achtzig Jahre als Prozess zu verstehen, »a series of iterations in different forms«.5 Dies wäre für Superman als Marke bedeutsam, denn »every iteration requires a particular strategy to sell«.6 Im Begriff der Iteration könnte sich andeuten, dass erst die jeweiligen Erscheinungen die Figur materialisieren, dass ihr keine Einheit oder gar ursprüngliche Bedeutung vorhergeht – sie muss sich in der spezifischen Materialität verkaufen, mit der sie auf den Markt tritt. Doch Gordon scheint der Annahme zu folgen, dass die verschiedenen, sich 3 | Barker 1989, Kap. 5. 4 | Vgl. zu den vielen verschiedenen medialen Erscheinungen von Superman die eher hagiografische, ansonsten aber verlässliche Geschichtsschreibung von Les Daniels unter dem Titel Superman. The Complete History (besonders S. 50, 56, 101, 150). 5 | Gordon 2017, S. 147; zum Prozess vgl. S. 3. 6 | Gordon 2017, S. 166.

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vielleicht sogar widersprechenden Supermen im Bewusstsein der Prosumentinnen konvergieren, statt zu vermuten, dass der Genuss der Iterabilität der Figur aufgrund durchaus widersprüchlicher Materialisierungen entsteht. Diese sind gerade keine »incarnations«, wie Gordon an anderer Stelle titelt, ein Begriff, der das Mythische, Gottgleiche, vor allem aber Christliche der Figur bestätigen würde, sondern sie müssen in ihrer spezifischen Materialität verstanden werden.7 Im Folgenden soll deshalb die Identität Supermans anhand eines Vergleichs von Radio und Comic, Hörspiel und Comic-Heft überprüft werden. Die vielen anderen möglichen Vergleiche – zum Beispiel mit den Zeitungscomics, die sich markant von den Heften unterscheiden, mit Zeichentrickfilmen der Fleischer Studios vom Anfang und der Filmserie vom Ende der vierziger Jahre, mit den vielen sehr heterogenen Formen des Merchandising, mit den Superman-Kinofilmen oder den Fernsehserien Lois & Clark und Smallville, um nur wenige weitere mögliche Beispiele zu erwähnen – wären eine eigene Studie wert.8 Mit der bescheiden angelegten Gegenüberstellung von Radio und Comics kann an den historischen Moment erinnert werden, als diese nicht zuletzt durch Superman in enger Beziehung standen. Weil beide Medien heute als Sekundärmedien für den Gebrauch nebenher gelten, ist ein wenig in Vergessenheit geraten, dass sie damals neben Kino und Zeitung die bedeutendsten Massenmedien des Alltagslebens waren.9 In ihrer Zeit stießen beide durchaus auf Ablehnung, nicht zuletzt weil sie als Medien der Beeinflussung der Massen galten.

M y thische M aterialisierungen Vor jeder Einzelanalyse muss der generelle Unterschied beider Materialisierungen von Supermans Abenteuern festgehalten werden. Zunächst einmal stimmen selbstverständlich weder die Art des Erscheinens noch die jeweiligen Zeiträume überein. 7 | Gordon 2017, S. 6. Zur Kritik an der christlichen Interpretation von Superman vgl. Brod 2012, S. 18, der stattdessen auf die Figur des Golem verweist, weshalb er den Slogan Supermans, er diene »truth, justice, and the American way« in »truth, justice and the Jewish-American way« umbenennt. 8 | Vgl. Daniels 1998, passim. Zu Versionen in Film und Fernsehen auch Schoell 1991, S. 1663; Scivally 2008; Rossen 2008. Zu der Fernsehserie der 1950er Jahre ausführlich Grossman 1976. Zu Smallville vgl. Denison 2007. Gordon 2017 untersucht die Langlebigkeit der Figur durch die verschiedenen Medien hindurch, ein Ansatz, den auch Stefan Meier (in Superman transmedial, 2015) verfolgt. Wenn auch Thomas Hausmanninger (1989) beispielsweise Ecos Essay durch eine Historisierung Supermans ergänzt, hat er, wie viele andere, die These des Mythos übernommen. Eine vorsichtige Kritik an der These vom Mythos, die ihre Gültigkeit allerdings auf Superhelden-Comics nach 1986 beschränkt – also auf die Zeit nach dem Einschnitt durch Watchmen von Alan Moore und Dave Gibbons –, findet sich in Klocks How to Read Superhero Comics and Why aus dem Jahr 2003. Auch der eher deskriptive Band von Tim DeForest, Storytelling in the Pulps, Comics and Radio (2004), schließt diese Lücke nicht. 9 | Michael Chabons ausgezeichnet recherchierter Roman über zwei fiktive Comic-BookKünstler der vierziger Jahre lenkte vor einigen Jahren die Aufmerksamkeit auf dieses Phänomen. Die Protagonisten veröffentlichen die Geschichten um ihren Superhelden Escapist nicht nur in einem Heft namens Radio Comics, sondern sie werden schließlich auch im Radio ausgestrahlt. Vgl. Chabon 2000, bes. Teil 4: »The Golden Age«.

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In den Comic-Heften trat Superman das erste Mal 1938 in Action Comics auf, wo sich auch in den kommenden Jahren monatlich eine Geschichte des Helden lesen ließ. Doch der Mann vom Planeten Krypton war auf Anhieb so erfolgreich, dass er schon 1939 ein eigenes Heft mit dem bündigen Titel Superman erhielt, das zuerst vierteljährlich, bald aber zweimonatlich veröffentlicht wurde. Superman hieß das erste Comic-Heft, das einem einzigen Helden gewidmet war. Es ist einer der wenigen Titel, die bis heute ohne Unterbrechung erscheinen. Gleichwohl hat sich der Charakter der Hefte in jeder Hinsicht – Zeichenstil, Erzählweise und Personal – verändert. Die Hörspielserie Superman, später The Adventures of Superman, wurde 1940 begonnen, finanziert von Cerealien-Herstellern, die den Konsum von Corn Flakes in der Vorstellungswelt der Hörerinnen und Hörer offenbar als kosmisches Mittel für Superkräfte etablieren wollten.10 Bis 1949 wurde an jedem Werktag eine Folge ausgestrahlt, die jeweils zwölf, mit der Werbung des Sponsors 15 Minuten dauerte. Danach wurde bis 1951 zweimal die Woche ein halbstündiges Hörspiel produziert – bis dieses Format wie viele andere vom Fernsehen adaptiert wurde, in diesem Fall als wöchentliche Serie mit dem Schauspieler George Reeves. Doch es gibt weitergehende, medial bedingte Unterschiede. Während die ComicHefte über Kioske in Auflagen von mehreren Hunderttausend vertrieben wurden und dort für zehn Cent gekauft werden mussten, wurde das tägliche Hörspiel nahezu gleichzeitig an mehrere Hunderttausend Radiogeräte in den USA ausgestrahlt. (Nahezu aufgrund der Zeitverschiebung und der verschiedenen Plätze in den jeweiligen Sendern, die The Adventures of Superman einnahmen.) Dementsprechend ist die Rezeptionssituation der beiden Materialisierungen ohne Überschneidung. Comic-Hefte werden nach dem Erscheinen einmal gekauft und können dann immer wieder gelesen werden. Noch der Comic-Strip in der Zeitung lässt sich ausschneiden und aufbewahren. Das Radio dagegen musste jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eingeschaltet werden, wenn die Hörer den Fortgang der Geschichte erfahren wollten – es gab Anfang der vierziger Jahre keine massenhaft verbreiteten Techniken zur Tonaufzeichnung. Entsprechend ist anzunehmen, dass die Art des Einflusses auf die Rezipienten sich markant unterscheidet: Während im Comic-Heft die gleichzeitig über die Seite zerstreuten Bilder und Worte in ihrer jeweiligen Konstellation zusammenwirken, zerstreut das Radio die Stimmen der Schauspieler gleichzeitig über viele Geräte. Die Gleichzeitigkeit der Rezeption ist aber für die jeweiligen Hörenden nur bedingt erfahrbar, es sei denn, auch aus den Nachbarwohnungen dringt dasselbe Programm, eine Erfahrung, die Günter Stern als »Spuk« beschrieb.11 Die Stimmen des Hörspiels selbst werden nacheinander gehört und verhallen, einmal gesendet, unwiederbringlich im Äther. Zugleich erzeugen die networks wie CBS und NBC seit Anfang der dreißiger Jahre die Vorstellung einer – wenn auch sehr abstrakt gesehen: verbundenen – Masse vor dem Radio, als deren Teil sich jede einzelne Hörerin fühlen konnte. 10 | Die Geschichte der Entstehung der Radioserie The Adventures of Superman ist komplizierter als hier dargestellt. Für Details und vor allem Anekdoten vgl. Thomas V. Powers: Superman in the Media. Part One. In Radio Recall (Februar 2005), www.mwotrc.com/rr2005_02/ superman.htm; und ders.: Superman in the Media. Part Two. In Radio Recall (April 2005), www.mwotrc.com/rr2005_04/superman.htm. Vgl. des weiteren Scivally 2008, S. 16-23, Rossen 2008, S. 1-4, vor allem aber Gordon 2017, S. 21, der die Vermarktung der Figur genau untersucht. 11 | Stern 1930.

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S uperman im R adio Die Unterschiede zwischen den Medien führten auch zu ganz unterschiedlichen Realisierungen. Im Hörspiel wurden Superman und Clark Kent von Bud (Clayton) Collyer gesprochen. Der berühmte, auch in vielen anderen Hörspielserien tätige Schauspieler sprach Kent mit einer höheren Stimme und Superman mit einer tieferen. In den Superman-Heften wurde für die Hörspiele mit Anzeigen geworben, in denen der Held selbst hinter dem Mikrofon abgebildet war – eine mögliche Projektion der Hörer.12 Doch wie kann die Identifikation mit zwei Stimmen eines Sprechers aussehen? Zumal eine der Stimmen keineswegs in allen Folgen zu hören war, und manchmal schmerzlich vermisst wurde, wie zum Beispiel in jener vom 11. Oktober 1945, in der Kent spurlos verschwunden ist:13 Beim Daily Planet herrscht große Aufregung, denn die Kollegin Lois Lane und ihr Chef Perry White glauben, Kent sei entführt worden. Wer ist der Einzige auf der ganzen Welt, der ihm helfen kann? Superman! Er soll Kent retten! Doch wie ihn erreichen? White schlägt ironisch vor, ihn anzurufen. Lois Lane hat eine bessere Idee: Sie eilt in das Sendestudio im obersten Stock des Wolkenkratzers vom Daily Planet, unterbricht das laufende Programm und ruft Superman verzweifelt im Radio: »Calling Superman! Superman, Clark Kent is in great danger«.14 Der Erzähler der Abenteuer Supermans lässt keinen Zweifel an der tragischen Komik dieser Szene, wenn er gleich darauf berichtet, dass Superman, durch ein kleines Stück Kryptonit völlig bewusstlos, in einer Kiste auf hoher See liegt. Nicht Kent, Superman ist in großer Gefahr. Diese Folge ist aufschlussreich für das Funktionieren der Superman-Hörspiele. Sie sind keineswegs so ernst gemeint und heroisierend, wie dies heutzutage gemeinhin für Superhelden-Geschichten angenommen wird, sondern unterhaltsam und ausgesprochen komisch. Von vielen kleinen, gut geschriebenen Gags und Wortspielen abgesehen, wird insgesamt eine Situation erzeugt, die für die Hörer amüsant ist, denn anders als Lois Lane wissen sie, dass Clark Kent und Superman dieselbe Figur sind. Superman kann Kent nicht retten. Es geht hier weniger um die Identifikation mit dem bewusstlosen Helden als um Unterhaltung. Die Serie amüsiert ihre Hörer durch die zahlreichen, nicht selten seriellen Scherze, die mit der doppelten Identität getrieben werden. Das Hörspiel ähnelt in dieser Hinsicht formal dem Tages-Strip, ist aber in seinen narrativen Möglichkeiten in den zwölf Minuten etwas beweglicher als der Strip mit vier Panels. Der Spott, dem die Serie bis heute immer wieder ausgesetzt war (Wie kann Lane nicht bemerken, dass Kent und Superman derselbe sind? Wie kann Superman sich so schnell umziehen?), ignoriert, dass hier klassische Motive der Verwechslungskomödie in eine dramatische Abenteuerhandlung übertragen werden, ohne ihren komischen Charakter zu verlieren. Zitiert wird aber auch die Logik von George Herrimans 12 | Diese Anzeige wurde häufiger verwendet, z.B. in Siegel/Schuster 1990, S. 59, 125, 159. Es wurden auch einzelne Handlungsstränge beworben (ebd. S. 176). 13 | Die erste Veröffentlichung der Radiomanuskripte setzt kurz nach dieser Folge ein, um die berühmte Episode Superman vs. the Atom Man zu dokumentieren. Es ist im Vergleich zur ausgestrahlten Sendung bemerkenswert zu sehen, wie viel noch geändert und zum Teil aus politischen Gründen zensiert wurde. Ein ausführlicher Vergleich steht aus. Vgl. DC Comics 2001. 14 | So zu hören auf Radio Spirits/Smithsonian Institution 1998.

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Krazy Kat. Superman variiert das Dreiecksschema des Strips: Krazy liebt Ignatz, Ignatz verachtet Krazy, Offissa Pupp hasst Ignatz und liebt Krazy. Übersetzt heißt das: Clark Kent liebt Lois Lane, Lois Lane verachtet Kent und liebt Superman, aber Kent als Superman kann diese Liebe nicht erwidern, weil er seine geheime Identität schützen muss. Als Superman zieht Kent Lois also ein ums andere Mal aus dem Schlamassel, wofür sie ihn bewundert. Aber als Kent muss Superman sich hilflos gefallen lassen, dass Lois sich über ihn lustig macht. Wie in Krazy Kat ergeben sich aus dieser unauflösbaren Konstellation zahlreiche komische Situationen, die erst in den seriellen Variationen verstanden und genossen werden können. Die Radio-Episode erzählt auch etwas über die Fantasien, die man zu jener Zeit über die Möglichkeiten des Radios hatte: Es genügt, sich an das Mikrofon irgendeines Senders zu stellen, und Superman wird die Sendung so sicher hören, wie die Hörer zu Hause Tag für Tag dem Hörspiel lauschen. Hier geht es um keinen wie auch immer gearteten Einfluss auf die Hörer, sondern um einen ganz konkreten Effekt. Keineswegs nutzen die Autoren die Inszenierung des Radios im Radio so wie Orson Welles in seiner berühmten Adaption von War of the Worlds, in der mit den Mitteln der Live-Reportage und anderen medialen Verweisen eine Verunsicherung darüber evoziert wurde, was gerade wirklich geschieht.15 Bei Superman bleibt notwendigerweise immer hörbar, dass es sich um eine Fiktion handelt. Welles muss innerhalb der einen Stunde des Mercury Theatre on the Air Aufmerksamkeit und Spannung erzeugen; The Adventures of Superman ist davon abhängig, dass die Hörer auch am nächsten Tag wieder vor die Empfänger gelockt werden, um zu erfahren, wie es mit Superman in seiner Kiste auf hoher See weitergeht. In der Ästhetik des Cliff hangers versteht sich, dass diese Spannung, an einem Donnerstag erzeugt, in der Episode am Freitag noch nicht aufgelöst wird, sondern sich über das Wochenende hält, damit auch Montag wieder zur Werbung von Kellogg’s Pep zugeschaltet wird. Wer diese Materialität der Ausstrahlung in den Alltag seiner Hörenden nicht berücksichtigt, wird wenig von der Ästhetik dieser Folgen begreifen. Umberto Eco hat die Mythenstruktur von Superman hinsichtlich ihres Handlungsverlaufs analysiert und festgestellt, dass ihr keine Zeitstruktur innewohne. Die Leser der Superman-Comics verlieren nach seiner Auffassung »den Sinn für zeitliche Ordnung, natürlich ohne sich dessen bewusst zu werden«.16 Natürlich. Was für die notorischen Leserinnen der Comic-Hefte als Behauptung gelten mag, wird für die Hörer der Radiofolgen lächerlich: Wenn sie den Sinn für zeitliche Ordnung verlieren würden, könnten sie die in ihnen erzeugte Spannung nicht mehr erfahren. Erst durch die Erfahrung zeitlicher Folge und ihrer Unterbrechung sind die Hörspiele rezipierbar. Nun ließe sich einwenden, dass die einzelnen Folgen über die Wochen hinweg in sich abgeschlossene Geschichten bildeten, die untereinander nicht notwendig eine Chronologie aufweisen. Doch bringt das gleich den Sinn für zeitliche Ordnung durcheinander? Der historische Sinn wird auf jeden 15 | Werner Faulstichs Radiotheorie (1981) schreibt den Mythos von der Panik aufgrund der Ausstrahlung fort und überführt dies in eine Radiotheorie. Wolfgang Hagens Das Radio (2005), S. 229-245, weist nach, wie geschickt Welles seine Sendung mit den Programmen anderer Sender abgestimmt hat und gibt eine sehr einfache Erklärung für die Verwirrung: Viele Hörer haben von einer anderen Sendung auf Welles umgeschaltet und den Hörspielcharakter nicht erkannt. 16 | Eco 1986, S. 203

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Fall durch das Material Kryptonit aktiviert, denn es wird in dieser legendären Geschichte um die »Schwarze Witwe« und den »Atom-Man« zum ersten Mal verwendet. Dieses Metall von Supermans Heimatplaneten bringt den Helden nicht nur in Todesgefahr, sondern es verändert in dieser dramatischen Funktion auch den gesamten Mythos von Superman. Mit jeder Folge wird Superman schwächer, bis er tatsächlich beinahe – symbolisch – stirbt.17 The Man of Tomorrow ist verwundbar geworden wie die Menschheit selbst durch die Atombombe, die wenige Wochen zuvor über Hiroshima und Nagasaki gezündet wurde. Die Materialität der Ausstrahlung im Radio macht solche Zäsuren notwendig, mit denen sich etwas unwiederbringlich verändert und nach denen für alle folgenden Geschichten diese Veränderung gilt. Datiert zu sein ist ein entscheidender Unterschied der Radiosendungen zu den verschiedenen Kurzgeschichten, die in jedem Heft der Comic-Serie enthalten sind.

D er R adiomy thos im C omic Die Vorstellung von der Beeinflussung durch ein Medium entnimmt Eco dem Diskurs über das Radio, das sich in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Massenmedium etablierte und sofort als Modell für die Beeinflussung des Publikums galt. Wie der Medienhistoriker Jeffrey Sconce in seiner Studie Haunted Media gezeigt hat, setzte sich dieser Diskurs nicht deshalb durch, weil sich reale Wirkungen nachwiesen ließen, sondern weil sich zum ersten Mal in der Geschichte der USA ein Netz der Sender über das Land gelegt hatte, das überall und auf unsichtbare Weise dieses Land zu beherrschen schien, wenn es die Hörer freiwillig vor die Geräte trieb. Den Mythos über die Wirkungen des Rundfunks zeigt nichts besser als die angebliche Panik, welche die Ausstrahlung des schon erwähnten Hörspiels von Orson Welles ausgelöst haben soll. Nachdem Sconce gezeigt hat, dass sich eine Massenpanik historisch nicht nachweisen lässt, verweist er auf eine individuelle wie kollektive Sehnsucht danach, dass diese Panik wirklich stattgefunden habe.18 Die Paranoia, dass Radio eine bestimmte Macht haben könnte, ist historisch wahr. Insofern ist es unnötig zu rekonstruieren, wie The Adventures of Superman die Hörer seinerzeit beeinflusste.19 Stattdessen gibt eine short story aus dem zeitgenössischen Comic-Heft Superman eine Vorstellung von den 17 | Dies ist nur der Anfang. In Supermans Auseinandersetzung mit Atom-Man, einem Nazi, der durch Kryptonit in seinen Venen Superkräfte erlangt, wird die Situation noch bedrohlicher. Vgl. DC Comics, Atom Man. 18 | »Offenkundig hat es den individuellen wie kollektiven Wunsch gegeben, diese Panik für ›wahr‹ zu nehmen« – Sconce 2013, S. 193. (Haunted Media, Electronic Presence from Telegraphy to Television. Durham/London 2000, S. 110-118, hier S. 116). Entsprechend reproduziert sich der Mythos munter weiter, wie beispielsweise in DeForest 2008, S. 207-210. Anm. zum Verständnis: Die Übersetzung des Textes von Sconce lag bei der Erstveröffentlichung dieses Artikels noch nicht vor – zur Vollständigkeit werden hier beide Verweise belassen. 19 | Von Dœtinchem und Hartung kehren die Fragestellung des ›Einflusses‹ einfach um: Nicht danach sei zu fragen, sondern nach dem offensichtlichen Bedürfnis der Massen, wie es sich in den Superhelden-Comics artikuliert. Ihre Kritik richtet sich weniger gegen Ecos Analyse (die sie wahrscheinlich, da sie sie nicht zitieren, nicht kannten) als gegen die ent-

Frahm: Der Mythos vom Mythos von Superman

fantastischen Projektionen auf das Medium Radio und seine Macht über die Hörer, die im Comic reflektiert wird.20 Abbildung 2. Siegel/Shuster 1994. © DC Comics Inc.

Die titellose Geschichte handelt vom berühmten Pianisten Krazinski, der sein Publikum mit speziellen Melodien hypnotisiert, um es dann um Schmuck und Brieftaschen zu erleichtern. Lois Lane widerfährt dieser Überfall gleich auf der ersten Seite, im weißen Zwischenraum zwischen zwei Panels. Auch wenn die Comic-Forschung gern glaubt, in diesem Weiß einen »Leerraum« zu entdecken, »den wir in unserer Phantasie ergänzen müssen«, lässt sich hier kaum vorstellen, was im Weiß zwischen den Panels passiert ist.21 Dieses Rätsel weckt auch das journalistische Interesse von Clark Kent. Bei einem weiteren Konzert folgt Kent seiner Kollegin. Da die beiden Journalisten in ständiger Konkurrenz zueinander stehen, glaubt sie nicht, dass er sie zum Vergnügen begleitet – vermutlich wittert er eine gute Story. Und die bekommt er: Das Konzert beginnt, und alle schlafen ein. Alle Zuhörer erliegen dem hypnotischen Zauber des Spiels Krazinskis – außer Clark Kent, der als Alien vom Planeten Krypton nichts von der Schönheit menschlicher Musik versteht. Der Leerraum wird nicht in unserer Fantasie, sondern in einer Folge von Bildern gefüllt. Nachdem das Publikum wieder erwacht ist, verwandelt sich Kent unbemerkt in Superman, folgt den Gaunern und stört sie in ihrem Vorhaben. Dabei kalkuliert er auch den einen oder anderen Tod mit ein: Statt einen Gegner zu retten, ruft er ihm fröhlich »Missed me!« nach, als dieser ihn an einem Abhang verfehlt hat.22 politisierte bundesdeutsche Comictheorie der frühen siebziger Jahre. Vgl. von Dœtinchem/ Hartung 1974, S. 15. 20 | Superman Nr. 14, Januar/Februar 1942, n.pag. [S. 1-13], wiederabgedruckt in Siegel/ Shuster 1994, S. 68-80, im Folgenden direkt im Text zitiert. 21 | »Zunächst einmal bedeutet der weiße Steg eine Auslassung zwischen zwei Bildszenen und schafft einen Leerraum, den wir in unserer Phantasie ergänzen müssen.« Knigge 2009, S. 23. 22 | »Superman ist dabei auf die langweiligste Weise selbstlos, seine Vorstellungswelt so aufregend wie die der freiwilligen Feuerwehr.« – Von Dœtinchem/Hartung 1974, S. 171. Die ersten Jahre des Superhelden, die zu größeren Teilen von Siegel und Schuster betreut wurden, unterscheiden sich markant von der Figur, wie sie Eco sowie von Dœtinchem und Hartung kennengelernt haben, vgl. zu diesem Aspekt auch Gordon 2017, S. 17f.

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Den größten Coup des Pianisten kann der Held trotzdem nicht verhindern. Während der Präsident eine Ansprache hält, überstrahlt Krazinski mit einem eigenen Sender die Rede und hypnotisiert die ganze Stadt (Abb. 2), die seine Gefolgsleute daraufhin rücksichtslos plündern – bis sie Superman dabei empfindlich stört. Er kann die Radiowellen orten, entdeckt das geheime Studio, und nachdem auch der Mann aus Stahl überraschenderweise von Krazinskis Spiel hypnotisiert wurde (Abb. 3) schüttelt er durch pure Willensanstrengung den »insidious spell« ab und zerstört den Radiosender: »He succeeds in freeing himself. Leaping in, he smashes the broadcasting apparatus!«, kommentiert der Blocktext. Der besondere Humor dieser Serie zeigt sich im Bild, in dem wir Superman in schwungvoller Bewegung sehen, während Krazinski sich, den Blocktext zitierend, beschwert: »You’ve smashed my costly apparatus!« (Abb. 4). Der Bann ist gebrochen. Der Pianist sieht keine andere Möglichkeit, als ein Stück zu spielen, das ihm selbst den Tod bringt. Im letzten Panel der Geschichte wundert sich Lois, wie Clark Kent diese Story schreiben konnte, und er antwortet trocken: »I have a formula of my own«. Abbildung 3. Siegel/Shuster 1994. © DC Comics Inc.

Frahm: Der Mythos vom Mythos von Superman

Abbildung 4. Siegel/Shuster 1994. © DC Comics Inc.

Gemäß der Kulturkritik haben Superheldengeschichten selbst eine eigene Formel.23 Umberto Eco bezeichnet sie als ein Schema, das immer wieder identisch wiederholt werden muss, damit es von der Leserschaft wiedererkannt werden kann, wodurch diese sich auf einfache Weise zerstreut.24 Es wäre falsch, das offensichtlich erfolgreiche Schema der Superman-Hefte der frühen 1940er Jahre zu ignorieren, mit dessen Zutaten auch die Geschichte vom Pianisten spielt: Clark Kent stößt auf ein ebenso seltsames wie unheimliches Phänomen und löst es als Superman mit einigen außergewöhnlichen Aktionen. Dabei gibt es einen kurzen, gefährlichen Moment, an dem der Feind aufgrund seiner Fähigkeiten stärker zu sein scheint als der Mann aus Stahl. Wer mehrere Geschichten miteinander vergleicht, wird schnell sehen, dass die Formelhaftigkeit der Serie bis in einzelne Formulierungen und Zeichnungen reicht. Der unvermeidliche Wechsel von Kent zu Superman wiederholt sich fast wortgleich von Geschichte zu Geschichte: »Clark Kent divests himself of his outer garments«, »Clark steps into an empty office and removes his outer garments«, »Acting at terrific speed, Superman removes his outer garments«, »Swiftly, Kent removes his outer garments, revealing himself as – – Superman …«, »Swiftly removing his outer garments, Clark transforms himself to dynamic Superman«, »Atop the Daily Planet Building, Clark Kent removes his outer garments, transforming himself to Superman«, »He swiftly removes his outer garments …«.25 Doch so formelhaft die Formulierungen erscheinen, in ihrer Reihung amüsieren die Varianten, mit denen derselben Situation immer neue sprachliche Wendungen entlockt werden. Auch die Bilder sind nie ganz identisch – und so erschöpft sich die Erzählung, die Darstellung nicht in einem Schema. Manches will nicht in das von Umberto Eco gezeichnete Bild vom SupermanMythos passen. Clark ist keineswegs ein durchschnittlicher Biedermann, sondern ein berühmter Reporter, der regelmäßig den Aufmacher für die Titelseite der Zei23 | Zum Begriff der Formel vgl. auch Bradford 2001. 24 | Eco 1986, S. 208. 25 | Siegel/Schuster 1994, S. 72, 15, 21, 44, 51, 55, 81.

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tung schreibt. Um diesen Erfolg konkurriert er mit Lois. Darin wird eine spezifische soziale Signatur der New-Deal-Ära sichtbar, die Eco übergeht. Die ComicProduzenten erzählen hier kein Märchen und keinen Mythos, sondern die banale, aber niemals langweilige Geschichte alltäglicher Konkurrenz in kapitalistischen Gesellschaften, die ihren sehr konkreten historischen Ort haben. Die Geschichte vom radioverstärkten hypnotisierenden Klavierspiel passt dort am wenigsten in die Vorstellung eines Schemas, wo sie eben die Vorstellung des ideologischen Einflusses auf das Publikum reflektiert, der ihr selbst und dem in ihr reproduzierten Schema zugleich unterstellt wird. Eingebettet in den Diskurs über das Radio als unheimliches, hypnotisierendes Medium (Abb. 5),26 stellt die Geschichte die entscheidende kulturkritische Frage: Wie ist es möglich, ideologischen Einfluss – in diesem Falle in seiner weitreichendsten Ausprägung: Hypnose – loszuwerden?27 Wenn Kulturkritik versucht, den Einfluss von Superman-Geschichten durch Kritik sichtbar zu machen und zurückzudrängen, dann versucht Superman dasselbe. Er stellt sich nicht als einen Mythos dar, der in einer zeitlosen »NichtGeschichte«28 erscheint, sondern als Figur, die mit einem historisch ausgesprochen präzis datierten Mythos aufräumt. Die Geschichte erzählt, dass es durchaus möglich ist, sich dem gefährlichen Einfluss der Medien zu entziehen – Superman allerdings schafft dies nicht mit den Mitteln der Kulturkritik, sondern durch reinen Willen.

D ie doppelte M aske Dieses Vorgehen erscheint eher ungewöhnlich für einen »archetypischen« Helden.29 Offenbar ist mehr Nietzsche in dieser Popularisierung des Übermenschen, als die meisten Kritiker erwarten, die darauf verweisen, dass Jerry Siegel und Joe Shuster vom Übermenschen noch nie gehört hatten, als sie versuchten, ihren Superman auf dem Markt unterzubringen.30 Und doch führt dieser einfache Abgleich zwischen Superman und Übermensch in die Irre, weil er übersehen lässt, wie sich die doppelte Identität der Comic-Figur konstituiert und wie sie gerade darin das Menschliche überschreitet. Nicht seine feststehende Identität als Super26 | Die Nähe zur Darstellung der vor dem Radio hypnotisierten Städter ist verblüffend. Hans-Christian Kossak (1999) hat zahlreiche Beispiele der Darstellung von Hypnose im Comic zusammengestellt. Er versäumt es aber, diese zu historisieren. Immerhin ist die Forschung um eine Tabelle über das Verhältnis von tierischen zu menschlichen Hypnotiseuren und Hypnotisierten reicher. Ausführlicher zu Kossaks epistemologischer Perspektive und dem Motiv der Hypnose vgl. Frahm 2017, bes. S. 334-337. 27 | Gelegentlich reicht übrigens auch ein Superman nicht aus dafür. In der Story »The mindless Slaves of Dr. Grout«, die in sechs Sonntagsseiten-Episoden 1939 erzählt wurde, muss Superman Dr. Grout zwingen, hypnotisierte Männer zu enthypnotisieren (Siegel/Schuster 1998, S. 16). Allerdings ist diese Hypnose nicht medienvermittelt. 28 | Eco 1986, S. 210. 29 | Ebd., S. 196. 30 | Daniels 1998, S. 18. Zu Bezügen zwischen Shuster und Siegels Superman und Nietzsches Übermenschen vgl. auch Arno Bogaerts Aufsatz »Rediscovering Nietzsche’s Übermensch in Superman as Heroic Ideal« (2013).

Frahm: Der Mythos vom Mythos von Superman

man ermöglicht es Clark Kent, sich im entscheidenden Moment aus dem Bann der Medien zu lösen, sondern seine Fähigkeit, mehr als menschlich zu werden – sein Wille, übermenschlich zu handeln. Superman ist kein archetypischer Held, sondern er muss erst immer wieder zum Helden werden. Es gibt einen Moment, in dem Superman von Krazinskis Melodie gelähmt ist und sein Röntgenblick, sein Supergehör, all seine Muskelkraft gegen die Macht der Medien nichts ausrichten können. Noch wenige Panels zuvor stellte der Held seine Superkräfte unter Beweis, indem er durch die Studiowand ging, als sei sie die Tür, nun aber ist er wie alle anderen Menschen hypnotisiert. Nur sein Wille rettet den Außerirdischen – und alle Hörer des Rundfunkprogramms. Deshalb darf Superman auch nicht als ›wahre Identität‹ von Clark Kent verstanden werden, und Clark Kent nicht als Maske von Superman. Beide sind Masken.31 ›Er‹, wer immer ›er‹ ist, muss beides werden können, um ›übermenschlich‹ zu handeln: Nur als Clark Kent kann ›er‹ – und ›er‹ ist Clark Kent – dem Konzert beiwohnen, nur als Superman kann ›er‹ – und nun ist ›er‹ Superman – gegen die unheimliche Ausstrahlung intervenieren. Hinter diesen verschiedenen Zeichen von verschiedenen Figuren, hinter ihren Wiederholungen gibt es keine vereinheitlichende Identität. Die Wiederholung »liegt« wie die Figur »nicht unter den Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen, […] von einem privilegierten Augenblick zu einem anderen, mit und in den Varianten«.32 Nichts als eine Projektion vereinheitlicht die Wiederholungen in den Varianten. Nur eine projizierende Wahrnehmung ermöglicht es, in dem Namen »Clark Kent« den Namen »Superman« als denselben zu lesen; eine solche Projektion macht die Zeichnungen von Superman und Kent zu ein und derselben Figur. Fraglos handelt es sich um eine naheliegende Projektion.33 Doch zugleich erblicken wir auf derselben Comic-Seite unterschiedliche Zeichen und unterschiedliche Handlungen. Innerhalb der Zwänge der Konsumgesellschaft, innerhalb des unmenschlichen Konkurrenzkapitalismus handelt ›Superman‹ menschlich; jenseits dieser Zwänge handelt ›Clark Kent‹ übermenschlich mit dem Willen zur Macht, der nichts anderes ist als der Wille, nichts zu repräsentieren, sondern vielmehr zu handeln. Das bedeutet nicht weniger, als in jede Entstehung von identifizierender Bedeutung einzuschreiten und jede suggestive Projektion zu zerstreuen – und die Zeichen in ihrer Zerstreuung, ihrer Reflexivität dieses Prozesses zu lesen.34 Um diesen merkwürdigen Modus von Supermans Handlungen zu verstehen, müssen wir die Zeichen auf den Seiten des Comic-Heftes als Aktivitäten jenseits der Dichotomie von Subjekt und Objekt, jenseits der Logik einer Identität lesen. Die Zeichen sind Fremde, wie Superman in seinen Abenteuern als letzter Überlebender des Planeten Krypton auf der Erde ein Fremder bleibt: fremd wie die menschliche Musik in den Ohren Clark Kents. Diese Entfremdung ohne eine ursprüngliche

31 | Zum Begriff der Maske im Comic vgl. Frahm 2005, Kapitel 1. 32 | Deleuze 1992, S. 34. 33 | Ein Beispiel für die Fortschreibung dieser Projektion liefert Danny Fingeroth: »Superman … will change – a Superman comic or movie of today looks significantly different from one of the 1940s. But he will be the Superman for that era, in principle the same individual who came to Earth from Krypton however many years ago« – Fingeroth 2004, S. 24. 34 | Zum Verhältnis von projizierendem und zerstreutem Blick im Comic vgl. den Text »Kunst nach MAUS? Art Spiegelmans Arbeit an der Gedächtniskultur« (Frahm 2003).

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VI.3 Medialität

Identität ermöglicht es, das ideologische Schema von Einfluss und Identifikation mit der Lektüre der Materialität der Zeichen zu stören. Abbildung 5. Hypnotisiert durch das Radio. Dieses Foto aus der Juni-Ausgabe 1927 von Popular Radio galt als weiterer Beweis für die unheimlichen Kräfte des Mediums. Abbildung aus Sconce 2000, S. 77

D ie M aterialisierungen von S uperman Wer also ist Superman? Wichtig ist nicht die Frage der Identität, sondern die spezifische Materialität der reproduzierten Zeichen, wie sie auf den Seiten des ComicHeftes als Fremde ausgestellt werden – und erst als solche die Geschichte medialer Hypnose erzählen können. Superman ist kein Mythos, sondern Material, das historisch in Konstellationen – hier: als Stimme im Radio, als Schrift und Figur im Comic – erscheint. Die unterschiedlichen Medien behaupten jeweils keine einheitliche Identität, mit der sich die Rezipienten identifizieren können, sondern ermöglichen es vielmehr, diese Erscheinungen in ihrer je spezifischen und unaufhebbaren Materialität zu genießen. Vielleicht ist es nötig, einen entmaterialisierten Mythos zu vermuten, um Supermans dauerhaftes Erscheinen zu erklären. Wenn man auf diese Vermutung verzichtet, entsteht die simple Frage, wer Superman ist. Wer ist diese über viele Medien zerstreute Figur, die keine Identität im traditionellen Sinne besitzt? Nicht eine Identität ist für diesen sehr materiellen Mythos entscheidend, sondern die spezifische Materialität seines historischen Erscheinens. Die Vorstellung von einem Mythos von Superman ist eine Projektion, die diese unheimliche materiale Erscheinung und ihre unkontrollierbaren Effekte verdrängt. Die Geschichte von der hypnotischen Wirkung des Radios darf als Allegorie dieses Prozesses verstanden werden: So unheimlich die Situation des Publikums den modernen Massenmedien gegenüber ist, so unheimlich ist die (performative) Möglichkeit, diese Situation durch reinen Willen zu verändern. Um die unheimliche Materialität der Medien

Frahm: Der Mythos vom Mythos von Superman

zu vergegenwärtigen, vielleicht sogar ihren Apparat zu zerstören, braucht es mehr als einen Menschen, es braucht einen Übermenschen. Die Kulturkritik der Comics sollte nicht die Verdrängung der Unheimlichkeit der Materialität wiederholen, sondern deren beunruhigendes Potenzial betonen. Die Ideologie von Superman behauptet, dass ein Mann den Job für uns erledigen kann, und Kritiker wie Umberto Eco schreiben diesen Mythos in ihrer Analyse fort, indem sie behaupten, sie könnten den Job der historischen Reflexion alleine und stellvertretend für alle erledigen. Aber das täuscht. Im Material der Superman-Geschichte ist für alle lesbar die immer gegenwärtige Gefahr zu verstehen gegeben, von den Zeichen hypnotisiert oder sogar gelähmt zu werden, wenn wir versuchen, ihre Materialität zu entziffern. Eine Theorie der Comics sollte keineswegs versuchen, sich dieser Gefahr von vornherein zu entledigen, indem sie von Identifikation und Einfluss und der gefährlichen Ideologie der Superheldencomics spricht, sondern sie sollte vielmehr deren historische Materialisierungen lesen, um die Ideologie vom Einfluss der Medien infrage zu stellen. Jenseits dieses Mythos scheint eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen auf, die danach fragt, wem die Zeichen, ihre Medien, das Material gehören und warum wir sie überhaupt nur in der Logik des Eigentums und nicht in der Logik der Zerstreuung zu analysieren bereit sind.

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Superman 50 Jahre härter als Krupp-Stahl* Wolfgang J. Fuchs 1 50 Jahre alt wird Superman 1988. Soll man schon oder erst sagen? Immerhin handelt es sich bei dieser Figur doch um einen Mythos des 20. Jahrhunderts; ob man den Begriff Mythos nun europäisch eng oder amerikanisch weit interpretiert. Superman ist Heros, Legende und folkloristisch überhöhtes Wunschdenken in einem. Daß er in einem Jahrhundert erfunden wurde, in dem die traditionellen Helden- und Sagengestalten immer mehr den Fiktionen der Medienwelt weichen, ist quasi unumgänglich gewesen. Superman ist der stärkste und unbesiegbarste aller Helden. Zumindest wurde dieser Anschein von seinen Zeichnern und Geschichtenschreibern immer wieder – trotz gelegentlicher Schwächen – erweckt. Obwohl Superman also im wahrsten Sinne des Wortes stärker als Kruppstahl vorzustellen ist, muß die Frage erlaubt sein, welcher Superman eigentlich 50 Jahre alt wird. Denn so unverändlich er sich in den Gehirnen seiner jeweiligen jugendlichen Leser festgesetzt hat, ist er nie gewesen. Und der Superman, der heute seine Heftchen-Abenteuer erlebt, ist mindestens die dritte Inkarnation einer Jahrhundertidee, die Jerome Siegel und Joseph Shuster im geschichtsträchtigen Jahr 1933 hatten – fünf Jahre vor der Erstveröffentlichung. Inoffiziell wird Superman inzwischen also gar 55 Jahre alt. In der Urfassung der Legende ist Superman der einzige Überlebende des Planeten Krypton, der von seinem Vater Jor-El in einer Rakete zur Erde geschickt wird, wo er zu einem Übermenschen heranwächst, der es sich – dank mittelständisch kleinbürgerlicher Erziehung in einer amerikanischen Kleinstadt – zur Aufgabe macht, für das Gute und gegen die Unterdrückung zu kämpfen. (Anfängliche Diskrepanzen, etwa in der Schreibweise Jor-L oder Jor-El, werden hier außer acht gelassen. Jahrzehnte später nahm man sie zum Anlaß, verschiedene gleichzeitig in voneinander unabhängigen Universen lebende Supermänner zu postulieren. Ebensogut könnte man sagen, Supermans Boswells Siegel und Shuster hatten zunächst in ihrem Übereifer nicht begriffen, daß ihre fiktive Figur ein Eigenleben hatte; erst nach und nach verstanden sie es, deren Einflüsterungen richtig zu interpretieren und zu »stimmigeren« Erzählungen umzumünzen.)

*  Fuchs, Wolfgang: »Superman – 50 Jahre härter als Krupp-Stahl.« In: Comic Jahrbuch 1988. S. 26-37.

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VI.3 Medialität

Für seinen aufrechten, nimmermüden Kampf zwängt sich Superman in ein hautenges, die Muskeln betonendes Kostüm in den Grundfarben Blau, Rot und Gelb. Dieses Kostüm, das den Helden aus der Schale pellt, ohne zugleich seine Geschlechtsmerkmale zu entblößen, wurde immer wieder einmal psychologisch tiefschürfend gedeutet. Natürlich ist es bemerkenswert, welche Art von Kostüm Superman trägt. Aber ursprünglich ging es Supermans Erfindern nur darum, ihn in seiner Heldentätigkeit vom Alltagsmenschen zu unterscheiden. Sie nahmen sich dazu Anleihen beim Film und beim Zirkus. Das artistische Können zum Beispiel eines Douglas Fairbanks bot sich dazu an. Er wurde optisch zur Inspiration wie literarisch die Romanfigur des Doc Savage, die als ein »Supermann« mit besonderen Fähigkeiten definiert war. Superman als Person und seine Kostümierung entsprangen, wenn man so will, dem Zeitgeist der dreißiger Jahre. Wie sich die alten Götter kostümierten, wenn sie unter gewöhnlich Sterblichen wandelten, so ist auch Superman nur bei seinen Ruhmestaten als der große Held erkennbar. Um nicht ständig »im Dienst« oder »in der Pflicht« sein zu müssen oder gar als Fabelwesen begafft zu werden, hat sich Superman eine »Geheimidentität« zugelegt. Dies nicht zuletzt deshalb, weil ihm seine Pflegeeltern eingeschärft haben, daß es nicht gut ist, wenn er keine Möglichkeit hat, sich in die Privatsphäre zurückzuziehen. Privat heißt Superman daher Clark Kent. Auf den Namen kamen Supermans Erfinder durch die Schauspieler Clark Gable und Kent Taylor. Und als Superman/Clark Kent nach dem Tod seiner Zieheltern Smallville verläßt, zieht es ihn in die – Fritz Lang sei gelobt – Großstadt Metropolis. Dort wird er Reporter, weil er so immer gleich weiß, wo sich etwas ereignet, bei dem er eingreifen kann und muß. Anfangs war Superman hilfsbereit um des Helfens willen. Viel später konnte man gelegentlich den Eindruck gewinnen, er leiste seine Heldentaten nur, um sich darüber als Clark Kent ausführlich auslassen zu können und den eigenen Ruhm museumsreif zu machen. Vielleicht handelte es sich bei Geschichten vom Superman-Museum jedoch nur um unbewußte Verewigungswünsche der jeweiligen Comic-Autoren. Superman kann einfach alles. Er fliegt (notfalls sogar schneller als das Licht), und er ist praktisch unverwundbar (im Bereich einer gelben Sonne, deren Energie man sich folglich materiedurchdringend vorstellen muß, da sonst Superman bei Abendrot oder in der Nacht kraftlos wäre). Superman kann mit Planeten jonglieren, mit Hitzeblick Spiegeleier braten oder Waffen schmelzen lassen, mit Röntgenblick durch dickstes Gemäuer blicken und so fort. Es gibt kaum etwas, das Superman nicht kann. Seine Kräfte sind zwar übernatürlich, dennoch ist es gerade das Übernatürliche, die Magie, gegen die Superman nicht gefeit ist. Auch in diesem Punkt ähnelt Superman alten Götter- und Heldengestalten. Im übrigen war schon Gilgamesch halb Mensch halb Gott. Die alten Griechen kannten den bärenstarken Herakles, Zetes und Kalais, die beide fliegen konnten, Euphemos, der sich blitzschnell fortbewegte, Kaineus, der unverletzlich war, und Lynkeus, der sehen konnte, was unter der Erde war. Man kann davon ausgehen, daß Jerry Siegel und Joe Shuster gar nicht die Gottheiten der Antike meinten, als sie ihren Überhelden ersannen. Philip Wylies 1930 erschienener Roman »The Gladiator« war wohl, ebenso wie die Romanserie »Doc Savage«, von direkterem Einfluß auf die jugendlichen Väter Supermans. Wobei letztlich die Abstraktion vom Durchschnittsmenschen auf ein höheres Wesen im-

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mer die positiven Eigenschaften übertreibt. Unsere Vorbilder sind nun einmal immer besser, als wir selbst sein wollen oder können. Ohne alle interpretative Überhöhung entsprach Superman zunächst einmal ganz banal dem Wunschdenken Heranwachsender, die gerne die Welt mit einem Handstreich in Ordnung bringen würden. Und Heranwachsende waren Siegel und Shuster mit ihren 16 Lenzen im Jahr 1933. In seinen Anfängen – und häufig auch in späteren Geschichten – entspricht Superman ganz genau dieser Weltsicht. Wenn er etwa einen Waffenfabrikanten in Uniform steckt und an der Front die Schrecken des Krieges erleben läßt, um ihn so zu bewegen, seine Munitionsfabrik zu schließen, ist das die simple Lösung, die man als Jugendlicher noch für möglich hält. Superman war die von Jugendlichen für Jugendliche ideal vorgedachte Verkörperung aller geheimen Wünsche. Alle Autoren und Zeichner, die nach Siegel und Shuster den Traum vom Superhelden weiterspannen, veränderten den Traum unmerklich. So wuchsen Supermans Kräfte schlagartig. Er, der ursprünglich nur über Wolkenkratzer hüpfen konnte, flog plötzlich, die Kräfte wuchsen ins Unermeßliche. Wie es sich für jede gute Sagengestalt gehört, deren Taten von ganzen Erzählergenerationen gerühmt werden, wuchsen Fähigkeiten und Ruhm über die Jahre hin an. Die Einbindung in den American Way of Life und die amerikanische Folklore ließen Superman zu einem modernen amerikanischen Mythos werden. Und wenn schon von einem Mythos die Rede ist, lassen sich auch schnell religiöse oder zumindest pseudoreligiöse Aspekte an Superman entdecken. Der übermächtige Held ist eine Art Erlöserfigur, in die Welt gekommen, um den Mächten des Bösen Einhalt zu gebieten. Er kann fliegen wie ein Engel, vollbringt Taten, die an Wunder grenzen, und hat von seinem Vater Jor-El den Namen Kal-El mit auf den Weg bekommen. Die Silbe »el« steht im Alten Testament für Gott. Natürlich ist es leicht, bei der Suche nach theologischem Sinngut in der Figur Supermans bequem übers Ziel hinauszuschießen. Aber es könnten, wie schon im Januar 1975 eine Tagung der Evangelischen Akademie in Loccum zum Thema »Comics und Religion« feststellte, die offensichtlich und unterschwellig in Comics enthaltenen religiösen Spuren den etablierten Kirchen eine Mahnung sein, selbst wieder mehr zu einem differenzierten Bild religiöser Gehalte bei den Gläubigen beizutragen. Der amerikanische Autor John Wesley White, zeitweilig Assistent von Billy Graham und später Fernsehprediger wie dieser, hat ohne Kenntnis dieser Tagung zur Superman-Verfilmung von 1978 gleich eine Nutzanwendung vorgelegt mit dem Buch »The Man from Krypton. The Gospel According to Superman« (Minneapolis, Minnesota 1978). Bücher wie dieses und ähnlich geartete Interpretationsversuche übersehen jedoch, daß – auf einer ganz anderen Ebene – Superman beweist, daß Glaube und Überzeugung wirklich Berge versetzen können. Vor über 50 Jahren glaubten zwei Jugendliche fest und unverbrüchlich daran, daß ihre Idee vom Superman sich eines Tages durchsetzen würde. Bis ein kleines Wunder geschah, und ein Verleger die Zeit für Superman gekommen sah. Jerome Siegel und Joe Shuster erfanden ihren Helden 1933 (siehe auch Tom Andraes Interview mit Siegel und Shuster in diesem Band), mußten aber erst fünf Jahre lang vergebens Klinken putzen, ehe ihr Held 1938 erstmals in der Zeitschrift Action Comics erscheinen konnte. Die Rechte an ihrer Figur kaufte man ihnen für 130 Dollar ab. Obwohl sie sich selbst die Vermarktung ihrer Erfindung hatten vorstellen können, hatten sie keinen Anteil an der Industrie, die sich aus der Superman-Figur entwickelte. Ganz zu schweigen davon, daß sie auch an den multime-

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VI.3 Medialität

dialen Auswertungen der Superman-Figur nicht beteiligt waren. Immerhin bezahlt der Medienkonzern Warner Communications seit 1977 an Siegel und Shuster eine jährliche Rente von 24000 Dollar, nachdem der Zeichner Neal Adams in Presseberichten vehement die Frage gestellt hatte, ob Superman Siegel und Shuster retten könne. Um eine negative Presse zu vermeiden, und weil Supermans Image konsequent sauber bleiben sollte, entschloß man sich nicht nur zu dieser finanziellen Unterstützung der Väter Supermans, sondern fügte hinfort in alle neuen Geschichten unter dem Titel den Zusatz »Erfunden von Jerry Siegel und Joe Shuster« ein. Nachdem sich binnen kürzester Zeit gezeigt hatte, daß Superman die Serie war, die Action Comics verkaufen half, bekam der übermächtige neue Held im Sommer 1939 sein eigenes Heft, dann einen Comic- Strip zur Veröffentlichung in den Tageszeitungen und eine eigene Rundfunk-Hörspielreihe, die zunächst von Montag bis Freitag in 15minütigen Fortsetzungsgeschichten ausgestrahlt wurde, später dann mit halbstündigen Einzelepisoden einmal pro Woche. Diese Rundfunkserie wurde erst eingestellt, nachdem Superman in den fünfziger Jahren ins Fernsehen übergewechselt war, wo er fünf Jahre lang in Halbstundensendungen zu sehen war, die noch heute in Wiederholungen von amerikanischen Fernsehstationen ausgestrahlt werden. 1942 bis 1943 drehten Dave und Max Fleischer für Paramount 17 SupermanZeichentrickfilme in Vollanimation, die fast noch liebevoller gemacht waren als ihr Gulliver-Film. 1942 erschien ein erster Superman-Roman von George Lowther, 1948 entstanden zwei Film-Serials um Superman, von denen jenes mit Kirk Alyn in der Rolle des Superhelden die höchsten Einnahmen aller Film-Serials erwirtschaftete. Als zweiteiliger Film kam es auch in deutsche Kinos, just als man einen ersten Versuch unternahm, Superman-Comic-Hefte auf dem deutschen Markt heimisch zu machen. 1950 entstand ein weiterer Superman-Film, 1966 hatte am Broadway das Musical »It’s a Bird… It’s a Plane… It’s Superman« Premiere. Außerdem produzierte man immer wieder neue (aber wesentlich billiger als von den Fleischers gemachte) Zeichentrickfilme, in denen Superman über amerikanische Fernsehschirme fliegen konnte. Jede der verschiedenen Medieninkarnationen änderte im Verlauf der vielen Jahrzehnte Superman ein wenig. So bekam Superman einen jungen Freund, den Nachwuchsreporter Jimmy Olsen, dank der Hörspielreihe, damit Superman und Clark Kent jemanden hatten, mit dem man sich aussprechen konnte. Hätte Superman immer nur mit sich selbst gesprochen, wäre er wohl von den Hörern nicht für ganz normal gehalten worden. Auch die vier Breitwand-Superman-Filme, die seit 1978 entstanden, änderten ihrerseits die Vorlage so ab, daß der überirdische Aspekt breit ausgespielt wurde. Eine Folge war, daß Superman – anders als in den Heften – nicht nur durch die Zeit reisen, sondern auch die Vergangenheit ändern konnte, um die tote Lois Lane wieder ins Leben zurückzurufen. Insgesamt hatte sich die Verfilmung so weit von der Vorlage entfernt, daß sie nicht in Comic-Form vermarktet wurde. Die Diskrepanz des Superman-Films von 1978 zum Comic-Superman des gleichen Jahres ergab sich daraus, daß die Drehbuchautoren und -überarbeiter Mario Puzo, Robert Benton, David und Leslie Newman, Tom Mankiewicz und Co. ihre Story aus der Anfangszeit des Superhelden ableiteten. Daraus erklärt sich unter an-

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derem, daß in den Heften Supermans Erzfeind Lex Luthor inzwischen glatzköpfig und gegen Perücken allergisch geworden war, im Film aber Perücken tragen konnte. Als Lex Luthor 1940 bei einem ersten Auftritt – wie im Film – mit einer Erdbebenmaschine droht, waren ihm die Haare noch nicht ausgegangen. Wenn also die Geschichten, die tatsächlich noch Siegel und Shuster geschrieben und gezeichnet hatten, die Grundidee für das Filmdrehbuch lieferten, wäre es nur recht und billig gewesen, sie an den Einnahmen des Films zu beteiligen. Berechtigter zumindest als jene Nachforderung von 50 Millionen Dollar, die Marlon Brando angeblich wegen einer entgangenen Umsatzbeteiligung forderte, obwohl er bereits ein Superhonorar von drei Millionen Dollar für 13 Drehtage als Jor-El erhalten haben soll. Allerdings lenkte der Film das Augenmerk der amerikanischen Öffentlichkeit so stark auf Siegel und Shuster, daß – wie bereits erwähnt – der Warner-Konzern eine Art Jahresrente mit den Erfindern der Superman-Figur aushandelte. Superman hat sich in fünf Jahrzehnten stets den Zeitströmungen angepaßt, sonst hätte er wohl kaum so lange überlebt. War er ursprünglich noch der kernige Kämpfer für die amerikanische Sache, der in keinem Soldatentornister fehlen durfte, wandelte er sich nach dem II. Weltkrieg zu einer von seiner Umwelt eher malträtierten Gestalt. War er während des II. Weltkriegs in seiner Identität als Clark Kent noch der Fußabstreifer für den Unmut von Superman-Freundin Lois Lane, wurde er nach dem II. Weltkrieg sogar als Superman zum zwar aufrechten, aber doch von allerlei Streichen gepiesackten Über-Durchschnittsmenschen. Um mit den Comic-Heften noch mehr Auflage zu erreichen, erfand man auch die Geschichten aus der Zeit, als Superman noch ein Junge war: Superboy wurde geboren. Das stand eigentlich im Widerspruch zu dem bis dahin vertretenen Konzept, daß Superman nach und nach stärker geworden war und erst als Erwachsener Supertaten vollbracht hatte, aber die Leser schluckten die Änderung. Ein prinzipieller Fehler steckte jedoch von Anfang an in den Superboy-Geschichten. Da Superman erstmals 1938 in einem eigenen Heft aufgetreten war, mußte er seine Kindheit auf Erden kurz nach dem I. Weltkrieg verlebt haben. Und damit wurde er eigentlich allmählich etwas zu alt, um ein Jugendidol bleiben zu können. Ein ähnliches Problem plagte Agatha Christie mit ihrem Krimihelden Hercule Poirot, der von Anfang an zu alt angelegt war, um problemlos über Jahrzehnte hin taufrisch bleiben zu können. Die Autoren konzentrierten sich daher darauf, Superboy immer wieder weit in die Zukunft reisen zu lassen, wo er auf eine Vielzahl anderer Superhelden traf, die letztlich ihre eigene Serie bekamen. Schließlich erklärte man dem Leser, die Abenteuer, die Superman vor einem bestimmten Zeitpunkt erlebt hätte, wären auf einer ganz anderen Erde in einem Paralleluniversum geschehen. Flüchtigkeitsfehler, die Siegel und Shuster in den ersten Geschichten gemacht hatten, schienen die einmal gefundene Erklärung elegant zu erklären. Gleichzeitig wurden Superboys Erlebnisse in eine Zeit verlegt, in der es bereits Fernsehen gab, mithin auch Superman »verjüngt«. Es blieb nicht aus, daß die Unruhen der sechziger Jahre und eine neue, kritischere Generation von Autoren und Zeichnern Superman in Wesen und Erzählung nach ihrem Bilde ummodelte. Prägend blieb dennoch über 30 Jahre lang für das Aussehen Supermans Curtis Swan, dessen gezeichneter Superman als so vorbildlich angesehen wurde, daß man etwa in Superman-Geschichten des Marvel-ComicNeuerers Jack Kirby alle Superman-Köpfe mit Illustrationen von Curtis Swan oder in dessen Stil ersetzte.

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VI.3 Medialität

Von einem relativ naiven Helden mit Schwarzweißklischees wurde Superman zu einer relativ komplexen Figur, die nicht mehr nur unreflektiert Gutes tut, sondern angesichts mancher menschlichen Marotten und der Gewalt der Natur eine gewisse Ohnmacht beweist und eine Selbstverantwortung des Menschen postuliert, derer sich der Mensch nicht entledigen kann, indem er sich auf höhere Wesen beruft oder verläßt. Nach dem Kinostart des Superman-Films von 1978 konnte man allmählich den Eindruck gewinnen, daß Supermans Comic-Ära zur Neige ging. Curtis Swan schien müde seines Zeichenamts, neue Zeichner und Texter von der Konkurrenz übernahmen die dort üblichen Seifenoper-Muster und die Fortsetzungsdramaturgie. Schließlich war das Superman-Universum von DC-Comics so aufgebläht und in Paralleluniversen zersplittert, daß man – in einem scheinbaren Anfall von Verzweiflung – die multiple Komplexität dezimierte. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah 1986. Die alternativen Supermänner wurden in einer apokalyptischen Vision beseitigt, schließlich wurde in den USA sogar die Zeitschrift Superman eingestellt. Superman nahm seinen Abschied, heiratete unter falschem Namen und seiner Superkräfte beraubt Lois Lane und bekam einen – Super-Sohn. Diese Geschichte war zwar eine jener »imaginären« Geschichten, wie man sie auch früher schon veröffentlicht hatte, um alternative Superman-Schicksale vorzustellen, um danach die üblichen Geschichten weiterführen zu können. Dennoch war der Ausgang dieser Geschichte so endgültig und so im Einklang mit früheren Erzählungen, in denen immer wieder einmal angedeutet worden war, daß Superman Nachfahren hatte und eines Tages verschwunden war, daß man mit einiger Berechtigung sagen kann, so hätte die Sage vom zweiten Superman geendet. »Imaginär« war diese Geschichte nur insofern, als alle Geschichten um Superman »erfunden« waren. Natürlich dachte niemand daran, den Superhelden einzustampfen. Mit John Byrne, einem Comic-Texter und -Zeichner, dessen Arbeit für die Serie X-Men bei Marvel-Comics Kult-Status erreicht hat, wurde Superman noch einmal ganz von vorne begonnen. Mit einer neuen, modernisierten Origin-Story in der sechs Hefte währenden Miniserie Man of Steel, der dann eine neue Heftreihe Superman folgte, während Action Comics einfach vom alten zum neuen Superman umschwenkte, ohne noch einmal mit Heft l zu beginnen. Der neue Superman ist eigentlich ganz der alte, sprich: der erste Superman. Er ist auf Erden erst nach und nach stark und übermächtig geworden, ohne so nahezu allmächtig zu werden, wie es der zweite Superman war. So hat er zwar wieder stattliche Kräfte, kann aber nicht mehr durch die Zeit reisen und steht eigentlich erst am Anfang seiner Karriere. Auch leben die Zieheltern Ma und Pa Kent noch und können dem angehenden Superman raten, wie er sich verhalten soll. Erzschurke Lex Luthor ist wieder mit von der Partie; er ist diesmal jedoch eher mit dem Kingpin aus der Welt von Spider-Man und Daredevil verwandt. Wie der Marvel-Schurke ist Lex Luthor nun nicht mehr der Superbösewicht, sondern ein übermächtiger König der Unterwelt, der die moderne Technologie meisterhaft beherrscht, mithin der phantastischen Aura beraubt ist, mit der man ihn in den letzten Jahren umgeben hatte, um ein Gegengewicht zu Superman zu haben. Die neue Lois Lane ist so biestig wie die erste Lois Lane, und Jimmy Olsen ist wieder der kleine Reporter, mit dem sich Superman befreundet. Insgesamt gesehen verdankt der neue Superman den Erzählmustern der Konkurrenzfirma Marvel ein gut Teil seiner Neubelebung.

Fuchs: Superman

Auch kommende Generationen können nun einen jugendfrischen Superman erleben, der in einem eigenen Universum lebt, das nur all jenen nicht mehr ganz so vertraut ist, die mit dem alten, respektive den alten Supermännern aufwuchsen. Aber auch in der neuen Inkarnation knüpft Superman an den eigenen Mythos an. Zum 50. Geburtstag runderneuert und noch immer quicklebendig, präsentiert er sich nach wie vor im blau-gelb-roten Dreß, denn die gute Idee vom höheren Wesen, das sich in menschliche Belange einmischt, ist nicht unterzukriegen, auch wenn jede Generation sie nach ihrem Gusto zu modifizieren und inhaltlich zu füllen versucht. Superman ist ein Überlebenskünstler. Was immer ihm auch von Textern und Zeichnern angetan wird, er steckt es weg. Im Grunde genommen hat er schon lange vor »Dallas« vorexerziert, daß man Fehlentwicklungen in den Handlungsstrukturen durch einen Federstrich rückgängig machen kann, wenn nur das Grunderzählmuster und der Charakter der Hauptperson gewahrt bleiben. Solange es noch Texter und Zeichner gibt, die davon träumen wollen, wie Superman sich in der Welt normaler Menschen zurechtfindet, werden auch die Leser mit ihnen den Supertraum träumen. Und vermutlich sogar träumen wollen. Solange sie jung sind und bleiben.

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Genealogie einer hypermedialen Poetik im Zeitalter der Kulturindustrien Die Transmediation von Spider-Mans Ursprungsgeschichte* Désirée Lorenz

Robert Rodriguez’, Frank Millers und Quentin Tarantinos Verfilmung von Frank Millers graphic novel Sin City im Jahre 2005 gilt in der Geschichte der Beziehungen zwischen Comic und Kino als Musterbeispiel für die mediale Hybridisierung. Eine Verfilmung wie jene von Sin City, welche sich am Schnittpunkt von Kino und Comic ansiedelt, markiert nämlich für letzteren in exemplarischer Weise das Erreichen einer Etappe in der Suche nach künstlerischer Legitimität. Andererseits legt die von Matt McAllister gestellte Frage »Blockbuster Meets Superhero Comic, or Art House Meets Graphic Novel?«1 die Vermutung nahe, dass die Verfilmung von Superheldencomics auf eine ganz andere intermediale Dynamik verweist. Während sich die Hybridität von Sin City demnach aus dem Ziel ästhetischer Innovation ergäbe, würde der Superhelden-Blockbuster von rein ökonomischen Interessen zeugen. Die Tendenz von Firmen wie Marvel, den erzählerischen Inhalt als über die medialen Produktionen hinausgehend zu betrachten, verleitet dazu, die Superhelden-Blockbuster als simple Aktualisierung einer Erzählung unabhängig von jedweden Überlegungen zum Comic als einzigartiger und kreativer Form zu verstehen. Was man landläufig »Marvels Haus der Ideen« nennt, entwickelt heute »Inhalte als Objekte, die eher zur intermedialen Lizenzierung bestimmt sind und nicht so sehr als in einem Medium verankerte Produkte betrachtet werden.«2 Ironischerweise sind es die Comic-Verleger und im Besonderen die Marktführer DC Comics und Marvel, welche die Rolle und den Stellenwert des Mediums Co*  Lorenz, Désirée: »Généalogie d’une poétique hypermédiale à l’ère des industries culturelles. Le cas de la transmédiation du récit des origines de Spider-Man.« In: Recherches Sémiotiques/Semiotics Inquiry, Sonderband »La bande dessinée au miroir. Bande dessinée et réflexivité«, hg. v. Denis Mellier, Toronto 2018. Übersetzt von Florian Berger. 1 | McAllister, M., Gordon, I., Jancovich, M., »Blockbuster Meets Superhero Comic, or Art House Meets Graphic Novel? The contradictory relationship between Film and Comic Art«, in: Journal of Popular Film and Television, Bd. 34, Nr. 3, 2006, S. 108-114. Wir übersetzen: »Blockbuster trifft Superheldencomic oder Kunstfilm trifft Bildroman?« 2 | Stefanelli, M., Maigret, E., »La bd, nouvelle matrice des séries télévisées«, Médiamorphoses, Sonderausgabe, Paris, Ina/Armand Colin, 2007, S. 166.

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mic herabsetzen. Der Aufkauf von Marvel Entertainment im Januar 2010 durch den größten Unterhaltungskonzern weltweit, die Walt Disney Company, deren Ruf zum Großteil auf der Realisierung von Animationsfilmen für Kinder beruht, ist diesbezüglich erhellend. Indem sie das Bestreben nach Sichtbarkeit und Massenverbreitung, welches mit dem ökonomischen Rentabilitätsprinzip im Zusammenhang steht, zu einem der Hauptinteressen ihrer kulturellen Produktion machen, stürzen die Kulturindustrien unser Verhältnis zur Erzählung dadurch um, dass sie einerseits ihre Ausdrucksform vernachlässigen und ihr andererseits vielfältige Formen der medialen Verbreitung eröffnen.3 Heute finden Superheldenerzählungen ihren Ausdruck in einer weit gefächerten Medienwelt, die vom Film über den Roman zum Videospiel reicht. Und der Comic, das eigentliche Ursprungsmedium, wird selbst zu einem unter vielen medialen Trägern einer übergeordneten, dominierenden und sich verselbstständigenden Erzählung. Da laut Adorno der Entwicklung der Produkte der Kulturindustrie ein Vermarktungsprinzip zugrunde liegt, welches der genauen Konstruktion der Inhalte wenig Bedeutung zumisst, müssen die Darstellungen und die sozialen Normen, die von der Erzählung vermittelt werden, vom Status quo herrühren, um in der Masse Anklang zu finden. Als Träger von »Werbung für die Welt, wie sie ist«,4 schaffen die Kulturindustrien wahrhaftige Instrumente für die Reproduktion von Ideologien. Zumal sie auf der Überdeckung eines Hypomediums – dem Comic – zugunsten der Transmediation eines konsensfähigen Intertextes – der Superheldenerzählung – basiert, stellt die hypermediale Poetik der Blockbuster eine zutiefst politische Praktik dar. Von den vielen Schichten des Palimpsestes, welches Marvel heute darstellt, haben wir die Erzählung über den Ursprung Spider-Mans zur näheren Betrachtung ausgewählt, um ihre Geschichte von ihrer Aneignung in Form der ersten, zensierten französischen Übersetzungen in den 60er Jahren bis hin zu Sam Raimis Verfilmung im Jahre 2002 nachzuzeichnen. Wir werden die normative Evolution des Comics als Medium wie auch als Erzählung aufzeigen. Wenn sie auch nicht zur Anerkennung des Comics als Kunstform beiträgt, werden wir dennoch sehen, dass die zeitgenössische Transmediation der Superheldenerzählung davon zeugt, dass die Superheldenfigur einen mehrheitsfähigen, normativen Status erlangt. Wir werden also die poetischen Konsequenzen einer solchen axiologischen Umkehrung betrachten sowie die politische Dimension, welche ihnen zugrunde liegt.

S pider -M an oder der U rsprung eines V igil antenmy thos Die Figur des Spider-Man, welche vom Szenaristen Stan Lee und vom Zeichner Steve Ditko für den Comicverlag Marvel geschaffen wurde, taucht zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten im Jahre 1962 auf, in der letzten Ausgabe der untergehenden Science-Fiction-Zeitschrift Amazing Fantasy. Erzählt wird die Geschichte eines Jugendlichen, Peter Parker, der, von den Naturwissenschaften begeistert, von Komplexen geplagt und von seinen Klassenkameraden malträtiert, bei seinem On3 | Vgl. Groensteen, T., »Fictions sans frontières«, in: Gaudreault, A., Groensteen, T. (Hg.), La transécriture. Pour une théorie de l’adaptation. Littérature. Cinéma. Bande dessinée. Théâtre. Clip, Québec, Nota Bene, 1998, S. 9-30. 4 | Adorno, T., »L’industrie culturelle«, Communications, Nr. 3, 1964, S. 13.

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kel Ben und seiner Tante May wohnt. Als er bei einem Unfall im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments, dem er beiwohnt, von einer radioaktiven Spinne gebissen wird, entwickelt Peter Parker Superkräfte, die ihm einer Spinne ähnliche körperliche Fähigkeiten verleihen, wie zum Beispiel die Fähigkeit, an Wänden zu haften, und überhaupt eine außerordentliche Kraft und Agilität. Peter Parker nutzt seine Fähigkeiten zuerst, um Geld zu verdienen, indem er an einem illegalen Faustkampf sowie an einem Fernsehspektakel teilnimmt, für das er sich als »Spider-Man« – wortwörtlich als Spinnen-Mann – verkleidet. Als er aus dem Aufnahmestudio tritt, lässt er willentlich einen Dieb entwischen, unter dem Vorwand, dass dies nicht seine Aufgabe sei, obwohl ihn ein Polizist um Hilfe bittet. Einige Zeit später wird sein Onkel von einem Einbrecher getötet. Peter Parker zieht sein Spider-Man-Kostüm wieder an und nimmt die Verfolgung des Mörders auf, der sich als jener Dieb herausstellt, den er entwischen ließ. Diese Anfangsepisode endet mit dem Bild einer einsamen Silhouette im Zwielicht, von großen, schwarzen und drohenden Wohngebäuden umgeben, bei Vollmond. Dieses letzte Panel ist von zwei Bildlegenden umrahmt: die eine, unten im Rahmen, gibt uns zu verstehen, dass in der Fantasiewelt eine Legende geboren ist. Die andere, oben im Rahmen, enthält die Moral dieser Geschichte, die zu einem Leitmotiv der Superheldenwelt werden wird: »With great power must also come… great responsibility.«5 Aufgrund des Erfolgs dieser Ausgabe beschließt Marvel, der Figur ihre eigene Serie zu widmen, The Amazing Spider-Man (1963-1998), welche als diejenige betrachtet wird, die das Superhelden-Genre am stärksten beeinflusst und am meisten zu seiner Weiterentwicklung beigetragen hat. Laut Cary D. Adkinson6 ist Stan Lees und Steve Ditkos Erschaffung einer Welt, in der die Gerechtigkeit vor allem davon abhängt, dass die Bürger ihre Macht verantwortungsvoll einsetzen, ein ideales Studienobjekt, um die Beziehungen zwischen Popkultur und Strafjustiz zu erforschen. Genauer gesagt verkörpert SpiderMan einen besonderen Typ des Rächers, der als »Vigilant« bezeichnet wird. Der Vigilantismus definiert sich als ein spezifischer Modus der informellen, sozialen Kontrolle, welcher grundlegend mit der Geschichte der Vereinigten Staaten verbunden ist, angefangen bei der Eroberung des Westens bis hin zur Kultur der Feuerwaffe. Adkinson zufolge existiert eine enge Verbindung zwischen der Geschichte des Vigilantismus und jener der US-amerikanischen Strafjustiz, die an den kontinuierlichen Debatten über die Grenzen der Rechte des Individuums bzw. der Verfassungsrechte verdeutlicht werden kann. Ursprünglich vertreten die Verfechter des Vigilantismus die Meinung, das US-amerikanische Justizsystem sei aufgrund seiner zu komplizierten und oft nutzlosen Prozeduren nicht in der Lage, die Sicherheit des Bürgers allein zu garantieren, und es sei deshalb nötig, persönlich für die Ausübung der Gerechtigkeit einzustehen.7 Spider-Mans Entscheidung, als maskierter Rächer in einem außerrechtlichen Rahmen zu handeln, findet ihren Ursprung in beispielhafter Weise in einer persönlichen Tragödie. Diese resultiert 5 | Amazing Fantasy #15, letzte Seite, letztes Panel. Wir übersetzen: »Grosse Macht verpflichtet zu grosser Verantwortung«. 6 | Adkinson, C. D., »The Amazing Spider-Man and the Evolution of the Comics Code: A Case Study in Cultural Criminology«, Journal of Criminal Justice and Popular Culture, Bd. 15, Nr. 3, 2008, S. 251. 7 | Vgl. Madison, A., Vigilantism in America, New York, Seabury, 1973.

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zum einen aus der Unfähigkeit des Systems, einen Dieb zu verhaften und im Allgemeinen für die Sicherheit und den Schutz der Bürger zu sorgen, zum anderen aber auch aus seinem eigenen Verschulden, nichts dagegen unternommen zu haben. Durch diese Tragödie erkennt er die Grenzen der Justiz und widmet sein Leben der Schaffung von Gerechtigkeit, wo immer die Justiz darin versagt. Obwohl Spider-Man auf individuelle Weise und ohne rechtliche Grundlage Justiz übt, kann man The Amazing Spider-Man dennoch als einen »non-subversive comic with slight counter-hegemonic tendencies«8 definieren, wie es Jeff Williams tut, da der Superheld darin stets Garant der Werte der dominierenden Kultur ist. Der Vigilantismus, wie er in The Amazing Spider-Man am Werk ist, muss also in seiner Art, die Beziehung zwischen den individuellen Bürgern und der Ausübung der Justiz zu problematisieren, als essentieller Baustein einer nationalen Eigenheit betrachtet werden.

Ü berse t zung Die Figur des Spider-Man erscheint in Frankreich zum ersten Mal in der vierten Ausgabe der Zeitschrift Fantask vom Mai 1969, die vom Verlag Lug in Lyon herausgegeben wird. Fantask wird ab Erscheinen der ersten Ausgabe im Februar 1969 als schädlich eingestuft, wie es aus dem Protokoll vom 12. März 1969 der dem Justizministerium angegliederten Kommission zur Überwachung und Kontrolle hervorgeht. Diese Kommission wurde in den Tagen nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen, um den Inhalt von für Kinder bestimmten Publikationen zu kontrollieren, und urteilt auf Grundlage des diesbezüglichen Gesetzes vom 16. Juli 1949: »Diese neue Publikation ist aufgrund ihrer verängstigenden Science-Fiction, der Kämpfe mit traumatisierenden Monstern und der Erzählungen beklemmenden Inhalts, begleitet von Bildern in lebhaften Farben, besonders schädlich.«9 Fantask wird am 25. April 1969 in Verzug gesetzt und am 4. Juni desselben Jahres eingestellt, nach Veröffentlichung von sieben Ausgaben, welche die Übersetzung der drei ersten Ausgaben der Serie The Amazing Spider-Man enthalten. Zwei neue Monatszeitschriften, Strange und Marvel, werden vom Verlag Lug im Januar und April 1970 ins Leben gerufen. Um sich vor der Zensur zu schützen, wird in den sieben ersten Ausgaben der Zeitschrift Marvel die Ästhetik des Comics weiterentwickelt, mit der Wahl eines kleineren Formats (13x18 cm) und einer reduzierten Anzahl Panels pro Seite. So wird aus einer Bildtafel mit einem klassischen 3x3-Raster, wie in Fantask, eine, die nur 2x2 Panels enthält. Diese Raumreduktion bringt Änderungen des visuellen und textuellen Inhalts mit sich. Während man beispielsweise in einem Panel der Nummer 4 von Fantask Peter Parker die Treppe hinuntergehen und im Hintergrund eine auf den Tisch im angrenzenden Raum gestellte Lampe sieht, verschwinden letztere Objekte in der Übersetzung, die in der ersten Ausgabe von 8 | Williams, J., »Comics: A Tool of Subversion?«, Journal of Criminal Justice and Popular Culture, Bd. 2, Nr. 6, 1994, S. 131. Wir übersetzen: »nicht-subversiver Comics mit leichten anti-hegemonialen Tendenzen«. 9 | Das Protokoll wird zitiert im Eintrag »Marvel« in: Joubert, B., Dictionnaire des livres et journaux interdits, par arrêtés ministériels de 1949 à nos jours, Paris, Editions du Cercle de la Librairie, 2007, S. 559-562.

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Marvel abgedruckt ist, und man sieht also nur Peter Parker die Treppe hinuntergehen.10 Bezüglich des Textinhalts lässt sich ebenso beobachten, dass die Verkleinerung der Sprechblasen eine Umformulierung in weniger Zeichen nach sich zieht. Eine Blase, die auf einem Panel in Fantask zum Beispiel 16 Worte umfasst: »Zeigen Sie mir Ihre Papiere! Haben Sie eine Sozialversicherungskarte oder Ihren Führerschein im Namen der Spinne«,11 hat in Marvel nur noch deren sieben: »Haben Sie Papiere im Namen der Spinne?«.12 Die Reduktion des Formats bringt also gewisse subtile Änderungen mit sich, welche den Inhalt nicht tangieren, jedoch zu einer qualitativen Verarmung des Mediums führen. Auf der anderen Seite wird der Raumverlust stark durch den Zweifarbendruck unterstrichen. In den sieben ersten Ausgaben wechseln sich Seiten mit grünen oder violetten Farbnuancen mit schwarzweißen ab. Wenngleich der Übergang zum Zweifarbendruck den Inhalt der Erzählung nur oberflächlich zu berühren scheint, verändert die Farbverschiebung des Spider-Man-Kostüms doch sowohl in visueller als auch in substantieller Weise die Identität des Superhelden. Tatsächlich trägt Spider-Man, wie so mancher Superheld, ein Kostüm, dessen Rot- und Blautöne Assoziationen mit der US-amerikanischen Flagge wecken. Bald weiß und violett, bald weiß und grün, erlaubt das Kostüm im Zweifarbendruck also nicht mehr, SpiderMan als US-amerikanischen Superhelden zu identifizieren. Infolge zahlreicher Beschwerden in Leserbriefen wird Marvel ab der achten Ausgabe im November 1970 erneut im Großformat (17x24) und in Farbe publiziert. Am 16. Dezember 1970 konnte man also im Protokoll der Kommission zur Überwachung und Kontrolle lesen: »Es gibt nur Horror und Brutalität in dieser Publikation […].«13 Nachdem die Kommission den Verlag Lug während Monaten unter Druck gesetzt hat, wird die Zeitschrift Marvel für Minderjährige verboten und schließlich nach der dreizehnten Ausgabe im April 1971 eingestellt.

I nterkultureller K onflik t Schon vor der Zensur der Zeitschriften Fantask und Marvel gaben die Superhelden der Kommission zur Überwachung und Kontrolle Anlass zu Beanstandungen. In einem Protokoll von 1965 ordnete die Kommission die Superhelden in die Kategorie »Verletzung der Menschenwürde«14 ein. Die Zensur der Superheldencomics beschränkte sich bei Weitem nicht auf Frankreich und ist in eine generelle und weltweite Welle der Regulierung von Freizeitaktivitäten und von der für die Jugend bestimmten Presse einzuordnen, die durch das Klima des moralischen Wiederaufbaus nach dem Krieg bedingt war. Der Verruf, in welchem die Comics standen, entstand nicht nur aus moralischen und erzieherischen Kampagnen und Unternehmungen in Frankreich,15 sondern stützte sich auch auf Analysen, welche die 10 | Fantask, Nr. 4, 1969, S. 53; Marvel, Nr. 1, 1970, S. 72. 11 | Fantask, op. cit., S. 75. 12 | Marvel, op. cit., S. 55. 13 | Eintrag »Marvel«, in Joubert, B., op. cit., S. 559. 14 | Ebd. 15 | Vgl. Joubert, B., »Haro sur la gangster!«. La moralisation de la presse enfantine. 19341954, Paris, CNRS Édition, 2001.

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schädlichen Auswirkungen dieses Mediums auf die Psyche und das Verhalten von Kindern unterstrichen, so jene des amerikanischen Psychiaters Fredric Wertham in The Seduction of the Innocent.16 Während Frankreich, gestützt auf das Gesetz von 1949, durch eine dem Justizministerium unterstellte Kommission eine öffentliche Kontrollfunktion über für die Jugend bestimmte Werke nach deren Publikation ausübte, erfolgte die US-amerikanische Zensur vor der Publikation durch eine Vereinigung von Comic-Verlagen, die Comics Code Authority, eine selbstregulierte Organisation mit der Funktion, die Anwendung des Comics Code zu überwachen. Jean-Paul Gabilliet17 zufolge waren die hauptsächlichen Folgen der Einführung der Comics Code Authority der Niedergang von Horrorillustrierten und von Crime Comics, welche die Zensoren primär im Visier hatten, sowie die Räumung des Feldes für Verlage wie Marvel und DC, um nur die bekanntesten zu nennen, die den Markt in den 60er Jahren dominieren sollten. Das Wiederaufleben des Superhelden-Genres in den USA der 60er Jahre, das zuvor einen Popularitätseinbruch erlebt hatte, kann durch die Tatsache erklärt werden, dass ihm plötzlich Platz gelassen wurde, aber auch durch seine Konformität mit den von der CCA aufrechterhaltenen vorherrschenden sozialen Normen. Zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Übersetzung in Frankreich im Jahre 1969 sind die ersten Ausgaben von The Amazing Spider-Man also schon von der CCA durchgekämmt worden, was als Garantie für die Moral und den Anstand der Inhalte gilt. Da sie mehrheitlich den Kampf des Superhelden gegen gesetzlose Individuen darstellen, welche die bürgerlichen Normen in Frage stellen, verstoßen die Gewaltdarstellungen nicht gegen den zweiten Artikel des Gesetzes von 1949, dessen Kriterien für ihre Beurteilung angewendet werden: »Die Publikationen, auf welche der erste Artikel abzielt, dürfen keine Illustration, keine Erzählung, keine Chronik, keine Rubrik und keinen Einschub enthalten, die Gangstertum, Lüge, Diebstahl, Faulheit, Feigheit, Hass, Ausschweifung oder jegliche Taten, die als Vergehen oder Verbrechen gelten oder Kinder oder die Jugend zu demoralisieren drohen oder sexistische oder ethnische Vorurteile wecken oder bestärken, in gutem Licht erscheinen lassen.«18 Im Gegenteil: Die Superhelden erscheinen als Figuren, die Gesetz und Ordnung an jene Orte bringen, wo die Ausübung der Justiz durch die Gesetzesvertreter nicht gegeben scheint. Der Comics Code, der in seiner Substanz dem zweiten Artikel des französischen Gesetzes ebenbürtig ist, verbot zum einen positive Darstellungen des Verbrechens: »Crimes shall never be presented in such a way as to create sympathy for the criminal, to promote distrust of the forces of law and justice, or to inspire others with a desire to imitate criminals.«, und zum anderen die Darstellung jeglicher für exzessiv erachteter Gewalttaten: »Scenes of excessive violence shall be prohitibed. Scenes of brutal torture, excessive and unnecessary knife and gun play, physical agony, gory and gruesome crime shall be eliminated.«19 Die Zensur der Comics zeugt 16 | Wertham, F., Seduction of the Innocent, New York, Rinehart and Company, 1954. 17 | Vgl. Gabilliet, J.-P., Des comics et des hommes. Histoire culturelle des comic books, Nantes, Éditions du temps, 2005. 18 | www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORF TEX T000000878175&idAr tic​ le=&dateTexte=20101226 19 | Nyberg, A. K., Seal of Approval. The History of the Comics Code, Jackson, University Press of Mississippi, 1998, S. 166, für beide Zitate. Wir übersetzen: »Verbrechen sollen nie in einer Art dargestellt werden, welche Mitleid mit dem Kriminellen erregt, Misstrauen in die

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somit mehr von einem politischen als von einem moralischen Konflikt. Laut JeanMathieu Méon situiert sich die Debatte über die Regulierung der Jugendpresse im ökonomischen und politischen Kontext des Kalten Krieges, der die Stigmatisierung der Comicinhalte als US-amerikanisches Kulturobjekt begünstigt und die ideologische Dimension der Erzählungen verschärft.20 In den Leserbriefen, welche die letzte Ausgabe der Zeitschrift Fantask abschlossen, bemerkte ein Leser: »Wieso greift die Zensur nicht Kriegscomics an? Man möchte den Jugendlichen wohl um keinen Preis die Freude am Krieg und an den ›Helden‹-Erzählungen nehmen.«21 So zielte die Zensur der Gewalt, die in den Protokollen der Kommission erwähnt wird, eher auf ein spezifisches Gewaltmodell ab als auf Gewalt als solche. Wie es das Beispiel der unterschiedlichen Behandlung der Superheldencomics und der Kriegscomics erkennen lässt, wird Gewalt positiv gewertet, wenn sie als den staatlichen Interessen dienend betrachtet wird. In der Tat widerspricht das US-amerikanische, vigilantistische Modell dem der sozialen Kontrolle, wie es im Frankreich der 60er Jahre in Kraft ist. Als Produkt der Kulturindustrie der Vereinigten Staaten wird der nach Frankreich importierte Superheldencomic zu einem subversiven Kulturprodukt, das gegenkulturelle Werte vermittelt und als »engagierter Comic«22 eingestuft wird. Ein Kulturprodukt erscheint als gegen-normativ oder gegenkulturell, wenn die Normen, die es vermittelt, zu den im soziokulturellen Kontext seiner Verbreitung vorherrschenden Normen in Kontrast stehen, und zwar ungeachtet seiner politischen Zugehörigkeit. Im vorliegenden Falle widerspricht die Gegen-Normativität der vigilantistischen Inhalte der Superheldencomics im Frankreich der 60er Jahre der national und kulturell verankerten Regulierung der sozialen Ordnung. Oder, um die Webersche Wortwahl zu benutzen: Der Staat hat seit jeher das Monopol der legitimen, körperlichen Gewalt. Da die Zensur immer da zur Anwendung kommt, wo die Gegenkultur sich manifestiert, ist es nicht erstaunlich, dass sie dort ausgeübt wurde, wo der Vigilantismus sichtbar war, und somit zur Unsichtbarmachung eines Modells der spezifischen, sozialen Kontrolle und zur Abwertung des Superheldencomic als Medium und Erzählung beitrug.

R ücküberse t zung 2002, also fast ein halbes Jahrhundert nach der ersten Zensur der Superheldencomics, erscheint beim Verlag Marvel France die erste Ausgabe von Spider-Man: L’intégrale, welche die sieben ersten Ausgaben der Geschichte von Spider-Man enthält, die zwischen 1962 und 1963 publiziert wurden. Eine »intégrale« ist das franHüter von Gesetz und Justiz fördert oder in Anderen den Wunsch weckt, Kriminelle nachzuahmen.« »Szenen exzessiver Gewalt sollen verboten sein. Szenen brutaler Folter, exzessiven und unnötigen Messer- oder Schusswaffengebrauchs, physischen Leidens, blutigen und grausamen Verbrechens sollen eliminiert werden.« 20 | Méon, J.-M., »La protection de la jeunesse comme légitimation du contrôle des médias«, Amnis [online], Nr. 4, 2004, hochgeladen am 1. September 2004, aufgerufen am 22. April 2013. URL : http://amnis.revues.org/720. 21 | Editorial der letzten Ausgabe von Fantask, Nr. 7, 1969, S. 70. 22 | Fantask, op. cit., S. 70.

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zösische Gegenstück zu einer von Comicverlagen »hardcover« genannten Ausgabe, also einer Geschichtenreihe in broschierter und gebundener Form sowie im Großformat. Jeder Band einer »intégrale« versammelt so die Ausgaben eines ganzen Jahres einer Reihe. Ein kurzer Überblick über die paratextuellen Elemente erlaubt es uns sofort, eine konkrete Aufwertung des Comics festzustellen. Die erste Seite von L’intégrale enthält Angaben, die bis dahin in vorangehenden Publikationen vernachlässigt wurden. Neben den Namen von Stan Lee und Steve Ditko wird auch der Name der Übersetzerin, Geneviève Colomb, genannt. Diese Information hebt zusammen mit der Zeitangabe »1962-1963« auf dem Deckblatt eine neue Übersetzungsarbeit hervor, die spezifisch auf den ursprünglichen, USamerikanischen Comics basiert. Die Publikation der Intégrale ist nicht einfach eine Neuauflage der zuvor vorliegenden Übersetzungen, sondern tatsächlich eine Neuübersetzung der ursprünglichen Comics. L’intégrale enthält außerdem ein Vorwort von Stan Lee, das einer solchen Ausgabe die nötige Autorität verleiht und gleichzeitig kein Wort über die Zensur der Comics verliert. Somit geschieht unter dem Deckmantel der Neuübersetzung in Wirklichkeit die Verleugnung der besonderen Geschichte der Rezeption der Comics in Frankreich. Indem Informationen wie der Namen der Übersetzerin geliefert werden oder auch dem Werk ein Vorwort hinzufügt wird, verwandelt sich der Comic und wird durch die Angleichung an die verlegerischen Konventionen des Buchdrucks aufgewertet. Des Weiteren folgt die Reihenfolge der Episoden in L’intégrale zum ersten Male in der Geschichte der französischen Übersetzungen von Spider-Man einer erzählerischen und nicht einer editorischen Logik. Bezeichnenderweise ist die Episode, die dem Leser als Erstes vorgesetzt wird, nicht die erste der Serie Amazing SpiderMan (1963), sondern die Episode »Spider-Man«, welche in der letzten Ausgabe der Serie Amazing Fantasy (1962) enthalten ist. Diese erste Episode war bis dahin in Frankreich nur einzeln in zwei Zeitschriften übersetzt worden, nämlich Iron Man (1980) und Strange Spécial Origines (1981). Während die Zeitschrift Fantask (1969) nur die ersten drei Ausgaben der Serie Amazing Spider-Man enthielt und die Zeitschrift Marvel (1970) Übersetzungen der ersten 18 Episoden unter Auslassung der Episoden 4, 6, 7 und 8 umfasste, wird in der Intégrale zudem erstmals die chronologische Abfolge beibehalten, die den Ablauf der Erzählung respektiert. Während also die Publikation im Kioskformat oder als »single« in ihrer Bruchstückhaftigkeit und zeitlichen Ausdehnung bis dahin eine stückweise Lektüre nach sich zog, so ist nun eine intensive Lektüre möglich. Nicht nur erlaubt die Gesamtausgabe dem Medium Comic, Anspruch auf einen Platz im Bücherregal zu erheben, da es sich im Buchformat nun einem Medium angleicht, dessen kulturelle Anerkennung außer Frage steht, sondern die Erzählung gewinnt auch dadurch eine gewisse Legitimität, dass sie nicht mehr seriell funktioniert, sondern sich Kunstwerke zum Vorbild nimmt. Wenngleich zunehmend anerkannt wird, dass die Serienlektüre von spezifischen Kompetenzen zeugt, die nicht weniger komplex sind als jene klassischer Werke,23 ist die Produktion in Serie doch historisch mit dem Erscheinen einer industriellen Medienproduktion verbunden, die auf dem Prinzip der technischen Reproduzierbarkeit fußt, anwendbar sowohl auf das Buch als medialem Objekt als auch auf die Erzählung 23 | Bleton, P., Ça se lit comme un roman policier… comprendre la lecture sérielle, Québec, Nota bene, 1999.

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als Inhaltsform. Anders ausgedrückt, definiert sich eine Serie wie Amazing SpiderMan als ein Produkt der Kulturindustrie, weil sie unter anderem in den Genuss einer großen Auflage an ähnlichen Exemplaren kommt, die von einer kalibrierten Matrize ausgehend produziert werden, aber auch weil sie aus einer narrativen Strategie hervorgeht, die auf dem Wiederauftreten standardisierter, kanonischer und in weit verbreiteten Darstellungen und Normen verankerter Erzählschemata basiert.24 Die Veröffentlichung einer Gesamtausgabe dekonstruiert auf der Inhaltsebene partiell die Reproduktionskette, indem sie die Diachronie wiederherstellt. Der Übergang von der »single« zum »hardcover« zeugt also von der Gleichsetzung der Massenmedienprodukte mit Objekten der sogenannten »klassischen« Kultur, womit er den Normalisierungsprozess des Superheldencomics begründet.

V erfilmung Diese Aufwertung des amerikanischen Comics im französischen Verlagswesen geht mit einem weltweiten Sichtbarmachungsprozess der Superheldenerzählung durch die Überführung in andere Medien einher. Mit einem Einspielergebnis von 403,7 Millionen Dollar ist die Verfilmung Spider-Man von Sam Raimi, die in den USA am 3. Mai 2002 und in Frankreich am 12. Juni desselben Jahres herausgekommen ist, der weltweit meistgesehene Film des Jahres 2002. Spider-Man bringt Spider-Mans Ursprungsgeschichte auf die große Leinwand und bedient sich für seine Filmwelt der Welt der letzten Ausgabe von Amazing Fantasy sowie jener der ersten Ausgaben von Amazing Spider-Man. Präsentiert werden die wichtigsten, die Identitätsbildung der Figur erlaubenden Vorkommnisse, wie beispielsweise der Spinnenbiss, die Entdeckung der Superkräfte und der Tod von Onkel Ben. Stan Lees Mitarbeit an der Produktion als Executive Producer sowie sein kurzes Auftreten im Film beim ersten Erscheinen des grünen Kobolds, der aus den Figuren von Spider-Mans Welt für die Rolle des Filmbösewichts ausgewählt wurde, verleiht der Verfilmung zusätzliche Legitimität. Ferner steuern diskrete Anspielungen auf Produkte, die auf der Basis der Spider-Man-Welt entwickelt wurden, ihren Teil zur Authentizität der Verfilmung bei. Die Einbindung der berühmten Leitmelodie des Zeichentrickfilms – der 1967 von Grantray, Laurence and Kraz Animation realisiert wurde und dem ursprünglichen Comic entsprach –, hier im Folk-Stil von einem Bettler in der U-Bahn gesungen, platziert Spider-Man definitiv in einem intermedialen Netz, das von einem begründenden Hypotext dominiert wird. Wie Wilson Koh betont, verankert Sam Raimi seine Erzählung in der Welt des ersten Comics – trotz der kürzlichen Neuinterpretationen Spider-Mans in der Serie Ultimate Spider-Man, welche die Erzählung mitten ins 21. Jahrhundert versetzt – und bietet so einen »Nostalgiefilm«, indem er insbesondere jenen lebendigen, warmen und satten Farben den Vorzug gibt, die der Comic-Ästhetik der 60er Jahre angehören, oder aber indem er Anspielungen auf den historischen Kontext macht.25 24 | Vgl. Adorno, T., op. cit.; Eco, U., »Innovation et répétition: entre esthétique moderne et post-moderne«, Réseaux, Bd. 12, Nr. 68, 1994, S. 9-26. 25 | Koh, W., »Everything old is good again: Myth and nostalgia in Spider-Man«, Continuum: Journal of Media and Cultural Studies, Bd. 23, Nr. 5, 2009, S. 735-747. Siehe auch: Flanagan, M., »Ten Trajectories in Spider-Man and Ghost World«, in Gordon, I., Jancovich,

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Dem Verständnis Fredric Jamesons26 zufolge ist das Nostalgiekino beispielhaft für die postmoderne Ästhetik des Pastiche, jener leeren Parodie der Vergangenheit, die mit Historisierung operiert, das heißt mit der Schaffung von stereotypen Darstellungen der Vergangenheit vermittels Anspielungen, Bildanhäufungen und Entlehnungen. Der reelle, historische Bezug verblasst angesichts der Neuentstehung einer idealisierten, hyperstilisierten, visuellen Fantasiewelt. Jameson zufolge beweist die grundlegende Intertextualität der Postmoderne durch das Erschaffen von Darstellungen unserer eigenen Existenz unsere Unfähigkeit, die Gegenwartsgeschichte aktiv zu erfahren, und versetzt somit jeglichem Geschichtssinn den Todesstoß. Laut Koh schöpft Sam Raimi also aus der visuellen Welt des Comics der 60er Jahre, um ein utopisches Zeitalter zu skizzieren, das von den Ereignissen unserer jüngeren Geschichte verschont bleibt. Der Film Spider-Man, der 8 Monate nach den Attentaten des 11. September 2001 herausgekommen ist, ist jedoch eng mit ebendieser unserer jüngeren Geschichte verknüpft, wie Joseph Michael Sommers behauptet.27 Des Weiteren reflektiere der Verlust Onkel Bens und die Trauer Spider-Mans das Trauma des 11. Septembers und man müsse somit Sam Raimis ganze Trilogie (2002-2007) als eine indirekte Reflexion über den 11.09. lesen. Die Abwesenheit eines expliziten Bezugs auf die Attentate erkläre sich durch die Notwendigkeit, die allzu frische traumatische Erfahrung nicht wiederzubeleben und sich vor jeglichem Vorwurf der Kommerzialisierung der Ereignisse zu schützen. Wenngleich der Dreh von Spider-Man (2002) vor den Attentaten des 11.09. stattgefunden hat, zeigt Sommers Perspektive doch den Prozess der Neukontextualisierung auf, der in der medialen Transposition abläuft. Es ist zum Beispiel die Neuinterpretation der identitätsstiftenden Eigenschaften der Spinne, die nicht mehr radioaktiv, sondern genetisch modifiziert ist, die nunmehr an eine Art der Bedrohung anklingt, die für das Publikum des Jahres 2002 zutreffender ist. Außerdem wurde der erste Trailer des Films, in dem ein Spinnennetz zwischen den Zwillingstürmen vorkam, nach den Attentaten nicht mehr ausgestrahlt. Auch wurde das erste Plakat retuschiert, auf welchem SpiderMans Augen das World Trade Center widerspiegelten. Die Referenzwelt des Quellencomics wird nicht nur im Schaffungsprozess des Zielfilms aktualisiert, der sich als Rezeptionsakt eines Objektes aus einer früheren Kultur versteht, sondern sie aktualisiert sich auch in ihrer Rezeption durch das Zielmedium im bestimmten soziokulturellen Kontext ihrer Verbreitung, der auch ihre diskursive Bedeutung formen wird. Die Zensur der Darstellungen des World Trade Centers hat den unmittelbaren und paradoxalen Effekt, einen direkten, hermeneutischen Bezug zwischen Sam Raimis Film und den Attentaten des 11.09. herzustellen. Obschon Koh in seiner Analyse von Spider-Man der nostalgischen Interpretation den Vorzug gibt, hält er dennoch fest, dass zwei Szenen sich auf die Attentate des 11.09. beziehen. Während in der ersten Szene New Yorker Bürger Spider-Man helfen, gegen M., McAllister, M. P., Film and Comic Books, Jackson, University Press of Mississippi, 2007, S. 137-159. 26 | Jameson, F., Le postmodernisme ou la logique culturelle du capitalisme tardif [1991], Paris, Beaux-arts de Paris, 2011. 27 | Sommers, J. M., »The Traumatic Revision of Marvel’s Spider-Man: From 1960s DimeStore Comic Book to Post-9/11 Moody Motion Picture Franchise«, Children’s Literature Association Quarterly, Bd. 37, Nr. 2, 2012, S. 188-209.

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den grünen Kobold zu kämpfen, indem sie ihn mit Steinen und Stöcken bewerfen, zeigt die zweite, nämlich die Schlussszene des Films, einen triumphierenden Spider-Man vor einer amerikanischen Flagge: »The Green Goblin is reinterpreted by Raimi as an airborne terrorist who, unlike in real life, is handily defeated by sticks, stones, and Spider-Man. The waving flag indicates that truth, justice, and a particular American way have prevailed.«28 Genauso wie zahlreiche Kulturproduktionen nach 9/11 biete Spider-Man Raum für eine Reflexion über die Modalitäten des Handelns angesichts von Terrorattacken, die ihre Auflösung im berühmten Aphorismus »With great power comes great responsibility« findet. Die Symbiose der zwei Referenzwelten, jene des Comics der 60er Jahre und des Films nach 9/11, verleiht dem vigilantistischen Diskurs eine quasi prophetische Resonanz und eine Legitimität, welche in der nicht nur amerikanischen, sondern weltweiten Politikund Sozialgeschichte noch nie dagewesen ist. So sperren die metatextuellen Elemente in Spider-Man die Erzählung nicht in einer utopischen Vergangenheit ein, die nie Gegenwart sein kann, sondern konsolidieren vielmehr die Legitimität und Aktualität des vigilantistischen Diskurses mittels einer Rhetorik, in der sich mediale Treue und Konkurrenz kreuzen.

V on der P opkultur zur M assenkultur Im Allgemeinen setzt jegliches Transpositionsphänomen die Neukonfiguration einer bestimmten Deixis voraus, das heißt die Umsiedlung der Quellaussage in die raumzeitliche Situation und in die gesellschaftliche Welt des Subjektes der Zielformulierung.29 Das Studium des Transpositionsprozesses – sei es intramedial oder intermedial – erfordert die Wiedergabe dieser konfliktbehafteten oder konfliktfreien Begegnung zwischen verschiedenen sprachlichen, kulturellen und ideologischen Welten. Die Transposition der Superheldenerzählung ist vielleicht das dem Studium einer solchen Dynamik zuträglichste Feld. Wenn auch ursprünglich von Stan Lee und Steve Ditko erschaffen, ist Spider-Man doch auch ein Inhalt, welcher der Firma Marvel gehört und dessen erzählerische Charakteristika von ihr geschützt werden. Einmal abgesehen von den juristischen und finanziellen Aspekten einer solchen Vorgehensweise, bietet das Fehlen einer alleinigen Autorschaft theoretisch wichtiges Appropriationspotenzial. Laut R. J. Grevor30 begünstigt diese spezifische Eigenart der Welt des Comicverlags die Neuinterpretation der Superhelden durch unterschiedliche Schöpfer zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte. Die Transpositionen der Superheldencomics stellen ihm zufolge eine großartige Quelle für das Studium der amerikanischen Gesellschaftsentwicklung dar. 28 | Koh, W., op. cit., S. 744. Wir übersetzen: »Der grüne Kobold wird von Raimi als ein sich durch die Luft bewegender Terrorist neuinterpretiert, welcher, anders als in der Realität, mit Stöcken, Steinen und Spider-Mans Beihilfe im Handumdrehen besiegt wird. Die wehende Flagge bedeutet, dass Wahrheit, Gerechtigkeit und die spezifisch amerikanische Art obsiegt haben.« 29 | Vgl. Lacasse, G., »Intermédialité, deixis et politique«, Cinéma et Intermédialité, Bd. 10, Nr. 2-3, 2000, S. 85-104. 30 | Grevor, R. J., »The Re-illustration of Comic Book Heroes«, International Journal of Comic Art, Bd. 1, Nr. 10, 2008, S. 471-481.

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Was die französische Rückübersetzung der Spider-Man-Erzählung und die Verfilmung von Sam Raimi anbelangt, so legt das Zusammenwirken der Tatsache, dass es keine nennenswerten Abweichungen auf der erzählerischen und diskursiven Ebene bezogen auf den Hypotext gibt, mit der neugewonnenen medialen Sichtbarkeit die Grundlage für eine wichtige soziokulturelle Veränderung. Von der Zensur der Spider-Man-Erzählungen Ende der 60er Jahre bis zum Blockbuster von 2002 vollzieht sich der Übergang vom abgewerteten, marginalisierten und antikulturellen Kulturobjekt zu einem weltweit stark valorisierten Produkt einer sogenannten »Massen«-Kulturindustrie. Wie wir schon flüchtig erwähnt hatten, setzt dieser Produktionsmodus nicht nur eine besondere Reproduktionstechnik voraus, sondern vor allem auch einen konsensfähigen Inhalt, der den Beifall der Mehrheit sichern soll. Gemäß Adorno schafft die Kulturindustrie durch ihre Übereinstimmung mit vorherrschenden Verhaltensmodellen, durch ihren Konformismus, eine Anti-Entmystifizierung, die, gleich einer Anti-Aufklärung, die Massen täuscht und das Bewusstsein lahmlegt. Adornos Standpunkt enthüllt das notwendigerweise normative Wesen der Produkte der Kulturindustrie, auf dem ihr ökonomisches System beruht. Noch spezifischer in Bezug auf die Comicproduktion bemerkt Williams: »It is interesting to note that the more subversive comics are published by independents and are less accessible to the general public than the mainstream comics.«31 Seine Comics-Typologie, die sich nach dem subversiven Gehalt der Darstellungen ausrichtet, macht zwei große Kategorien sichtbar: Zum einen sind da die subversiven Comics, die von unabhängigen Verlagshäusern veröffentlicht werden, und zum anderen die nicht-subversiven Comics, die von den großen Firmen wie Marvel und DC produziert werden und heute allein schon 71% der Marktanteile der Comicverkäufe weltweit ausmachen. Wenngleich gewisse Comics eine solche Typologie heute zu unterlaufen scheinen und Williams schlussfolgert, dass der heterogenere Charakter der zeitgenössischen Produktionen notwendigerweise in Betracht zu ziehen ist, so dürfen die »mainstream comics«, als eine vor allem auf den Geschmack der Mehrheit abzielende Produktion, dennoch mehrheitlich als propagandistische Kulturobjekte verstanden werden, die gleich einem Aushängeschild der vorherrschenden Kultur das Fortbestehen der Gesellschaft garantieren.32 In der Tendenz, den finanziellen Erfolg der Comics in gewissermaßen tautologischer Art durch die investierten Gelder zu erklären, vergisst man quasi systematisch, dass diese Investitionen sich auf vorherrschende Normen und Werte stützen. Die positive Neubewertung der Spider-Man-Erzählung ist somit symptomatisch für den axiologischen Umsturz, den es in Frankreich in Hinsicht auf die Darstellung legitimer Gewalt zu verzeichnen gibt. Es scheint uns in der Tat, dass 31 | Williams, J., op. cit., S. 142. Wir übersetzen: »Es ist interessant zu bemerken, dass die subversiveren Comics von Unabhängigen publiziert werden und dem breiten Publikum weniger zugänglich sind als Mainstream-Comics.« 32 | Andererseits kann die Produktion gewisser anti-normativer Comics durch die Kulturindustrien auch als »Reifikations«-Prozess verstanden werden, wie er von Williams in Anlehnung an Antonio Gramsci beschrieben wird, das heißt als Absorption antikultureller Elemente durch die vorherrschende Kultur, welche sie in der Folge als die Ihren ausgibt. Zu diesem Thema wäre es auch interessant, die Arbeit Serge Moscovicis zum Einfluss der Minderheiten zu berücksichtigen. Vgl. Moscovici, S., Psychologie des minorités actives [1976], Paris, PUF, 1991.

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die seit Mitte der 80er Jahre diagnostizierte Notlage des Wohlfahrtsstaates, die Infragestellung seiner Fähigkeit, auf den gefühlten Anstieg der sozialen Gewalt zu reagieren, die Entstehung privater Schutzfirmen und ihre Institutionalisierung im Gesetz des 14. März 2011 über die Orientierung und Programmierung der Leistungsfähigkeit der inneren Sicherheit,33 der Aufschwung des liberalen Individualismus, der die individuelle Verantwortung zur »kulturellen Ideologie«34 macht, sämtlich Anzeichen einer neuen Art der sozialen Kontrolle in Frankreich sind. Die zeitgenössische soziokulturelle und ideologische Umgebung in Frankreich, wo die Ausübung sicherheitsbezogener Gewalt nicht mehr eine staatshoheitliche Aktivität darstellt,35 passt zum Vigilantismus in den Superheldencomics, die nicht nur keine Debatten mehr auslösen, sondern regelrecht ins Herz der Kulturproduktion katapultiert worden sind.

Tr ansmediation oder das S chweigen der M edien Obwohl eine mythologische Herangehensweise an die Superhelden fast ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint, erlaubt die heutige Lage dem Genre der Superheldenerzählung dennoch, auf der Skala der weltweiten soziokulturellen Werte einen nie dagewesenen, fast mythischen Status zu erlangen. Wie Barthes36 unterstreicht, definiert sich der Mythos weniger durch seinen spezifischen Inhalt als durch die momentane Kongruenz eines Diskurses mit einem System gemeinsamer Werte und valorisierter sozialer Praktiken in einer gegebenen Gesellschaft. Anders ausgedrückt: »Der Mythos ist ein Wort, das von der Geschichte ausgewählt wurde.«37 Die enge Verbindung zwischen der Kulturproduktion und der vorherrschenden Ideologie, die von den Kulturindustrien hergestellt wird, macht aus letzteren das ideale Werkzeug zur Schaffung von Metaerzählungen. Wenn sich der Mythos aber durch seine Legitimations- und Transmissionsfunktion definiert, jene moralischen Prinzipien und praktischen Regeln also, die das Zusammenleben garantieren sollen,38 so insistiert Barthes dennoch, gestützt auf Lévi-Strauss,39 darauf, dass das Wesen des Mythos zugleich exponentiell, vielförmig und diffus ist und dass seine mehrfache Inkarnation die Funktion hat, die ihm zugrunde liegende Struktur sichtbar zu machen. Anders ausgedrückt ist die Schaffung einer Mythologie immer auch jene eines Gesamtkunstwerks.

33 | LOPPSI 2: www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000023707312 &fastPos=1&fastReQId=1447818568&categorieLien=id&oldAction=rechTexte, aufgerufen am 11.08.2017. 34 | Staerklé, C., Delay, C., Gianettoni, L., Roux, P., Qui a droit à quoi? Représentations et légitimation de l’ordre social, Grenoble, PUG, 2007. 35 | Vgl. Chevallier, J., »La police est-elle encore une activité régalienne?«, Archives de politique criminelle, Nr. 33, 2011, S. 15-28. 36 | Barthes, R., Mythologies, Paris, Seuil, 1957, S. 212. 37 | Ebd., S. 212. 38 | Vgl. Eliade, M., Aspects du mythe, Paris, Gallimard, 1963. 39 | Lévi-Strauss, C., »The Structural Study of Myth«, Journal of American Folklore, Bd. 78, Nr. 270, Okt.–Dez. 1955, S. 428-444.

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Das »repurposing« bezeichnet gerade eine Praktik der Kulturindustrien, die darin besteht, eine Eigenschaft eines Mediums einzufangen, mit dem Ziel, sie in einem anderen Medium wiederzuverwenden: »The entertainment industry defines repurposing as pouring a familiar content into another media form; a comic book series is repurposed as a live-action movie, a television cartoon, a video game, and a set of action toys.«40 Das andere Medium macht sich nicht die formalen Besonderheiten des Ursprungsmediums zu eigen, sondern es werden ausschließlich narrative Aspekte beibehalten. Indem es die medialen Möglichkeiten eines Inhalts ausschöpft, respektiert das »repurposing« das Reproduzierbarkeitsprinzip, das die Kulturindustrien auszeichnet. In Bezug auf Spider-Man ist dabei zu sagen, dass die Wiederverwendung der Ästhetik des Comics der 60er Jahre also weniger die Ausdrucksform des Comics betrifft (die Eigenheit des Comics als Medium) als seine Substanz (jegliches Indiz, welches der Erzählung ihren eigenen Stoff verleiht). Andererseits ist der Einschub eines akustischen oder visuellen Hypomediums in Form einer mise-en-abîme – seien es die Spider-Man-Plakate im Zimmer von Peter Parker oder die Leitmelodie von »Spider-Man« (1967) – immer ausreichend diskret, um den Zugang zur Erzählung nicht zu stören.41 Die Verbreitung der Erzählung in verschiedenen Medien geht tatsächlich mit dem Verbot jeglicher medialer Intransparenz einher. Jay David Bolter und Richard Grusin zufolge beruht das »repurposing« auf der Idee, dass die Schaffung expressiver Diskontinuität durch die Präsenz eines Hypomediums die narrative Kontinuität und die Illusion der Unmittelbarkeit stört. Ein mediales Transparenzprinzip regelt die hypomediale Auflösung im Namen der Förderung eines grundlegenden Intertextes, der unaufhörlich wiederverwendet wird. Dazu muss das Medium aber transparent bleiben, um einem klaren und expliziten Diskurs Raum zu geben. Der Comic muss um der Darlegung der vigilantistischen Botschaft willen in den Hintergrund treten. Das »repurposing« ist also weniger ein Hybridisierungs- als ein Transmediationsprozess. Während die erste Praktik Fusionsphänomene zwischen verschiedenen Medien innerhalb einer einzigen Produktion betrifft und damit sehr getreu an das Wagnersche Gesamtkunstwerk erinnert, ist das Vorgehen der zweiten die Verbreitung einer immer gleichen Erzählung in verschiedenen medialen Produktionen. Zu diesem Thema schreiben Bolter und Grusin: »Together, these products constitute a hypermediated environment in which the repurposed content is available to all the senses at once, a kind of mock Gesamtkunstwerk. […] The goal is

40 | Bolter, J. D., Grusin, R., Remediation. Understanding New Media, Cambridge, The MIT Press, 2000, S. 68. Wir übersetzen: »Die Unterhaltungsindustrie definiert repurposing als das Umgießen eines bekannten Inhalts in die Form eines anderen Mediums; eine Comicserie wird als Live-Actionfilm wiederverwendet [repurposed], als Fernsehcartoon, als Videospiel, und als eine Reihe von Actionspielzeugen.« 41 | In Übereinstimmung mit unserem Argument des Vorrangs der Erzählung und der Vernachlässigbarkeit des Comics als Ausdrucksform verleiht die Veröffentlichung der Intégrale dem Comic sicherlich den Anschein eines schönen Buchs, wie weiter oben besprochen, bietet aber gleichzeitig eine eher »ungeschickte« Übersetzung, ohne die narrative Substanz zu tangieren. Vgl. www.filmsfantastiques.com/article-le-pire-ennemi-de-spiderman_116888652.html

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literally to engage all of the child’s senses.«42 Dadurch lässt die unmittelbare und vervielfältigte Inkarnation des Intertextes den Empfänger am Simulakrum der synästhetischen Rekonstruktion einer transzendenten Einheit teilhaben, deren Anhänger er de facto ist. Das »repurposing« erinnert also sowohl in seiner Aktivierung der Sinne durch die Fusion der Künste als auch in der politischen Dimension, die es der Kulturproduktion verleiht, an die Theorie des Gesamtkunstwerks. So wie die Fusion der Künste das Projekt einer neuen Mythologie der zukünftigen Menschheit vorantrieb – um die Wagnersche Idee des Gesamtkunstwerks in etwas romantischeren Worten aufzunehmen –, zeigt heute auch die Transmediation die Normen der etablierten Gesellschaft auf. In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 43 vertrat Benjamin die Ansicht, dass der Ästhetisierung der Politik durch die Kulturindustrie eine Politik der Kunst entgegengestellt werden müssen, welche die breite Masse für ihre eigene Emanzipation öffne. Weit davon entfernt, nostalgisch an eine auratische Kunst zu appellieren, die durch ihre Einheit authentisch wäre, schlug diese durch die technische Reproduzierbarkeit der Kunst eröffnete Dialektik vielmehr ein neues Kapitel in der Geschichte ihrer Wahrnehmung auf. Wenngleich sich die Kunst entweder durch ihre religiöse oder ihre ästhetische Funktion definiere, sei sie nunmehr eine politische Praktik. Was sich nun also bezüglich Sin City und Spider-Man aufzudrängen scheint, ist die Frage, welche politische Dimension sie durch ihre intermediale Poetik eröffnen und welche Weltanschauung sie stützen. Sind die Hybridität und die Transmedialität nicht schlicht zwei mediale Strategien, die sich im Namen der Realität herausbilden?44 Die Geschichte der Aneignung der Ursprungsgeschichte Spider-Mans zeigt beispielhaft, wie ein Kulturobjekt in Abhängigkeit des normativen Kontexts zwei gegenläufige Reaktionen auslösen und verschiedene mediale Strategien mobilisieren kann. Paradoxerweise wird eine normativ-minderheitliche Produktion normativ-mehrheitlich und fungiert somit als Handlanger einer Gesellschaft, die ihre Geschichte gleichzeitig mit ihrer Materialität vergisst. In diesem letzten Punkt scheinen die Kulturindustrien, mit ihren zeitgenössischen mediascriptures, noch nie so nahe an jene älteste und beispielhafteste Kunstform herangerückt zu sein, die das politische Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft begründet, nämlich die Mythologie.

42 | Bolter, J. D., Grusin, R., op. cit., S. 273. Wir übersetzen: »Zusammen bilden diese Produkte ein hypermediatisiertes Umfeld, in welchem der wiederverwendete Inhalt für alle Sinne gleichzeitig verfügbar ist, eine Art pseudo-Gesamtkunstwerk. […] Das Ziel ist buchstäblich die Einbindung aller Sinne des Kindes.« 43 | Benjamin, W., »L’œuvre d’art à l’époque de sa reproductibilité technique«, Œuvres III, aus dem Deutschen von Maurice de Gandillac, Rainer Rochlitz und Pierre Rusch, Paris, Gallimard, 2000. 44 | Vgl. die Definition des Mediums von Bolter und Grusin: »It is that which appropriates the techniques, forms, and social significance of other media and attempts to rival or refashion them in the name of the real.« Op. cit., S. 65, unsere Hervorhebung. Wir übersetzen: »Es ist etwas, das sich die Techniken, die Formen und die soziale Bedeutung anderer Medien aneignet und versucht, mit ihnen zu rivalisieren oder sie im Namen der Realität umzugestalten.«

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Editorische Notiz

Der vorliegende Reader versammelt Texte zur Theorie und Geschichte der Superhelden aus verschiedenen Quellen. Wo keine elektronischen Textfassungen vorlagen, wurden sie mithilfe von Texterkennungssoftware hergestellt und sorgfältig mit den Originalen abgeglichen. Wortlaut und Orthographie aller Texte wurden vorlagengetreu bewahrt, außer bei Fassungen aus dem 19. Jahrhundert, deren Schreibung modernisiert wurde. Auch die Zitationsweise, bibliographischen Formate und typographische Auszeichnungen wurden so weit als möglich übernommen. Bei Auszügen aus Monographien und Sammelbänden wurden Fußnoten und Kurznachweise angepasst und ggf. anhand der Literaturverzeichnisse ergänzt. Einige Beiträge wurden von ihren Autorinnen und Autoren für die Veröffentlichung in diesem Reader überarbeitet, erweitert und aktualisiert (Coogan, Frahm, Meinrenken, von Holzen). Die Erstdrucke und Rechteinhaber aller Texte dieses Readers werden im Quellenverzeichnis nachgewiesen. Die Rechte für den Wiederabdruck wurden eingeholt, Hinweise auf allfällige Unvollständigkeiten werden dankbar entgegengenommen. Die Abbildungen der Beiträge wurden in der Regel übernommen. Nur auf rein illustrative Bebilderung, die nicht argumentativ eingebunden ist, wurde verzichtet. Die Übersetzungen von Florian Berger (aus dem Französischen), Paulina Petracenko (das Geleitwort aus dem Englischen) und Yvonne Knop (die weiteren Texte aus dem Englischen und Amerikanischen außer Davé) wurden editorisch durchgesehen. Zitate aus Primärwerken wurden in der Originalsprache belassen, Zitate aus Forschungsliteratur zugunsten der Verständlichkeit übersetzt.

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Quellenverzeichnis

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Dank

Wir bedanken uns an erster Stelle bei den Autorinnen und Autoren, die Beiträge für diesen Reader zur Verfügung gestellt haben. Einem deutschsprachigen Publikum hätten sie ohne die Übersetzungen von Florian Berger (Bern), Yvonne Knop (Siegen) und Paulina Petracenko (Siegen) nicht zugänglich gemacht werden können, auch ihnen danken wir sehr. Bei Olivia Hicks (Universität Dundee) bedanken wir uns von Herzen für das Geleitwort, mit dem sie unserem Reader zum Auftakt eine sehr persönliche Note gegeben und zugleich seine fachliche Dringlichkeit unterstrichen hat. Dem Projektbeirat, der für die wissenschaftliche Qualität unseres Vorhabens bürgt, gilt unser besonderer Dank für wertvolle Anregungen, fachlichen Rat und logistische Unterstützung: Prof. Dr. Jan Baetens (Katholische Universität Leuven), Prof. Dr. Michael A. Chaney (Dartmouth College), Prof. Dr. Dietrich Grünewald (Universität Koblenz-Landau), Prof. Dr. Karin Kukkonen (Universität Oslo), Prof. Dr. Roger Sabin (University of the Arts London), Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans (Ruhr-Universität Bochum), Prof. Dr. Daniel Stein (Universität Siegen). Für einen großzügigen Beitrag für die Erarbeitung der Publikation danken wir sehr herzlich der UBS Kulturstiftung. Für die Gewährung eines finanziellen Zuschusses danken wir Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak von der Universität Zürich und Prof. Dr. Andreas Kilcher von der ETH Zürich. Ohne diese Förderung hätte unser Projekt nicht verwirklicht werden können. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Colloquien von Prof. Dr. Oliver Lubrich sowie Prof. Dr. Gabriele Rippl und Prof. Dr. Thomas Claviez an der Universität Bern danken wir für Anregungen zum Konzept des Readers. Die Umschlagsillustration konnte dank der Genehmigung von Vincenzo Fagnani (Berlin) verwendet werden. Für die Unterstützung bei der technischen Realisierung des Bandes danken wir herzlich Luca Querciagrossa (Bern), für Hinweise und die Vermittlung von Kontakten Jacob Thomas (München), Stephen Langenthal (New York) und Paul Gravett (London), für die Mithilfe bei der Zusammenstellung der Bibliographie Aleta-Amirée von Holzen (Zürich) und Charlotte Schmiegel (Siegen), für Literaturhinweise Hans-Peter Trauffer (Langenthal), für Hilfe bei der Manuskriptredaktion Aline Schulthess (Bern) und Florian Berger (Bern) und für das Korrektorat Johannes Brunnschweiler (Bern). Für die verlegerische Betreuung danken wir dem transcript Verlag, insbesondere Frau Jennifer Niediek.

Zu den Herausgebern

Lukas Etter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Seminar für Anglistik der Universität Siegen; 2016 Christoph Daniel Ebeling Fellowship (American Antiquarian Society); 2014 Abschluss der Doktorarbeit Auteurgraphy: Distinctiveness of Styles in Alternative Graphic Narratives, Universität Bern (Publikation in Vorbereitung). Forschungsinteressen u.a. graphic narrative, Diskurse über Stil und Autorschaft, literature and science im 19. Jahrhundert. Thomas Nehrlich, Studium der Germanistik und Komparatistik an der Freien Universität Berlin und der Ecole Normale Supérieure in Paris; seit 2011 Assistent an der Universität Bern; 2015 Dozentur an der California State University Long Beach. Promotionsprojekt zu Rebellen in der Literatur nach 1945. Publikationen und Editionen u.a. zu Alexander von Humboldt, Heinrich von Kleist, Typographie sowie zu Heroismus und Superhelden. Dr. Joanna Nowotny, 2013 bis 2017 Doktorandin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Andreas Kilcher an der ETH Zürich. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie an den Universitäten Bern und Wien; 2012 Masterabschluss; Forschungssemester an der University of Chicago (IL) im Herbst 2016. Forschungstätigkeit und Publikationen im Feld der deutsch-jüdischen Studien, der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der Comic und Game Studies. Mitglied der Schweizerischen Studienstiftung.

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)

Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie September 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) Oktober 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7

Sonja Hnilica, Elisabeth Timm (Hg.)

Das Einfamilienhaus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2017 Juli 2017, 176 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3809-7 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3809-1

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